Der Geschmack der Kraft: Zur Performativität des künstlerischen Schaffens 9783839433928

A new perspective on artistic production: strength of impact is not conceived of as an outcome, but rather as a constitu

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German Pages 212 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Prolog
ERSTER TEIL: SKIZZEN
I Cosimas Erbe. Diesseits von Milch und Honig
A Die Geburt des Dramas
B Präsenzlust und Kunstzwang
C Das Drama des Leibes
D Dionysien des Gewöhnlichen
II Die Kontingenz des Rauschens.
Versuch einer ästhetischen Intersexualität
A Genuss an sich (selbst)
B Die Praxis der Kraft
C Weiblich|männlich
D Die Überschreitung
III Unbestimmte Erregungsmomente. Kunst als Freiheit vom Sozialen
A Der verzückte Philosoph
B Kunst ist unproduktiv
C Beißen und gebissen werden
D Ekstase wider Willen
E Passivitätskonstrukte
ZWEITER TEIL: PERFORMANZEN
IV Kraft ist weiblich. Unordnungen in den Künsten
A Verlockende Klänge
B Von Mythen, Exzessen und anderen Phantasmen
C Heldinnen
V Anziehen(d). Materialität auf der Bühne
A Die Vermessenheit des Urteilens
B Von der Divergenz der Träume
C Hässliche Tragödien
D Zuschauen gegen Zuschauen
E Eine Lust an sich selbst
F Unordnungen des Sichtbaren
VI Präsenzeffekte. Das Experiment
A Ein begründeter Zweifel
B Produktion von Präsenz
C Zur Freiheit der Kraft
D Das Unsichtbare der Kunst
E Das Experiment
VII Ode an das Schmecken
Notiz
Literatur
Abbildungen
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Der Geschmack der Kraft: Zur Performativität des künstlerischen Schaffens
 9783839433928

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Monika Roscher Der Geschmack der Kraft

KörperKulturen

Für meinen Vater

Monika Roscher (Dr. phil. habil.), geb. 1976, ist Vertretungsprofessorin am Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die Sportphilosophin promovierte an der Universität Hamburg und habilitierte sich an der Philipps-Universität Marburg. Die Schwerpunkte ihrer Forschungen liegen in der ästhetischen Bildung und der Geschlechterforschung.

Monika Roscher

Der Geschmack der Kraft Zur Performativität des künstlerischen Schaffens

Der Druck dieses Werkes wurde gefördert durch das Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Florian Roscher, Hamburg, 2015, © Florian Roscher Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3392-4 PDF-ISBN 978-3-8394-3392-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Prolog | 7

ERSTER TEIL: SKIZZEN I

Cosimas Erbe. Diesseits von Milch und Honig | 17 A Die Geburt des Dramas | 18 B Präsenzlust und Kunstzwang | 27 C Das Drama des Leibes | 39 D Dionysien des Gewöhnlichen | 45

II

Die Kontingenz des Rauschens. Versuch einer ästhetischen Intersexualität | 51 A Genuss an sich (selbst) | 52 B Die Praxis der Kraft | 54 C Weiblich|männlich | 58 D Die Überschreitung | 60

III

Unbestimmte Erregungsmomente. Kunst als Freiheit vom Sozialen | 67 A Der verzückte Philosoph | 68 B Kunst ist unproduktiv | 71 C Beißen und gebissen werden | 74 D Ekstase wider Willen | 80 E Passivitätskonstrukte | 85

ZWEITER TEIL: PERFORMANZEN IV

Kraft ist weiblich. Unordnungen in den Künsten | 95 A Verlockende Klänge | 96 B Von Mythen, Exzessen und anderen Phantasmen | 101 C Heldinnen | 105

V

Anziehen(d). Materialität auf der Bühne | 115 A Die Vermessenheit des Urteilens | 116 B Von der Divergenz der Träume | 121 C Hässliche Tragödien | 124 D Zuschauen gegen Zuschauen | 130 E Eine Lust an sich selbst | 135 F Unordnungen des Sichtbaren | 142

VI

Präsenzeffekte. Das Experiment | 147 A Ein begründeter Zweifel | 148 B Produktion von Präsenz | 155 C Zur Freiheit der Kraft | 158 D Das Unsichtbare der Kunst | 162 E Das Experiment | 175

VII

Ode an das Schmecken | 187

Notiz | 193 Literatur | 199 Abbildungen | 209

Prolog

Allein der Genuss eines Blickes, einer lyrischen Wendung oder das Ziehen eines Beines reicht schon aus, um das Verlangen zu entfachen, erneut in das Ästhetische eintauchen zu wollen. Ästhetischer Genuss ist eine Sache tiefsten Begehrens. Deshalb jagen wir dem Gelingen so eifrig hinterher. In den Künsten scheint das Streben nach einer Steigerung der Leistung durch eine Forschung zur Förderung der praktischen Vermögen bedient zu werden. In der Musik, der Kunst, dem Theater, dem Sport und sogar in multidisziplinären Performancekünsten bildet das sozialisierende Üben den Kern der Studien. Nur was wäre, wenn die praktischen Vermögen nur einen Aspekt des Könnens darstellten? Wenn es eine Art inneres Prinzip gäbe, eine dem Akteur1 nicht bewusste Kraft? Wenn erst im Zusammenspiel mit dieser Kraft das Vermögen der Sportlerin zu einem herausragenden Können würde, der Künstler sein Machen zu einem Werk überführen könnte, da die Philosophin als Künstlerin gesehen erst des Philosophierens in der Lage wäre? Unsere Praxis müsste vom Grunde neu gedeutet werden. Woher nehmen wir nun überhaupt diese Fokussierung auf die praktischen Vermögen, auf Technik, Taktik und dergleichen? Ästhetisches als eine Praxis des Subjektes – mit diesem Postulat schreibt Alexander Gottlieb Baumgarten dem Sinnlichen das Vermögen des Erkennens zu. Jener Erfinder der Ästhetik habe, mit Johann Gottfried von Herder gesprochen, durch dieses Verständnis die Ästhetik vielmehr verdeckt als erfunden.

1

Mit Nennung der weiblichen [männlichen] Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die männliche [weibliche] Form mitgemeint.

8 | DER GESCHMACK DER KRAFT

Herder konzipiert eine anthropologische Genealogie der Ästhetik. In seinem Wäldchen gründet er die Bildung des Subjektes auf den dunklen Mechanismus der Seele, da hier die »ewige Basis« ist2. Genealogische Ästhetik bedeutet: das Dunkle, aus dem die Vermögen entstanden sind, tragen jene als ihr Anderes in sich. Herder formuliert weiter, Bewegung sei als Erscheinung eines inneren Zustandes zu erklären.3 Jener innere Zustand könne mit Kraft bezeichnet werden. Wobei Kraft nicht wirklich kausal erklärt werden könne. Kraft meint eine Form der Anschauung, nicht etwas Angeschautes wie einen Gegenstand oder ein Ereignis. Kraft bezeichnet eine Beziehung.4 Es handelt sich hier um den Beginn der Ästhetik als Denken der Kraft. Nur wie waltet jene Kraft? Inwiefern prägt ihr Wirken die Strukturen des impliziten Wissens? Ist es nicht ein unmögliches Vorhaben, eine Beziehungsbestimmung des Wirkens der Kraft vorzunehmen, wenn sich diese nur als negatives Strukturmoment zeigt? Wäre nicht in der Konsequenz die interpretative Analyse der Phänomene der Praxis überhaupt in Frage zu stellen? Der Geschmack der Kraft vereint sieben Essays über das Spiel des Ausdrucks in den Künsten. Der erste Teil besteht aus Skizzen zu dem Konzept der Kraft. Performanzen bildet den zweiten Teil des Buches. Die Dramen der Gegenwart sollen das Konzept prüfen und in das nachdisziplinäre Zeitalter transformieren. Unweigerlich begegnen sich dabei Herder und der junge Nietzsche. Denn das Denken der Ästhetik als Kraft skizziert zwar die Dynamiken jenes Spiels, doch bedarf es einer näheren Wesensbestimmung des Gefühls dieser Kraft oder genauer der ästhetischen Kraft als Gefühl. Und wenn sich die Frage stellt, was einem Künstler, geleitet durch seine

2

Siehe hierzu Johann Gottfried von Herder: »Begründung einer Ästhetik in der Auseinandersetzung mit Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: ders., Frühe Schriften. In zehn Bänden, Band 1, hg. v. Ulrich Gaier/Martin Bollacher, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1985, S. 651-694, hier S. 694.

3

Vgl. Johann Gottfried von Herder: »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«, in: ders., Werke. 10 in 11 Bänden. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, Band 4, hg. v. Martin Bollacher/Jürgen Brummack, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1994, S. 327-394, hier S. 338.

4

Vgl. Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

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hellen, bildnerischen Kräfte, wohl Dunkles, Unberechenbares entgegensteht und sein künstlerisches Schöpfen zugleich bis aufs Ergreifendste auflodern lässt, dann liegt es alsbald vor einem: Dionysos, Held und Unhold der Geburt der Tragödie.5 Dem Performativen erlegen könnte man sagen, die Autorin stelle sich der Frage: Würde Herder in Milch und Honig baden, wäre damit ein feiner Geschmack gebildet? Cosimas Erbe markiert hier anders als vielleicht vermutet nicht eine weitere Rezeption des musikalischen Hochgesangs oder der düsteren politischen Wagnerlinie. Diesseits der Spekulationen um die Beziehung jener zweiten Ehefrau Richard Wagners mit Friedrich Nietzsche möchte die Autorin mit diesem ersten Kapitel einen Blick in jenen dionysischen Abgrund werfen, den seine Ariadne in dem jungen Nietzsche aufzutun vermochte. Erst der Nachlass deckt die Hingabe an »die Prinzeß Ariadne, meine Geliebte« auf.6 In den Briefen an Cosima Wagner ist die Verehrung und Hingabe zu ihr festgehalten. In dieser Zeit, in der er bei den Wagners verweilt, entwirft Nietzsche seine Götzendämmerung und Dionysische Weltanschauung, jene wertvollen Überlegungen zum Schaffensprozess einer Künstlerin. Kunst besteht in der Transformation des schlichten Gegenstandes in ein ästhetisches Phänomen. Es ist zugleich auch das, was die Faszination des Zuschauens ausmacht. Wie wird ein schnöder Schritt, Sprung oder das Ziehen eines Armes in ein ästhetisches Phänomen transformiert? Die Antwort des jungen Nietzsche lautet: im Rausch.7 Der Künstler vermag im Zustand des Rausches sein praktisches Vermögen und seine ästhetische Kraft zu jener » wundersamen Mischung« 8 vereinen, die den Betrachter unweigerlich anzieht.

5

Vgl. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt a.M.: Insel 2000.

6

Vgl. Dieter Borchmeyer: Nietzsche, Cosima, Wagner. Porträt einer Freundschaft, Frankfurt a.M.: Insel 2008.

7

Vgl. Friedrich Nietzsche: »Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Streifzüge eines Unzeitgemäßen«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 6, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988, S. 111-153, hier S. 116.

8

Friedrich Nietzsche: »Die dionysische Weltanschauung«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 1, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988, S. 551-578, hier S. 567.

10 | DER GESCHMACK DER KRAFT

Unbestimmte Erregungsmomente widmen sich der Dynamik des Zusammenwirkens von Kraft und Vermögen. Praktisches Vermögen bilde sich durch sozialisierende Übungen, so die leitende Auffassung. Zurückgewendet deckt sich auf, diese Übungen unterbrechen sogar die Formungen des ästhetischen Spiels. Umgekehrt steht das Wirken des Ästhetischen dem Einbrechen durch das übende Bilden des praktischen Vermögens nicht als gleichgültiges Anderes gegenüber. Vielmehr bewirkt das Spiel des Ästhetischen eine Unbestimmtheit des Menschen, die ihn in seinem Handeln von Norm, Gesetz oder Zweck befreit und damit zur Ausbildung praktischer Vermögen überhaupt befähigt.9 So stellt das Spiel des Ausdrucks als Wirken des Ästhetischen die Bedingung für das übende Bilden praktischer Vermögen dar, während sich das Ausüben jener gegen das Spielen wendet. Damit formuliert Herder nicht nur den Gedanken einer Differenz von ästhetischer Kraft und praktischem Vermögen, sondern denkt den Menschen als Differenz. Jene Zwitterhaftigkeit des Menschen ist ein Verhängnis, insofern sie ihn der Differenz zwischen ästhetisch gefasstem Urteil und dem des durch die praktischen Vermögen des Verstandes gebildeten Urteils aussetzt. Im Ästhetischen kann der Mensch einen Ausdruck in seiner Individualität klar erfassen, über einen Ausdruck in seiner Unbestimmtheit als jeweils einzigartigen Ausdruck urteilen. Unsicher wird er erst dann, wenn er im Nachhinein versucht, diesen Ausdruck als besonderes Exemplar einer Norm einzuordnen. Was die Autorin daher in dem zweiten Kapitel zu ergründen sucht, ist die ästhetische Unbestimmbarkeit des Menschen. Es ist die Idee, die Unbestimmbarkeit der Praktiken gründe sich nicht auf den Umstand, dass sich ihre Akte einer definitorischen Ordnung entziehen, sondern gerade da sie Vollzüge eigener Normativität sind, müssen sie für den Betrachter unbestimmt erscheinen. In der Kontingenz des Rauschens findet sich eine Übertragung jenes Gedankens der ästhetischen Unbestimmbarkeit des Menschen auf den Aspekt der Konstitution des geschlechtlichen Ausdrucks. Ausgehend von der Idee einer Kontingenz des geschlechtsspezifischen Übergangs im Rausch der Praxis soll die Unmöglichkeit eines ästhetischen Urteils in dem Vollzug der Künste herausgestellt werden. Die philosophisch-soziologische Analyse zielt auf das prinzipielle Unvermögen einer Klassifizierung von Geschlechtertypen. In der Praxis erlebt die Künstlerin sich als Übergangswesen zwi-

9

Vgl. Menke: Kraft, S. 66.

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schen weiblichem und männlichem Ausdruck. Ein Gesetz über die Spezifik des geschlechtlichen Ausdrucks wird ins Absurde überführt. Die Norm erschließt sich der Sportlerin im Tun. Sie bringt diese Norm in ihrer Praxis hervor und fällt dort ihr persönliches ästhetisches Urteil. Die Annahme einer Kontingenz des Übergangs bildet somit eine vollkommen neue Betrachtung der Performanz der Geschlechter. Leiblich präsente Kraft geformt durch eine Athletin ist gesellschaftlich umstritten.10 Verweist sie doch auf die Bestimmung von Macht und Ohnmacht, Unterwerfung und Herrschaft und bringt die bestehende Geschlechterordnung ins Wanken.11 Kraft ist weiblich rekurriert auf die ästhetische Unbestimmbarkeit des Menschen und weist ihn als Grund für die Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit von geschlechtlichen Normen aus. Die Ansatzpunkte Kraft und Rausch rücken sogleich den Fokus auf die diskursiven Grenzen der Akzeptanz von vitaler Weiblichkeit in den Künsten. Aktuelle Entwicklungen werfen weitreichende Fragen zur Ethik und Ästhetik der binären Geschlechterordnung auf. Inter- und Transsexualität rücken in den Fokus.12 Angesichts jener Unordnungen der Geschlechter13 versucht die Autorin, die ästhetische Praxis von Athletinnen, Künstlerinnen und den Menschen dazwischen, den Heldinnen der Gegenwart zu bestimmen. Anziehen(d) vertieft den vorliegenden Ansatz zur ästhetischen Kraft um den Aspekt der Materialität. Nicht zufällig greift die Autorin nach einem weiteren Gedankenstrang jenseits des Hermeneutischen. Es riecht bereits nach einem immer dichter werdenden Geflecht einer neuen Praxis in den

10 Vgl. Judith Butler: Gender trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York: Routledge 1990. 11 Vgl. Leslie Howe: »Feminism in the philosophy of sport«, in: Mike McNamee/William J. Morgan (Hg.), Routledge Handbook of the Philosophy of Sport, London/New York: Routledge 2015, S. 161-177; Gerda Weiler: Eine feministische Anthropologie, Frankfurt a.M.: Helmer 1993. 12 Vgl. Andrew Edgar: »Aesthetic of sport«, in: Mike McNamee/William J. Morgan (Hg.), Routledge Handbook of the Philosophy of Sport, London/New York: Routledge 2015, S. 69-80; Robert L. Simon: »Gender Equity and Inequity in Athletics«, in: Journal of the Philosophy of Sport 21 (1994), S. 6-22. 13 Vgl. Sven Lewandowski/Cornelia Koppetsch (Hg.): Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität, Bielefeld: transcript 2015.

12 | DER GESCHMACK DER KRAFT

Geisteswissenschaften.14 Der Raum, die Personen, die Modalitäten der Genese des Sinns treten hervor. Insbesondere zeigt sich, wie unterschiedlich die Medien, der Körper oder das Licht den Sinn transportieren.15 Inwieweit Performativitäten ersetzbar sind oder ob die zarten Bindungen, jenes Angezogenwerden, das Erregtwerden von einem Gegenstand, einer Person oder einem bloßen Geruch keineswegs auf eine austauschbare Materialität verweist, ist zu klären. Letztlich geht es um die Frage, ob zwischen Sinn und Materialität geschieden werden kann. Präsenzeffekte spielt mit Gedankenexperimenten zur Produktion von Präsenz. Präsenz bezeichnet Hans Ulrich Gumbrecht weniger als etwas Zeitliches, denn im Sinne der lateinischen Form prae-esse, vor uns, wäre es vielmehr als räumliches Verhältnis zur Welt und zu den Gegenständen aufzufassen. Etwas, das präsent ist, soll für den Menschen greifbar sein, was ein unmittelbares Einwirken auf den Körper impliziert.16 Produktion verwendet Gumbrecht ebenfalls entsprechend seiner etymologischen Herkunft von dem lateinischen Wort producere, ein Gegenstand wird im Raum vorgeführt. Produktion von Präsenz bezieht sich somit »auf alle möglichen Ereignisse und Prozesse, bei denen die Wirkung ›präsenter‹ Gegenstände auf menschliche Körper ausgelöst oder intensiviert wird«17. Wie zeigt sich konkret dieses Vorführen von Gegenständen, Mitspielern, Zuschauern? Ist die Konzeption einer Vorstellung von den Dingen überhaupt vermeidbar? Jene räumlich-zeitlichen Strukturen in den Künsten zu erkunden, mit ihnen zu experimentieren, sie mit Gegenentwürfen zur Präsenz umzuwerfen und auf den Kopf zu stellen, das soll hier erprobt werden. Kunst ist in höchstem Maße von persönlicher Natur. Zumindest in der Deutung wie sie weiter oben als Freiheit des Sozialen skizziert wurde. Kunst und Produktion passen nicht zusammen. Obgleich Kunst noch nie zuvor in der nachdisziplinären Gesellschaft einen derart hohen Stellenwert in der Vermarktung eingenommen hat, wie es derzeit der Fall ist. Kunst als Erkenntnis vermag vielleicht der Produktion zur Verfügung stehen. Kunst als Erregung und Übertragung von Kraft wie es Sokrates im Dialog mit

14 Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 17. 15 Vgl. ebd., S. 28. 16 Vgl. ebd., S. 11. 17 Ebd., S. 1 [Herv. i.O.].

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dem Redner Ion beschreibt,18 entzieht sich der bestimmbaren Produktion. Auch wenn sich im Einzelfall die Entrückung des Künstlers auf den Zuschauer überträgt, so kann jenes aus dem Rahmen fallen, die Verwandlung in ein ästhetisches Phänomen nicht als Gut produziert werden. Die Kraft der Kunst ist das Gegenteil. Die Kraft der Kunst ist ästhetische Freiheit. Geschmack ist eine ästhetische Kategorie. Er ist ein sozusagen vorzügliches Exemplar ästhetischer Freiheit. Nur ist jene Freiheit dem Künstler vorbehalten. Geschmack ist zugleich eine soziale Kategorie. Das Üben ermöglicht das Bilden des feinen Geschmacks. Wie wirken nun jene Konstitutionsmomente des Ästhetischen und Sozialen zusammen? Wie unterscheidet sich jenes Wirken in der Materialität des Künstlers von der des Kunstgastes? Und nicht zuletzt deutet sich ein Oszillieren von Effekten des sozialen Sinns und den Präsenzeffekten an. Konsistent leitet es in eine Hommage an die Freiheit von sich selbst über, eine ästhetische Freiheit als gelebter Differenz zwischen sozialem Vermögen und der Entfesselung von demselben im Rausch – eine Ode an das Schmecken.

18 Vgl. Christoph Menke: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2014, S. 11.

Erster Teil: Skizzen

I

Cosimas Erbe Diesseits von Milch und Honig

»Wenn ein vernunftbegabtes Wesen auf die Erde zurückkehrte und uns lange genug beobachtete, würde es sich dann nicht Gedanken über uns machen? Mit der Stimme des vernunftbegabten Wesens: Ah, ja, jetzt versteh ich, was es ist, ja, jetzt begreife ich, was sie machen!« SAMUEL BECKETT: Endspiel

Vor mir sehe ich einen großen Raum, so schmuckvoll eingerichtet, dass man ihn wohl eher einen Saal nennen könnte. In der Mitte steht ein Flügel, an den Wänden Wogen von Büchern aufgereiht. Ein Canapé, ein Schreibtisch, vor ihm ein junger Mann. Seine Feder schwingt eifrig hin und her. In den kurzen Pausen blickt er zu dem Mann am Flügel hinüber. Er ist vertieft in seine Notenblätter, notiert etwas. Als er seine Arme zum Spiel erhebt, betritt eine Frau das Musikzimmer. Das Spiel beginnt. Die Frau lässt sich auf dem Canapé nieder. Die Feder des jungen Mannes beginnt über dem Blatt zu tanzen. Dann streifen sich ihre Blicke. Er hält inne und beugt sich wieder über das Blatt, dem Tanze auf dem Blatte zuwendend. Während die Autorin diese Szene vor sich sieht, fragt sie sich, welche Neurosen sie an diesem jungen Mann festhalten lassen. Unbenommen scheint, dass der junge Friedrich Nietzsche ein wunderbares Exemplar für jene Gattung Schriftsteller ist, in welcher man Wort und Mensch nicht voneinander trennen kann. Natürlich ist jeder Text der Schaffensprozess einer bestimmten Person und ohne diese, zumindest jenseits der objektiven Her-

18 | SKIZZEN

meneutik, nur das Schwarz und Weiß im Dazwischen von Blatt und Leser. Weshalb nun jener Umstand bei Nietzsche ein besonderer ist, liegt darin, dass er selbst ein Centaur ist. Mehr noch, er ist von Centauren beflügelt und in seiner Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ist selbst die Gestaltwerdung die eines Centauren. Der Kopf ist durch das Medium der Sprache geformt, der Körper ist von Musik erfüllt und betrachtet man die Struktur des Textes genauer, dann kann man sogar sagen: Die Geburt der Tragödie gleicht einem Tier, das sich unentwegt gegen sich selbst wendet.

A

D IE G EBURT

DES

D RAMAS

Widmet man sich zuvorderst den Konstruktionsprinzipien der Geburt der Tragödie, erweist sich Peter Sloterdijk als ortskundiger wie anregender Weggefährte. Die ursprünglich als Nachwort zu einer Publikation der Tragödie vorgesehenen Überlegungen Sloterdijks suggerieren eine Lesart gleich der Rezeption eines synästhetischen Kunstwerkes. Zugleich offerieren seine Gedanken die Modifikation des Begriffes der Aufklärung durch ein Hinwenden zu der dramatischen Struktur derselben. Eine Aufnahme der Ereignishaftigkeit des rationalen Denkens in seine Reflexion würde das »Selbstmißverständnis der neuzeitlichen Philosophie«1 zerfallen lassen: »Nur ein vom Drama belehrtes Bewußtein, behaupte ich, kann den komplementären Fehlwüchsen der losgelassenen Theorie und der entfesselten Praxis entkommen – und von den Bastarden einer Dialektik beider nicht zu reden. Im Drama der bewußten Existenz begegnen einander nicht Theorie und Praxis, sondern Rätsel und Transparenz, Ereignis und Einsicht. Wenn Aufklärung geschieht, dann nicht als Einrichtung einer Diktatur der Durchsichtigkeit, sondern als dramatische Selbstaufhellung des Daseins.«2

Erarbeitete sich die Philosophie ein dramatisches Selbstbewusstsein, würde sie nicht mehr bloße Ansichten von der Welt liefern. Die Gefahren der

1

Peter Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 9.

2

Ebd., S. 9 f.

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Welt, die den Philosophen umgibt, die Kämpfe seines eigenen Denkens und Handelns dürften Beachtung finden. Philosophie könnte Dichtkunst sein und umgekehrt. Und das Ziel: Erkenntnis wäre wieder Abenteuer! Cosimas Erbe ist als eine Art Auftakt zu den Überführungen der Gedanken des jungen Nietzsche in die Dramen der Künste der Gegenwart zu sehen. Die Geburt des Dramas entfaltet Nietzsches Geburt der Tragödie als vorzügliches Beispiel für jenes angedeutete Drama. In jenem Schriftstück zeigt sich durch das Spiel von Stimmung und Geschmack die Sonderstellung Nietzsches unter den Philosophen.3 Nietzsche wendet bewusst die Modi der Oralität an: Stimmungen werden erzeugt und wieder gebrochen. Geschmacksstile erfahren eine Erprobung, Tonarten und Lautstärken werden gezielt eingesetzt, das Tempo variiert. Aus seinem Schriftstellerleib gebiert er sozusagen seine Wahrheiten, provoziert durch Stringenz und Widerspruch gleichermaßen Festbeißen wie Aufschreien, in einem Spiel von Unschärfe und detailgetreuer Wiedergabe erregen sie den Körper der Leserin. Genau in jenem ungestümen Erfassen von Ereignissen wurzelt das Zerrissensein des Philosophen als Künstler gesehen zwischen Präsenzkunst und Kunstzwang. Wo er nun selbst zum Abenteurer wird, kann er sich dem Formungswillen des Dramatischen nicht mehr entziehen. Der Philosoph ringt in seinem Schaffen, gestärkt und entwaffnet zugleich von seinen eigenen bildnerischen Kräften. Der Leib ist die materiale Grundlage für das Erfassen des Abenteuers. Das Drama seinerseits bildet die strukturelle Bedingung für das Entstehen desselben. Das Drama des Leibes verbindet die Strukturanalyse des Dramatischen mit der Präsenzerfahrung des Leibes. Materialität rückt damit in das Zentrum einer Philosophie, in der es zugleich um das Zulassen und Aushalten von Ungewissheit und Durchsichtigkeit geht. Am Ende dieses ersten Kapitels stehen die Dionysien des Gewöhnlichen. Das alltägliche Leben jenseits der Kunstwelt wird nach Möglichkeitsbedingungen des Rausches befragt, den Ekstasen der Nichttragödie. Zuweilen darf sich die Leserin eingestehen, wie reizvoll das Entblößen des Konfliktes zwischen Drang und Vision ist. Jener innere Konflikt der Figuren auf der Bühne zwischen Leidenschaft und Hemmung, Impulsivität und Kontrollzwang nicht nur vor sich und mithin in sich zu erleben, sondern die Opposition selbst zu sein, um sie zu verstehen, zeichnet die Spiel-

3

Vgl. ebd., S. 134 f.

20 | SKIZZEN

vorlage. Um der Geburt des Dramas, ihren Wahrheiten nah zu sein, bedarf es des Verweilens auf der Bühne ebenso wie des spontanen Abtretens. Erst im Verweilen des Philosophen auf den Bühnen des Sports, der Künste oder der Musik kann er sich selbst der Zerrissenheit zwischen Bewegung und Betrachtung stellen. Dort kann er sich der Musik mit ganzem Leibe hingeben, ein Diesseits von Milch und Honig erleben. Wo die Vorstellung von den Ereignissen auf der Bühne von eben solchen Ereignissen droht, entfesselt zu werden, zeigt sich die Eröffnung des Dramas. Und von hier an muss die Autorin Nietzsches Modell der Polarität zwischen den beiden Kunstgöttern Apollo und Dionysos wandeln, vielleicht in ein etwas zeitgemäßeres Modell transferieren. Diese Verwandlung ist weniger von dem Drang zu einer Abkehr von den Gottheiten geleitet, als dass sich aus den unlängst waltenden Zeiten des Liberalismus eine Adaption an die Möglichkeit eines Ungleichgewichtes ergibt. Der Ausgang des Spiels wäre ungewiss. Doch gehen wir einen Schritt zurück: Der fordernde Wille des Spielers, seine obszöne Kraft bedroht das helle, schillernde Bild. Damit Spieler wie Zuschauerin weiter von dem Kampf ergriffen werden, muss die Möglichkeit einer tatsächlichen Bedrohung bestehen. Nicht in der Art, dass das Spiel aufhört, ein solches zu sein, jedoch in der Weise, dass der Spieler in der Hingabe an sein Spiel das Bild von eben diesem wahrhaft ins Wanken versetzt. Nur ist diese Möglichkeit in der apollinischen Welt des Scheins dramaturgisch nicht vorgesehen:4 »Nie ist der musikalische Orgiasmus in Gefahr, die apollonischen Schranken zu durchbrechen. Denn die Bühne selbst, der tragische Raum – wie Nietzsche ihn aufbaut –, ist seiner ganzen Anlage nach nichts anderes als eine Art von apollonischer Haltevorrichtung, die dafür sorgt, daß aus dem orgiastischen Gesang des Chores keine Orgie wird. Die Musik der singenden Böcke ist eine dionysische Aufwallung – in apollonische Anführungszeichen gesetzt.«5

4

Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik.

5

Peter Sloterdijk: »Philologie der Existenz. Dramaturgie der Kräfte«, in: Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt a.M.: Insel 2000, S. 185-220, hier S. 204 [Herv. i.O.].

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Es werden demnach zwei gewaltige Kräfte skizziert, die in ihrer kämpfenden Bewegtheit gleichsam zum Verharren verurteilt sind. Jene Gleichgewichtsidee findet bei Nietzsche keine Begründung. Vermutlich ist ihre Setzung Ergebnis oder Abbild der Sublimierungstendenzen seiner Zeit.6 Das Dionysische darf nur als das dialektische Andere des Apollinischen erscheinen. Niemals darf sich im klassizistischen Bild der griechischen Kultur der Skandal derart entäußern, dass seine Triebkräfte das Spiel auf der Bühne bestimmen. Das Axiom des Gleichgewichts sorgt stets dafür, dass sich die heroische Tat in dem Akt der Selbstbeherrschung verwirklicht, nicht in dem Zerfall des Bildes durch den musikalischen Orgiasmus.7 Ohne Frage übertönt die Faszination an jenem Kunstgriff Nietzsches apollinische Schranken, hinter die er sich vielleicht selbst verweisen muss, um einen für seine Zeit skandalösen Blick auf das Dionysische zu werfen. Ebenso fraglos ist sein Denken an Voraussetzungen gebunden wie die Frühromantiker und die Nähe zum Hause und der Musik Richard Wagners.8 Nur darf wohl jener »»dionysische Spalt«9 nicht nur als Öffnung zu einer Passage des Dionysischen begriffen werden. Vielmehr bedeutet er zugleich auch eine Abspaltung von der Vorstellung des ewig Schönen des Menschen. Das Motiv einer Spaltung der Psyche sei mit der Romantik kul-

6

Eine ebenso unauflösbare Abhängigkeit der einen von der anderen Kraft besteht in dem Wortwechsel von Hamm und Clov in Becketts Endspiel. Die Erwartung, die Metaperspektive eines vernunftbegabten Menschen würde den Figuren dazu verhelfen können, eine verborgene Ordnung ihrer dialogischen Wendungen freizulegen, womöglich das, was das Ende ihres Spiels immer wieder verzögert deuten zu können, wird enttäuscht. Der Kampf zwischen den beiden Figuren ist »unbeendbar« (vgl. Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 195).

7

Vgl. ebd. Vielleicht ist es das Vermächtnis der griechischen Dichtung über die Mainaden, welches der dunklen Kraft einen Sieg verwehrt, die Angst vor der »Vulvokratie« Cosimas Erbe. Siehe dazu das Kapitel Ein begründeter Zweifel in diesem Buch.

8

Vgl. Manfred Frank: Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, I. Teil, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982.

9

Sloterdijk: Philologie der Existenz, S. 206 f.

22 | SKIZZEN

turfähig geworden: die ambivalente Selbstdarstellung ist der Scham beraubt, die dionysische Energetik darf ihre Seinsberechtigung erfahren. Wenngleich Nietzsche die entfesselten Mittel des Ausdrucks nur in höchst regulierter Form zulassen kann, so verdanken wir ihm doch eine wahrlich wertvolle Kostprobe aus dem tiefen Grund der dionysischen Lust am Drama: »Die Erinnerung an Dionysos ist gerade keine natürliche Propädentik der Barbarei, sondern der Versuch, das Fundament der Kultur in einem Zeitalter barbarischer Drohungen zu vertiefen. Jedenfalls erweist sich Nietzsches dionysischer Spalt als eine zukunftsträchtige Form der Beziehung zu dem, was den Selbstbewußtseinen vorausliegt – eine Anordnung, auf die man stets zurückkommt, wenn die Frage sich stellt, wie die dionysischen Wahrheiten des Schmerzlustgrundes in moderne Lebensformen zu ›integrieren‹ seien, ohne daß wir den barbarischen Risiken von Wahn und Gewalt erliegen müßten.«10

Eine dionysische Lektüre der Geburt der Tragödie bedeutet also zugleich die Geburt des Dramas wie die Entfremdung vom Dramatischen, die Entdeckung des Tragischen, doch ohne tatsächlich in die Tiefe seines Abgrundes zu blicken. Doch bevor sich eine vorschnelle Abkehr von der Geburt der Tragödie ereignet, sollte die Konstruktion des Dionysischen näher betrachtet werden. Zu Beginn der Tragödie trennt Nietzsche die beiden Triebe in die Kunstwelt des Traumes und der des Rausches.11 In dem einen verwirklicht sich der hellenische Wille, der schöne Schein der Traumwelten. Unter jener Wirklichkeit verberge sich eine zweite, finstere Welt. Nun ist der helle Apollo zugleich auch der wahrsagende Gott. Dionysos erscheint als Gott der Freude, des Wahnsinns und der Ekstase. In Augenschein genommen werden soll hier zunächst einmal das Dionysische, das ungeheure Grausen, wie Nietzsche den Einfall des Dionysischen in die gewöhnliche Erkenntnisform mit Arthur Schopenhauer benennt:

10 Ebd., S. 208 f. [Herv. i.O.]. 11 Vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 27 f.

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»Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur, emporsteigt, so tun wir einen Blick in das Wesen des Dionysischen, das uns am nächsten noch durch die Analogie des Rausches gebracht wird. Entweder durch den Einfluß des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjektive zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet.«12

Und Nietzsche ist voller Mitleid mit denen, die das Glühen der Schwärmer an sich vorüberziehen lassen: »Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubtiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger.«13

Weiter schlägt Nietzsche die innere Verwandlung der Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven in ein Gemälde vor, um einen Hauch des Dionysischen einatmen zu können. Er appelliert an die Einbildungskraft des Lesers. Die Auswahl dieser Symphonie stellt nicht nur aufgrund ihrer Verbindung mit der Kantate eine besonders treffende Wahl dar, sondern ebenso, da sie ihrerseits bereits Produkt der Wandlung des Gedichtes An die Freude von Friedrich Schiller in eben diese Symphoniekantate ist. Auf jene Weise versucht Nietzsche ihm begreiflich zu machen, wie man sich dem Dionysischen eigentlich nur nähern kann, was es bedeutet, »tanzend in die Lüfte emporzufliegen«14. Und weiter schreibt Nietzsche zur Verwandlung des Menschen im Angesicht des Dionysischen:

12 Ebd., S. 31 [Herv. i.O.]. 13 Ebd., S. 32. 14 Ebd.

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»Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Tiere reden, und die Erde Milch und Honig gibt, so tönt auch aus ihm etwas Übernatürliches: als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden: die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung des UrEinen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches.«15

Beide Kunsttriebe, das Apollinische wie das Dionysische brechen »ohne Vermittelung des menschlichen Künstlers« aus der Natur selbst hervor.16 Die Befriedigung der Triebe geschieht auf direktem Wege: in der Bilderwelt des Traumes oder der rauschvollen Wirklichkeit. Über die Konstitution der Traumwelt ist zu sagen, dass sie sich ungebunden von Intellekt oder künstlerischer Bildung ereigne – eine gesetzte Annahme Nietzsches, die an dieser Stelle ebenfalls erst einmal hingenommen werden kann, in den Präsenzeffekten jedoch einer expliziten Prüfung unterworfen wird. Auf der anderen Seite steht das Wirken des Rausches, welches aufgrund einer mystischen »Einheitsempfindung« des Einzelnen ihn von seiner Existenz als Individuum zu erlösen sucht.17 Jede Künstlerin erprobe sich dementsprechend im Nachahmen der Kunstzustände der Natur als apollinische Traumkünstlerin oder dionysische Rauschkünstlerin oder in der Vereinigung der beiden. Ein Exemplar der Vereinigung der beiden Kunstzustände bilde die griechische Tragödie: mystische Selbstentäußerung trifft auf das gleichnisartige Traumbild der Griechen. Wobei hier sorgsam die rauschhaften Zustände in einem tieferen Sinne von den wollüstigen Ausschweifungen jener fieberhaften Regungen der Feste zu unterscheiden wären: »Dagegen brauchen wir nicht nur vermutungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die dionysischen Griechen von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der alten Welt – um die neuere hier beiseite zu lassen – von Rom bis Babylon können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, bestenfalls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige Satyr, dem der Bock Namen und Attribute verlieh, zu Dionysus selbst.

15 Ebd., S. 32 f. 16 Vgl. ebd., S. 33 [Herv. i.O.]. 17 Vgl. ebd.

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Fast überall lag das Zentrum dieser Feste in einer überschwenglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familientum und dessen ehrwürdige Satzungen hinwegfluteten; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche ›Hexentrank‹ erschienen ist.«18

Auf diese Weise wird die Unterscheidung eines auf Rauschmitteln basierenden Rauschzustandes von der natürlichen Triebkraft des Rausches kenntlich gemacht. Der dionysische Rausch ist nicht das Verdrängen der Individualität durch den Rausch, sondern das Wirken des Rausches ist die Wandlung des Einzelnen in den Zusammenhang des Seins. Philologisch meisterhaft skizziert Friedrich Nietzsche die Geburt des Kunstphänomens, die Zeichnung der dionysischen Orgien der Griechen, in denen sich erst »die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen«19 zeigt. Und das ist auch der Grund, weshalb jener Geschmack im Original serviert werden muss: »Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreißung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheußliche Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft: nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affekten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn – wie Heilmittel an tödliche Gifte erinnern –, jene Erscheinung, daß Schmerzen Lust erwecken, daß der Jubel der Brust qualvolle Töne entreißt. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe.«20

Die »seufzende Natur« – was für ein großartiges Bild. Das zentrale Thema der Geburt der Tragödie, die Auflösung des Individuums in der dionysischen Orgie wird hier erstmals aufgeworfen. Eindrucksvoll exploriert Slo-

18 Ebd., S. 34 f. [Herv. i.O.]. 19 Ebd., S. 36. 20 Ebd. [Herv. i.O.].

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terdijk in seinem Denker auf der Bühne die politische Tragweite jener Aussage.21 Einstweilen nimmt die Autorin mögliche Auflösungstendenzen in den Blick. Ziehen wir als besonders eindringliches Wirkungsinstrument die Musik heran. Nicht die Klänge einer dorischen Architektonik helfen hier weiter, vielmehr bedarf es für dieses Exemplar Töne jener erschütternden Gewalt, die es vermögen, das nie Empfundene eines Menschen emporzudrängen. In der Selbstentäußerung des Künstlers ereignet sich das Einswerden mit der Natur und an diesem Punkt entsteht das künstlerische Phänomen: »Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken; eine neue Welt der Symbole ist nötig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesamtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muß der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäußerung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will: der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von seinesgleichen verstanden!«22

Eine bedeutsame Passage für das Verständnis der Entfesselung der Kräfte, die, nachdem sie in ihrer Gesamtheit wirken konnte, in ihre einzelnen Bedeutungsfragmente zerpflückt und wieder zusammengesetzt werden soll. Die gewaltigen Wellen der dionysischen Musik vermögen es, den ganzen Körper eines Menschen in Schwingung zu versetzen, in ihm die symbolische Kraft des Tanzes auflodern zu lassen. Erst durch das Schwingen des Leibes entfalten sich die anderen symbolischen Kräfte wie die der Musik selbst. Der Tanz, vielleicht auch nur irgendein den ganzen Körper durchdringendes rhythmisches Bewegen, ist die Bedingung für das Ereignen der höchsten Entäußerung des Menschen. Ein Verstehen jener Entfesselung der Kräfte ist nur durch die Teilhabe möglich. Dieser letzte Umstand ist ebenfalls gesetzt, eine Ableitung bedarf weiterer Fragmente.

21 Vgl. Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne. 22 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 37.

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B

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K UNSTZWANG

Wenngleich die moderne, vielleicht sogar feministische Interpretation Katharina Wagners vielenorts auf Widerstände gestoßen ist, so scheint die Musik als zeitüberschreitendes Kunstwerk nichts von ihrer erschütternden Gewalt einzubüßen. Vielleicht zeugt das Klappern des Eisengerüsts von der Unfertigkeit des Bühnenbildes, vielleicht sind es aber auch die Bayreuther Festspiele, die noch nicht reif sind für einen derartigen Bruch mit der Konvention, den Rollenbildern, dem Drama an sich. Vielleicht ist es auch gar unmöglich, dem Dilemma aus gegenwartsbezogenem Drama und unzeitgemäßem Inhalt zu entkommen. Und vielleicht verhält es sich mit den musikalischen Strukturen der Oper anders. Womöglich kann man ihrer ungestümen Dynamik gar nicht entfliehen. Zumindest nicht, solange man des Zuhörens mächtig ist. Eine Flucht ist unmöglich. Wenn man in der Lage ist, sich Tristan und Isolde ganz hinzugeben, ereignet sich jenes wunderbare, unerklärliche Einswerden mit dem Kunstwerk. Nur darf es hier nicht nur um den Genuss als solchen gehen. Das Einswerden ist nicht das erklärte Ziel des Künstlers, jener Zustand ist die Bedingung für den Prozess der Kunst. Das Entlassen des Selbst aus dem Verlangen nach Subjektivität ermöglicht erst der Künstlerin, Künstlerin zu sein. Eine Art musikalische Gestimmtheit scheint dabei eine tragende Rolle zu spielen. Wenn ich mit einem neuen Buch beginne, stelle ich mir eine fein säuberlich ausgewählte Liste an Musikstücken zusammen, diese wird während der Konzeption des Projektes getestet und dann bis zur Fertigstellung des Werkes nicht mehr verändert. Eine alte Bekannte von mir muss jedes Mal eine Weile durch das Zimmer tanzen, bevor sie sich dann auf die Fensterbank setzen und Papier und Stift in die Hand nehmen konnte. Insofern muss die Autorin sich Nietzsche anschließen, wenn er die für die seinige Zeit neuere Ästhetik bezichtigt, mit der Deutung des Nebeneinanderstellens der Urväter der griechischen Dichtung Homer und Archilochus wohl eher etwas Verklärendes denn etwas Erhellendes hinzugefügt zu haben. Dem »objektiven« Künstler den ersten »subjektiven« entgegenzustellen, sei reine Einbildung:23

23 Vgl. ebd., S. 48.

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»Uns ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjektiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjektiven, Erlösung vom ›Ich‹ und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objektivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muß unsre Ästhetik erst jenes Problem lösen, wie der ›Lyriker‹ als Künstler möglich ist: er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer ›ich‹ sagt und die ganze chromatische Tonleiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt.«24

Nicht etwa eine Reihe oder die schematische Darstellung kausaler Gedankengänge entfacht die Schaffenslust des Lyrikers, der Dramaturgin, des Architekten oder der Mathematikerin als Künstlerin gesehen, vielmehr ist es eine Art musikalischer Stimmung. Nietzsche verweist an diesem Punkt auf etwas, das Friedrich Schiller über den vorbereitenden Zustand vor dem Akt des Dichtens geschrieben hat: »Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee.«25 Nun mag es leicht erscheinen, den Lyriker als dionysischen Künstler zu begreifen, der im Wiedersehen des Urschmerzes der Musik eins wird mit seinen Widerständen. Nietzsche erzeugt hier das Bild einer zweiten Spiegelung, die auf das gleichnisartige Traumbild des Apollinischen unter dem Einfluss des Dionysischen folgt, oder man sollte vielleicht eher sagen: es ersetzt: »[…] das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, samt der Urlust des Scheines, versinnlicht.«26 Ein Akt der Versinnlichung des Urschmerzes und der Urlust im Prozess des Dionysischen verweist dabei auf ein Doppeltes. Es ist nicht nur der Lyriker, der zur Entfaltung seines Genius der Begegnung mit dem Urschmerz der Musik bedarf. Ebenso vermag sich auch die Musikerin erst durch das

24 Ebd. [Herv. i.O.]. 25 Friedrich Schiller/Johann Wolfgang von Goethe: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. v. Manfred Beetz, München: Hanser 1990, S. 167. 26 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 49.

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Verschmelzen ihrer bild- und begrifflosen Leidenschaften mit den Traumgestalten von ihrer Subjektivität zu lösen. Lyriker wie Musikerin können für sich alleine nur zu epischen Nichtkünstlern oder Nichtkünstlerinnen werden: Die Musikerin ist zum Erleiden des »Urwiderklingens« ihres Schmerzes verdammt, der Lyriker zur ewigen Plastizierung seiner Bilder. Wenn die beiden Kunstformen aber einander berühren, erhalten Visionen und Spiel plötzlich ungeahnte Färbungen. Wesentlich ist nun, dass jenes Kosten von der jeweils anderen Kunstform nicht als punktuelles Hineinhören oder Anschauen aufgefasst werden sollte, ebenso wenig wie die angeführten Kunstformen als eben diese zu deuten sind. Möglicherweise sollen sich bestimmte Künstler in einigen wenigen Passagen bei Nietzsche konkret angesprochen fühlen. So legt er doch besonderen Wert auf das Verständnis des Prozesses des lyrischen Schreibens. Doch auf die Waagschale gelegt, könnte man sogar dieses bezweifeln. Denn über allem steht bei Nietzsche die Aufgabe des Subjektes in der Vereinigung des Dionysischen mit dem Apollinischen und damit geht es um nichts Geringeres als die Vereinigung der Kunstformen. Bedeutsam ist die Idee einer Entfaltung des künstlerischen Genies durch das Einswerden von Bild und Leidenschaft, Begriff und Widerstand, Vision und Qual. Christoph Menke betont mit Blick auf Johann Gottfried von Herder den Gedanken der Überschreitung der Subjektivität des Menschen in dem Wirken der Kraft. Das Ästhetische wird nicht als sinnliches Erkennen oder Präsentieren von etwas gefasst, da die Kraft ein dunkles, unbewusstes Prinzip ist: eine »Kraft nicht des Subjekts, sondern des Menschen im Unterschied zu sich als Subjekt. Die Ästhetik der Kraft ist eine Lehre von der Natur des Menschen: seiner ästhetischen Natur in Differenz zur übend erworbenen Kultur seiner Praktiken«.27 Entsprechend bezeichnet Menke die Ästhetik Herders als »Untersuchung des Dunklen«28. Auch wenn es nicht möglich sein sollte, wirklich dahinter zu kommen, wie sich das Lösen von Subjektivität, die Aufgabe des ewigen Wollens des Ichs ereignet, kann eine nähere Beschau des Prozesses eines Zusammenschmelzens der Kräfte fruchtbar sein. Möglicherweise zeigt sich irgendwann, dass in dem Schaffensprozess nicht der Künstler von seinem Wollen lässt, sondern dieses Wollen sich in ein befriedigtes und daher von Trieb-

27 Menke: Kraft, S. 9. 28 Ebd., S. 49.

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haftigkeit vorübergehend befreites Wollen wandelt.29 Trotzdessen kann man nicht umhin, erst einmal zu prüfen, ob und auf welche Weise sich die Dynamik der griechischen Tragödie in der Entstehung der gegenwärtigen Dramen zeigt. Von welcher Gestalt sind also zeitgenössische Dramen? Gegenwärtig in aller Munde ist die Flüchtlingskrise. Gemeint ist damit nicht die Krise, in der sich die aufgrund von Krieg oder politischer Verfolgung heimatlos gewordenen Menschen befinden. Der Krieg in Syrien oder die wirtschaftlichen Missstände in Albanien sind für die Europäer gegenwärtig geworden, da plötzlich mitten in ihren Heimatort Fremde einziehen, Turnhallen zu Schlafsälen werden, auf Vorplätzen von Bahnhöfen campiert wird und Container aufgebaut werden. Angesichts von Millionen Flüchtlingen zeigen sich in Deutschland, das neben Schweden die meisten Flüchtlinge aufnimmt, zwei gewaltige Strömungen. Überschwängliche Hilfsbereitschaft und unbändiger Zorn.30 Es ist bereits einige Jahre her, lange bevor die große Flüchtlingswelle sich ankündigte, als Christoph Schlingensief gemeinsam mit Luc Bondy, der damals Chef der Wiener Festwochen gewesen ist, eine Schnittstelle zwischen Leben und Kunst inszenierte.

29 Nietzsche grenzt sich in seiner Begründung des Zustandes des Künstlers von der weiteren Deutung Schopenhauers ab, der die Vereinigung des Ästhetischen mit dem Unästhetischen als Ursprung der Kunst deutet: »Es ist das Subjekt des Willens, d.h. das eigene Wollen, was das Bewußtsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affekt, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewußt als Subjekts des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, seelige Ruhe nunmehr in Kontrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens: die Empfindung dieses Kontrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was überhaupt den lyrischen Zustand ausmacht.« (Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig: F.A. Brockhaus 1859, S. 294 f.). 30 Siehe zum Thymotischen der menschlichen Psyche, dem Gefühl, Zeuge einer Weltkrise zu sein, Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008.

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Die Arbeit in Zeltstädten und Containerdörfern war Schlingensief bereits vertraut. Terror 2000 inszenierte er in einem Asylbewerberheim, in dem 18 m² für fünf bis zehn Personen vorgesehen waren, zuzüglich eines Waschraumes und eines Aufenthaltsraumes mit Gemeinschaftskochstelle. Etwas Ähnliches konzipierte Schlingensief für Wien. Getrieben von der Frage, was passieren würde, wenn die Lösungen der Politik für die Asylbewerberfrage einmal nachgespielt werden würde, kopierte er den Slogan der Freiheitlichen Partei Österreichs Ausländer raus. Das große Schild mit der Aufschrift Ausländer raus wurde mit den blauen Fahnen der FPÖ farbenprächtig untermalt, die Außenwände der Container mit Wahlkampfsprüchen der FPÖ und mit Artikeln der Kronen Zeitung verziert. Die Enthüllung des Schildes wurde vom Jubel der Sympathisanten begleitet. Nun waren die Österreicher dazu aufgerufen, die Ereignisse im Container via Internetfernsehen zu verfolgen und täglich die zwei unbeliebtesten Insassen aus dem Container herauszuwählen. Da nach langwierigen Behördengängen schlussendlich zur Überraschung beider – Luc Bondys und Christoph Schlingensiefs – nur der Platz für den Ort der Inszenierung direkt neben der Oper genehmigt werden konnte, war die Aufmerksamkeit mit der Zeit entsprechend groß: »Die ersten zwei Tage passierte eigentlich gar nichts. Das Ganze wirkte ein bisschen wie abgestandenes Essen. Aber durch die Penetranz der Menschen, die sich vor dem Container versammelten und schimpften und diskutierten, kam immer mehr Energie in die Sache, und sie fing langsam an, sich selbst zu tragen. […] Man war mittendrin, jeder, der am Set war, stand plötzlich im Film, nicht in dem Film von mir und oder von Luc Bondy, sondern in seinem eigenen Film. Ich glaube wir haben damals etwas erzeugt, das sich so verselbstständigt hat, wie es normalerweise nur ein Virus im Körper macht.«31

Tatsächlich durfte sich das Projekt einer hohen Wahlbeteiligung erfreuen. Wer am Abend die meisten Stimmen hatte, wurde mit dem Auto abgeholt und sollte auf diese Weise über die Landesgrenze gebracht werden. Der übrig gebliebene Asylbewerber bekam das Siegergeld und sollte in Österreich bleiben dürfen. Aufgrund des großen Tumultes ließen die Festwochenbe-

31 Christoph Schlingensief: Ich weiß, ich war’s, hg. v. Aino Laberenz, München: btb 2014, S. 98 f.

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treiber irgendwann Schilder aufstellen, die erläuterten, dass es sich lediglich um eine Kunstaktion handle. Die Überschneidung von Fiktion und Wirklichkeit ist manchmal schwer auszuhalten. Trotzdessen arbeitet Schlingensief bis zu seinem Tod bevorzugt an derartigen Schnittstellen zwischen Kunst und Leben: »Habe gedacht, ich bin in der Realität, musste aber erkennen, dass um mich herum die Situation niemand ernst genommen hat. Oder ich selbst hab die Situation nicht ernst genommen und plötzlich gemerkt, wie ernst und bitter sie ist. Solche Kippmomente habe ich oft erlebt. Vielleicht zu oft. Denn das, was ich da angezettelt habe, war ja nicht nur für die anderen unklar und widersprüchlich. Auch ich wusste oft nicht, was gerade los ist, auf welcher Seite der Grenzlinie ich mich gerade befinde. Und tief in meinem Innern habe ich mich schon manchmal nach Klarheit gesehnt, war unglücklich über die Totalverwirrung, die ich da gestiftet habe. Weil ich mich dabei selbst verloren habe, weil ich nicht selten selbst in der Totalverwirrung gelandet bin.«32

Trotzdem ließ Schlingensief die alarmierenden Kunstaktionsschilder sofort wieder abbauen, da eine derartige Aktion von den Momenten der Spiegelung lebt. So hielten die Touristenbusse an der Oper und japanische Touristen lasen plötzlich auf den Schildern: Ausländer raus! Das stiftete natürlich Verwirrung und Enttäuschung, da das Bild, was sich diese Fremden von der Stadt gemacht hatten, mit einem Male ins Wanken geriet. Und um eben diese Spiegelung ging es Schlingensief. Das wirkliche Leben wird nachgespielt, sogar im Leben selbst. Es wird eine Inszenierung arrangiert, bei der nicht klar ist, wer eigentlich wen beobachtet.33 Der Regisseur beobachtet die Politik sowie die Medien als politisches Instrument, die Medien ihrerseits beäugen wiederum den Regisseur. Das Ganze wurde noch auf die Spitze getrieben, indem Schlingensief die Regierung dazu aufrief, das mitten in Wien platzierte Schild Ausländer raus endlich zu entfernen. Paradoxerweise durfte die Regierung die Kopie ihres eigenen Slogans nicht entfernen, da sie das, was sich dort ereignete und was sie selbst vermutlich niemals als Kunst bezeichnen würde, unter die Frei-

32 Ebd., S. 99. 33 Vgl. ebd., S. 100.

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heit der Kunst fiel. »Ich wollte eine Bilder-Störungsmaschine bauen.«34 Und auch wenn die erhoffte politische Diskussion ausblieb, ist es Schlingensief durch diese Spiegelung gelungen, das saubere Bild der österreichischen Regierung zu stören. Auch bei seinen Vorbildern wie den Künstlern Dieter Roth oder Joseph Beuys ging es bereits um jene Momente, in denen die Aktionen zu leben beginnen, wenn die Zuschauer in das Bild eintreten. In einem Interview berichtet Schlingensief davon, wie ihn der Mann mit dem Hut inspiriert hat.35 An einem Abend war Joseph Beuys vom Lions Club eingeladen, einen Vortrag in Essen zu halten. Während er von Transformationen und Gesellschaft redete, dösten die Herren vor sich hin. Doch dann hätte Beuys voller innerer Überzeugung den Satz gesagt: »Ich garantiere Ihnen, dass dieses Gesellschaftssystem in sieben Jahren komplett zerstört ist.«36 Alle Mittelständler wären schlagartig wieder aufgewacht und hätten lautstark protestiert. Beuys vermochte es, mit nur einem einzigen Satz einen ganzen Saal in Aufruhr zu versetzen. Als Schlingensief Jahre später seinen Vater auf die Behauptung ansprach, meinte dieser, er hätte sich damals das Datum im Kalender notiert, es Jahr für Jahr übertragen und es sei nicht eingetreten. Beuys hätte unrecht gehabt. Der Sohn habe ihm entgegnet, Beuys hätte damit aber eine Ungewissheit in ihm angesprochen und ihn dazu bewegt, sich sieben Jahre damit zu beschäftigen. Da habe sein Vater zugestimmt. In diesem Augenblick habe Christoph Schlingensief begriffen, dass dieser Auftritt von Beuys im Grunde ein großartiges Kunstwerk gewesen ist.37 Nun beginnen diese Ausschweifungen mit der Frage, welcher Gestalt zeitgenössische Kunst sei. Möglicherweise lenkt die Medienträchtigkeit der ausgewählten Exemplare von der eigentlichen Veränderung der Struktur im Schaffensprozess von Kunst ab. Während sich der klassische Rausch des Künstlers eindeutig in dem Schaffensprozess des Werkes ereignet, scheint es hier eine Verschiebung des Rauschzustandes zu geben. Die Energien werden erst frei, wenn der Zuschauer den Raum betritt. Nur handelt es sich dabei keineswegs um eine zeitliche Verschiebung. Die nachdisziplinäre Kunst ereignet sich in einer Verschiebung des Raumes. Der Zuschauer ist

34 Ebd., S. 105. 35 Vgl. Interview mit Klaus Biesenbach zit. nach ebd., S. 112. 36 Ebd. 37 Vgl. ebd.

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tragendes Moment des Dramas geworden. Erst durch die Präsenz des Zuschauers vermag sich eine Entfesselung der Kräfte ereignen. Die Transformation der Installation, des Bildes, der Figur oder des Begriffes in ein Kunstwerk gelingt nur durch die Leidenschaften, Sehnsüchte, Ängste des Zuschauers. Ohne die Teilhabe des Rezipienten bleibt das Kunstwerk pure Fiktion. Niemals wurden auf dem Kunstfestival der Biennale derart viele Paläste bespielt, Treppenhäuser gestaltet oder gar im Verborgenen inszeniert, wie in dem kritischen Beitrag von Olaf Nicolai von dem Dach des deutschen Pavillons aus. Von den gierigen Augen der Besucher kaum zu erspähen lässt der Künstler Boomerang-Schnitzer, das perfekte Wurfgerät testen und die Exemplare von Straßenhändlern in der Stadt verkaufen, um damit die Unkenntnis über die Produktionsweisen in der globalen Welt zu demonstrieren. Und dieser Trend zur informellen Kunst betrifft nicht nur die Aufführung selbst. Auf Kampnagel in Hamburg lädt Jenny Beyer in Kooperation mit dem K3-Zentrum für Choreographie|Tanzplan Hamburg gerade zu einem kollaborativen Laboratorium ein. Im Rahmen des Problemprozesses zu Glas, dem zweiten Stück ihrer Trilogie zum Verhältnis von Publikum und Tanz, widmen sich sechs Choreographinnen und Choreographen sowie der Musiker Jetzmann und der Dramaturg Igor Dobričić eine Woche lang dem Zuschauen an sich. Die Zuschauerinnen sind eingeladen, an der Auseinandersetzung über die Wirkung und Rezeption von Tanz teilzunehmen. In drei offenen Studios werden Assoziationen, Bilder von Zuschauenden erfragt, in das Stück integriert und zugleich werden die Teilnehmenden wieder auf ihre eigenen Sehgewohnheiten und Deutungen zurückgeworfen. Die Proben selbst werden hier zu Kunststücken eigener Art. Nicht wie es in einer Vorpremiere der Fall ist, die Öffentlichkeit darf nicht etwa vor der eigentlichen Aufführung zusehen, die Öffentlichkeit ist konstitutives Moment der Probe. Die Probe transformiert zur Aufführung, die Fiktionen des Zuschauers zum Material, der Zuschauer zu einem, der sich selbst zusieht, der Dramaturg zum Zuschauer und wieder zurück. Wieder anders doch am selben Ort mischt die Produktion von Greta Granderath und Hannah Georgi in diesem Jahr Probe und Aufführung. Private Dancer funktioniert wie eine Art Jukebox mit den Choreographen und Phantasmen der eigenen Vorstellung. Alle dreißig Minuten betritt ein Tänzer den leeren Bühnenraum. Auf sein Zeichen hin beginnt seine Auffüh-

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rung für ihn selbst oder für einen anderen – ein privates Profitraining. Der Tänzer zahlt Eintritt, um sich selbst beim privaten Training zu sehen. In zeitgenössischen Tanztrainings vermischen sich Tanzvokabeln und eigene Stimmungen, Komposition und Transformation. Die Tänzerin wandelt sich zur Choreographin, wandelt sich in die Tänzerin und immer so fort. Dadurch wandelt sich der Bühnenraum zum Zuschauerraum und wieder zurück. Ganz so wie bei dem Betrachten eines Kippbildes. Auch hier ändert eine kurze Bewegung das Wahrnehmen. Die andere Perspektive bewirkt einen Wechsel des Raumes. Wenn wir nun diese Tendenz der postmodernen und stärker noch der nachdisziplinären Kunstwelt hinsichtlich der Dynamik des Rausches beurteilen, kommt etwas Zweischneidiges zum Vorschein. Wenn sich Körper in Objekte verwandeln, Medien Präsenzen verschieben, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit verwischt, dann birgt das die Möglichkeit der Beschleunigung und der Hemmung zugleich. »Der Raum überprüft uns und nicht wir den Raum.«38 Das Verschieben des Raumes ist ein Spiel mit den Präsenzen. Da Präsenz jedoch eine Bedingung für das Wirken der Kraft ist, bedarf es zur Entfesselung der Kräfte im Rausch der Produktion von Präsenz. Der Künstler geht das Risiko des Scheiterns ein. Und zwar nicht in der Art, dass er schlechte Kunst produzieren könnte, sondern dass sich gar keine Kunst produziert. Eine Frau und ein Mann lehnen aneinander. Eine Weile stehen sie so da am Rande des Hamburger Rathausplatzes. Hinter ihnen liegt wie eine Kulisse das Alsterfleet. Warmes Herbstlicht benetzt ihre Gesichter. Dann sinkt die Frau zu Boden. Der Mann hält sanft ihren Kopf in seinen Händen. Sie blicken sich an. Die ersten Passanten bleiben stehen. Er schiebt seinen Oberkörper unter ihre Brust, sie umklammert ihn. Gemeinsam stehen sie wieder auf. Sie schmiegt ihren Rücken an seinen Bauch. Er legt seinen Kopf auf ihre Schulter. Stille. Plötzlich läuft ein kleines Mädchen zu dem Tanzboden. Bleibt stehen, legt den Kopf schräg und betrachtet die beiden. Dann lässt es sich auf die Knie fallen und robbt zu den beiden Tänzern. Das Mädchen hebt seine Hand, berührt das Gesicht der Frau. Bewegung kommt in die Menge. Die iPhones werden gezückt, es wird photographiert. Lisa Rykena und Philipp van der Heijden stehen weiter ruhig dar. Dann läuft das Mädchen wieder zu ihrer Mutter. Lisa löst sich von Philipp, um sich

38 Ebd., S. 113.

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ihm im nächsten Augenblick wieder zuzuwenden. Er sinkt in ihre Arme. Wieder ist da nur Stille. Abbildung 1: Yasna Schindler, Pietà im Wandel 2015

Photographie: Florian Roscher

Pietà im Wandel ist eine Körperinstallation in öffentlichen Räumen. Die Hamburger Tänzerin und Choreographin Yasna Schindler transportiert das Thema des Haltens Jesu nach der Kreuzigung in Marias Armen in moderne Kontexte. Frau hält Frau, Mann hält Mann, Frau hält Mann – im Zeitlupentempo erfahren die Tänzerinnen und Tänzer ein Tragen und Getragenwerden im kontinuierlichen Wandel. Uraufgeführt im Kleinen Michel in Hamburg im Herbst dieses Jahres ermöglichen immer wieder andere Tänzerin-

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nen und Tänzer an wechselnden öffentlichen Orten die Begegnung mit diesem wesentlichen Thema des zwischenmenschlichen Seins. Ob sich jene Begegnungen ereignen oder nicht, ist an den Zufall der Präsenz gebunden. Performance und Passanten, Nähe und Intensität sind spontane Gestaltungen. Abbildung 2: Yasna Schindler, Pietà im Wandel 2015

Photographie: Marian René Menges

Die Möglichkeit des absoluten Misslingens wird bewusst in Kauf genommen. Der Tanzboden wird ausgerollt, die Tänzer beginnen. Ob ein Passant anhält, er im Vorbeigehen von der Intensität des stillen Dramas ergriffen wird oder seine Nähe gar das Werden des Dramas befeuert, ist ungewiss. Einige Passanten gehen zögerlich und kommen später wieder. Einmal als Lisa und Philipp eng aneinandergeschmiegt daliegen, legt sich ein Mann daneben. Ein anderer Mann gibt dem kleinen Mädchen ein Geldstück, um es den beiden Tanzenden hinzulegen. Das Mädchen nimmt es und legt es neben die beiden auf den Tanzboden. Lisa und Philipp regen sich nicht. Das ist ein wunderbarer Augenblick. Im ersten Moment scheint sich eine Entspannung breitzumachen. Doch als auch nach einer Weile Lisa und Philipp keine Regung zeigen, nur weiter in ihrem gegenseitigen Tragen innehalten, wird die Stimmung wieder gespannter: Das Freikaufen von der Erregung ist nicht möglich. Entweder gibt man sich diesem Kunstakt hin und damit der Berührung des eigenen Lebens oder man wendet sich ab. Während es zu

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dem Konzept von Christoph Schlingensief gehört, die Erregung der Passanten zu bewirken, versteht sich diese Kunst im öffentlichen Raum als Geschenk, das in individueller Verweildauer angenommen oder abgelehnt werden kann. Kunst im öffentlichen Raum spielt mit diesem Wagnis: absolute Nähe und Intensität heraufzubeschwören, oder unbeachtet vor sich hin zu gestalten. Schließlich überzeugt jene Künstler die Möglichkeit des Erhebens der Masse, der schicksalshaften Wandlung des Einzelnen, der Potenzierung des eigenen Rausches. Zerriss und Glorifizierung, manchmal sogar ein und desselben Künstlers liegen daher heute dicht beieinander. Zufälle, Stimmungen leiten in der gegenwärtigen Kunst das ästhetische Urteil und das ist strukturell gesehen gar nicht anders möglich. Ohne Frage ist nicht jedes Projekt eines Künstlers auf das Dramatische ausgelegt. Manche wollen erzählen, demonstrieren, verhüllen oder schlicht übertreiben. Das Augenmerk richtet sich hier also nur auf Kunstwerke, die von ihrer Anlage her eine Möglichkeit zum Drama bergen. Im Unterschied zum klassischen leistet sich das moderne Drama die Freiheit, sich als rezeptionsüberdauernde Tragödie zu erweisen, als kurzer Einbruch des Dionysischen oder gar als Spiel zwischen realer Bedrängnis und der Fiktion des Dramatischen aufzutreten. Das klassische Drama lebt davon, dass sich das Dionysische als Einbruch in die apollinische Welt verwirklicht. Eine stets präsente Gefahr jenes Einbruchs gepaart mit der ebenso unablässig geschürten Hoffnung auf Erlösung durch die Übermacht des Apollinischen, die sich jedoch niemals zu verwirklichen scheint, weist das Kunstwerk deutlich als Drama aus. Das Tragische jener Dramen ist durch den Umstand der Unmöglichkeit einer Änderung des Vorbestimmten gegeben. Gegenwärtige Dramen müssen von ihrer Grundstruktur nicht unbedingt als Tragödie angelegt sein. Oftmals spielen die Dramaturgen mit der Frage nach der Bestimmung des Verlaufes. Die Möglichkeit des Einflusses auf schicksalhafte Wendungen mögen, wenn nicht gegeben, doch zumindest suggeriert werden. So darf der Betrachtende für sich entscheiden, wie er die Anlässe zu einem Kunstwerk deutet. Möglicherweise möchte er an der Entstehung des Kunstwerkes mitwirken, lässt zu, dass es fortan sein Leben berührt. Oder er schreitet einfach an der Installation vorüber. Vielleicht wurde von der Künstlerin ein unpassender Ort gewählt, einer, der es dem Betrachtenden nicht möglich macht, ein Ding oder eine Sequenz des Kunstwerkes

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präsent erscheinen zu lassen. Vielleicht ist der Zeitpunkt ungünstig gewählt. Möglicherweise würden sich die Betrachtenden zu etwas späterer Zeit, oder in anderer Begleitung eher auf das Angebot einlassen. Die Ungewissheit, ob die Vision eines Kunstwerkes sich in der Begegnung mit realen Menschen als mögliche Wirklichkeit erweist, bildet ein bedeutsames Moment modernen Dramas. Wenn der Dramaturg nicht mehr davon ausgehen kann, dass sich ein Kunstwerk als dramatisch erweisen wird, ja die Entstehung des Kunstwerkes als solches sogar offen ist, entzieht sich die Möglichkeit der Tragödie. Natürlich kann sich in der Rezeption des Kunstwerkes für einen Betrachtenden eine Tragödie ereignen, in der Vermischung von Lebens- und Kunstwelt ihn das Tragische ganz und gar durchdringen, doch die Tragödie in ihrer absichtsvoll gebildeten theatralischen Form schließt sich in der Konsequenz der Unbestimmbarkeit einer Produktion von Präsenz aus. Versucht werden soll nicht eine kausale Reihung von der Unbestimmbarkeit der Ereignisse zur Unbestimmbarkeit der theatralischen Form, vielmehr muss die Struktur des modernen Dramas im Hinblick auf die Rolle der bildnerischen Kräfte aufgedeckt werden. Zurückgewendet kann dieses Vorhaben auch eine neue Interpretation der bildnerischen Kräfte selbst bedeuten.

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Und das Drama selbst? Verändert die Verschiebung der Räume seine Struktur? Im klassischen Drama ist es die Aufgabe des Dramaturgen, seine Schauspieler zu einer Auseinandersetzung, einer Vertiefung in die Rolle zu bewegen und auf diesem Weg den Rausch im Spiel zu provozieren. Der Zuschauer darf sich dann beim Besuch des Schauspiels von dem Rausch des Bühnenspiels mitreißen lassen. In gegenwärtigen Kunstformen obliegt es der Gestimmtheit der Zuschauer, ob sich eine Entfesselung der bildnerischen Kräfte ereignet. Dabei ist es ganz gleich, ob es sich um einen Passanten handelt, der zufällig in eine Installation hineinstolpert und sie damit zu einer Inszenierung transformiert, oder ob sich eine Tänzerin als Choreographin aus ihrem Bewegen herauslöst und wieder hineingleitet. Die Produktion von Präsenz ist nicht mehr die Bedingung für die Aufführung, vielmehr ist es ihre Möglichkeit,

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die das Kunstprojekt begleitet. Das Kunstwerk existiert nicht mehr für sich, sondern nur im Sinne einer Möglichkeit. Das Ephemere der Kunst ist salopp gesprochen ein alter Hut. Das Ballett, das es nicht mehr gäbe, wenn die Tänzer unter der Dusche stehen, die Oper, die nur in der Stille zwischen den Noten existiere – das Flüchtige des Kunstwerkes ist in einigen Kunstformen bereits durch die Medialität gegeben. Das Ephemere der Medialität muss dabei nicht das Material der Kunst selbst sein. Telephone, ein medienübergreifendes, künstlerisches Experiment vor fünf Jahren von dem Künstler Nathan Langston mit einem Gebet eines bretonischen Fischers in die Welt gesetzt, lässt die Zeilen nach dem Prinzip der »Stillen Post« von einem Künstler zum nächsten wandern. Aus dem Gedicht wird das Bild einer nackten Frau, die unter einem Sternenhimmel ein Papierboot auf die dunkle See schickt, dann entsteht ein Vers zu dem Gemälde, eine Photographie und so fort. 315 Künstler aus 42 Ländern erreicht die Stille Post. Langston kam die Idee, als er von Portland nach New York zog und in der Großstadt mit anderen Künstlern in Kontakt treten wollte. Auf telephone.satellitecollective.org lässt er die Aktion nun online wieder aufleben. Eine andere Argumentationslinie bindet die Existenz des Kunstwerkes an die Rezipienten. Die Möglichkeit seiner Abwesenheit begründet hier das Kunstwerk als nur bedingt existent. Nur enthalten die klassischen Dramen trotz aller dieser Unwägbarkeiten etwas Beständiges: den Stoff. Noten, Linien, Farben, Figuren stehen fest. »This is so contemporary« lauten die Worte eines Museumswächters in einer der immateriellen Kunstwerke, mit denen Tino Segal berühmt wird. Double Shell, Zuchtperle in der Hand einer Aufsichtsperson von Massimo Bartolini, ursprünglich 2001 als unerwartetes Augenblicksgeschenk für Besucher initiiert, anlässlich der Ausstellung zur Retrospektive von William Forsythe für das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Rhein erworben, lässt ebenso ein Lächeln über die Gesichter der Besucher huschen. Nur verhält es sich ebenso wie mit dem Versprechen von Tino Segal: der Charakter des Geschenks schwindet mit der Wiederholung, sogar wenn das Ephemere die gesamte Produktion wie die Abstinenz von Werbung und Dokumentation mit einschließt. Trotzdem bewirken die Formen immaterieller Kunst etwas für das gegenwärtige Drama Wesentliches: Der Stoff des Dramas ändert sich. Dramaturg, Betrachter, sich wandelnde Orte sind nunmehr Teil des Stoffes. Und damit ändert sich nicht nur der Stoff im Sinne eines Ersetzens des Einen durch

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etwas Anderes. Das Ersetzen entwickelt sich zum Grundprinzip der Aufführung. Im Grunde genommen handelt es sich bei diesem Trend um die konsequente Weiterführung des Äquivalenzprinzips der Wahrnehmung. In jedem Akt der Wahrnehmung wird die Leistung auf einem anderen Weg erbracht. Bewegen und Wahrnehmen bedingen einander.39 In ihrem Spiel wird stets eine Tätigkeit durch eine andere ersetzt. Kein Akt ist identisch mit seinem Vorgänger. Jede Leistung ist einzigartig. Das Spannende liegt nicht in einer Art Bedingung des Einzigartigen, wie es bei so manchen Vorhaben für Kunstprojekte moniert wird und wir es in Beziehung zu Sehgal veranschaulicht haben. Der Anspruch der Einzigartigkeit stellt die Kunstschaffenden unter einen absurden Druck. Dabei verhält es sich ganz anders. Vielmehr bringt der Mitspieler des Wahrnehmens das Geheimnis der Genese der Leistung: das Bewegen. Ohne Bewegung ist kein Wahrnehmen möglich, ohne Rezipient kein gegenwärtiges Drama. Die Bewegung ist die Bedingung für das Wahrnehmen. Ohne Bewegung ist ferner kein ästhetisches Urteil möglich. Wenn man nun die Ausführungen zur Produktion von Präsenz hinzufügt, zieht sich die Schlinge um die Genese des Prinzips der Äquivalenz in Kunstwerken weiter zu. Die Produktion von Präsenz ist an Bewegung gebunden. Damit dem Betrachter etwas als präsent erscheint, muss sich eine Verschiebung in Nähe oder Intensität in Beziehung zu diesem Ding ereignen. Es zeigt sich damit, dass die eigentliche Veränderung durch das Einführen des Äquivalenzprinzips in der Entstehung von Kunstwerken nicht ein qualitativer ist, sondern das Ersetzen des einen Stoffes durch einen anderen vielmehr eine quantitative Verschiebung bedeutet. Das mag erst einmal seltsam klingen. Weshalb ist das Ersetzen des Stoffes in diesem Kontext in erster Linie eine Änderung der Quantität?

39 In den vierziger Jahren zeigte Viktor von Weizsäcker auf Grundlage medizinischer Untersuchungen zum »biologischen Akt« die »kohärente Bindung« des Menschen mit seiner Umwelt auf. Die Kohärenzen sind an die Abwesenheit von Kräften gebunden, die eine Unterbrechung der Bindung bewirken könnten. In jenem Akt sind Wahrnehmen und Bewegen derart miteinander »verschraubt«, dass eine Bewegung etwas in einer Wahrnehmung erscheinen lässt und umgekehrt (vgl. Viktor von Weizsäcker: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart: Thieme 1950, S. 8 f.).

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Wenn Präsenz erzeugt werden soll, eine Absicht, welche die Autorin erst einmal unbegründet dem Künstler unterstellt, benötigt seine Produktion eine Verschiebung von Nähe oder Intensität. Also lässt der Künstler es zu, provoziert es vielleicht sogar, dass sich Positionen verschieben, das Licht anders fällt, sich Visionen wandeln. Immer in der begründeten Hoffnung, jene Verschiebungen könnten Momente der Intensität erzeugen, die bildnerischen Kräfte würden entfesselt und das Projekt zu einem Kunstwerk transformieren. Und dann geschieht es plötzlich. Ein neuer Begriff wird eingeworfen, ein Mann schreckt zurück, ein anderer ist zärtlich berührt, die Stimmung wandelt sich. Die Blicke wandern zwischen der neuen Stimme und dem alten Bild hin und her. Ihre Ängste, ihre Sehnsüchte verbinden sich mit der Begriffsgestalt und breiten sich in ihr aus. Die Energie springt von einem zum anderen. Das Gefühl, irgendwo dem eigenen Leben entrückt zu sein und in einem Kunstwerk zu stehen. Und die Hoffnung auf Erlösung. Was hier geschieht ist keine qualitative Veränderung. Es ersetzt nicht einfach ein Begriff einen anderen, ein Bild übermalt ein anderes, ein Stoff überdeckt den vorherigen, das Ersetzen des Stoffes hat die gesamte Geschichte verschoben, sie bewegt. Die Wandlung von der Erzählung zum Drama ist keine qualitative, es ist eine Verschiebung der Intensität. Wenn einem etwas intensiver erscheint, einem etwas näher ist, dann ist es für einen nicht nur von anderer Beschaffenheit, es ist greifbar geworden. Auch wenn manche Kunstwerke auf den ersten Blick nicht so scheinen, die gegenwärtige Kunst hat es auf Greifbarkeit angelegt, ihre Tragödien sind Dramen zum Anfassen. Das zeitgenössische Drama fordert dazu auf, selbst konstitutiver Teil der Kunst zu sein. Führt man sich das klassische Drama vor Augen, dann ist zumindest in der Deutung Nietzsches das Kräfteverhältnis der beiden Kunsttriebe klar determiniert. Der Raum zwischen apollinischer und dionysischer Kraft ist nicht unbegrenzt der Freiheit einer Entfesselung der Kräfte unterworfen. Das Dionysische darf nur in dem Versprechen an das Apollinische, sich auch ordentlich zu benehmen und die Grenzen des apollinisch Gesetzten zu wahren, ungestüm walten. Diese Bestimmtheit verursacht zweierlei: Die Erhaltung des apollinischen Triebes ist unter Schutz gestellt und die dramatische Struktur der Tragödie verwirklicht sich. Genauer gesagt kann sich die Tragödie nur aufgrund der dramaturgischen Vormacht der Symbolisierung, der Entkörperung in ihrer vorbestimmten Form verwirklichen. Der Zwang zur Kunst drängt das Drama in die Form der Tragödie und verwehrt

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die Möglichkeit eines ungewissen Dramas. Das moderne Drama gründet auf der Freiheit der Kunst. Nicht Kunst sein zu müssen, ermöglicht das Austragen des Konfliktes des Spielers zwischen dionysischem und apollinischem Trieb. Die Möglichkeit eines Sieges, der Regierung des Dionysischen ist damit gegeben. Die Freiheit der Kunst birgt die Möglichkeit der Orgie. Folgerte man aus diesen Ausführungen, dem gegenwärtigen Drama ginge es um orgiastische Ausschweifungen zur Begründung einer neuen Moral, dann muss die Autorin den Leser enttäuschen. Weder soll hier dem Drama der Gegenwart der Versuch der Schöpfung eines abstrakten Subjektivismus zugedacht werden, noch möchte die Autorin der Kunst derartige Absichten absprechen. Vielmehr deutet die Orgie des gegenwärtigen Dramas die Selbstmobilisierung der physis an. Wobei jene Verselbständigung nicht die eines subjektlosen Körpers ist, es ist die Erschließung der Welt durch den »intelligenten Leib«40. In dem gegenwärtigen Drama erscheint der Leib in seiner Subjektivität. Einen Geschmack von dieser Kompetenz des Dionysischen erhalten wir bereits bei der Deutung der klassischen Tragödie. Der Leib erscheint hier als bildende Instanz: »Aus Nietzsches Unternehmung leuchten Anfänge eines Rückgangs in den Leibgrund der Gerechtigkeit hervor – vergleichbar mit dem Rückgang in den Leibgrund des Denkens […]. Es spricht hierfür in beiden Fällen die Wahrheit als Wahrheit von unten – nicht als Idee auf der Suche nach einem Körper, sondern als intelligenter Leib, der, aus einer Wertschätzung heraus, streng perspektivisch, ›bauend‹, ›ausscheidend‹, ›‹vernichtend‹ sich im Gang seiner Selbstdichtung zur Sprache, zum Geist und zur Gerechtigkeit beflügelt.«41

Und etwas weiter unten schreibt Sloterdijk zu dem dionysischen Materialismus der Leiblichkeit: »Was bei Nietzsche noch als ästhetische Rechtfertigung des Lebens gelesen werden kann, bildet nun die Begründung der dramatischen Enthüllung durch oder präziser in

40 Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne, S. 172. 41 Ebd. Sloterdijk entlehnt diese Begrifflichkeiten Martin Heideggers Nietzsche, Pfullingen: Neske 1961, S. 639-641 [Herv. i.O.].

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der Kunst der Gegenwart. In den Chiffren der Leiblichkeit kündigt sich ein dionysischer Materialismus an, von dem der ›dialektische‹ nur ein brutales Zerrbild war.«42

Vielleicht ruft der Ausdruck dionysischer Materialismus mehr Verwirrungen hervor, als er zu lösen vermag. Allein der Begriff des Materialismus verleitet nur allzu leicht dazu, bei Betrachtungen in Formen der Vergegenständlichung abzudriften. Jenes Denken mit Vorstellungen dionysischer Kunsttriebe zu mischen, trägt dann nur noch weiter zu einer Stärkung der Annahme einer moralischen Autonomie des Subjektes bei. Trotzdem hält die Autorin den Weg über die Begründung des Dramas der Gegenwart auf der dramatischen Enthüllung durch die Präsenz des Leibes im Kunstwerk für den nächstliegenden. Zumindest insofern diese Kunst hinter dem her ist, was die Autorin als die Suche nach den verleiblichten Wahrheiten bezeichnen würde. Wobei die Freiheit der Kunst, eben diese nicht zu sein, wie auch eine andere denn eine Suchende zu sein, mitzudenken ist. Im Kontext der Strukturanalyse des dramatischen Materialismus verweist Sloterdijk auf seine Bedeutung hinsichtlich einer Rückbindung des Bewusstseins an die pluralistischen Wahrheiten des Ureinen: »Der Leib und das Drama sind die materiale Grundlage dieses neuartigen Rückbindungsbewußtseins; im Leib und im Drama erfahren wir, wie die Enge des Subjekts aufbricht, wenn es sich nolens volens in den Weltenzusammenhang begibt, zu welchem es unbewußt längst gehörte und dem es ohnedies nie zu entgehen vermag. Jede Innerlichkeit ist tiefensomatisch verwoben in den Magnetismus des Allgemeinen.«43

Und eben auf dieser Idee, den Leib als dramatische Materialität zu begreifen, gründet das folgende Kapitel. Umgekehrt soll das dramatische Spiel der Kräfte als ein Urgrund der Produktion leiblicher Präsenz geprüft werden.

42 Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne, S. 173 [Herv. i.O.]. 43 Ebd., S. 177 [Herv. i.O.].

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G EWÖHNLICHEN

Wenngleich auch die gegenwärtigen Künstler dem Buddhismus nicht gerade abgeneigt sind, überzeugt das ewige Dilemma des Lebens als Motiv für die dramatische Struktur eines Kunstwerkes eher selten. Ebenso scheint der Weg der Erlösung, wie Wagner und der junge Nietzsche ihn durch die Lektüre Schopenhauers einhellig für ihre dramatischen Strukturen bevorzugen, nicht mehr populär. Nur was ist im gegenwärtigen Drama an die Stelle der Erlösung durch den Tod getreten? Das Aufgehen des Dilemmas in einer endlosen Spirale von Beglückung und dem langen Sehnen danach scheint damals wie heute keine zufriedenstellende Option zu sein. Wäre es nicht gar möglich, auf Schmerz und Langeweile zu verzichten? Eine asketische Lebensweise würde das versprechen. Eine asketische Kunst ohne den dionysischen Materialismus des Leibes würde sich selbst nivellieren. Wie verhält es sich in der Gegenwart mit dem ewigen Auf und Ab zwischen Sehnsucht und Ruhe? Am Ende dieses Kapitels greift die Autorin den Gedanken Sloterdijks über die Unmöglichkeit einer steten Orgie auf. Das gewaltige Zerren der bildnerischen Kräfte, die Sehnsucht nach dem Wechsel zur Vereinigung derselben, nach einer Harmonie, auf die sich der Künstler nur einlassen kann, die sich aber seiner Herstellung entzieht, mag in Phasen das alltägliche Erleben des begabten Künstlers sein. Nur wie verhält es sich jenseits des Rausches? Wie wirken die bildenden Kräfte im Alltäglichen des Nichtkünstlers? Es ist der Entwurf über die Möglichkeit eines Konzeptes des Dionysischen im Gewöhnlichen. Verlassen wir also für einen Augenblick die Kunstwelt und begeben uns in das alltägliche Leben. Denken wir zur Tragödie einmal die NichtTragödie hinzu,44 stellen den spektakulären Manifestationen des Dionysischen die vielleicht gewöhnlich erscheinenden und dennoch keineswegs weniger bemerkenswerten Niederlassungen des Dionysischen zur Seite. Das wirkliche Leben ereignet sich üblicherweise frei von dem Zwang zur Kunst. Der Zauber des Dionysischen kann hier – so dürfe man meinen – ungehindert überspringen. Jener Umstand würde der Annahme folgen, die apollinische Kraft sei im wirklichen Leben entweder nicht präsent oder ihren Wirkungen gebührte nicht die Vormachtstellung. Der Konflikt brauche

44 Vgl. ebd., S. 113.

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nicht ausgetragen zu werden oder er würde die Möglichkeit eines raschen Überwindens des Apollinischen bergen, da jenes Ringen dieses Mal unter den Anführungszeichen des Dionysischen geschehe. Nur ist dieser Gedanke ohne eine Vorwegnahme möglicherweise irreführend. Denn die Manifestationen des Dionysischen ereignen sich grundsätzlich in dem Zwischenraum des Apollinischen und des Dionysischen. Vielleicht wäre gar ein Modell, das den Menschen als ein Wesen, welches sich stets im Zwischenraum von Kunst und Leben aufhält, eines, das den Wahrheiten um das Wirken der menschlichen Kräfte am nächsten kommt. Wenn also im Folgenden von der Abwesenheit des Apollinischen die Rede ist, so ist damit stets ein Abwesendsein in der prinzipiellen Möglichkeit von Anwesenheit gemeint. Das alltägliche Leben des Nichtkünstlers gestaltet sich also in der Abwesenheit des Apollinischen oder sagen wir genauer in der Abwesenheit des Zwanges zur Kunst und auch des Zwanges zur Orgie. Damit könnte das Verlangen emporstreben, gerade diese Orgie im Alltäglichen auch unentwegt zu feiern. Schließlich darf sich der Rausch dort ungehemmt entfalten. Doch so manche geweckte Assoziationen führen erneut in die Täuschung. Denn jene Rauschwelten, die abseits des Wirkens der apollinischen Kraft emporsteigen, entspringen keiner bildnerischen Kraft, auch nicht der dunklen. Das Wirken der einen Kraft, auch das Entfesseln des Dionysischen bedarf des Entgegenwirkens der anderen. Die Präsenz beider Kräfte ist die Bedingung der Möglichkeit der Orgie. Wenn das Gewöhnliche von der Abwesenheit der ordnenden Kraft geprägt ist, dann können noch so viele Leidenschaften emporsteigen, der ersehnte Rausch bleibt aus. Natürlich drängt dann umgekehrt dieses absehbare Scheitern in den dauerhaften Aufenthalt in der Kunstwelt, einer Welt, welche die unablässige Orgie prophezeit. Nur leider ist auch dieses nicht möglich: »Die Orgie kann nicht chronisch werden.«45 Sloterdijk begründet diesen Umstand damit, dass es zum Wesen des Festes gehöre, in großen Zyklen vorüber zu rauschen. Versuchen wir zudem noch eine anders pointierte Begründung für die Unmöglichkeit der steten Orgie: Das Aufgehen der Subjektivität in der Ungegenständlichkeit des Seins bedarf des Momentes des Dionysischen im Gewöhnlichen, denn nur durch das Erfahren jener unspektakulären wohl

45 Ebd.

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geordneten Aufenthalte kann sich das Bewusstsein auf das ästhetische Einswerden mit den Dingen und der Natur einstellen. Vielleicht findet hier die von Nietzsche so verachtete und zugleich im Werk verkörperte narzisstische Selbstanschauung ihren Platz. Denn um die Wahrheiten des ästhetischen Urteilens als solche überhaupt erkennen zu können, bedarf es der anderen Perspektive, des Kontrastierens zu den Wahrheiten der Subjekte. Worin zeigen sich nun also die tragödienfernen Dionysien des Gewöhnlichen? Kehren wir dazu nach diesem Einschub noch einmal zu der Wahrheit der Orgie in der Rezeption Nietzsches nach Sloterdijk zurück: »Die Orgie kann nicht chronisch werden. Aber die Wahrheit der Orgie – dieses Hineingenommensein des einzelnen Bewußtseins in eine begeisterte Ungegenständlichkeit, von Elend der Individuation erlöst – kann und muß auch in einem unscheinbaren Andenken aufgehoben werden. Nietzsche hat uns zuerst wieder auf die Spur zu dem richtigen Namen dieses Andenkens gebracht; er lautet seit zweitausendfünfhundert Jahren: Philosophie.«46

Die Philosophie, sofern sie sich nicht selbst vergisst, dürfe notwendigerweise nicht nur eine Ausgeburt der Logik, des Begriffs und der getreuen Veranschaulichung sein. Die Philosophie muss selbst eine Form des Dionysischen im Gewöhnlichen sein: »Die authentische Philosophie erscheint demnach als die dionysische Stille nach dem Sturm. Sie ist die Feier des Gewöhnlichen im Licht des Exzesses, Um alles ursprüngliche Denken liegt darum ein Hauch von postorgiastischer Nachdenklichkeit. Der Rausch verfliegt, die Ordnung kehrt wieder, der Alltag nimmt seinen Lauf. Aber das Staunen bleibt.«47

In der dionysischen Stille vermag sich alles Undurchsichtige, alle Lust und Verzückung auszubreiten. Das Gewöhnlichste darf nun durch die Lücke treten, jenen Spalt, durch den fortan der Duft des Rausches dringt, sich das alltägliche Leben in einen postorgiastischen Zustand erhebt. Woraufhin Handeln und Denken von der Suche nach dem Orgiasmus durchdrungen sein werden. Die Dionysien des Gewöhnlichen bewahren das Andenken an

46 Ebd., S. 113 f. 47 Ebd., S. 114 f.

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die Orgie. Unscheinbare Formen wie gewisse Sprachen der Philosophie können den Modus der Abwesenheit jener tiefen Erschütterung des Leibes einnehmen. Wesentlich zur Erhaltung der dionysischen Lücke, der Manifestation des Dionysischen im Alltäglichen ist, niemals der Selbstgenügsamkeit des Begriffes zu erliegen. Begriffe und Bilder müssen in Bewegung bleiben, intelligible Strukturen dürfen die Suche nicht lähmen. Wenn die gewählte Ausdrucksform sich selbst in ihrer Eigenschaft als Suchende nach dem Urgrund des Zusammenhaltens vergisst, dann sollte diese selbst in Zweifel gezogen werden. Das Unauffällige, Gewöhnliche dient demnach als Träger des ekstatischen Momentes. Nur kann das Gewöhnliche, das Leben jenseits der Kunst niemals eine Erscheinungsform des Rausches selbst sein. Wie steht es um den Nichtkünstler, wenn er nicht gerade als Passant oder Zuhörer Anteil an einem Kunstwerk nehmen darf? Ist er dann dazu verdammt, ein Leben im Abseits zu führen, in der steten Hoffnung, wieder zufällig Teil eines großen Ganzen sein zu dürfen? Zwar wurde Kunst als vielgesichtige Figur dargestellt, doch schließt das Figuren des Gewöhnlichen ein? Wäre das Erleben des ekstatischen Momentes des Rausches im Gewöhnlichen möglich, sofern gewisse Umstände das zuließen? Oder würde dann umgekehrt jenes Gewöhnliche in diesem Augenblick zur Kunst transformieren? Und wenn dieses möglich wäre, würde dann nicht das Gewöhnliche seine Funktion als Bewahrer des Ekstatischen einbüßen, da es doch selbst den Zustand des Rausches zu erzeugen vermag? Würden sich dann nicht die Zyklen der Feste ineinander verwirbeln, derart miteinander verschwimmen, dass letztlich die Orgien des Außergewöhnlichen gar nicht mehr als etwas Besonderes hervortreten würden? Oder schlimmer noch: die überlappenden Ausschweifungen würden irgendwann beginnen, sich selbst zu lähmen, da der Grund sich entzöge, von dem aus man zu dem Urgrund vorstoßen kann. Die Antwort liegt in der Präsenz. Wenn man wie jeden Morgen durch den Wald geht, sich etwas später in den Sessel begibt und zu schreiben beginnt, am Abend seinem Partner einen Kuss gibt, dann ist dieses alltägliche Handeln vielleicht für gewöhnlich nicht mit besonderer Achtsamkeit bedacht. Zwar liegt es greifbar vor einem, man berührt es sogar, und doch versinkt man nicht darin. Und dann passiert es: An diesem Tag ist es morgens noch neblig, durch den Wald zieht eine beinahe unmerkliche Kälte, sie durchdringt einen und auf einmal ist man Wald. Die Mine gleitet über das

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Papier, Visionen und Zeilen beginnen miteinander zu tanzen. Später, viel später öffnet man die Augen, betrachtet die Lippen des Anderen und taucht wieder auf. Momente des Rausches sind kein Privileg der Künste. Es sei denn, man würde den Kunstbegriff derart auslegen, dass er Waldspaziergänge, das Schreiben ästhetischer Theorien oder das Küssen mit einschließen würde. Das wäre möglich, doch wie sich hier andeutet, führt die Frage der Abgrenzung in der Untersuchung der Dynamik des Entstehens und Vergehens des Rausches nicht weiter. Wenn hier behauptet wird, der Rausch sei kein Privileg der Künste, so sind damit nicht bestimmte Kunstformen gemeint, vielmehr ist damit eine Unterscheidung in der Absichtsbildung getroffen. Untersucht werden hier gerade die Erscheinungen, die nicht von der Absicht geleitet sind, zu Kunstwerken zu transformieren. Vielmehr soll es um das Gewöhnliche gehen, Ereignisse des Lebens von Künstlern wie Nichtkünstlern erlebt, die des Tragischen entbehren und dennoch zu einer Art kunstähnlicher Ekstase verleiten können. Es ist eine Frage der Präsenz. Wenn im Gewöhnlichen plötzlich oder allmählich ein Gelingen, die Natur derart präsent wird, dass diese Präsenz in Beziehung zu diesem Ding alles um sich herum und einen selbst wandelt, einen Einswerden lässt mit der Natur, wenn dem Gewöhnlichen das Gewöhnliche verloren geht, dann ereignet sich Ekstase im Gewöhnlichen. Wenn nun aber die Dionysien des Gewöhnlichen bis zum Rausch emporsteigen können, nicht dazu verdammt sind, nur niedere Manifestationen der wahren Orgien zu sein, wie steht es dann um die Wiederkehr der Kunstorgien? Wenn man bei dieser Frage die Tragödie im Blick hat, dann liegt die Antwort auf der Hand: Die Ekstasen des Lebens sind NichtTragödien. Insofern heben sich die Rauschzustände der Kunst in gewisser Weise von denen des Lebens ab. Nicht in der Weise, dass sie etwa gewaltiger wären, es sind schlicht andere Feste. Und wie verhält es sich mit den weniger tragischen Kunstwerken, solche, in denen sich Leben und Kunst mischen? Gerät man in der Begegnung mit ihnen weniger in Verzückung, wenn das eigene Leben bereits beständig ekstatische Zustände hervorbringt? Eine Frage, die das Anregen, sogar das Üben des Wirkens der Kräfte berührt.48

48 Siehe dazu insbesondere das Kapitel Die Praxis der Kraft in diesem Buch.

II

Die Kontingenz des Rauschens1 Versuch einer ästhetischen Intersexualität

»Aus dem Allen webt und würkt nun die Seele sich ihr Kleid, ihr sinnliches Universum.« JOHANN GOTTFRIED VON HERDER: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele

Im Feld der Künste treten die performativen Akte des Sports auf spezifische Weise hervor. Diesen vielfach beachteten Umstand verdanken sie ihrer Medialität. Ungeachtet eines Wandels von etwas wie Kunst und Geschmack verlangen die Performationen in der ästhetischen Praxis nach einer zeitüberdauernden Perzeption von Präsenz. Zeigt sich das Kunstwerk durch den Körper selbst, kann die ästhetische Kraft ungebrochen ihren Ausdruck formen. Betrachten wir nun das Geschlechtliche eines Künstlers oder einer Künstlerin, zeigt sich der geschlechtsspezifische Ausdruck in ihren wie seinen Bewegungen ebenso unmittelbar, ungetrübt durch ein weiteres Medium. Der Betrachtende ist erregt, zeigt sich im Angesicht der Deutung des Geschlechtlichen entzückt oder verstört, ganz so wie es seiner Erwartung

1

Dieses Kapitel ist die Niederschrift der Antrittsvorlesung der Autorin für eine Privatdozentur an der Phillips-Universität Marburg 2011. Der Originaltitel der Vorlesung lautet: »Weiblich, männlich, jung sucht. Versuch einer ästhetischen Intersexualität«.

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entspricht oder ihr entgegenläuft. Vielleicht möchte er das Gesehene umdeuten, die harte Torjägerin wieder mit weicheren Zügen sehen. Nur in dem Moment der Rezeption erfasst er sie unwiederbringlich in dem, wie sie sich zeigt: als kontingentes Rauschen zwischen weiblich und männlich. Doch betrifft diese Kontingenz des Übergehens von weiblich und männlich nicht nur Wasserballerinnen, Damen, die Kugeln stoßen oder Primaballerinos. Das Übergehen des einen Ausdrucks in einen anderen ist das Prinzip der Kraft. Und es findet sich in allen Ausdrucksformen, in denen des Sports geschieht dieses durch die Medialität des Leibes nur besonders eindrucksvoll. Eine Deutung des Ästhetischen als Genese des Ausdrucks ermöglicht mithin ein Neudenken der Geschlechtlichkeit: der Mensch als Übergangswesen zwischen weiblich und männlich. Inwiefern sich in der Praxis des Sports eine strukturell bedingte Produktion von Normen ereignet, sich Frauen- und Männerkörper anders produzieren, soll hier in den Blick genommen werden.

A

G ENUSS

AN SICH ( SELBST )

Den Auslöser jener nicht ablassen wollenden Aufregung um das Ästhetische stellen die sinnlichen Bilder dar. Einmal der cartesianischen Zuschreibung enthoben, die sinnlichen Bilder seien die Eigenschaften der Dinge selbst, gerät das Sinnliche unter Verdacht, eine gewisse Wirkung auf das Urteilen zu haben. Unter den Modi der Einbildung wie Ordnung und Verwirrung, Schönheit und Hässlichkeit, Sünde und Verdienst, lässt sich das Urteilen verleiten. »Das zeigt die Macht der Einbildungskraft: Sie hat die Macht, statt des Verstandes das Urteilen zu bestimmen.«2 Nur woher hat die Einbildungskraft ihre Macht? Wesentlich für das Erfassen der Konstitutionsleistung des Sinnlichen ist der Widerspruch zu der Annahme, die sinnlichen Wirkungen seien regellos, unbestimmt. Leibniz formuliert in seiner Monadologie den Gedanken eines inneren Prinzips, einer Strebung (appetitus), welche »die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen bewirkt«3. Es ist, wie Leibniz es ausdrückt,

2

Menke: Kraft, S. 19.

3

Gottfried Wilhelm Leibniz: »Principes de la philosophie ou la monadologie – Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie«, in: Hans H. Dolz (Hg.),

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eine innere Handlung der Seele, ein bestimmter Akt, von dem es kein begriffliches Wissen zu geben braucht. Zudem deutet sich damit die Dynamik jenes inneren Prinzips an. Ein sinnliches Bild entsteht im Übergehen, dem Bewegen einer alten in eine neue Perzeption. Die Kraft des Sinnlichen zeigt sich in einer Bewegung – und wie man später sehen wird, in dem Ausdruck einer Bewegung. Es handelt sich um ein Streben, das durch ein inneres Prinzip strukturiert ist. »Die Ästhetik ist ein anderes Denken der Sinnlichkeit.«4 Wenn es als Denken benannt werden kann, so muss das ästhetische Handeln ein bestimmtes sein. Es folgt gewissen Regeln, mehr noch, es wird von jenem inneren Antrieb geleitet. Zugleich stößt man im Zusammentreffen des Denkens des Sinnlichen mit einem noch belassenen Begriff des Verstandesdenkens auf die unauflösbare Unbestimmtheit des Ästhetischen: »Das Sinnliche ist radikal unbestimmt, weil seine Hervorbringungen von Vorstellungen nicht in selbstbewußte und selbstkontrollierte Handlungen methodischer Verstandesoperationen aufgelöst werden können.«5 Begreift man Ästhetik als den Versuch, das innere Prinzip des Sinnlichen und damit das Sinnliche als Tätigkeit zu denken, fragt man sich, ob diesem Handeln ein Vermögen zugrunde liegt, das Vermögen des Hervorbringens sinnlicher Erkenntnisse, wie Alexander Gottlieb Baumgarten den Gegenstand der Ästhetik formuliert, oder die Kraft zum Umbilden sinnlich fassbarer Vorstellungen das Handeln anregt. Das ist der Streit, der die Ästheten spätestens seit Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft spaltet, Herders Kritik an Baumgarten, die Grundlage für Menkes Kraft. Bevor eine Vertiefung in diese Spaltung stattfinden kann, möchte die Autorin einen Einschub vornehmen, der das Verständnis des Sinnlichen im Ganzen betrifft. Es geht um die Besonderheit der ästhetischen Reflexion. Weshalb diese wesentlich für die Deutung der Ästhetik ist, die insbesondere den deutschen Diskurs leitet, zeigen anschaulich die Überlegungen Joachim Ritters zu dem ästhetischen Subjekt. Nach ihm sei es das Gegenspiel zu dem rationalen Subjekt, das sich in technischen oder wissenschaft-

Philosophische Schriften, Band 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 439-483, hier S. 445. 4

Menke: Kraft, S. 22.

5

Ebd., S. 23.

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lichen Institutionen der Gesellschaft stets sachlich zeigt.6 In der ästhetischen Vergegenwärtigung einer lebendigen, sinnhaften Begegnung mit der Welt konstituiert sich der Mensch als empfindendes Wesen. Ästhetische Verlebendigung und rationale Versachlichung sind in seinem Konzept des Gegenspiels jedoch untrennbar miteinander verbunden. In dieser andersartigen Bezogenheit auf seinen Gegenstand vermag das Sinnliche etwas, das die begriffliche Vernunft nicht kann. Mit Ritter gelesen vermag das ästhetische Subjekt den Gegenstand in seiner leiblich gegebenen Individualität begreifen, da es einen in sich jeweils individuellen, nicht durch eine allgemeine Regel bestimmten, lebendigen Zusammenhang der sinnlichen Eindrücke hervorbringt. Belassen wir es an dieser Stelle bei dem ästhetischen Subjekt, zeigt sich die Bedeutung des Ästhetischen als Akt der lebendigen Sinn-Vergegenwärtigung. Das Wirken des Ästhetischen ist der Prozess der Verwandlung des Leiblichen in seiner Praxis angeregt durch das, was das Ästhetische in sich trägt, was es ist: das Wirken ihrer Kraft. Wenn es das Ästhetische aus sich heraus drängt, die Wahrheit, das Besondere des Gegenstandes zu klären, dann ist in diesem Sinne der Prozess der Ästhetisierung Lust an der Selbstreflexion.7

B

D IE P RAXIS

DER

K RAFT

Nun soll es in diesem Kapitel um das Finden des ästhetischen Ausdrucks gehen. Ich beginne mit dem Wirken des Ästhetischen. Gemeint ist damit genau jener Ansatzpunkt, das Sinnliche als Gefühl und nicht als Erkennen zu verorten. Eine Kritik, die sich vielleicht noch abseits der Subjektfrage, doch unbedingt diesseits eines Konzeptes der Genese des geschlechtlichen Ausdrucks als wesentlich entpuppt. So nimmt das Wirken der Ästhetik mit Herder Gestalt an, genauer mit seinem nochmaligen Beginn der Ästhetik. Es ist das Ästhetische, verstanden als das Denken eines inneren Prinzips,

6

Vgl. Joachim Ritter: »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: ders. (Hg.), Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 141-166.

7

Siehe dazu das Kapitel Eine Lust an sich selbst in diesem Buch.

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wo kein subjektives Vermögen waltet: »[Das] wäre Ästhetik!«8 Und wie bereits angedeutet, wird mit jenem Denken erstmals ein Denken der Kraft markiert. Die Struktur jener Beziehung ist bereits angedeutet. Gehen wir mit Herder und später Menke bedeutet Kraft das Übergehen des Einen in das Andere, im Hervorgehen des Anderen aus dem Einen. Das Andere ist gleichsam das Andere des Einen. Das Fortsetzen des Anderen in dem Einen gründet sich in dem Umstand, dass jenes Andere bereits in ihm angelegt ist.9 Diese Beziehungsbestimmung des Wirkens der Kraft geht auf Herders Idee des ästhetischen Ausdrucks zurück. Ausdruck meint hier nicht etwa das Verhältnis von Innerem und Äußerem. Der Begriff »Ausdruck« steht für den Wirkungszusammenhang von dem Einen und dem Anderen.10 Während die praktische Kraft – in einem mechanischen Sinne verstanden – jedes Mal in ihrem Wirken in sich vollendet ist, wendet sich die ästhetische Kraft gegen ihren eigenen Ausdruck. Sie überschreitet ihn in einen anderen. Da sich nun ferner in dem Wirken der ästhetischen Kraft keine Norm, kein Gesetz verwirklicht, ist das Wirken der ästhetischen Kraft bloßes Spiel.11 Die Überschreitung des Ausdrucks als Wirken der Kraft im Spiel bedeutet das Fortsetzen des Anderen in dem Einen, insofern und gerade da es in diesem bereits angelegt ist. Würde man annehmen, es verhielte sich anders, wäre also das Eine ohne Anlage eines Anderen, könnte es sich nicht umbilden. Wenn der Ausdruck das Wirken der ästhetischen Kraft ist, dem Wirken jedoch die Ursache, das wogegen sich der Ausdruck selbst wenden soll, genommen wird, ist kein Wirken möglich, es kann sich kein Ausdruck bilden. Das Übergehen des einen spezifischen Ausdrucks in einen anderen ist Spiel und für dieses braucht es ebenbürtige Gegner.

8

Herder: Begründung einer Ästhetik in der Auseinandersetzung mit Alexander Gottlieb Baumgarten, S. 694.

9

Vgl. Menke: Kraft, S. 52 f.

10 Vgl. Johann Gottfried von Herder: »Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste«, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Literatur 17671781, Band 2, hg. v. Gunter E. Grimm/Martin Bollacher, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1993, S. 247-442. 11 Vgl. Menke: Kraft, S. 62.

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Die Deutung des Ästhetischen als Gefühl, in dessen Dunkel eine unbewusste Kraft herrscht, ist für das Denken über das Wirken des Ästhetischen entscheidend, egal ob man mit oder gegen Herder argumentieren möchte. Also erst einmal weiter mit Herder. Die Bildung des Ästhetischen ist eine Fortbildung aus innerem Prinzip, ohne einen bewussten Bezug auf dieses Prinzip. Womit jenes innere Prinzip nicht normativ ist, die dunkle Kraft des Ästhetischen also nicht normativ handelt. Da nun die unbewusste Kraft der Seele nicht im üblichen Sinne verstandesgemäß begriffen werden kann, nicht selbstbewusst ist, kann die dunkle Kraft auch kein subjektives Vermögen sein. Die Kraft ist, obwohl in dem Sinne nicht selbstbewusst, keineswegs eine Kategorie der Mechanik oder Biologie. Denn das Wirken der dunklen Kraft erfolgt weder nach mechanischen Gesetzmäßigkeiten, noch verfolgt sie einen biologischen Zweck. Eben darin drückt sich die Eigentümlichkeit des Ästhetischen aus.12 Herder umkreist das Wirken der ästhetischen Kraft im Grunde mit drei Negationen:13 • • •

Die Kraft untersteht keiner praktischen Norm. Durch sie wirken keine mechanischen Gesetze. Durch sie verwirklichen sich keine biologischen Zwecke.

Norm, Gesetz und Zweck sind drei Grundformen des Allgemeinen. Der Begriff der ästhetischen Kraft grenzt sich demnach durch die drei Negationen auf dreifache Weise von einem Bezug auf das Allgemeine ab. Anders als es sich mit den Vermögen verhält, verwirklicht sich in der ästhetischen Kraft nicht ein Allgemeines im Besonderen.14 Darin liegt die Differenz von Kraft und Vermögen. Ästhetische Kraft ist die Kraft der Einbildung, ein Prozess der Ästhetisierung, in dem der Mensch sich wandelt.15 Einbildung bedeutet für Herder Einheitsbildung. Nicht gemeint damit sind Bilder, die eine Verknüpfung von unabhängig gegebenen Elementen wie Sinneseindrücken darstellen, da

12 Vgl. ebd., S. 58. 13 Vgl. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. 14 Vgl. Menke: Kraft, S. 59. 15 Siehe dazu Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, S. 339, 349.

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in dieser Auslegung die Eindrücke bereits vor der Sinnbildung da wären. Herder sieht es genau andersherum: Die Bilder entstehen aus Bildern. Das ist das Wirken der ästhetischen Kraft: »Hier indes fahren wir fort, daß, so verschieden dieser Beitrag verschiedener Sinne zum Denken und Empfinden sein möge, in unserem inneren Menschen Alles zusammen fließe und Eins werde. […]. Aus dem Allen webt und würkt nun die Seele sich ihr Kleid, ihr sinnliches Universum.«16

Wenn der Akt der Einbildung ein Hervorbringen von Bildern durch die Einheitsbildung von Bildern ist, bedeutet jener Akt ein Umbilden. »Dieser metamorphotische Prozeß der Einbildung ist der Schlüssel zum Verständnis der ästhetischen Kraft.«17 Das Wirken der Kraft ist ein Umbilden. In diesem Prozess ersetzt dieselbe Kraft einen selbst hervorgebrachten Ausdruck durch einen anderen, womit jedes Bild Ausdruck einer Kraft ist. Wenden wir uns erneut dem Aspekt der Allgemeinheit zu. Die angegebenen Kriterien – keinem Gesetz, keinem Zweck, keiner Norm – belegen, dass dieser Prozess der Selbstwiederholung in der Negation von keiner Allgemeinheit ist. In der Rezeption Menkes zeigen sich weitere Merkmale:18 I. Die Ausdrücke der ästhetischen Kraft stimmen nicht überein. II. Die Ausdrücke der ästhetischen Kraft verstellen sie zugleich. Ersteres – das fehlende Übereinstimmen – begründet sich aus dem Ersetzen eines Bildes durch ein anderes. Das Wirken der ästhetischen Kraft bedeutet Entstehen und damit immer auch Vergehen. Das Entstehen eines Ausdrucks durch das Wirken der Kraft bildet zugleich das Übergehen in einen anderen Ausdruck. Damit ist das Entstehen eines neuen Ausdrucks, die Dynamik des Wirkens an sich, an das Auflösen des vorangegangenen Ausdrucks gebunden. »Im Wirken der ästhetischen Kraft verwirklicht sich – nichts.«19 Das Wirken der ästhetischen Kraft besteht im Spiel ihres Ausdrucks.

16 Ebd., S. 340 f. 17 Menke: Kraft, S. 60. 18 Vgl. ebd., S. 61. 19 Ebd., S. 62. Menke bezieht sich mit dem Begriff des Spiels insbesondere auf die Untersuchung von Kraft und Vermögen nach Herder.

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Praktisches Vermögen bildet sich durch sozialisierende Übungen. Weiter unterbrechen diese Übungen sogar das ästhetische Spiel, der Einbruch des Fremden in den Menschen.20 In jenem ästhetischen Spiel, das den Menschen in eine Unbestimmtheit entlässt, ist sein Schaffen frei von Norm, Gesetz und Zweck. Eben diese Freiheit zeigt sich in seinem Ausdruck oder genauer: Der Ausdruck des Menschen ist frei. Der Ausdruck ist frei darin, zart, schroff, glühend oder von Eiseskälte, weiblich oder männlich zu sein. Eine Freiheit, die sich in dem ewigen Hin- und Herwinden des Weiblichen und Männlichen zeigt.

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W EIBLICH | MÄNNLICH

Nun möchte die Autorin Geschlecht hier nicht dramatisieren. Ebenso wenig möchte sie sich in den Strom der Entdramatisierungstendenzen begeben. Stattdessen soll mit und dann doch anders als Pierre Bourdieu die Idee der Überschreitung praktiziert werden.21 Vielleicht mag die hier vorgenommene strukturanalytische Sicht bislang etwas androgyn anmuten, doch es verhält sich mit der körperlichen Hexis – und hier mit Bourdieu gegangen – meines Erachtens gerade umgekehrt. Ähnlich wie Candace West und Don H. Zimmermann es formulieren, wird sozusagen vorweg eine Omnipräsenz von Geschlecht angenommen.22 Wenn hier die Kategorie des Geschlechts eingeführt wird, dann ist das im Sinne Judith Butlers als Markierung des Körpers gemeint: »there is no body prior to its marking«23. »Markieren« ist nicht eine dem gegebenen Körper nachstehend vorgenommene Formung andeuten, womit dem Körper also rückwirkend eine Sexualität zugedacht würde. Vielmehr versteht Butler den Körper als etwas, das erst durch die Markierung als signifizierbar konstituiert wird. Es gibt keinen Körper vor der Annahme einer Geschlechtlichkeit.

20 Vgl. Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele, S. 358. 21 Vgl. zur Idee Überschreitung Pierre Bourdieu: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 385; im Kontext des künstlerischen Schaffens siehe ebd., S. 275. 22 Vgl. Candace West/Don H. Zimmerman: »Doing gender«, in: Gender & Society 1 (1987), S. 125-151. 23 Butler: Gender trouble, S. 98.

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Unser Habitus ist grundsätzlich ein geschlechtlicher Habitus. Womit zugleich jeder habituelle Ausdruck auch geschlechtlich ist. Wenn wir also den Umstand annehmen, dass [a] Habitus immer geschlechtlicher Habitus ist, damit [b] habitueller Ausdruck geschlechtlicher Ausdruck ist, ferner [c] jeder Ausdruck das Wirken einer Kraft darstellt, muss das Geschlechtliche in dieser Kraft verankert sein, die dunkle Kraft weiblich|männlich sein. Weiter ist jedoch eine binäre Deutung der Geschlechtlichkeit des Menschen im Ästhetischen, also im Sinne der Wirkung einer Kraft, als dichotome Trennung der Geschlechtlichkeit nicht möglich. Nicht, da sie strukturell nicht denkbar ist. Vielmehr bedingt das Geschlechtlichwerden, im phänomenologischen Sinne das leibliche Gegebensein von weiblich und männlich, das Geschlechtlich-Sein. Weiblich und männlich muss im Menschen bereits angelegt sein, damit etwas ist, gegen das es sich wenden kann. Nun könnte man einwenden, dass in einem Menschen nur weibliche beziehungsweise männliche Kraft wirkt. Doch wie kann sich diese dann gegen sich wenden, wenn das Andere nicht da ist. Die Bildung des Ästhetischen erfordert sozusagen den vorgeformten weiblich|männlichen Menschen. Denn nur im Wenden gegen sich selbst als etwas Gegebenes kann ein neuer habitueller Ausdruck entstehen. In diesem Sinne ist Habitus als Disposition zu verstehen. Es zeigen sich die Anfänge der Idee der Überschreitung. Der Habitus eines Menschen ist nicht an sich weiblich, männlich, oder ein Dazwischen. Der Ausdruck eines Menschen erscheint prinzipiell als Entwurf eines Ausdrucks oder und genauer in der Überschreitung desselben. Im Wirken der ästhetischen Kraft ist die Überschreitung als Spiel strukturell angelegt. Das Überschreiten ist in dem unentwegten Wenden des Einen gegen das Andere ursächlich für das Bilden und Umbilden des ästhetischen Ausdrucks. Ein ernsthafter Gegner ist ebenso konstitutives Moment für das Spiel wie der Kampf an sich. Der vorliegende Versuch gründet sich auf vier grob unterschiedene Annahmen. Und zwar erstens, dass es neben den praktischen Vermögen eine dunkle Kraft gibt, das Konzept der anderen Ästhetik. Das Wirken jener Kraft ist – so zweitens – unbestimmt und dennoch wahrheitsfähig. Drittens kann die Struktur der Kraft als Struktur der Beziehung gedeutet werden, in der sich der Ausdruck gegen sich selbst wendet. Und für die vorgenommene Spezialisierung ist die vierte Annahme wesentlich: das Geschlecht ist omnipräsent. Lässt man diese vier Annahmen miteinander in Beziehung treten, können drei Argumente expliziert werden:

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a)

b) c)

Die ästhetische Kraft ist geschlechtlich. In ihrem Wirken wenden sich Weibliches in dem Einen und Männliches in dem Anderen und umgekehrt gegeneinander. Geschlecht ist omnipräsent. In jedem Menschen sind in Form der ästhetischen Kraft beide Geschlechter bereits angelegt. Eine dichotome Trennung von weiblichem und männlichem Ausdruck ist strukturell nicht möglich. Ein Ausdruck ist grundsätzlich gemischtgeschlechtlich.

Der ästhetische Ausdruck des Menschen ist in diesem Sinne unbestimmt. Auf dieses Argument soll in dem letzten Abschnitt näher eingegangen werden. Denn die geschlechtliche Unbestimmtheit des ästhetischen Ausdrucks, die sich auf die Differenz des Menschen gründet, räumt vielleicht mit den erschöpfenden Versuchen geschlechtlicher Typologisierungen auf. Was dieses für die Rezeption der Performation in den Künsten bedeutet, sehen wir in späteren Überlegungen.24

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D IE Ü BERSCHREITUNG

Wenn die ästhetische Kraft unbestimmt ist, auf keine Norm, biologischen Zweck oder eine Gesetzmäßigkeit zielt, dann ist auch das Spiel des Ausdrucks, das jenes Wirken der Kraft ermöglicht, und mithin der Ausdruck selbst ebenso unbestimmt und auch unbestimmbar. Ein Ausdruck geht von einer Spezialisierung im Spiel von weiblich|männlich in einen neuen über, ohne eine Norm erreichen zu wollen. Ein Ausdruck möchte nicht auf etwas Allgemeines verweisen. Er ist etwas Besonderes, denn in ihm als ästhetischen Ausdruck erfasst der Mensch die Bezüglichkeiten seines Leibes. Die Gegenstände werden dem Menschen durch das Wirken der ästhetischen Kraft in ihrer Einzigartigkeit sichtbar. Zusammengefügt: Das Wirken der ästhetischen Kraft ist ein Spiel von Ausdrücken und Verbergen. Männliches wie Weibliches entsteht und löst sich mit der Dynamik des Übergehens des einen Ausdrucks in einen neuen. In zwei Augenblicksaufnahmen eines Menschen werden immer auch zwei Ausdrücke sichtbar, die strukturbedingt geschlechtsbezogen nicht überein-

24 Siehe dazu das Kapitel Heldinnen in diesem Buch.

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stimmen können. Soweit der Übertrag des ersten von Menke explizierten Merkmals zur ästhetischen Kraft. Das zweite zeigt das Moment des Verstellens an. Ein Übergehen des einen Ausdrucks in einen anderen bedeutet das Verbergen des vorherigen. Wendet man auch jenes Merkmal auf die Frage der Konstitution geschlechtlichen Ausdrucks an, begründet es die Absurdität der Annahme, ein Normbild an Weiblichkeit oder Männlichkeit könne sich in dem Ausdruck eines Menschen verwirklichen. Der ästhetische Ausdruck entzieht sich der Verallgemeinerung. Ausdrucksformen wie transsexuell, pansexuell, metrosexuell oder der Neologismus »intersektional« – als Erweiterung der Klassen begriffen – ändern nichts an der prinzipiellen Unbestimmbarkeit geschlechtlichen Ausdrucks.25 Akte der Kategorisierung der Ästhetik des geschlechtlichen Ausdrucks sind nicht mehr als sozusagen Ausdrücke unseres praktischen Vermögens, diese im Nachhinein vorzunehmen. Im Augenblick des Entstehens eines Ausdrucks, möchte das Ästhetische damit nichts spezifisch Weibliches, Männliches oder ein bestimmtes Dazwischen bewirken, auch keinen biologischen Zweck verfolgen. Im Augenblick des Entstehens eines Ausdrucks ist dieser unbestimmt. Er nimmt das Geschlecht an, welches das Spiel der ästhetischen Kraft bewirkt. Doch – und das ist das Schöne daran – in dem Augenblick des Handelns ist der Ausdruck in seiner Unbestimmtheit ästhetische Gegenwart. Weibliches wie Männliches der ästhetischen Kraft eines Menschen zeigt sich dort in der unverhohlenen Präsenz seines Ausdrucks. Zugleich ist der Ausdruck in dieser ästhetischen Gegenwart Gegenstand ästhetischer Vergegenwärtigung des Anderen, wie auch er in ihm den Ausdruck des Anderen vergegenwärtigt. Die Zwitterhaftigkeit des Menschen ist ein Verhängnis, insofern sie ihn der Differenz zwischen der Wahrheit ästhetisch erfasster Geschlechtlichkeit und den durch die praktischen Vermögen des Verstandes gebildeten Urteilen aussetzt. Im Ästhetischen kann der Mensch einen Ausdruck in seiner Individualität klar erfassen, über einen Ausdruck in seiner geschlechtlichen Unbestimmtheit als jeweils einzigartigen Ausdruck urteilen. Unsicher wird er erst dann, wenn er im Nachhinein versucht, diesen Ausdruck als besonderes Exemplar einer Norm einzuordnen.

25 Siehe dazu Judith Krämer: Lernen über Geschlecht. Genderkompetenz zwischen (Queer-)Feminismus, Intersektionalität und Retraditionalisierung, Bielefeld: transcript 2015.

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Das Finden des ästhetischen Ausdrucks ist unbestimmt. Etwas gewagt wäre damit ein drittes Merkmal formuliert: III. Die Ausdrücke der ästhetischen Kraft sind unbestimmt. Womit auch das Geschlechtliche der Ausdrücke unbestimmt und zugleich unbestimmbar ist. Worüber die Autorin versucht zu sprechen, ist vielleicht so etwas wie die ästhetische Intersexualität des Menschen. Sexualität ist hier verstanden als ein Begriff der Beziehung. Wesentlich für ein solches Konzept wäre, die Prägung des Prozesses der Geschlechtlichkeit durch die Materialität des Geschlechts zu beachten.26 Wobei damit ebenso Materialität neu zu denken wäre.27 Zu denken wäre da an einen Begriff von einer Materialität des Geschlechts, die als formbildendes Prinzip verstanden wird. Der Gedanke geht in die Richtung, in der sexuelle Differenzen jenseits einer heterosexuellen Matrix von leiblich begriffenen diskursiven Praktiken geformt wirken. Dieser Gedanke zielt nicht auf ähnlich stabil gehaltene geschlechtsspezifische Ausdrucksformen wie etwa der des drag ab. Nicht, da Formen des cross-dressing ebenso von Idealisierungen beherrscht werden können,28 sondern weil sich das Spiel des ästhetischen Ausdrucks nicht im dress-code zeigen kann. Es ist unbestimmt. Wäre es das nicht, wären wir alle ein bisschen drag. Nur könnten wir so schnell, wie sich das Weibliche gegen das Männliche wendet und umgekehrt, gar nicht die Wahl unserer Kleidung bestimmen, geschweige denn uns unablässig umkleiden. Doch vor allem: Die Entschlüsse des geschlechtlichen Ausdrucks werden im Ästhetischen gefällt. Das bestimmte Überschreiten (crossing) zeigt sich vielleicht in der normativen Kraft der Performativität, doch kontingent sind nicht die geschlechtsspezifischen Ausdrücke, die Kontingenz des geschlechtlichen Ausdrucks liegt in seinen Übergängen. Crossing erhält ästhetisch gedacht eine völlig neue Wendung. In gewohnter explorativer wie strukturanalytischer Denke muss an dieser Stelle der Wirkungszusammenhang von praktischen Vermögen und äs-

26 Siehe zu Materialität Judith Butler: Bodies that matter. On the discursive limits of sex, New York: Routledge 1993, S. 15. 27 Vgl. ebd., S. 58. 28 Vgl. ebd., S. 178 f.

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thetischer Kraft vertieft werden. Das Schaffen des Künstlers dient keineswegs der Verwirklichung irgendeines Zweckes. In seinem Tun geht es um eine Selbst-»Mitteilung« des Tätigen,29 darin entspricht der Dichter der Sportlerin wie die Künstlerin dem Musiker. Die Kunst besteht in der Transformation des schlichten Gegenstandes in ein ästhetisches Phänomen. Es ist zugleich auch das, was die Faszination des Zuschauens ausmacht. Erinnern Sie sich an das Spiel, den Abschlag, den Sprung ihres persönlichen Helden. Oder wie ich, da ich mich mehr zu Akteuren auf der Bühne hingezogen fühle: Chris Haring, der damals noch bei DV8 tanzte, oder im Augenblick die brasilianische Choreographin Deborah Colker. Um die Transformation eines Stoßes oder des Drehens der Hüfte in ein ästhetisches Phänomen zu erklären, zieht die Autorin Nietzsches Idee zum Entstehen der Kunst heran: »Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich: der R a u s c h .«30 Im Zustand des Rausches vermag der Sportler als Künstler gesehen die Dinge verwandeln, da sich in diesem Zustand der Erregung »alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entlade(n) und die ›Kraft‹ des ›Verwandelns‹ alles zugleich heraustreibt«31. Dem dionysischen Sportler eignet daher die »wundersame Mischung und Doppelheit in den Affecten«32. Der Sportler ist in seiner Praxis selbstbewusstes Vermögen und rauschhaft entfesselte Kraft. Und er ist nicht einfach beides, »er ist der Übergang vom einen zum anderen – und wieder zurück«33. Im sportlichen Tun gehen praktisches Vermögen und Kraft, geschlechtsspezifisch normbildende Praxis und geschlechtlich unbestimmter Ausdruck ineinander über. Das Können des Sportlers ist das Vermögen zur Überschreitung der Vermögen in ihrer Entfesselung als Kraft, das lebendige Wirken der eigenen Kräfte, und wieder die Lust an sich selbst. Im ästhetischen Selbstgenuss wirkt der Rausch auf die Praxis zurück. Daher erscheint auch die Praxis als geschlechtlich nicht bestimmbar. In der Praxis des Sportlers ereignet sich das unaufhörliche Wenden des ge-

29 Vgl. Nietzsche: Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert, S. 118. 30 Ebd., S. 116 [Herv. i.O.]. 31 Ebd., S. 117 [Herv. i.O.]. 32 Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung, S. 567. 33 Menke: Kraft, S. 113.

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schlechtlichen Ausdrucks, mehr noch, die Praxis ist zugleich entfesselte ästhetische Kraft. Die sportlichen Akte zeugen von einer Eigenart, da durch die spezifische Medialität, den Körper des Sportlers selbst, der ästhetische Ausdruck so eindringlich sichtbar wird. Darin liegt auch die provokative Stärke, die der Sport hinsichtlich der Unbestimmtheit des geschlechtlichen Ausdrucks genießt. Da im Sport als angeschautem Gegenstand die Erwartung von Geschlecht als Produktion von Normen und sportliches Können als geschlechtlich wandelnder Ausdruck aufeinandertreffen, ist das Scheitern strukturell angelegt. Butler führt in einem ähnlich gelagerten Kontext in Bodies that matter einen interessanten Aspekt an. Entgegen des sonst vorherrschenden geschlechterkonstruktivistischen Diskurses, der die Ansicht fährt, Körper können jede selbstgewählte Form annehmen, geht sie von dem Gegenteil aus. Ausgangspunkt ihrer Überlegungen ist vielmehr das Beharren auf möglichen Grenzen der Körperwandlung. Klassisch dokumentiert sie die Erfahrung eines Anstrebens und Nichterreichens einer bestimmten athletischen Körperform einer bodybuildenden Frau.34 Nicht die Verwandlung des Körpers nur in Richtung existierender Körperideale zu deuten, sondern die Vielfalt neuer Mischformen als Möglichkeiten zu bemerken, sei Konstruktionsprinzip und Aufgabe zugleich. Zum Ende dieses Kapitels möchte die Autorin Hans Ulrich Gumbrecht zu Wort kommen lassen, der in Lob des Sports einen stimmigen Ausgang aus der Unbestimmtheit der Norm anweist: »Anstatt beispielsweise einen Frauenkörper, der durch Diskuswurf oder Kugelstoßen eine neue Gestalt gewonnen hat, als >männlichen Typ eines weiblichen Körpers< aufzufassen, sollten wir solche neuen Körperformen unter der Prämisse wahrnehmen und uns an ihnen erfreuen, daß sie anders, neuartig und vor allem weder weiblich noch männlich im üblichen Sinne sind.«35

Nur ändert das Einführen einer neuen Prämisse, die Vielfalt der Körper als Möglichkeit zu begreifen, erst einmal nichts an dem Strukturprinzip des geschlechtlichen Ausdrucks. Das Wenden des einen Ausdrucks gegen den an-

34 Vgl. Butler: Bodies that matter. 35 Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 104 [Herv. i.O.].

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deren ereignet sich im Rausch ohnehin, ob die Zuschauer die Körperformen, die jene ästhetischen Wandlungen präsentieren, nun positiv konnotieren oder nicht. Bedeutsam ist die Akzeptanz der Körperformen deshalb, da sie die Bedingungen der Möglichkeit des freien Spiels des Ausdrucks beeinflusst. Wenn die Akteure unbefangen ihr Können unter Beweis stellen dürfen, ist die Möglichkeit zur Entfaltung der Kräfte gegeben. Die Abwesenheit des Zwanges zur Produktion von Normen ist eine Bedingung der Möglichkeit zum Bilden und Verwerfen eigener Normen in der ästhetischen Praxis. Ob sich die angedeutete Auflösung der Figur des Scheiterns in der Erfüllung des Einzelnen zeigt, dieses zu beurteilen, muss die Autorin konsistenter Weise Ihnen überlassen.

III

Unbestimmte Erregungsmomente Kunst als Freiheit vom Sozialen

»Das letzte Wort der Ästhetik ist die menschliche Freiheit.« CHRISTOPH MENKE: Kraft

Nie in der Moderne war Kunst derart allgegenwärtig wie heute. Permanent prägt sie Denken und Handeln der Menschen, ihre Wirkungen sind mehr denn je konstitutiver Bestandteil gesellschaftlicher Prozesse. Nur wie verhält es sich angesichts jener ungeheuren Zunahme von Präsenz mit den bildnerischen Kräften? Potenzieren sie sich in der ständigen Rezeption ihrer eigenen Sichtbarkeit oder verliert die zur Ware oder bloßen Unterhaltung degradierte Kunst ihre Kraft? Und wenn Passanten, zufällige Besucher einen wesentlichen Anteil an dem Entstehen und Vergehen immaterieller oder offener Kunstwerke haben, wie soll es dann für sie möglich sein, fortwährend in jenem enthusiastischen Zustand zu verfallen, den es zur Entfesselung der Kräfte bedarf? Verliert also die Kunst der Gegenwart ihre ästhetische Kraft? Inwiefern kann die Bedingung für die Möglichkeit des Widerstreits zwischen ästhetischer Kraft und vernünftigem Vermögen in der gegenwärtigen Ästhetisierung der Lebenswelt erfüllt werden? Oder ist sie gar übererfüllt und die Vision von der steten Orgie ist Wirklichkeit geworden? Nein, das ist sie nicht. Abzulesen ist diese Nichterfüllung sowohl an Phänomenen der Teilhabe der Kunst an ökonomischen Prozessen als produktive Kraft, wie auch an ihrer indirekten Teilhabe als Medium der Zerstreuung zur Erholung von der Produktion. Menke zeichnet im Nachgang von sieben Thesen zur Kraft der Kunst ihre zentrale Bedeutung in der nach-

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disziplinären Kontrollgesellschaft1 auf. Erneut unterstreicht er dabei sein Verständnis von der Wahrheit der Kunst, nicht Erkenntnis, Politik oder Kritik zu sein, sondern Erregung, eine Übertragung von Kraft auf Künstler, Zuschauer und Kritiker.2 Zudem entfaltet Menke in der Rezeption der Reden von Sokrates über das Dichten die philosophische Unbegreiflichkeit von Kunst, die sich unter anderem auf einen Verlust der Subjektivität des Künstlers gründet. Beides, die Freiheit von der sozialen Gestalt und die künstlerischen Prägungen jenes Umstandes in der nachdisziplinären Gesellschaft, soll in diesem Kapitel einer Betrachtung unterzogen werden.

A

D ER

VERZÜCKTE

P HILOSOPH

Wenn Christoph Menke den Umstand heraushebt, die ubiquitäre Gegenwart der Kunst ginge mit dem Verlust der Kunst als Kraft einher,3 dann darf man fragen, ob jener Verlust – so er denn tatsächlich zu verzeichnen ist – eine Folge der steten Präsenz des Ästhetischen darstellt, oder umgekehrt ein Schwinden der Erregungen erst den Raum für die zentrale Bedeutung der Kunst in der gesellschaftlichen Kommunikation geöffnet hat. Möglicherweise deutet jenes Schwinden der Erregungen weniger ein Verschwinden ekstatischer Erregungszustände an, vielleicht transformieren auch immer mehr alltägliche Ereignisse in Dionysien des Gewöhnlichen. Die Ekstasen würden geblieben sein, ihre Präsenz liege jedoch hinter dem Schwall an Erregungen im Alltäglichen verborgen. Der Verlust der Kraft könnte also auch ein Trugbild sein. Zugegeben entspringt dieser Gedanke eher einem intuitiven Blick als einer logischen Folge. Daher wird es notwendig sein, beides zu verfolgen und dieses im doppelten Sinne. Das Entwerfen zweier stringenter Argumentationslinien steht bevor: eine erste den Verlust der Kunst als Kraft und eine zweite das Schwinden der Präsenz der Kraft skizzierend. Zudem ist die

1

Vgl. Gilles Deleuze: »Postscriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unterhandlungen 1972-1990. Übersetzt von Gustav Rossler, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 254-262.

2

Vgl. Menke: Die Kraft der Kunst.

3

Vgl. ebd., S. 11.

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Hingabe an weitere Phänomene erforderlich, um zu prüfen, ob diese erste Regung nicht nur auf einer zufälligen Häufung von Begegnungen beruht. Ausgangspunkt bildet der Enthusiasmus, die Begeisterung, die den Künstler ergreift und die sich über seine Kunstwerke auf den Zuschauer übertragen. In der philosophischen Analyse der Möglichkeitsbedingungen dieses Phänomens stoßen wir allerdings auf ein Problem. Die Möglichkeit des Gelingens von Kunst deutet eine Bindung an die Vermögen des Künstlers an. Die Möglichkeitsbedingung der Kunst stellt sich somit als Frage nach dem Subjekt und seinem Vermögen dar.4 Die Annahme einer philosophischen Analyse der Kunst würde also andeuten, der Künstler könne in seiner Subjektivität Kunst schaffen, diesen Vorgang auf dem Grunde seiner Vermögen wiederholen und damit das Entstehen eines Kunstwerkes planbar und zugleich analysierbar machen. Ein Verständnis von Philosophie, welches auf Sokrates zurückgeht.5 Ebenso ist ihm der Einwand zuzuschreiben, Kunst könne daher in dieser Weise nicht philosophisch erklärt werden. Denn Kunst ist nicht oder nicht ausschließlich auf die vernünftigen Vermögen eines Subjektes zurückzuführen. Vielmehr entsteht sie in der Aufgabe der Subjektivität. Wenn aber nicht in derselben Weise nach der Möglichkeit von Kunst wie etwa nach der Möglichkeit von Erkenntnis gefragt werden kann, bleibt wohl eine Antwort aus. »Die Kunst ist philosophisch unbegreiflich.«6 Die Gründe für die Unmöglichkeit des philosophischen Verstehens von Kunst finden sich im Dialog mit dem Redner Ion: »Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und eben so die rechten Liederdichter, so wenig die welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie der Harmonie und des Rhythmos erfüllt sind, dann werden sie den Bakchen ähnlich, und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig nur wenn sie begeistert sind schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses,

4

Vgl. ebd.

5

Siehe dazu Platon: »Ion«, in: Platons Werke, Band II, Teil 1, hg. v. Friedrich Schleiermacher, Berlin: Realschulbuchhandlung 1805, S. 267-288.

6

Menke: Die Kraft der Kunst, S. 22.

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wie sie auch selbst sagen. Es sagen uns nämlich die Dichter, daß sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflükkend diese Gesänge uns bringen, wie Bienen so auch sie umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt.«7

Nach Sokrates ist Kunst nicht eine Leistung des auf praktischen Übungen basierenden vernünftigen Vermögens, denn es gibt kein Können, kein Wissen, das sich selbst bewusst wäre. Der Künstler ist mithin kein Subjekt, das ein Kunstwerk autonom gestalten kann: »Im Dichten ereignet sich ein Verlust der Subjektivität.«8 Daher können auch die Bedingungen der Möglichkeit der Kunst nicht philosophisch gefasst werden. Sokrates sieht in der Begeisterung des Dichters den Grund für die Möglichkeit des Dichtens. Ob diese nun von göttlicher Herkunft oder sinnlicher Berauschtheit ist, sei dahingestellt. Wenn nun aber die Frage nach ihrer Möglichkeit nicht beantwortet werden kann, ist in dem bislang vorgestellten Verständnis der Philosophie nach Sokrates die Kunst nicht möglich. Dem Antwortversuch Sokrates’ oder auch der Verweigerung der Antwort könnte man sich anschließen, allerdings müsste man die Antwort als Paradox untragisch wenden: »Die Kunst ist unmöglich; deshalb ist sie möglich. Die Kunst ist möglich, weil sie […] unmöglich ist; es ist ihre praktische Unmöglichkeit, die die Kunst möglich macht.«9 Und weiter endet Menkes Prolog mit der These: »Die Paradoxie der Kunst ist nicht die Figur ihres Scheiterns, sondern die ihres Gelingens.«10 Menke begründet dieses Paradox mit den Ausführungen Paul Valérys über die eigentümliche Spannung zwischen dem dichterischen Machen und dem dichterischen Gelingen,11 auf die wir in Beißen und Gebissenwerden näher eingehen werden. Es sei hier so viel verraten, als das Machen auf die Unmöglichkeit des Ge-

7

Platon: Ion, S. 274.

8

Menke: Die Kraft der Kunst, S. 23.

9

Ebd., S. 24.

10 Ebd. 11 Vgl. Paul Valéry: »Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik«, in: ders., Zur Theorie der Dichtkunst. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 203-226.

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lingens eines Kunstwerkes verweist. So ist es doch gerade das Machen des Werkes welches dem Künstler, die Unmöglichkeit der Ekstase vor Augen führt. Darum ist es gerade der Künstler, für den in seinem Schaffen die Paradoxie der Kunst gegenwärtig wird. Der Skizzierung dieser Argumentationslinie folgt eine weitere, die Sokrates’ Antwort ebenso ernst nimmt und ihr die Brisanz auf anderem Wege nimmt. Denn wie wäre es, würde die Philosophie sich selbst nicht jenseits der Musen aufhalten? Der Einwand Sokrates’ bezieht sich lediglich darauf, dass Kunst in der beschriebenen Art nicht philosophisch erklärt werden könne. Das bedeutet also, man müsste nicht mit der Verweigerung der Antwort wie Sokrates es hält brechen, würde man sagen, es wäre möglich, Kunst philosophisch zu klären. Nicht da man ein anderes Kunstverständnis hätte, sondern da die Philosophie selbst sich anders verstehen würde. Ganz im Sinne Nietzsches darf sich die Philosophie darauf berufen, selbst Verzücken und Begeisterung zu sein. Würde sich der Philosoph in seiner Eigenschaft als Künstler ernst nehmen, könnte er vielleicht auch die Möglichkeit der Kunst verstehen. Die Kunst wäre damit für den künstlerischen Denker philosophisch begreiflich. Zugleich darf die Unmöglichkeit der philosophischen Analyse im Sinne einer logisch stringenten Folge der Bestimmung der Möglichkeit des Gelingens der Kunst weiterhin Bestand haben. Die Argumentationslinie Menkes über das Paradox von Machen und Werk würde also ebenso greifen. Und mehr noch, beide Umstände könnten zusammengeführt werden: eine Symbiose aus Kunst und Philosophie in dem Machen ästhetischer Theorie.

B

K UNST

IST UNPRODUKTIV

Kunst lebt in der Übertragung. Sokrates beschreibt im Dialog mit dem Redner Ion Kunst als Erregung und Übertragung von Kraft. Die Erregung der Muse in dem Künstler überträgt sich in seinem Schaffensprozess auf das Werk und durch dieses überträgt sich die Kraft auf den Betrachter. Die Übertragung als Kraft gleiche der des Magneten, denn auch dieser ziehe nicht nur selbst eiserne Ringe, er teile die Kraft auch den Ringen mit. So könnten sie wie der Stein selbst ihre eigenen Ringe ziehen: »Eben so auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze

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Reihe Anderer durch sie sich Begeisternder.«12 Die Kraft der Begeisterung überträgt sich, überwältigt gar den Kritiker und übersteigt seine bewussten Vermögen, bis die Vernunft nicht mehr in ihnen wohnt. Die Kraft ist daher nicht einfach ein Gefühl oder eine Empfindung, welche die Muse des Künstlers seinem Vermögen hinzufügt. Die Kraft kann sich nicht additiv zu dem Vermögen verhalten, da sie das Andere der Vermögen ist: »Kräfte sind menschlich, aber vorsubjektiv.«13 Die Kraft ist das Andere des Künstlers, seine Subjektlosigkeit. Anders als die Anwendung der Vermögen zielt das Spiel der Kräfte nicht auf das Gelingen. Ebenso wenig liegt in der Übertragung der Kräfte die Absicht der Verwirklichung einer bestimmten Form. Vielmehr handelt es sich bei der Erregung um das andere Prinzip der Kunst. In der Verwirklichung des Prinzips der Kraft bildet sich nicht eine bestimmte Form heraus, die Formen bilden sich vielmehr um. Im Spiel der Kräfte sind Künstler wie Betrachter »vor- und übersubjektiv – Agenten, die keine Subjekte sind; aktiv, ohne Selbstbewußtsein; erfinderisch, ohne Zweck«14. Ebenso wenig wie die Kunst nur Vermögen ist, kann sie nur bloße Erregung und Übertragung von Kraft sein. Daher geht Menke an diesem Punkt einen Schritt weiter, löst sich von Sokrates und wendet mithin die unmögliche Möglichkeit der Kunst zu einer praktischen Möglichkeit der Kunst: »Die Kunst ist vielmehr die Kunst des Übergangs zwischen Vermögen und Kraft, zwischen Kraft und Vermögen. Die Kunst besteht in der Entzweiung von Kraft und Vermögen. Die Kunst besteht in einem paradoxen Können: zu können, nicht zu können, fähig zu sein, unfähig zu sein. Die Kunst ist weder bloß die Vernunft der Vermögen noch bloßes Spiel der Kraft. Sie ist die Zeit und der Ort der Rückkehr vom Vermögen zur Kraft, des Hervorgehens des Vermögens aus der Kraft.«15

Folglich ist Kunst nicht Teil der gesellschaftlichen Prozesse, keine soziale Praxis. Denn im Machen oder Rezipieren von Kunst ist der Mensch nicht oder nicht nur Subjekt. Nun sind es aber die Tätigkeiten der Subjekte, die

12 Platon: Ion, S. 273 f. 13 Menke: Die Kraft der Kunst, S. 13. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 14.

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Formen des Sozialen hervorbringen. In der Kunst verwirklicht sich daher nicht die Form einer sozialen Praxis: »Die Kunst ist vielmehr das Feld einer Freiheit nicht im Sozialen, sondern vom Sozialen; genauer: der Freiheit vom Sozialen im Sozialen.«16 Ebenso ist auch das Übertragen der Kraft nicht das Übertragen eines bestimmten Bildes oder Verständnisses, es ist das Übertragen der Verwirklichung des formalen Umbildens der Formen. Der Künstler oder Kritiker löst sich in der Verwirklichung der Kraft nicht von der Gesellschaft und ihren sozialen Praxen. Vielmehr ereignet sich die Verwirklichung der Kraft in der Überwindung der sozialen Form. Die Klänge von RDGLDGRN – gesprochen Red Gold Green – alias Marcus Parham, Andrei Busnioceanu und Pierre Desrosiers sind wie akustische Gemälde. Ihre Songs sind nirgendwo einzuordnen. Sobald sich ein Stil herauszustellen scheint, wenden sie sich wieder in eine neue Richtung. Insofern widersprechen Produktionsprozesse wie die Werke dem Verlangen der nachdisziplinären Musikindustrie. Trotzdessen und vielleicht gerade deshalb sind sie so erfolgreich. Eine gewisse Plattform, auf der Videos eingestellt und angeklickt werden können, tut das ihrige dazu. Das Wirken der Kraft ist nicht produktiv, denn in dem Moment, wo im Spiel der Kräfte eine Form entsteht, wandelt die Kraft sie bereits, unfähig und unmotiviert diese spezifische Form wieder hervorzubringen. Das Ästhetische ist nicht produktiv. Wenn es in der nachdisziplinären Gesellschaft produktiv gewendet werden soll, verliert es nach Menke seine Kraft. Insofern ist seine Abhandlung von der Kraft der Kunst eine politische. Wenn Kunst die Freiheit vom Sozialen bedeutet, in der Gegenwart das Ästhetische jedoch mehr denn je als bloßes Mittel zur Produktivkraft bemüht wird, dann ist die Freiheit von der sozialen Gestalt der Subjektivität in Gefahr: »In der Kraft der Kunst geht es um unsere Freiheit.«17 Wenn wir tatsächlich ein Schwinden der Kunst verzeichnen können, dann ginge es um nichts Geringeres als das Verharren in Subjektivität, das Einfrieren der symbolischen Kräfte durch den Produktionswahn sich selbst fesselnder Subjekte. Vielleicht fühlt sich die eine oder andere Philosophin, der eine oder andere Künstler in seinen masochistischen Neigungen ertappt – sich selbst im

16 Ebd. 17 Ebd.

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Wahn des Produktiven geißelnd, den erfinderischen Geist verschreckend lange vor dem zwölften Glockenschlag. Doch wenn die Bedingungen der Möglichkeit zur Entfesselung der Kraft, zur Erregung und Begeisterung gehemmt werden, die Künstler selbst in ihrer Subjektivität versinken wollen, sich gar selbst das Ästhetische zunutze machen, um sich zu zerstreuen, wie ist es dann wohl um die Zukunft der Kunst bestellt?

C

B EISSEN

UND GEBISSEN WERDEN

Kunst ist nicht begreifbar. Die Akte ihres Gelingens entziehen sich unserem vernünftigen Fassungsvermögen. Das wäre nicht weiter problematisch, wenn wir nicht an die Frage der Möglichkeit die Frage der Existenz knüpfen würden. Die Frage nach der Möglichkeit der Kunst betrifft ihre Wirklichkeit.18 Wenn sich nun das Schaffen eines Kunstwerkes der philosophischen Analyse entzieht, das Gelingen als Tätigkeit oder genauer die Möglichkeit des Gelingens nicht bestimmt werden kann, da es zum Wesen des Prinzips gehört, sich der Bestimmung durch das Objekt zu entziehen, ist es dann überhaupt existent? Wenn eine Leistung nicht begreifbar ist, wie können wir dann ihre Verwirklichung annehmen? Kommen wir also auf das Paradox von Machen und Werk zurück. Woher können wir von einem Werk wissen, dass es ein künstlerisches ist? Vielleicht ist es auch bloß das Ergebnis eines handwerklichen Prozesses, ein Produkt, erschaffen durch das schlichte Ausüben der praktischen Vermögen eines Künstlers. Womöglich ist es auch nur das Leben selbst, keine Installation, sondern das echte Leben mit all seinen Naturgewalten, das dort auf uns wirkt und von dem wir so unbändig ergriffen sind. In der Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik skizziert Paul Valéry die Idee, das Verstehen der Dichtkunst von ihrem Machen her zu betrachten.19 Das Werk erscheint so als Vollendung des Prozesses des Machens.20 Wenn wir die Formen der Dichtkunst in ihrem Entstehen und ihrem Wirken begreifen wollen, müssen wir uns der dichterischen Tätigkeit selbst wid-

18 Vgl. ebd., S. 21. 19 Vgl. Valéry: Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik. 20 Vgl. ebd., S. 205 f.

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men.21 Weniger stellt hier die Möglichkeit zur Übertragung des Besonderen auf das Allgemeine den Beweggrund für jenen Ansatz dar. Vielmehr ist es bedeutsam, das Machen selbst zu untersuchen, das Ausdruck der schöpferischen Kraft ist, da der Künstler von ihm wissen muss. Nicht dass er sein Machen artikulieren könnte oder die Kraft für ihn unmittelbar sichtbar sein müsste, doch insofern die schaffende Tätigkeit Ausdruck seiner Freiheit ist, existiert die Kunst in ihm: »Die klassische Kunst, insofern ihr Inhalt und ihre Form das Freie ist, entspringt nur aus der Freiheit des sich selbst klaren Geistes.«22 Die Produktion der Kunst zeige sich nach Hegel »als das freie Tun des besonnenen Menschen, der ebensosehr weiß, was er will, als er kann, was er will«, da er weder in Beziehung zu dem Gehalt seines zu gestaltenden Werkes im Unklaren ist, noch ihm ein praktisches Vermögen an dem Ausüben der schöpferischen Tätigkeit hindern würde.23 Wesentlich erscheint an dieser Stelle, die Freiheit des Künstlers näher zu fassen. Wenngleich eine explizite Betrachtung in den Präsenzeffekten erfolgt, kann bereits hier darauf hingedeutet werden, dass jene Freiheit nicht nur die eines »sich selbst klaren Geistes ist«24, ebenso oder gar vor allem ist diese Freiheit eine ästhetische. Die ästhetische Freiheit betrifft sowohl die Klarheit bezüglich der Idee des Werkes wie die der praktischen Vermögen. Die Klarheit der Idee ist ästhetisches Verstehen. Natürlich ist auch die Freiheit eines klaren Geistes bedeutsam, etwa da ein Anhängen an Trugbildern oder auch nur das Verstellen des Zugangs zur eigenen Wahrheit mithin das Entfalten der schöpferischen Kräfte bremst. Auch wenn die Bedingungen des Gelingens nicht produziert werden können, ist es doch möglich, Momente der Hemmung auszuschließen. Dieses Vorhaben betrifft alle Vermögen.

21 Die schaffende Tätigkeit in den Blick zu rücken, erinnert zunächst an die Überlegungen Aristoteles’, die Gelingensbedingungen des Dichtens selbst zu prüfen (vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart: Reclam 2014, Kap. 1, 1447 a). 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: »Vorlesungen über die Ästhetik. II«, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Band 14, hg. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969-1970, hier S. 27. 23 Vgl. ebd. 24 Ebd.

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Zwischen dem Machen und dem Gelingen des Werkes existiert eine eigentümliche Spannung. Nach Valéry zeigt sich jene Spannung bereits darin, dass die schaffende Tätigkeit mit mehr Leidenschaft und Wohlgefallen betrachtet wird, als das geschaffene Werk.25 Wobei jene Paradoxie nicht als Figur des Scheiterns zu lesen ist, sondern als eine Figur des Gelingens. Unter Bezugnahme auf Valéry und Nietzsche zeichnet Menke eine Argumentationsfigur, welche die praktische Unmöglichkeit der Kunst zur Bedingung der Möglichkeit der Kunst erhebt.26 Wesentlich ist, zuerst einmal zu begreifen, dass der Künstler in seiner schöpferischen Tätigkeit die Idee seines Werkes klar erkennt, dieses Werk jedoch nicht notwendig aus diesem Schaffen fließt. Zwischen dem schöpferischen Akt und dem Kunstwerk ist eine Diskrepanz, eine unüberbrückbare Kluft,27 die mit verschiedenen Begründungen versehen werden kann. Eine erste Begründung der Diskrepanz sieht Valéry in dem Beachten der künstlerischen Tätigkeit. Das Anhängen des Geistes am Tun im Augenblick seiner Verwirklichung würde dem Gelingen im Wege stehen: »Zum Beispiel versteht man, daß ein Dichter mit Recht fürchten kann, seine ursprünglichen Fähigkeiten, seine unmittelbare Produktionskraft, durch eine Analyse, der er sie unterzöge, zu stören. Instinktmäßig weigert er sich, sie auf andere Weise zu vertiefen als durch die Ausübung seiner Kunst, und sich ihrer durch rationale Begründungen in umfassender Weise zu bemächtigen. Man kann glauben, daß unsere einfachste Handlung, unsere vertrauteste Geste, sich nicht vollziehen ließe, daß die geringste unserer Fähigkeiten uns zum Hindernis würde, wenn wir sie uns vor ihrer Ausübung im Geiste vergegenwärtigen und sie gründlich erkennen müßten. Achilles kann die Schildkröte nicht besiegen, wenn er an Raum und Zeit denkt.«28

Nur geht die Autorin davon aus, dass hier ein Einwand angebracht sei: Das Machen zu denken zerstört es nicht. Anders als Menke es in der Weiterführung Valérys ausführt, verhält es sich gerade nicht so, dass sich im geistigen Erkennen des Machens das Gelingen des Werkes entzieht.29 Zunächst

25 Vgl. Valéry: Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik, S. 207. 26 Vgl. Menke: Die Kraft der Kunst, S. 24. 27 Vgl. ebd., S. 25. 28 Valéry: Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik, S. 206. 29 Vgl. Menke: Die Kraft der Kunst, S. 26.

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einmal wirkt nur ein unfreier Geist störend auf das Machen ein. Dass sich jedwede Bewusstheit hemmend in die schöpferische Tätigkeit mischen würde, ist eher ein westlicher Irrglaube.30 Sofern die Bewusstheit nicht als von einem praktischen Unvermögen gelenkte Aufmerksamkeit sondern als vom Willen des Künstlers geführte Achtsamkeit auftritt, steht sie dem Gelingen des Kunstwerkes nicht nur nicht im Wege, die offene Bewusstheit kann es sogar begünstigen. Natürlich bleibt die Nichtlinearität des Schaffensprozesses unantastbar, und nicht zudem, sondern gerade da man nicht verstehen kann, was das Werk und sein Machen verbindet und was es trennt, ist das Gelingen des Werkes dem gewöhnlichen Verstehen nicht zugänglich. Nur verhält es sich eben nicht so, dass es das gewöhnliche Erkennen ist, welches das ästhetische Verstehen verhindert. Das ästhetische Verstehen ist schlicht nicht mit dem gewöhnlichen Verstehen zu begreifen. Das Erkennen des gelingenden Machens entzieht sich nicht aufgrund des Vergegenwärtigens desselben, sondern aufgrund dessen, dass es prinzipiell nicht erkennbar ist. Wenn einem das beim Betrachten gewöhnlicher Gesten anders gehen sollte, dann liegt das weniger an der Unmöglichkeit einer störenden Bewusstheit, denn an der unbeachteten Möglichkeit einer Bildung derselben. Trotz dieses Einwandes soll doch die Leistung Valérys in Beziehung zu der prinzipiellen Negativität, die das Verhältnis von Machen und Werk betrifft, hier gewürdigt werden. Zwei Merkmale sollen hervorgehoben werden: Unverhältnismäßigkeit und Unwahrscheinlichkeit des Werkes. Die Unverhältnismäßigkeit des Werkes zeigt ein Ablösen des Werkes, in gewisser Weise das Übersteigen des Machens in der Entstehung des Werkes an: »Ein Blick genügt, um ein bedeutendes Monument zu würdigen, seine Schockwirkung zu erleben. Alle Berechnungen des dramatischen Dichters, alle Arbeit, die er daran gewendet hat, seinem Stück Ordnung und jeden Vers eine reine Form zu geben; alle Kombinationen von Harmonie und Orchestrierung, die der Tonsetzer auf-

30 Siehe dazu u.a. meine Ausführungen zum zenbuddhistischen Üben in Monika Roscher: Bewegung und Gestaltung. Vom bewussten Üben zum freien Bewegen. Diss. Hamburg 2002, Hamburg: Institut für Bewegungswissenschaftliche Anthropologie 2003; sowie die Ansätze in dem Kapitel Zur Freiheit der Kraft in diesem Buch.

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gebaut hat; alle Meditationen des Philosophen, die Jahre, in denen er seine Gedanken hinauszögerte, zurückhielt und darauf gewartet hat, eines Tages ihren endgültigen Zusammenhang wahrnehmen und gutheißen zu können; alle diese Glaubensakte, alle diese Wahlakte, alle diese geistigen Umwertungen, innerhalb von zwei Stunden kommen sie endlich als fertige Werke dahin, den Geist des ANDERN, der plötzlich dieser gewaltigen geballten Ladung von geistiger Arbeit ausgesetzt wird, aufzurütteln, zu verblüffen, zu blenden oder zu verwirren. Es ist die Wirkung einer Unverhältnismäßigkeit.«31

Das Überschreiten der selbstbewussten Praxis in einem unbestimmten Akt, der nur für die Künstlerin selbst im Tun ästhetisch bestimmbar ist, bewirkt ebenso ein zweites Merkmal: »Einerseits fühlen wir, daß das Werk, welches auf uns wirkt, uns so genau angepaßt ist, daß wir es uns nicht in anderer Gestalt vorstellen können. In gewissen Fällen höchster Befriedigung spüren wir sogar, daß wir uns in irgendeiner tiefen Art umformen, um der Mensch zu werden, dessen Sensibilität einer solchen Fülle des Entrückens und des unmittelbaren Erfassens fähig ist. Aber nicht weniger stark und wie mit einem ganz anderen Sinnesorgan fühlen wir zugleich: das Phänomen, welches diesen Zustand in uns verursacht und entwickelt und uns seine Gewalt zu spüren gibt, hätte auch nicht dasein können, ja beinahe nicht dasein dürfen; es gehört in die Kategorie des Unwahrscheinlichen.«32

Die Unverhältnismäßigkeit des Werkes bewirkt den Anschein der Unwahrscheinlichkeit einer Verwirklichung der Möglichkeit des Werkes. Die scheinbar unüberwindbare Unvereinbarkeit von Machen und Werk zeigt sich im Kampf des schöpferischen Geistes gegen die Natur, die er zum Gelingen gezwungen ist, zuzulassen.33 Insofern ist dichterisches Machen »Kampf gegen sich selbst«34, denn es muss sich »einerseits der Dispersion, der Zerstreuung und Zufallslenkung öffnen«, doch »zugleich muß es gegen sie [die Laune und Willkür des Augenblickes] angehen; denn würde es sich ihnen überlassen und sich in ihnen verlieren, würde es ebenfalls nichts ma-

31 Valéry: Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik, S. 211 [Herv. i.O.]. 32 Ebd., S. 216. 33 Vgl. ebd., S. 217. 34 Menke: Die Kraft der Kunst, S. 28.

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chen«.35 Die Unbeständigkeit des Geistes sind Hemmung und Antrieb zugleich. In der Unvereinbarkeit der Kräfte liegt der Grund für die Möglichkeit des Gelingens. Das Paradox von Machen und Werk ist eine Figur des Gelingens: Die praktische Unmöglichkeit des Machens ist die Bedingung für das Entstehen von Kunst. Ebenso bildet jenes widersinnige Schmecken der unvereinbaren Kräfte im Probieren des Kunstwerkes einen Befund für die Vergewisserung des Selbst. Ein vorzügliches Exemplar für die Frage des Geschmacks ist das Beißen. Womöglich drängt sich in Fragen des Dionysischen in der Konnotation des Beißens das Bild der Agaue, Mutter des Pentheus, vor einem auf, wie sie in dem Wahn, sie hätte einen Berglöwen gerissen, seinen Kopf zurück nach Theben trägt. Worauf hier jedoch verwiesen werden möchte, ist weniger die Rhetorik Nietzsches, die als Effekt ein derartiges Bild empordrängt. Vielmehr zeigt sich in Nietzsches Tragödie konkret seine philosophische Qualität. Nicht nur das reißerische Beißen als Ausdruck des grausamen Dunkels ist gemeint. Die Stilistik in Nietzsches Tragödie deutet auf die Lust des Oralen, »die wilde Freude am Beißen und Gebissenwerden, ohne welche die Dionysien dieser Wahrsagerei keinen Leibgrund besäßen.«36 Die »wilde Freude am Beißen« weniger als brutaler Akt denn als Akt des Schmeckens, des lustvollen Probierens verstanden, ist vielleicht erst einmal eingängiger, als eine Lust am Gebissenwerden. Ungeachtet wie Sloterdijk diesen Ausdruck wohl empfinden mag, gefällt er der Autorin so außerordentlich, da er das Wesen des Geschmacks so wunderbar trifft. Denn solange die Kunst der Gegenwart nicht etwas anderes beweist, zeigt sich Geschmack nicht bloß in der Form des Beißens, Geschmack ist Geschmack wider Willen37 und daher stets ein Beißen und in ihm ein Gebissenwerden. Die Lust am Schmecken ist der Zugang des Menschen zu seiner Welt. Und so schreibt Sloterdijk weiter: »Man kann auch sagen, daß in diesem Autor das Schmecken als intimster Weltsinn wieder philosophisch wurde. Die Philosophie steigt zurück zu ihren somatischen Quellen; die Welt ist

35 Ebd. 36 Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne, S. 131. 37 Siehe dazu Menke: Die Kraft der Kunst, S. 132-157.

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ursprünglich etwas, das durch den Mund geht.«38 Die Lust am Beißen und Gebissenwerden ist der Grund einer somatischen Ästhetik. Die oralen Dionysien, jene »Sprache gewordene[n] Bisse, Schreie und Sprünge eine Psyche«39 getarnt als schmuckvolle Prosa lechzen danach, im Akt des Kostens die Abgründe der Differenz aufzutun. Die orale Intensität überschreitet im Lustschmerz die Logik, nicht um das Verstehen zu verdunkeln, die wilde Lust ist die Möglichkeit der sinnlichen Vergewisserung der Wahrheit des Selbst.

D

E KSTASE

WIDER

W ILLEN

In einem Café am Hamburger Hauptbahnhof spricht mich eine Frau auf den Nietzsche an, der unter meinen Blättern halb verborgen liegt. Während sie auf ihre Freundin wartet, würde sie gerne darin lesen, sich überraschen lassen, was sich ihr nach wohl dreißig Jahren Pause Neues erschließen würde. Ich wundere mich, überhaupt auf das Buch angesprochen zu werden und überlasse es ihr zum Verweilen. Einige Zeit später betritt ihre Freundin das Café. Sofort befragt auch sie mich nach meinem Interesse an der Geburt der Tragödie. Weshalb mich die Gestalt der Cosima so interessieren würde? Ob die Obsession Nietzsches, das Dionysische dem Weiblichen zuzuschreiben, bis hin zu einer Art Vulvokratie wohl eher den weiblichen Akteuren des dionysischen Kultes oder dem ungeklärten Verhältnis zu seiner Geliebten Cosima zu verdanken sei? Ach natürlich, sie sei in Bayreuth aufgewachsen, hätte später in Hamburg Sportwissenschaft studiert. Wir hatten sogar denselben Mentor. Oh ja, Tristan und Isolde, eine äußerst kühle Inszenierung wie sie sich entsinnt. Eigentlich hätte man nur die Augen schließen sollen und die Musik genießen. Die jüngste Inszenierung des Tristan und Isolde der Bayreuther Festspiele scheint ein vorzügliches Exemplar für die Frage des Geschmacks zu sein. Nur gilt unser Augenmerk hier der musikalischen Erregung. Im alten Griechenland verkörperte das chromatische Klanggeschlecht die Versinnlichung der Musik. Ebenso irritiert seiner Zeit Richard Wagner unter anderem mit der ungewöhnlichen Struktur des Venusberg-Motivs. Die wahnsin-

38 Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne, S. 131. 39 Ebd., S. 132.

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nige Ekstase40 seines Protagonisten dient Wagner sowohl als Sozialkritik als auch einer Kritik an der alten Oper.41 Auch wenn die Inhalte der Dramen Wagners, in der heutigen Zeit inszeniert, an Aktualität einbüßen, entfaltet sich ihre dramatische Struktur jedoch nicht nur in der Musik, sondern vor allem in der szenischen Darstellung: Beide, vom Schauer erfasst, blicken sich in höchster Aufregung, doch mit starrer Haltung, unverwandt in die Augen, in deren Ausdruck des Todes trotz bald der Liebesglut weicht […], lautet die Regieanweisung für die Szene, in der Isolde Tristan den Todestrank reicht. In Verbindung mit einer Steigerung des Spiels durch eine modulierende Sequenz ohne das Woraufhin können sich die vorkomponierten Ekstasen in Szene und musikalischem Spannungsbogen entfalten. Wenngleich jene kritischen Intentionen Wagners vielleicht nicht mehr den Bedürfnissen der gegenwärtigen Kunst entsprechen, so bleibt die Frage an eine Art zeitüberdauernde Wirkung seines ekstatischen Stils bestehen. »Das Drama, im Moment seiner wirklichen, szenischen Darstellung, erweckt im Zuschauer sofort die intime Theilnahme an einer vorgeführten, dem wirklichen Leben […] so treu nachgeahmten Handlung, daß in dieser Theilnahme das sympathische Gefühl des Menschen bereits selbst in den Zustand von Ekstase geräth […].«42

Die Musik vermag, wenn sie einen erfüllt, »die höchste Exstase des Bewußtseins der Schrankenlosigkeit«43 erregen, sie wäre daher nach Wagner der Kategorie des Erhabenen zuzuschreiben. Das Erhabene scheint an dieser Stelle ein zu weites Feld aufzureißen, begreifen wir die Musik vorsichtig als herausragende Möglichkeit der Erregung ekstatischer Zustände. Musik verwirklicht sich in der Zeit, ihre Potenz zur Steigerung der Erregungszustände bis hin zur Ekstase ist daher bereits in ihrem Aufbau ange-

40 Siehe dazu auch Kraft ist weiblich in diesem Buch. 41 Vgl. Eckhard Roch: »Musik und Ekstase: Richard Wagner«, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Lust, Rausch und Ekstase. Grenzgänge der Ästhetischen Bildung, Bielefeld: transcript 2013, S. 151-176, hier S. 161. 42 Richard Wagner: »Zukunftsmusik. An einen französischen Freund«, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Band 7, Leipzig: E.W. Fritzsch 1873, S. 121-180, hier S. 151 f. 43 Richard Wagner: »Beethoven«, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Band 9, Leipzig: E.W. Fritzsch 1873, S. 75-151, hier S. 78.

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legt. Präzise entsprechen sich Verwirklichung der Ekstase des Spielers und des Zuhörers. Vertieft sich der Besucher in das Spiel des Musikers, dann läuft er Gefahr, mitgerissen zu werden, gar in Ekstase zu geraten. Modulierende Sequenzen, die gestische Melodik, chromatische Tonstufen, synkopischer Rhythmus, sich verschiebende Metren – f-h-dis-gis – alle diese Merkmale des Ekstatischen, die dem Spiel eine ungeheure Färbung verleihen, zwingen den Zuhörer in den Mitvollzug der Ekstase – eine Ekstase wider Willen. Entgegen des Willens ereignet sich diese Ekstase nicht, da der Zuhörer möglicherweise dem darauffolgenden Schmerz, dem Sehnen nach der Wiederholung entgehen möchte. Und bevor die beinahe nächstliegende Idee der Differenz von vernünftigem Vermögen und impulsiver Kraft ausgebreitet wird, möchte die Autorin auf einen anderen Beweggrund der Formulierung hinweisen: den Willen zur Moral, der hier überwunden wird. Es ist der Gedanke, den Nietzsche bereits in seiner Tragödie durchscheinen lässt und den er später in der Komposition des Zarathustras ausmalt. In jenem herausragenden Werk dionysischer Dichtkunst entfaltet Nietzsche die Idee einer Transformation der Werte im Sinne des Schaffens des Künstlers, des gestaltenden Menschen: »Der traf freilich die Wahrheit nicht, der das Wort nach ihr schoß vom ›Willen zum Dasein‹: diesen Willen – giebt es nicht! Denn: was nicht ist, das kann nicht wollen; was aber im Dasein ist, wie könnte das noch zum Dasein wollen! Nur, wo Leben ist, da ist auch Wille: aber nicht Wille zum Leben, sondern – so lehre ichʼs dich – Wille zur Macht! Vieles ist dem Lebenden höher geschätzt, als Leben selber; doch aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht! Also lehrte mich einst das Leben: und daraus löse ich euch, ihr Weisesten, noch das Räthsel eures Herzens.«44

Wie weiter oben bereits angedeutet, wird nicht eine alte Moral in eine neue, bessere umgewandelt, an der Stelle des Wertes der Moral zeigt sich die

44 Friedrich Nietzsche: »Also sprach Zarathustra«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 4, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988, hier S. 148 f.

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Kraft der Gestaltung. Genauer betrachtet kann keine Umwertung der Werte stattfinden, im Schaffen des Künstlers ereignet sie sich und bewirkt den steten Wandel der Dinge: »Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden. Mit euren Werthen und Worten von Gut und Böse übt ihr Gewalt, ihr Werthschätzenden: Und diess ist eure verborgene Liebe und eure Seele Glänzen, Zittern und Überwallen.«45

Das Wirken der Kraft ist das unaufhörliche schmerzliche Überwinden des Gewesenen im Schaffen von etwas Neuem, das in dem Moment des Entstehens bereits wieder vergangen ist. Was übrig bleibt, ist der Wille zum Schöpferischen, zum Wirken der Kraft. In der Hingabe an eine von ekstatischen Merkmalen durchzogene Musik begeben sich Künstler und Besucher in Gefahr, sich zu verlieren. In dem Überwinden des Selbst ereignet sich zugleich ein Verlieren des Selbst. Ekstase ist der Verlust des Selbst durch die rauschhaft entfesselte Kraft. Insofern gibt es auch eine Ekstase wider Willen. Gemeint ist hier die Umdeutung der Ekstasis infolge der Ausschweifungen der Mainaden.46 Denn jene moderne Form der Ekstase, geprägt von dem Merkmal der leidenschaftlichen Hingabe, bedeutet anders als ihre abgeschwächte Form der bloßen Leidenschaftlichkeit die Aufgabe des Willens zum sozialen Handeln. Sei es nun der Wille zur Anpassung an das Soziale oder der Wille zur Widerständigkeit. Die künstlerische Ekstase befreit den Menschen vom Sozialen. Der Wert des Schaffens selbst, der Wille zur Macht nicht im Sinne der Herrschaft, sondern als Wille zur Selbstüberwindung tritt hervor, ersetzt den moralischen Willen. In extremen Prozessen ersetzt jenes ÜberwindenWollen im schöpferischen Akt den moralischen Willen eines unversehrten Lebens oder gar des Lebens selbst. Ein aktuelles Exemplar stellt das Schaffen des russischen Aktionskünstlers Pjotr Pawlenski dar. Um des Aktes einer Autorität willen, die sich gegen die politischen Entwicklungen des Landes stellt, rammt er sich auf dem

45 Ebd., S. 149. 46 Siehe dazu den Auftakt zu dem Kapitel Verlockende Klänge in diesem Buch.

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Roten Platz Nägel in empfindliche Körperregionen, schneidet sich auf dem Dach der Botinskij-Psychiatrie ein Ohrläppchen ab und näht sich den Mund zu. Die Unversehrtheit des eigenen Körpers, der Schutz desselben, von sich selbst, überwindet Pawlenski, um seinen Körper in radikal aufgebauten, stringent geplanten Akten, in ein politisches Kunstwerk zu verwandeln – die Freiheit vom Sozialen in nuce.47 Das Entscheidende ist nicht das Handeln entgegen der gesellschaftlichen Normen, also das Präsentieren eines Werkes, das gegen die Moral verstößt. Wäre es nur das, würde es ein vornehmliches Beispiel für den Willen zur Moral in der Ausprägung des Willens zur Umdeutung der Moral sein. Die Kraft seines Schaffens gebiert eine neue Norm. Und dieses tut sie in jedem Moment von Neuem. Im Machen des Kunstwerkes entsteht die Norm, seine Gesetze, sein Zweck. Und dieses geschieht in einer steten Wandlung durch das Wirken der Kraft. Ein ebenso Aufsehen erregendes, jedoch weniger politisch und zugleich ebenso von der Freiheit vom Sozialen gezeichnetes Exemplar stellen die Arbeiten des »Bad Girl« der Brit-Art-Szene dar. Monochrome Räume ziehen die Besucher auf der Biennale 2015 magisch an. Sarah Lucas mag es besonders knallig und inszeniert die Farbe Gelb im Britischen Pavillon. Übersexualisierte Ballonfiguren mit erigiertem Riesenpenis, Frauentorsi mit Zigaretten in Körperöffnungen auf Designermöbeln drapiert erinnern an die Kraft der Rüpelhaftigkeit der Young British Artists. Wobei die Unsittlichkeiten von den Besucherinnen eher als rotzige Lustaktion schmunzelnd hingenommen werden. Zur Farbwahl äußert die Künstlerin, sie wolle die Anmutung eines Desserts andeuten: »Schwimmende Inseln, die in einem See aus Eiercreme treiben.«48 Passend zu der Anspielung eines weiblichen Vitalismus eröffnet eine Damencombo mit dem ekstatisch herausgeschrienen Text »Two much drugs, not enough sex …« den britischen Pavillon.

47 Im November 2015 zeigt Kampnagel in Form von Videos die Aktionen, Bilder, Dokumente sowie eine Dokumentation der Reaktionen aus Medien und Justiz die erste Retrospektive von Pawlenskis Arbeiten. Um jene Retrospektive vorbereiten zu können, verstieß Pawlenski gegen sein Ausreiseverbot und konnte daher zu dem geplanten Gespräch mit dem Hamburger Punk-Urgestein Ted Gaier zur Eröffnung der Ausstellung nicht persönlich erscheinen. 48 Gruner + Jahr (Hg.): art spezial. Biennale Venedig. Das Festival der Kunst – Die wichtigste Schau des Jahres in Bildern, Hamburg: Gruner + Jahr 2015, S. 40.

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Über die Möglichkeit einer Freiheit vom Sozialen im Sozialen verrät uns der Schweizer Konzeptkünstler Christoph Büchel etwas. Ganz und gar ohne Unsittlichkeiten auskommend verwandelt er in Cannaregio eine leerstehende Kirche in ein lebendiges Gotteshaus für die muslimische Gemeinde Venedigs, denen bislang ein derartiger Gebetsraum fehlte. Koranverse an den Wänden, Gebetsteppich und ein Gemeindezentrum im Seitentrakt bieten für die Dauer der diesjährigen Biennale eine Begegnungsstätte. Island finanziert das kontrovers diskutierte Projekt als offiziellen Länderbeitrag. Nach einer begeisterten Eröffnung droht Venedig mit sofortiger Schließung, da der Pavillon kein Ort für Gottesdienste sei. Nun ist er es doch geworden. Insofern gelangt man über den Weg des Betrachtens einer Transformation der Werke zu der zunächst zurückgestellten Vermutung zurück, die Ekstase ereigne sich gegen den Willen des Künstlers, da im rauschhaften Schaffen nicht mehr nur die vernünftigen Vermögen das Handeln leiten. Wenn also das Machen von Kunst an die Entfesselung der Kraft als Rausch gebunden ist, es nur unter dieser Bedingung Kunst gibt, dann muss jenes Machen die allmähliche oder plötzliche Aufgabe des Willens sein. Kulminiert dieser Rausch in der Ekstase, dann kann diese konsistenter Weise nur wider Willen geschehen. Ekstasen der Kunst sind Ekstasen wider Willen.

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P ASSIVITÄTSKONSTRUKTE

»Das letzte Wort der Ästhetik ist die menschliche Freiheit.«49 Die bereits angedeutete Figur der Kunst als Freiheit vom Sozialen soll hier eine neue Färbung erhalten. Das Ästhetische als Figur der Freiheit zu denken, soll sich an den Künsten der nachdisziplinären Gesellschaft reiben. Wobei damit nicht die Theorie der Ästhetik der Moderne in Frage gestellt wird; lediglich ihre Einlösung in den Kunstwelten der Gegenwart soll einer Prüfung unterzogen werden. Auf der Grundlage des Vorgehens von Christoph Menke, das Konzept der Freiheit wie es im 18. Jahrhundert von der Ästhetik formuliert wurde, als »Blaupause« zu nehmen, um daran das Verwirklichen der sozialen Gestalt der Freiheit in der gegenwärtigen Gesellschaft zu bemessen, sollen

49 Menke: Kraft, S. 129.

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Phänomene der Kunst der Gegenwart geprüft werden.50 Die zentrale Aussage Menkes dazu lautet: Sowohl die gegenwärtige wie auch bereits die moderne Ästhetik verfehle diese gesellschaftstheoretische Inanspruchnahme. Jenes Nichteinlösen der sozialen Verwirklichung der Idee ästhetischer Freiheit könne dabei weder nur einer historischen Differenz zugeschrieben werden, noch sei es eine Frage, wie diese Freiheiten zu verstehen seien. Das betrifft die Freiheit der modernen Ästhetik ebenso wie diejenige, welche die Formen der nachdisziplinären Gesellschaft zu verwirklichen versuchen. Zeichnen wir also zunächst Menkes Argumentationslinie in groben Zügen nach, um dann anhand dieser Skizze nach Möglichkeitsbedingungen für eine Freiheit vom Sozialen in der Gegenwart und Zukunft zu fragen. Die erste These Menkes lautet: die nachdisziplinäre Gesellschaft begreife man nur richtig, wenn man verstünde, »worin sie nicht der modernen Bestimmung der ästhetischen Freiheit entspricht, sondern im Gegenteil mit ihr bricht«51. In diesem Sinne sei das nachdisziplinäre Subjekt auch nicht eine Verwirklichung der Freiheit der Autonomie, das Subjekt wäre vielmehr Ausdruck und Resultat der Krise einer bürgerlichen Autonomie. Mit der zweiten These proklamiert Menke, man begreife die Idee der ästhetischen Freiheit der Moderne nur richtig, wenn man nicht nach der Entsprechung einer Alternative jener bürgerlichen Autonomie und so etwas wie nachdisziplinärer Subjektivität suche. Das Überschreiten jener Alternative »und mit ihr beide Seiten zugleich« stelle die einzige Möglichkeit des Verständnisses der Freiheitsidee der Moderne dar, denn sie sei »weder das Modell der Autonomie noch das der nachdisziplinären Subjektform«52. Beide Thesen, die des Objektes als Ausdruck einer Krise der Autonomie und die der notwendigen Überschreitung der modernen Ästhetik als Modell der Autonomie, unterzieht Menke der Prüfung anhand von Überlegungen zum Begriff des Geschmacks. Geschmack ist zugleich eine ästhetische und soziale Kategorie. Eine ästhetische Kategorie ist der Geschmack, da er »die exemplarische Figur der Freiheit bildet«53. Der Geschmack sei ein Vermögen des Auffassens und

50 Vgl. Menke: Die Kraft der Kunst, S. 132-157. 51 Ebd., S. 133 [Herv. i.O.]. 52 Ebd. 53 Ebd.

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Bewertens, in dem das Subjekt »ohne Leitung eines anderen«54 wahrnimmt und handelt. Indem das Selbst sich leitet, wird es zum Subjekt. Ohne fremde Leitung meint ohne Leitung durch Konventionen, einer bestimmten Methode oder eines gegebenen Begriffes. Grundsätzlich kommt diese Möglichkeit allen zu: »Während Genie, die Freiheit ästhetischer Hervorbringung, nur einige wenige besitzen, ist Geschmack dasjenige Vermögen ästhetischer Freiheit, das alle ausbilden können.«55 Zudem ist Geschmack eine soziale Kategorie. Zum Einen erfüllt er eine Grundfunktion, er hilft dem Subjekt, sich in der Gesellschaft zu orientieren, einzuordnen und abzugrenzen. Zum Anderen sorgt der Geschmack für die Gestimmtheit des Subjektes. Beide Funktionen sind wesentlich für die Einlösung der Freiheit des Subjektes. In unserer nachdisziplinären Gesellschaft kommt die Erfüllung dieser Funktionen eine unablässig steigende Bedeutung zu. Die Bildung des Geschmacks ist in den gegenwärtigen Lebenskontexten deshalb so bedeutsam, da in dem Genuss der Güter wie in der Produktion derselben Produkt und Design zunehmend miteinander verbunden scheinen. Der Slogan form follows function ist lange überwunden. Ebenso verhält es sich mit den gegenwärtigen Tendenzen einer Reproduktion der Stilikonen der sechziger Jahre. Vielmehr deuten die Produktionsprozesse auf eine Gleichzeitigkeit von Bildung der Form und Erfüllung der Funktion hin: form = function. Die Ästhetik des 18. Jahrhunderts fasst den Geschmack als subjektives Vermögen des Sinnlichen auf und wendet sich damit gegen eine rationalistische Philosophie. Ebenso entgegen der traditionellen Kunstlehren wird der Geschmack als eine durch Üben zu erwerbende und daher eben nicht regulierbare Fähigkeit des Subjektes verstanden. Weder eine rationale Methode noch die Einverleibung von Traditionen können es in seiner Urteilsfindung leiten: »Im Geschmack urteilt das Objekt selbst.«56 Es ist die Idee eines sinnlichen Urteilsvermögens, das zugleich Anspruch auf Objektivität erhebt. Einen guten Geschmack zu haben, bedeutet,

54 Ebd. Menke bezieht sich mit diesem Ausdruck auf Kants Konstrukt zur Überwindung der Passivität der Vernunft; siehe dazu Immanuel Kant: »Kritik der Urteilskraft«, in: ders., Werkausgabe. In 12 Bänden, Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974-1977. 55 Menke: Die Kraft der Kunst, S. 133. 56 Ebd., S. 135.

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die Dinge ungetrübt durch Vorurteile oder Methode beurteilen zu können. »Der Geschmack urteilt über die Sache selbst.«57 In diesem Sinne zeigt sich im Geschmack das bürgerliche Ideal der Autonomie. Denn Autonomie bedeutet, die Freiheit des Selbst mit der Normativität der Anforderung einer Sache zu vereinen. Der Geschmack ermöglicht es dem Menschen, die Verfassung und den Wert einer Sache zu erkennen, sich ein Urteil zu bilden, ohne sich Gesetzen zu unterwerfen. Nun ist die Subjektivitätsform des Geschmacks nicht von Natur aus gegeben und objektivitätsfähig. Geschmack ist ein Kunstprodukt. Daher kann auch nur in der Teilhabe und Auseinandersetzung mit einer Kultur Geschmack erworben werden. Geschmack muss gebildet werden. In der Disziplinargesellschaft werden durch Prozeduren der Übung und Prüfung Subjekte herangezogen. Subjekte, als Objekte wahrgenommen, werden der subjektivierenden Unterwerfung unterzogen, damit sie die Fähigkeit und den Willen erlangen, die geforderten Leistungen zu erbringen.58 Ihre Subjektwerdung ist auf das Begreifen und Erfüllen der vorgegebenen Norm ausgerichtet. In Erziehungsanstalten lernen sie, nicht nur diese Norm zu erfüllen, sondern ebenso die Gültigkeit der Norm beurteilen zu können. Insofern ist der Subjektivierungsprozess jener Gesellschaftsform ein Machen von Subjekten in der Ausübung disziplinärer Herrschaft.59 Somit haben wir es in der Bildung des Geschmacks mit zwei gegenläufigen Bestrebungen zu tun. Die Bildung des ästhetischen Geschmacks ist an die Internalisierung der Normen gebunden und eben diese Prägung als Dis-

57 Ebd. 58 Siehe zu allen Prozeduren der Disziplinierung durch die allgemeinen Herrschaftsformen des 17. Und 18. Jahrhunderts Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 176, 238. 59 Siehe zum Zusammenhang von Ästhetik und Disziplinargesellschaft Christoph Menke: »Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von Überwachen und Strafen«, in: Gertrud Koch/Sylvia Sasse/Ludger Schwarte (Hg.), Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München: W. Fink 2003, S. 109-121; Christoph Menke: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: Axel Honneth (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption; Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 199-210.

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ziplinarsubjekt steht der Verwirklichung des Subjektes als selbst gewordenes Objekt entgegen. Nun könnte man meinen, wenn die Vernunft als ästhetischer Geschmack unverhüllt urteilen soll, bedürfe sie der Freiheit von den sozialen Normen. Die Ästhetik beschreibt eine andere Lösung, die sozusagen das bequeme ästhetische Subjekt für sich gewählt hat. In seiner Vervollkommnung vereint es den eigenen Willen und sein Urteil mit der sozialen Norm. In der Entfaltung der eigenen sinnlichen Kräfte stellt sich die Aufhebung der Differenz ein: Gesetzmäßigkeit der sozialen Norm und Subjektsein stimmen überein. Das durch Maßnahmen der Disziplinierung gewordene Subjekt tilgt die Differenz zu den geforderten Leistungen seiner Unterwerfung. Das ästhetische Subjekt löst in der erfolgreichen Disziplinierung den Schein des Subjektseins ein.60 »Ästhetik, als Theorie und Praxis, heißt: Ästhetisierung der Disziplin. Erst und nur im ästhetischen Subjektiv des Geschmacks erfüllt sich die Teleologie der Disziplinargesellschaft, die Heteronomie der Bildung in der Autonomie der Subjekte zum Verschwinden zu bringen. Das ästhetische Geschmackssubjekt ist der Inbegriff der bürgerlichen Idee der Autonomie, weil es Autonomie nur im ästhetischen Schein gibt.«61

Das Schöne ist daher die exemplarische Instanz des Geschmacks. In der Beurteilung des Schönen vergewissert sich das Objekt der eigenen Bildung. Der Geschmack für das Schöne zeigt die differenzlose Deckung von Subjektivitätsform und Objektivitätsanspruch. »Der ästhetische Geschmack am Schönen ist nicht nur eine besonders kultivierte und raffinierte Art von Geschmack. Er ist der Geschmack des Geschmacks. Im Genuß am Schönen genießt sich das Subjekt in der Vollkommenheit seiner Selbstbildung:

60 Siehe zur Ideologie des Subjektes Terry Eagleton: The Ideology of the Aesthetic. Kap. I, Oxford/Cambridge, Mass.: Blackwell 1990; sowie Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen. Teil 1, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 61 Menke: Die Kraft der Kunst, S. 138.

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einer Bildung, in deren Verlauf alle in der Heteronomie, die die soziale Existenz des Disziplinarsubjekts prägt, sich aufgehoben hat.«62

Die Freiheit der Autonomie des Subjektes wird in Disziplin erworben, die Aufgabe der Freiheit, selbst Subjekt zu werden, ist die Bedingung für die Autonomie des Geschmacks. Im Genuss des Schönen vergewissert sich der Mensch seiner Passung mit der Welt, seine Anschauung und die Gesetze seiner Anschauung würden stimmen.63 Der Mensch vermag es, in der Betrachtung des Schönen den Objektivitätsanspruch seiner subjektiven Vermögen zu prüfen. Das Anwendungsfeld des Geschmacks ist das Unbekannte, das mit Begriffen unbelegte, das Erhabene, für das noch keine Gütekriterien festgelegt sind oder vielleicht auch niemals werden. Unschwer erkennbar ist, dass sich dieses Feld in der heutigen nachdisziplinären Gesellschaft sich selbst beschleunigend erweitert. Vielleicht könnte man sagen, die Lust am Schönen sei vor allem die Erfüllung des Sehnens nach Selbstvergewisserung. Nicht etwa, da das Schöne dem Feld des Unbekannten zugehörig ist, ein unaufhörliches Sehnen, in jenes Unerforschte vorzudringen, also auf der Hand liegt. Im Genuss des Unbekannten liegt ein exemplarischer und zugleich herausragender Akt der Selbstvergewisserung verborgen. Nun bleibt vorerst zu bedenken, dass diese Selbstvergewisserung eigentlich eine Vergewisserung des Selbst über die Passung zur Welt ist. In dem Sinne, dass das ästhetische Subjekt ein gewordenes, ein nur scheinbar von selbst gewordenes, also vielmehr der Schein des Subjektes ist, kann diese Vergewisserung auch das Übereinstimmen erlernter Normen mit dem Schein eines Subjektes sein. Wenn wir es nun in unserer nachdisziplinären Gesellschaft mit einer Beschleunigung des Unbekannten zu tun haben, steigt dann ebenso exponential der Lustgewinn? Das grenzt an eine unmögliche Utopie. Das ästhetische Subjekt würde sich zunehmend irgendwann in einer Art eklektizistischen Zustand als Objekt auflösen und schließlich in seinem Schein erstarren. Aus ideologischer Perspektive wäre das eine heitere wie düstere Skizze

62 Ebd. 63 Vgl. Immanuel Kant: »Reflexion 1820a«, in: Kant’s Gesammelte Schriften, Band XVI, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: de Gruyter 1902-1956, S. 127.

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der Zukunft der Autonomie des Subjektes. In der unaufhörlichen Spiegelung des Vollkommenseins manifestiert sich die Autonomie des Subjektes in der Weise des Vergessens seiner Abrichtung: das Verhängnis des guten Geschmacks.

Zweiter Teil: Performanzen

IV

Kraft ist weiblich Unordnungen in den Künsten

»Tanzend sogleich feiert das ganze Land den Brausenden, welcher den Schwarm führt in den Wald, in die Berge, woselbst weilet die weibliche Schar, von Spule und Webstuhl wegbiesend durch Dionysen.« EURIPIDES: Die Bakchen

Milch, Wein und Honig quellen aus dem Felsen, mit aufgelöstem Haar nur durch ein Tierfell bedeckt, das von Schlangen umgürtet ist, tanzen Frauen unter ekstatischen Zuckungen ein Thyros schwingend. Die Frauen verlassen ihre Familien, ziehen in die Wildnis, schlagen Säfte aus dem Fels, säugen junge Tiere oder zerreißen sie wie Pentheus und verzehren sie roh. Epidemieartig ergreift es die Frauen im achten Jahrhundert vor Christus in Griechenland, in geheimen Riten, gar grausigen blutigen Kulten, ihren Gott Dionysos zu ehren.1 Erst seit jenem dionysischen Kult der Mainaden, den mythischen Begleiterinnen des Gottes Dionysos, wandelt der Begriff der Orgie von der Bedeutung des Ritus zu einem der Sinnlichkeit und Ausschweifung.2 Ekstasis meint in seinem ursprünglich klassisch griechischen Sinn ein Außer sich

1

Vgl. Roch: Musik und Ekstase: Richard Wagner, S. 151.

2

Vgl. Walter Pötscher: »Art. ›Orgia‹«, in: Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hg.), Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Band 4, München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1979, hier Sp. 339.

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sein. Das Überschreiten des normalen Maßes wie das Verrückt-Sein oder die Verrenkung der Glieder des Körpers verweist noch auf eine entschieden andere Konnotation als die heute übliche Verwendung des Begriffes im Sinne der schlichten Leidenschaft.3 Eine Schlange um den Kopf, den Thyrsos schwingend, sich tanzend und rasend auf das Göttliche hin transzendieren – das Wesen der dionysischen Ekstase liegt in einem grenzüberschreitenden Tun, dessen Höhepunkt die Zerstückelung des sich in Tiergestalt offenbarenden Gottes zur Vereinigung mit demselben darstellt. Objekt jenes barbarischen Ritus ist der Bock oder gar ein heimlicher Gast des Kultes. Ihr Schicksal soll dasselbe sein, wie das des Gottes, der dem Mythos zufolge von den Titanen zerstückelt wird und bald darauf wieder aufersteht.4 Das Tanzen bis zur totalen Erschöpfung bringt in den Begriff der Orgie oder des Orgiastischen eine völlig neue Qualität ein: die Ekstase. Vertiefen wir uns also zunächst einmal in die Idee der Ekstase. Bislang wird hier Ekstase als Zustand fortgeschrittenen Rausches gefasst. Der Moment, in dem die physiologische Vorbedingung der Kunst sich im Ganzen erfüllt. Versuchen wir einen Überschlag von der als barbarisch bekämpften Musikkultur des alten Griechenland, die mit dem dionysischen Kult emporkam und deren ekstatische Wirkungen sich Friedrich Nietzsche in der Geburt der Tragödie eingehend widmete, zu den Ekstasen der Gegenwart.

A

V ERLOCKENDE K LÄNGE

Verdrehte Fensterrahmen und zerbrochene Scheiben versperren den Eingang zu der Quelle der sphärischen Gesänge aus dem norwegischen Pavillon. Camille Norment versucht mit ihrer Klanginstallation auf der Biennale Venedig 2015 die Wirkung von Musik auf den menschlichen Körper zu erforschen. Die Multimediakünstlerin interessiert sich besonders für die stimulierende gar übersteigende Qualität der Musik. Minimalistische Klänge eines Frauenchors sind zu vernehmen. Norment tritt hin und wieder selbst

3

Vgl. Heinrich Dörrie: »Art. ›Ekstasis‹«, in: Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hg.), Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Band 2, München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1979, hier Sp. 226.

4

Vgl. Roch: Musik und Ekstase: Richard Wagner, S. 153.

K RAFT

IST WEIBLICH

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an die Glasharmonika – das einst verbotene Instrument, unter dem Verdacht stehend, die Klänge, die ihm zu entlocken sind, würden sexuelle Erregung erzeugen. Eine elektrische Gitarre und eine Violine begleiten die grenzüberschreitenden schrillen Töne. Kraft ist nicht substantialistisch als gegebenes anthropologisches Maß zu begreifen. Vielmehr kann sie als Wirkungsprinzip einer Ästhetik des Dunklen beschrieben werden. Insbesondere in der skandinavischen Literatur und den Klängen Islands, sind die Übertragungen einer naturekstatisch aufgefassten Vitalität zu spüren. Sophie Wennerscheid skizziert mit Blick auf die »Auslösungen« von Nietzsches Denken der Kraft in der skandinavischen Literatur den historischen Wandel der Kraftkonzepte als Wandel eines diskursiven, kulturell vermittelten Programms »dunklen Wissens«.5 Wennerscheid vertieft sich mithin in den phantasmatischen Charakter einer Kraft, fasst Nietzsches Kraftbegriff als vitalistisches Lebensprinzip auf, dem keine reale sondern vielmehr eine visionäre Qualität eignet: »Mit Rekurs auf Dionysos lässt sich keine Realpolitik machen, wohl aber das Phantasma des unbedingten, sich selbst übersteigenden Lebens beschwören.«6 Und doch zeichnet sie die Rezeption Nietzsches in Skandinavien beginnend mit Georg Brandes in eben dieser Deutung als »Kraft der Mitteilung«7, die dem Wirken innewohnt, nach.8 Wenn man an weiblichen Vitalismus in der Verwobenheit mit Nietzsche denkt, dann mag es sein, dass sich das Bild von der Peitsche schwingenden Lou Salomé in die Gedanken einschleicht. Die Szene, in der die später als Differenzfeministin bekannt gewordene femme fatale die Herren Nietzsche sowie dessen Freund Paul Rée vor den Karren ins Joch spannt, ist eigens für eine Photographie entworfen worden. Die Ironisierung des Machtverhältnisses, in jener Photographie plastiziert, ringt einem zugleich ein Lächeln ab, wie es eine gewisse ästhetische Bitterkeit transportiert.

5

Vgl. Sophie Wennerscheid: Close your eyes. Phantasma, Kraft und Dunkelheit in der skandinavischen Literatur, Paderborn: W. Fink 2014, S. 10.

6

Ebd., S. 227.

7

Friedrich Nietzsche: »Nachgelassene Fragmente 1884-1885«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 11, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988, hier S. 486.

8

Vgl. Wennerscheid: Close your eyes, S. 228.

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Das Lebensgebet belegt Fritz Paul zufolge den Ursprung ihrer vitalistisch orientierten Weltanschauung vor der Begegnung mit Nietzsche.9 Bedeutsam ist das Lebensgebet zudem, da hier die ambivalente Beziehung, die Hingabe an Freuden und Leiden des Lebens eine positive Konnotation erfährt. Es scheint sogar, als wolle sie die Überwältigung durch die Kraft heraufbeschwören, die Hingabe an Lust und Schmerz provozieren.10 So lautet die erste und letzte Strophe des Gedichts: »Gewiß so liebt ein Freund den Freund Wie ich Dich liebe, Rätselleben – Ob ich in Dir gejauchzt, geweint, Ob Du mir Glück, ob Schmerz gegeben. […] Jahrtausende zu sein! Zu denken! Schließ mich in beider Arme ein: Hast Du kein Glück mehr mir zu schenken – Wohlan – noch hast Du Deine Pein.«11

Die Hingabe an das Leben bedeutet zugleich seine rationale Unbegreiflichkeit zu akzeptieren, sich von dem sinnlichen Gegenüber überwältigen zu lassen. Die Idee der Kraft ist zugleich das Zugeständnis des Nichtwissens. Genauer könnte man sagen: In dem Wirken der Kraft liegt das Verstehen des Unverstandenen. Herder beschreibt dazu in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit:

9

Siehe dazu Lou Andreas-Salomé: Lebensrückblick. Grundriß einiger Lebenserinnerungen: Niehans 1951, S. 38 f.; sowie Fritz Paul: »Die Legende von der Femme Fatale. Lou Andreas-Salomé in ihren Beziehungen zu skandinavischen Schriftstellern und zur skandinavischen Literatur«, in: Wolfgang Butt/Bernhard Glienke (Hg.), Der nahe Norden. Otto Oberholzer zum 65. Geburtstag; Eine Festschrift, Frankfurt a.M.: P. Lang 1985, S. 215-234, hier S. 225.

10 Siehe dazu Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart: Kohlhammer 1971. 11 Andreas-Salomé: Lebensrückblick, S. 47.

K RAFT

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»So gewiß ich’s weiß, daß ich denke, und kenne doch meine denkende Kraft nicht: so gewiß empfinde und sehe ich’s, daß ich lebe, wenn ich gleich auch nie weiß, was Lebenskraft sei. Angeboren, organisch, genetisch ist dies Vermögen: es ist der Grund meiner Natur-Kräfte, der innere Genius meines Daseins.«12

Das Entziehen jedweder philosophischen Bestimmung veranlasst Herder zu einer Überführung jener dunklen Kraft in eine Theorie des Gefühls.13 Kraft könne nicht philosophisch gefasst werden, da sie sich von ihrem Wesen her der Bestimmung entzieht, sich entziehen muss. Denn Kraft sei ein innerer Zustand, der eine Form der Anschauung ermöglicht. Ihre Erscheinung ist die einer Beziehung. Wenn also Kraft kein Ereignis, keine messbare Größe ist, sondern eine selbstbestimmte Form des Erfassens von Welt, ist sie keiner Logik des gewöhnlichen Verstehens unterworfen und mithin nicht kausal erklärbar. Das Denken der Kraft als eine ästhetische Kategorie lässt Herder in der modernen Philosophie eine bedeutsame Rolle zukommen. Wenngleich Andreas-Salomé dem Mystischen in Nietzsches Idee der Kraft skeptisch gegenüber steht, zeigt sie doch reges Interesse an der Leidenschaftlichkeit, die Nietzsche zur Grundlage seiner Besinnung auf die eigentliche Aufgabe der Philosophie erhebt. Neben Andreas-Salomé greifen unter den weiblichen Autorinnen seiner Zeit insbesondere Ellen Key, Laura Marholm und Irin George Egerton Nietzsches Konzept der Kraft auf und inszenieren es als weiblichen Vitalismus.14 Jene Bewegung wird ihrerseits von zeitgenössischen wie gegenwärtigen Feministinnen kritisiert, da ihr

12 Johann Gottfried von Herder: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, in: ders., Werke in zehn Bänden, Band 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt am Main: Dt. Klassiker-Verl. 1989, hier S. 273. 13 Siehe dazu Johann Gottfried von Herder: »Zum Sinn des Gefühls«, in: ders., Werke. 10 in 11 Bänden. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, Band 4, hg. v. Martin Bollacher/Jürgen Brummack, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1994, S. 233-242, hier S. 236. 14 Siehe u.a. Lou Andreas-Salomé: »Der Mensch als Weib«, in: ders., Die Erotik, hg. v. Ernst Pfeiffer, Berlin: Matthes & Seitz 1979, S. 7-44, hier S. 28; sowie Sophie Wennerscheid: »Weiblicher Vitalismus in Skandinavien und Deutschland im Anschluss an Nietzsche«, in: Søren R. Fauth/Gísli Magnússon/Peter Wasmus (Hg.), Influx. Der deutsch-skandinavische Kulturaustausch um 1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 133-161.

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»Bauwerk«15 der wilden Selbstentfaltung des Weiblichen eines männlichen Gegenübers bedarf.16 Die Auflösung liegt darin, das Sinnliche nicht als das Gegenüber zu betrachten. Das männliche Gegenüber ist in dem Wirken der Kraft nur das Andere in dem Einen, genauer gesagt: das Andere des Einen. Wenn das Männliche als das Andere des Weiblichen aufgefasst wird, dann kann der weibliche Vitalismus als fruchtbares Moment betrachtet werden. Nicht in dem missverstandenen Sinne als Kraft des Weiblichen, sondern als weibliche Kraft. Weshalb das progressive Potential des weiblichen Vitalismus der scharf attackierten Differenzfeministinnen, insbesondere Andreas-Salomé, Marholm und Key, sich nicht entfalten konnte, gar gegenläufige Tendenzen aufwies, liegt weniger an der letztendlichen Sehnsucht nach dem Männlichen, als dem Umstand, überhaupt ein Ziel erreichen zu wollen. Die Idee einer eigenen, einer Selbstmacht kann hier nicht übernommen werden. Nicht da die Frauenfrage bei Nietzsche dilettantisch angegangen wurde,17 und das wurde sie. Aber nein, die Frau als auf den Mann bezogenes Affektwesen und einer damit verbundenen Ohnmacht rührt ebenfalls nicht etwa daher, dass ihr der Umschlag in Akte roher Gewalt, die Möglichkeit einer auf ein Gegenüber bezogenen Aggressivität fehlte.18 Vielmehr ist in der

15 Angelehnt an das von Andreas-Salomé formulierte Potential, Frauen könnten aufgrund ihrer Wildheit sich »breit und mächtig« im »Bau ihres eigenen Wesens auseinander falten« (vgl. Andreas-Salomé: Der Mensch als Weib, S. 28). 16 Siehe dazu Hedwig Dohm: »Reaktion in der Frauenbewegung«, in: dies., Ausgewählte Texte. Ein Lesebuch zum Jubiläum ihres 175. Geburtstages mit Essays und Feuilletons, Novellen und Dialogen, Aphorismen und Briefen, hg. v. Nikola Müller/Isabel Rohner, Berlin: Trafo-Verlag 2006, S. 136-151, hier S. 136. 17 Siehe dazu Hedwig Dohm: »Nietzsche und die Frauen«, in: dies., Ausgewählte Texte. Ein Lesebuch zum Jubiläum ihres 175. Geburtstages mit Essays und Feuilletons, Novellen und Dialogen, Aphorismen und Briefen, hg. v. Nikola Müller/Isabel Rohner, Berlin: Trafo-Verlag 2006, S. 124-136, hier S. 124. 18 Vornehmlich auf Nietzsche berufend formuliert Deleuze die dunkle Selbstaffirmation des Willens als »fest an die Bejahung gebundene Aggressivität« (Gilles Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, Hamburg: Europäische Verlagsanstalt 2002, S. 95) jener Urkraft.

K RAFT

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Verbindung mit der von Nietzsche verklärt gestellten Frauenfrage die Potenz der Kraft selbst verwässert.

B

V ON M YTHEN , E XZESSEN UND ANDEREN P HANTASMEN

Die Bühne des Sports ist von Männern konzipiert.19 Sowohl die Entwicklungen im europäischen Raum, beginnend mit dem deutschen Turnen, wie auch die des angloamerikanischen Sports belegen dieses. Weder in der Schule noch im außerschulischen Leistungssport werden die Stärken der Mädchen und Frauen angemessen wahrgenommen. Der Sportplatz ist ein Ort des Unbehagens, für die meisten Mädchen mit Angst vor Verletzungen oder Blamage belegt.20 Die Idee der Unversehrtheit des weiblichen Körpers gepaart mit der Auflage eines schicklichen Gebärdentums formt den Habitus der Mädchen von jüngsten Kindesbeinen an. Die Kontingenz in der Steigerung der Anzahl weiblicher Olympioniken täuscht allzu leicht darüber hinweg, dass im Internationalen Olympischen Komitee, wie auch in den anderen bedeutsamen Entscheidungsgremien des Sports, Frauen nur in sehr geringem Maße repräsentiert sind. Phänomene, wie der gegenwärtig immer noch erschwerte Zugang für Mädchen und Frauen an sogenannten unweiblichen Disziplinen, die starke Abhängigkeit einer Möglichkeit der Teilhabe von sozialer und ethnischer Herkunft, sowie unkritisch beäugte Nationen, die gar keine Frauen zu Olympischen Spielen entsenden, sollten daher nicht allzu sehr verwundern. Obwohl Theorien und Methoden der Frauenforschung im Kontext des Sports seit nunmehr vierzig Jahren in der Sportwissenschaft Beachtung findet, ist das Engagement jener Männerdomäne für eine Stärkung des Frauensports, gelinde gesagt, verhalten. In der Gegenwart treffen sich die Männerdomänen Schulsport, Sportwissenschaft, Spitzensport und verabreden den Erhalt des Mythos. Nur tragen sie damit nicht nur zum Fortbestehen der Geschlechterungleichheit bei,

19 Vgl. Gertrud Ursula Pfister: »Must women play Football? Women’s Football in Germany, Past and Present«, in: Football Studies (2001), S. 41-57, hier S. 41. 20 Vgl. Gertrud Ursula Pfister: »Frauen und Geschlechtsforschung im Sport«, in: Heidrun Hoppe/Marita Kampshoff/Elke Nyssen (Hg.), Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik, Weinheim: Beltz 2001, S. 145-172.

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ein undemokratischer Umstand zwar, den jedoch ein Aufbegehren der Minderheit beilegen könnte. Das eigentlich Verheerende an dem Fortschreiben des männlichen Mythos im Sport ist das Untersagen weiblicher Wirkungsprinzipien. Und damit wird nicht etwa auf den Einzug graziler Regungen abgestellt. Nicht die Rettung des Damensports stehe hier auf dem Programm, die Werthaltigkeit des Weiblichen in der Athletik will herausgefordert werden. Wenn es also um das Weibliche des Bewegens geht, dann übersteigt dieses Anliegen die Frage des Frauensports. Es betrifft ebenso die Kraftentfaltung der Männer wie auch der Menschen, die Frau und Mann sind. Das Weibliche in der Athletik ist keine Frage des Geschlechts auch nicht im Sinne einer Dekategorisierung, eines degendering. Wenn die genderbezogene Ungleichheit überwunden werden soll, ist eine Konzentration auf die sozialen Strukturen unumgänglich, schreibt Judith Lorber in ihrem Vorwort zur zweiten Auflage von Gender-Paradoxien.21 In einem mythischen Sinne bedeutet der Einzug des Weiblichen in die Aufführung die Dekategorisierung der Geschlechter. Ein derartiger Gedanke, aufgespannt zwischen einer christlichen Erziehung, inklusive der Nachwehen des Sündenfalls und den Sinnbildern der Menschen, mag für so manche Athletin verheißungsvoll anmuten. Und ebenso manchen Athleten dürfte eine mythische Rechtfertigung des Weiblichen in der Athletik begeistern. Vielleicht würde statt einer Entheroisierung ihrer selbst ein neuer Heros geboren. Eine weibliche Kraftgestalt, deren Zauber gleich jener der Hexen in den Romanen von Terry Pratchett und anders als ihre männlichen Gegenspieler, die Zauberer, nicht die Welt aus den Fugen geraten lassen und damit Ungleichgewichte heraufbeschwören, sondern in ihrem Wirken immer einen Ausgleich schaffen können, stellt ohne Frage einen verlockenden Heros dar. Nur leider bleibt sie doch ein Mythos. Der Gehalt jener Mythen ist jedoch nicht zu verachten: Eine Kraft wendet sich gegen eine andere, der Grund für das Entstehen von Kunstwerken. Der Moment des Gelingens, welcher des Spiels der Kräfte bedarf, ist ursächlich für die Faszination am Sport.

21 Doch auch wenn degendering über den Versuch hinausgeht, frei von Normen und Erwartungen zu leben, so ist der Begriff der Kategorie nur umgangen, seine Möglichkeit strukturell nicht mehr genutzt (vgl. Judith Lorber: GenderParadoxien, Opladen: Leske & Budrich 2003).

K RAFT

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Im Spiel der Kräfte überschreitet sich das Subjekt selbst.22 Das Überschreiten des Ausdrucks verlangt eine Enthemmung des Subjektes, ein Entfesseln der Kräfte und womöglich: den Exzess. In Versuch über den Exzess verortet Peter-André Alt das Exzesshafte der Kraft eher in den Phänomenen sexueller Ausschweifungen, denn wie Nietzsche als Grundprinzip menschlicher Vitalität. Das Exzessive hält sich in dem Konzept einer somatischen Ästhetik keineswegs oder zumindest nicht notwendig jenseits der Moral im Sinne eines moralisch Verwerflichen auf, sondern ist in der Überschreitung der Subjektivität selbst begründet. Sloterdijk fasst das Überschreiten des Moralischen daher als »Freisprechen« des Leibes: »Es ist Energie, die ihrem Gehemmtsein nicht gewachsen ist. Deshalb will sie, enthemmungshungrig, sich mit einem immoralischen Entfesselungsakt frei-sprechen, gewiß nicht, um der Bosheit als solcher Tür und Tor zu öffnen, sondern um einem absoluten Ausdruck der Kraft zu applaudieren; kaum nötig zu sagen, daß dieser Applaus inspiriert ist von einer Utopie der Unschuld des Leibes – einer Utopie, in der die Traumata des zivilisatorischen Prozesses ihren Protest anmelden.»23

In Sloterdijks Augen ist die Tragödie Ausdruck des Widerstandes gegen die gesellschaftlich geforderte Selbstdisziplinierung, den herrschenden Unterdrückungen des Triebes mit dem Konzept einer »naiven, ungebrochenen, fesselnden Kraft«24. Die Möglichkeit der organischen Kraft bedeutet aber auch, sie aktiv einbringen zu müssen. Das chaotische Spiel der Kräfte zuzulassen bedeutet, sich die Natur zu eigen zu machen: »Jede Kraft ist Aneignung, Beherrschung, Ausbeutung eines Realitätsquantums. Selbst die Wahrnehmung in

22 Peter-André Alt belegt jene Selbstüberschreitung mit dem Begriff des Exzesses. Vorwiegend an dem Exzessverständnis von de Sade und Bataille orientierend sowie der Begegnung mit dem Exzessbegriff Nietzsches und Kafkas beschreibt er die exzessive Subjektivität eines Menschen als »Ich-Entgrenzung« und »Element einer selbsttätigen Vitalität jenseits der Moral« (Peter-André Alt: »Versuch über den Exzess«, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 62 (2008), S. 112-122, hier S. 116 f.). 23 Sloterdijk: Der Denker auf der Bühne, S. 100. 24 Ebd., S. 86.

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ihren verschiedenen Aspekten ist Ausdruck von Kräften, die sich die Natur aneignen.«25 In dem Wirken der Kräfte gelingt das Aneignen des Dinges und in eben dieser permanenten Bewegung ändert es seinen Sinn: »Macht zur Transformation, dionysische Macht, ist die erste Bestimmung der Aktivität.«26 Bruchlos, gewaltlos erscheinen die subtilen Farbwechsel der Klangwelten der isländischen Komponistin Anna Thorvaldsdottir. Inspiriert von der Natur Grönlands gestaltet sie nahezu statische Raumklänge, den surrealen Lichtern des arktischen Himmels entlehnt. Verstreut dringen in die gestreckten Klangskulpturen Instrumentalgesten ein und verschmelzen dann mit den Skulpturen. Hrim, der gefrorene Tau, liegt nicht nur vor einem, nach einer Weile des Zuhörens ist man diese klirrende Kälte. Auf geheimnisvolle Weise umschließt die Aura der Klänge die eigene Hülle, weicht sie auf und auf einmal ist man selbst die Stille. Der Isländerin gelingen zeitgenössische Dramen, in denen sich die Subjektivitäten in den Naturwelten aufzulösen vermögen: ein arktischer Exzess. Das Exzessive ist nicht an das gewöhnliche Unmoralische, seien es nun sexuelle Ausschweifungen oder Akte der Gewalt, gebunden. Das Exzessive ist die Macht zur Überschreitung der Disziplinierung des Subjektes. Die dichotome Trennung in weiblichen und männlichen Ausdruck ist eine Bestimmung der Disziplinierung des Subjektes. Die Freiheit der Kraft bedeutet mithin eine Befreiung von den Ausdrücken der Disziplinierung. Wenn nun ferner das Moment des Gelingens in den Künsten, den Aufführungen des Sports eines freien Spiels der Kräfte bedarf, es ebenso ursächlich für die Faszination des Zuschauers ist, dann kann dieses Heldentum kein männliches und ebenso wenig ein weibliches sein. Heldinnen und Helden sind Figuren einer Aufführung und treten damit prinzipiell als Hermaphroditen27 auf. In Weiblich|männlich ist das Innewohnen des Weiblichen und Männlichen der Kraft basierend auf der Omnipräsenz von Geschlechtlichkeit und

25 Deleuze: Nietzsche und die Philosophie, S. 7. 26 Ebd., S. 48. 27 Vgl. Peter Sloterdijk: »Ein Team von Hermaphroditen. Im Gespräch mit Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris«, in: ders., Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993-2012, hg. v. Bernhard Klein, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 272-282.

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dem Wirkungsprinzip der Kraft skizziert. Wenn also das Weibliche im Männlichen immer schon angelegt und die Entfaltung der Kräfte die Bedingung für das Gelingen ist, dann ist das Entfesseln des Weiblichen die notwendige Bedingung für ein freies Spiel der Kräfte. Die Dekategorisierung des Weiblichen und Männlichen ist eine Bedingung der Möglichkeit des freien Spiels der Kräfte. Umgekehrt bedeutet ein freies Spiel der Kräfte das ewige Überschreiten des geschlechtlichen Ausdrucks. Die Freiheit der Kraft bedeutet die Dekategorisierung von weiblich und männlich.

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Von den Heldinnen einer Aufführung als ästhetische Hermaphroditen zu sprechen mag vielleicht etwas seltsam anmuten. Vertieft man sich jedoch in die Erscheinungen auf den Bühnen des Theaters oder des Sports zeigen sich diese Wendungen in aller Deutlichkeit. Um jene Wandlungen genauer in den Blick nehmen zu können, widmen wir uns der Entstehung des Heldentums anhand ausgewählter Phänomene. Wesentlich erscheint dabei ein Lösen von der Idee der Fortführung von Mythen durch eine rezeptionsästhetische Heldenepik. Entledigen wir uns also weiter der mystischen Glorifizierung. Um die Konzentration auf den Charakter der Aufführung zu lenken, liegt es nahe, den Fokus auf gegenwärtige Heldinnen zu lenken. Feiern wir Frauen auf der Bühne, so ist jene Inszenierung des Heldentums nicht unbedingt an eine Personifizierung des Mythos jenseits der dargestellten Person gebunden. Der Grund dafür liegt in der Divergenz des Heldendaseins und ihrer Bindung an die Macht. Zwei Exemplare, eines aus dem Sport und eines aus der Kunst sollen dieses verdeutlichen. Der Sport lässt eindrucksvoll erkennen, wie ein Mythos die von ihm heraufbeschworenen Ereignisse Wirklichkeit werden lässt. In der Kunstform Fußball zeigt sich exemplarisch, wie eine banale Aufgabe, den Ball mit dem Fuß ins Tor zu bewegen, beinahe bis zur Unmöglichkeit erschwert wird. Die Könnerin glänzt im Scheitern des Nichtkönners. Im Zentrum des mythischen Schemas des Fußballs steht der Kampf um die Macht. Um die eigene Herrschaft zu etablieren, muss die Gegnerin unter die eigene Macht gebracht werden. Jene errungene Macht wird an herausragende Personen gebunden, die den Mythos personifizieren. Gewöhnlich sind die Männer

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die mythischen Helden, Spielerinnen haben meist keinen Zugang zum Heldentum. »In Europa gilt Fußball als genuiner Ausdruck von Männlichkeit.«28 Anders als in den Vereinigten Staaten, wo Fußball überwiegend von Frauen und der Jugend gespielt wird, ist in Europa die Präsenz der Frau vorwiegend auf die Zuschauertribüne verbannt.29 Abbildung 3: Stefanie Ahlf, DM Masters 2015

Photographie: Wolfgang Genat

28 Gunter Gebauer: Poetik des Fußballs, Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2006, S. 23; siehe dazu auch Anke Abraham: »Das Männerbündische des Sports und der Körper der Frauen«, in: Frauen in der Literaturwissenschaft, Rundbrief 47: Sport und Kult, Hamburg (1996), S. 44-49. 29 Siehe dazu Michel Foucault: »Andere Räume«, in: Karlheinz Barck/Peter Gente/Heidi Paris (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Übersetzt von Walter Seitter, Leipzig: Reclam 1992, S. 34-46.

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Im Wasserball ist das anders. In dem weit weniger populären Sport ist die mystische Glorifizierung flexibler. Vor einem bedeutenden Spiel kontrolliert der Schiedsrichter vornehmlich bei Frauen jedoch teilweise auch bei den Männern die Fingernägel, doppelte Schwimmanzüge und Tiefschutz werden getragen und nicht selten steigen die Torjägerinnen mit größeren Blessuren aus dem Wasser. Der Kampf über wie unter Wasser ist hart und er ist keiner geschlechtsmäßigen Zuschreibung unterworfen. Wenngleich immer noch weniger Frauen als Männer diesen Sport betreiben, lösen weibliche Wasserballerinnen bei weiblichen Zuschauerinnen und auch männlichen Zuschauern Begeisterung aus. Nun unterscheidet sich die an dem Phänomen teilnehmende Mitwelt unter anderem in der sozialen Struktur von der des Fußballs deutlich. Doch wesentlich scheint die Randständigkeit der Sportart zu sein, die eine größere Liberalität abfordert. Die Spielzüge der Wasserballerinnen werden nicht als weibliche Interpretationen eines männlichen Spiels gedeutet. Eine geschlechtliche Divergenz im Verstehen des Spiels ist daher weitaus weniger ausgeprägt. Im Wasserball schwindet mit der Zunahme der Könnerschaft das Unverstehen der Geschlechter. Abbildung 4: Maria Marquardt, DM Masters 2015

Photographie: Wolfgang Genat

Ebenso wie in anderen Spielsportarten rückt die Bedeutung einer Überspezialisierung weiblicher Bewegungen in den Hintergrund, oder wird sogar negiert. Die Teilhabe an einem Sportspiel erfordert den unbefangenen Ge-

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brauch des Körpers.30 Unbefangenheit bedeutet jedoch weder, eine maskuline Habitusformation hervorzubringen, noch eine weibliche Interpretation diesseits oder jenseits des männlichen Geschlechtshabitus zu leisten. Ebenso wenig sind spielende Menschen androgyn, im Sinne dessen, dass ihre Ausdrücke im Spiel weder feminin noch maskulin seien. Denn das Geschlecht ist omnipräsent. Vielmehr haben wir es bei der Aufteilung in weibliche und männliche Interpretationen einer Bewegungskunst mit Ablenkungen zu tun, die eben jenen traditionsbewussten Geistern entspringen. Nur wenn ein Spiel als Ritus erscheint, wird es auch zur Fortführung des Spektakels und dadurch mit den entsprechenden Erwartungen behaftet. Die Ausdrücke des Spiels werden an den vorherigen gemessen. Damit ist ein Spiel in der Erscheinungsform des Ritus ohne unabhängige Norm.31 Fußball erscheint manchmal als ein solcher Ritus. Insbesondere auf den deutschen und englischen Fußball trifft das zu. Wasserball verfällt nicht in derartige Gewohnheiten. Ebenso wie andere weniger traditionsbehaftete Spielarten des Sports hat es den Charakter der Aufführung. Die Heldinnen der Inszenierung werden durch die Subjektivität der Spielerinnen jedes Mal neu bestimmt. Nicht eine glorifizierte Personifizierung ihrer Figuren bestimmt die Inszenierung, die Spielerinnen selbst in der Subjektivität ihrer Figuren und wie diese in dem jeweiligen Spiel präsent agieren müssen, bestimmen die Inszenierung und mithin die Ausdrücke der Inszenierung. Gerade da die Spielerinnen anders als ihre männlichen Kollegen üblicherweise nicht die ihr zugeschriebene glorifizierte Personenrolle spielen müssen, können sie ganz in der Figur des Spiels aufgehen. Heldinnen erscheinen heute auf dem Feld, im Wasser oder dem Holzboden freier in der Entfaltung ihrer Kräfte als Helden, da sie es sind. Wildheit, Aggressivität, Maskulinität dürfen sie ebenso zeigen wie den Umschlag ins Zarte, Geschmeidige gar Feminine. Und wie ist es um die heutigen Helden bestellt? Sloterdijk merkt an, dass mit David Beckham eine Ära an Hermaphroditen auf dem Platz eingeläutet wurde. Die thymotischen Bestrebungen sieht Sloterdijk in einer neuen Strategie des Überlebens begründet. Um in der permanenten Überbelich-

30 Gunter Gebauer zeichnet die fußballerische Aktivität von Frauen als Rückkehr zu einer Bewegungskompetenz, die den Mädchen »von einer traditionellen Erziehung ausgeredet wurde« (Gebauer: Poetik des Fußballs, S. 91). 31 Siehe dazu Kapitel Das Unsichtbare der Kunst in diesem Buch.

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tung zu überleben, scheint die Transformation in ein Modelldasein als passender Ausweg: »So jemand kann zeigen, daß der Spieler selbst seine Entheroisierung verstanden hat. Folglich ist es heute besser, als Hermaphrodit aufzutreten statt als männlicher Heros.«32 Hermaphroditisierung kennzeichnet Sloterdijk zufolge einen »evolutionären Trend, der seit den sechziger Jahren zu beobachten ist«33. Jener Trend sei ein Abrüsten der Männer, der Rausschmiss von Kurányi im Grunde als »ein antihermaphroditisches Votum«34 von Klinsmann zu verzeichnen. Nun muss man bedenken, dass Sloterdijk zwar die Faszination am Fußballspiel als Bühne für das Heraufbeschwören der »alten protoartilleristischen Jagderfolgsgefühle«35 ganz trefflich zeichnet, doch angesichts dessen, dass ihn selbst lediglich das Wiederaufstehen der Spieler als »Manifest der Antigravitation«36 zutiefst beeindruckt, hinsichtlich der Ästhetik des Spiels vielleicht etwas übersehen könnte. Die Deutung des Spiels als Wiederaufführen und wie in der Zeichnung Sloterdijks markiert als Fortführen des männlichen Jagdspiels, lässt gar keinen Ausweg als die Entheroisierung zu. Unglücklicherweise bedeutet dieser Akt nur den Wechsel der Rolle, die Figur wird jedoch weiterhin von der Präsenz im Spiel ferngehalten. Der eigene Wille des Spielers, in der Figur des Spielers nicht nur seiner Rolle im Spiel, sondern auch seiner Rolle als Person zu entsprechen, verwehrt ihm die freie Entfaltung seiner Kräfte. Die Ausdrücke des Spiels verharren in der vorbestimmten Form des Hermaphroditen. Frauen bedürfen keiner Entheroisierung. Frauen dürfen Heldinnen sein, da sie die ästhetische Freiheit zulassen können. Der entheroisierte Spieler erscheint als vorbestimmter Hermaphrodit. Die Irritation liegt also nicht in der Unbestimmbarkeit des geschlechtlichen Ausdrucks, sondern gerade da dieser bestimmt ist, seine Bestimmtheit eine des Willens ist, sich nicht im ästhetischen Wirken der Kraft generiert, ist der Ausdruck des Spielers äs-

32 Sloterdijk: Ein Team von Hermaphroditen, S. 276. Das Gespräch erschien ursprünglich unter dem Titel Ein Team von Hermaphroditen im Nachrichtenmagazin Der Spiegel Nr. 23 vom 3. Juni 2006, S. 70-73. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 272. 36 Ebd., S. 281.

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thetisch irritierend. Der Held entheroisiert sich durch das Bestimmen seines Ausdrucks und nicht umgekehrt. Die Heldin erscheint als schöne Hermaphroditin, da ihr geschlechtlicher Ausdruck dem Überschreiten ihrer Subjektivität entspringt. Damit erfüllt sie die Bedingung des Dramatischen. Ästhetisch betrachtet zeigt sich damit: Die wahren Dramen passieren im Frauensport. Das ist eine Frage der ästhetischen Freiheit. In der Kunst begegnen uns andere Formen des Heldentums. Ebenso wie die Heldinnen des Sports sind sie prinzipiell Heldinnen wider Willen. Denn auch ihre Kunstwerke gelingen nur, wenn sie es nicht wollen. Die Bedingung des Entfaltens der ästhetischen Kraft macht aus allen Heldinnen, Heldinnen wider Willen. Anders als die mythischen Helden basiert ihr Heldentum nicht auf der Idee ihrer Figur, sondern beweist sich in jedem Akt des Gelingens auf Neue. Die Heldinnen der Kunst sind jedoch nicht nur Heldinnen wider Willen, da das die Bedingung für ihr Gelingen darstellt, sie sind es auch, da die Rezeption der Heldentat, des Kunstwerkes es verlangt. Besonders eindrucksvoll zeigt sich das Entziehen von der Glorifizierung der Künstlerin als Person, das nicht anders, denn als eine Aktivierung der Enthemmung beschrieben werden kann, in den idealistischen Überzeugungen wie Handlungen Lea Lublins. 1968 zieht sie mit ihrem sieben Monate alten Sohn Nicolas für drei Wochen ins Pariser MUSÉE D’ART MODERNE DE LA VILLE. Obwohl diese wie andere Installationen der Künstlerin für große Schlagzeilen gesorgt haben, zuvor Sammler begierig ihre expressionistischen Bilder aufkauften, ist doch das gewaltige Schaffen dieser Künstlerin beinahe in Vergessenheit geraten. Der KUNSTBAU des MÜNCHNER LENBACHHAUSES stellte im Herbst dieses Jahres eine erste Retrospektive der argentinisch-französischen Künstlerin vor. Nicht zufällig gerät Lea Lublin als Person in Vergessenheit. In den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts spielt sie den Konsumenten einen Streich und hört auf zu malen. Konsequent verfolgt sie in ihren Projekten die Aufhebung der Trennung zwischen Werk und Betrachterin. Der Einzug in das Museum ist der Versuch, das normale Leben in die Kunstwelt einzugliedern. Im Kunstbau konnten daher die Besucher den in Teilen rekonstruierten aufblasbaren Fluvio Subtunal aus dem Jahre 1969 durchlaufen. Ursprünglich war dieses interaktive Environment Teil des künstlerischen Rahmenprogramms zur Eröffnung des damals längsten Straßentunnels der Welt, des Túnel Subfluvial Hernandarias in Santa Fé, Argentinien. Ebenso wie das Original ist auch

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die Rekonstruktion ein Parcours aus neun »Zonen«. In den verschiedenen ästhetischen und begrifflichen Reflexionsanlässen zeigt sich, wenngleich auch in Adaption des KUNSTBAUS, deutlich das Anliegen Lublins, mit der Logik der Repräsentation zu spielen. Lublin verschiebt mit ihren Aktionen intermedialer Praxis die Bedeutung der Objekte der Wirklichkeit sowie der der Künstler, indem sie die Kunst als sinnliche Erfahrung ins Zentrum rückt. Dieses Vorhaben gelingt ihr in ihren Arbeiten eindrucksvoll, denn während ihr Schaffen Kreise zieht, verschwindet die Person Lea Lublin beinahe in der Versenkung: eine Heldin, die sich selbst entthront. Abbildung 5: Lea Lublin, Environment 1970

Quelle: art. Das Kunstmagazin

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Oder versuchen wir es mit der Dame auf dem Titelblatt des ZEITMAGAZINS Nr. 38 dieses Jahres. Sagen sie einmal ehrlich: Haben Sie die Frau auf dem Cover erkannt? Wer, selbst unter den Kunstliebhabern, würde sie auf der Straße erkennen? Oder wer würde bei der Skizze von einem Mädchen aus Huntington, New York, das den ganzen Tag vor dem Fernseher verbringt, sich immer wieder denselben Film ansieht und damit beginnt, das Ausgestrahlte in Pastellfarben wiederzugeben, an diese Künstlerin denken? Und fällt einem im Gegenzug bei einem linksautonomen Hamburger Jung nicht sofort Daniel Richter ein? Cindy Sherman schlüpft in viele Rollen, inszeniert Selbstportraits wie die Serie Untitled Film Stills, die ihre Kunstwerke von ehemals 50 Dollar pro Stück zu inzwischen Millionen heraufschnellen lassen. Abbildung 6: Cindy Sherman, Untitled Film Still #96 1981

Quelle: ZEITMAGAZIN Nr. 38, 2015

In dem Interview im ZEITMAGAZIN erzählt sie, dass ihre Kunstwerke vor zwanzig Jahren trotz eines ebenso hohen Bekanntheitsgrades, wie dem ihrer männlichen Kollegen, geringere Preise erzielten. Jene Ungerechtigkeit wurde noch von dem Eindruck untermauert, jene Kollegen hätten sich aufgeführt, als wären sie die Größten. Die größere Unterstützung jedenfalls hätte sie von ihren befreundeten Kolleginnen erhalten. »Andererseits war das vielleicht der Grund, warum ich so viel Feuer im Arsch hatte. Ich wollte es den Männern zeigen.«37 Und das hat sie. Doch was sie ebenso unterlassen

37 Christoph Ahmend: »Cindy Sherman. Die Frau mit den Tausend Gesichtern«, in: Zeitmagazin Nr. 38 (2015), S. 16-23, hier S. 18.

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hat, wie Lublin damals, ist, sich zu zeigen. In ihrem photographischen Schaffen, sogar in ihren Selbstportraits geht es immer um die Inszenierung einer Figur, das Verkleiden und in Szene setzen einer bestimmten Idee. Die Person Cindy Sherman tritt dabei stets in den Hintergrund. Die subtilen Zwischentöne des Interviewers, die eine äußerst selbstkritische und zweifelnde Frau durchscheinen lassen, unterstreichen diesen Eindruck nur noch: Eine Heldin, die lieber als Heldin posiert, als selbst eine zu sein. Die Künstlerinnen treten aus ihrem Kunstwerk heraus. Sie überlassen ihre eingebrachte Subjektivität der Subjektivität des Betrachters, ohne sich als Person in diesen Prozess einzumischen. Anfangs wurde hier die Frage aufgeworfen, um was für eine Art der Verschiebung es sich bei den Heldinnen der Gegenwart handeln würde. Das Eintreten des Besuchers in die Installation bedeutet eine quantitative Verschiebung. Die Nähe des Zuschauers ändert sich. Da er nunmehr als Teil des Kunstwerkes gilt, ist er unmittelbar mit den Figuren, der Idee des Stückes verbunden. Er ist in das Stück gleichsam eingewebt. Das Drama der Gegenwart hat eine quantitative Verschiebung erfahren. Das Heraustreten der Heldin aus dem heroischen Akt ist hingegen eine qualitative Verschiebung. Die räumliche Nähe zur Heldin bleibt gleich, es verschiebt sich die Intensität des Kunstwerkes. Nicht, dass eine entmystifizierte Heldin weniger intensiv wirken könnte, als eine klassische Heldin. Der heroische Akt, aus dem die Heldin in ihrer Eigenschaft als Person heraustritt, bringt eine andere Intensität hervor, als der Akt, der an die Glorifizierung seines Helden gebunden ist. Die Intensität wandelt sich. Die Heldinnen der Gegenwart realisieren eine weitere Möglichkeit des zeitgenössischen Dramas. Es zeigt sich die Verschiebung des Dramatischen in doppelter Hinsicht: Das Drama der Gegenwart birgt eine andere Nähe und Intensität zum Kunstwerk.

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Anziehen(d) Materialität auf der Bühne

»Erlauben wir uns das frivole Bild: Solange wir die Windmühlen nicht angreifen, dürfen sie Riesen sein.« KARL HEINZ BOHRER: Plötzlichkeit

Die Unbestimmbarkeit der Präsenz der Kraft verhindert das gegenwärtige Drama als Tragödie. Die Ausnahme bildet die Tragödie selbst. Wenn die Struktur eines Dramas nicht das Tragische vorsieht, nur die Möglichkeit einer tragischen Wendung enthält, dann ist das keine Tragödie an sich. Das Drama ist Nicht-Tragödie, solange es in seinem unbestimmten Verlauf nicht Tragödie ist; das Drama ist Tragödie in dem Augenblick, wenn das Drama zur Tragödie transformiert. Nur ein als Tragödie konzipiertes Drama kann zutreffend als Tragödie bezeichnet werden. Eine Tragödie enthält in jedem Augenblick das Moment des Unabwendbaren. Es kann in einem doppelten Sinne von einer Gegenwart der Tragödie ausgegangen werden: Der Erfahrungsgehalt der Tragödie hat für uns Bedeutung. Ebenso trifft das auf die unauflösbar mit dem Erfahrungsgehalt verbundene ästhetische Form zu. Im Text sowie in der ästhetischen Vergegenwärtigung der Tragödie zeigen sich die tragischen Ironien des Handelns. In der zeitlichen oder unmissverständlicher geschichtlichen Gegenwart verlagern sich die Formen der Vergegenwärtigung. Während in der Moderne noch Text und Theater die beiden zentralen Orte ästhetischer Gegenwart der Tragödie gewesen sind, scheinen es in der heutigen nachdisziplinären Gesellschaft doch eher Bahnhofsvorplätze, Opernplätze, offene wie verborgene Räume der Öffent-

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lichkeit zu sein. In der Zukunft der Tragödie werden es womöglich vorwiegend virtuelle Räume und vereinzelt noch Kunstforen oder private Kellergewölbe sein. Immer vorausgesetzt, die Tragödie verliert sich nicht selbst.

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Die tragische Ironie der Praxis besagt, ein auf das Gelingen zielende Handeln bringt durch sich selbst, also sein Misslingen, das Unglück der Figur hervor. Wenn sich die Praxis des Subjektes nun derart veränderte, dass es die Wirkungen seines Handelns überblicken könnte, würde das Subjekt dann der »Gewalt tragischer Ironie«1 entkommen? Ein Entkommen der Tragödie durch eine Verbesserung der Urteilsfähigkeit ist nicht möglich. Insofern uns das unendliche Bewusstsein verwehrt bleiben wird, muss das Urteilen ein vermessenes sein. Das Kosten des Apfels als Möglichkeit und Schicksal: Im Urteilen selbst liegt der Grund für die Tragödie: »Ein Grund dafür daß die Erfahrung der Tragödie auch für uns noch gilt, liegt darin, daß, und wie, wir urteilen – in der Normativität unserer Praxis. Indem er über sich urteilt, ja, gerade in dem er selbst über sich urteilt, bereitet sich Ödipus sein Schicksal. Denn Ödipus kann sein Urteil nicht zu seiner eigenen Tat machen, über die er Macht hat; sein Urteil erlangt vielmehr Macht über ihn. So wie er urteilen aber auch wir. Solange wir überhaupt urteilen, leben wir in der Gegenwart der Tragödie.«2

Praxis des Urteilens und ästhetische Form der Tragödie sind untrennbar miteinander verbunden. Eine andere moderne Hoffnung gründet auf der Idee, in der ästhetischen Gegenwart der Tragödie überschreite sie sich selbst. Im Spiel des Theaters würde sich die Tragödie durch das Bewusstsein der Theatralität in ihrer Darstellung auflösen. Christoph Menke verfasst seine Gegenwart der Tragödie als Kritik an der Überzeugung der Moderne, Spielbewusstsein und Tragödie würden sich gegenseitig ausschließen. Tragödie und das Bewusstsein des Spiels derselben stehen vielmehr in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingung:

1

Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 7.

2

Ebd., S. 7 f. [Herv. i.O.].

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»Die Tragödie ist die Entfaltung des Streits zwischen Tragik und Spiele, die sich gegeneinander richten, aber nur Durcheinander bestehen können. Daher löst das Spiel des Theaters die Erfahrung der Tragik nicht auf, sondern bringt sie, nur scheinbar paradox, mit hervor.«3

Zwischen Präsenz und Kunstzwang scheint in den Künsten der Gegenwart wenig Platz für die Form der Tragödie zu sein. Doch ist die Moderne keineswegs die Zeit nach der Tragödie.4 Eindrucksvoll zeigt Beckett das Moment des unvermeidbaren Scheiterns in seinem Endspiel. »Von jeher verloren« ist das Spiel, der Sieg einer Seite ist unmöglich:5 Sowohl in ihrer sozialen Abhängigkeit als Herr und Knecht wie auch in ihrem literarischen Streit sind Hamm und Clov voneinander abhängig. Becketts Endspiel demonstriert das unabwendbare Urteil, das die Anwendung ästhetischer Strategien des Spiels nicht etwa heraufbeschwört, sondern gar in sich trägt. Die Strategien spielerischer Subversion des Sinns sind effektiv in der Weise, dass sie die Rede des Herrn entrücken. Zugleich entledigt sich jedoch der Knecht damit seiner praktischen Mittel der Verständigung, die ihn zur sozialen Freiheit verhelfen könnten: Der Gewinn ästhetischer Freiheit wirkt der Möglichkeit der sozialen Freiheit entgegen: »Das Endspiel ist ein Spiel vom Ende des Spiels; das Spiel vom Ende, vom Scheitern des Versprechens auf eine andere, befreite Praxis durch die Strategien des ästhetischen Spiels.«6 Das Vorgeführte soll abgeschlossen werden, daher muss Beckett für seine Konzeption von der modernen Ästhetik des Spiels abweichen. Der Rückgriff auf Maß und Ordnung der klassischen Ästhetik ist hier unvermeidbar:

3

Ebd., S. 8.

4

Siehe zu Darstellung und Kritik einer geschichtsphilosophischen Bestimmung der Moderne als Zeit nach der Tragödie Christoph Menke: »Ethischer Konflikt und ästhetisches Spiel. Zum geschichtsphilosophischen Ort der Tragödie bei Hegel und Nietzsche«, in: Andreas Arndt/Karol Bal/Henning Ottmann (Hg.), Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – die Politik der Kunst, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 16-28; Christoph Menke: »Die Gegenwart der Tragödie. Eine ästhetische Aufklärung«, in: Neue Rundschau 111 (2000), S. 85-95.

5

Vgl. Samuel Beckett: Endspiel. Fin de partie = Endgame. Übersetzt von Elmar Tophoven, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 115.

6

Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 201.

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»Becketts Theater errichtet wieder die vierte Wand und macht das dramatische Geschehen zu einem Gegenstand distanzierter Betrachtung. Dadurch erstarrt es zum Tableau, ordnet sich das Gefüge seiner Symmetrien, Analogien und Wiederholungen […], schließt sich der Kreis zwischen Anfang und Ende. So aber, in der musikalisch-mathematischen Schönheit seiner Ordnung, kann Becketts Stück nur erscheinen, weil die Handlung, die es vorführt, zum Stillstand gekommen ist. Das Scheitern im Handeln; das Scheitern jedes Versuchs der Veränderung […], ist die Bedingung dafür, daß das Stück ästhetisch gelingt.«7

Das moderne Modell der Tragödie versucht ästhetisches und praktisches Gelingen zu vereinen.8 Die moderne Tragödie ist der Versuch, die überwältigende Struktur der Tragödie in die Gegenwart zu implementieren, ohne auf die Erlösung der Figuren verzichten zu wollen. Das Endspiel zeigt das Scheitern der modernen Tragödie an. Die Bedingung für das Gelingen der Ästhetik der Tragödie, das endlose Wirken der Kräfte, ist nur durch das praktische Scheitern der Figuren einlösbar. In einer Welt, in der alles möglich scheint, zugleich jedoch das Gefühl einer nahenden Weltkrise die unbegrenzten Möglichkeiten überschattet, ist das mit dem Scheitern der Figuren so eine Sache. In der heutigen Kontrollgesellschaft, im Zeitalter der Abschaffung des Individuums,9 ist die einzelne Figur, der Mensch, vielmehr Teil eines globalen Netzes. Wenn der Bürger scheitert, bedeutet das zugleich das Versagen des Systems. In der nachdisziplinären Gesellschaft geht es nicht mehr um das Scheitern der Figuren, es geht um Ideen, die zu scheitern drohen. Wenn in der modernen Tragödie einer Figur das praktische Gelingen bestimmt ist, dann stärkt diese Verwirklichung der Möglichkeit das Vertrauen auf die Idee. Es ist nicht mehr nur die Idee hinter der Figur, die mit

7

Ebd., S. 201 f. Menke verweist hier auf Beckett, zitiert in Haerdter: »[Das] Stück ist so zu spielen, als gäbe es eine vierte Wand anstelle der Rampe.« (Michael Haerdter: »Proben-Notate zu ›Endspiel‹«, in: Klaus Völker (Hg.), Beckett in Berlin, Berlin: Berlin Edition Hentrich 1986, S. 92-98, hier S. 92).

8

Vgl. Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 202.

9

Vgl. Theodor W. Adorno: »Dialektik der Aufklärung«, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 3, hg. v. Max Horkheimer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, hier S. 177.

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ihr steht und fällt. Eine Figur, die gefärbt, ja durchtränkt von der Idee seines kulturellen Daseins scheint, ist jene Kultur. Umgekehrt bildet sich jene Kultur nicht nur in einzelnen Exemplaren oder Mengen, vielmehr hat sie beinahe alles in sich aufgenommen, verschlungen und wieder herausgewürgt. Zeigt sich also mit dem Scheitern der Figur das Versagen der Kultur, bezieht sich das Scheitern immer auch zugleich auf die anderen, auf alle Menschen des Saals. Wenn das Spiel auf der Bühne nicht mehr nur Mitvollzug der Tragik des Fremden ist, sondern jenes Fremde zu etwas Vertrautem im Rezipienten transformiert, in der Weise, dass Figur und Rezipient in gewisser Weise gleich sind, ist die moderne Tragödie die logische Konsequenz: die Vereinigung von ästhetischem und praktischem Gelingen. Gewinnt die Figur, ist das zugleich ein Sieg der Idee. Beckett wählt die Abkehr von der Konzeption einer modernen Tragödie zugunsten der Ästhetik. Um seinem Stück zur vollkommenen Schönheit zu verhelfen, bedient er sich des Motivs des unbeendbaren Streits.10 Das Drama braucht das Spiel. Bedarf es zur Konzeption der Tragödie des unbeendbaren Spiels, darf es in ihr keinen Sieger geben? Die moderne Tragödie versucht sich darin. Und man kann sagen, dass es machbar ist: eine Tragödie, in der die Figuren gewinnen. Das praktische Gelingen schließt das ästhetische nicht aus. Nur sind jene Tragödien nicht schön. Schönheit bedarf des Maßes und der Ordnung. Ebenso wie Beckett es vormacht. Eine schöne Tragödie baut sich immer auf eine klassische Komposition auf. Deshalb fühlt man sich bei einem Besuch des Endspiels so seltsam unbehaglich und gleichsam angekommen. Der Verlauf der Ereignisse ist so klar, dass sie schon gar keine Ereignisse mehr sind. Die Repliken werden erwartet, sogar in ihren Parametern. In einer schönen Tragödie ist das Ausmaß des Dramas sogar das Woher, die Gestalt des Dionysischen,

10 Botho Strauß zeigt mit seiner Übersetzung des Märchens von Befreiung und Kränkung auf der Bühne eine andere Form der Ausweglosigkeit: »Odysseus wird niemals zu Penelope heimkehren und sie befreien. Außer die Drei fragmentarischen Frauen leisteten ihre gelenkige Hilfe, außer Athene vollführte ihre Künste der Verwandlung und Verstellung. Wo und wann? Hier und jetzt, gerade eben noch, auf dem Theater. Also niemals.« schreibt Menke in seiner Untersuchung »Niemals: Botho Strauß, Ithaka« (Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 226).

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nicht unbedingt überraschend. Das Unbehagliche gründet darauf, das Tragische als etwas Vertrautes in sich aufzuspüren. Die Vorhersehbarkeit ermöglicht eine stete Selbstvergewisserung, ein wohliges Gefühl stellt sich dem Unbehaglichen gegenüber. Das Ringen der Kräfte beginnt. Es ist, als würde man eine stürmische Seefahrt antreten, die Route könnte man mit verbundenen Augen segeln, die Bewegungen, Geräusche und vor allem der Geruch des Bootes sind vertraut und doch ragt jede Klippe wie ein bedrohliches Ungetüm aus den Wellen hervor. Die schöne Tragödie ist nicht deshalb schön, weil in ihr praktisches Gelingen der Figuren oder der Idee Wirklichkeit wird, also die Geschichte ein gutes Ende nimmt. In einem ästhetischen Sinne schön ist eine Tragödie, solange sich dieses Ringen ereignet. Wenn eine Figur gewinnt, sich eine Idee als machbar herausstellt, ist das Spiel vorbei. Der Sieg ist unerwartet, die Tragödie weicht von ihrer Ordnung ab, verliert damit ihre Schönheit. Der Preis der Schönheit ist das Nichtgelingen der Idee. In der Gegenwart der Tragödie wird dieser Preis wieder und wieder gezahlt. Manchmal ist das Scheitern so plötzlich oder von so unfassbarem Ausmaß, das man erschrocken ist. Man ist erschüttert, nicht von dem, was da auf der Bühne passiert, sondern was hier in einem selbst zum Vorschein kommt. Ein anderes Mal ereignet sich eine unerwartet glückliche Wendung oder auch nur ein aufblitzender Lichtblick. Wenn dieses geschieht, bringt der Künstler den Zuschauer um seine beruhigende Selbstvergewisserung. Maß und Ordnung werden überschritten, umgeworfen, durcheinander gewirbelt. Dennoch kann eine solche Tragödie ästhetisch sein. Ihre ästhetische Kraft generiert sich nicht aus der Verkörperung der Formatvorlage. Die Kraft in den Tragödien der Gegenwart entspringt vielmehr einer spontanen Anregung. Präsenzen von Künstlern, Werken und Zuschauern treffen aufeinander, berauschen einander, lähmen und berappeln sich wieder, steigen in einem bemerkenswerten Augenblick in den Ring, verweilen dort im Kampfe oder lassen bereits im nächsten wieder voneinander. Die Ästhetik der Tragödie der Gegenwart ist unbestimmt. Und das ist sie nicht etwa nur in dem Sinne, wie ästhetische Kraft grundsätzlich unbestimmbar ist. Das ästhetische der gegenwärtigen Tragödie ist unbestimmt, da die Gestalt des Apollinischen und mithin die Gestalt des Dionysischen unbestimmt ist. Vielleicht erhebt sich eine Stimme, vielleicht berauscht ein Chor, vielleicht ist es aber auch bloß ein wiederkehrender Atem, der die zarte Ordnung ins Wanken bringt. Es ist nicht vorhersehbar, da auch die

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Ordnung keine umfassende ist, kein Ziel hat. Auch sie bestimmt sich immer wieder neu, indem sie zulässt, verworfen zu werden. Das ist die neue Qualität der Tragödie der Gegenwart: die Qualität der Ungewissheit. Es ist eine Qualität, die Möglichkeit und Verhängnis zugleich darstellt. Die Möglichkeit besteht in einer ungeheuren Passung von Tragödie und Zuschauer. Der Zuschauer wird selbst Tragödie. Ihr Verhängnis liegt darin, in der vollkommenen Passung keine Tragödie mehr zu sein. Die Tragödie der Gegenwart verweigert dem Rezipienten seine Selbstvergewisserung, das ist ihr Potential und ihre Bedingung zugleich. Wenn die gegenwärtige Tragödie aufhört, den Zuschauer aufzuregen, dann ist sie entweder ins Klassische gedriftet oder hat aufgehört, Tragödie zu sein. Die Tragödie der Gegenwart ist verrückt, lässt ihre Ideen nicht da, wo sie hingehören. Jenes »Verrückt-Sein«, das Unschöne ist gleichwohl ihre ästhetische Möglichkeit, einen Geschmack der Kraft zu entwickeln.

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In der Tragödie der Gegenwart wird dem Zuschauer die Lust am Schönen verwehrt. Nun könnte man diesen Umstand als Verlust beklagen, sich den Wiederaufführungen der alten Tragödien oder den wenigen bemerkenswerten Gegenwartstragödien in klassischer Form verfasst hingeben. Schließlich entbehren jene anderen Tragödien der Gegenwart nicht nur der ersehnten Schönheit, genauer betrachtet sind einige von ihnen geradezu hässlich. Entweder scheint ihnen jede Bemessenheit der Dinge oder Regelbewusstsein abhandengekommen zu sein, oder ihre Asymmetrien, Dysbalancen, gar chaotischen Strukturen überschreiten die Grenzen irgendeiner erkennbaren Sinnhaftigkeit. Tragödien der Gegenwart fordern die Urteilsfähigkeit heraus. Nicht etwa, da ihre Ideen zu absurd wären, etwa jenseits eines ethischen Maßes liegen würden, was durchaus so manches Mal auf sie zutrifft. Die Erfahrung einer tragischen Idee ist an die ästhetische Form gebunden. Wenn die Idee einer Tragödie weit abseits der Norm liegt, dann trifft das auf ihre ästhetische Form ebenso zu. Und das ist es, was zu einer ungewöhnlichen Forderung oder gar Überforderung der Urteilsfähigkeit führt: die ästhetische Unbegreifbarkeit der Form der nachdisziplinären Tragödie.

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Das Aufregende an der Tragödie der Gegenwart ist nicht etwa, dass sie hässlich ist. Das Hässliche einer Tragödie birgt die Möglichkeit einer Gegenwart der Tragödie. Während eine schöne Tragödie die ungestörte Selbstvergewisserung des Selbst ermöglicht, bedeutet die hässliche Tragödie in der ästhetischen Vergegenwärtigung das Erregen des Zweifelns, ein Schüren von Unbestimmbarkeiten. Die Unordnung des praktischen Gelingens im Sinne einer Möglichkeit des Nichtscheiterns der Figuren fordert die Gegenwartsbezogenheit des Zuschauers heraus. Der Verlust der Schönheit bedeutet den Gewinn der Präsenz. In der hässlichen Tragödie löst sich das Wirken der ästhetischen Kraft nicht in der Bestimmbarkeit des Dionysischen auf. Die Unordnungen des Apollinischen zwingen das Dionysische zur unablässigen Transformation seiner Gestalt sowie seines Maßes. Umgekehrt erfordern jene Transformationen des Dionysischen das stete Neuordnen des Bildes, der Bühne. Wenngleich der Entwurf einer Tragödie existiert, so ist doch die Verwirklichung in höchstem Maße von der jeweiligen ästhetischen Vergegenwärtigung abhängig, ihre ästhetische Form ist individualisierbar. Nur gleicht jene Individualisierbarkeit nicht dem Button, den man bei der Bestellung eines Produktes wählen kann. Die ästhetische Vergegenwärtigung einer Tragödie kann nicht in rosa, grün, im directors cut oder irgendeiner massentauglichen Version bestellt werden. Die hässliche Tragödie kann nicht rosa oder massentauglich sein, da sie sich erst in der Gegenwart der Tragödie selbst produziert. Im Gegenteil ist die ästhetische Form der nachdisziplinären Tragödie individualisierbar nicht im Sinne der Anpassung an die Träume eines Individuums, sondern sie existiert nur in ihrer Einzigartigkeit. Und zwar nicht in der Weise, wie sich ohnehin jedes Ereignis, an dem lebende Organismen teilhaben, in einer einzigartigen Weise vollzieht. Die hässliche Tragödie ist von einzigartiger Gestalt, da sich ihre Gesetzmäßigkeiten erst im Ereignis selbst bilden. Im Augenblick der Vergegenwärtigung der Tragödie treffen Zuschauer und Idee aufeinander. Die Idee kann sich entfalten, die Zuschauerin ist erregt, leidet. Die Tragödie generiert zur Gegenwart des Zuschauers. Die Übertragung der ästhetischen Kraft ereignet sich. Natürlich gibt es besagte Grenze, wo die Tragödie aufhört, Tragödie zu sein. Wenn die Gegenwart eine Idee der Tragödie zur Gegenwart der Tragödie eines Lebens transformiert, sich eine vollkommene Passung von Kunst und Leben ereignet, dann ist die Auflösung der Tragödie als Kunst

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erreicht. Doch solange es in dem Ergriffensein von der tragischen Idee eine Differenz zwischen der Traumwelt der Kunsttragödie und der Traumwelt des Zuschauers gibt, lebt die Tragödie der Gegenwart fort. Das Hässliche der Tragödie nährt sich von der Divergenz der Träume. Und dabei verhält es sich keineswegs so, dass eine fertige Traumwelt auf die andere stößt. Würde es so sein, gäbe es keine Erregung. Es würden nur zwei ausgestaltete Statuen nebeneinandergestellt. Vielmehr ist die Bedingung für die ästhetische Vergegenwärtigung der Tragödie der Einlass des Traumes wie des Rausches in die Gegenwart des Zuschauers. Erst und nur darin, dass Traum und Rausch in die Welten des Zuschauers eindringen, sie überschreiten und wandeln dürfen, existiert die Gegenwart der Tragödie. Denn nur durch das Adaptieren, Brechen und wieder Zurückwerfen der Figur, Idee, des Begriffes kann sich die nachdisziplinäre Tragödie vollziehen. Insofern ist die ästhetische Vergegenwärtigung der Tragödie die Begründung der Tragödie der Gegenwart. Und natürlich ist das nicht schön. Unentwegt wird eine Erwartung enttäuscht, eine angeregte Ordnung durcheinander gewirbelt, ein gefühltes Maß überschritten oder nicht ausgeschöpft. Nicht durch, sondern vielmehr mit dem Zerbröckeln der Träume der Tragödie schwinden auch die eigenen. Der Verlust des Schönen ist also nicht ein Verlust an Luxus. Der Verlust des Schönen ist der Verlust der eigenen Träume und letztlich der Zweifel an sich selbst. Der Verlust des Schönen birgt als Enttäuschung begriffen zugleich auch eine Möglichkeit. Der Besuch einer schönen Tragödie wie etwa der klassischen bedeutet für den Zuschauer die Bestätigung der Bildung seines guten Geschmacks: Figur handelt, Figur besiegelt das eigene Schicksal, der Traum des Zuschauers wird zu seiner Gegenwart. Die tragische Ironie der Tragödie bestimmt die ästhetische Form, kein Raum für Zweifel. In der hässlichen Tragödie ist die Unbestimmtheit der Form, des Gesetzes und des Zweckes die Bedingung ihrer Entstehung. Das Wirken ihrer Kräfte muss demnach den Zuschauer in Unruhe versetzen. In der schönen Tragödie steht dem Unbehaglichen des praktischen Nichtgelingens die beruhigende Selbstvergewisserung durch die gelungene, schöne Form gegenüber. Hier hingegen treffen sich die Möglichkeit des praktischen Gelingens und die Unmöglichkeit des Gelingens der Schönheit. Nur die Möglichkeit der Ästhetik entlässt einen nicht. Und dabei geht es nicht nur um die Möglichkeit der ästhetischen Form der Tragödie an sich. Das Thema der Tragö-

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die ist das Urteilen. Die Freiheit des Urteils stellt die Begründung für die Gegenwart der Tragödie dar. Wenn sich in dieser Kunstform, deren konstitutives Prinzip das Urteilen ist, ein Entreißen der Gesetze, Überschreiten der Normen ereignet, dann löscht sie sich entweder selbst aus oder gebiert etwas vollkommen Neues. Das Überschreiten der Normen in der hässlichen Tragödie fordert die Urteilsfähigkeit des Selbst heraus. Die Bildung eines ästhetischen Urteils nicht etwa durch fremdbestimmte Disziplinierung des Urteilsvermögens, sondern durch eine tatsächliche Freiheit der Autonomie ist herausgefordert. Das Einstürzen der erwarteten Strukturen erfordert das Gestalten eigener Normen, Gesetze und sogar Zwecke. Das Selbst konstituiert die Kriterien und das Maß seines Urteils im Urteilen selbst. Die hässliche Tragödie ist die Geburt des neuen Geschmacks. Und es ist nicht etwa ein zeitgemäßerer, zukunftsorientierter oder zeitüberdauernder Geschmack. Es ist der unkultivierte Geschmack, der Geschmack des Selbst. Der Mensch ist ein Kulturwesen. Jedes Urteil, das der Mensch fällt, ist nicht bloß beeinflusst von den Kulturen, in denen er lebt, er ist Kultur. Ebenso verhält es sich mit dem Geschmacksurteil. Auch Geschmack bildet der Mensch als kulturelles Wesen. Wenn also gesagt wird, der hier gebildete Geschmack sei unkultiviert, dann meint das nicht einen Geschmack frei von Kultur oder ein Urteil jenseits der Kulturen. Die Wendung »unkultivierter Geschmack« soll vielmehr eine Ferne zur herrschaftlichen Disziplinierung ausdrücken. Das Unkultivierte wird hier verstanden als etwas, das sich diesseits der Kultur aufhält, da es Teil der Kultur, nicht aber den kulturellen nachdisziplinären Zwängen unterworfen ist.

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H ÄSSLICHE T RAGÖDIEN

Der Mensch als Kulturwesen ist in der Gegenwart der Tragödie frei, verzweifelt die beruhigende Ordnung der Dinge wieder herstellen zu wollen oder sich entgegen seiner Ausbildung zu entscheiden. Weniger handelt es sich hierbei um ein Für oder Gegen, vielmehr ist das Selbstbilden des Geschmacks ein ästhetischer Prozess des unbestimmten Suchens durch ein stetes Umbilden. Es ist dieses Unfertige, was den Anreiz gibt, das Urteilen herausfordert. Erbarmungslos werden die Figuren in die Tiefe gesogen. Manche scheinen

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sich zu wehren, recken sich wieder empor. Nirgendwo ein Licht, nur staubige Luft und ein Ziehen und Zerren, das Aufbegehren in einem drinnen. In Martyrium III scheint das Schicksal besiegelt zu sein. Abbildung 7: Helmut Sturm, Martyrium II 1960

Quelle: Ausstellungsband Gruppe SPUR

Anders verhält es sich mit dem Martyrium II. Wenngleich auch hier ein Sog wirkt, ist das dominante Motiv der Kreis. Helles Grün sorgt für einen Schimmer an Hoffnung, ebenso eine stützende Hand. Dann kippt der Eindruck wieder, alles wirkt plötzlich verwaschen, unklar, endlos. Je länger man das Bild betrachtet, desto mehr zieht es einen an. Immer wieder versucht man den Anfang oder ein mögliches Ende auszumachen. Vergeblich. Der Blick verfolgt den Kreis, es ist, als würde der Kreis selbst sich wandeln. Der Rausch packt einen. Irgendwann ist keine Trennung mehr da. Ich bin Martyrium II und Martyrium II ist ich. Das Phänomen erinnert an die

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Überlegungen Viktor von Weizsäckers: »Beim ruhigen Betrachten einer dort hängenden Patronentasche bin ich Patronentasche und diese ist ich.«11 Abbildung 8: Helmut Sturm, Martyrium III 1960

Quelle: Ausstellungsband Gruppe SPUR

Im Jahr 2013 präsentierte die Kunsthalle Kiel eine Ausstellung von Werken der Gruppe SPUR. Ebenso wie diese Werke ließen mich auch andere einfach nicht los. Linien hören schlicht auf, werden von grob skizzierten Flächen gebrochen, hier und dort taucht ein plastisches Element auf, Bedeutung ungewiss – alles inmitten von Kompositionen, die sich auf der Schwelle von Idee und Umsturz bewegen. Ebenfalls ein tragisches Exemplar stellt die Klabautermannsfuge von HP Zimmer dar. Das Werk ist farbenfroher als die Martyrien von Helmut Sturm, doch die Mischung der unterschiedlichen Farbtemperaturen und die wesentlich chaotischere Komposition sorgen für ebenso kräftige, mitreißende Wellen an Zerstörung. Tiefschwarze Skizzen, ein klares Blau, ein

11 Viktor von Weizsäcker: »Natur und Geist. Begegnungen und Entscheidungen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Mechthilde Kütemeyer/Peter Achilles, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, hier S. 81; siehe auch Roscher: Bewegung und Gestaltung, S. 108 f.

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schmutziges Blau, ein schräges Aqua, dazu tiefes Rot, dann noch kraftvolles Gelb und am Ende wieder der Bruch mit den Primärfarben durch dieses unbestimmte Orange – eine wahrlich unschöne Kombination. So fragt man sich, ob die wenigen Flächen, breiteren Straßen für Ruhe sorgen, oder gaukeln sie das Beständige nur vor? HP Zimmer kehrt über den Zeitraum von zwei Jahren immer mal wieder zu diesen Fugen zurück, übermalt, verwischt und strukturiert. Die Klabautermannsfuge ist eine wunderbar hässliche Tragödie. Abbildung 9: HP Zimmer, Klabautermannsfuge1960-1962

Quelle: Ausstellungsband Gruppe SPUR

Die Fuge zeigt ganz viel von HP Zimmer selbst, sein ewiges Spiel, der Charme, die Zerstörung desselben, den Wiederaufbau. Und vielleicht beschleicht einen deshalb manchmal der Gedanke an das Grausen. Auch wenn man in den Räumen einer Ausstellung nach diesem Bild sucht, in der Hoffnung einer Leihgabe, so erschrickt man vor dem Gedanken, es jeden Tag vor Augen zu haben. Die Brüche, Temperaturschwankungen und chromatischen Wechsel sind schwer auszuhalten. Man ist gebannt und verschreckt zugleich. Die Fuge ist viel zu sehr wie das Leben.

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Die Werke der Gruppe SPUR sind nicht zufällig derart unschön. Anders als es später (1966-1968) in der Gruppe GEFLECHT der Fall gewesen ist,12 war die Gruppe SPUR keinem Dogma unterstellt. Zimmer erinnert sich: »Die SPUR war eine einzigartige Gruppe gewesen, anarchisch-experimentell in ihrer Komplexität. Keine Richtung dominierte gänzlich eindeutig, oder sagen wir, in ihr waren mehrere Richtungen angelegt.«13 Nichts kann fixiert werden, es vermag sich kein Stil herausstellen, es ist das Gefühl, »dass alles immer im Fluss ist, dass man nicht weiß, was Stil ist und ob es Stil gibt«.14 Die Gruppe wirkt als Störfaktor. Sobald einer der Künstler eine gewisse Bestimmtheit in seinem künstlerischen Schaffen zu festigen versucht, wird dieses Vorhaben von den anderen Mitgliedern zerschlagen. Dem Exzessiven wird mit aller Macht Raum gewährt. Die Nähe zur Orgie zeigt sich nicht nur in ihren Zeitschriften.15 So zeigt sich Zimmer für seinen Kollegen Lothar Fischer als Expressionist weniger im kunsthistorischen, denn im Wortsinne: »Er hat sich aufgeführt wie James Dean, damals in den Anfängen. Er war ›angry young man‹, der expressiv dazwischen gefahren ist und Inhalte brauchte wie Unfäl-

12 Im situativen Sinne unterzeichnen einige Mitglieder der Gruppe SPUR 1965 ein Manifest, in dem es heißt, es werde keine Bilder und Plastiken mehr geben. Das Antiobjekt wird proklamiert. Der Entstehungsprozess rückt zunehmend in den Vordergrund, die äußere Form, das eigentliche Werk schwindet in seiner Bedeutung. Die eingeschlagene Richtung stellt insbesondere für die Aussteller wie aber auch für ewige Mitglieder der Gruppe eine Überforderung dar. 13 HP Zimmer zit. nach Galerie van de Loo (Hg.): Gruppe SPUR 1958-1965. Eine Dokumentation (Ausstellungskatalog), München 1988, S. 199. 14 Zimmer schreibt dieses auf einer undatierten Postkarte (Poststempel 24.9.1965) aus Mailand an Prem nach Fusch a.d. Großglocknerstraße, zit. nach ebd., S. 37. 15 Zwei Mal wurde die Gruppe SPUR wegen Gotteslästerung und Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt, siehe dazu Selima Niggl: »Die Spur der Spur. Chronologie einer Künstlergruppe«, in: Jo-Anne B. Danzker/Pia Dornacher (Hg.), Gruppe SPUR. Eine Ausstellung des Museums Villa Stuck, München, anlässlich der Ausstellung Gruppe SPUR im Museum Villa Stuck (München 13. Juli bis 22. Oktober 2006), Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 68-89, hier S. 83 f.

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le, Flugzeugabstürze und Katastrophen, Mord und Totschlag. Solche Themen musste er haben, damit bei ihm etwas in Gang gesetzt wurde.«16

Das Einbringen der Figur in das Geschehen oder vom Geschehen auf die Bildfläche bleibt hier für HP Zimmer das zentrale Motiv. Zimmer arbeitet mit Figuren, setzt sie in Szene, deutet ihr Leiden an, kehrt es heraus, spielt damit. Dann überlagert er die skizzenhaften Figuren wieder durch eine neue Bildebene. Sturm hingegen operiert früh mit der Linie der Abstraktion. Die Spannung zwischen der Dynamik der Geste und des Raumes ist für ihn von zentraler Bedeutung.17 Kraftvolle Pinselstriche zeichnen nach außen strebende Kräfte auf die Leinwand. Ohne Titel von 1964 zeigt deutlich die Verbindung von farbiger Fläche und einer Struktur, die von einem unscheinbaren Mittelpunkt nach außen flieht. In seinen späteren Werken, wie exemplarisch bei Ohne Titel von 1990, zeigt sich das allmähliche Verblassen des Mittelpunktes sowie eine Wandlung der nach außen gerichteten Kräfte hin zu kreisenden Bewegungen. Manchmal wirkt es, als tanze Zimmer mit seinen Figuren, während Sturm eine räumliche Dynamik erzeugt, indem er die abstrakte Form bewegt. Auch die beiden anderen Mitbegründer der Künstlergemeinschaft SPUR, Heimrad Prem und der Bildhauer Lothar Fischer sorgen durch ihre ungewöhnlich eigenständige, beinahe antikulturelle Verbindung von Figurativem und Abstraktem für orgiastische Ausschweifungen. Auf ihre je eigene Weise, ohne einen klaren Stil zu verfolgen und doch mit deutlichen Vorlieben behaftet, begründen diese Künstler Ekstasen in der Begegnung mit der Bildfläche. Wenn man sich also auf die Gegenwart der Kunst einlässt, die Tragödie der Martyrien selbst wird, ist das dann die Sehnsucht nach dem Schönen

16 Fischer zit. nach Nina Zimmer: SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York. Diss. Göttingen 2001, Berlin: Reimer 2002, S. 225 f. [Herv. i.O.]. 17 Vgl. Pia Dornacher: »Individualität im Kollektiv. Die künstlersiche Entwicklung der Gruppe SPUR von 1957-1965«, in: Jo-Anne B. Danzker/Pia Dornacher (Hg.), Gruppe SPUR. Eine Ausstellung des Museums Villa Stuck, München, anlässlich der Ausstellung Gruppe SPUR im Museum Villa Stuck (München 13. Juli bis 22. Oktober 2006), Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 18-37, hier S. 34.

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oder die Lust am Unschönen? Ist es die Suche nach ästhetischer Gewissheit oder das Vergnügen am Spiel? Vielleicht muss die erste Annahme zugleich verworfen werden. Ja, die Künstler der Gruppe SPUR waren selbstverliebt, sie wussten, dass ihre Werke die Kunst von Genies sind. Nur ist ihre Kunst nicht schön. In keiner Weise ähnelt sie Goethes dichterischer Produktionsweise oder Rembrandts Gemälde der badenden Bathseba. Nur ist die ästhetische Kritik an Zimmer, Sturm und den anderen dann nicht mehr als eine private Erfahrung? Natürlich ist das Skizzierte der persönliche Genuss an der ästhetischen Reflexion. Doch vorausgesetzt man befreit die Kunstwerke von ihrem Rang, lässt sie nur sein, dann ereignet sich in der ästhetischen Vergegenwärtigung eine gewaltige Vertiefung in die Form unseres Verstehens. Nicht also die gewissenhafte Prüfung einer Konformität von Sensibilitäten ist zur Diskussion gestellt. Die Lust am Werk als impliziten Akt zu begreifen steht zur Debatte.

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Z USCHAUEN GEGEN Z USCHAUEN

Der romantischen Übertreibung einer Konformität von ästhetischem Genuss und künstlerischer Genialität muss nun erst einmal Einhalt geboten werden. Die idealistische Ästhetik »lebt eine letzte, absolute Konformität von Schaffen und Genießen und ergänzt so die Apotheose des Künstlers, der als ein prometheischer Schöpfer wie ein ›alter deus‹ ist, durch die Apotheose des ästhetischen Bewußtseins, daß allerwärts der künstlerischen Genialität mit der kongenialen Souveränität des ästhetischen Genießens und des ästhetischen Urteils begegnet.«18

Das Modell der ästhetischen Lust als Freude an der Erkenntnis zerschellt daher womöglich in einem doppelten Sinne an der Frage nach dem Hermeneutischen der Kunst. Gerade wenn man die Werke von Sturm und Zimmer vor Augen hat, ihre beinahe ungebannte schöpferische Kraft, dann scheint

18 Hans-Georg Gadamer: »Zur Fragwürdigkeit des ästhetischen Bewußtseins«, in: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.), Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014, S. 59-69, hier S. 64 [Herv. i.O.].

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der Griff nach einer erkenntnistheoretischen Tradition ein leicht verzichtbarer Aufwand zu sein. Ein Spielmodell der formalistischen Denktradition präsentiert sich als wesentlich schlüssigere Weise der Annäherung. Das zweite Argument für den Verzicht auf eine Erkenntnistheorie ist der skizzierte Einwand Hans-Georg Gadamers gegenüber der Konformität. Wenn also die Sensibilität des Künstlers für die Bedeutungshaftigkeit seines Kunstwerkes und die Übertragung der produktiven Einbildungskraft überhaupt angezweifelt werden, was liegt dann näher als das Spiel? Doch damit nicht genug. Gadamer rät zur Überwindung des Geniekultes des 18. Jahrhunderts. Die bürgerliche Gesellschaft würde der Werktätigkeit der Schaffenden etwas Geheimnisvolles, eine tiefere Bedeutung zuschreiben, während die Schaffenden in ihrem Selbstverständnis die Prozesse weitaus nüchterner betrachteten: »Damit ist ein zweiter kritischer Punkt dieser Theorie berührt. Das Phänomen der ästhetischen Kritik fügt sich schlecht in die Theorie der Konformität von Schaffen und Genießen. Nicht nur, daß es eine unauflösliche Spannung zwischen Kritik und schaffendem Künstlertum gibt, die vielleicht nicht nur auf die verletzliche Sensibilität der Künstler zurückgeht, – die ästhetische Kritik widerlegt geradezu durch ihr eigenes Tun jede Theorie, die im Verstehen ein Nachschaffen sieht. […] Ihr Nachschaffen ist eine offenbare Illusion. Gewiß erfordern Verstehen und Genießen eine eigene Aktivität, aber diese ist von der des Schaffens gänzlich verschieden.«19

In der Argumentationslinie für ein Korrektiv der ästhetischen Genietheorie bildet das allgemeine Wesen der künstlerischen Gestaltung ein zentrales Element. Unter Bezugnahme auf die Theorie der modernen Lyrik wird von Gadamer die Möglichkeit entworfen, es handle sich bei dem Gestaltungsvorgang weniger um eine vorgreifende Planung denn um eine Fügung des Gegenstandes selber, der in der künstlerischen Form wie dem Gedicht seinen Sinn findet. Wenngleich Gadamer Paul Valéry vorwirft, »dem Mythos der unbewußten Produktion des Genies zu entgehen«20, stimmt er mit ihm darin überein, dass der Schöpfer des Werkes ebenso wenig wie der Betrachter einen Maßstab der Angemessenheit einer Bedeutung für sich beanspruchen

19 Ebd., S. 65. 20 Ebd., S. 67.

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könne. Keine Art des Verstehens sei weniger legitim als eine andere: »Jede Begegnung mit dem Werk ist eine neue originäre Produktion.«21 Um nun der möglichen Konsequenz zu entgehen, dem Leser oder Passanten die »Vollmacht des absoluten Schaffens« 22 zu übertragen, andererseits die Annahme weiterhin zu stützen, das künstlerische Gestalten sei mehr ein geglücktes Geraten, ein Zustandekommen, unterstreicht Gadamer die Bedeutung einer genaueren Bestimmung der hermeneutischen Verbindlichkeit, die dem Kunstwerk zukäme. Leider laufen wir Gefahr, mit einer Wendung zur hermeneutischen Kehrseite der ästhetischen Theorie ins Leere zu laufen. Dieses gilt jedoch nur, wenn man weiterhin von der Idee des Genießens im Sinne des Nachschaffens ausgeht. Wenn jedoch Interpretation als Nachschaffen nicht des Schaffensprozesses, sondern als Nachschaffen der Figur des gestalteten Werkes aufgefasst wird,23 dann bleibt es unerheblich, dass sich Kraft nicht hermeneutisch fassen lässt. Und damit bliebe es ebenso unerheblich, dass sich ein Nachschaffen der Kraft, nicht hermeneutische fassen ließe. Doch steht diesem Ausweg die sinnliche Erfahrung der Übertragung der Kraft entgegen. Vielleicht muss es also doch eine Möglichkeit mitten durch die ästhetische Theorie geben. Möglicherweise muss die Kontingenz der ästhetischen Erfahrung selbst angezweifelt werden, um die Originalität der Begegnung mit Kunst wirklich ernst zu nehmen. Damit landeten wir konsequenterweise wieder beim Spiel. Doch gibt es denn nichts Bestimmbares an der Kunst? Auch das widerspricht unserer Erfahrung. Andrea Kern löst diesen Gegensatz in ihrer Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant auf: »Die Autonomie der ästhetischen Erfahrung ist der Schlüssel zum Verständnis der ästhetischen Kunst.«24 Und damit erhebt sie zugleich den Anspruch, die zwei seit Jahrhunderten im Widerstreit befindlichen Denktraditionen ihres Anlasses zu berauben. Wenn das Wirken der Kraft kein kontingentes ist, muss dann der Umstand der Kontingenz für die ästhetische Erfahrung im Ganzen angezweifelt

21 Ebd. 22 Ebd. 23 Vgl. ebd. 24 Andrea Kern: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Diss. Berlin 1998, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, S. 308.

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werden? Und wir können nun sagen: nein. Die Kontingenz der ästhetischen Erfahrung liegt in ihrer Autonomie. »Schöne Gegenstände sind Gegenstände, in deren Betrachtung wir nicht bloß zufällig, sondern notwendig das Gefühl einer Lust empfinden.«25 Es wäre widersinnig, würde jemand einen Gegenstand als schön bezeichnen, zugleich aber bei seiner Betrachtung nicht das geringste Vergnügen empfinden. Man müsste davon ausgehen, dieser jemand wisse schlicht nicht, was schön ist. Ob es sich nun um Kunst oder einen gewöhnlichen Gegenstand handelt, unbestrittene Bedingung der Reflexion ästhetischer Erfahrung ist die Idee, das Vergnügen gehöre wesentlich zu dem Vollzug der ästhetischen Erfahrung. »Diese Verknüpfung von Schönheit und Lust ist der gemeinsame dünne Boden, auf dem alle Ästhetiken stehen.«26 Vergnügen, womöglich Lust nicht als kontingentes Merkmal der ästhetischen Erfahrung, sondern als impliziten Akt zu begreifen, bedeutet mithin, in der Betrachtung des Schönen wie auch des Unschönen verständlich zu machen, worin diese Lust besteht. Ein kurzer Blick auf die beiden miteinander konkurrierenden Modelle der ästhetischen Lust zeigt bereits, dass dieser philosophische Streit auf eine grundlegende Differenz deutet: »ein Streit um die ästhetische Differenz selbst.«27 Eine Lust, die sich an der Faszination eines eigensinnigen Spiels entzündet, wie es in der Rezeption der Tragödie nachgezeichnet wurde und in der wir gar frei von Erkenntnis sind,28 scheint erst einmal unvereinbar mit einer Freude an der Erkenntnis wie sie Gadamer zeichnet.29 Der ersten Annahme folgend befreit uns die ästhetische Lust als Erfahrung des Schönen von der Welt des Gewöhnlichen. Zieht man die zweite Annahme vor, so bedeutet das die Erweiterung des Gewöhnlichen durch die Begegnung mit dem Schönen. Die Lust am Schönen als Freude an einer

25 Ebd., S. 7. Andrea Kern bezieht sich hier auf Kants Kritik der Urteilskraft, in der er feststellt, die Schönheit eines Gegenstandes sei »nichts«, «ohne Beziehung auf das Gefühl des Subjekts« (Kant: Kritik der Urteilskraft, B 30). 26 Kern: Schöne Lust, S. 7. 27 Ebd., S. 8. 28 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 88. 29 Vgl. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen: Mohr 1975, S. 118.

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theoretischen oder praktischen Einsicht zu betrachten, bedeutet gleichsam, die ästhetische Erfahrung unterscheide sich nicht von einer gewöhnlichen theoretischen oder praktischen Erfahrung. Es handele sich lediglich um eine ausdrückliche Weise des Vollzuges der gewöhnlichen Erfahrung. Darin verorte sich die Begründung für die Lust am Schönen: Die Erkenntnis in der Betrachtung des Schönen sorgt für lustvolle Begeisterung, da sie sich von der gewöhnlichen Erfahrung abhebt. Die Theorie einer Lust am Spiel hingegen begreift die Erfahrung des Schönen als eine Erfahrung, »die sich ihrer Form nach und nicht einfach in der Weise ihres Vollzuges von der gewöhnlichen Erfahrung unterscheidet«30. In diesem Sinne ist die Erfahrung des Schönen »von ganz anderer Art als jede gewöhnliche Erfahrung«31. Wenn man der Konzeption einer Lust folgt, in der gerade die Unbestimmbarkeit der Kraft den Rausch bedingt, dann muss diese Lust eine andere als eine gewöhnliche Erfahrung sein. Selbst wenn wir die Dionysien des Gewöhnlichen betrachten, ereignen sich diese Dionysien zwar in der Begegnung mit gewöhnlichen Objekten oder Menschen des Alltags, doch es bleiben Dionysien. Ihre Formen sind unbestimmt. Wenn die Unbestimmbarkeit das dunkle konstitutive Moment des Lustgewinns ist, steht dieser Umstand einer Begründung der ästhetischen Lust auf einer Verknüpfung mit einer tieferen Erkenntnis des Gegenstandes erst einmal unüberwindbar entgegen. »Im Streit um die ästhetische Lust, so möchte ich behaupten, hat der Streit um die ästhetische Differenz seinen exemplarischen Ausdruck.«32 Umso verwunderlicher ist es, dass die Frage nach der ästhetischen Lust von kaum einer zeitgenössischen Ästhetik als zentrale Frage in ihrer ästhetischen Theorie behandelt wird. Vielmehr soll sich dieser Umstand im Nachgang der Frage nach einem möglichen Wahrheitsgehalt oder der Verstehbarkeit des ästhetischen Gegenstandes nebenher ergeben.33 Eine Lässigkeit, die in einer Untersuchung des Geschmacks der Kraft nicht ausreicht.

30 Kern: Schöne Lust, S. 9 [Herv. i.O.]. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Kern markiert dieses Desiderat der Forschung zur ästhetischen Theorie (siehe ebd.). Als ungehörte Ausnahmen führt sie Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik von Jauß sowie Barthes, Die Lust am Text, an. Wünschenswert wäre es daher, dass das Vorhaben Andrea Kerns in der ästhetischen Dis-

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Wenngleich es zur Untersuchung des Wirkens der Kraft an sich ausreichend gewesen wäre, sich der Idee des ästhetischen Spiels zu verschreiben, ist es doch für die zuletzt aufgeworfene Frage der Bildung des Geschmacks, die als außerordentliche Möglichkeit der Autonomie des Selbst gefasst wurde, nicht mehr hinreichend. Weniger auffällig scheint die Auslassung, wenn man sich in den Betrachtungen mit der Begegnung des Schönen aufhält. Vertieft man sich jedoch in die rätselhaften Akte des Rausches in der Begegnung mit dem Unschönen, stößt man auf Grenzen der Konzeption. Wenn sich Ekstasen in der ästhetischen Vergegenwärtigung von hässlichen Tragödien auf der Bühne oder in der Betrachtung eines Bildes entzünden können, jene Begegnungen eine Geschmacksbildung des Selbst provozieren, dann ist damit die Frage nach der Beziehung von Verstehen und Genießen aufgeworfen. Die Frage nach dem Geschmack der Kraft zeigt sich nun als eine Frage nach der ästhetischen Lust.

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AN SICH SELBST

In Poetik ist die Frage nach dem eigentümlichen Charakter des ästhetischen Vergnügens erstmals markiert.34 In seinen Betrachtungen zur griechischen Tragödie wirft Aristoteles die Frage auf, weshalb wir Vergnügen an der ästhetischen Darstellung von Inhalten finden, die uns in unserem wirklichen Leben Unbehagen bereiten. In der vorkantischen Diskussion wandelt sich später die Frage von einer nach dem Vergnügen am Tragischen zur Frage nach der Lust am Schönen im Ganzen. Auf diesem Fundament breiten sich schließlich die klassischen Ästhetiken nach Immanuel Kant und Friedrich Schiller aus, sowie daran anknüpfend Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche. Jeweils eröffnen sie ihre Arbeit mit der Frage nach der ästhetischen Lust und bringen damit ihre Theorie voran.35 Einen Umstand, den die zeitgenössische Diskussion aus dem Blick verliert. Leider führt das Vergessen der ästhetischen Lust auf tragische Weise dazu, dass der Streit um die ästhetische Differenz fernab von der sonst so

kussion vielerorts Beachtung findet. Die folgenden Ausführungen dieses Kapitels gründen auf ihren Bemühungen um das Rätsel der ästhetischen Lust. 34 Vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 4, 1449 a, S. 11. 35 Kern zeichnet diese Dynamik in Schöne Lust dezidiert auf.

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gegenwärtigen Produktivität ausgetragen wird.36 Das Entsagen der Lust am Schönen führt zu der Unauflösbarkeit des Streits und mehr noch: zur Unausführbarkeit des Streits, da die gemeinsame Grundlage fehlt. Wenn sich nun dieses so verhält, Modelle die Beziehung des Subjektes zum ästhetischen Gegenstand und damit den Wesenskern des Schönen aus dem Blick verloren haben, dann muss nicht dieser Streit geschlichtet werden. Vielmehr zeigt es sich, dass bei dem Streit um die ästhetische Differenz schlicht »zwei falsche Alternativen« vorliegen.37 Deshalb beginnt Kern dort, wo die zeitgenössischen Ästhetiken aufgehört haben zu suchen: bei dem Besonderen der ästhetischen Kunst. Um zu ergründen, woran sich ästhetische Lust entzündet und weshalb wir sie empfinden, orientiert sich Kern an Kants Kritik der Urteilskraft. In Kants architektonischer Leistung konzipiert er zwei Modelle des Ästhetischen. In der Deutung der Architektur der Ästhetik Kants stimmt Kern der Rekonstruktion Martin Seels zu, die er in seiner Abhandlung Die Kraft der Entzweiung vornimmt.38 In der Deutung Seels wird von zwei Modellen des Ästhetischen ausgegangen. Das erste Modell fragt nach dem Verstehen der Bedeutung des Gegenstandes. Das zweite Modell hingegen versucht die Schönheit des Gegenstandes zu beurteilen. In dem kantischen Bauwerk sei nun ferner die Analyse eines einheitlichen Aktes der ästhetischen Betrachtung nicht möglich.39 In dem einen Modell wird versucht, das Besondere der ästhetischen Lust zu ergründen. In jener Beurteilung des Schönen bestimmt Kant die ästhetische Erfahrung des Gegenstandes als Akt der Aufmerksamkeit ohne

36 Siehe dazu Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.): Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014; Franz Koppe: Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991; Birgit Recki/Lambert Wiesing: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München: W. Fink 1997. 37 Vgl. Kern: Schöne Lust, S. 11. 38 Martin Seel: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. Zur Kontroverse der Modelle des Schönen siehe auch Paul D. Guyer: »Formalism and the Theory of Expression in Kant’s Aesthetics«, in: Kant-Studien 68 (1977), S. 46-70; sowie Paul Guyer: Kant and the Claims of Taste, Cambridge, Mass.: Cambridge Univ. Press 1979. 39 Vgl. Kern: Schöne Lust, S. 12.

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Zuweisung eines Sinngehalts. Das andere Modell, welches sich der Frage nach der Bedeutung des Schönen verschrieben hat, zeigt ästhetische Erfahrung als sinnorientierten Prozess. Jener Prozess der Bedeutungszuweisung steht der Analytik des Schönen entgegen. Die Beurteilung des Schönen und die Bedeutung des schönen Gegenstandes stellen für Kant zwei getrennte, voneinander unabhängige »Arbeitsvorgänge«40 dar. In einer systematischen Perspektive erarbeitet Kern eine Lösung für jenen Konflikt, der sich exemplarisch in dem Problem der Kantischen Ästhetik zeigt. Denn genauer betrachtet handelt es sich dabei um exakt die beiden widerstrebenden Positionen der Ästhetik, den Streit um die ästhetische Differenz. Konfrontiert man Kants Doppelmodell mit Argumenten der hermeneutischen Ästhetik, prüft also, inwiefern sich eine Beurteilung des Schönen ereignet, muss daraufhin der Begriff der ästhetischen Reflexion in Frage gestellt werden. An die Stelle einer genuin ästhetischen Reflexion könnte ein Verstehen gesetzt werden, das Freude bereitet. Auf jene Zurückweisung der ästhetischen Reflexion nach Kant folgt für die hermeneutischen Ästheten die Preisgabe der Autonomie des Schönen wie sie von Kant behauptet wird. Die Hermeneutik geht davon aus, die ästhetische Differenz ließe sich mit dem Begriff einer genuin ästhetischen Reflexion nicht lösen. Es sei nicht das Gefühl einer Lust, welches das Maß der ästhetischen Beurteilung ist, die eine Begegnung mit dem ästhetischen Gegenstand bewirkt, sondern der Wert seines Sinns. Die hermeneutische Ästhetik beraubt sich damit im Sinne Kants des Fundaments der Ästhetik. Ästhetische Lust ist nach Kant nicht bloßes Beiwerk der ästhetischen Erfahrung, ästhetische Lust ist die notwendige Bedingung, die ursächlich für die Existenz des Schönen überhaupt ist. Wenn man sich in diesem Punkt Kant anschließt, Lust als Bedingung des Schönen annimmt, stellt man sich zugleich gegen den Versuch einer Lösung der ästhetischen Differenz wie ihn die hermeneutische Ästhetik vorschlägt. Nur muss mit dem Scheitern der hermeneutischen Perspektive nicht die Möglichkeit einer Lösung der ästhetischen Differenz aufgegeben werden. Wenn das Problem die Preisgabe der Autonomie des Schönen darstellt, fragt man sich, ob das denn zwingend notwendig sei. Andrea Kern zeigt auf, dass gerade im Nachgang von Kants Begriff der ästhetischen Reflexion die Lösung liegt. Denn gerade in jenem kantischen

40 Seel: Die Kunst der Entzweiung, S. 37.

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Begriff lässt sich die Beurteilung der Schönheit eines Gegenstandes begreifen, die anders als bei Kant auf der Seite der Bedeutung des Gegenstandes für die Betrachtenden steht.41 Die Lösung liegt also gerade nicht, wie von den eben angeführten hermeneutischen Rezeptionisten vermutet, in dem Begriff der ästhetischen Bedeutung. Insofern sich die Idee des ästhetischen Spiels als anschlussfähig an das von Kant konzipierte Fundament der Autonomie des Schönen erweist, muss mit dem Begriff der genuin ästhetischen Reflexion gearbeitet werden. Nur einer wesentlich selbstreflexiven Form der Reflexion, die selbst keine Bedeutung bildet, ist es möglich, die ästhetische Differenz als formale Differenz zur Geltung zu bringen.42 Anders als es die formalistischen Ästhetiken annehmen, muss das Verstehen der Bedeutung des schönen Gegenstandes für den Betrachter und die Beurteilung seiner Schönheit intern aufeinander bezogen sein.43 Das Lustvolle der ästhetischen Erfahrung steht in einer unauflöslichen Verbindung mit der Bedeutung des Schönen. Und eben hierin liegt ursächlich begründet, weshalb auch »allein die Lust am Schönen den Gehalt des Schönheitsprädikats bestimmt«44. Notwendig für das Freilegen des internen Zusammenhangs von verstehender und beurteilender Perspektive ist eine Abkehr von Kant hinsichtlich der Bestimmung des verstehenden Vollzuges der Urteilskraft. Der Vollzug des Urteilens darf nicht als Ergänzung zur ästhetischen Reflexion aufgefasst werden. Ästhetische Reflexion ereignet sich nicht neben dem Verstehen des schönen Gegenstandes; ästhetische Reflexion ist eine Form der Reflexion, die sich auf unser Verständnis der Bedeutung des ästhetischen Gegenstandes richtet: »Das ästhetische Spiel, so lautet die antihermeneutische Behauptung, ist kein besonderer Vollzug, sondern eine besondere Weise der Suspension unseres Verstehens.

41 Vgl. Kern: Schöne Lust, Kap. III. 42 Vgl. ebd., S. 14. 43 Jene Grundannahme sowie die Verknüpfung einer genuin ästhetischen Reflexion mit einer verstehenden Betrachtung des ästhetischen Gegenstand bilden zugleich auch die Prämissen der Ästhetik der Dekonstruktion. Deshalb bindet Kern die Diskussion der Ästhetik der Dekonstruktion in ihr Projekt einer Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant ein. 44 Ebd., S. 15.

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Schöne Gegenstände sind Gegenstände, in deren Reflexion sich unsere Vollzüge des Verstehens in Vollzüge eines Spiels verwandeln, an den sich unsere ästhetische Lust entzündet.«45

Im ästhetischen Spiel beziehen wir uns reflektierend auf die Form unseres Verstehens. Nicht die Einsicht in einen bestimmten Sinn oder die Genesis einer selbst entworfenen Bedeutung bereitet uns jene Lust am Schönen. Womit wir wieder bei Kant angelangt wären. Denn eine Erfahrung der Form unseres Verstehens in der Begegnung mit einem konkreten Gegenstand bedeutet, eine lustvolle Erfahrung zu machen, da sie in uns die Vorstellung einer bestimmten Zweckmäßigkeit anregt. Die Begegnung mit dem Schönen ist für uns deshalb lustvoll, da zu der ästhetischen Erfahrung die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit bedeutungshafter Gegenstände für unser Verstehen als Vollzug eines Verstehens gedacht wird. Somit kann ihr eine Erweiterung unseres Verstehens überhaupt zugesprochen werden: »Die Vorstellung dieser Zweckmäßigkeit, einer Zweckmäßigkeit, die wir nur ästhetisch erfahren können, ist der Grund unserer Lust am Spiel zwischen zwei unentscheidbaren Zirkeln des Verstehens. Das Bewußtsein der Zweckmäßigkeit der Gegenstände unseres Verstehens für unser Vermögen, sie zu verstehen, das wir im ästhetischen Spiel haben, ›ist‹, so können wir mit Kant sagen, ›die Lust selbst‹.«46

Ein Urteil über das Schöne bedeutet, eine Vorstellung von jener eigentümlichen Zweckmäßigkeit zu erwecken, die in der Entfaltung des ästhetischen Spiels begreiflich wird. Gerade da das Spiel den Vollzug des Vermögens unseres Verstehens radikal unterbricht, ist hier das Urteil über das Schöne möglich. Wenn nun die ästhetische Erfahrung selbst kein Vollzug des Verstehens ist, ja die Bedingung der Entfaltung des Spiels an die Abwesenheit des Vollzuges des Verstehens gebunden ist, dann könne sie sich auch nicht in das Denken oder den Willen mischen.47 Weder verändert die Entfaltung des

45 Ebd. 46 Ebd., S. 307. 47 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam 2008, S. 58 f.

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Spiels unsere gewöhnlichen Vollzüge des Verstehens noch dürfe ihm eine »wirklichkeitsaufschließende Kraft«48 zugeschrieben werden. Zwar käme es manchmal vor, dass wir aufgrund einer ästhetischen Erfahrung »die Dinge anders oder gar zum ersten Mal verstehen, doch dies macht nicht das Wesen der ästhetischen Erfahrung aus.«49 Die Kraft der ästhetischen Erfahrung liegt darin, dass sie selbst ein Vollzug eines Verstehens ist. Die Entfaltung des Spiels der Kräfte muss also notwendig eine Vertiefung gerade jenes anderen Verstehens bedeuten. Daher ist auch keine stete Steigerung des Verständnisses vom schönen Gegenstand möglich. Vielmehr bietet die Begegnung mit dem schönen Gegenstand in der Unterbrechung des gewöhnlichen Verstehens die Möglichkeit des Spiels, das Entzünden der Lust am Schönen. Andrea Kern bestimmt die Grundbegriffe Kants neu, verändert jedoch ihre Rolle für die Theorie der ästhetischen Erfahrung nicht und ermöglicht es dadurch, den Zusammenhang von Verstehen und Beurteilen schöner Gegenstände näher zu klären. Die ästhetische Differenz ist unproduktiv gedacht, wenn sie als Streit zwischen zwei Alternativen geführt wird. Kern entzieht dem Streit den Boden, indem sie die Autonomie der ästhetischen Erfahrung nicht im Sinne einer autonomen Erfahrung neben dem gewöhnlichen Verstehen begreift. Vielmehr ist das Urteil über das Schöne eine gegenüber dem gewöhnlichen Verstehen autonome Erfahrung in dem Sinne, einen eigentümlichen Gehalt für das gewöhnliche Verstehen zu haben: Die schönen Gegenstände verwandeln sich in der ästhetischen Reflexion von Gegenständen, die wir gewöhnlich verstehen, zu Gegenständen, die für uns als Moment des Spiels begreifbar sind. Der Gehalt der ästhetisch reflexiven Begegnung mit dem Schönen für das gewöhnliche Verstehen liegt vielmehr darin, ihre Bestimmung als eine lustvolle Erfahrung des ästhetischen Gegenstandes begreiflich zu machen. Die Autonomie der ästhetischen Erfahrung, die einen Einbruch in das gewöhnliche Verstehen bedeutet, »schließt eine Bestimmung des Gehalts dieser Erfahrung für unser gewöhnliches Verstehen nicht nur nicht aus, sie

48 Albrecht Wellmer: »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 9-47, hier S. 35. 49 Kern: Schöne Lust, S. 307.

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schließt sie ein«50. Verstehen und Beurteilen sind intern aufeinander bezogen, darin liegt die Produktivität der ästhetischen Differenz. Der Prozess der Bedeutungsgenese dient nicht der Erweiterung unseres gewöhnlichen Verstehens. Die Entfaltung des ästhetischen Spiels hat die »Kraft der Vergewisserung«51: »Nicht die Vergewisserung eines bestimmten Vollzugs unseres Verstehens, sondern die Vergewisserung unserer selbst als eines verstehenden Subjekts. Die vergewissernde Kraft, die die Vorstellung einer ästhetischen Zweckmäßigkeit hat, ist die Vergewisserung unserer selbst als eines Subjekts, das die Bedeutungen, auf die es sich bezieht, prinzipiell bestimmen kann. In der Entfaltung eines ästhetischen Spiels der Unentscheidbarkeit, in dem unser gewöhnliches Verstehen unterbrochen ist, vergewissern wir uns unserer selbst als eines Subjekts, für das es keine Bedeutung geben kann, die sich seinem Verstehen prinzipiell entzieht.«52

Die vergewissernde Kraft entspringt der Lust an eben diesem Verstehen der Form des Verstehens. Daher ist die vergewissernde Kraft an den Augenblick des ästhetischen Spiels gebunden: »Das Gefühl der ästhetischen Lust, das wir im Vollzug des Spiels empfinden, ist eine Lust an uns selbst, an der Erfahrung unserer eigenen Subjektivität, die uns mit der Welt der Bedeutung verbindet. Im Spiel zwischen den unentscheidbaren Bedeutungen genießen wir uns als Subjekte, denen die Welt der Bedeutung offen steht. Diese Lust an uns selbst ist uns nur angesichts des Schönen vergönnt.«53

Nur in dem lustvollen Augenblick erscheint es uns, als wäre der Gegenstand für unser Verstehen gemacht. In der Begegnung mit dem ästhetischen Gegenteil können wir uns unserer eigenen Subjektivität in der Verwobenheit mit der Bedeutung eben jenes ästhetischen Gegenstandes für uns gewahr werden.

50 Ebd., S. 308. 51 Ebd. 52 Ebd. 53 Ebd., S. 308 f.

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F

U NORDNUNGEN

DES

S ICHTBAREN 54

Die Lust ist uns nur angesichts des Schönen vergönnt. Weshalb bereiten uns dann die hässlichen Tragödien ein derartiges Vergnügen? Warum vermögen es unschöne Bilder, uns in Ekstase zu versetzen? Um jenen Fragen angemessen nachgehen zu können, müssen wir uns auf die Grenze des begrifflich Fassbaren begeben, uns sogar zuweilen jenseits von ihr aufhalten. Denn eine Ekstase angesichts der Begegnung mit hässlichen Bildern ist weder in formalistischen Theorien zum Schönen vorgesehen, noch wird sie von den Anhängern des Spiels als Materialität des Dionysischen in Erwägung gezogen. Jenes Privileg ist der Musik oder dem Tanz und vielleicht noch dem Theater vorbehalten. Und doch ist sie möglich, die Lust am Hässlichen. Beginnen wir also wie vielenorts vorgeschlagen bei der Lust, stoßen wir womöglich auf das, was logisch so nicht vorgesehen war. Genauer ist die Frage nach der Lust am Hässlichen eine Frage nach Urteilen und Unverstehen. Anders ausgedrückt: Im Hässlichen bleibt uns die »semantische Komplexität«55 verborgen. Womöglich ist aber auch das Werk ästhetisch sinnfrei.56 Um also jenen Fragen auf den Grund zu gehen, besinnen wir uns in gebotener Kürze auf das Prädikat des Schönen. Urteile über das Schöne sind deshalb von allen anderen Urteilen verschiedene Urteile, da sie Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben dürfen. Jener Anspruch ist seinerseits zudem von besonderer Art: der Urteilende verknüpft das Prädikat Schönheit nicht mit dem Begriff der Logik des Objekts, dennoch dehnt er jenes Prädikat auf die anderen Urteilenden aus.57 Gerade da ästhetische Urteile keine

54 Der Titel ist eine Anspielung auf Bernard Waldenfels’ Abhandlung Ordnungen des Sichtbaren. In seiner Kritik an der Hermeneutik zweifelt er die normative Gewalt des Werksinns als Gehalt eines Schönheitsprädikat an. 55 Max Imdahl: Giotto Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München: W. Fink 1988, S. 92. 56 Siehe zu einer Suspension des Sinns die Kritik von Bernard Waldenfels: »Ordnungen des Sichtbaren«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München: W. Fink 1994, S. 233-252, hier S. 235. 57 Siehe dazu Kant: Kritik der Urteilskraft.

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Urteile der Erkenntnis sind, sich nicht begriffslogisch erschließen lassen, können sie den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Die schöne Lust empfinden wir, da die Vorstellung einer Zweckmäßigkeit bedeutungshafter Gegenstände für unser Vermögen des Verstehens angeregt wird. An der Unterbrechung des gewöhnlichen Verstehens durch die Verwirklichung der Möglichkeit des Spiels entzündet sich die Lust am Schönen. Der lustvolle Blick hat uns jedoch verraten: Hässliche Tragödien bereiten uns Vergnügen. Nur ist jenes Vergnügen nicht eine eigentümliche Lust am Unschönen, sozusagen die Lust in der Negation des Schönen. Kalt und formallogisch betrachtet ist der Rausch am Hässlichen nicht möglich. Wenn die vergewissernde Kraft die Bedingung für das Entzünden der Lust darstellt, jenes ästhetische Verstehen – sei es nun der eigenen Subjektivität, wie Kant es sieht, oder des Vordringens zum Urgrund des Seins wie es in der Denktradition nach Schopenhauer und Nietzsche anzusehen sei – nicht möglich ist, haben wir uns dann geirrt? An dieser Stelle sei anzumerken, dass es eingangs um zwei Fragen und zwei unterschiedliche Phänomene gegangen ist. Wenn es sich um ein hässliches Werk in dem Sinne handelt, wie es in diesen hässlichen Tragödien der Fall ist, dann ist da keine Lust. Wenn das ästhetische Gelingen nur bedingt eingelöst werden kann, da das erwartete praktische Misslingen enttäuscht wird, dann ist da auch keine Vergewisserung des Selbst und damit auch keine ästhetische Lust. Was bleibt ist das Vergnügen an der Einsicht in die Bedeutungen, die Freude am Verstehen. Diese Freude ist jedoch wie gezeigt wurde nicht gleichzusetzen mit der ästhetischen Lust, denn jene Freude spielt sich vorwiegend auf der Seite des Verstehens ab. Die ästhetische Lust ereignet sich jedoch in der Brechung jenes Verstehens. Jene hässliche Tragödie bereitet bloßes Vergnügen, keine Ekstase. Doch dann gibt es da noch die andere hässliche Tragödie. Zur Unterscheidung wollen wir sie die ungewiss hässliche Tragödie nennen. Es handelt sich um jene dramatischen Werke, in denen das Verstehen irgendwie hakelig ist. Die Materialität des Werkes überzeugt, doch das Wiedererkennen der Figur, der Idee ist nicht ganz greifbar. In demselben Augenblick liegt sie vor einem und dann verschwindet sie wieder. So wie es bei den Martyrien der Fall gewesen ist. Die Autorin möchte mit Bernard Waldenfels keineswegs die ästhetische Erfahrung mit dem Verstehen des ästhetischen Sinns eines Bildes gleichsetzen. Es soll nicht die Schönheit eines Bildes an dem Sinnverstehen be-

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messen werden. Dennoch kann der Idee der doppelten Sichtweise,58 einem wiedererkennenden und einem materialen Sehen, die erst in ihrer Verbindung die eigentliche Bildleistung erahnen lassen, etwas abgenommen werden. Formales und gegenständliches oder wiedererkennendes und materiales Sehen bedingen einander. Das wiedererkennende Sehen, das Objekte oder Ereignisse zu identifizieren vermag, die auf eine Welt außerhalb des ästhetischen Sinns verweisen, ermöglicht es dem Betrachtenden, formale Zusammenhänge zu erkennen, welches ohne diese Identifikation der figürlichen Elemente nicht möglich wären. Umgekehrt ermöglicht das Sehen formaler Bildwerte das Entdecken figürlicher Zusammenhänge.59 Wenn man nun mit der Dynamik an sich übereinstimmt, sich jedoch von der Ableitung des Lustgewinns aus dem Verstehen des ästhetischen Sinns abwendet, dann entsteht die Möglichkeit eines Lustgewinns im Angesicht des Unverstehens. Natürlich setzt das die tragende Kraft der Materialität des Werkes voraus. Ob der Lustgewinn auch auf umgekehrtem Wege möglich ist, kann die Verfasserin nicht sagen, da sich ein Lustgewinn bei einem Werk mit schwacher Materialität und starker Figürlichkeit noch nicht eingestellt hat, die Autorin aber das Versprechen einhalten möchte, bei der Lust zu beginnen. Das Geheimnis ist: Auch bei der Lust gibt es nicht ein ganz oder gar nicht. Ja, das Verstehen und Urteilen sind intern miteinander verknüpft. Ja, das Spiel ist Einbruch in das gewöhnliche Verstehen. Und ebenfalls würde die Autorin zustimmen, dass dieses Spiel der Abwesenheit des gewöhnlichen Verstehens bedarf. Nur ist es eine Abwesenheit im Sinne der bereits skizzierten abwesenden Anwesenheit. Das gewöhnliche Verstehen, der gestalterische Wille, das apollinische Verlangen ist ja nicht weg. Es ist nur gerade nicht handlungsleitend. Es überlässt dem Spiel der Kräfte seinen Raum. Und dieses Spiel im Spiel ist das Ringen von Kraft und Vermögen. Da nun in der gegenwärtigen Tragödie, jener hässlichen Gestalt, der Sieg einer Kraft nicht vorbestimmt ist, wird es möglich, dass sich etwas Neues, sehr Seltenes ereignet: der selbst gebildete Geschmack.

58 Vgl. Waldenfels: Ordnungen des Sichtbaren, S. 235; Imdahl: Giotto Arenafresken, S. 90-92. 59 Siehe zur semantischen Komplexität der Interpretation des zentralen Elements der Schrägen in Giottos Bild Die Gefangennahme, Imdahl: Giotto Arenafresken, S. 93.

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In der Begegnung mit jener anderen ungewiss hässlichen Tragödie, deren Figürlichkeit uns zweifeln lässt und uns die Materialität der Tragödie aus eben diesem Verstehen-wollen herauszureißen vermag, uns in einem Sog mitreißt, von der Ekstase kosten lässt – in jener Begegnung ist beides möglich: Geschmack wider Willen und Geschmack des Selbst. Die lustvolle Tragödie ist ein vorzügliches Beispiel für die Unmöglichkeit der steten Orgie und weshalb dieser Umstand keineswegs zur Traurigkeit aufrufen sollte. Nun möchte die Autorin in Gedenken an Nietzsche keine neue Moral entwerfen. Daher gilt es nun auch, sich in den letzten Zügen doch noch von Kerns Idee der Lust an sich selbst, zumindest im Sinne Kants, zu verabschieden. So schön die Vorstellung auch sein mag, die ästhetische Lust als Erfahrung der eigenen Subjektivität einzuordnen, die uns mit der Welt der Bedeutungen verbindet, ist sie doch in gewisser Hinsicht sozusagen knapp daneben. Wenn man nicht nur das Schöne, sondern auch das Hässliche im Schönen betrachtet, das Ästhetische an sich, dann wird einem gewahr, dass es nicht die eigene Subjektivität ist, die sich mit der Welt der Bedeutungen verbindet. Vielmehr verrät das hässlich Schöne, dass sich bei der Ekstase, die sich in dem Empfinden der Lust am Schönen ankündigt, eine vergewissernde Kraft freisetzt. Jene Vergewisserung bedeutet eine Selbstvergewisserung des Seins. Das Subjekt, es vergewissert sich des Urgrundes seines Seins. Und eben darin liegt das eigentümlich Besondere des ästhetischen Urteils: In der ureigenen Weise des Sich-Gewahrwerdens, dem Ästhetischen, wird sich das Subjekt seiner selbst derart gewahr, dass es sich selbst zu übersteigen vermag. Die Ekstase verbindet das Subjekt mit seiner Subjektlosigkeit. Die Autonomie des Geschmacks des Selbst zeigt sich im ungewissen Hässlichen. Der Geschmack der Kraft kann hier in doppelter Weise erfahren werden: in der Ekstase und in der Wiederkehr der abwesenden Anwesenheit des Verstehens. Die Erweiterung des gewöhnlichen Verstehens, die Geschmacksbildung in einem klassischen und endlich autonomen Sinne eines Geschmacks des Selbst wird möglich. Das ist die Möglichkeit der Gegenwart der Tragödie.

VI

Präsenzeffekte Das Experiment

»Geschmack ist der treueste Seismograph der historischen Erfahrung. Wie kaum ein anderes Vermögen ist er fähig, sogar das eigene Verhalten aufzuzeichnen. Er reagiert gegen sich selber und erkennt sich als geschmacklos.« THEODOR W. ADORNO: Minima Moralia

Endlich stellt sich die Autorin der Frage nach der Lehre in den Künsten. Wobei mit »endlich« weniger ein Ziel angedeutet sei, worauf die vorherigen Überlegungen ansteuern müssten. Eine derartige Absichtsbildung würde wohl jegliche schöpferische Arbeit im Keim ersticken. Natürlich ist das Bestreben, die Bedeutung der errungenen Transparenzen an der Verwendbarkeit jener Einsichten in die Materie zu messen, nur schwerlich zu unterdrücken. Nur vermag kaum ein Philosoph als Künstler betrachtet ins Abenteuer der Erkenntnis aufbrechen, wenn ihn die Fesseln nach der Bestimmung seiner Wagnisse umschlingen. Wenn hier also endlich die Frage nach der Lehrbarkeit der Kräfte Zuwendung findet, dann sei damit das Ende, die vielleicht unüberwindbare Grenze der Einsichten in die Ereignisse der Kraft angedeutet. Eine zeitgemäße Prüfung der Effekte würde eine entsprechende Qualitätssicherung der Gütekriterien bedeuten. Die Kunstwerke, als Produkte betrachtet, würden gemessen, gewogen, neben ihre Artgenossen gestellt und schließlich gestempelt werden. Auf irgendeine Weise würden die Anregun-

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gen des Kunst Lehrenden mit den Erregungen des Künstlers ins Verhältnis gesetzt, in Stärke und Konstellation variiert und schließlich in Formation gebracht werden. Und dabei wäre noch nicht einmal auszuschließen, dass diese sorgfältig eruierte Systematik und unbedingte Stringenz in der Praxis des Lehrenden der Entfaltung des künstlerischen Könnens entgegenwirken. Nur dass umgekehrt die Entfesselung der Kraft auf das Einwirken des Lehrenden zurückzuführen sei, möchte die Autorin hier einmal vorsichtig übermütig nennen. Die Wirkungen der Praxis des Lehrenden sind nicht bestimmbar. Jene Unbestimmbarkeit des Anregens begründet sich in der Unbestimmbarkeit der Entfesselung der Kraft selbst. Wenn nun Kraft kein extrahierbares Ereignis ist, dann befinden wir uns stringent gefolgert nirgends anders als «Diesseits der Hermeneutik«. Denn ganz im Sinne Gumbrechts, versuchen wir hier ein Phänomen zu bestimmen, das gerade nicht auf der Seite der Hermeneutik steht. Genaugenommen gibt es keine Ereignisse, die wir interpretieren könnten. Im Gegenteil geht es hier um das Erfassen von etwas, das in einer spezifischen Nähe zu verorten ist. Mit der Wendung Diesseits der Hermeneutik ist Gumbrecht in der deutschen Übersetzung die Rückkehr zu seinem Ursprungsgedanken, einer Betonung des Hier, der Präsenz gegenüber der Interpretation gelungen. Deutet man Kraft als Beziehung, muss dieses Phänomen auf der Seite der Präsenz verortet werden. Die Möglichkeit einer hermeneutisch angelegten Analyse schließt sich damit streng genommen aus.

A

E IN

BEGRÜNDETER

Z WEIFEL

Wenn es denn tatsächlich so sei, dass die Kunst der Gegenwart das verwirklichen der sozialen Gestalt der Freiheit verfehle, dann verbliebe trotz dessen die Frage bestehen, ob das Konzept – wenngleich als breite Gesellschaftstheorie etwa in der Moderne nicht eingelöst – doch auf eine Weise in einer nachdisziplinären Gesellschaft möglich wäre. Und dass es diese Phänomene in der gegenwärtigen Kunst gibt, darauf ist hier bereits vielenorts verwiesen worden. Nur fragt man sich, ob es nicht irgendeinen Mechanismus, eine bislang unbeachtete Möglichkeit gäbe, das Konzept vielleicht auch in einer Art Modifikation jenseits des Einzelfalls als tragfähiges Modell zur Verwirkli-

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chung gegebener Existenzen anzuwenden. Es stellt sich hier die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Ekstase in der Kunst der Gegenwart. Ausgangspunkt für diese Überlegungen ist die Annahme, das Nichteinlösen der ästhetischen Freiheit sei nicht nur auf historische Umstände zurückzuführen. Inwiefern sich diese in der Zukunft womöglich negieren könnten oder gar bereits im Begriff seien sich zu wandeln, sei zunächst dahingestellt. Vorerst gilt unser Augenmerk den Bedingungen der Hemmung, deren Dynamik jenseits historischer Unwägbarkeiten greift. Ein begründeter Zweifel wird erhoben. Skizzieren wir also noch einmal die Bedingungen der Hemmung der Kraft in der Kunst der Gegenwart. Autonomie ist die Freiheit des Selbst. Im Geschmack zeigt sich Autonomie auf besondere Weise, da in Fragen des Geschmacks das Objekt selbst urteilt. Das Urteil wird über die Sache selbst gebildet. Dadurch gelingt es, die Freiheit des Selbst mit der Normaktivität der Anforderung der Sache, also Verfassung und Wert derselben zu vereinen. Das Urteil wird autonom gebildet, frei von Unterwerfung durch Gesetze. Geschmack ist jedoch nicht von Natur aus mitgegeben, er ist ein Kunstprodukt. Geschmack erfordert Bildung. Disziplinäre Herrschaft macht ästhetische Subjekte. Das Erfüllen der Normen sowie das Erkennen ihrer Gültigkeit ist Teil der Subjektwerdung. Das ästhetische Subjekt vereint Wille und Urteil mit der sozialen Norm als Ergebnis seines eigenen Bildungsprozesses. Es handelt sich dabei um einen Prozess der Bildung zu einem autonomen Scheinsubjekt. Die Disziplinierung des Subjektes ermöglicht die Freiheit des Urteilens in Fragen des Geschmacks. Unverhohlen zeigt sich in den westlichen Kulturen eine steigende Ästhetisierung der Lebenswelt. Um das bürgerliche Ideal der Autonomie des Subjektes einlösen zu können, bedarf es also eines ebenso starken Anstiegs der Maßnahmen zur Disziplinierung. Das Ergebnis wäre oder ist eine Horde der steten Vervollkommnung befähigter Scheinsubjekte. Die Autonomie jener Subjekte wäre gewahrt. Das einzige – präziser: Das einzige hier markierte Problem wäre oder ist der Verlust der Kraft der Kunst. Oder mehr noch: der Verlust des Wirkens der Kraft. Doch wir hätten nicht einen Verlust der Kraft in ihrer Gänze zu beklagen. Die Kraft als dunkler Mechanismus wirkt und würgt unaufhörlich. Doch die rauschhafte Entfesselung der Kräfte würde gehemmt. Und möchte man Menke folgen, tut sie das bereits. In seiner zweiten Argumentationsfigur zum Verlust der Kraft in der Kunst geht Menke in

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Anlehnung an Gilles Deleuze1 auf die Gestalt des Geschmacks im gegenwärtigen nachdisziplinären Kapitalismus ein: »Der Geschmack wird nun zur entscheidenden Voraussetzung für den Massenkonsum. Massenkonsum bedeutet nicht nur eine quantitative Steigerung der konsumierten Waren und konsumierenden Gruppen. Massenkonsum bedeutet vielmehr, daß die Ökonomie wesentlich darauf ausgerichtet und dadurch in Gang gehalten wird, daß massenhaft Waren produziert werden, die nur der Befriedigung solcher Bedürfnisse dienen, die allein für und durch diese Waren selbst hervorgebracht wurden.«2

Da die Bedürfnisse auf die Bedeutung der Ware für den Konsumenten gerichtet sind, können sie in einem immanenten Sinn als kulturell bezeichnet werden. Im Sinne der Theorie der Massenkultur nach Michael Makropoulos sind »das System des Massenkonsums und das der Massenkultur […] identisch«3. Eine Beschleunigung in der Produktion der Waren bedeutet eine Steigerung der Urteilsfähigkeit des Konsumenten. Geschmack avanciert für die erfolgreiche Teilhabe an der Massenkultur zu einem unverzichtbaren Bildungsgut: »Die Leistung des konsumistischen Geschmacks besteht in einer neuen Verknüpfung von Kreation und Adaption. Der konsumistische Geschmack ist ebenso kreativ wie adaptiv: Er ist durch seine Kreativität adaptiv. Die durch Massenkonsum definierte Ökonomie produziert beständig waren, für die es noch gar kein Bedürfnis geben kann. Das heißt hier Innovation: Hinausgehen über das als benötigt Geltende.«4

In der Produktion wird auf die Kreativität des Konsumenten gebaut und auf entsprechendes Marketing abgestellt, um ein möglicherweise in der Zukunft liegendes Bedürfnis zu wecken. Unüberschaubare Mengen an Innovationsfeldern der digitalen Welt sorgen für das Wecken der Bedürfnisse von übermorgen. Jene »kreative Leistung des Geschmacks« ist in der massenkonsumistischen Ökonomie zur »essentiellen Bedingung seines Funktionie-

1

Vgl. Deleuze: Postscriptum über die Kontrollgesellschaften.

2

Menke: Die Kraft der Kunst, S. 139 [Herv. i.O.].

3

Michael Makropoulos: Theorie der Massenkultur, München: W. Fink 2008, Kap. I und V.

4

Menke: Die Kraft der Kunst, S. 140 [Herv. i.O.].

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rens geworden«, damit ist der Geschmack nicht mehr länger Ausdruck eines sozialen Prinzips.5 Der gute Geschmack ist zum Alltäglichen aufgestiegen und zugleich degradiert. Der Geschmack hat mit seinem Bedeutungsgewinn etwas von seiner Werthaltigkeit eingebüßt. Die Begierde nach dem Produkt mit dem Ausdruck des besten Geschmacksvermögens herrscht über die Beurteilung der Sachen. Die Steigerung der kreativen Leistung des konsumistischen Geschmacks funktioniert damit nach dem Prinzip der Anpassung.6 Die Frage der Passung stellt sich nicht mehr aus der Perspektive der eigenen Lebenswelt, sondern das Leben wird der Sache angepasst. Während der ästhetische Geschmack im Genuss des Schönen der Selbstvergewisserung dient, regt der konsumistische Geschmack zur unablässigen Anstrengung einer Anpassung an die sich erneuernden Produkte an. Im konsumistischen Geschmack wandelt sich die Selbstreferentialität der gestalterischen Kraft in eine »Kreativität der Anpassung«7. Das Subjekt bietet sich selbst als Ware an. Dabei handele es sich schlicht um Arbeitskraft: »Das Außersoziale wird sozialisiert, zur Produktivkraft.«8 Umgekehrt werde damit die Herstellung und Aufrechterhaltung der Arbeitskraft zu einer außersozialen, sozusagen privaten Leistung des Individuums für dasselbe. Nun, worin begegnen sich dann ästhetischer und konsumistischer Geschmack, wenn es doch im ästhetischen um eine wenn auch verklärte Disziplin zur Autonomie geht? Kreativität und Anpassung machen das Subjekt zu einer nachgefragten Arbeitskraft.9 In diesem Sinne erweist sich das konsumistische Subjekt als nachdisziplinäres, denn anders als in der Disziplinargesellschaft sorgen nun Metafähigkeiten dafür, Originale zu entwerfen, und eine flexible Adaption an sich stetig verändernde Arbeitswelten bereitet auf die Markttauglichkeit vor. Jenes übt und zeigt man im Urteil des Geschmacks.10 In postmoderner Deutung ist jene Transformation des bürgerlichen in den konsumistischen

5

Vgl. ebd.

6

Vgl. ebd., S. 141.

7

Ebd., S. 142.

8

Ebd.

9

Vgl. Niklas Luhmann: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin: Duncker & Humblot 1999.

10 Vgl. Menke: Die Kraft der Kunst, S. 143.

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Geschmack ein Akt der Ästhetisierung. Erst durch die Umwandlung des ideologisch verklärten Objektivitätsanspruches als eine Art bürgerlichen Privilegs der ästhetischen Freiheit des Massenkonsums zeigt sich sein eigentliches ästhetisches Potential. Doch verklärt nicht seinerseits die industriell gelenkte Arbeitskultur die Idee einer ästhetischen Freiheit des egalitären Besitzes der Masse? Vielleicht ist der bürgerliche Geschmack unwahr, doch trifft es dann nicht ebenso zu, dass sich der konsumistische Geschmack seine Legitimität erschlichen hat? Natürlich muss das Versprechen eines bürgerlichen Geschmacksmodells scheitern, wenn es sich auf die Konstitution von Objektivität durch das einzelne Subjekt beruft. In der Negation ausgedrückt scheitert es jedoch nicht, da das Subjekt seinen Geschmack nicht durch seine eigene Reflexionsleistung zur Instanz der Objektivität auszubilden vermag. Würde man jener Argumentationslinie folgen, träfen die Leistungen der Ästhetisierung ebenso auf das Subjekt wie auf die der Masse zu und die Masse würde durch die Addition ihrer Reflexionsleistungen die Urteilsleistung des Subjektes übersteigen. Vielmehr liegt die mögliche Unwahrheit des bürgerlichen Geschmacks wie die des Massenkonsums in der Verklärung der Geschmacksbildung durch die postmoderne Programmatik. Was die Autorin hier anzudeuten versucht, ist eine notwendige Abkehr von einem Geschmack, der sich selbst gefallen will. Ja mehr noch: Die Theorie eines Geschmacks, der ein selbstgerechtes Urteilen als Möglichkeit einschließt oder gar provoziert, wie es in der postmodernen Theorie des konsumistischen Geschmacks der Fall ist, kann keine Transformation des ästhetischen Geschmacks sein. Ein derartiges Geschmacksmodell erhöht nicht die Akte der Ästhetisierung, es schließt sie vielmehr aus. Denn wie im Eingang mit Adorno bereits angedeutet, muss sich der Geschmack gegen sich selbst richten, gegen sein selbstgefälliges Schmecken. Denn nur in dem Wenden gegen sich selbst sei der Geschmack ästhetisches Vermögen.11 Adorno unternimmt damit eine Neubestimmung des ästhetischen Geschmacks, die sich abseits der Idee von Autonomie entfalten kann. Zudem wird damit das Ideal des Massengeschmacks ins Absurde verwiesen: Ein ästhetischer Geschmack ist für sich selbst unerträglich.

11 Vgl. Theodor W. Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, S. 191.

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Ästhetisches Urteilen als Akt des Widerwillens zu begreifen, lässt sich erst einmal als sympathische Idee für Anhänger einer Aporie des Urteilens an. Nur wie verhält es sich mit der Zuschreibung jenes ästhetischen Spiels zu den Vermögen. Das ästhetische Spiel des Geschmacks ist das Spiel der sinnlichen Kräfte. Es ist jenes Spiel, in dem die praktischen Vermögen und die ästhetische Kraft wirken. Entspringt doch der ästhetische Widerwille gerade jenem Wenden des einen Ausdrucks gegen den anderen, dem Grundprinzip der ästhetischen Kraft. Und genau deshalb ist eine Wendung des Geschmacks gegen die Selbstgerechtigkeit seines Urteilens überhaupt möglich: In dem Wirken der Kraft erkennt er sich selbst als ästhetisches Urteil. Die Flexibilität stellt nunmehr die eigentliche Leistung des Subjektes dar – eine selbst gewählte Leistung, durch das Geschmacksvermögen angeregt und stets neu befeuert. Der Geschmack wird dem ästhetischen Subjekt zum Verhängnis: In einer Welt der Erscheinungen wandelt der Geschmack das Scheinsubjekt zu seinem Subjekt. Das Subjekt erliegt den Urteilen seines geschmacklichen Vermögens. In der Konsumgesellschaft dient der soziale Sinn des Geschmacks dem Subjekt dazu, sich selbst als Ware anzubieten.12 In der Disziplinierung erlangt das Subjekt die Autonomie der Freiheit in der Bildung des Geschmacks – um den Preis der Selbstwerdung. Das ästhetische Subjekt existiert nur als scheinbares Subjekt. In der nachdisziplinären Gesellschaft bezahlt das Scheinsubjekt jene erworbene Freiheit der Autonomie mit der Autonomie seiner selbst. Nun ist der begründete Zweifel angebracht. Der Zweifel richtet sich nicht gegen die Konstruktion des Verlustes des sozialen Sinns des Geschmacks als solcher. Die Präsenz der Verwirklichung jenes Konstruktes ist unübersehbar. Der vorliegende Versuch einer Skizze zur Überführung der Gedanken von Zygmunt Baumann und Christoph Menke bis hin zu dem Verlust der Autonomie des Selbst ist ebenfalls nicht als Überspitzung zu le-

12 Zygmunt Bauman beschreibt in seinem Werk Leben als Konsum den Wandel unserer Gesellschaft, in der Konsumieren zur Bedingung für die soziale Teilhabe an der Gemeinschaft geworden ist. Attraktive Güter zu erwerben oder selbst zu produzieren wäre sogar so bedeutsam geworden, dass der Konsument selbst zur Ware generiert (vgl. Zygmunt Bauman: Leben als Konsum, Hamburg: Hamburger Edition 2009, S. 130).

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sen. Ebenso wenig würde die Autorin mitgehen, den Verlust der Kraft der Kunst im Sinne einer sich allgemein abzeichnenden Tendenz zu beklagen. Vielmehr möchte die Autorin etwas prüfen, einen Ausweg. Denn es sind doch in der strukturellen Analyse Exemplare ausfindig zu machen, die einen Ausweg andeuten. Vielleicht handelt es sich dabei um Freiläufer. Künstler, die sich weigern, den Preis zu zahlen – exotische Ausnahmen. Vielleicht zeigt sich hier aber auch ein Ausweg aus der Krise, die Rückeroberung der Autonomie des Selbst durch das Schmecken der Kraft. »In der Kraft der Kunst geht es um unsere Freiheit.«13 So schreibt es Menke. Die ästhetische Kraft ist das Dunkle, das Unerforschbare, Nichthermeneutische der Kunst. Die Kraft ist das andere der Vermögen. Kunst entsteht in dem Zusammenwirken der praktischen Vermögen mit der rauschhaft entfesselten Kraft – ein seltenes Ereignis. Ein geniales Kunstwerk zu erschaffen, ist daher ein Privileg weniger. Geschmack hingegen ist ein Vermögen, sinnliche Kräfte walten und urteilen zu lassen. Über das Vermögen jener ästhetischen Freiheit kann gesagt werden, dass es gebildet werden kann. Geschmack ist eine ästhetische und soziale Kategorie, grundsätzlich allen Menschen zugänglich. Wenn wir den Verlust der Kraft der Kunst beklagen, muss also zunächst differenziert werden, ob die Künstler den Zugang zur Entfaltung ihrer Kräfte verlieren, ihn gar zugunsten von etwas anderem ignorieren oder die Kraft in Ästhetisierungstendenzen der nachdisziplinären Gesellschaft nicht mehr herauszuragen vermag. Letztere Wirklichkeit ermögliche noch die Unterscheidung eines Versinkens kraftstrotzender Kunstwerke und dem Unvermögen, jene als solche zu erkennen. Der »Geschmack des Geschmacks« – dieser faszinierenden Wendung verdankt die Autorin den Ausweg aus der Krise des ästhetischen Subjektes.14 Wenn der Genuss am Schönen ein Schmecken bedeutet, die sinnliche Erfahrung der ästhetischen Freiheit, wie verhält es sich dann mit dem Schmecken der Kraft, dem Anderen der Vermögen? Kraft ist die exemplarische Instanz, in der Geschmack im Sinne der Genese der sinnlichen Kräfte zu den Vermögen nicht greifen kann. Es geht also nicht um bloßes genüssliches Schmecken, wenngleich jenes Thema des sinnlichen Urteilens nach einer unverzichtbaren Ode verlangt. Es geht um

13 Menke: Die Kraft der Kunst, S. 14. 14 Vgl. ebd., S. 138; siehe dazu auch Passivitätskonstrukte in diesem Buch.

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den Genuss, die Kraft, das Schmecken daran als letzte Instanz des Undisziplinierbaren. Das Wirken der Kraft ist immer eine Übertragung von Kraft. Der Genuss der Kraft kann nicht nur der erworbene Geschmack an der Kraft sein. Das Genießen der Kraft muss ebenso ein nicht bestimmtes Schmecken der Kraft sein – ein nicht gewollter Genuss der Kraft. Andererseits ist Geschmack das Anwenden sinnlicher Kräfte als ein praktisches Vermögen. In der Kunst, sofern sie als herausragendes Krafterzeugnis begriffen wird, können sich unbestimmte Erregung und bestimmtes Urteil begegnen. Da sich das Urteil auch jenseits der unmittelbaren Präsenz des Kunstwerkes einstellen kann, müssen sich Erregung und Urteil nicht begegnen, doch die Möglichkeit ist gegeben. Und mehr bedarf es für einen Ausweg nicht. Es geht um das Aufspüren einer Möglichkeitsbedingung für die Rettung des Selbst im ästhetischen Subjektivierungsprozess. Die Erregung der Kunst ohne bestimmtes Geschmacksurteil. Das ist von eigenem Wert. Es ist das pure Schmecken. Ein Plädoyer für die Kunst, aber nicht für das ästhetische Subjekt. Weshalb muss es gerettet werden? Da in dieser Argumentation keine Sozialtheorie zum Umsturz der Kontrollgesellschaft vorgeführt wurde, mag dieser Weg im Sinne einer ästhetischen Theorie der einzig gangbare zu sein – ein Weg durch die Ästhetisierung der Kraft. Die Linie verläuft über die Vereinigung des Disziplinierbaren mit dem Undisziplinierbaren in einer Welt der Nachdisziplinarität. Wobei Vereinigen nicht als Übereinstimmen gemeint ist. Die Vereinigung des Undisziplinierbaren mit dem Disziplinierbaren im Schmecken der Kraft meint das unaufhörliche Wenden des Einen gegen das Andere: das Aufleben der gestalterischen Kräfte.

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P RODUKTION

VON

P RÄSENZ

Im Geschmack der Kraft vereinen sich Ekstase wider Willen und ästhetische Bildung des Subjektes. Diese Schrift ist also das Plädoyer für die Bildung des Geschmacks der Kraft in dem Sinne, den ästhetischen Geschmack auszubilden und zugleich das Subjekt anzuregen, im Genuss der Kraft diese Bildung zu überwinden. Zu den Möglichkeitsbedingungen sollen die Überlegungen zur Produktion von Präsenz dienen.

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Kraft hält sich auf der Seite des unmittelbar Greifbaren auf. Würde man sie klassifizieren wollen, könnte man sie demnach am ehesten als präsente Beziehungen einordnen. Zuerst wäre demnach hier auf das zurückzukommen, was im Prolog bereits aufgefächert wurde, den Begriff der Präsenz. Auch hier den etymologischen Wurzeln folgend, soll Präsenz als das Greifbare aufgefasst werden. Etwas, das einem präsent ist, verweist in dieser Deutung zunächst auf ein räumliches Verhältnis. Jene Beziehung impliziert eine Unmittelbarkeit der Dinge für den Körper, sowie das Berührbare und Angreifbare des Körpers für die Dinge. Eine Beziehung, in der dem Philosophen als Künstler gesehen und umgekehrt die Dinge als transparente und unscharfe Ereignisse zugleich erscheinen. Das Gehörte, Gespürte packt ihn und er ergreift die Normen und Gesetzmäßigkeiten, die jenes Ding, jene Person zu entwerfen vermag, unmittelbar. Belegt der Künstler ferner ein ihm präsentes Ding mit einem Sinn, konzipiert er also eine Vorstellung davon, was dieses Ding im Verhältnis zu ihm selbst sein mag, vermindert er sogleich die Wirkung dieses Dinges auf ihn selbst.15 Der Künstler verstellt den immanenten Sinn des Gegenstandes. Produktion bezieht sich auf das Vorführen eines Gegenstandes im Raum. Auf der Bühne produziert sich der Schauspieler, eine Saite erklingt und die Stürmerin läuft sich frei. Die Produktion von Präsenz deutet auf das Auflösen und Intensivieren des Wirkens präsenter Gegenstände auf den Menschen.16 Versteht man also Produktion als vorführen oder nach vorne rücken, dann deutet die Wendung Produktion von Präsenz an, dass der Effekt der Greifbarkeit stets in Bewegung ist: »[…] die Rede von einer ›Produktion von Präsenz‹ impliziert, daß der von den Kommunikationsmitteln herkommende Effekt der (räumlichen) Greifbarkeit durch im Raum stattfindende Bewegungen zunehmender und abnehmender Intensität beeinflusst wird.«17

Wenden wir uns der Frage nach der Lehre in den Künsten zu, dann zeigt sich eben hier das angestrebte Vorhaben: Momente der Intensität anzure-

15 Vgl. Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik, S. 11. 16 Vgl. ebd. 17 Ebd., S. 33 [Herv. i.O.].

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gen.18 Nähe und Intensität wären demnach als Indikatoren für die Produktion von Präsenz festzuhalten. Im Konzertsaal, Othello von Chilly Gonzales lauschend, erschüttert es einen inmitten des zweiten Aktes. Unvermittelt schlägt er den Deckel der Klaviatur zu, öffnet sie sanft wieder und spielt weiter. Die Erschütterung rührt nicht von der Handlung als solche her. Denn diese ist fester Bestandteil des Stückes. Auch auf Solo Piano II ist sie deutlich zu hören. Es ist die plötzliche Intensität der Aktion. In jenen Augenblicken ungewöhnlich intensiver Präsenz zeigt sich die rauschhaft entfesselte Kraft des Klavierspielers. Die Kompositionen seiner Stücke sind fraglos aufregende architektonische Bauwerke, doch in den Genuss seiner unverhohlenen Präsenz gelangt man nur in einem Konzertsaal. In diesem Moment ereignet sich jene wundersame Mischung in den Affekten, in welcher der Künstler vom Rausch beflügelt dem Betrachter einen Moment der Intensität bereitet. In jenen Momenten der Intensität begreift die Betrachterin eines Kunstwerkes wie der Zuschauer im Stadion die Gesetzmäßigkeiten jenes Spiels. Eine Gewissheit über die neu entstandene Norm stellt sich ein. Momente der Intensität sind herausragende ästhetisch geformte Urteile. Das Entstehen und Vergehen von Ordnung wird im Augenblick der Produktion von Präsenz klar erfasst. Die Ausdrücke der Performationen sind leiblich spürbar, werden in der Berührung des Körpers in all ihrer Unbestimmtheit verstanden. Insofern stellt die ästhetische Unbestimmtheit des Menschen den begründeten Zweifel an der Möglichkeit einer Lehrkunst der Kraft dar. Die Produktion von Präsenz ist zugleich die Produktion von Normen. Jene Vollzüge eigener Normativität ermöglichen das Berührtwerden, ja das Erschüttern des Leibes im Angesicht der ästhetischen Kraft. Zugleich entgleiten sie damit in das Feld des Nichthermeneutischen. Eine Didaktik des Rausches also führt – wenn überhaupt von einem Weg die Rede sein kann – durch das Schmecken der Kraft. Didaktik ist damit endgültig nicht als Weg, sondern als Feld der ungewissen Möglichkeiten gedacht.

18 Vgl. ebd., S. 118.

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Die stete Orgie ist nicht möglich. Die Begründung wurde bislang in den Bedingungen des Entstehens der dionysischen Zyklen verortet. Nur wurde dabei vorwiegend auf die Bedeutung des Gewöhnlichen beziehungsweise der Dionysien des Gewöhnlichen eingegangen. Weshalb jedoch das vielenorts ersehnte Ausdehnen der Orgie nicht möglich sei, wurde nicht gesagt. Spannend ist auch die Frage, ob ein stetes Vertiefen in den Gegenstand, sofern es denn nicht unmöglich sei, auch eine stete Steigerung der Orgie bedingen würde oder schlicht ein Dehnen des Rausches in der Abwesenheit von Elementen, die den Einbruch in das gewöhnliche Verstehen ihrerseits wiederum unterbrechen, bereits ausreichen würden. Unglücklicherweise müssen wir uns bei diesen Fragen in tiefe Abgründe vorwagen. Es ist ein Wagnis in doppelter Hinsicht. Ein möglicherweise unmögliches, bestimmt aber seltenes Phänomen zu betrachten, zu dessen Wesen es gehört, dass es sich in der Abwesenheit des gewöhnlichen Verstehens ereignet, dessen Gehalt sich jedoch nur in dem Spiel und damit in jener Abwesenheit begreifen lässt, bildet eine Herausforderung. Zudem können in der Literatur kaum Indizien ausgemacht werden, die bei einer begriffslogischen Analyse weiterhelfen würden. Daher müssen wir uns in einer Doppelbewegung üben, was irgendwie zum Wesen des Spiels der Kräfte passt. In enger Verbindung zu dem gewöhnlichen Verstehen der Verwandlung desselben in der Orgie soll eine Annäherung an den Begriff der Freiheit jenes anderen Verstehens versucht werden. Die Freiheit der Kraft zu untersuchen, ähnelt in gewisser Weise dem Mythos der Betrachtung von Gorillas. Eine Annäherung an jene bedrohte Art ist nur möglich, wenn man Teil ihrer Gemeinschaft wird. Und wie in jeder ethnographischen Studie entfernt man sich nicht nur in dem Augenblick des Gewahrwerdens von seiner alltäglichen Verstehenswelt, man wandelt sich. Wenngleich sich die Logik des anderen Verstehens von der Logik des gewöhnlichen Verstehens unterscheidet,19 können doch die Bedingungen ihrer Freiheit als Orientierung dienen. In Quellen des Wissens entwickelt Andrea Kern einen alternativen Wissensbegriff. Anlehnend an Aristoteles, Immanuel Kant und Ludwig Wittgenstein konzipiert sie in systematischer

19 Siehe dazu meine Ausführungen zu der Freiheit von Norm, Gesetz und Zweck in Die Praxis der Kraft in diesem Buch.

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Analyse einen Begriff des Wissens als den Akt vernünftiger Erkenntnisfähigkeit eines denkenden Subjektes. Wenn Wissen, wie hier begründet, nicht mehr als analytische Einheit von Elementen verstanden wird, kann geklärt werden, wie jemand, der sich irrt, auch gleichwohl etwas wissen kann. Alle urteilenden Wesen sind durch das Faktum einer Fähigkeit charakterisiert, sich von dem Ideal der Erkenntnis leiten zu lassen.20 Zugleich sind sie in ihrem Bemühen anfällig für Irrtum.21 Das, was der Mensch für wahr hält, muss nicht tatsächlich wahr sein. Gegeben ist erst einmal lediglich das Ausüben der Fähigkeit des Erkennens. Der Mensch kann in seinen Begegnungen mit sich und der Welt kraft des sinnlichen Eindrucks Wissen erwerben. Die Bedingung der Möglichkeit seines Wissenserwerbes liegt darin, dass keine Umstände bestehen, die die Aktualisierung seiner Fähigkeit, durch sinnliche Eindrücke etwas zu erkennen, verhindern. Das Ausüben der Fähigkeit ist von dem Vorliegen günstiger Umstände abhängig. Damit ist nichts anderes gesagt, »als daß Wissen eine vernünftige Fähigkeit ist«22. Die Fallibilität ist ein Merkmal vernünftiger Fähigkeiten. Doch die Perfektion der Fähigkeit ist nicht empirisch, sondern begrifflich unerreichbar.23 Zur Freiheit der Vernunft kann damit gesagt werden: »Ein Akt, der das Resultat von Gründen ist, in deren Lichte das Subjekt diesen Akt als wahr erkennt, ist das Resultat einer bestimmten Art von Entscheidung: nämlich einer überlegten Entscheidung darüber, was zu glauben war. Und daß ein Akt das Resultat einer überlegten Entscheidung ist, heißt, daß das, was diesen Akt bestimmt, nicht etwa außerhalb des Subjekts dieses Aktes liegt, sondern seine Quelle im Subjekt dieses Aktes selber hat: Ein Akt, der einer überlegten Entscheidung entspringt, ist ein selbstbestimmter Akt.«24

Die Quelle der überlegten Entscheidung ist das Subjekt.

20 Vgl. Andrea Kern: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 368. 21 Vgl. René Descartes: Meditationen, hg. v. Christian Wohlers, Hamburg: Meiner 2009, Vierte Meditation. 22 Kern: Quellen des Wissens, S. 293. 23 Vgl. ebd., S. 292. 24 Ebd.

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In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen, einer möglichen Unverfügbarkeit vernünftiger Fähigkeiten. Denn begreift man Wissen im Sinne einer Fähigkeit des Subjektes, ist mithin die Frage aufgeworfen, inwiefern das Subjekt auch über diese Fähigkeit verfügen kann. Es stellt sich die Frage nach der Freiheit der Vernunft. Der Umstand, dass das Subjekt sich täuschen kann, einem Irrglauben unterliegt, wenngleich doch oder gerade da die sinnlichen Eindrücke ihm etwas anderes verraten, verweist auf eine gewisse Unverfügbarkeit der vernünftigen Fähigkeiten. Ist also das Subjekt zugleich auch im Besitz einer unüberwindbaren Unfähigkeit? Nein, die Unverfügbarkeit des Wissens besteht nicht darin, dass sich das Subjekt von dem Wahrheitsgehalt seiner Annahmen nicht selbst überzeugen kann. Vielmehr verweist dieser Aspekt darauf, dass Wissen die Fähigkeit eines Subjektes ist, welche das Subjekt nur ausüben kann, wenn – in der Negation ausgedrückt – keine Umstände vorliegen, die es daran hindern. Anders gesagt ist das Subjekt für das Gelingen der Akte seiner vernünftigen Erkenntnisfähigkeit auf bestimmte günstige Umstände angewiesen. Das bedeutet jedoch auch, dass ein Mensch bestenfalls zu einer fehlerfreien Ausübung seiner Fähigkeit gelangen kann, nicht aber über diese prinzipiell ungehindert verfügen. Denn, dass er sie unter gewissen Umständen fehlerfrei ausübt, ändert nichts an der prinzipiellen Anfälligkeit, in der Aktualisierung seiner Fähigkeit zu scheitern.25 Die Unverfügbarkeit des Wissens für das Subjekt bedeutet demnach keine unüberwindbar Unfähigkeit, sondern sie verweist umgekehrt auf die Möglichkeit der Prüfung des Wahrheitsgehaltes kraft der Aktualisierung seiner Erkenntnisfähigkeit. Wenn wir also jetzt mit allem gebotenen Vorbehalt hinsichtlich der Divergenzen in der Logik davon ausgehen, dass es sich mit der Freiheit der Kraft ebenso verhielte, dann dürfen wir an dieser Stelle zwei Aspekte markieren. Vorerst muss jedoch noch eine Verortung der Kraft skizziert werden. Ist die ästhetische Kraft ein anderes Verstehen, ein Akt des Subjektes, dann ist auch ihre Quelle im Subjekt zu verorten. Anders als das – nennen wir es – gewöhnliche Wissen des Subjektes ist das ästhetische Wissen nicht das Resultat überlegter Entscheidungen. Und zwar ist es das deshalb nicht, da das Urteilen selbst nicht einer bestimmten Norm unterliegt. Das ästheti-

25 Vgl. ebd., S. 335 f.

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sche Urteilen erfüllt ebenso wenig einen bestimmten Zweck oder unterliegt irgendeinem fremden Gesetz. Das Wirken der Kraft ist in diesem Sinne frei. Insofern ist dem Wirken der Kraft auch eine andere Logik inne. Nicht ein Abwägen bezüglich des Erreichens eines bestimmten Ziels begleitet den Prozess des Urteilens. Im Wirken der ästhetischen Kraft wendet sich ein Ausdruck gegen einen anderen. Jenes Wenden geschieht nicht in Form überlegter Entscheidungen, ebenso wenig ist es frei von Entscheidungen. Die Ausdrücke der ästhetischen Kraft sind unbestimmt im Sinne der Unbestimmbarkeit des Wirkens der ästhetischen Kraft. Anders als die Akte des gewöhnlichen Urteilens sind die Akte des ästhetischen Urteilens nicht in der dort gemeinten Weise selbstbestimmt. Auch unterliegen diese Akte nicht einer Bestimmung außerhalb des Subjektes, etwa einer dunklen Kraft des Universums, die das Subjekt heimsucht. Die Akte des ästhetischen Urteilens sind in ihrer Unbestimmbarkeit bestimmte Akte des Selbst.26 Wenn jenem anderen Verstehen selbstbestimmte Akte im Sinne ihrer prinzipiellen Unbestimmbarkeit zugrunde liegen, dann kann auch diese Tätigkeit als ein Fähigkeitskonstrukt gedeutet werden. Das ästhetische Wissen wäre damit keine Fähigkeit, die dem Subjekt auf gewöhnliche Weise zur Verfügung steht, da sich ihre Akte der Bestimmbarkeit und damit dem unmittelbaren Zugriff für das Subjekt entziehen. Doch auch wenn eine Instrumentalisierbarkeit der ästhetischen Akte ausbleibt, sind es doch Akte des Selbst. Das ästhetische Urteilen ist eine Fähigkeit des Subjektes. Nun kommen wir zu beiden Aspekten hinsichtlich der Freiheit der Kraft. Auch im Wirken der Kraft kann sich das Subjekt von dem Wahrheitsgehalt seines Urteils überzeugen. Eine Vertiefung in den ästhetischen Gegenstand ist möglich, gar der Steigerung bis zur Selbstvergewisserung fähig. Die Unverfügbarkeit der Kraft verweist darauf, dass diese eine Fähigkeit des Subjektes ist. Dem Gelingen des Wirkens der Kraft müssen gewisse günstige Umstände vorliegen. Auch das Gelingen des ästhetischen Urteilens bedarf einer gewissen Fallibilität. Die Fallibilität ist ein Merkmal ästhetischer Fähigkeiten. Das zweite Merkmal hinsichtlich der Freiheit der Kraft ist die prinzipielle Möglichkeit des Scheiterns der Aktualisierung seiner Fähigkeit. Auch das Wirken der Kraft – und man kann mit Blick auf die Bedingungen der

26 Siehe dazu die Ausführungen zur Bildung des Geschmacks, Kapitel Präsenzeffekte in diesem Buch.

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Entfaltung des Spiels sagen – ist besonders anfällig für das Scheitern. Angesichts der Stärke, die das Subjekt der Gegenwert seinen apollinischen Kräften zukommen lässt, ist das Zulassen eines Einbruchs in das gewöhnliche Verstehen ein seltener Umstand. Die Anwesenheit von gewohnheitsliebenden Kräften, die jenes Spiel der Kräfte ihrerseits zu unterbrechen vermögen, stellt somit eine ständige Bedrohung dar. Der prinzipiellen Unverfügbarkeit der Kraft stehen also noch die Versuchungen des überlegten Handelns zur Seite. Scheinbar haben wir es mit zwei Mechanismen zu tun, die der Freiheit der Kraft entgegenwirken. Tatsächlich bedeutet jedoch die prinzipielle Unverfügbarkeit der Kraft gerade ihre Freiheit. Während das Wesen der Freiheit der gewöhnlichen Vernunft darin liegt, dass ihre Akte bestimmte Akte des Subjektes sind, ist Freiheit der Kraft durch ihre Unbestimmbarkeit begründet. Die Unverfügbarkeit der Fähigkeit des Erkennens ist in beiden Fällen die Bedingung für die Charakterisierung des Wissens als Fähigkeit. Doch während im gewöhnlichen Verstehen dem Ideal der Erkenntnis entschieden hinterher gejagt wird, zieht sich die Möglichkeit des Spiels im Angesicht eines solchen Strebens abgeschreckt zurück. Nicht der Wille zur Vergewisserung treibt das Wirken der Kraft an, entgrenzt ihre Freiheit. Das erregende Spiel der Kräfte entzündet sich an der absichtslosen Begegnung mit dem ästhetischen Gegenstand. Die Freiheit der Kraft liegt in der Hingabe an ihre Unbestimmbarkeit.

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In The Empty Space spricht der Theaterwissenschaftler und Regisseur Peter Brook vom »tödlichen Theater«. Auf der Bühne sorgt nicht eine aufregende Idee allein für eine Erregung des Zuschauers. Die Figuren müssen diese Aufregung selbst spüren, sie müssen die Gegenwart der Idee sein. Verliert eine Figur die Idee, stirbt sie. Nur ist es schwierig, das Tödliche auf der Bühne zu orten, da es sich nur im Erleben selbst zeigt. So ist es dem Arzt möglich, »[...] auf der Stelle zwischen Spuren des Lebens und dem nutzlosen Knochensack zu unterscheiden, den das Leben verlassen hat. Dagegen fällt uns die Beobachtung viel schwerer, wie eine Idee, eine Auffassung oder eine Form den Übergang von Leben-

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digen zum Todgeweihten vollzieht. Es ist schwer zu definieren, aber dennoch kindlich leicht.«27

Es ist die Frage nach dem Unsichtbaren der Kunst. Das Unsichtbare ist zugleich dasjenige, was die Freiheit des Sichtbaren ausmacht. Ein Briefwechsel zwischen Schiller und Körner verrät uns die Bedingung der Freiheit: Nur etwas Selbstbestimmtes kann frei sein und damit auch frei erscheinen.28 Zeigt die Form Heteronomie in ihrer Erscheinung, sind wir versucht, den Grund außerhalb ihrer selbst zu suchen.29 In diesem Fall kann uns die Form, ihre Idee niemals frei erscheinen. Was zu der Frage veranlasst: »Was ist also Natur in der Kunstmäßigkeit?«30 Natur in der Kunstmäßigkeit, die Freiheit in der Kunst kann nur entstehen, wenn ihre Bestimmtheit aus ihr heraus geboren wird, die Kunst ihre Bestimmtheit selbst ist: »Eine Bewegung gehört zur Natur des Dinges, wenn sie aus der speziellen Beschaffenheit oder aus der Form des Dinges notwendig fließt.«31 Es handelt sich dabei um eine jener Arten von Freiheit, die man nicht durch eine bestimmte Art der Anstrengung erreichen kann. Die Freiheit der Bewegung, die Freiheit des Ausdrucks kann man nur zulassen. Etwas, das durch das Streben dahin gezeichnet ist, kann niemals Leichtigkeit zeigen.32 »Leichtigkeit ist nur in der Freiheit.«33 Die Freiheit ist ohne eigenes Wesen. Das Entstehen der Freiheit, ihr Sein gründet auf keiner Logik Der Mensch hat zwar die Freiheit, das Spiel der Kräfte zulassen zu wollen, nicht aber die Freiheit, diese Wahl auch

27 Peter Brook: Der leere Raum, Berlin: Alexander-Verlag 1983, S. 12. 28 Vgl. Friedrich Schiller: »Kallias oder über die Schönheit. Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner«, in: Klaus L. Berghahn (Hg.), Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart: Reclam 1999, S. 3-65, hier S. 17. 29 Vgl. ebd., S. 26. 30 Ebd. 31 Ebd., S. 39. 32 Vgl. Friedrich Schiller: »Über Anmut und Würde«, in: Klaus L. Berghahn (Hg.), Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart: Reclam 1999, S. 69-136, hier S. 102. 33 Roscher: Bewegung und Gestaltung, S. 32.

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wirklich werden zu lassen.34 Das Spiel zu wählen, ist ein Akt des Willens. Da das Spiel selbst aber nicht an den Willen gebunden ist, sich vielmehr in seiner Abwesenheit verwirklicht, zeigt jene Freiheit nichts anderes als die Existenz unseres Willens oder auch unserer Leidenschaften.35 Die Freiheit unseres Willens ist unbegrenzt. In der Frage nach der Gestaltung unseres Seins geht es also weniger darum, das Schicksal als vielmehr sich selbst zu besiegen.36 Das Theater setzt sich ständig der Gefahr aus, sich selbst zu zerstören. Figuren, Begriffe, Bilder und selbst, wenn es bloß eine Idee ist – diese Kunst arbeitet zumindest für gewöhnlich mit der Wiederholung. Ein Aufgang, ein Blickwechsel, ein Motiv wird kopiert, nur »vom Tage, an dem sie sich eingefahren hat, beginnt etwas Unsichtbares zu sterben«37. Das Anhängen an der Kopie, bedeutet zugleich ein Anhängen an der Vergangenheit oder gar dem Entwurf der Zukunft. Die Kopie des Fremden bedeutet den Preis der Gegenwart. Verliert der Akteur seine Gegenwart, verliert er mit ihr seine Freiheit. Dabei ist es unerheblich, ob jenes Fremde, an das er seine Präsenz verschwenden möchte, einmal seine eigene Gegenwart gewesen ist oder nicht. »Im Theater ist jede Form, die einmal geboren ist, sterblich«38, nur indem die Figuren ihnen Leben einhauchen, kann sie als lebendige Form wirklich werden. Ein Philosoph, der fühlt weist auf die Gefahr eines Sterbens des Gefühls hin.39 Nijinsky schreibt am Ende seiner Tanzkarriere, in Ahnung seiner Krankheit, er müsse den Menschen Gewohnheiten erklären, da durch sie die Tänzer aufhören würden, sich in die Situation einzufühlen, aus ei-

34 Vgl. Jean-Paul Sartre: »Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie«, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 3, hg. v. Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000, hier S. 761. 35 Vgl. ebd., S. 771. 36 Vgl. René Descartes: Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Französisch-deutsch, hg. v. Lüder Gäbe, Hamburg: Meiner 1997, 3. Abschnitt, 3. Regel. 37 Brook: Der leere Raum, S. 19. 38 Ebd., S. 20. 39 Vgl. Waslaw F. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, der fühlt. Die Tagebuchaufzeichnungen in der Originalfassung, Berlin: Berlin-Verlag 1996.

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nem tatsächlichen Empfinden, eine tänzerische Bewegung entstehen zu lassen. Natürlich ahnt Nijinsky zu dem Zeitpunkt seiner Niederschrift, dass man seine wundersame Art des Tanzens, insbesondere den von ihm choreographierten Faun nachahmen würde. Nijinsky liest in dieser Zeit Nietzsche, ist inspiriert von seiner leidenschaftlichen Hingabe an die Frage der schöpferischen Kräfte. Unter den ersten Anzeichen von Geistesgestörtheit verfasst er seine Warnung vor der Kopie, eine Ode an das Fühlen. Stanislawski alias Konstantin S. Alekseev entwirft auf der Grundlage seiner inszenatorischen Arbeit im Theater eine Methode des künstlerischen Schaffens auf der Bühne. Der Methode liegt die Idee eines »bewussten Schaffens« des Akteurs zugrunde, durch die er sich zu einem hochempfindsamen Instrument der eigenen Kunst ausbildet.40 Zur Niederschrift verwendet Stanislawski die Aufzeichnungen, die seine Schüler als Stundenprotokolle von den Proben anfertigten. Um die Skizzen in einen eindrucksvollen Kontext zu setzen, erfindet er einen Kurs in einer fiktiven Schauspielschule und ändert die Namen der Protagonisten. Das »System« Stanislawskis liegt dem Leser in Form eines Tagebuches vor, das ein gewisser Naswanow von seinem Unterricht bei dem Lehrer Torzow anfertigt. So erlebt Naswanow die ersten Proben als Wechselbäder des schöpferischen Rausches in den gelungen Momenten der Annäherung an die Figur des Othello und dem Scheitern bei der Wiederholung. Langsam wird ihm gewahr, dass er in der Anwendung von Kunstgriffen den Zugang zu einer Figur verliert.41 Naswanow entdeckt, wie ihn kleine Veränderungen in seiner Umwelt dazu anregen, seine Übungen anders anzugehen. In der nächsten Probe improvisiert er bereits beim ersten Zugang zu der Figur des Othello. Dann inspiriert ihm ein an den Proben unbeteiligter Freund, sich von seinen alten Vorstellungen von der Figur und seiner Orientierung an den gewohnten Umständen seiner Umgebung zu lösen. Der Schüler fällt in eine Art Hilflosigkeit. Er spürt die Haltlosigkeit auf der Bühne. Gleichzeitig weicht damit das erdrückende Gefühl des Zwanges zum Gelingen von ihm:

40 Eine ausführliche Rezeption der Methode findet sich in Roscher: Bewegung und Gestaltung drittes Kapitel, in dem Abschnitt Das Anregen eines Empfindens. 41 Vgl. Konstantin S. Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Berlin: Henschel 1999, S. 18.

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»Das berühmte: ›Blut, Jager, Blut!‹ brach ohne mein Zutun aus mir hervor, der Schrei eines Verzweifelten und Gepeinigten. Woher er kam, weiß ich nicht, es ist das ›nackte‹ Zulassen des Schreis, der sich dann aus dem vorbereiteten Schüler ›löst‹. ›Vielleicht empfand ich bei diesen Worten das verwundete Herz eines arglos Vertrauenden und fühlte aufrichtig Mitleid mit ihm, wobei ich mich deutlich an Putschins Auffassung des Othello erinnerte, die meine Gedanken und Empfindungen beflügelte‹.«42

Torzow würdigt diesen Augenblick als Moment der totalen Hingabe. Akteur wie Zuschauer seien von der gleichen Erregung seelischer Zerrissenheit auf der Suche nach etwas Furchtbaren gepackt gewesen. Jene Augenblicke könnten daher als Kunst des Erlebens gelten. In dieser Kunst ginge es darum, wahrhaft schöpferische Augenblicke heraufzubeschwören. Der Akteur erinnert sich nur wage daran, wie er sich in jener Szene die Lippen zerbissen hat und die Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte. Ein unwillkürliches Ergriffensein lenkte seine Bewegungen. Das Wirken der Kraft erscheint als unberechenbares Moment des Spiels auf der Bühne. Nicht anders verhält es sich bei Waslaw Nijinsky. Ungehemmte Leidenschaft beflügelt seine Bewegungen. Der Leichtigkeit schienen eine Zeit lang keine Grenzen gesetzt. Ein französisches Genie bezaubert das Publikum. Dann stürzt Nijinsky. Das Unberechenbare zeigt seine dunkelste Seite. Das Publikum ist schockiert. Inmitten der ersten Anzeichen von Geistesgestörtheit tanzt Nijinsky das letzte Mal.43 Stanislawski und Nijinsky teilen das Anliegen, einen Impuls oder gar eine Theorie zur Idee des Gefühls zu entwickeln. Erst wenn der Künstler das Drama auf der Bühne, die Form oder Figur wahrlich verspürt, würde das Ergriffensein von Kunst auf der Bühne möglich sein.44 Die Natur muss Einlass in die Bewegung finden. Und erst wenn das Bewegen ganz von Natürlichkeit durchdrungen ist, scheint es wirklich, ist

42 Ebd., S. 23 [Herv. i.O.]. 43 Vgl. Nijinsky: Ich bin ein Philosoph, der fühlt, S. 283. 44 Stanislawski führt dazu den großen italienischen Tragiker Tommaso Salvini, einen hervorragenden Darsteller von Shakespeare-Rollen an: »Jeder große Schauspieler muss fühlen, was er darstellt, und er fühlt es wirklich.« (Tommaso Salvini: »Einige Gedanken zur Bühnenkunst«, in: Artist (1891), S. 58; zit. nach Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, S. 383).

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die Idee das Sein des Künstlers. Überlässt man jedoch den ungeübten Künstler seiner Hingabe, läuft man Gefahr, dass sich die Gestaltung allzu weit von der ursprünglichen Idee entfernt. Nicht etwa, da das Wirken der Kraft, angeregt durch den Einlass der Natur, die Idee entgleiten lässt. Vielmehr besteht beim ungeübten Künstler die Gefahr, dass unausgereifte apollinische Kräfte in das Wirken des Dionysischen eingreifen. Gewohnheiten, Automatisierungen, schlichtes Unvermögen können das Spiel der Kräfte stören. Das ungehemmte Spiel der Kräfte bedarf eines geübten praktischen Vermögens. Stanislawski entwickelt daher die Methoden seiner »Psychotechnik«, damit in seiner »Kunst des Erlebens« jeder Augenblick der Rolle mit jedem Mal neu empfunden und verkörpert werden kann.45 Entscheidend ist jedoch, ob der Künstler sich in die Figuren einfühlt, wie es im Text beschrieben ist, oder ob er diese Bestimmung selbst ist. Die Figur eines Textes zu sein bedeutet, im Sinne der auf diese Figur zutreffenden Bezeichnungen in das Geschehen involviert zu sein. Zugleich ist alles, was Figur ist, auch Element im Text. Form und Material des Bezeichnens sind ineinander verwoben.46 In narrativem Text bestimmt die Bezeichnung durch eine Verknüpfung von Material und Form das Sein der Figur. Der Dramentext hingegen bestimmt lediglich das Sprechen und Handeln der Figur, lässt jedoch die Figur als selbstbestimmt handelnde auftreten.47 Im Drama werden die Bestimmungen von den Figuren in ihrem Handlungsvollzug selbst vorgenommen. Die dramatischen Figuren tun selbst, was die Bezeichnungen des Textes sagen. Sie bestimmen selbst wie ihre Bestimmung Wirklichkeit werden soll. Die Figuren werden gewissermaßen selbst zum Autor ihrer Figur. Weiter bezieht sich jener Gattungsunterschied des Dramas zum narrativen Text nicht nur auf die besondere Verbindung von Bezeichnungen und Bestimmungen. Menke verweist hier darauf, dass jene eigentümliche Bestimmung von Material und Form einer den handelnden Künstlern entzogenen Logik folgt:

45 Vgl. Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, S. 30 f. 46 Vgl. Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 55. 47 In Poetik betont Aristoteles mit Verweis auf die Gemeinsamkeit von Sophokles und Aristophanes auf das Nachahmen der sich Betätigenden im Drama (vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 3, 1448 a, S. 9).

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»Aber im Drama gilt jede einzelne dieser Bestimmungen für die Personen nur so, daß diese ihre Bestimmungen verwirklichen. Insofern ist die Seinsweise auch dramatischer Personen die der ›Existenz‹: Sie vollziehen selbst, was auf sie zutrifft. Nur existieren dramatische Personen nicht, wie das menschliche ›Dasein‹, in einem Spielraum von Möglichkeiten, sondern unter einem Gesetz der Notwendigkeit – allerdings, noch einmal: einer nur durch sie selbst vollstreckten Notwendigkeit.«48

Damit ist die Differenz zu Stanislawski markiert. Wenngleich er in seiner »Kunst des Erlebens« einige sehr wirkungsvolle Methoden entwirft, so geht es im Drama nicht um das Einfühlen in die Figur, sondern um die notwendige Bestimmung der Figur durch das Tätigsein des Künstlers.49 In ähnlicher Weise beschreibt Nietzsche den Unterschied von Einfühlen in etwas und Bestimmung der Figur, also ein Sein der Idee aus der Perspektive des Autors: »Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschafen umringt zu leben, so ist man Dichter; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker.«50

Und weiter beschreibt Nietzsche das »dramatische Phänomen«, in dem man sich selbst vor sich verwandelt sieht: Der epische Rhapsode würde nicht mit seinen Bildern verschmelzen, sondern sie wie der Maler vor sich sehen. Die Bilder sind außerhalb des Dichters, »hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur«.51 So sei die Dithyrambe eine Gemeinschaft an unbewussten Schauspielern, die sich auch untereinander als verwandelt ansehen: »Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst.«52 Nicht die Identifi-

48 Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 55 f. [Herv. i.O.]. 49 Peter Brook schreibt daher unter anderem entgegen der Theorie Stanislawskis: der Akteur würde seine eigene Materialität als Medium der Verkörperung einer Figur nutzen (vgl. Brook: Der leere Raum). 50 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, S. 69. 51 Vgl. ebd., S. 70. 52 Ebd.

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kation, das Einfühlen in eine fremde Figur bildet das Wesen der Verwandlung, die eine Verzauberung des Betrachters bewirkt. In der Verzauberung bewirkt das Dionysische die Verwandlung der Künstlerin selbst. Die Natur der Künstlerin wandelt sich und kehrt das Fremde in ihr heraus. Nietzsche spielt in seiner Untersuchung von Dichtung und Drama die Rolle des Autors an. Unter Einzug von Menkes Analyse der Bestimmungen des Dramas53 wollen wir nun eine Vertiefung jener für die Dramatisierung des Theaters bestimmende Logik der Wiederholung und ihre möglichen Brechungen versuchen. In den klassischen Dramen bedeutet für eine dramatische Person, ein Schicksal zu haben, Figur in einem vorgegebenen Text zu sein. Das Gewebe des Textes bestimmt ihr Sein. Dabei muss jenes Schicksal der dramatischen Person kein tragisches sein.54 Das Tragische an der Tragödie liegt an der bedeutungsvollen Verknüpfung der Handlungen der dramatischen Figur und ihrem Schicksal. Im Dramatischen an sich ist diese Verbindung nicht unbedingt vorgesehen. Ebenso kann es zu einer für die Figur überraschenden, da unvorhergesehenen oder ungewollten Wendung kommen. Wesentlich ist jedoch, dass das Schicksal der Figur von einem Text bestimmt ist. Dramatisch angelegt und doch in epischer Bestimmung verhaftet bleibt dagegen Leutnant Thomas Glahn von der Verknüpfung des Romantextes Pan von Knut Hamsun bestimmt. Der Jäger mietet sich in einer Hütte in den nordnorwegischen Wäldern ein. Hamsun erzählt die pan-theistisch vertonten Abenteuer aus der Perspektive Glahns. Neoromantisch stilisierte Naturbeschreibungen werden von kontrapunktisch dargereichten Einbrüchen brutaler Gewalt heimgesucht.55 In dem naturekstatischen Abenteuer taucht das Pan-Motiv als stereotypes Symbol für die Sehnsucht nach dem sinnlichen Leben und der phantasmatischen Existenz sexueller Unmittelbarkeit auf.

53 Siehe dazu Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, insb. das Kapitel Dramatische Existenz. 54 Nach Aristoteles bedeutet das schicksalhafte Widerfahren nur, einen »Umschlag vom Unglück ins Glück oder vom Glück ins Unglück« zu erfahren (vgl. Aristoteles: Poetik, Kap. 7, 1450 b, S. 27). 55 Siehe dazu Sophie Wennerscheids Interpretation »Bocksprünge. Hamsuns Pan« in ihrer Untersuchung »Close your eyes«. Phantasma, Kraft und Dunkelheit in der skandinavischen Literatur, Paderborn: W. Fink 2014.

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Die Figur des Pan erscheint vorerst beinahe beiläufig auf Glahns Pulverhorn. Glahn entzieht sich der Rationalisierung des Mythos. Ebenso wie die Tochter des Kaufmanns, dem die gemietete Hütte gehört und zu der Glahn eine spannungsgeladene Beziehung hat, möchte Glahn sich der phantasmatisch-stimulierenden Kraft hingeben. In Hamsuns Roman erfährt die Kraft eine Personifizierung, umgekehrt wandelt sich der Leutnant in Pan »und der ganze Baum erzitterte von seinem stummen Lachen, als er alle meine Gedanken mit mir durchgehen sah«56. Glahn ist nicht mehr nur von der triebhaften Kraft erfüllt, möchte sich der mythologisch überhöhten Natur und ihren Gesetzmäßigkeiten unterwerfen. Pan forciert in einer Art Subjektivierung der Vitalität die erotischen Ausschweifungen Glahns. Anders als es exemplarisch in der Figur des Ödipus zu finden ist,57 erscheinen hier die gewaltsamen Einbrüche nicht als Wendungen bewirkende Schicksalsschläge. Exemplarisch zeigt sich das in dem Erwecken des erotischen Begehrens durch Iselin. Eine im doppelten Sinne traumhafte Intensität erotischer Vitalität übersteigt im Akt die Grenzen vernunftbasierender Männerphantasien und wandelt sich zu einer »Form des Selbstgenusses, in der sich das Leben feiert«58. Ein Gelingen auf der Bühne in doppelter Hinsicht: »Und weil es das Leben selbst ist, das sich hier feiert, kann es auch nicht fehlschlagen. Der sexuelle Akt gelingt als Akt der vollkommenen Verschmelzung.«59 Wenngleich das subtile Grauen der Geschichte eine dramatische Bestimmung der Figuren nahelegt, so jagt einem doch vielmehr die dunkle Phantasie des Autors einen Schrecken ein, als dass der Umstand einträte, dass Glan schlicht Figur eines Dramas würde. Hamsuns Pan bewegt sich daher auf wunderbare Weise zwischen Drama und Epos. Ein nur grob umrissenes Bild eines zerschmetterten Körpers bewegt nicht zu emotionaler Rührung, die Unberührtheit Glahns angesichts des Todes der Geliebten verführt zu einer Distanz im Ästhetischen. Erst das ästhetische Verstehen des männerbündnerisch inszenierten Mordes erhebt das Geschehen zum Drama. Das Dunkle zeigt sich hier nicht als amoralische Instanz, das Dunkle ist Ausdruck eines Stilwillens. In Pan erlebt der

56 Knut Hamsun: »Pan«, in: ders., Samlede Verker, Band 2, Oslo: Gyldendal Norsk Forlag 1963, hier S. 345. 57 Vgl. Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 55. 58 Alt: Versuch über den Exzess, S. 116. 59 Wennerscheid: Close your eyes, S. 269.

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Leser genau das, was Karl Heinz Bohrer als »Effekt der Verwunderung«60 bezeichnet hat. Die Darstellung des Unmoralischen bewirkt eine »Affinität zum Effekt, der das Gewaltthema erst zur Gewaltphantasie macht«61. Die phantastische Kraft hebt sich mit Blick auf den zweiten Teil selbst auf, indem sie sich als »Exzess der Negativität«62 präsentiert. Die mystischtragische Stimmung erfährt durch die Er-Erzählperspektive eines versteckten Glahns, aus der er seinen eigenen Tod beschreibt; eine dramatische und ironisierende Wiederholung des ersten Teils. Der zweite Teil bedeutet Einbruch und Umkehr in die Parodie. Der Held wird ästhetisch entthront. Pan ist ein Drama, das sich in einer gewissen Weise selbst entdramatisiert. Der Rausch der phantasmatischen Kraft erfährt in der Dekonstruktion des Selbstbildes des Helden seine Negation. Das Auflösen des Effektes der Verwunderung bewirkt die ästhetische Dekonstruktion des Dramas. Der Autor zerstört seine zuvor aufgebaute Subjektivität und damit die Subjektivität der Figur. Hamsun gelingt diese Entmachtung der Interpretation der unmittelbar sinnlichen Naturekstase, ohne das Imaginäre an sich zu negieren. Der Einbruch in die Affinität zum Stil bedeutet lediglich das Misslingen der dramatischen Heldenfigur, nicht aber des Dramatischen in diesem Geschehen. Die Möglichkeit des ästhetischen Gelingens des Dramas bleibt erhalten, ohne erzählt worden zu sein. Die Figuren des Dramas verwirklichen in ihrem Handeln ihre Bestimmungen. Darin entsprechen sie dem wirklichen Leben und unterscheiden sich von den Figuren anderer Texte. Denn jene textuellen Figuren sind schlicht so, wie es der Text bestimmt, »wie es der Text über sie sagt«63, ohne erzählt worden zu sein. Das Gemeinsame der dramatischen und der textuellen Figur liegt in ihrem Schicksal, das durch das Spiel des Textes vorgegeben ist. Eben darin unterscheidet sich die Kunst vom wirklichen Leben. Das Spiel des Textes

60 Karl Heinz Bohrer: Imaginationen des Bösen. Zur Begründung einer ästhetischen Kategorie: Hanser 2004, S. 191. 61 Ebd.; zur Affinität zum Stil über die Darstellung des moralisch Verworfenen in Hamsuns Texten siehe Wennerscheid: Close your eyes, S. 262-273. 62 Ein Ausdruck, den Wennerscheid in Anlehnung an Slavoj Žižek gebraucht (ebd., S. 273). 63 Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 55 [Herv. i.O.].

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erscheint in der Wiedergabe des Spiels der Figuren. Die Figuren des Lebens sind frei von einem Verhängnis der Abbildung. Das Drama hat durch die Selbstbestimmung der Figuren eine Sonderstellung in den performativen Künsten. Das körperliche Aufführen im Sinne der Verkörperung einer Figur vor großem Publikum war das bestimmende Element aller Dichtkunst in Griechenland noch bis in das fünfte Jahrhundert und auch noch nach dem dramatischen Zeitalter.64 Das Drama stellt gerade durch seine Beziehung zu einem geschriebenen Text einen radikalen Bruch mit Ritus und Kult der Vorformen der Tragödie dar. Die Erfindung des Dramas ist daher eine »Gattungsrevolution« griechischer Dichtkunst.65 Erst der Textbezug macht die Tragödie zu einer dramatischen performativen Kunst.66 Der Text bestimmt »die Ontologie des Dramatischen«67, seine Verwebungen sehen die Seinsweise der Figuren und ihre Bedeutung in den Geschehnissen vor. Zugleich ist durch die Beziehung auf den Text die Rezeption der Zuschauer in gewisser Weise bestimmt. Die Gegenwart der Tragödie ist aufgrund ihrer Bestimmung durch den Text nicht einmalig. Vielmehr ist das Besondere des dramatischen Theaters der Tragödie, dass es an die Wiederholung gebunden ist. Umgekehrt zeigt sich die Bestimmung der Wahrnehmung der Rezipienten gerade in jener »Logik der Wiederholung«68. Die Logik der Wiederholung einer Tragödie unterscheidet sich fundamental von den Wiederholungen ihrer Vorformen. Rituelle und epische Vorführungen sind Wiederholungen, die in einer horizontalen zeitlichen Beziehung zueinander stehen. Ritual und epischer Ge-

64 Siehe dazu Jennifer Wise: Dionysus writes: the invention of theatre in ancient Greece, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1998, Kap. F. Jennifer Wise unternimmt die wohl umfassendste Darstellung des Einbruchs des Dramatischen in die griechische Dichtkunst. Die Überlegungen Menkes zur Ontologie dramatischer Existenz basieren auf Wise. 65 Siehe dazu Charles Segal: »Greek Tragedy. Writing, Truth and the Representation of the Self«, in: ders., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1986, S. 75-109. 66 Vgl. Charles Segal: »Greek Myth as Semiotic and Structural System and the Problem of Tragedy«, in: ders., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1986, S. 48-74, hier S. 65. 67 Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, S. 57. 68 Ebd.

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sang verwirklichen sich als Fortführung der vorherigen Praxis. Sie sind in diesem Sinne konservativ, folgen einer gewissen Tradition. Das dramatische Theater folgt dem Text, Skript oder gar den Skizzen eines Storyboards. Der Figur des dramatischen Theaters kommt daher ein anderer Charakter zu, ein neuer »Typus des Handelns«: die Subjektivität.69 Erinnern wir uns an Nietzsches Beschreibung des Dramatikers, der selbst nur den Trieb verspürt, sich zu verwandeln, wird uns das widersinnige Bestimmtsein der dramatischen Figur gewahr. Denn jener Text, an den die Figuren auf der Bühne gebunden sind, ist das Herausreden aus anderen Leibern und Seelen, zu dem sich der Autor getrieben fühlte. Der Selbstvollzug der Figur ist die Wiederholung des Selbstvollzuges des Autors. In Beziehung zu dem Text als Sprechen des Autors entsteht die Norm, das Maß für die Aufführung. Eben darin liegt die Begründung des Dramas als Exemplar der Gattung der Aufführungen. Die Instanz des Autors beschließt eine gewisse Macht einer Vorschrift. Indem der Autor konstitutiver »Teil der Ontologie dramatischer Existenz« ist, wird über das selbstbestimmte Handeln der Figuren auf der Bühne eine Macht der Vorbestimmung verhängt.70 Zugleich entzieht sich durch den Akt des Niederschreibens der Bezeichnungen der Figuren und ihrer Geschehnisse die personale Macht des Autors. Im Akt des Schreibens verwandelt sich die Macht des Autors eines Dramas in die selbstständige Macht der Idee. Die Subjektivität von Figur und Autor bedeuten nicht die Freiheit des dramatischen Theaters, sie ist für das Wirken und Wenden der Macht verantwortlich. Die Freiheit der performativen Akte des Dramas ist durch den Text gegeben und zugleich durch ihn begrenzt.71 Wenn wir uns der modernen Tragödie zuwenden, finden wir dort eine Entzerrung der Vorlage vor? Ist die Logik der Tragödie der Gegenwart eine andere? Gilt die Aussage Charles Segals, alle Tragödien bedürfen eines Textes, auch für moderne Tragödien? Wo liegt die Grenze zwischen einer vorbestimmenden Struktur, womöglich in Form eines Textes, die eine dop-

69 Vgl. ebd. 70 Vgl. ebd., S. 58 f. 71 Menke sieht die Doppelgestalt der Subjektivität nicht als Möglichkeit eines Vermögens der Freiheit sondern »als Schauplatz sich verselbstständigen Macht« (vgl. ebd., S. 58).

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pelte Subjektivität zulässt und einer Vorlage, deren Wiederholung keine Aufführung mehr ist? Ist also Freiheit in der Tragödie der Gegenwart möglich? Oder ist Freiheit gar in dem Spiel der Macht möglich? Vielleicht ist Freiheit auch nur genau dort möglich? Und gäbe es dann ferner auch in der klassischen Tragödie Freiheit? Wenn es eine Freiheit der Kraft gibt, existiert auch eine Freiheit in der Tragödie. Nur wäre das ebenfalls keine Freiheit der Tragödie. Die doppelte Subjektivität von Figur und Autor beschwören ein Spiel der Macht herauf. In diesem Spiel wendet sich die Selbstbestimmung der Figur auf der Bühne gegen die Selbstbestimmung des Autors. Und es ist nicht einfach ein Abgrenzen der einen Subjektivität gegenüber der anderen. In der Hingabe an das Fremde des eigenen Selbst überwindet die Figur auf der Bühne den Ausdruck der eigenen Subjektivität in den der Subjektivität des Autors und umgekehrt. Das Spiel der Tragödie entzündet sich an der Verwandlung der Vorbestimmung der Figuren in die Selbstbestimmung der Figuren auf der Bühne. Das Wirken der Macht ist die konstitutive Bedingung für die Freiheit der Tragödie. Die Form der Tragödie ist dabei unerheblich. Die Ausprägungen und Erscheinungsformen der doppelten Subjektivität sind verschieden, wesentlich ist das Zulassen des Spiels der Kräfte. Eine Freiheit der Kraft bedeutet eine Freiheit der Figur. Insofern diese Möglichkeit keine Möglichkeit des Textes ist, sondern eine Möglichkeit der Figur auf der Bühne, ist auch für die klassische Tragödie die Bedingung der Freiheit erfüllt. Natürlich haben die Personen auf der Bühne gewisse Vorlieben. Manche bevorzugen eine Struktur der Aufführung, festgeschriebene Eröffnung, Beziehungsgefüge oder Auflösungen. Die klare Orientierung ermöglicht es ihnen, sich der Idee hinzugeben und innerhalb dieses eigenen Rahmens die Bestimmungen der Subjektivität des Autors zu wandeln. Andere fühlen sich durch ein enges Muster gehemmt, gezwungen, erfolgreich Abbildung und Erfüllung des Maßes zu sein. Skizzenhafte Vorgaben spannen für sie den Möglichkeitsraum für das triebhafte Spiel auf. Wieder andere sind in beidem geübt. Die Freiheit der Tragödie ist nicht eine Frage der Bezeichnungen der Figuren, es ist eine Frage nach der Möglichkeit der Produktion von Präsenz.

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D AS E XPERIMENT

Anders als es wohl eine der Grundaussagen von Nietzsches Tragödie sein mag, möchte die Autorin hier nicht den zweifachen Weg der Ekstase als Möglichkeit zur Selbsterlösung des Menschen bewerben.72 Weniger, da der Autorin die religiöse Dimension fremd ist, die jener Vereinigung der beiden Kunstphänomene Nietzsche zufolge innewohnt; diese Frage scheint eher eine Frage des Individuums, denn der Struktur der Ekstase zu sein. Befreit man die Idee des Traumes und Rausches von den orgiastischen Zuschreibungen des Gottes Dionysos und den mythischen Epen Apollos, bleibt etwas Wesentliches: die Polarität der Kräfte. Wunderbare Exemplare bilden die Entstehungsgeschichten und Inszenierungen der Miniaturen Wintermezzo, Epigram in E oder Neroʼs Nocturne des kanadischen Komponisten Chilly Gonzales alias Jason Charles Beck. Die Grundstruktur besteht in der fortwährenden Wiederholung jeweils eines Motivs. Diese selbst auferlegte Stringenz beizubehalten und zugleich spannungsgeladene Brechungen zu erzeugen, zeigt in der Struktur des Stückes den Zwang der Unterwerfung. Die Klavierminiaturen lassen einen manischen Bastler erahnen, dessen Rohmaterial an Philip Glass und Steve Reich erinnert, welches dann in atemberaubender, berauschender Dynamik zu jenem ungewöhnlich schrägen und zugleich doch vertrautem Spiel generiert. In der Inszenierung verkörpert der Klavierspieler jenes Ringen auf eindrucksvolle Weise und wird auf diesem Wege selbst zu einem Exemplar der Entkörperung durch das Wirken der polarisierenden Kräfte. Ob man es an Gottheiten bindet oder die Kräfte schlicht als Manifestation visionärer Leichtigkeit und narkotischer Tiefe begreift, bedeutsam ist das Erleben der Kräfte. Belauscht man etwa The Mighty Mocambos bei ihren Proben, kann einem jenes Abdriften in ungeheure Leichtigkeit und Klarheit widerfahren, immer mit einer Note von dunklem Grau versehen. Umgekehrt verkörpert das Stück Mezzanine von Massive Attack für die Autorin ein wunderschönes Exemplar des Aufsteigens einer dunklen Triebkraft, einzig gelenkt durch den epischen Rahmen. Das Experiment nimmt die Begegnung mit zwei ausgewählten Exemplaren aus den Künsten der Gegenwart näher unter Beschau, uns das Ringen

72 Vgl. Sloterdijk: Philologie der Existenz, S. 202.

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der Kräfte hinsichtlich seiner möglichen Qualitäten, Quantitäten und Brechungen zu befragen. Strukturbedingt sind die Versuche nur als vage Annäherungen zu begreifen. Die beiden Skizzen bewegen sich zwischen institutionalisierter Kunst und Experimenten des Lebens. Die Dynamik jener Ausprägung zu umreißen, stellt die zweite Aufgabe dar. Abbildung 10: Joan Mitchell in ihrem Atelier

Quelle: art. Das Kunstmagazin Das Erleben jenes Kunstphänomens der polarisierenden Kräfte zeigt sich in dem intensiven Betrachten der Bilder einer erst spät beachteten Künstlerin der fünfziger Jahre. New York, die ersten Drip Paintings Jackson Pollocks

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entstehen, Willem de Kooning entwirft seine zerklüfteten Frauen, im Untergrund bildet sich hier ein Stil heraus, der später mit »Abstrakter Expressionismus« betitelt wird. Wenn in dieser Zeit mitten in der Nacht Bach oder Mozart aus einer Wohnung dringt, dann stört man lieber nicht. Es ist die Musik, zu der Joan Mitchell malt, den Rest der wirren Welt ausschließend, sich selbst mit diesen Klängen und Alkohol ins Dunkle ziehend: »Allein vor einer Leinwand, die größer war als sie selbst, umgeben von Farbdosen, tauchte Mitchell dann in die Welt ihrer Erinnerungen und Gefühle ein und übersetzte diese in Striche, Farben und Bewegungen. Immer wieder traktierte sie die Leinwand mit Pinselhieben, um sich zwischendurch, wie ein Boxer im Ring, wieder in sichere Distanz zurückzuziehen. Bei Morgengrauen sackte sie erschöpft in sich zusammen, schlief ihren Malrausch aus und ging, die derben Jeans noch mit Farbspritzern gesprenkelt, gegen Mittag aus dem Haus. Bis die Nacht zurückkam und mit ihr Bach, Mozart und der unbändige Drang zu malen.«73

Abbildung 11: Joan Mitchell, Ladybug 1957

Quelle: art. Das Kunstmagazin

73 Michael Kohler: »Im Rausch der Malerei«, in: art. Das Kunstmagazin (2015), S. 20-31, hier S. 26.

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In das Dunkle, Undurchsichtige dringen, vielleicht ebenso durch die Musik angefeuert, ordnungsstiftende Ströme ein. In dem einen Augenblick sieht man in Ladybug nur dicke Pinselstriche mit tiefem Blau, Dunkelrot, verwaschenem Grün und dazwischen dünnere Striche mit aufgehellten Farben, hier und dort etwas Ocker. Wo ist der Käfer? Die Institution rät, siehe die Landschaft. Nichts geschieht, der ästhetischen Freiheit sind Fesseln angelegt. Im nächsten Augenblick springt einen der Sommer mit warmer Erde, klarem Himmel und einem furchtbaren Gewimmel von Insekten an. Es duftet. Allmählich ist es, als steigt man in das Bild hinein, hüpft wild herum, formt mit den Beinen Figuren in der Luft. In dem eigenen Bewegen scheint sich alles zu ordnen. Irgendwann verblasst das innere Bild wieder. Müde tritt man aus Ladybug heraus. Das Werk erhält seine ästhetische Freiheit wieder. Die zweite Szene unterliegt der Konnotation einer Aufführung. Auf der Bühne müssen die Kräfte schon deshalb miteinander ringen, weil die Choreographie gewisse Schranken vorsieht. »Die Freiheit der Kunst wird mit dem Zwang zur Kunst bezahlt.«74 Selbst ein reines Improvisationsstück bleibt eine Aufführung, jener tragische Raum, in dem Künstler und Zuschauer sich einfinden, vielleicht das Skript über Bord werfen, Plätze tauschen, doch es bleibt die Absicht des Schaffens von Kunst, des Heraustreibens der bildnerischen Kräfte. Wobei jener Raum zwar bei Nietzsche ein tragischer ist und sein muss, in einer Deutung des Menschenlebens als etwas anderes denn von Leiden durchzogenes, muss er das nicht sein. Was dieser Raum jedoch sein muss, ist ein dramatischer. Wenn das Epos es nicht hergibt, auch ein Drama zu sein, dann suchen die letzten schöpferischen Kräfte vergeblich nach ihrem Gegenspieler. Das Ergebnis ist eine Kraft, die sich nicht gegen ihren eigenen Ausdruck wenden kann – eine siechende Kraft. Natürlich werden derartige Stücke geschrieben, ja geradezu darauf ausgelegt, das Düstere auszublenden. Auch werden Statuen gemeißelt, Stadthäuser geplant, die von schön anmutender Begrenzung nur so strahlen. Natürlich sind jene Stücke schön anzuhören, natürlich sind sie – zumindest in diesem Modell – keine Kunst. Es fehlt der Zwang. In der reinen Leichtigkeit ist keine katharsische Kraft, die sich dem Traume unterwerfen muss. Nicht anders zeigt sich eine leere Präsentation. Leer an Ausdruck, denn der

74 Sloterdijk: Philologie der Existenz, S. 205.

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Ausdruck nährt sich von den widerstrebenden, sich ersetzenden Kräften. Nicht anders verhält es sich, wenn der Schauspieler mit sich alleine ist. Nur fehlt hier der Zwang zur Unterwerfung der obszönen Leidenschaften unter der Herrschaft der geordneten Symbolisierungskräfte, insofern die ordnende Kraft nicht herausgefordert wird. Und damit beantwortet sich auch die noch offene Frage nach dem, welcher Art die Beziehung zu einer Sache beschaffen sein muss, um ihren Beitrag zu einer höheren Kultur zu erbringen. Abbildung 12: William Forsythe, The Fact of Matter 2009

Photographie: Dominik Mentzos

Umgekehrt zu dem Betrachten der Werke Joan Mitchells verhält es sich mit dem Durchschreiten der Bühnenbilder von William Forsythe, die der USamerikanische Choreograph und Tänzer als begehbare Rauminstallation übersetzt. In The Fact of Matter (2009) hängen zahllose Turnringe in unterschiedlichen Höhen von der Decke. Das MUSEUM FÜR MODERNE KUNST in Frankfurt präsentiert 2015/2016 diesen Raum mit der Aufforderung an die Besucher, den Raum zu durchqueren, ohne den Fußboden zu berühren. Der Betrachter wird zum Akteur. In einem anderen Raum hängen Dutzende von Pendeln. Ohne die Pendel zu berühren, soll sich die Besucherin ihren Weg durch die Installation bahnen. Ebenso die Installation Nowhere and Everywhere at the Same Time (2005) kann hier erlebt werden, in dessen Ordnung man selbst das Dunkle, Unwirsche bringt.

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In jener Installation scheinen die obszönen Kräfte zügellos walten zu können. Doch das mag nur der betrachtende Zuschauer für einen Moment so sehen. Die handelnde Zuschauerin ist ergriffen von der Freiheit der Kunst, die sich erst dadurch, dass sie Kunst ist, in ihrer Unfreiheit offenbart. Abbildung 13: William Forsythe, A Volume 2015

Photographie: Dominik Mentzos

Vielleicht zwei Körperlängen von der Öffnung entfernt ist man ins Dunkel der Höhle eingetaucht. Über einem schwebt ein riesiger Kubus. A Volume, within which it is not Possible for Certain Classes of Action to Arise (2015) ist dafür konzipiert worden, den Verlust der Bewegungsfreiheit erfahrbar zu machen. Unter dem maßgeschneiderten Bauwerk passiert dann etwas ganz anderes. Der Blick wandert nach außen. Zwei Beine laufen den Gang entlang. Auf einmal verharren sie. Die Hände erfasst das Verlangen, diese Beine zu greifen, sie mit hinabzuziehen in das Dunkel der Höhle. Langsam zum Licht kriechend sieht man immer wieder die Bewegung des Hinabziehens vor sich: ein Leben zu zweit in der Höhle. Irgendwann ist es, als seien diese Beine schon da, hier im Dunkel. Nur noch zwei Züge, dann hat das Sehnen ein Ende. Mit einem Male treten die Beine einen Schritt von der Öffnung weg, ein grinsendes Gesicht kommt zum Vorschein. Ein Selbstexperiment erfährt seinen Einbruch durch die Institution der Kunst.

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Nun will nicht ausgeschlossen sein, dass sich so manchen Orts in der Skizzierung der Exemplare die Ebenen der Betrachtung mischen. Einmal versucht die Autorin die beiden Wege der Ekstase auf der Struktur des Kunstwerkes festzumachen, ein anderes Mal deutet sie das Wirken der polarisierenden Kräfte in der Inszenierung und wieder anders zeigt es sich ihr im Erleben des Zuschauers. Das ist kein Zufall. Daher bedarf es des Sortierens der Zustände der ästhetischen Freiheit. Um jedoch die Momente des Gelingens nicht nur formal, also hinsichtlich des Wirkens der polarisierenden Kräfte zu bestimmen, sondern ebenso ihre Verortung zwischen Leben und Kunst markieren zu können, muss das Gelingen in aller Konsequenz in Frage gestellt werden. Nicht von der Philosophin, an dieser Stelle ist es die Künstlerin, die zweifeln muss. Der Zweifel am Gelingen ist die Bedingung zur Realisation der Kunst im institutionellen wie privaten Kontext. Genauer gesagt ist es der Zweifel an sich selbst in Verbindung mit der »Treue zur Gegenkraft«75, der die Bedingung des Entstehens von Kunst darstellt. Menke vertieft sich in Beziehung zu Nietzsches Wagneranalyse76 in dessen tragische Gestalt des Tannhäuser. Die Figur des Tannhäuser übt diese »Treue zur Gegenkraft« in den Versuchen des Singens. Nur im Nichtwissen des Gelingens vermag er zu singen.77 Das Tragische des Tannhäuser begründet sich nicht im Nichtkönnen des Singens, sondern darin, dass er jene Treue zur Gegenkraft zwar in Beziehung zu seinem Singen aufbringen kann, nicht aber in Bezug zu sich selbst in seinen alltäglichen Lebenskontexten. Die durch Nietzsche explizierte Treue zu sich selbst ist kein oder noch kein Akt der Vergewisserung der eigenen Bestimmung. Es ist eine Treue zur Gegenkraft in einem selbst, die Bedingung des »Selbstexperiments«78: »Nur derjenige kann und nur derjenige braucht mit sich selbst zu experimentieren, der der Kraft treu ist, die in seinem Handeln gegen sein Können wirkt und damit dessen Gelingen zu einer radikal offeneren Frage macht.«79

75 Menke: Die Kraft der Kunst, S. 102. 76 Siehe dazu Friedrich Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth, Der Fall Wagner, Nietzsche contra Wagner, hg. v. Martin Gregor-Dellin, Stuttgart: Reclam 1991. 77 Vgl. Menke: Die Kraft der Kunst, S. 102 f. 78 Ebd., S. 102. 79 Ebd.

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In der Übung, sofern sie ernsthaft als Versuch geachtet wird, kann sich das Nichtwissen des Gelingens beweisen. Die Akzeptanz eines gewissen Lassens des Ungewissen stellt die Bedingung der Möglichkeit des Gelingens von Kunst dar. Worin ereignen sich jene Selbstexperimente? Ebenso wie Wagner auf die Kontinuität der Aufführung seiner Kunst auf dem Hügel gesetzt hat, leisten es die Museen für die plastischen Werke, Hallen für Klanggebilde und Fabriken für Körperinstallationen. Der Kunst wird eine Möglichkeit der Präsentation gegeben, eine Stätte ist bereitet, eigens für diesen Zweck vorgesehen. Nur wie begegnen sich institutionalisierte Kunst und Selbstexperiment des Künstlers? Anders als Tannhäuser unabwendbar an der Suche nach einer ästhetischen Lebensweise scheitert, die seiner ästhetischen Freiheit in der Kunst entspricht, konzipiert Nietzsche den Entwurf für ein Leben im Experiment. Das Scheitern des Tannhäuser ist vorbestimmt, da die Idee einer Suche nach einer ästhetischen Lebensweise, welche von der Möglichkeit und nicht der Ungewissheit des Gelingens geleitet wird, zum Scheitern verurteilt ist. Nimmt man jedoch das Leben selbst als Versuch an, ist von der Unmöglichkeit des Gelingens, eines Lebens mit der Kunst überzeugt, ist seine Möglichkeit gegeben. Die Institution und das Experiment stellen die beiden entgegengesetzten Weisen dar, wie Kunst zur Geltung gebracht werden kann.80 Die Beziehung von Institution und Experiment ist nicht nur eine Frage der räumlichen Nähe, vielmehr konstituieren sich die beiden Weisen der Präsentation von Kunst gegenseitig. Die Institution versieht die Kunstwerke mit ihren uneigenen Bestimmungen. Die Präsentationsform des Kunstwerkes bestimmt eine neue Perspektive auf das Werk. Die Umgebung des Werkes, seine Platzierung, der Zeitraum seines Erscheinens bestimmt plötzlich die Werthaftigkeit der Kunst: Die Institution »entästhetisiert die Kunst; sie beraubt sie der ästhetischen Freiheit«81. Exemplarisch zeigt dieses die vorangestellte institutionelle Rahmung der Phänomenskizze zu Joan Mitchell und William Forsythe. Während die Institution die ästhetische Freiheit aus dem Kunstwerk hinausdrängt, es zu einem bloßen Gefühl des Besuchers bestimmt, verhält es sich bei dem Experiment gerade umgekehrt: das

80 Vgl. ebd., S. 104 f. 81 Ebd., S. 104.

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Experiment drängt die ästhetische Freiheit in das Leben. Darin besteht das Entgegen jenes Verhältnisses. Das Paradox dieses Verhältnisses ist nun, dass beide Weisen der ästhetischen Freiheit einander brauchen. Das Experiment bedarf der Differenz des Lebens zum ästhetischen Zustand, da es andernfalls nur ein barbarisches Fest sei, nicht aber eine ästhetische Bestimmung erhielte. Ohne die Fuge der Institution könnte die Künstlerin ihrem Experiment nicht treu sein. Umgekehrt muss die Institution eine experimentelle sein, sie muss die Freiheit zulassen. Experiment und Institution stehen also präziser in einer paradoxen Beziehung zueinander. Ebenso wie die installativen Werke William Forsythes das Selbstexperiment provozieren. Vielleicht sogar so sehr, dass sie wieder eine Umkehrung des Vertiefens in ein Experiment anregen, das nach einer Differenzbestimmung durch die Institution sucht. Wenden wir uns am Ende noch einmal dem Zweck jener Suche nach Formen der Realisation der ästhetischen Freiheit zu. Ekstasen bedürfen des Momentes der Intensität. Daher muss zum Einen eine Art von Nähe, von Präsenz der Sache gegeben sein. Sei es, wie Gumbrecht es postuliert, in der greifbaren Nähe des Gegenstandes oder wie es erweitert gefasst werden könnte: in der gefühlten Nähe. Denn auch Erinnerungen an etwas einmal Präsentes können eine Produktion von Präsenz in Gang setzen. Dem Anstoßen der Einbildungskraft sind dabei keine Grenzen gesetzt. Wobei das tatsächliche Vorführen des Gegenstandes gewöhnlich die Effekte der Präsenz weit aus eher oder zumindest leichter heraufbeschwören kann. Ob wir es in der Suggestion mit einer anderen Qualität oder Quantität zu tun haben, lassen wir an dieser Stelle noch offen. Die Präsenz des Kunstwerkes ist eine Bedingung der Ekstase. Weniger als Bedingung denn als Herausforderung ist die Struktur des Kunstwerkes zu benennen. Denn das Dramatische kann sich durch den Mitvollzug der Struktur des Stückes ereignen wie in der Beziehungsgestalt zur Sache selbst oder zu den Handlungen eines anderen Menschen seine Ursache haben. Wagen wir jedoch für einen kurzen Moment einen Zweifel. Wäre es nicht vielleicht doch möglich, dass es nur eine treffende Beschreibung der griechischen Tragödie ist, statt von einem zweifachen Weg zur Ekstase auszugehen? Entfernten wir uns von der Bühne, gäbe es dann nur die eine Kraft, die alles in uns verzehrt? Ist es überhaupt möglich, sich von jenem tragischen Raum zu entfernen? Worauf gründet sich genau die angenom-

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mene Grundstruktur der widerstrebenden Kräfte, die sich nicht ohne einander, nur durch ihr Versprechen, sich auf die jeweils andere einzulassen, überhaupt entfalten dürfen? Wenn man mit Sloterdijks Rezeption geht, dann gründet nach Nietzsche das Übel in der von der Aufklärung als moralische Autonomie des Subjektes bezeichneten Selbsttäuschung.82 Um sich selbst zu ertragen, brauche der Mensch die Illusion der Freiheit von der bloß leidenden Natürlichkeit. Vermutlich erschließen sich dem Leser jene Gedanken, entbinden sie ihn doch endgültig von der Ausflucht, Nietzsches Lehre »von der ästhetischen Rechtfertigung des Lebens« sei doch hoffentlich nur ein »Frivolitätsprogramm«:83 »Vielmehr ist sie einer der ernsthaften Versuche – vielleicht der einzige aussichtsreiche –, die moralische Situation der Moderne zu denken, ohne auf den höheren Schwindel einer Neuen Moral hereinzufallen. Die Ernsthaftigkeit dieses Versuchs verbindet sich mit der Kühnheit des Angriffs gegen den neuzeitlichen abstrakten Subjektivismus.«84

Damit sind zwei Fragen aufgeworfen: Die erste lautet: Gehen wir mit der Grundannahme? Und die zweite: Verfolgen wir auch einen therapeutischen Ansatz oder geht es hier nur um eine Strukturbeschreibung? Würden wir auf so etwas wie Bildung hinauswollen, wie ginge das, ohne die von Sloterdijk angeprangerte »neue Moral« aufzuwerfen? Und wäre dieses Unterfangen ferner möglich, ohne auf einen abstrakten Subjektivismus hereinzufallen? Vorwegnehmend kann erst einmal gesagt werden: Ja, die Autorin geht mit der Grundannahme Sloterdijks. Der Mensch braucht eine ästhetische Rechtfertigung des Lebens. Der Mensch braucht die Illusion der Freiheit. Jene Idee einer Freiheit sucht er im Ästhetischen, da er dort von ihr gekostet hat. Nicht sich selbst sucht er in der Entfaltung der Kräfte zu überhöhen. Die Freiheit des Menschen – vielleicht die einzige, in der er als Subjektwesen ganz von den Zwängen seiner Subjektivität lassen kann, ist eine ästhetische.

82 Vgl. Sloterdijk: Philologie der Existenz, S. 200. 83 Ebd. 84 Ebd.

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Nun, es ist ein Leichtes, die Illusion eines Genius zu erzeugen. Sei es auf dem Kunstmarkt, der für die Kunst der Gegenwart mittlerweile selbst die Werthaltigkeit eines Werkes bestimmt, oder gar gegenüber dem Künstler selbst – die Subjektivität eines Genies zu entwerfen ist leicht. Dagegen ist es unmöglich, einen tatsächlich unmenschlichen, einen übersubjektiven Akt heraufzubeschwören. Unvermeidbar kommt die Frage nach der Bildung ins Spiel. Der Versuch, eine Idee von der Bildung des Geschmacks zu entwerfen, ohne auf eine neue Moral hereinzufallen, zeigt die Ode an das Schmecken.

VII Ode an das Schmecken »Und ihr sagt mir, Freunde, daß nicht zu streiten sei über Geschmack und Schmecken? Aber alles Leben ist Streit um Geschmack und Schmecken.« FRIEDRICH NIETZSCHE: Also sprach Zarathustra

Manchmal überkommen einen Momente der Verzückung, die dann allmählich, wenngleich auch unaufhörlich, in Momente des Erschreckens, ja des Angewidertseins abdriften, während doch zugleich das Liebreizende des Verzückens, ihnen noch ebenso innewohnt. So, wenn man einen Granatapfel pflückt, jene pralle Frucht, deren innere Struktur die Anmut der Perlen des Weiblichen verkörpert. Man rollt sie sanft zwischen Daumen und Zeigefinger, dann beißt man hinein und schaut sie erneut an. Sie haben es nie getan? Dann rate ich Ihnen, es zu versuchen. Wenn Sie Glück haben, erblicken Sie in dem Augenblick der Wiederbeschau einen roten Tropfen, er rinnt an Ihrem Zeigefinger entlang, als hätten Sie sich in den Finger geschnitten. Dann lecken Sie ihn ab, er schmeckt köstlich. Aus dem Saft tritt plötzlich eine Note von Eisen hervor, rasch schlingen Sie weitere Kerne hinunter. Die gebrochene Frucht in Ihrer Hand erscheint als das aufgespaltene Gewebe des Endes jener Extremität. Im Genuss dieser Frucht sehen Sie sich selbst als genießendes Wesen in dem Verwobensein mit eben dieser wunderbaren Frucht. Nach einer Weile sind Sie wieder einfach nur ein Mann, eine Frau, der oder die einen Granatapfel isst. Noch während ich die letzten Worte zu Papier bringe, sehne ich mich wieder an den Anfang zurück. Den Augenblick des Abpflückens, der be-

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reits alle weiteren enthält. Dann besinnt sich die Autorin wieder auf die Aufgabe, die mit dieser Schrift verbunden ist. Daher kann es nicht anders sein, deshalb muss die Autorin diese Umbrüche niederschreiben. Doch dazu später mehr, vorerst möchte sie sich dem Genuss hingeben, Widerwillen, gar Ekel erzeugen und beides zusammen. Vor langer Zeit habe ich eine wunderbare Anekdote des Weinliebhabers Harald Klöcker gelesen. Jener hatte seit Jahren davon geträumt, einmal einen der besten Tropfen der Welt zu schmecken, einen Vega Sicilia Único. Eines Tages bekommt er bei einem Besuch überraschend eine Flasche jenes exklusiven Verschnittes geschenkt. Überglücklich und voller Vorfreude auf jenes Fest des Schmeckens, das ihn wohl erwartet, bewahrt er die Flasche sorgsam in seinem Hotelzimmer auf. Und wie sich der geübte Leser denken kann, gerät das kostbare Geschenk durch einen Akt der Verwechslung in die Hände der Putzfrau, die jenes Präsent mit Freude ihrem Mann weiterreicht. Dieser setzt den guten Tropfen seiner Pokerrunde vor. Der Wein hätte den Herren wohl gut geschmeckt, bedankt sich am Ende die Putzfrau bei dem verzagten Weinliebhaber. Das Schmecken ist so eine wundersame Mischung zwischen Traum und Rausch. Um jedoch in ungeahnte Höhen des Verzückens zu gelangen, ohne in die Tiefen des Niedergeschlagenseins zu geraten, ist der Erwerb des feinen Geschmacks1 unumgänglich. Und dabei wird es gleich sein, ob ein Wein verkostet, ein Konzert besucht oder ein Gebäude betrachtet wird. Erst durch das bestimmte Anregen der sinnlichen Vermögen kann sich ein feiner Geschmack bilden, die Knospen können sprießen und sich schließlich öffnen. Wärme, Geruch, die Struktur der Farben in ihrer Pracht wie abgrundtiefen Hässlichkeit können aufgenommen werden. Wenn ein Mensch in Beziehung zu einer spezifischen Sache gelernt hat, die feinen Unterschiede wahrzunehmen, dann ist jenes Können Fluch und Segen zugleich. Zwar reicht es nicht, einmal von den guten Früchten zu kosten, doch das Prinzip ist dasselbe. Wenn sich erst einmal das Erkennen ereignet hat, ist da kein Weg zurück. Und solange ein Liebhaber der Künste

1

Vgl. Volker Schürmann: »Bildung der Aufklärung. Anmerkungen zur Geschichte körperlicher Bildung«, in: Britta Kolbert/Lutz Müller/Monika Roscher (Hg.), Bewegung – Bildung – Gesundheit. Beiträge zu Perspektiven der Sportwissenschaft; Ringvorlesung des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Bremen im Wintersemester 2008, Hamburg: Czwalina 2009, S. 27-38, hier S. 30 f.

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dieselbe Sorgfalt walten lässt und sich mit ebenso kraftvollem Überschwang der Ausbildung seiner praktischen Vermögen widmet, wächst der Baum. Auch für den profanen Genießer gilt: einmal vom Baum der Erkenntnis gekostet ist da kein Weg zurück ins Paradies. Die einzige Möglichkeit, fortan noch Momente des Glücks zu erfahren, ist das unendliche Bewusstsein. Ebenso wie der so oft verzweifelt beklagte oder womöglich gar heraufbeschworene Einzug des Dionysischen in den Leib, der sich mit ihm vereinigt und gegen das Apollinische gewendet hat, begehrt im Bilden des feinen Geschmacks das Dionysische des Apollinischen. Die Kraft weckt unaufhörlich das Begehren des Leibes, will sich der Gefahr des düsteren Niederfalls aussetzen, nur um wieder das Wechselspiel der Ekstasen heraufbeschwören zu können. Während »lecker« beinahe schon ordinär klingt, es würde »gut munden« zumeist wohl angemessener wäre, ist lekker beispielsweise im niederländischen Sprachgebrauch durchaus mit gutem Geschmack, dem Schönen an sich, verbunden. Eine Deutung, die gerade im Angesicht des nachdisziplinären Einflusses auf die Esskultur wünschenswert wäre. Denn »lecker« meint hierzulande, für den Massenkonsum tauglich zu sein. Mit dieser Kritik unterstellt man der Masse einen groben, unausgegorenen, einen vielleicht gar schlechten Geschmack. Eine Vermutung, die vornehmlich auf der Erfahrung beruht und von der Lebensmittelindustrie sowie den urbanen wie ländlichen Esskulturen bestätigt wird. Wenngleich der Zugang zu verschiedensten Rebsorten, Dramatikern, Malerinnen ökonomisch betrachtet massentauglich umgesetzt wird, so kann man mit einigem Recht behaupten, dass der gewöhnliche Konsument einen Bobal nicht von einem Regent, einen Beckett nicht von einem Strauß oder ein Werk von Joan Mitchell nicht von den drip paintings eines Kindes zu unterscheiden vermag. Aus der Perspektive einer gänzlich unpolitischen ästhetischen Theorie heraus, ist die Sache, mit derer der Mensch eine intensive Beziehung aufbaut, riskiert, negiert, wieder herausfordert, beliebig. Von ihrer Struktur her zeigt sich die Ekstase immer gleich, egal ob einen der Duft eines Granatapfels beflügelt oder die Musik des Vijay Iyer Trio berauscht. Wesentlich ist das Erleben polarisierender Kräfte. Eine Manifestation visionärer Leichtigkeit und narkotischer Tiefe kann sich in der Begegnung mit jedem ästhetischen Gegenstand ereignen.

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Eine Ode an das Schmecken soll also keineswegs jenes zarte Verzücken andeuten, welches eine bloße, gleichsam wirre Geschmacksexplosion bewirkt, die auf eine unfassbare Übermacht des ästhetischen Gegenstandes zurückzuführen ist. Die Ode ist an ein Fest der Lust gerichtet, an Vergnügen, das gleichsam der Genuss des Verstehens jenes Aktes des Genießens ist. Nachdem die Autorin die Ansicht Nietzsches, jenes tiefe Vergnügen wäre jedem ungeachtet seiner Bildung zugänglich, zunächst unkommentiert ließ, sich später mit dem Verweis auf die hinderlichen ungeübten praktischen Vermögen ganz und gar anders positioniert hat, soll nun die Schleife zugezogen werden. Das Fest des Schmeckens ist nicht einfach etwas, das jedem in gleicher Weise zufällt oder eben nicht. Wobei nicht gesagt werden soll, dass nicht jeder tiefe Lust erfahren kann. Das Schaffen eines ästhetischen Gegenstandes ist nur einigen Wenigen vorbehalten. Geschmack hingegen ist kein Privileg. Die Lust ist eine Frage der Weise und des Maßes der Selbstvergewisserung. In die Verlegenheit jenes Vergnügens der Einsicht in die Form des ästhetischen Verstehens kann jeder Genießer gelangen, sofern er nur die Bedingung der Möglichkeit der Hingabe an den ästhetischen Gegenstand in Verbindung mit der Möglichkeit der Aufgabe der eigenen Subjektivität erfüllt. Der feine Geschmack bedarf jedoch einer expliziten Ästhetik des Gegenstandes, umgekehrt erwarten ihn jedoch ausschweifendere Feste. Das Ausschweifende liegt in der Abwesenheit von Kräften begründet, die jenem Fest ein schnelles Ende bereiten würden.2 Ob also die gebildete Genießerin zu tieferer ästhetischer Lust fähig ist, in dem Sinne, dass ihr eine tiefere Vergewisserung des Selbst in der Verwobenheit mit ihrer Welt widerfahren kann, ist hier nicht die Frage. Wesentlich ist diejenige Bedingung einer Möglichkeit der ästhetischen Lust, die sich als einzige nicht der Vorbestimmung entzieht, zu erfüllen: das Bilden des feinen Geschmacks. Nicht, um die Möglichkeit des Festes anzunehmen, sondern um auf der Basis möglichst ungehemmter Subjektivität

2

Siehe hierzu Monika Roscher: KörperBildung, Band 1. Phänomenologische Studien, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010; sowie Monika Roscher: KörperBildung, Band 2. Ästhetische Praxis, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010.

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der Unmöglichkeit des Überwindens jener, gelassen entgegensehen zu können. Es erwartet somit jenes geübte Schmecken ein Fest, das sich zwischen Experiment und Institution präsentiert, sich angesichts der Möglichkeit seiner selbst schreckhaft, wie es von seinem Wesen her nun einmal ist, zurückzieht, das sich jedoch, wenn es sich zeigt, stets prachtvoll präsentiert. Der Glanz, der jenen Genuss, die Freude am Schmecken bereitet, ist nicht eine Eigenschaft des ästhetischen Gegenstandes, es ist das Schmecken selbst. Das ästhetische Denken ist die Aktivität des Schmeckens.

Notiz

Versuchen wir nun zurückwendend, das Gesagte auf den Punkt zu bringen. Vielleicht verstehen wir in der Begegnung mit einem Kunstwerk die Dinge plötzlich anders, die Welt wandelt sich für einen. Möglicherweise verstehen wir in der Gegenwart jener Kunst die eigene auf eine bestimmte Weise zum allerersten Mal. Wenn das passiert, dann geschieht fraglos etwas Besonderes: Das Selbst bildet seinen Geschmack. Jene Bildung des Geschmacks kann sich aber strukturbedingt immer nur als Beiwerk der ästhetischen Erfahrung verwirklichen. Das Wesen der ästhetischen Erfahrung ist es, ihre Kraft als Vollzug des Verstehens zu begreifen. Das ist ihre Kraft. In der ästhetischen Erfahrung ereignet sich ein Spiel der Kräfte. Jenes Spiel ist an die Abwesenheit des Vollzuges des Verstehens gebunden. In der Weise wie das Spiel selbst kein Vollzug des Verstehens ist, an keine Norm, kein Gesetz und keinen Zweck gebunden ist, mischt es sich auch nicht in das Denken oder den Willen des Subjektes ein. Das Spiel der Kräfte hat kein Ziel. Das Spiel ist Übergang von dem einen Ausdruck in den anderen und wieder zurück. In dem Spiel ereignet sich eine Vertiefung jenes anderen Verstehens. Weiter war die Rede von dem Vertiefen in den ästhetisch anregenden Gegenstand, durch den eine Verwandlung der gewöhnlichen Gegenstände in eine ästhetische Reflexion des Selbst geschieht. Das ästhetische Spiel kann damit als besondere Suspension unseres Verstehens begriffen werden. Denn es ereignet sich im Wesen der ästhetischen Erfahrung nicht eine Erweiterung des gewöhnlichen Verstehens, sondern die Kraft der Vergewisserung. Nicht eines bestimmten Vollzuges vergewissert sich die Betrachtende, sie vergewissert sich selbst als verstehendes Subjekt. An jenem selbst-

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vergewissernden Spielort entzündet sich die Lust. Die ästhetische Lust ist eine Lust an der Form jenes anderen Verstehens. Insofern dem ästhetischen Urteilen jener eigentümliche Gehalt der Selbstvergewisserung immanent ist, kann jenes Urteilen als autonom nicht neben sondern gegenüber dem gewöhnlichen Verstehen aufgefasst werden. Die Autonomie des ästhetischen Urteilens schließt jenen eigentümlichen Gehalt der Verwandlung gewöhnlicher Gegenstände in Gegenstände, die wie für einen gemacht scheinen, jene lustvolle Erfahrung, ein. Die Autonomie der ästhetischen Erfahrung begründet, dass Verstehen und Beurteilen ästhetischer Gegenstände aufeinander bezogen sind. Vielleicht versucht die Autorin in einigen Passagen selbst so etwas wie ein kunstnahes Reden über die Künste. Vielleicht ist es übergriffig, über das mögliche Wirken des eigenen Textes Vermutungen anzustellen. Doch vielleicht ist es auch gerade das, wonach es in der Philosophie der Künste zuweilen gehen sollte: die Leidenschaften der Gegenwart greifbar zu machen. Entscheidend wäre dabei nicht die Präzision der Handreichungen für die ästhetische Praxis. Vielmehr vermögen es die Niederlassungen selbst, dem Leser Präsenzeffekte heraufzubeschwören. Alle Einbildungskraft wäre dabei herausgefordert, auf beiden Seiten der Erzählung. Genaugenommen: Erst durch die Erinnerung des Lesers an seine »außerwissenschaftliche Existenz«1 würde er den wahrhaftigen Grund des Rausches erfahren. Damit also die Diskussion um das Wirken jener antagonistischen Kräfte weitergeführt werden kann, bedarf es einer Rede der Ereignishaftigkeit. Nicht ganz und gar, doch zumindest mit Kostproben sollte ein Text versehen sein, der sich mit der Ästhetik als Denken der Kraft beschäftigt. Das Einflechten kleiner schauerlicher Ereignisse, die dem Leser nahegehen, das Anregen eines Spiels durch das Experimentieren mit Nähe und Intensität im gegenüber der Subjektivität der Autorin, ermöglicht einen Eindruck von dem Geschmack der Kraft. Deshalb mag es auch gar nicht notwendig sein, eine Theorie des Rausches zu entwickeln, die selbst ein ungebrochenes Kunstwerk ist. Denn während eine Rede, als vollkommenes Kunstwerk gestaltet das Erleben des Zwischenraumes zwischen dionysischer Vitalkraft und apollinischer Traumkunst provoziert, wirft der Wechsel von dem Erleben jener Kunst-

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Sloterdijk: Philologie der Existenz, S. 200.

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triebe und nüchterner wissenschaftlicher Abhandlung dem Leser das Dilemma seines Daseins zwischen diskursivem Denker und experimentellem Künstler unausweichlich vor. Womit in der Rezeption des verfugten Textes ein Doppeltes möglich wird: das Erleben des Ziehens und Zerrens der bildnerischen Kräfte selbst, sowie des Hin- und Hergerissenseins zwischen eben jenen unberechenbaren Kräften und dem Gang auf einer gefälligen Argumentationslinie. Während die Autorin wie der Leser die diskursiven Grenzen erahnt, ergreift ihn jedoch das Leiden, er fühlt sich hin- und hergeworfen und in der intimen Erfahrung des Dramatischen des eigenen Leibes öffnet sich vor ihm und in ihm ein Weg zur Verständigung über das Denken der Kraft. Wobei jene Erzählform wie bereits angedeutet weniger von gefälliger Natur sein sollte, denn wie das Drama des Ringens der Kräfte selbst. Möchte man das Wirken der Kräfte ergründen, verlangt es nach einer theatralischen Inszenierung, die unausweichlich die Einbildungskraft herausfordert. Was hier geschieht, ist das Einmischen der Erzählerin in jenes manchmal zarte Geflecht von Drama und Theorie, einer Theorie des Dramatischen, sowie der dramaturgisch angelegten Theorie. Das Dramaturgische an jener Theorie wäre, dass sie ebenso wie andere Dramen der Gegenwart das Moment der Improvisation einbezieht. Und zwar handelt es sich dabei um die Improvisationskraft des Rezipienten. Im Erleiden des Textes, des Lustgewinns in der Vertiefung in ein Ereignis, den Qualen des Gespürs für den Verfall der Stringenz erhebt sich der Lesende, gibt sich wieder hin, beschreit all seine Macht zur Improvisation, nur um des Momentes der Intensität willen. Um jenes Augenblickes äußerster Urteilskraft willen sucht er, findet nicht, versucht seine Nähe zu dem Ereignis zu verschieben und findet sie plötzlich wieder. Das Verweilen in jenen Momenten der Intensität, in dem Berauschtsein von der dramatischen Struktur des Textes ist von Bedeutung für das Erfassen des Übersteigens der Subjektivitäten. Um das Ergriffensein von dem Einswerden und wieder Zerfallen, darum sollte sich eine Theorie des Ästhetischen bemühen. Ein derartiges Leiden wie zugleich Verzücktsein – anders kann die Autorin es nicht sagen – verspürt sie beim Lesen von Sloterdijks Denker auf der Bühne. Vielleicht mag es ja auch nicht anders möglich sein, die Lektüre von Nietzsches Tragödie in sich aufzunehmen und zu verdauen. Doch übertrifft auch beim wiederholten Lesen des Denkers die vulgär anmutende wie fortwährend logisch stringente und doch wieder Sprünge in der Imagination

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zumutende Schreibweise meine Vorstellungskraft von einer treffenden Interpretation. Ohne Umschweife darf die Autorin also bekennen, »Geschmack an den dunklen Formulierungen«2 gefunden zu haben. Wenngleich ihre literarischen Möglichkeiten es nicht ohne weiteres zulassen, wie in dem ursprünglichen Kontext angedeutet, das Dunkle bis hin zu einer Medialisierung der Subjektivität voranschreiten zu lassen, zumindest nicht in aller Konsequenz, so ist es doch eines Versuches Wert gewesen. Skizzieren wir also noch eine letzte jener Weisen des Subjektivitätsverlustes. Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert zeigt in Form einer Sammlung autobiographischer Skizzen aus den dreißiger Jahren in welcher Weise am Geschmack Erinnerungen bedeutsam werden.3 Die Erinnerungen seiner Kindheit im Berliner Westen, erzählt er aus der staunenden Haltung des Kindes Walter, erscheinen im wörtlichen Sinne als geschmacksbildend. Die Szenen erinnern nicht ohne Zufall an Marcel Prousts in Tee getauchte Madeleine aus seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit.4 Der Geschmack jenes kleinen Kuchenstückes löst bei dem weitgehend anonymen Ich eine unwillkürliche Erinnerung an den Ort seiner Kindheit, Combray, aus. Eine Erinnerung, die ihm in der willentlichen Erinnerung versagt geblieben ist. Zu den unvollständigen, oftmals beängstigenden Erinnerungen der Figur treten nun unfreiwillige, jedoch ersehnte hinzu. Die Inszenierung der Subjektivität der sinnlichen Wahrnehmung demonstriert hier die prinzipielle Unzulänglichkeit des Lebens, die als quälend erlebt werden kann. Andererseits erfährt die Leserin die Möglichkeit des Aufspannens einer eigenen subjektiven Wahrheit durch das Medium der Literatur. Jahrzehnte später nach der Übersetzung von Eva Rechel-Mertens liegt nun seit geraumer Zeit eine neue Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer vor, die Proust aus dem »kleinen Kreis« nicht nur wörtlich, sondern aufgrund des umgangssprachlichen Tons auch im übertragenen Sinne herausholt. Aus dem prosaischen »Fall Swann« wird das klassengesellschaftlich

2

Ebd., S. 199.

3

Vgl. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Sonderausgabe mit einem Nachwort von Theodor W. Adorno, Berlin: Suhrkamp 2010.

4

Siehe dazu Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Neu übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer, Stuttgart: Reclam 2013, hier Erster Teil: Combray.

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anmutende »Genre«.5 Den syntaktisch weit ausklingenden Sätzen Prousts verleiht Fischer eine zeitgemäße Frische. Leider hat der Tonfall von Eva Rechel-Mertens, der den fünfziger Jahren entsprungen ist, für die alte, des Französischen nur mäßig mächtigen Proustianerin bis zu eben dieser neuen Übersetzung die Subjektivität des Autors verkörpert. Eine neue Übersetzung bedeutet nicht bloß ein Mehr an Lösungswegen, sie bedeutet ebenso erst einmal eine Entfernung von der Subjektivität des Autors, die Proust doch selbst auf eine bis dahin ungeahnte Weise inszeniert. Die neue Übersetzung bedeutet das Erzeugen einer ästhetischen Differenz. Wobei ästhetische Differenz nicht als Differenz im Sinne von Urteilen und Verstehen gemeint ist. Ein Geschmack der Kraft wird einem anderen gegenübergestellt. Und zwar nicht im Sinne einer Literaturkritik. Im Ästhetischen, im Genuss des Werkes stellt sich der neue Geschmack dem alten gegenüber. Während die Autorin zu Beginn ihres Auftritts noch eine gewisse Distanz zu ihrem Gegenüber und ihrer Rede gewahrt hat, ist diese höfliche Zurückhaltung unlängst gebrochen. Getrieben von der Lust, auf die Bühne zu treten, versteckt hinter der Kostümierung der Dramaturgin, entlässt jene Akteurin ihre Zuschauer mit der Bürde und der Freiheit, das Ästhetische zu inszenieren. Das war eine Ode an das Begehren des Narkotischen der Musik, an das Sehnen nach der Liebe zur Klarheit des Bildes, die Lust auf das Drama, an das Schmecken der Kraft.

5

Siehe dazu Marcel Proust: »Unterwegs zu Swann«, in: ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Werke. Frankfurter Ausgabe [7 Bände]. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, Band 1, hg. v. Luzius Keller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011; sowie Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Neu übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer.

Literatur

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202 | DER GESCHMACK DER KRAFT

Hamsun, Knut: »Pan«, in: ders., Samlede Verker, Band 2, Oslo: Gyldendal Norsk Forlag 1963. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: »Vorlesungen über die Ästhetik. II«, in: ders., Werke in zwanzig Bänden, Band 14, hg. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1969-1970. Heidegger, Martin: Nietzsche. Band I, Pfullingen: Neske 1961. Henrich, Dieter/Iser, Wolfgang (Hg.): Theorien der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2014. Herder, Johann Gottfried von: »Begründung einer Ästhetik in der Auseinandersetzung mit Alexander Gottlieb Baumgarten«, in: ders., Frühe Schriften. In zehn Bänden, Band 1, hg. v. Ulrich Gaier/Martin Bollacher, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1985, S. 651-694. —: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, in: ders., Werke in zehn Bänden, Band 6, hg. v. Martin Bollacher, Frankfurt am Main: Dt. Klassiker-Verl. 1989. —: »Kritische Wälder. Oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste«, in: ders., Schriften zur Ästhetik und Literatur 1767-1781, Band 2, hg. v. Gunter E. Grimm/Martin Bollacher, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1993, S. 247-442. —: »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«, in: ders., Werke. 10 in 11 Bänden. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, Band 4, hg. v. Martin Bollacher/Jürgen Brummack, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1994, S. 327-394. —: »Zum Sinn des Gefühls«, in: ders., Werke. 10 in 11 Bänden. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774-1787, Band 4, hg. v. Martin Bollacher/Jürgen Brummack, Frankfurt a.M.: Dt. Klassiker-Verlag 1994, S. 233-242. Howe, Leslie: »Feminism in the philosophy of sport«, in: Mike McNamee/William J. Morgan (Hg.), Routledge Handbook of the Philosophy of Sport, London/New York: Routledge 2015, S. 161-177. Imdahl, Max: Giotto Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik, München: W. Fink 1988. Jauß, Hans Robert: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1984.

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Kant, Immanuel: »Kritik der Urteilskraft«, in: ders., Werkausgabe. In 12 Bänden, Band X, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974-1977. —: »Reflexion 1820a«, in: Kant’s Gesammelte Schriften, Band XVI, hg. v. der Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin: de Gruyter 1902-1956, S. 127. Kern, Andrea: Schöne Lust. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung nach Kant. Diss. Berlin 1998, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000. —: Quellen des Wissens. Zum Begriff vernünftiger Erkenntnisfähigkeiten, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006. Kohler, Michael: »Im Rausch der Malerei«, in: art. Das Kunstmagazin (2015), S. 20-31. Koppe, Franz: Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991. Krämer, Judith: Lernen über Geschlecht. Genderkompetenz zwischen (Queer-)Feminismus, Intersektionalität und Retraditionalisierung, Bielefeld: transcript 2015. Leibniz, Gottfried Wilhelm: »Principes de la philosophie ou la monadologie – Die Prinzipien der Philosophie oder die Monadologie«, in: Hans H. Dolz (Hg.), Philosophische Schriften, Band 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1965, S. 439-483. Lewandowski, Sven/Koppetsch, Cornelia (Hg.): Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter. Beiträge zur Soziologie der Sexualität, Bielefeld: transcript 2015. Lorber, Judith: Gender-Paradoxien, Opladen: Leske & Budrich 2003. Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution. Ein Beitrag zur politischen Soziologie, Berlin: Duncker & Humblot 1999. Makropoulos, Michael: Theorie der Massenkultur, München: W. Fink 2008. Man, Paul de: Die Ideologie des Ästhetischen. Teil 1, hg. v. Christoph Menke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. Martens, Gunter: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart: Kohlhammer 1971. Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005. —: Die Kraft der Kunst, Berlin: Suhrkamp 2014.

204 | DER GESCHMACK DER KRAFT

—: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. —: »Die Disziplin der Ästhetik. Eine Lektüre von Überwachen und Strafen«, in: Gertrud Koch/Sylvia Sasse/Ludger Schwarte (Hg.), Kunst als Strafe. Zur Ästhetik der Disziplinierung, München: W. Fink 2003, S. 109-121. —: »Die Gegenwart der Tragödie. Eine ästhetische Aufklärung«, in: Neue Rundschau 111 (2000), S. 85-95. —: »Ethischer Konflikt und ästhetisches Spiel. Zum geschichtsphilosophischen Ort der Tragödie bei Hegel und Nietzsche«, in: Andreas Arndt/Karol Bal/Henning Ottmann (Hg.), Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – die Politik der Kunst, Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 16-28. —: »Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz«, in: Axel Honneth (Hg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption; Frankfurter Foucault-Konferenz 2001, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 199-210. Nietzsche, Friedrich: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt a.M.: Insel 2000. —: Richard Wagner in Bayreuth, Der Fall Wagner, Nietzsche contra Wagner, hg. v. Martin Gregor-Dellin, Stuttgart: Reclam 1991. —: »Also sprach Zarathustra«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 4, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988. —: »Die dionysische Weltanschauung«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 1, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988, S. 551-578. —: »Götzendämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophiert. Streifzüge eines Unzeitgemäßen«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 6, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988, S. 111-153. —: »Nachgelassene Fragmente 1884-1885«, in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Band 11, hg. v. Giorgio Colli, München: Dt. Taschenbuch-Verlag [u.a.] 1988. Niggl, Selima: »Die Spur der Spur. Chronologie einer Künstlergruppe«, in: Jo-Anne B. Danzker/Pia Dornacher (Hg.), Gruppe SPUR. Eine Ausstellung des Museums Villa Stuck, München, anlässlich der Ausstellung

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Gruppe SPUR im Museum Villa Stuck (München 13. Juli bis 22. Oktober 2006), Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 68-89. Nijinsky, Waslaw F.: Ich bin ein Philosoph, der fühlt. Die Tagebuchaufzeichnungen in der Originalfassung, Berlin: Berlin-Verlag 1996. Paul, Fritz: »Die Legende von der Femme Fatale. Lou Andreas-Salomé in ihren Beziehungen zu skandinavischen Schriftstellern und zur skandinavischen Literatur«, in: Wolfgang Butt/Bernhard Glienke (Hg.), Der nahe Norden. Otto Oberholzer zum 65. Geburtstag; Eine Festschrift, Frankfurt a.M.: P. Lang 1985, S. 215-234. Pfister, Gertrud Ursula: »Frauen und Geschlechtsforschung im Sport«, in: Heidrun Hoppe/Marita Kampshoff/Elke Nyssen (Hg.), Geschlechterperspektiven in der Fachdidaktik, Weinheim: Beltz 2001, S. 145-172. —: »Must women play Football? Women’s Football in Germany, Past and Present«, in: Football Studies (2001), S. 41-57. Platon: »Ion«, in: Platons Werke, Band II, Teil 1, hg. v. Friedrich Schleiermacher, Berlin: Realschulbuchhandlung 1805, S. 267-288. Pötscher, Walter: »Art. ›Orgia‹«, in: Konrat Ziegler/Walther Sontheimer (Hg.), Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden, Band 4, München: Dt. Taschenbuch-Verlag 1979. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Band 1: Auf dem Weg zu Swann. Neu übersetzt von Bernd-Jürgen Fischer, Stuttgart: Reclam 2013. —: »Unterwegs zu Swann«, in: ders., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Werke. Frankfurter Ausgabe [7 Bände]. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens, Band 1, hg. v. Luzius Keller, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011. Recki, Birgit/Wiesing, Lambert: Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik, München: W. Fink 1997. Ritter, Joachim: »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: ders. (Hg.), Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 141-166. Roch, Eckhard: »Musik und Ekstase: Richard Wagner«, in: Eckart Liebau/Jörg Zirfas (Hg.), Lust, Rausch und Ekstase. Grenzgänge der Ästhetischen Bildung, Bielefeld: transcript 2013, S. 151-176. Roscher, Monika: Bewegung und Gestaltung. Vom bewussten Üben zum freien Bewegen. Diss. Hamburg 2002, Hamburg: Institut für Bewegungswissenschaftliche Anthropologie 2003.

206 | DER GESCHMACK DER KRAFT

—: KörperBildung, Band 1. Phänomenologische Studien, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010. —: KörperBildung, Band 2. Ästhetische Praxis, Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren 2010. Salvini, Tommaso: »Einige Gedanken zur Bühnenkunst«, in: Artist (1891), S. 58. Sartre, Jean-Paul: »Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie«, in: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 3, hg. v. Vincent von Wroblewsky, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2000. Schiller, Friedrich: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen, hg. v. Klaus L. Berghahn, Stuttgart: Reclam 2008. —: »Kallias oder über die Schönheit. Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner«, in: Klaus L. Berghahn (Hg.), Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart: Reclam 1999, S. 3-65. —: »Über Anmut und Würde«, in: Klaus L. Berghahn (Hg.), Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, Stuttgart: Reclam 1999, S. 69-136. Schiller, Friedrich/Goethe, Johann Wolfgang von: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. v. Manfred Beetz, München: Hanser 1990. Schlingensief, Christoph: Ich weiß, ich war’s, hg. v. Aino Laberenz, München: btb 2014. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung, Leipzig: F.A. Brockhaus 1859. Schürmann, Volker: »Bildung der Aufklärung. Anmerkungen zur Geschichte körperlicher Bildung«, in: Britta Kolbert/Lutz Müller/Monika Roscher (Hg.), Bewegung – Bildung – Gesundheit. Beiträge zu Perspektiven der Sportwissenschaft; Ringvorlesung des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Bremen im Wintersemester 2008, Hamburg: Czwalina 2009, S. 27-38. Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Zum Begriff der ästhetischen Rationalität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997.

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Segal, Charles: »Greek Myth as Semiotic and Structural System and the Problem of Tragedy«, in: ders., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1986, S. 48-74. —: »Greek Tragedy. Writing, Truth and the Representation of the Self«, in: ders., Interpreting Greek Tragedy. Myth, Poetry, Text, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1986, S. 75-109. Simon, Robert L.: »Gender Equity and Inequity in Athletics«, in: Journal of the Philosophy of Sport 21 (1994), S. 6-22. Sloterdijk, Peter: Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. —: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008. —: »Ein Team von Hermaphroditen. Im Gespräch mit Dirk Kurbjuweit und Lothar Gorris«, in: ders., Ausgewählte Übertreibungen. Gespräche und Interviews 1993-2012, hg. v. Bernhard Klein, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 272-282. —: »Philologie der Existenz. Dramaturgie der Kräfte«, in: Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Mit einem Nachwort von Peter Sloterdijk, Frankfurt a.M.: Insel 2000, S. 185-220. Stanislawski, Konstantin S.: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst. Tagebuch eines Schülers, Berlin: Henschel 1999. Valéry, Paul: »Antrittsvorlesung zum Kolleg über Poetik«, in: ders., Zur Theorie der Dichtkunst. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 203-226. Wagner, Richard: »Beethoven«, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Band 9, Leipzig: E.W. Fritzsch 1873, S. 75-151. —: »Zukunftsmusik. An einen französischen Freund«, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Band 7, Leipzig: E.W. Fritzsch 1873, S. 121180. Waldenfels, Bernard: »Ordnungen des Sichtbaren«, in: Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild?, München: W. Fink 1994, S. 233-252. Weiler, Gerda: Eine feministische Anthropologie, Frankfurt a.M.: Helmer 1993. Weizsäcker, Viktor von: Der Gestaltkreis. Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Stuttgart: Thieme 1950.

208 | DER GESCHMACK DER KRAFT

—: »Natur und Geist. Begegnungen und Entscheidungen«, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 1, hg. v. Mechthilde Kütemeyer/Peter Achilles, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986. Wellmer, Albrecht: »Wahrheit, Schein, Versöhnung«, in: ders., Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 9-47. Wennerscheid, Sophie: Close your eyes. Phantasma, Kraft und Dunkelheit in der skandinavischen Literatur, Paderborn: W. Fink 2014. —: »Weiblicher Vitalismus in Skandinavien und Deutschland im Anschluss an Nietzsche«, in: Søren R. Fauth/Gísli Magnússon/Peter Wasmus (Hg.), Influx. Der deutsch-skandinavische Kulturaustausch um 1900, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 133-161. West, Candace/Zimmerman, Don H.: »Doing gender«, in: Gender & Society 1 (1987), S. 125-151. Wise, Jennifer: Dionysus writes: the invention of theatre in ancient Greece, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press 1998. Zimmer, Nina: SPUR und andere Künstlergruppen. Gemeinschaftsarbeit in der Kunst um 1960 zwischen Moskau und New York. Diss. Göttingen 2001, Berlin: Reimer 2002.

Abbildungen

Abbildung 1: Yasna Schindler, »Pietà im Wandel«. Bewegte Körperinstallationen. Lisa Rykena und Philipp van der Heijden auf dem Rathausmarkt in Hamburg 2015. Photographie: Florian Roscher. Abbildung 2: Yasna Schindler, »Pietà im Wandel«. Bewegte Körperinstallationen. Lisa Rykena und Philipp van der Heijden auf dem Rathausmarkt in Hamburg 2015. Photographie: Marian René Menges. Abbildung 3: Stefanie Ahlf, Deutsche Meisterschaften Wasserball Masters 2015 in Hamburg. Photographie: Wolfgang Genat. Abbildung 4: Maria Marquardt, Deutsche Meisterschaften Wasserball Masters 2015 in Hamburg. Photographie: Wolfgang Genat. Abbildung 5: Lea Lublin in ihrem »Environment Penetración/Expulsión«. Abgedruckt in: art. Das Kunstmagazin (7) 2015, Seite 113. Photographie: unbekannt. Abbildung 6: Cindy Sherman, Selbstporträt »Untitled Film Still #96« 1981. Abgedruckt in: Zeitmagazin Nr. 38 (2015) S. 20. Photographie: Metro Pictures, New York. Abbildung 7: Helmut Sturm, »Martyrium II« 1960, Öl auf Leinwand 150x140 cm. Abgedruckt in: Jo-Anne B. Danzker/Pia Dornacher (Hg.), Gruppe SPUR. Dokumentation anlässlich der Ausstellung Gruppe SPUR im Museum Villa Stuck, München 2006. Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 135. Abbildung 8: Helmut Sturm, »Martyrium III« 1960, Öl auf Leinwand 110x140 cm. Abgedruckt in: Jo-Anne B. Danzker/Pia Dornacher (Hg.), Gruppe SPUR. Dokumentation anlässlich der Ausstellung Gruppe SPUR im Museum Villa Stuck, München 2006. Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 134.

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Abbildung 9: HP Zimmer, »Klabautermannsfuge«, Öl auf Leinwand 170,5x191 cm 1960 bis 1962. Abgedruckt in: Jo-Anne B. Danzker/Pia Dornacher (Hg.), Gruppe SPUR. Dokumentation anlässlich der Ausstellung Gruppe SPUR im Museum Villa Stuck, München 2006. Ostfildern: Hatje Cantz 2006, S. 147. Abbildung 10: Joan Mitchell in ihrem Atelier 1956. Abgedruckt in: art. Das Kunstmagazin (7) 2015, S. 27. Photographie: Loomis Dean. Abbildung 11: Joan Mitchel, »Ladybug« 1957, Öl auf Leinwand 198x274 cm. Abgedruckt in: Joan Mitchell. Retrospective. Her Life and Paintings, hg. von Kunsthaus Bregenz und Museum Ludwig 2015, S. 89. Abbildung 12: William Forsythe, »The Fact of Matter« 2009. Ursprünglich für die Biennale Venedig konzipiert, 2015 neu installiert für die Ausstellung The Fact of Matter im Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 2015-2016. Photographie: Dominik Mentzos. Abbildung 13: William Forsythe, »A Volume, within which it is not Possible for Certain Classes of Action to Arise« 2015. Installation für die Ausstellung The Fact of Matter im Museum für Moderne Kunst Frankfurt a.M. 2015-2016. Photographie: Dominik Mentzos.

KörperKulturen Elk Franke (Hg.) Herausforderung Gen-Doping Bedingungen einer noch nicht geführten Debatte Juni 2019, ca. 270 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1380-3

Ronja Schütz, Elisabeth Hildt, Jürgen Hampel (Hg.) Neuroenhancement Interdisziplinäre Perspektiven auf eine Kontroverse Juni 2016, ca. 190 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3122-7

Volker Schürmann, Jürgen Mittag, Günter Stibbe, Jörg-Uwe Nieland, Jan Haut (Hg.) Bewegungskulturen im Wandel Der Sport der Medialen Moderne – Gesellschaftstheoretische Verortungen April 2016, 398 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3152-4

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KörperKulturen Sven Lewandowski, Cornelia Koppetsch (Hg.) Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter Beiträge zur Soziologie der Sexualität 2015, 338 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3017-6

Andréa Belliger, David J. Krieger (Hg.) Gesundheit 2.0 Das ePatienten-Handbuch 2014, 144 Seiten, kart., 15,99 €, ISBN 978-3-8376-2807-4

Mischa Kläber Moderner Muskelkult Zur Sozialgeschichte des Bodybuildings 2013, 276 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2376-5

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