"Spracharbeit" im 17. Jahrhundert: Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz [Reprint 2011 ed.] 9783110818079, 9783110167986

Spracharbeit ist im 17. Jahrhundert ein Programm zur praktischen Umsetzung sprachtheoretischer Erkenntnisse. Der Autor e

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German Pages 509 [512] Year 2000

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Table of contents :
Vorbemerkung
Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen
Abkürzungen
1. Einleitung und Problemstellung
2. Das 17. Jahrhundert im Spiegel der Sprachgeschichtsschreibung
2.1 Forschungsschwerpunkte
2.2 Forschungsdesiderata
3. Spracharbeit und zeitgenössische Sprachauffassungen
4. Spracharbeit als Programm
4.1 „Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit“
4.2 „Specimen Philologiæ Germanicæ“
4.3 Zehn „Lobreden von der Uhralten Teutschen HaubtSprache“
4.4 „Sieben Traktate“ (5. Buch der AA)
4.5 Ebenen des Sprachsystems
5 Protagonisten der Spracharbeit
5.1 Institutionalisierung in der Fruchtbringenden Gesellschaft
5.2 Justus Georg Schottelius (1612–1676)
5.3 Christian Gueintz (1592–1650)
5.4 Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658)
6. Spracharbeit mit Lauten und Buchstaben
6.1 Beziehungen zwischen Phonemen und Graphemen
6.2 Lautmalerei und Lautsymbolik
6.3 Orthographie
6.4 Anwendungsfelder
7. Spracharbeit als Wortforschung
7.1 Gegenstand und Grundlagen der Wortforschung
7.2 Legitimationsstrategien
7.3 Anwendungsfelder
8. Exkurs: Sonderformen der Spracharbeit
8.1 Das Stammwort und seine Kodifikation
8.2 Fremdwortfrage und Purismus
8.3 Anwendungsfelder
9. Spracharbeit und Phraseologismen
9.1 Syntax und Syntagmen
9.2 Wissenskonstitution durch Analogien
9.3 Anwendungsfelder
10. Spracharbeit, Textsorten und kommunikative Pragmatik
10.1 Textsorten und Textstrukturierung
10.2 Kommunikationsmuster
10.3 Anwendungsfelder
11. Fazit
Quellen
Literatur
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"Spracharbeit" im 17. Jahrhundert: Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz [Reprint 2011 ed.]
 9783110818079, 9783110167986

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Markus Hundt .Spracharbeit" im 17. Jahrhundert

W G DE

Studia Linguistica Germanica

Herausgegeben von Stefan Sonderegger und Oskar Reichmann

57

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2000

Markus Hundt

Spracharbeit" im 17. Jahrhundert Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz

Walter de Gruyter · Berlin · New York

2000

Als Habilitationsschrift auf Empfehlung der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Technischen Universität Dresden gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufnahme

Hundt, Markus: „Spracharbeit" im 17. Jahrhundert : Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz / Markus Hundt. - Berün ; New York : de Gruyter, 2000 (Studia linguisrica Germanica ; 57) Zugl.: Dresden, Techn. Univ., Habü.-Schr., 1999 ISBN 3-11-016798-0

© Copyright 2000 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berün Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Vorbemerkung Die vorliegende Studie wurde im Sommer 1999 von der Fakultät für Sprachund Literaturwissenschaften der Technischen Universität Dresden als Habilitationsschrift angenommen. Sie wurde für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Karlheinz Jakob danke ich herzlich für die kollegiale Unterstützung, die mir während der letzten Jahre die Vertiefung in das 17. Jahrhundert ermöglicht hat. Den Gutachtern Karlheinz Jakob, Peter Strohschneider und Oskar Reichmann danke ich für ihre konstruktive Kritik. Für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Studia Linguistica Germanica" bin ich den Herausgebern Oskar Reichmann und Stefan Sonderegger verbunden. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die freundliche Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Der herzlichste Dank gilt meiner Frau Marianne Hundt, der ich dieses Buch widme. Sie hat die Entstehung der Arbeit immer mit Optimismus und fachkompetenter Diskussion begleitet.

Dresden, im Februar 2000

Markus Hundt

Zitate aus Quellen Bei Zitaten aus Quellentexten wurde in der Regel darauf verzichtet, auffallende oder fehlerhafte Schreibungen mit sie oder / zu markieren. Nur in Ausnahmenfällen wurden solche Schreibungen mit [!] versehen. Die Umlautgrapheme u, ο, α wurden in Quellenzitaten als ü, ö, ä, die beiden s-Grapheme als s wiedergegeben. Nur wenn die Grapheme als solche relevant waren, wurde die Originalschreibung beibehalten. Die Frakturschrift der Quellen wurde in den Zitaten als Antiqua, die in den Quellen als Antiqua gesetzten lateinischen Passagen in Kursivschrift wiedergegeben.

Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen Abkürzungen

V XI XII

1.

Einleitung und Problemstellung §1 Geringeres Interesse der Sprachwissenschaft 1, §2 Sprachauffassungen im 17. Jahrhundert 3, §3 Vorwissenschaftliche Sprachbetrachtung 4, §4 Konzept der Spracharbeit 6, §5 Ebenen der Spracharbeit 7, §6 Vertreter und Texte 8, §7 Das Beispiel Harsdörffers 8, §8 Ausdifferenzierung des Varietätenspektrums 10, §9 Ziele 10, §10 Gliederung 12

1

2.

Das 17. Jahrhundert im Spiegel der Sprachgeschichtsschreibung .. §11 Forschungsprägungen und Bezug zur Spracharbeit 14

14

2.1

Forschungsschwerpunkte 15 §12 Allgemeine Darstellungen der deutschen Sprachgeschichte 15, §13 Laut- und Formengeschichte 16, §14 Syntax 17, §15 Textsortengeschichte, Beispiel „Zeitung" 18, §16 Sprachgesellschaften 18, §17 Reform der Literatursprache (Opitz) 23, §18 Rhetorik und Poetik 24, §19 Forschungsschwerpunkte und Spracharbeit 26, §20 Aufwertung des 17. Jahrhunderts durch Spracharbeit 27

2.2

Forschungsdesiderata 28 §21 Varietätenlinguistik und Textsortengeschichte 28, §22 Bezug zum Thema Spracharbeit 30

3.

Spracharbeit und zeitgenössische Sprachauffassungen 32 §23 Motiviertheit sprachlicher Zeichen und Sprachlegitimation 32, §24 Die signifiants< in einer Sprache, nicht anders als in der späteren wissenschaftlichen Etymologie [ . . . ]." 18 Die von Coseriu ermittelte dritte Phase der Motiviertheitsdiskussion setzt nach Aristoteles ein. Darüber hinaus finden keine weiteren Entwicklungen und Veränderungen der Positionen s t a t t . Im Unterschied etwa zum französischen io Coseriu/Matilal (1996), S. 882. Coseriu/Matilal (1996), S. 883. 12 Vgl. Coseriu (1969), S. 35-51, Derbolav (1972), Gaiser (1974), Genette (1976), Rijlaarsdam (1978), Wurzel (1987), Schrastetter (1988), Gardt (1994), S. 48-51 mit weiterer Literatur, den zusammenfassenden Uberblick in Kraus (1996) sowie Coseriu/Matilal (1996), S. 883-889. 13 Coseriu (1969), S. 59-83, zusammenfassend Graeser (1996), Ax (1992) mit weiterer Literatur. 14 Er vollzieht eine Veränderung der Fragestellung, indem er strikt die Motivation sprachlicher Zeichen von deren Bedeutungen trennt. Damit gelangt er zu drei Relationen: 1. eine rein sprachliche zwischen Wortlaut und Wortinhalt, 2. eine ontische zwischen dem Zeichen (Ausdruck/Inhalt) und der bezeichneten Sache, 3. eine logische (Subjekt - Prädikat), wenn das Zeichen in einer Aussage verwendet wird. Vgl. Coseriu/Matilal (1996), S. 890. 15 Coseriu/Matilal (1996), S. 891. 16 Coseriu/Matilal (1996), S. 891. 1 7 Coseriu/Matilal (1996), S. 892: „Daher die Rechtfertigung der Etymologie, die die ursprüngliche, von den Sprechern nicht mehr beachtete wa-Motivation der Zeichen sie ist durch den Sprachwandel unerkennbar geworden oder in Vergessenheit geraten aufdecken soll." is Coseriu/Matilal (1996), S. 893.

Zeitgenössische Sprachauffassungen

35

Sprachraum, in dem diese etymologische Betrachtungsweise im 17. J a h r h u n dert bereits deutlich zurücktritt 1 9 , gilt sie als Legitimationsmittel für A u t o r e n wie Schottelius und Harsdörffer noch weitgehend uneingeschränkt. Die Diskussion u m die Motiviertheit sprachlicher Zeichen war im 17. J a h r hundert keineswegs einheitlich. Dass Arbitrarität und Motiviertheit d e n k b a r e Alternativen waren, zeigte schon das Zitat aus der AA. D a r ü b e r hinaus ist aber auch das Konzept der Motiviertheit in mindestens drei Formen differenziert gewesen. Dies hat G a r d t ausführlich dargestellt. Er kommt entsprechend den drei sprachreflexiven Grundhaltungen ontologisierend-patriotisch, mystisch und sprachuniversalistisch (s. §28) zu folgenden Unterscheidungen: 2 0 1. „ontologische Motiviertheit": Hierunter ist die Möglichkeit des u n m i t telbaren Zugriffs auf die Wirklichkeit durch die sprachlichen Zeichen gemeint. Vor allem Lautmalerei und Lautsymbolik sind die Formen in denen sich die Motiviertheit der sprachlichen Zeichen zeigt (s. auch Kap. 6.2). Bei der Lautmalerei ist die L a u t s t r u k t u r der W ö r t e r mit den Dingen, die sie bezeichnen ikonisch verbunden ( z . B . plätschern, wiehern). Die Lautsymbolik greift auf einer kleinteiligeren Ebene ein. Einzelne Laute werden mit bestimmten Bedeutungen in Verbindung gebracht, ζ. B. dass der e-Laut etwas Kleines bezeichne, der α - L a u t etwas Großes 2 1 . Die Laute und Wörter bieten so die Möglichkeit einer u n m i t telbaren Erkenntnis der Sachverhalte, auf die sie referieren. 2. „Von transzendenter Motiviertheit kann dagegen die Rede sein, wenn die Sprache nicht nur als Spiegel einer säkularen Wirklichkeit, sondern metaphysischer Wahrheit betrachtet wird. Dies wird insbesondere von der Mystik mit ihrem Konzept der N a t u r s p r a c h e b e h a u p t e t , wobei es mehrere Berührungspunkte zur Vorstellung ontologischer Motiviertheit gibt." 2 2 Diese Ausprägung tritt gegenüber der ersten in der Spracharbeit deutlich zurück. 3. „Artifizielle Motiviertheit schließlich begegnet im R a h m e n der Ansätze zu Kunstsprachen, die mnemotechnisch so eingängig wie nur möglich gestaltet werden sollen." 2 3 Im R a h m e n der Spracharbeit Harsdörffers taucht diese Art der Motiviertheit vor allem bei den Sprachspielen mit Geheimschriften (vgl. Kap. 6.4, §81.) wieder auf. Sprachlegitimatorisch war die ontologische Motiviertheit sprachlicher Zeichen von besonderer Bedeutung, konnten doch so die in der deutschen Sprache ver19

C h r i s t m a n n (1985), S. 90: „ M i t d e m rationalen, 'klassischen' 17. J a h r h u n d e r t t r i t t die 'etymologische', auf das Zeichen als etwas N i c h t - A r b i t r ä r e s gerichtete Denkweise s t a r k zurück: Es t r i u m p h i e r t , bis weit ins 18. J a h r h u n d e r t hinein, d a s P r i n z i p vom arbitraire

du signe." 20 Vgl. G a r d t (1994), S. 51-68. ! 21 Lautsymbolische Überlegungen tauchen von der Antike (s. Coseriu (1969), S. 31) bis heute in der Sprachphilosophie auf, s. Pinker (1996), S. 193. 22 G a r d t (1994), S. 67 f. 2 3 G a r d t (1994), S. 68.

36

Spracharbeit

b o r g e n e n Möglichkeiten deutlich g e m a c h t werden. In der R e k o n s t r u k t i o n der d e u t s c h e n S p r a c h e aus einer endlichen Menge von S t a m m w ö r t e r n , die letztlich l a u t m a l e r i s c h o d e r lautsymbolisch m o t i v i e r t sein sollten, t a u c h t diese Argum e n t a t i o n ebenso wieder auf wie in einzelnen Bereichen der S p r a c h a r b e i t . Die A r g u m e n t a t i o n e n von Harsdörffer u n d Schottelius weisen in diese Richt u n g . D a L a u t m a l e r e i u n d L a u t s y m b o l i k ausführlich in K a p . 6.2 b e h a n d e l t werden, m ö g e hier ein Beispiel aus der AA des Schottelius als Beleg genügen. I m Z u s a m m e n h a n g m i t der E r k l ä r u n g der S t a m m w ö r t e r k o m m t Schottelius auf d e r e n o n o m a t o p o e t i s c h e G r u n d l e g u n g zu sprechen. „ D e n n / ein jedes Ding/ wie seine Eigenschaft und Wirkung ist/ also muß es vermittelst unserer Letteren/ und kraft derer/ also zusammengefügte Teutschen W ö r t e r / aus eines wolredenden Munde daher fliessen/ und nicht anders/ als ob es gegenwärtig da were/ durch des Zuhörers Sin und Hertze dringen. Zum Exempel nehme einer nur diese Wörter: Wasser fliessen/ gesäusel/ s a n f t / stille/&c. wie künstlich ist es/ wie gleichsam wesentlich fleust das Wasser mit stillem Gesäusel von unser Zungen? Was kan das Geräusch des Fliessenden Wassers wesentlicher abbilden? Was kan stiller/ sanfter und lieblicher uns zu gemüthe gehen/ als diese geordnete Letteren stille/ sanft und lieblich?" 24 A b e r auch die t r a n s z e n d e n t a l e Motiviertheit mystischer P r ä g u n g wird zur E r k l ä r u n g der d e u t s c h e n Sprache von Schottelius b e m ü h t . Neben u n d vor die L a u t m a l e r e i u n d L a u t s y m b o l i k t r i t t G o t t als eine alles erst ermöglichende I n s t a n z . Lassen sich die S t a m m w ö r t e r u n d deren L a u t e bzw. L e t t e r n d u r c h a u s noch i m m a n e n t erklären, so bleibt doch die alles u m g r e i f e n d e , vorgängige religiöse R ü c k b i n d u n g nach wie vor bestehen. „Es ist demnach der Anfang und vollständige Grundlegung der Teutschen Letteren/ der Stammwörter/ der Ableitungs- und Doppelungsarten/ nicht ohn Göttliche Mithülffe/ aus sonderlicher Kunst und Erfahrenheit entstanden: Denn die innerliche Schiklichkeit und wundervolle Art kan nicht gnugsam begriffen/ noch/ wie es anfangs kommen/ daß durch die Zusammenfügung etzlicher Zieferen ein solches W o r t / und folgende das lebhafte Bild eines Dinges dadurch werde vorgestellt/ ersonnen werden." 2 5 Harsdörffer selbst erklärt im „ S p e c i m e n Philologiae G e r m a n i c a " die B u c h s t a b e n g e r a d e z u als Gottesgeschenk: „Rectius affirmamus Litterarü Inventionem esse donum DEI plane singulare, nihilq; admirabilius, quam pauculis figuris contineri, quicquid sacri publici privati, dici aut cogitari potest."26 I n s g e s a m t gesehen ist die ^ ü a e t - f l e a a - D e b a t t e in folgenden P u n k t e n f ü r den Z e i t r a u m relevant. Es b e s t a n d d u r c h a u s ein Bewusstsein u m k o n k u r r i e r e n d e E r k l ä r u n g e n der Zeichen. Die Motiviertheit sprachlicher Zeichen t r a t in drei verschiedenen U n t e r f o r m e n auf. Ein theoretisches P o s t u l a t in der g r a m m a tischen Diskussion war die ontologische M o t i v i e r t h e i t ( L a u t m a l e r e i / L a u t 24 Schottelius, A A , S. 59. 25 Schottelius, A A , S. 58. 26 Harsdörffer, S P G , S. 107.

Zeitgenössische Sprachauffassungen

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Symbolik). In der Praxis begnügte man sich allerdings mit wenigen, oft wiederholten Beispielen. Diese Differenz zwischen theoretischem Anspruch und praktischer Beweisbarkeit war jedoch unproblematisch, da die ganze Argumentation sprachlegitimatorischen Zwecken diente. Weniger der Beweis, dass die Zeichen überhaupt φύσει seien, als vielmehr der Hinweis, dass dieses Prinzip auch für die deutsche Sprache gilt, war wichtig. Als letzte Erklärungsgröße und Fundierung der Sprachzeichen und des Sprachsystems wurden religiöse Argumente herangezogen. §25: Welchen Niederschlag fand die Motiviertheitsfrage im P r o g r a m m der Spracharbeit? Bei der Beantwortung dieser Frage fällt zunächst auf, dass beide Richtungen in gewisser Weise nebeneinander vorkommen. Am Postulat des φ ύ σ ε ι - ¥ ή η ζ ψ 8 wird festgehalten: „Solchergestalt [onomatopoetisch M.H.] können alle Wörter unserer belobten Sprache/ auß ihrer B e d e u t u n g / Natur und Weise hergeführet werden/ [ . . . ]." 27 Allerdings gilt dieses Prinzip nicht uneingeschränkt. Es wird in der Praxis durch die dialektbedingten Unterschiede in Aussprache und Schreibung der einzelnen Wörter abgeschwächt. Dies t u t jedoch der grundsätzlichen ontologischen Motiviertheit der W ö r t e r keinen Abbruch; sie besteht nach wie vor, gewissermaßen als diejenige Wortform, die den gegenwärtigen Varianten zu Grunde liegt. Sie mag nicht immer erschließbar sein, eine theoriebedingte Forderung bleibt sie dennoch. Arbiträr sind die sprachlichen Zeichen also nur insofern, als ihre zeitgenössische lautliche und schriftliche Erscheinungsform betroffen ist. Laute und Buchstaben, die im 17. Jahrhundert in noch viel stärkerem Maße als heute als Einheit verstanden wurden (vgl. §63), die zudem direkt bedeutungstragend sein sollten (Lautsymbolik), werden dann zur Disposition gestellt, wenn es u m Aussprache und Schreibung einzelner Wörter geht. Diese Art der Konzessionsbereitschaft in der Praxis der Spracharbeit zeigt sich deutlich in der Frage der Orthographie, die auch in der Sprachnormdiskussion (Analogie vs. Anomalie, s. §27) zum Ausdruck kommt. Harsdörffer als Hauptvertreter der Spracharbeit bezieht hier einen vermittelnden Standpunkt. Die konkreten Erscheinungsformen der Wörter in Lautung und Schreibung unterscheiden sich je nach Dialekt, dies ist aber für die Spracharbeit unerheblich. Das ganze Orthographieproblem wird zum Randbereich erklärt, der Streit um diese Oberflächenphänomene wird als unfruchtbar abgelehnt. „Noch zur Zeit ist für kein wesentliches Stuk der Spracharbeit die Rechtschreibung zu halten/ verstehe/ daß man sich deswegen etwas zu dolmetschen/ oder ein Gedichte abzufassen/ hindern lassen solte/ dann obwol zu wünschen were/ daß man sich hierinnen verglichen hätte/ wie künfFtig geschehen möchte/ so können doch/ bey dem Anfang/ die Streitursachen nicht entschieden werden/ bis man selbe gemein und ausfündig machet/ und ordentlich darüber erkennet hat. Inzwischen wird der Ostereicher/ der Schlesier/ der Schwab/ der Frank und der Schweitzer schreiben/ wie er zu 27

So die Figur Vespasian in F Z G III, S. 311 f., die in der nicht kontrovers g e f ü h r t e n U n t e r h a l t u n g zu den Vorzügen der deutschen Sprache Harsdörffers Meinung z u m A u s d r u c k bringt.

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Spracharbeit reden pfleget. Im Ende aber betrifft es nicht den Kern der Sprache/ sondern nur derselben Rinde. Kein Verständiger wird sich deswegen mit j e m a n d entzweigen." 2 8

In diesem Zitat aus der „Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit" wird ebenfalls die klare Priorität der Sprachpraxis vor der konsistenten Durchführung und Anwendung theoretischer Prinzipien deutlich. Vorrang soll die Anwendung der deutschen Sprache haben, wenn dabei auch zeitweilig Postulate wie die ontologische Motiviertheit der Zeichen ins Hintertreffen geraten. Der Kern des Sprachsystems ist davon nicht betroffen. Eine ähnlich vermittelnde Position bezieht Harsdörffer in anderen Streitfragen der damaligen Zeit ζ. B. in der Frage der Worttrennung. Letztlich ist es für die Ziele der Spracharbeit unerheblich, ob die Trennung nach Sprechsilben oder nach Morphemen erfolgt. Die Tatsache, dass diese grammatikalischen und sprachphilosophischen Fragen nicht endgültig geklärt sind, solle niemanden von der Übung in und der intensiven Nutzung der deutschen Sprache abhalten. „Wann hier [Worttrennung - Μ. H.] die Frage von Glaubenssachen were/ so müste man sich wider alle Vernunft/ derselben ungezweiffelt versichert halten: weil aber dieser Wortstreit von keiner Wichtigkeit ist/ mag ein jeder nach seinem Willen verfahren: Jedoch mit der Bescheidenheit/ daß er von dergleichen Streitfragen mehrern Bericht einzunehmen geruhe/ und nicht verwerffe die Meinungen deren Ursachen er zuvor nicht geuugsam [!] erkundiget." 29 Zusammenfassend: Für die Spracharbeit sind theoretische Streitfragen wie die nach der Motiviertheit sprachlicher Zeichen, oder — wie im letzten Zit a t — nach der W o r t t r e n n u n g sekundär. Es gelten die theoretischen Prämissen, hier also die ontologische Motiviertheit sprachlicher Zeichen. Wenn sich daraus allerdings Probleme ergeben, oder wenn strittige Wort Varianten bestehen, sollen diese Auseinandersetzungen zurückgestellt werden zu Gunsten der praktischen Umsetzung und Ausübung der deutschen Sprache. Arbitrarität sprachlicher Zeichen erscheint mit Blick auf die Gegenwart des 17. J a h r h u n derts in Form von Aussprache- und Schreibunterschieden (synchron). Die prinzipielle Rückführbarkeit der Sprachzeichen auf N a t u r l a u t e , auf Wesenseigenschaften, die sich aus der L a u t s t r u k t u r der Wörter ergeben, bleibt dabei erhalten (diachroner Aspekt). Die gesamte Diskussion ist über die generellen sprachlegitimatorischen Intentionen hinaus sprachpraktisch zugespitzt. Nicht nur der Wille zur Legitimation der deutschen Sprache steuert die Argument a t i o n (s. §24) sondern darüber hinaus das vorrangige Ziel der praktischen Anwendung der deutschen Sprache in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen. §26: Es bleibt die Frage nach den Ursachen der unterschiedlichen Schreibungen und Sprechweisen, also die Frage nach den Ursachen des Sprachwandels. Für Harsdörffer erklärt sich Sprachwandel von den Ausspracheunterschie28 Harsdörffer, STS, S. 372f. 29 Harsdörffer, FZG V, S. 742 f.

Zeitgenössische S p r a c h a u f f a s s u n g e n

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d e n her u n d diese w i e d e r u m a u s k u l t u r e l l e n F a k t o r e n , wie d e n k l i m a t i s c h e n V e r h ä l t n i s s e n , d e n S i t t e n o d e r d e m T e m p e r a m e n t der S p r e c h e r . „Nos, dum Ungues Germanicce Historiam vestigamus, necessario recurrimus ad primas Gentiü migrationes, per quas, & cum quibus Linguarum perpetua accidit mutatio, & mira varietas. Sicut enim sub diversis climatibus, corporum habitus, mores, instituta, temperamenta & ingenia sunt diversa, sie etiam ratio pronuneiandi ά primis prineipiis eö usque sensum defecit, ut Gallica, Italica, Hispaniea parum sincere Latince Lingua elegantiam & venustatem repreesentare & Anglica, Belgica & Danica priscam Todiscam, Gethicam vel Cimbricam plane exuisse videatur."30 In U b e r e i n s t i m m u n g m i t S c h o t t e l i u s v e r s t e h t auch H a r s d ö r f f e r S p r a c h w a n d e l i n s g e s a m t als e t w a s U n a u s w e i c h l i c h e s . W i e alle Dinge sich i m L a u f e d e r Zeit v e r ä n d e r n , so m ü s s e n sich a u c h die S p r a c h e n u n d u n t e r i h n e n das D e u t s c h e w a n d e l n . I m R a h m e n der z e h n t e n L o b r e d e „von d e r U h r a l t e n H a u b t S p r a c h e d e r T e u t s c h e n " 3 1 , die sich m i t d e n D i a l e k t e n a u s e i n a n d e r s e t z t , f ü h r t S c h o t telius selbst drei „ H a u b t u h r s a c h e n " des S p r a c h w a n d e l s an: 1. „die Erste ist der Ablauff und Hingang der Zeiten selbst/ d a r i n / vermöge der weltkündigen E r f a h r u n g / eine solche Kraft wohnet/ die alles mit sich dahin zeucht/ und zuletzt eine hinfallende Schwachheit und abnehmendes Alter herzubringet/ so wol in jedem anderen Dinge/ als auch in den S p r a c h e n " 3 2 S p r a c h e wird hier als G e g e n s t a n d u n d b e l e b t e r O r g a n i s m u s v e r s t a n d e n , der sich m i t z u n e h m e n d e n A l t e r nicht n u r v e r ä n d e r t s o n d e r n a u c h zu verfallen d r o h t . Es wird ein D e s z e n d e n z a n s a t z v e r t r e t e n von d e r „ u h r a l t e n T e u t s c h e n S p r a c h e " bis in die G e g e n w a r t des 17. J a h r h u n d e r t s . „Daß vor erst durch die forthinnagende fressige Zeit/ auch die Teutsche Sprache manchen Biß und Anstoß gelitten/ und zu vielfaltigen Enderungen gerat h e n / solches wird demselben gnugsam offenbar/ welcher der alten Teutschen Land- und Kriegswesens/ samt denen mannicherley ausgeteihlten veränderten Mundarten der Teutschen Sprache ein wenig nachsinnet." 3 3 2. „Die andere Hauptuhrsache ist die Vermischung und Vermengung der Völker und Einwohner/ dadurch gemeiniglich die alte Landsprache e r f r ö m d e t / guten Theils e r s t i r b e t / und in unacht zugerathen pflegt/ wegen Einstreuung mitgebrachter/ neuer/ unlandiiblicher Wörter und Redarten [ . . . ]." 3 4 Die M o b i l i t ä t der S p r e c h e r g r u p p e n u n d die d a m i t v e r b u n d e n e A u f 30

Harsdörffer, S P G , S. 60f.; vgl. d a n e b e n eine Stelle, an der Harsdörffer bis zu den A r t i k u lationsorten u n d - a r t e n als Quellen der Ausspracheunterschiede v o r d r i n g t . Harsdörffer, P T III, S. 6: „Solcher V e r ä n d e r u n g e n [der Sprachen - M . H . ] Ursachen sind f ü r n e m lich folgende. Es wandlet die Sprache entweder die Aussprache der W ö r t e r / o d e r die W ö r t e r an sich selbsten. Die Ausrede der W ö r t e r beschihet ä n d e r s t m i t den Lippen änderst m i t den G a u m e n / ä n d e r s t m i t der Keelen/ ä n d e r s t zwischen den Z ä h n e n / ä n d e r s t m i t offenem M u n d e . " 31 Schottelius, AA, S. 148-170. 32 Schottelius, A A , S. 166. 33 Schottelius, AA, S. 166. 34 Schottelius, AA, S. 166.

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Spracharbeit n ä h m e von Fremdwörtern durch Sprachkontakt ist dasjenige Sprachwandelargument, das in der Sprachpflegediskussion am stärksten zum Tragen kam. 3. „Die dritte Hauptuhrsache der Verenderung in den Landsprachen ist die befreite unacht/ unbedacht und unbetrachtete Ungewisheit der gemeinen Rede/ die sich fast in jeder Stat und jedem Lande mit der Zeit verzeucht/ und nach aller Beliebung des Pöbels zu Enderungen körnt." 35 Dieser G r u n d des Sprachwandels ist für Schottelius der schädlichste und zugleich derjenige, der verhindert, dass die deutsche Sprache zu gleicher B e d e u t u n g und Achtung emporsteigen kann wie die anderen Hauptsprachen. Neben der offenkundig sprachpflegerischen Stoßrichtung dieses Arguments, spricht es — aus heutiger Sicht — Sprachwandelprozesse an, die sich nach dem Prinzip der „unsichtbaren Hand" vollziehen aufgrund von intentionalen Handlungen, die nichtintendierte Folgen haben 3 6 .

Allerdings kann keine noch so starke Veränderung der Sprache dasjenige zerstören, was allen ihren Erscheinungsformen zugrunde liegt. Wie stark der Sprachwandel auch sein mag, auch in der zeitgenössischen, konkret gesprochen und geschriebenen Sprache steckt die eigentliche deutsche Sprache. Diese zugrunde liegende, durch den Sprachwandel teilweise verdeckte Sprache ist vollwertig. Für diese gelten alle bekannten A t t r i b u t e wie „Grundrichtigkeit", „Eigentlichkeit", „Reinheit"etc. 3 7 sowie ihr Aufbauprinzip aus S t a m m w ö r t e r n und deren Kombinationen 3 8 . Geradezu gegen die zeitgenössische Variation der Sprache in Dialekten wird die Kontinuität einer unverderbten, reinen, eigentlichen Sprache postuliert. Ein „Idealdeutsch" nennt Andreas G a r d t dieses K o n s t r u k t 3 9 . Dieser abstrakten Sprache, die in der Abgrenzung von ihrer konkreten Realisierung als langue im Unterschied zur parole zu verstehen ist, kann die Realität nichts anhaben. „Wer aber alhie würde gedenken/ es were ja die uhralte Teutsche Sprache gar in Abgang und aus ihr selbst geraten/ angesehen der heutigen jetzt in gemein üblichen Teutschen Sprache, derselbe wird sich erinneren lassen/ daß dem im Grunde nicht also/ und zwar darum: Unsere so wol alte/ als itzige Teutsche Sprache hat allemahl geruhet/ und ruhet festiglich annoch in ihren 35 Schottelius, AA, S. 166. 36 Keller (1990). 37 Zu „Eigentlichkeit" vgl. Gardt (1995), zu „Reinigkeit" vgl. Gardt et al. (1991), zu „Deutlichkeit" vgl. Reichmann (1992). 38 Zum Stammwort vgl. Kap. 7.1, §85. 39 Gardt (1994), S. 140: „Die Sprache geht danach also nicht in ihren historischpragmatischen Bezügen auf, sondern erhält eine Art platonische Idee, die unabhängig von ihren jeweiligen Realisierungsformen besteht. [ . . . ] Die deutsche Sprache [ ... ], als lingua ipsa Germanica, ist ein Idealdeutsch, das sich ansatzweise in den Texten einiger herausragender Autoren und verschiedener Institutionen wie einzelner Kanzleien oder dem Reichskammergericht in Speyer, bei bestimmter regionaler und sozialer Differenzierung zeigt, das nirgendwo aber in völlig reiner Form vorkommt - eine Vorstellung, die an Dantes Bild der italienischen Hochsprache als Panther erinnert, ,den man überall wittert aber nirgends sieht.'".

Zeitgenössische Sprachauffassungen

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eigenen einlautenden Stammwörtern/ Ableitungen und Doppelungs=arten/ j·

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Mindestens zwei Konsequenzen werden in der sprachtheoretischen Diskussion des 17. J a h r h u n d e r t s aus der Argumentation zum Sprachwandel gezogen: 1) Die Arbeit an und mit der deutschen Sprache ist dringend notwendig. Sprache wandelt sich wie alle Dinge im Laufe der Zeit. Dies gilt zwar nicht für ihr Bauprinzip u n d die Grundelemente ( S t a m m w ö r t e r ) . Hier wandeln sich lediglich die Erscheinungsformen. Aber Sprachwandel ist immer auch in die Nähe des Sprachverfalls zu rücken — die „alte Landsprache e r f r ö m d e t " . Somit stellt sich die Aufgabe, sowohl die grammatischen S t r u k t u r e n als auch die Grundelemente der deutschen Sprache (als langue) zu erforschen, zu rekonstruieren und bewusst zu machen. Dies kann den Sprachverfall a u f h a l t e n , wenn nicht in gewissem Maße sogar rückgängig machen. 2) Was für die deutsche Sprache gilt, gilt für die anderen Sprachen auch. Wenn Sprachwandel auch unausweichlich ist und in der deutschen Sprache mit unterschiedlichen Dialekten gerechnet werden muss, so ist dies dennoch kein Argument für die Minderwertigkeit des Deutschen. Auch in den anderen Hauptsprachen — Hebräisch, Griechisch und Latein — ist diese Art Sprachwandel zu beobachten. Dazu ein Beleg aus d e m „Poetischen Trichter" Harsdörffers: „Die Heilige Sprache/ welche bey deß Ebers Nachkommen/ benebens der waaren Religio beharret/ hat sich in die Chaldäische/ Syrische/ Punische und Arabische Mund=Art (der Samaritanischen zu geschweigen) getheilet/ daraus nachgehender Zeit besondre Sprachen worden/ daß/ die sie gebrauchet/ einander schwerlich oder nicht mehr verstehen können." 41 „Dergleichen ist auch von der Griechische Sprache bewust/ daß die Athische Ausrede von der Dorischen und Jonischen unterschieden gewesen [ . . . ]. Von der Römischen oder Lateinischen Sprache Veränderung und reichem Abfluß hat der berühmte Scaliger viel geschrieben [ . . . ] / mit VerlaufF der Zeit ist sie vor ihrem ersten Stammgrund (lingua osca) fast gantz abgekommen/ daß sie noch ein Italianer noch einer der in dem Latein wol beschlagen ist/ nicht verstehen kann." 42 Alle Sprachen sind — gewissermaßen gesetzmäßig — mit dieser Art von Sprachwandel geschlagen. Dies muss folgerichtig auch für die deutsche Sprache gelten. „Was wunder ist es dann/ wann unsre uhralte Majestätische Wort und Verstand reiche Teutsche Heldensprache/ von den allgemeinen Gesetzen deß wandelbaren WeltWesens sich nicht befreyen mögen?" 43 Mit dieser Parallelisierung wird das Negative, das j e d e m Sprachwandel (als tendenziellem Sprachverfall) anhaftet, neutralisiert. Wenn selbst die anerkannten Hauptsprachen nicht frei von dialektaler Variation sind, muss dies 40 Schottelius, AA, S. 41. 41 Harsdörffer, P T III, S. 3. 42 Harsdörffer, P T III, S. 4 f. 43 Harsdörffer, P T III, S. 5.

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Spracharbeit

auch die deutsche Sprache nicht sein 4 4 . Ein weiteres wesentliches Argument zur Legitimation der deutschen Sprache ist somit gewonnen (vgl. Kap. 7.2). Harsdörffer kann die Sprachwandeldiskussion für die Zwecke der Spracharbeit so zu einem gewissen Abschluss bringen, indem er wiederum vermittelnd auft r i t t . Ein Streit u m die Prestigevarietät ist den Zielen der Spracharbeit nicht förderlich und muss daher auch nicht entschieden werden. Fest steht, „Daß ein jeder/ der mit Verstand nach seiner Mundart schreibet/ dolmetschet oder dichtet/ genügsamen Fleiß erweisen und gebührendes Lob erlangen könne." 45 Viel wichtiger als diese Auseinandersetzung u m Aussprache- und Schreibvarianten sind für Harsdörffer die vermittelten Inhalte. Spracharbeit wird damit auf eine semantische Ebene in dem Sinne verlagert, dass die prinzipielle Tauglichkeit der deutschen Sprache zur Wissensvermittlung und Wissenskonstitution erwiesen wird. Es gilt, „Daß man wegen der unverglichne Schreib=Art kein gutes Buch verwerffen oder verachten/ und mehr auf den Inhalt/ als die Verabfassung sehen sol." 46 §27: Eine weitere wichtige Frage in der grammatischen Diskussion des 17. J a h r h u n d e r t s war die nach den Bestimmungsgrößen der Sprachnorm. Auch hier standen sich zwei Positionen gegenüber: die Anomalisten und die Analogisten. Bevor ihre Bedeutung für das Konzept der Spracharbeit dargestellt wird, sollen beide Thesen kurz skizziert werden 4 7 . Die G r u n d f r a g e für beide Positionen ist: Woran soll m a n sich in sprachlichen Zweifelsfragen orientieren? Am konkreten Sprachgebrauch (usus) oder an Vergleichsgrößen, die aus einem grammatischen Regelsystem bzw. aus analog gelagerten Fällen gewonnen wurden. Als H a u p t v e r t r e t e r der Analogisten wird gemeinhin Schottelius genannt 4 8 . In Fragen der Sprachrichtigkeit sollte nach seiner Meinung nicht ein dem Wandel der Zeiten unterworfener Sprachusus ausschlaggebend sein sondern die Grundrichtigkeit der deutschen Sprache, d. h. das unwandelbare, ideale Regelwerk der G r a m m a t i k . Hierunter fiel in erster Linie die Wortbildung. Die W o r t s t r u k t u r ist die Beschreibungsgröße der Sprachnorm. Takada (1985) konnte zeigen, dass sich das Verhältnis von Schottelius zum Konzept der Analogie zwischen der Veröffentlichung seiner „Teutschen 44

Harsdörffer treibt die Parallele bis in die Beispielebene hinein weiter: „In H. Schrifft haben wir ein Exempel an dem Wort S c h i b o l e t h / welches die von Ephraim gleich ihren Brüdern nicht ausreden können/ und gesagt S i b o l e t h R i e h t . I 2.2. Fast wie etliche S l a g e n / S i e u d e r / S l i n g e n für s c h l a g e n / S c h l e u d e r / S c h l i n g e n geschrieben und zärtlich ausgeredet haben wollen." Harsdörffer, P T III, S. 3f. 4 5 Harsdörffer, P T III, S. 8 [Fettdruck getilgt], 4 6 Harsdörffer, P T III, S. 8 [Fettdruck getilgt], 47 Vgl. ausführlich Gardt (1994), S. 368-385 mit weiterer Literatur; auf Frankreich bezogen Christmann (1980). ι» Jellinek (1913), S. 113; vgl. auch Leser (1914), Plattner (1967), S. 51 f., Lee (1968), S. 89; Barbaric (1981), S. 116, Ritt (1990), Neuhaus (1991), S. 70, am genauesten analysiert den Analogiebegriff bei Schottelius Takada (1985).

Zeitgenössische Sprachauffassungen

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Sprachkunst" von 1641 und der „Manuductio ad O r t h o g r a p h i a m " von 1676 in fünf Phasen verändert hat. In der ersten Phase ist Schottelius als Analogist noch gar nicht deutlich hervorgetreten. In der Zeit zwischen 1642 u n d 1650 (zweite Phase) werden Ansätze zu einer klaren analogistischen Position erkennbar. Noch lässt er allerdings den Sprachgebrauch neben der Analogie als Normkriterium gelten. Erst in der dritten Phase, die mit der Wiederauflage der „Teutschen Sprachkunst" von 1651 eingeläutet wird, ist der Höhepunkt der analogistischen Position erreicht 4 9 . Doch bereits in der AA von 1663 rückt Schottelius von dieser Extremposition wieder ab und r ä u m t dem Gebrauch wieder normative Befugnisse ein. Nach Takada entwickelt Schottelius geradezu zwei normgebende Instanzen nebeneinander. „Schottelius erkennt [ . . . ] neben dem rein linguistischen (oder sprachtheoretischen) Kriterium g r u n d richtig' das soziolinguistische a n g e n o m m e n ' an." 5 0 Gefestigt wird diese „Koexistenz der Normkriterien" 5 1 schließlich in der letzten Phase, die die „Manuductio ad O r t h o g r a p h i a m " markiert. Als Gegenpol zu Schottelius werden in der Literatur meist Chr. Gueintz u n d Fürst Ludwig von A n h a l t - K o t h e n genannt. Sie fühlten sich stärker einer deskriptiven Haltung verbunden, d. h. sie billigten dem akzeptierten Sprachgebrauch der Gebildeten normative Entscheidungsbefugnis zu. Die Schreibung wird aus dieser Sicht danach entschieden, wie in der Prestigevarietät gesprochen wird. Für die Zweifelsfälle gilt die Devise 'Schreibe, wie du sprichst!' Als Prestigevarietät fungierte das Obersächsische der Gebildeten (Meißnisch). Die Kontroverse wurde im Kreis der FG ausgetragen. Die Entwicklung des Analogiegedankens bei Schottelius ist auf dem Hintergrund dieser Diskussion zu sehen. Erst nach dem Tod der in der FG wichtigen Anomalisten (Gueintz und Fürst Ludwig) stellt sich Schottelius ganz auf den analogistischen Standpunkt52. Welche Haltung n a h m Harsdörffer in diesem Streit ein? Sein sprachtheoretischer S t a n d p u n k t war sehr stark von Schottelius geprägt 5 3 . In der Regel wird für Harsdörffer dieselbe mehr oder weniger starke Analogieposition angenommen. Dies trifft in theoretischer Hinsicht sicherlich zu. Allerdings muss gerade im Hinblick auf das Konzept der Spracharbeit beachtet werden, ob u n d inwieweit sich diese Haltung praktisch ausgewirkt hat. Bereits bei Schottelius ist festzustellen, dass die Sprachpraxis weit weniger rigide und konse49

T a k a d a (1985), S. 141: „Hier charakterisiert der S p r a c h t h e o r e t i k e r den G r u n d der Sprache eindeutig als analogisch (,analogica linguae f u n d a m e n t a ' ) , was in der ersten Auflage von 1641 f e h l t . " 50 T a k a d a (1985), S. 146 [Sperrungen getilgt], = i T a k a d a (1985), S. 150. 52 T a k a d a (1985), S. 140 f.: „Vermutlich h a t die .Wandlung' des G r a m m a t i k e r s in diesem Z e i t r a u m [um 1651 - M . H . ] d a m i t etwas zu t u n , d a ß die beiden wichtigen Verfechter der anomalistischen Sprachauffassung, F ü r s t Ludwig u n d G u e i n t z , 1650 sterben; d . h . n u n m e h r kann Schottelius 1651 ohne Z u r ü c k h a l t u n g sein eigentliches Analogieprinzip proklamieren." 53 Auch von e i n e m Einfluss in umgekehrter R i c h t u n g ist auszugehen. Das zeigen die zahlreichen Z i t a t e u n d Verweise in der AA auf das S P G von Harsdörffer.

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Spracharbeit

q u e n t war als es die analogistische Position e r f o r d e r t h ä t t e . Dies zeigt sich a m Beispiel der i e - S c h r e i b u n g in der AA 5 4 . I m ersten allgemeinen Lehrsatz von der R e c h t s c h r e i b u n g f ü h r t Schottelius eine E i n s - z u - E i n s - B e z i e h u n g zwischen P h o n e m e n u n d G r a p h e m e n als Ziel aus. „ [ . . . ] daß in Teutschen Wörteren/ alle diejenige Buchstabe/ welche der Rede keine Hülfe t u h n / ufi also überflüssig seyn/ sollen und müssen ausgelassen und nicht geschrieben werden/ [ . . . ]." 5 5 Er sieht i m F o r t g a n g des Textes die E i n w ä n d e der A n o m a l i s t e n voraus, bleibt a b e r z u n ä c h s t noch beim P r i m a t des aus t h e o r e t i s c h e n G r ü n d e n als richtig E r k a n n t e n . W e n n es einen eingebürgerten G e b r a u c h geben sollte, der d e m o b e n a n g e f ü h r t e n P r i n z i p widerspricht, d a n n darf dies nicht zur A u f g a b e des P r i n z i p s f ü h r e n 5 6 . K o n s e q u e n t setzt Schottelius diese F o r d e r u n g in den eigenen S c h r i f t e n u m , wenn es u m Fälle wie um, darum, warum, komt, nimt, und, daß, Frau s t a t t umb, darumb, warumb, kommpt, nimbt, unndt, daßz, Frauw ( m i t e n t s p r e c h e n d e n Varianten) geht. P r o b l e m a t i s c h wird die E i n s z u - E i n s - B e z i e h u n g allerdings bei den Dehnungszeichen u n d bei der U m s e t z u n g des P h o n e m s / / / als sc/i 57 . Die F o r d e r u n g „ d a s / d e m i beygesetzte e / m ü s t e n a c h gründlicher Eigenschaft T e u t s c h e r Sprache ungeschrieben bleib e n " 5 8 wird e b e n s o wenig in der P r a x i s u m g e s e t z t wie die Schreibung von sch vor w, l, m, η (AA, S. 196). Die G e f a h r , als Neuerer d a z u s t e h e n , der nicht d u r c h s e t z b a r e oder doch sehr u n g e w o h n t e Schreibungen p r o p a g i e r t 5 9 , schien Schottelius zu groß. D a d u r c h wollte er sein eigentliches Anliegen, einen G r u n d r i s s der d e u t s c h e n Sprache zu e r a r b e i t e n u n d verbindlich zu v e r m i t t e l n , nicht in Misskredit bringen. „Weil in diesem Opere auf ein viel anders mit mühsamer Arbeit gezielet/ und verum & utile LingueE Germanicee Studium vorstellig gemacht/ und dazu Anleitung gegeben wird/ so habe ich aus angezogenen Uhrsachen die Schreibung/ ie/ behalten auch sonderlich mit d a r u m / weil der Ausspruch bey den Hochteutschen änderst/ als bey den Niederteutschen sich finden möchte: Andere handgreifliche Misbräuche a b e r / sind Kraft der unlaugbaren Grundregulen/ geendert und in der Schreibung unbeobachtet worden." 6 0 54 Schottelius, AA, S. 191 55 Schottelius, AA, S. 188 [Fettdruck getilgt], 56 Schottelius, AA, S. 189: „Diejenige/ so auf den Gebrauch sich allerdings gründen/ würden den Inhalt dieses Lehrsatzes etwa für eine Neuerung halten/ und das/ was einmahl bekant und beliebt/ ungeändert haben wollen: Wie nun solche Gedanken demselbigen/ welcher dem unregulirten Gebrauche/ und dabey freien Misbräuche/ nachgehet/ zwar zugönnen/ also muß jedoch auch der kunstmässigen Untersuchung/ und der Sprachlehre selbst/ die Hand nicht gebunden/ sondern frey gelassen seyn/ die Eigenschaften und Gründe der Sprache nachfölgig zu behaupten." 57 Zu beiden Plattner (1967), S. 48f. und 51 f. 58 Schottelius, AA, S. 189. 59 Zesens orthograpischen Vorschläge wurden insbesondere aus diesem Grund von den Zeitgenossen abgelehnt. so Schottelius, AA, S. 191.

Zeitgenössische S p r a c h a u f f a s s u n g e n

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D e m „beliebten G e b r a u c h e " w u r d e so häufiger der Vorzug gegeben vor der „ n a t ü r l i c h e n Gleichförmigkeit der Sprache", u m d e m „klügelwilligen A r g w o h n der N e u e r u n g " 6 1 aus d e m Weg zu gehen. Diese gewissermaßen i n k o n s e q u e n t e H a l t u n g gilt in noch viel s t ä r k e r e m Maße f ü r Harsdörffer. Zwar a n e r k e n n t auch er die Vorgaben der Theorie. Er ist sich j e d o c h dessen b e w u s s t , dass in den o r t h o g r a p h i s c h e n P r o b l e m e n ein deutlicher Unterschied zwischen d e m I s t - u n d d e m Sollzustand b e s t e h t 6 2 . Das N e b e n e i n a n d e r zweier N o r m k r i t e rien, nämlich ratio u n d autoritas, b e h a n d e l t er ausführlich in der A b h a n d lung zur O r t h o g r a p h i e im S P G . Ratio u m f a s s t dabei in sechs U n t e r g r u p p e n aus d e m S p r a c h s y s t e m gewonnene Regeln, autoritas den S p r a c h g e b r a u c h in seiner u n s t r i t t i g e n F o r m ( O r i e n t i e r u n g an den besten S c h r i f t s t e l l e r n ) sowie in seiner u m s t r i t t e n e n F o r m (die auch u n t e r den G e l e h r t e n noch b e s t e h e n d e n Zweifelsfälle) 6 3 . Auch Harsdörffers Anliegen w ü r d e jedoch d u r c h ein starres B e h a r r e n auf d e m zu erreichenden Sollzustand nur g e f ä h r d e t werden. Er w e n d e t d a h e r im wesentlichen folgende Strategien an, u m diesen Konflikt zu e n t s c h ä r f e n . Generell konzediert er d e m usus die E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s , wenn m i t sprachs y s t e m a t i s c h e n A r g u m e n t e n nicht w e i t e r z u k o m m e n ist: „Wo die Ursachen aufhören/ fanget die Gewonheit an: Ich will sagen; wo man keine Ursachen geben kan/ folget man billich der gebräuchlichen Munda r t / und lasset die blinde Gewonheit des unverständigen Pövelvolkes an seinem Ort verbleiben [ . . . ]" 6 4 In Bezug auf das G e s a m t a n l i e g e n der S p r a c h a r b e i t e r k l ä r t er solche P r o b leme als wenig relevant, ähnlich wie bereits oben f ü r die R e c h t s c h r e i b u n g insgesamt a u s g e f ü h r t . Beide Positionen werden d a n n v o r g e f ü h r t , a b e r keine davon eindeutig abgelehnt. Dies gilt etwa bei der Frage der W o r t t r e n n u n g . Soll diese nach d e m silbischen oder m o r p h e m a t i s c h e n P r i n z i p erfolgen: „das erste ist g e b r ä u c h l i c h / das letzte verantwortlicher [ . . . ]." 6 5 F ü h r t diese verantwortliche (analoge) Variante zu ungewohnten S c h r e i b u n g e n , so m ü s s e n diese zunächst von a k z e p t i e r t e n A u t o r i t ä t e n in G e b r a u c h g e b r a c h t w e r d e n . In der P r a x i s ist d a m i t die Theorie zu G u n s t e n des e i n g e b ü r g e r t e n G e b r a u c h s zurückgestellt 6 6

61 Schottelius, AA, S. 191. 62 Vgl. die Einleitung zur 10. A b h a n d l u n g des S P G , wo es heißt: „nobis a u t e m hoc loco d i s q u i r e n d u m , non quid fiat, sed quid fieri debeat" Harsdörffer, S P G , S. 203. 63 Vgl. Harsdörffer, S P G , S. 211; §71, S. 205. 64 Harsdörffer, P T I, S. 125. es Harsdörffer, P T I, S. 127. 66 Ein weiteres Beispiel hierzu ist die / - S c h r e i b u n g in F r e m d w ö r t e r n : „Zu dieser durchgehenden Gleichheit der Sprache gehöret auch dieses/ daß die f r e m d e n W ö r t e r m i t ihren eigentlichen f r e m d e n B u c h s t a b e n behalten w e r d e n / als P r o p h e t / N y m p h e / P h ö b u s un nicht P r o f e t / N y m f e / Febus: d a n n ich sonst auch in a n d e r n W ö r t e r n d a s f f ü r ein h setzen m ü s s t e / als F a r a o / F i l i p / Fenix/ welches sehr f r e m d / und von a n d e r n h o c h a n sehnlichen Personen zuvor in G e b r a u c h gebracht werden m u ß . " Harsdörffer, P T I, S. 129.

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Spracharbeit

Eine d r i t t e Möglichkeit, die Kontroverse zwischen Analogisten und Anomalisten für die Spracharbeit nutzbar zu machen, ist die Umsetzung in Form eines Gesprächspiels. Harsdörffer lässt dazu (FZG III, S. 331-341) zunächst R e y m u n d , der einen gebildeten Studenten darstellt und in vielen Zusammenhängen die Meinung des Autors wiedergibt, die wichtigsten Fakten zur Rechtschreibung ausbreiten. Danach setzt dann die Diskussion zwischen ihm und den anderen Gesprächsteilnehmern ein, u. a. auch u m die Geltung des Sprachgebrauchs als Normkriterium 6 7 . Es zeigt sich also, dass Harsdörffer in der Praxis wohl noch stärker als Schottelius zu Konzessionen gegenüber dem Sprachgebrauch als Normkriterium bereit ist. Damit rückt er jedoch auch in die Nähe der Auffassungen von Anomalisten wie Gueintz und Fürst Ludwig. Die faktische Distanz zwischen den in der Forschungsliteratur entgegengesetzten Polen der Anomalisten u n d Analogisten war daher nicht so groß wie bisher angenommen 6 8 . Theoretisch blieb die Grundrichtigkeit gleichwohl auch bei Harsdörffer ein unverzichtbares Postulat, das auch mit der Motiviertheitsthese zusammenhing. Der Sprachgebrauch d u r f t e prinzipiell nicht oberste Entscheidungsinstanz werden, da dies die Konventionalität der sprachlichen Zeichen theoretisch u n t e r m a u e r t hätte69. Als Fazit für die Spracharbeit ergibt sich im wesentlichen ein Befund, der schon für die Motiviertheitsfrage gestellt wurde. Das theoretische Postulat der Analogie als maßgebliches Entscheidungskriterium t r i t t insofern zurück, als es mit dem eingebürgerten Sprachgebrauch verträglich gemacht wird. Der usus als „guter Gebrauch" erhält in der Praxis den Status eines Normkriteriums. Sowohl für Schottelius als auch für Harsdörffer sind die eigentlichen Ziele ihrer Arbeit — Kodifizierung und Erforschung der deutschen Sprache, sowie Vermittlung, Ausübung und Durchsetzung der deutschen Sprache in unterschiedlichsten Verwendungszusammenhängen — wichtiger als die in der Theorie als richtig erkannten Positionen. §28: Wie die beiden vorangegangenen Abschnitte bereits deutlich gemacht haben, war das 17. J a h r h u n d e r t in Bezug auf seine sprachphilosophischen Grundpositionen keineswegs homogen. Uber die φύσα,-θέσαund AnalogieA n o m a l i e - D e b a t t e hinaus, lassen sich drei sprachtheoretische G r u n d s t r ö m u n gen im gesamten J a h r h u n d e r t ausmachen. Gardt (1994) hat jede dieser Richtungen und ihre wichtigsten Vertreter intensiv erörtert, so dass hier eine 67 Harsdörffer, FZG III, S. 340: „14. C[assandra]. Was der Gebrauch bestettiget und erh e b t / last sich nicht mit eines und deß anderen Gutachten unterdruken/ wie man bißhero ins gemeine geschrieben/ darbey wird es wol sein Verbleibens haben. 15. R[aymund]. Von hundert Jahren her/ hat sich die Art zu schreiben merklich geändert. [ . .. ]" 68 Zu demselben Ergebnis kommt Gardt (1994), S. 29. Vgl. dazu auch Kap. 6.3, §72. 69 Gardt (1994), S. 369 fasst dies zusammen: „Eine Normierung der Sprache gemäß dem Analogieprinzip würde bedeuten, den Vorgaben einer inneren Sprachnatur zu folgen. [ . . . ] Eine Normierung der Sprache gemäß dem Anomalieprinzip würde ihre Sicht als nicht natürlich, sondern per Konvention gegeben implizieren, wobei als konventionell' bestimmte Formen des historischen Gebrauchs gelten."

Zeitgenössische Sprachauffassungen

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kurze Zusammenfassung der für die konzeptionelle Spracharbeit wichtigsten P u n k t e genügen kann. Bereits die verschiedenen Möglichkeiten der Motiviertheit sprachlicher Zeichen weisen auf die sprachreflexiven G r u n d h a l t u n g e n hin (s. S. 35): der ontologisierende Sprachpatriotismus, die Sprachmystik u n d der Sprachuniversalismus. D i e o n t o l o g i s i e r e n d - p a t r i o t i s c h e H a l t u n g : Für die vorliegende Untersuchung ist die erste Strömung ohne Zweifel die wichtigste. Harsdörffer als H a u p t v e r t r e t e r der Spracharbeit orientierte sich in sprachtheoretischen Fragen immer sehr stark an Schottelius. Dieser war wiederum d e r Protagonist dieses spezifischen Sprachpatriotismus. „Dabei handelt es sich um ein der grammatisch-rhetorischen Tradition des Humanismus verpflichtetes, gleichzeitig die deutsche Sprache ideologisch überhöhendes und in Teilen nicht mehr rational explizierbares Sprachdenken, das die Existenz eines ahistorischen, in sich und mit der Natur der Dinge kohärenten deutschen ,Sprachwesens' postuliert; wichtige Vertreter sind Justus Georg Schottelius und Philipp von Zesen." 70 Diese Sprachtheorie war eng gekoppelt mit der ontologischen Motiviertheit der Sprachzeichen (Lautmalerei/Lautsymbolik). Dabei stand immer der Legitimationsgedanke im Vordergrund. Es wurde davon ausgegangen, dass die ontologische Motiviertheit insbesondere für die deutsche Sprache Gültigkeit habe. Dieses m e h r vorausgesetzte als bewiesene spezifische deutsche Sprachwesen war der theoretische Mittelpunkt, u m den h e r u m sowohl die Erforschung als auch die Legitimation der deutschen Sprache kreiste. Das „Idealdeutsch" (s.o.) als dem konkreten Sprachgebrauch zugrunde liegende, eigentliche Sprache h a t t e die Eigenschaft, das Sein der Dinge, die mit ihr bezeichnet werden, in objektiver Weise auszudrücken. Die deutsche Sprache in diesem idealen Sinne „verfügt auf einer Art Tiefenebene [ . . . ] über besondere Nähe zum Sein der Dinge; regelwidriger,,undeutscher' Sprachgebrauch ist nicht einfach nur falsch, sondern gleich ,der Natur zuwider' . " n Auf diese G r u n d h a l t u n g trifft man nicht nur in den grammatischen Werken des Schottelius sondern an den unterschiedlichsten Stellen im Werk von Harsdörffer und insbesondere in den FZG. Sie spielt für die Spracharbeit eine entscheidende Rolle. Geht m a n von dieser Position aus, so bedeutet Arbeit an und mit der deutschen Sprache eben nicht nur die Einübung in der Verwendung eines Kommunikationsmittels, nicht nur die Durchsetzung einer Einzelsprache gegenüber anderen. Die deutsche Sprache hat eine besondere welterschließende und erkenntniskonstituierende Funktion. Sie muss daher rein erhalten werden in dem Sinne, als die deutschen Ausdrücke die eigentlich zutreffenden sind, d. h. diejenigen, die den Kern der bezeichneten Sachverhalte 'richtig' ausdrücken. Zudem ermöglicht diese Sicht der Dinge die Stiftung kultureller Identität über die Sprache. Gardt nennt neben Schottelius noch Philipp von Zesen als wichtigen Vertreter des ontologisierenden Sprachpatriotismus. Zesen scheidet allerdings in 70 Gardt (1994), S. 21. Gardt (1994), S. 135f.

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Spracharbeit

Hinsicht auf das Konzept der Spracharbeit nahezu gänzlich aus. Durch seine kompromisslose Haltung in orthographischen Fragen, durch seinen extremen Fremdwortpurismus sowie durch sein persönliches Auftreten war er schon unter den Zeitgenossen ein Außenseiter. Damit soll keineswegs seine Bedeutung für die deutsche Literaturgeschichte in Frage gestellt werden 72 . Auch die Leistungen und die Auswirkungen seiner zahlreichen Verdeutschungsversuche von Fremdwörtern werden heute zunehmend positiver beurteilt 7 3 , nämlich als als provokative Anstöße zu einem kritischen Sprachbewusstsein. Doch kann davon ausgegangen werden, dass die radikale Position Zesens ihm viel von seiner möglichen Wirksamkeit bei den Zeitgenossen genommen hat 7 4 . D i e sprachmystische Haltung: Zwischen sprachmystischen und ontologisierenden Vorstellungen gibt es Überschneidungen und Berührungspunkte. Dies gilt insbesondere für die Frage der Motiviertheit sprachlicher Zeichen. Allerdings kommt bei der mystischen Ausprägung der Sprachreflexion ein deutlich transzendentes Moment hinzu. Die Zeichenmotiviertheit wird gelöst von der Einzelsprache und hingelenkt zu einer von Gott gegebenen Ursprache. Die Legitimation einer Einzelsprache (Deutsch) ist nicht Ziel der Überlegungen. „Ein Mystiker wie B ö h m e geht von der Motiviertheit der N a t u r s p r a c h e aus und sieht sie in ,der' M u t t e r s p r a c h e fortgesetzt; A u t o r e n mit sprachpatriotischem Anliegen suchen die Motiviertheit speziell des Deutschen nachzuweisen." 7 5

Der Hauptvertreter dieser sprachreflexiven Richtung war Jakob Böhme 76 mit seiner Natursprachenlehre, die er in der „Aurora" 7 7 , in „De signatura rerum" 7 8 und im „Mysterium Magnum" 7 9 entwickelte. In der Natursprache vereinigen sich Ideen der adamischen Ursprache mit lautsymbolischen Überlegungen 72 Zu Zesen vgl. Blume (1967)(1972a)(1974), van Ingen (1970)(1984)(1990), Mache (1972), daneben Gardt (1994), S. 58-63, der die sprachmystischen Anteile bei Zesen herausarbeitet. 73 Vgl. Kap. 8.2; von Polenz (1994), S. 122: „Trotz (oder wegen) seiner Radikalisierung muss Philip v. Zesen das Verdienst zugeschrieben werden, ein sprachkritisches Bewußtsein in Deutschland provoziert zu haben, das mit langfristiger Wirkung bis ins 20. Jh. nicht nur als blindwütiger Fremdwortpurismus angewandt worden ist." 74 Dazu Blume (1974), S. 199: „Zesen und Harsdörffer haben sich in diesen Fragen [Orthographie - Μ. H.] trotz gelegentlich geäußerter Konzessionen nie einigen können, und diese drei Fixpunkte in Zesens Anschauungen (nämlich [1] seine von Schottelius und Harsdörffer abweichende Stammwort-Konzeption mit deren Auswirkung auf die Orthographie, [2] seine übrigen Systematisierungs- und Vereinfachungsbestrebungen zur Orthographie [3] sein rigoroser lexikalischer Purismus) haben bekanntlich zum Bruch mit der FG geführt, der wiederum zu Zesens gesellschaftlicher Isolierung entscheidend beigetragen haben dürfte." 7 5 Gardt (1994), S. 46. 76 Gardt (1994), S. 68-108 mit weiterer Literatur; zur mystischen Ausrichtung Böhmes vgl. insbesondere die Arbeiten von Benz (1936)(1936a)(1951)(1973), Kayser (1930), Klein (1992), S. 203-225, Scholem (1973) und Schulze (1955). 77 Böhme (1612/1955). 7 ® Böhme (1622/1657). 7 => Böhme (1623/1958).

Zeitgenössische S p r a c h a u f f a s s u n g e n

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( M o t i v i e r t h e i t ) u n d Einflüsse aus der j ü d i s c h e n K a b b a l a 8 0 . „ S p r a c h a l c h i m i e " n a n n t e Benz (1936a) das Vorgehen B ö h m e s 8 1 . G o t t schuf die Dinge d u r c h sein W o r t , der Mensch t u t es i h m in allerdings v e r ä n d e r t e r Weise n a c h . Als A b b i l d G o t t e s kann er lediglich versuchen, das göttliche Wort n a c h z u s c h ö p f e n . „[ . . . ] die Geburt des menschlichen Wortes im menschlichen Geist (in der menschlichen Person) ist ein Bild der Geburt des göttlichen Wortes in G o t t . Der Mensch spricht, weil Gott spricht, und in der Entstehung des menschlichen Wortes spiegelt sich die Theogonie des göttlichen Worts." 8 2 Der wesentliche Unterschied zwischen d e m g ö t t l i c h e n u n d d e m m e n s c h l i c h e n Bezeichnen als Sprachschaffen liegt nun darin b e g r ü n d e t , dass das m e n s c h l i c h e B e n e n n e n ( „ N e n n e n " ) nicht wie das göttliche ein wirkliches E r z e u g e n der Dinge ist, sondern eher eine R e k o n s t r u k t i o n der den Dingen i n n e w o h n e n d e n Eigenschaften (Signaturen). „Dieses ,Nennen' ist also nicht wie bei Gott ein Ins-Dasein-Rufen. Trotzdem wohnt diesem menschlichen kreatürlichen Werk des Nennens ein schöpferisches Element inne. Es ist ein Nachschaffen des Wesens der Dinge im menschlichen Wort aus dem Stoff der eigenen Qualitäten." 8 3 Aus der richtigen (Schall)Analyse der S p r a c h e l e m e n t e lassen sich d a s Wesen der Dinge u n d d a r ü b e r hinaus m e t a p h y s i s c h e E r k e n n t n i s s e g e w i n n e n 8 4 . Dieser Zugang ist j e d o c h nur d e m E r l e u c h t e t e n möglich, der sich g a n z in G o t t versenkt (unio mystica). Er ist nicht r a t i o n a l nachvollziehbar 8 5 . In d i e s e m Sinne hat Sprache O f f e n b a r u n g s c h a r a k t e r , erschließen sich doch d e m W i s s e n den so die in den L a u t e n verborgenen G e h e i m n i s s e der N a t u r , die d e n Dingen a n h a f t e n d e n Signaturen. W e n n auch die S p r a c h m y s t i k f ü r die konzeptionelle S p r a c h a r b e i t von unt e r g e o r d n e t e r B e d e u t u n g ist, so e r h ä l t sie doch d u r c h den l e t z t e n A s p e k t an B e d e u t u n g . Dieser O f f e n b a r u n g s c h a r a k t e r der Sprache, die Möglichkeit, u n t e r der O b e r f l ä c h e der Zeichen u n d ü b e r die auf der H a n d liegenden B e d e u t u n gen h i n a u s weitere verborgene E r k e n n t n i s s e gewinnen zu k ö n n e n , wird in der S p r a c h a r b e i t von Interesse. So s t e h t insbesondere h i n t e r d e n j e n i g e n S p r a c h spielen letztlich mystisches G e d a n k e n g u t , in denen P e r s o n e n n a m e n zerlegt u n d aus den E i n z e l b u c h s t a b e n die E i g e n s c h a f t e n der P e r s o n e n e r m i t t e l t wer-

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Kayser (1930), S. 523f., Schulze (1955). 81 Zur Sprachmagie vgl. auch Klein (1992), S. 145-160. 82 Benz (1936), S. 342. 83 Benz (1936), S. 342f. [Hervorhebungen getilgt], 84 Benz (1936), S. 346, Gardt (1994), S. 99. 85 Gardt (1994), S. 76: „Das zumindest vorübergehende Erleben der Einheit mit Gott geschieht durch Empfinden des göttlichen Wortes in der Seele. Dies gelingt nicht durch intellektuelle Anstrengung, sondern durch eine visionäre, in ihren entscheidenden Aspekten auf Sprache verzichtende Hingabe an das Göttliche. Damit erweist sich dieser Aspekt des mystischen Sprachdenkens als das Gegenteil der aufklärerischen Forderung an den Menschen, sich die Welt als intentional mit Sprache handelndes, rationales Individuum zu erschließen."

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Spracharbeit

den 8 6 , oder in denen Zahlen (in Form von Buchstaben) sinnvoll in einen zu verfertigenden Text eingesetzt werden müssen 8 7 . D i e s p r a c h u n i v e r s a l i s t i s c h e H a l t u n g : Eine Abwendung sowohl von der Einzelsprache als auch von metaphysischen Erkenntnisansprüchen erfolgt im Sprachuniversalismus. Zwei Aspekte sind dabei von besonderer Bedeutung. Zum einen die Frage nach den allen Sprachen gemeinsamen g r a m m a tischen S t r u k t u r e n , d. h. die gerade heute wieder in der Sprachtypologie und in der Generativen G r a m m a t i k aktuelle Diskussion um die Prinzipien der Universalgrammatik. Zum anderen das Bemühen u m eine künstliche Sprache, die nicht den Ungenauigkeiten und semantischen bzw. syntaktischen Restriktionen einer Einzelsprache unterworfen ist. Dieser Aspekt hat seine moderne Parallele in der sprachphilosophischen Diskussion einer idealen Sprache, ausgehend vom frühen Wittgenstein und dem logischen Empirismus. Beide Aspekte hängen insofern zusammen, als die E r m i t t l u n g übereinzelsprachlicher grammatischer S t r u k t u r e n gleichzeitig die Hinweise darauf liefert, wie eine künstliche Universalsprache aussehen könnte. In ihrer historischen Entwicklung sind Universalsprachen eng mit der Tradition von einzelsprachenunabhängigen Geheimsprachen verbunden. Die einzelnen Vertreter der universalsprachlichen Bemühungen, deren Vorläufer sowie die geheimsprachlichen Traditionen in Frankreich und England hat Gardt ausführlich dargestellt 8 8 . Ein wichtiger Vertreter der universalgrammatischen Bemühungen im deutschen Sprachraum des ausgehenden 17. J a h r h u n d e r t s war Gottfried Wilhelm Leibniz 8 9 . Er setzte sich nicht nur für die deutsche Sprache ein, indem er — wie Schottelius — die Kodifizierung des deutschen Wortschatzes in unterschiedlichen W ö r t e r b u c h t y p e n (allgemeinsprachlich, fachsprachlich, dialektal) forderte und beklagte, dass der Mangel an Ausdrucksmöglichkeiten im Deutschen für A b s t r a k t a nicht der Sprache sondern deren Benutzern zuzuschreiben sei 90 . Sein Interesse galt auch den Universalsprachentwürfen und der d a m i t

86 Vgl. Kap. 6.4, §74. Z.B. die Aufgabe, ein Gedicht zu verfassen, dessen Inhalt sich auf ein Jahr bezieht, das sich aus der Summe der Zahlen, die sich aus dem Text ermitteln lassen, ergibt. Harsdörffer, FZG, V, S. 89 ff. Vgl. Kap. 6.4, §78. 88 Insbesondere auf die Ausführungen zur einflussreichen Port-Royal-Grammatik (S. 275282), zu dem noch immer wenig erforschten Christoph Helwig (S. 282ff.), zu den Geheim- und Universalsprachentwürfen von Trithemius (S. 295ff.), Kircher (S. 304f.), Wilkins (S. 305ff.), Comenius (S. 315ff.) und Johann Joachim Becher (S. 323ff.) sei an dieser Stelle hingewiesen. Zur Kryptographie insgesamt Costamagna (1996). 89 Vgl. zum Sprachuniversalismus die detaillierte Darstellung bei Gardt (1994), S. 251338, mit weiterer Literatur S. 262f.; zu Leibniz den Uberblick in Heinekamp (1992); Einordnung in den geistesgeschichtlichen Kontext und allgemein zur Sprachphilosophie Apel (1975), S. 297-317, Neff (1870/1871), Schulenburg (1973), Scharnhorst (1991); zur engen Anlehnung Leibniz' an Schottelius speziell in den „Unvorgreifflichen Gedanken" Schmarsow (1877), Kürschner (1996); speziell zur mathematischen Methode und seinen universalsprachlichen Plänen Huberti (1966), Arndt (1971), Heinekamp (1972), zur Sprachursprungsfrage Dutz (1988); weitere Literatur in den Bibliographien von Dutz (1983), Heinekamp (1984). so Leibniz (1717/1877), S. 48. 87

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verbundenen Idee, über die zu gewinnende Universalsprache eine Möglichkeit an die Hand zu bekommen, neue Erkenntnisse quasi mechanisch zu gewinnen. W ä r e es möglich eine Sprache aus eineindeutigen Zeichen (characteres) zu erstellen, die die Basiselemente des Denkens darstellten, so w ü r d e n sich über deren Kombinationen alle nur denkbaren und möglichen Erkenntnisse, die mit diesen Einheiten zusammenhängen, automatisch ergeben. „Den elementaren mentalen Grundeinheiten sind also ebenso elementare Characteres in zeichenrelationaler Eineindeutigkeit zugeordnet. Uber die mentalen Einheiten sind automatisch sämtliche Gegenstände und Sachverhalte der Realität erfaßt [ . . . ]. Werden nun die für die mentalen Einheiten stehenden Zeichen kombiniert, so zeigen die erreichten Kombinationen aufgrund der strengen Isomorphieverhältnisse die exakte Struktur komplexer Vorstellungen von bestimmten konkreten oder abstrakten Gegenständen und Sachverhalten der realen oder einer fiktiven Wirklichkeit an." 9 1 Für diese Art der Wahrheitsfindetechnik (ars invenitndi) gab es m e h r e r e Vorläufer, allen voran aus dem 13. J h d . Raimundus Lullus' „Ars combinatoria" 9 2 , auf die sich dann auch Athanasius Kircher 9 3 bezog. Inwiefern waren nun die universalsprachlichen und geheimsprachlichen Vorstellungen für die Spracharbeit bestimmend? Harsdörffer griff beide Ansätze auf und verwendete sie. Die wohl bekannteste U m s e t z u n g einer mechanischen ars inveniendi war der „Fünffache Denckring der Teutschen Sprache", den Harsdörffer im zweiten Teil der „Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden" entwarf 9 4 . Er bestand aus aus fünf gegeneinander verschiebbaren Ringen, auf denen jeweils Silben bzw. einzelne Konsonanten oder Vokale gedruckt waren. Durch entsprechendes Einstellen der Ringe sollten sich alle nur denkbaren S t a m m w ö r t e r der deutschen Sprache samt ihren P r ä - und Suffixen darstellen lassen. Aber auch die zeitgenössischen Entwürfe von Geheimsprachen und insbesondere Geheimschriften n u t z t e Harsdörffer zur Spracharbeit, indem er sie als Material für die Dichtung 9 5 und als popularisiertes Wissen 9 6 vermittelte oder sie zum Ausgangspunkt für Gesprächspiele machte 9 7 (vgl. Kap. 6.4, §81). §29: Wenn m a n die wichtigsten sprachtheoretischen Diskussionspunkte und Grundideen des 17. J a h r h u n d e r t s auf das Konzept der Spracharbeit bezieht, so drängt sich der Eindruck eines pragmatischen Eklektizismus auf. Alle wichtigen sprachphilosophischen Probleme und G r u n d h a l t u n g e n tauchen in der Spracharbeit auf. Für die drei Ansätze, die sich nicht immer widerspruchsfrei verbinden lassen, können Anwendungsbeispiele gefunden werden. Bei Harsdörffer finden sich diese theoretischen Positionen gemeinsam, wenn üi G a r d t (1994), S. 334. 92 Zu Lullus G a r d t (1994), S. 213-221. 93 G r u n d l e g e n d Kircher (1669), der d o r t detailliert auf Lullus eingeht. 94 M P E II, S. 516ff.; vgl. d a z u §94. 95 Z . B . Harsdörffer, P T II, S. 2 8 f . 96 Z . B . Harsdörffer, M P E I, S. 66ff.; M P E III, S. 5 6 f . u n d S. 66-70. 97 So z . B . Harsdörffer, F Z G I, S. 167 ff.; F Z G II, S. 350 ff.; F Z G VIII, S. 71-75.

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Spracharbeit

nicht gleichzeitig so doch nebeneinander, d. h. in verschiedenen Kontexten integriert. Damit schließt er aus, einen möglicherweise richtigen, erkenntnisträchtigen Zugang zur Sprache überhaupt nicht erkannt und für die deutsche Sprache im Besonderen verwertet zu haben. Aus theoretischer Perspektive ist für die Zwecke der Spracharbeit jede dieser Grundpositionen richtig in dem Sinne, dass sie den kulturpatriotischen Zielen der Legitimation, Anwendung und Durchsetzung der deutschen Sprache förderlich sein kann. Eine klare Zuordnung und theoretische Bestimmung wird dadurch allerdings erschwert, wenn nicht unmöglich. Spracharbeit zeigt sich damit als sprachphilosophisches Konglomerat und Brennpunkt aller diskutierten Ansichten des 17. Jahrhunderts. Vorrang vor jeder theoretisch-sprachreflexiven Einordnung haben legitimatorische Postulate (Alter, Würdigkeit, Gleichrangigkeit, Vorzüge des grammatischen Systems des Deutschen etc.) und insbesondere die vorexerzierte und angeleitete kommunikative Praxis. Wenn also Harsdörffer von seinem eigenen sprachtheoretischen Anspruch sicherlich eindeutig Schottelius und dem ontologischen Sprachpatriotismus zuzuordnen ist, so löst sich für ihn diese ausschließliche Zuordnung wieder auf, wenn man auf die praktische Umsetzung dieser Position blickt.

§30: Aus den vorangegangen Abschnitten ergeben sich einige Konsequenzen für das Konzept „Spracharbeit". Es erscheint auf den ersten Blick als uneinheitlich, ja widersprüchlich bestimmt. Die Instrumentalisierung der Motiviertheitsfrage, die in der Praxis ausgleichende Position in der AnalogieAnomalie-Diskussion zur Sprachnormierung und der pragmatische Eklektizismus in Bezug auf die sprachphilosophischen Grundhaltungen weisen in diese Richtung. Worin besteht demnach der Kern der Spracharbeitskonzeption, der diese Unstimmigkeiten erklären könnte? Das einigende Band für die Spracharbeit besteht nicht in einem oder mehreren innersprachlichen sondern in außersprachlichen Faktoren. Der Nachweis der ontologischen Motiviertheit der Sprachzeichen ist eines der Mittel gewesen, die deutsche Sprache als gleichrangig mit bzw. teilweise sogar als vorrangig vor den anderen europäischen Sprachen zu erweisen. Weitere Mittel, wie der „Nachweis" des hohen Sprachalters des Deutschen und sprachsystembezogene Argumente (Stammwortreichtum, Wortbildungsmöglichkeiten), dienten ebenfalls diesem Zweck (vgl. Kap. 7.2). Die Legitimation der deutschen Sprache war jedoch selbst wiederum nur ein Teil der Hauptintention konzeptioneller Spracharbeit. Diese bestand darin, über das Mittel der Sprache den Anschluss an den kulturellen Entwicklungsstand v. a. der Leitnationen Frankreich, Italien und Spanien zu finden. Die deutsche Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts ist stark geprägt durch Ubersetzungen von literarischen Texten aus diesen Ländern. Die rege Ubersetzungstätigkeit ist jedoch nur ein Mittel, um die literarischen Vorbilder für die eigene Textproduktion fruchtbar zu machen. Spracharbeit geht über diesen engeren literarischen Rahmen hinaus, indem neben Ubersetzungen — die Harsdörffer nicht nur empfohlen, sondern in der Übersetzung

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von M o n t e m a j o r s „Diana" 9 8 und an anderen Texten selbst betrieben hat — sämtliche Möglichkeiten genutzt werden, das Potential der eigenen Sprache zu erschließen, anzuwenden und auszuschöpfen. Diese Anwendung z u m Zwecke des kulturellen Anschlusses ist der Kern der Spracharbeit. Auch die Erkenntnis, dass sich die Verdeutschungsarbeit und der F r e m d w o r t p u r i s m u s des Zeitr a u m s weniger gegen die Sprachen richtete, aus denen das Wortgut entlehnt wurde, sondern vielmehr darauf ausgerichtet war, in der eigenen Sprache das entsprechende Wortmaterial zu schaffen und zu nutzen, lässt sich mit dieser Konzeption vereinbaren (vgl. Kap. 8.2). Das System, die Vorzüge und die Anwendungsmöglichkeiten der deutschen Sprache sind sicherlich die augenfälligen T h e m e n der Spracharbeit, sie müssen aber i m m e r im Hinblick auf diese Hauptintention gesehen werden. So löst sich auch die Verwirrung auf, die durch die Vermischung der sprachphilosophischen G r u n d h a l t u n g e n entsteht. Folglich steht weniger die theoretisch-begriffliche Stringenz des Spracharbeitskonzepts im Vordergrund als vielmehr die konsequente Ausrichtung auf die Praxis, auf die Aneignung der deutschen Sprache und damit auf die Welterschließung und auf den kulturellen Anschluss an die fortschrittlicheren Nachbarnationen. Dass dem Mittel der Sprache zur Erreichung dieses Ziels eine Schlüsselfunktion zukommt, liegt in dem erkenntniskonstitutiven Status begründet, der ihr zugeschrieben wurde. Harsdörffer betont an verschiedenen Stellen, dass die Aneignung der Muttersprache, wie er sie sich im Sinne der Spracharbeit vorstellt, kein automatischer Vorgang ist, sondern ein Prozess der willentlich u n d bewusst erfolgen muss. Diese Art Spracherwerb ist eine umfangreiche Lernaufgabe. „18. Wie? sagen andere/ Sollen wir in unserem Alter unsere Muttersprache erlernen? Wir können bereit Teutsch reden und schreiben so viel uns vonnöhten/ und haben die Zeit auf andere Sachen zu wenden. 19. Ein anders ist Reden/ ein anders Wolreden/ ein anders Schreiben/ ein anders Rechtschreiben: Jenes mag man leicht zur Gnüge lernen/ dieses nicht ohne Mühe und emsiges Nachsinnen." 99 Besondere B e d e u t u n g kommen in diesem Lernprozess Begriffen wie „Fleiß" u n d „Arbeit" zu, die auf einen nahezu grenzenlosen sprachdidaktischen Optimismus hinweisen 1 0 0 . Insofern gehen die Bemühungen Harsdörffers über rein rhetorische und poetische Anleitungen hinaus. Auch sein „Poetischer Trichter" ist in diesem Sinne weniger als Dichtanleitung oder rhetorisches Lehrbuch zu verstehen. Seine Adressaten sind vielmehr die „Liebhaber der Teutschen Sprache" 1 0 1 , die wie er d a r u m b e m ü h t sind, durch praktische Spracharbeit das Ansehen u n d die Anwendungsgebiete der deutschen Sprache zu heben 98 Harsdörffer (1646a). 99 Harsdörffer, STS, S. 366 [Fettdruck getilgt]. Vgl. auch das umfangreiche Zitat aus FZG III, S. 308-310 in §34, S. 69. 100 „Arbeit" meint hier geistige, nichtmanuelle Arbeit, die Harsdörffer klar von der körperlichen Arbeit trennt, z.B. im Rahmen der Frage: „Ob der Verstand oder der Leibe [!] grössere und schwerere Arbeit ausstehen könne?" FZG VIII, S. 519 ff. ιοί Harsdörffer, P T , I, S. 122.

Spracharbeit

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und zu verbreitern. Die Poetik ist dabei nur ein Anwendungsgebiet. Diese steht jedoch immer neben der Rhetorik und der Wissenschaft, die genauso Anwendungsgebiete der Spracharbeit sind. Das zwischen dem, was über Fleiß, und dem, was über Begabung in der Dichtung erreicht werden kann, ein wesentlicher Unterschied besteht, ist für Harsdörffer unstrittig. Aber für die Spracharbeit genügt die Kenntnis der poetischen Regeltechnik und die darin vollzogene poetische Fleißarbeit durchaus: „7. Wie nun kein Acker so schlecht/ und unartig zu finden/ den man nicht durch Fleiß/ und beharrliche Pflegung/ un Arbeit solte fruchtbar machen könen: also ist auch keiner so unreines Hirns/ der nit durch Nachsinnen/ auf vorher erlangte Anweisung/ (welche gleichsam der Wuchersame ist/) eine gebundne Rene [!]/ oder ein Reimgedicht zusammenzubringen solte lernen können: jedoch einer viel glückseliger/ als der andere. 1 0 2

Zudem ist die gründliche Kenntnis der Muttersprache — und in diesem Zusammenhang auch die Kenntnis der deutschsprachigen Dichtungen — für den Gelehrten ohnehin eine notwendige Voraussetzung. 8. Es ist zwar nicht eines jeden Gelegenheit/ Verse zu m a c h e n / oder zu lesen [ . . . ] so stehet es doch wol/ und ist fast nohtwendig/ daß ein Gelehrter seine Muttersprache gründlich verstehe/ und derselben Poeterey nicht unwissend sey; wie auch keiner sich einer Sprache/ mit F u g / rühmen kan/ wann er nicht in derselbigen die Verskunst s t u d i r e t / und zum wenigsten die vornemsten Poeten/ als die sinreichsten Sprachmeister/ gelesen h a t . " 1 0 3

Dieses Ideal der Lehr- und Lernbarkeit der deutschen Sprache denkt Harsdörffer in der fünften Abhandlung des SPG, die von der Lernbarkeit der deutschen Sprache handelt, konsequent weiter und kommt so zu der indirekten Forderung nach einer Institutionalisierung. Die deutsche Sprache soll als Fach an den Universitäten etabliert werden: „ Immortale gloria Princeps consequetur, quicunque primus Professorem gua Germanica in sua Universitate constituere voluerit [ ... ].11104

Lin-

So ist denn die praktische Arbeit an und mit der deutschen Sprache ein Hauptkennzeichen der Spracharbeit. Dies gilt nicht nur für Harsdörffer sondern in gleicher Weise für den wichtigsten Grammatiker der Zeit, für Schottelius. „Unsere Teutsche Sprache ist weit/ r ä u m i g / tief/ rein und herrlich/ voller Kunst und Geheimnissen/ und wird nicht nach dero grundmessigen Vermögen/ slumpsweis/ aus dem gemeinen W i n d e / ersnappet: Sondern durch Fleis und Arbeit muß erlernet werden/ wie man einen jeden unaltäglichen Conceptum oder Sinnbegriff in rechte natürliche Teutsche Zier einkleid e n / und dem Anhörer beliebt und bekand machen könne [ . . . ]." 1 0 5

102 Harsdörffer, 103 Harsdörffer, i° 4 Harsdörffer, 105 Schottelius,

P T , I, Vorrede. P T I, Vorrede. S P G , S. 95. A A , S. 10.

Zeitgenössische Sprachauffassungen

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Zusammenfassend lässt sich das Konzept der Spracharbeit als sprachreflexive Praxis bestimmen. Alle Bezugspunkte zu den relevanten sprachphilosophischen Grundhaltungen und Einzelproblemen lassen sich daraus erklären. Die Sprachtheorien dienen der Spracharbeit eher als Ideengeber denn als argumentatives Fundament. Die Praxis der Spracharbeit steht bei aller theoretischen Orientierung am ontologischen Sprachpatriotismus deutlich im Vordergrund. Sie ist das Mittel zur Erreichung des außersprachlichen Hauptzieles: Aufrücken in kultureller Hinsicht zu den führenden Nationen mit Hilfe der Aufwertung und Anwendung der eigenen Sprache. Spracharbeit bedient sich aller Theoriepositionen, insofern sie taugliche Bausteine zu diesem Zweck liefern. Hinter dem Konzept steht somit keine einheitliche, konsistent durchgehaltene Sprachtheorie sondern einzelne sprachphilosophische Elemente, die in unterschiedlicher Gewichtung instrumentalisiert werden.

4

Spracharbeit als Programm

§31: Die sprachreflexive Praxis der Spracharbeit hat ihren Niederschlag in den unterschiedlichsten Texten gefunden. Wenn sie auch eine gewisse Theorieferne aufweist, so muss dennoch festgehalten werden, dass es eine Reihe von Texten gibt, die man als Programmschriften bezeichnen kann. Bevor die Hauptvertreter der Spracharbeit in ihren Schriften und in Bezug auf die Forschungslage etwas eingehender dargestellt werden (vgl. Kap. 5), sollen die programmatischen Texte einer genaueren Analyse unterzogen werden. Zu diesen Kernschriften gehören vier Texte, je zwei von Harsdörffer und Schottelius. 1. Georg Philipp Harsdörffer: „Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit/ und Derselben Beflissene: [ . . . ]". Die Schrift ist als Anhang dem ersten Teil der Frauenzimmergesprächspiele beigegeben. Die ersten beiden Bände der FZG erschienen 1641 noch ohne die „Schutzschrift". 1643 kam der dritte Band der FZG heraus. Schon im Jahr 1644 gab Harsdörffer dann eine zweite Auflage der ersten beiden, jetzt gänzlich umgearbeiteten Bände heraus. Band 1 erhielt jetzt auch als Zugabe die „Schutzschrift". In dieser Form, d.h. als Queroktav, mit den Bänden 1 und 2 in 2. Auflage und den Bänden 3 bis 8 in erster Auflage wurde das Gesamtwerk rezipiert 1 . 2. Georg Philipp Harsdörffer: „Specimen Philologiae Germanicae" aus dem Jahr 1646. Dieser in lateinischer Sprache abgefasste Text hat eine interessante Editionsgeschichte 2 . Harsdörffer, der wohl wusste, dass seine Ansichten im Umkreis der FG nicht uneingeschränkt akzeptiert waren, musste einen sehr langen, anderen Text gewissermaßen zur Tarnung vorschalten. Dies geschah, um den Text überhaupt veröffentlichen zu können. Gemäß den Satzungen der FG war jedes Mitglied verpflichtet, Texte vor der Veröffentlichung dem Gesellschaftsoberhaupt (hier: Fürst Ludwig) zum Imprimatur vorzulegen 3 . Dieser vorgeschaltete Text war der „Porticus virtutis", ein langes Lobgedicht auf den Herzog August von Braunschweig. Große Teile dieses Lobgedichts waren bereits vorher schon abgedruckt worden. Die plausible Erklärung für die Verbrämung des „Specimen" mit dem „Porticus" ist nach Blume folgende: Harsdörffer hat diese Verbindung beider Texte gewählt, um die voraussehbare Kritik am „Specimen" durch den Fürsten Ludwig und durch Christian Gueintz abzufangen. Beide waren ja tendenziell eher in Opposition zu den sprachtheoretischen Ansichten von Schottelius und Harsdörffer (s. Analogie-Debatte, §27).

1

Vgl. zu den FZG auch §58 und §60; Dünnhaupt (1991), S. 1980f. Im ersten Band arbeitete Harsdörffer auch seinen Beitrag zur Romantheorie gänzlich um mit dem Gesprächspiel „Das Verlangen", FZG I, S. 252-294. 2 Vgl. Blume (1972). 3 Van Ingen (1973), S. 87; s. auch §44.

Spracharbeit als P r o g r a m m

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„Ein Werk, das zum Teil aus einer Lobschrift auf eines der prominentesten adligen Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft bestand (und diese Lobschrift war nicht nur ein schnell vorangesetztes Gedicht, sondern ein im Titelblatt ausführlich genannter Bestandteil des Buches), konnte kaum einer völlig vernichtenden Kritik von Seiten des Palmenordens anheimfallen." 4 Dieser editionstechnische Trick ermöglichte es Harsdörffer, seine Ansichten den Gelehrten über den deutschsprachigen Bereich hinaus zugänglich zu machen. Die Adressaten waren — im Unterschied zur „Schutzschrift" — deutlich die Gelehrten. Deshalb ist der Text in lateinischer Sprache verfasst 5 . Das „Specimen" ist der wichtigste s p r a c h t h e o r e t i s c h programmatische Text Harsdörffers 6 . 3. Justus Georg Schottelius: Zehn „Lobreden von der Uhralten Teutschen HaubtSprache". Bereits der 1641 herausgegebenen „Teutschen Sprachkunst" h a t t e Schottelius neun Lobreden vorangestellt. Diese wuchsen in der zweiten Auflage von 1651 auf zehn an 7 . Nur wenig verändert wurden sie dann in die AA ü b e r n o m m e n . Sie können in dieser Form als „verbindliche Fassung" 8 gelten. Die breite Rezeption der AA rechtfertigt es, die Lobreden aus dieser Zeit als Grundlage heranzuziehen. Festzuhalten bleibt, dass die wesentlichen Inhalte der Lobreden bereits in den 40er Jahren ausgearbeitet waren. Sie stellen den sprachphilosophischen Hintergrund und die Legitimationsabsichten Schottelius' detailliert dar (s. §37). 4. Justus Georg Schottelius: „Sieben T r a k t a t e " , i.e. das f ü n f t e Buch der AA. Sie sind in dieser Form erstmals in der AA von 1663 erschienen. Der erste T r a k t a t , ein Gedicht mit dem Titel „Die Einleitung der Teutschen Sprache" ist bereits 1643 als Separatdruck erschienen 9 . Die sieben T r a k t a t e sind — mit Ausnahme des Einleitungsgedichts — insgesamt Sammlungen unterschiedlicher Art: Wortherleitungen, Sprichwörter, deutschsprachige Autoren und Werke, Übersetzungsbeispiele, Stammwörter, Indizes für die gesamte AA (vgl. §38f.). Sie stellen — im Unterschied zu den Lobreden, die eher den sprachphilosophischen Hintergrund angeben — die Materialsammlung für die A r g u m e n t a t i o n e n und auch für die praktische Spracharbeit zur Verfügung.

4 Blume (1972), S. 100. 5 In einem Brief an Fürst Ludwig sagt dies Harsdörffer selbst. Krause (1855/1973), S. 354: „Mitkommendes Werklein [SPG - Μ. H.], die Teutsche Sprache betreffend, hat der Spielende deswegen Lateinisch verabfasset, weil die darinnen angeregte Strittigkeiten in andere Haubtsprachen einlauffen, und nohtwendig von den Gelehrten verglichen werden müssen." e Vgl. §35 und §58. 7 Vgl. Hecht (1995), S. 6*. 8 Römer (1986), S. 132. 9 Dünnhaupt (1991), S. 3830.

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Spracharbeit als Programm

Diese programmatischen Schriften werden in den folgenden Abschnitten besonders auf drei Fragestellungen hin untersucht: • Zunächst stellt sich die Frage, welche Teilgebiete der Spracharbeit in den Texten thematisiert werden. Es muss nach dem Zusammenhang zwischen der Inhaltstruktur der Texte und der Spracharbeit gefragt werden. • Sodann werden die spezifischen Textstrukturmuster und Argumentationsweisen thematisiert. Dieser Aspekt gibt Hinweise darauf, wie die Inhalte der Spracharbeit vermittelt wurden. Zudem zeigt sich in der Textstrukturierung, weshalb die A A — etwa im Gegensatz zu „Der Deutschen Sprachlehre Entwurff" von Gueintz — breit rezipiert wurde und so für lange Zeit d a s maßgebliche Standardwerk zur deutschen Sprache werden konnte. Dies führt bereits zur letzten Frage. • Schließlich ist nach der Adressatenorientierung und Textrezeption zu fragen. Die vier Kernschriften unterscheiden sich in beiden Punkten relativ stark. Sie ergänzen einander durch die Orientierung auf unterschiedliche Adressatengruppen. So kann für das gesamte Programm der Spracharbeit von einer Breitenwirkung durch variierende Vermittlungsmuster und -ziele ausgegangen werden. Dies wird der Vergleich insbesondere zwischen S T S und S P G sowie zwischen den „Lobreden" und den „sieben Traktaten" zeigen.

4.1

„Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit"

§ 3 2 : Die S T S lässt sich grob in drei Abschnitte recht unterschiedlicher Länge einteilen. Zunächst wird potentielle Kritik abgewehrt und die Notwendigkeit der Spracharbeit in einzelnen Argumenten begründet (S. 342-360). Sodann wird kurz und thesenhaft das eigentliche Programm der Spracharbeit vorgestellt (S. 361 f.). Schließlich werden im dritten Abschnitt (S. 363-396) eine Reihe von Einzelargumenten angeführt, die zeigen, dass Spracharbeit einem zweiten Erwerb der deutschen Sprache gleichkommt. Diese Gliederung ergibt sich aus dem Inhalt. Der Autor selbst gliedert den Text lediglich in durchnummerierte Absätze. Die folgenden Paragraphen zeichnen diese Dreiteilung nach. Bereits die ersten Abschnitte der S T S sichern sich in geradezu kämpferischer Weise ab gegen vorweggenommene Kritik und gegen die Einwände Unwissender. Dies ist ein Indiz dafür, dass das Programm, für das Harsdörffer eintritt, keineswegs einen unumstrittenen common sense darstellte. Wie er sich die Situation vorstellte, in die hinein er die S T S veröffentlichte, macht Harsdörffer mit Hilfe des Titelkupfers 1 0 deutlich (s. Abb. 1). Harsdörffer, S T S , S. 341. Das Blatt steht direkt nach dem eigentlichen Titel (S. 339).

S c h u t z s c h r i f t f ü r die T e u t s c h e S p r a c h a r b e i t "

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A b b i l d u n g 1: T i t e l k u p f e r der S T S Er d e u t e t diese Allegorie in e i n e m nachfolgenden G e d i c h t selbst. „An den Hohnecklenden Bücherrichter. W O aus der Pfützenlaich die Klafferfrösche wachsen/ die nach dem Regenluft koachs=koachs=koachsen/ Da stellet man ein Liecht aufselben Weyerdamm/ Damit die grüne Rott verstumm in ihrem Schlamm. Bist du in Ekelsucht und Vnflat auferzogen/ und hast das Hohngeschwätz des Pövelvolks gesogen: so schweig zu diesem Buch/ und ahm de Frösche nach Es scheint die waare Lieb hier zu der Teutsche Sprach." 1 1 Dieses Gedicht v e r b i n d e t z u m einen das Anliegen der S p r a c h a r b e i t m i t der Lichtseite, d . h . das positiv k o n n o t i e r t e Helle wird m i t ihr identifiziert. Kritik wird als G e q u a k e aus d e m S c h l a m m , sowohl inhaltlich als a u c h von den Trägern der Kritik her abqualifiziert. Natürlich erfüllt dieser V o r s p a n n auch die F u n k t i o n der captatio benevolentiae, wie es f ü r die Zeit d u r c h a u s üblich war. J e d o c h geht die A b w e h r h a l t u n g gegen Kritik d a r ü b e r h i n a u s . Das zeigt sich d a r a n , dass der A u t o r m i t diesem T h e m a auch im n a c h f o l g e n d e n Widm u n g s t e x t an den „ R e i n h e r t z i g e n " 1 2 f o r t f ä h r t , u n d von d o r t a u s g e h e n d die B e g r ü n d u n g f ü r die Notwendigkeit der S p r a c h a r b e i t a b l e i t e t . Vor a l l e m gegen die H a l t u n g , dass in der d e u t s c h e n Sprache keinerlei N e u e r u n g s t a t t h a b e n d ü r f e u n d sei sie auch noch so g u t b e g r ü n d e t , geht er vor 1 3 . Die „ U r h e b e r wol11 Harsdörffer, STS, S. 342. 12 Christian Ludwig Herzog zu Braunschweig Lüneburg trug diesen Gesellschaftsnamen in der FG. 13 Harsdörffer, STS, S. 344f.: „Die Locrenser haben über ihren alten Gesetzen mit solcher Blindheit geeifert/ daß/ wer bey ihnen von einer Neurung reden wollen/ den Strang

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Spracharbeit als P r o g r a m m

bedachter Neuerungen", zu denen sich auch Harsdörffer selbst rechnet, wenden sich gegen die starre Tradierung überkommener Sprachgewohnheiten. Der A u t o r möchte eine Aufbruchsstimmung vermitteln, Spracharbeit hat einen deutlich progressiven Charakter. Die deutsche Sprache stellt sich für ihn als ein Betätigungsfeld dar, in dem es noch viel zu entdecken gibt. Dazu will die „Schutzschrift" anregen. Zwei Momente tragen zu diesem Aufbruch bei. Z u m einen hat sich die deutschsprachige Dichtung nach Meinung Harsdörffers in den letzten J a h r e n zunehmend von fremden Vorbildern und Sprachelementen emanzipiert. Außerdem bieten die grammatischen Arbeiten von Schottelius, der den Gesellschaftsnamen „der Suchende" in der F G trug, eine Basis, von der aus „mit beharrter Bemühung" die deutsche Sprache Anerkennung und Anwendung finden kann. In unserer geehrten/ Adelichen Muttersprache ist viel neues unerhörtes zu finden/ gestalt sie von kurtzen Jahren her von fremden Vermischungen durch die Poeterey abgesondert/ jüngsthin aber von dem SVCHENDEN Kunstgründig verfasset/ und sol bei so beharrter Bemühung höher/ als keine andere erhaben/ in den Thron aller Geschicklichkeiten und Wissenschaften majestätisch eingesetzet werden." 14 Im eigentlichen Text der STS, der auf die W i d m u n g an den „Reinhertzigen" folgt, wird die Notwendigkeit der Spracharbeit weiter begründet. Harsdörffer setzt mit dem Topos der verachteten (deutschen) Muttersprache ein. Die eigene Sprache werde verachtet, die fremden Sprachen aber dabei nicht einmal korrekt beherrscht 1 5 . Diesem Zustand abzuhelfen ist das Hauptziel der STS. Die deutsche Sprache und diejenigen, die sich für sie einsetzen, sollen in Schutz genommen werden. Mittel dazu ist die Darlegung und der Nachweis der Hochwertigkeit u n d der Funktionsfähigkeit des Deutschen. Die Notwendigkeit einer Hinwendung zur deutschen Sprache wird jedoch nicht nur über das bislang mangelnde Sprachprestige und die damit verbundenen Konsequenzen b e g r ü n d e t , sondern über weitere Argumente, die sich in vier Schritten vollziehen.

am Halse tragen/ und wann seine Meinung nicht gut befunden worden/ dardurch das Leben verlieren müssen. Mit so unfugsamer Strengigkeit wolten viel gerne über den ungeschriebene Gesetze der langbeliebte Gewonheit halte/ daß die Vrheber wolbedachter Neurunge unserer Mutterzunge als Freveler ernstlich abgestraffet werde würden/ wann es in ihren Vermögen stünde/ darüber zu erkennen/ und auszusprechen: Indem sie aber solches nicht unterfangen dörffen/ bemühen sie sich die Teutsche Sprache und ihre Beflissene mündlich und schriftlich zu be=schmützen/ lästerlich zu verachten/ und bey jederman verächtlich und unwürdig zu machen." 14 Harsdörffer, STS, S. 347f. 15 Harsdörffer, STS, S. 354: „Nein/ es ist bis auf den groben Pövelmann herabkomen/ dem das Latein bekant/ wie dem Blinden die Farben. 4. Dieser Gestalt verlachen und verachten die allerblindesten unsere löbliche Sprache/ die ihnen doch die Natur mit der Geburt zugesellet/ die Mutter mit erster Milch eingetreuffelt/ die Noht vorgeschwätzet/ und hassen derselben Beflissene/ welche über ihrer Reinlichkeit und Keuschheit halten wollen/ nicht betrachtende daß sie selbsten dadurch beschimpfet und vernachtheilet werden."

Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit"

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Lautmalerei/Lautsymbolik: Die deutsche Sprache ist nicht irgendein Mittel, mit dessen Hilfe man auf die Wirklichkeit Bezug nehmen und sich mit anderen Menschen austauschen kann. Sie ist vielmehr das Mittel zur Erschließung der Welt. Sie verhilft zur Kenntnis und Erkenntnis der Welt. Diese erkenntniskonstitutive Funktion kommt ihr nicht erst auf einer propositionalen Ebene, bei Syntagmen und Sätzen zu, sondern bereits im einzelnen sprachlichen Zeichen. Hier kommt die bereits erwähnte 16 ontologische Motivierung der Sprache zum Tragen. Da Lautmalerei und Lautsymbolik in Kap. 6.2 ausführlich besprochen werden, genügt hier der Hinweis auf ihre Funktion im Argumentationsgang der STS. Harsdörffer verwendete verschiedene Beispielreihen, um dem „Beweis" ontologischer Motiviertheit Nachdruck zu verleihen17. Auch die mögliche Konsequenz, dass bereits Adam die deutsche Sprache gesprochen habe, schließt er nicht aus. Er greift allerdings den Primat des Hebräischen nicht an, geht aber davon aus, dass Deutsch und Hebräisch eng miteinander verwandt seien18. „Die N a t u r redet in allen Dingen/ welche ein Getön von sich geben/ unsere Teutsche Sprache/ und daher haben etliche wähnen wollen/ der erste Mensch Adam habe das Geflügel und alle Thier auf Erden nicht änderst als mit unseren Worten nennen können/ weil er jedes eingeborne selbstlautende Eigenschafft Naturmässig ausgedruket; und ist sich deswegen nicht zu verwundern/ daß unsere Stammwörter meinsten Theils mit der heiligen Sprache gleichstimmig sind." 1 9

Mit dieser Verbindung zum Hebräischen findet er zugleich den Übergang zum zweiten Argument. Sprachenvergleich: Hier nimmt Harsdörffer Bezug auf das bereits erwähnte Konzept einer Idealsprache, einer dem aktuellen Sprachgebrauch zugrunde liegenden langue, sowie auf ein ebenso idealisiertes deutsches „Volk". Beide hätten sich in ihrem Kern niemals verändert, da beide nie einem anderen Volk untergeben gewesen wären. „[ . . . ] daß unsere Sprache und unser Volk aller fremder Dienstbarkeit/ durch des Höchsten Gnade und ihre Tapferkeit/ jederzeit befreyet gewe-

16 S. §24, S. 35, vgl. auch K a p . 6.2, §66. 17 Ein häufig zitiertes Beispiel ist STS, S. 355: „Sie redet m i t der Zungen der N a t u r / in d e m sie alles G e t ö n und was nur einen L a u t / Hall und Schall von sich g i e b e t / wol vernemlich ausdrucket; Sie d o n n e r t m i t d e m H i m m e l / sie blitzet m i t den schnellen W o l k e n / s t r a l e t m i t d e m H a g e l / sausset m i t den W i n d e n / b r a u s e t m i t den W e l l e n / rasselt m i t den Schlossen/ schallet m i t d e m L u f t / knallet m i t d e m G e s c h ü t z e / brüllet wie der L o w / plerret wie der O c h s / b r u m m e t wie der B e e r / beeket wie der H i r s c h / blecket wie d a s S c h a a f / gruntzet wie d a s Schwein/ m u f f e t wie der H u n d / rintschet wie d a s P f e r d / zischet wie die S c h l a n g e / m a u e t wie die K a t z / s c h n a t t e r t wie die G a n s / qwacket wie die E n t e / s u m m e t wie die H u m m e l / kacket wie d a s H u h n / k l a p p e r t wie der S t o r c h / kracket wie der R a b / schwieret wie die S c h w a l b e / silket wie der S p e r l i n g / u n d wer wolte doch d a s wunderschickliche Vermögen alles a u s r e d e n . " 18 So auch im S P G , 7. A b h a n d l u n g . 19 Harsdörffer, S T S , S. 357. 20 Harsdörffer, S T S , S. 357.

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Spracharbeit als Programm

Dies gilt für Sprachen wie Französisch, Italienisch und Spanisch nicht. Sie sind durch eine Reihe anderer Sprachen und damit zugleich durch die den Sprachen korrespondierenden Sitten verändert worden. Sprache und Verhaltensformen werden deutlich parallelisiert. Das zugrunde liegende System der deutschen Sprache ist von solchen Veränderungen frei. Sie stellt in gewisser Weise noch einen Urzustand dar, der den unmittelbaren Zugriff auf die Wirklichkeit erlaubt: „Unsere Teutsche in allein ist ihrer Reinlichkeit von vielen tausend Jahren hero/ bis auf unsere letzte Zeit/ unbeflecket verblieben." 21 Zudem, und dies ist der zweite Teil dieses sprachvergleichenden Arguments, hat das System der deutschen Sprache vor jeder anderen, auch vor der hebräischen, Vorzüge. Dieses nicht durch Beispiele erhärtete Argument dient dem soziolinguistischen Interesse der Aufwertung. Wenn die deutsche Sprache vor jeder anderen immerhin einen Vorzug hat, kann ihr zu Recht auch das jeweils hohe Prestige dieser Sprache zugeschrieben werden. „Sie ist Wortreicher als die Ebreische/ in der Verdopplung f u g s a m e r als die Griechische/ in den Sinndeutungen mächtiger als die Lateinische/ in der A u s r e d e p r ä c h t i g e r / als die Spanische/ in der Lieblichkeit a n m u h t i g e r als die F r a n t z ö s i s c h e / in der Verfassung richtiger als die Welsche/ wie solche überreiche Vollkomenheit bey allen Teutschgelehrten ausser allem Zweiffei." 2 2

Nach diesen Argumenten wendet sich Harsdörffer den Kommunikationsbereichen zu, in denen die deutsche Sprache unverzichtbar ist: Religion und Institutionen. Relevanz im Kommunikationsbereich der Religion: Als ersten Bereich, für den die deutsche Sprache mittlerweile unabdingbar ist, nennt er die Religion. Innere Anteilnahme und Verständnis der religiösen Inhalte ist nur in der eigenen, d. h. in der deutschen Sprache möglich. In klarer Abgrenzung von katholischen Verfahrensweisen hebt Harsdörffer die Vorzüge der deutschsprachigen Liturgie hervor 23 . Die frühere Verwendung der lateinischen Sprache ist in religiöser Hinsicht sogar schädlich, da verständnishindernd. Insgesamt nimmt die Bibelübersetzung durch Luther eine nicht zu überschätzende Position ein. Begann doch mit ihr eine Institutionalisierung der deutschen Sprache in religiösen Kontexten. Harsdörffer nennt an dieser Stelle Luther nicht explizit. Ein Grund dafür könnte sein, dass er die Spracharbeit aus dem Bereich religiöser Parteiungen heraushalten wollte24. 21 Harsdörffer, STS, S. 358. 22 Harsdörffer, STS, S. 358. 23 Harsdörffer, STS, S. 358f.: „ [ . . . ] so denket doch zu rücke/ wie es zu unser Ahnen Zeiten aus Verleistung der Teutschen/ und unfugsamer Hegung der Lateinischen Sprache/ dahinkommen/ daß das seligmachende Wort GOTTes dem gemeinen Volke gantz unvernemlich/ alle Kirchenhandlungen in Latein verrichtet würden/ als die H. Tauffe/ die Messe/ die Beicht/ das Gesang u.dg. daß die Anwesende darbey mit den Gedanken abwesend seyn/ und die innerliche Hertzensandacht in eine eusserliche Trostlose Kirchenbegängniß verkehret wurde." 24 Es ist wahrscheinlich, dass es Fürst Ludwig aus diesem Grund vermied, Geistliche in die FG aufzunehmen. „Geistliche wurden (bis auf 2 Ausnahmen) abgelehnt, um

Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit"

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„Das helle Wort Gottes ist in und mit der Teutschen Sprache an das Liecht gebracht worden/ und kan auch nicht änderst/ als mit derselben/ erhalten werden; gestalt mit dem Wortverstand die Deutung oder Sinnbegrif derselben verlohren/ und wir sonsten die Predigten verstehen würden/ wie die Nonne als man im Sprichwort sagt/ den Psalter." 2 5 Die Verbindung von Glauben und Sprache hat in einem stark religiös geprägten Zeitalter wie dem 17. J a h r h u n d e r t großes Gewicht. Vermutlich w u r d e dieses Argument von katholischer Seite nicht in dem Maße positiv aufgenommen wie von evangelischer. N o t w e n d i g k e i t als I n s t i t u t i o n e n s p r a c h e : Nachdem die Religion als der für Legitimationszwecke wichtigste kommunikative Bereich für die deutsche Sprache argumentativ gewonnen war, f ü h r t Harsdörffer die Reihe fort. Wie in religiösen Zusammenhängen so kann der Gebrauch von Latein s t a t t Deutsch in Rechtsfragen erhebliche Missverständnisse hervorbringen. Auch f ü r diesen Bereich, der hier wohl stellvertretend für den kommunikativen Bezugsbereich der Institutionen stehen kann, ist die ausschließliche Verwendung der deutschen Sprache dringend geboten. An Beispieltermini zeigt Harsdörffer das Problem und fordert die konsequente Eindeutschung derselben. Das heißt, er tritt an dieser Stelle für die Schaffung einer deutschen fachsprachlichen Terminologie ein. Nicht weniger Vnheil entstehet aus der Vermengung der Sprachen in dem Weltlichen Stande/ wie manche Rechtsache/ Haß/ Feindschaft/ Zank und Zwietracht solte verbleiben/ wann das Latein den Gerichtshändlen/ Schuldschriften und Vergleichen nicht eingeflochten würde: hypotheca, oligatio, in solidum, fidejussio, Senat. Consult. Vellejan. Privileg, Contestatio, beneficium divisionis, Litis contestatio, insinuatio, impositio silentii, und dergleichen übliche Wörter/ hat uns der böse Gebrauch/ aber nit die Noht aufgedrungen/ und könte leichtlich mit jederman verständigen Redarten ausgetauschet werden." 26 Die vier Argumente für die Spracharbeit decken sowohl den sprachtheoretischen und grammatischen Bereich ab, indem auf die ontologische Motiviertheit und auf die sprachsystematischen Vorzüge des Deutschen verwiesen wird. Daneben spielen auch kommunikativ-pragmatische Überlegungen eine Rolle, wie die Hinweise auf die kommunikativen Bereich der Religion und der Institutionen zeigen. §33: Die Notwendigkeit, sich intensiv mit der deutschen Sprache auseinanderzusetzen, ist durch die vier oben genannten Argumentationsschritte für Harsdörffer erwiesen. Er kann nun dazu übergehen, die Ziele und Mittel dieses zweiten Spracherwerbs zu umreißen. Diese sind auf insgesamt sechs einzelne Arbeitsgebiete bezogen, die der Autor selbst k n a p p in einer Liste z u s a m m e n fasst 2 7 . konfessionelle und theologische Streitereien fernzuhalten." Von Polenz (1994), S. 114. 25 Harsdörffer, STS, S. 359. 26 Harsdörffer, STS, S. 359 f. 27 Die folgenden Zitate alle aus Harsdörffer, STS, S. 361 f. [Fettdruck getilgt].

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Spracharbeit als P r o g r a m m „Bevor wir aber näher zu der Sache tretten/ und die widrigen Einreden beantworten/ ist zu wissen daß die dickermelte Teutsche Spracharbeit nachfolgendes Absehen hat: I. Daß die Hochteutsche Sprache in ihrem rechten Wesen und Stande/ ohne Einmischung fremder ausländischer Wörter/ auf das möglichste und thunlichste erhalten werde."

F r e m d w ö r t e r : Gleich zu Beginn wird der P u n k t angesprochen, der später — teilweise bis h e u t e — als d a s Kennzeichen der sprachpflegerischen Bemühungen des 17. J a h r h u n d e r t s bezeichnet wurde. Auf die Neubewertung des Fremdwortpurismus durch die aktuelle Forschung wurde bereits hingewiesen (§1, S. 3, vgl. auch 8.2) 2 8 . Daher seien hier nur zwei P u n k t e hervorgehoben. Erstens geht es Harsdörffer nicht u m eine Abwertung der Fremdsprachen. Dies widerspräche seinen Intentionen völlig, lag ihm doch stets daran, die europäische Kultur, die selbstverständlich auch mit den Nachbarsprachen verbunden war, in den deutschen Sprachraum zu integrieren. Die Betonung im Zitat liegt auf der Erhaltung der deutschen, nicht auf der Austreibung der fremden Sprachen. Natürlich lief dies in der Praxis auf eine Zurückdrängung des Alamode-Wortschatzes hinaus. Dies erfolgte aber bei Harsdörffer und auch in der FG nicht aus einem sprachchauvinistischen Antrieb heraus. Zweitens ist bereits in diesem Zitat die Trennung zwischen fremden und n i c h t - f r e m d e n ausländischen W ö r t e r n vorgenommen. Dies ist für die Haltung Harsdörffers typisch, da er in seinem gesamten Werk immer wieder eine sehr vermittelnde Haltung in der Fremdwortfrage einnimmt. Das heißt, die ausländischen W ö r t e r , die b e s t i m m t e Kriterien der Integration in das Deutsche erfüllen, sind nicht mehr fremd. An anderer Stelle spricht er vom „Teutschen Bürgerrecht frembder Wörter."29 „II. Daß man sich zu solchem Ende der besten Aussprache im Reden/ und der zierlichsten gebunden^ und ungebundener Schreibarten befleissige." P r e s t i g e u n d N o r m : Diese Handlungsanweisung bezieht sich auf die Prestigeformen gesprochener und geschriebener Sprache. Wie später noch ausgeführt wird, zielt dies auf das Sprachprestige des meißnischen Deutsch und auf die stilistischen Vorbilder der besten Autoren. Bemerkenswert an diesem Ziel der Spracharbeit ist jedoch weniger die Tatsache, dass die Prestigeformen der Sprache angestrebt werden sollen, als vielmehr der U m s t a n d , dass sich Spracharbeit nicht nur auf geschriebene Texte bezieht. Prinzipiell ist somit jede sprachliche Äußerung Gegenstand der Spracharbeit. Diese wird dadurch zu einem P r o g r a m m , das alle Kommunikationsformen und -anlässe umfasst. „III. Daß man die Sprache in ihre grundgewisse Richtigkeit bringe/ und sich wegen einer Sprache und Reimkunst vergleiche/ als welche gleichsam miteinander verbunden sind." 28

Zur Gewichtung des 6 - P u n k t e - P r o g r a m m s vgl. auch Greule/Ahlvers-Liebel (1986), S. 9-12; Eggers (1986), S. 244f. 29 Harsdörffer, FZG II, S. 191; vgl. Kap. 8.2.

Schutzschrift f ü r die T e u t s c h e S p r a c h a r b e i t "

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P o e t i k u n d G r a m m a t i k : Diese F o r d e r u n g ist zweigeteilt. In e i n e m ers t e n Schritt geht es d a r u m , d a s S y s t e m der d e u t s c h e n S p r a c h e zu kodifizieren u n d auch — wo dies entgegen e i n e m falschen' S p r a c h g e b r a u c h n ö t i g ist — p r ä s k r i p t i v einzugreifen. Dies ist die theoretische Position des A n a l o g i s t e n , der Sprache als langue b e t r a c h t e t . Deren R e g u l a r i t ä t e n k ö n n e n nicht a u s ein e m veränderlichen S p r a c h g e b r a u c h eruiert, sondern vielmehr auf G r u n d des Analogieprinzips e n t d e c k t u n d d a n n als verbindlich b e t r a c h t e t w e r d e n . Der zweite Schritt v e r b i n d e t n u n G r a m m a t i k u n d Poetik. Diese F o r d e r u n g wird klar, wenn m a n ζ. B. einen Blick auf die Gliederung der AA von S c h o t t e lius wirft. In diesem H a u p t w e r k der G r a m m a t i k s c h r e i b u n g ist ganz selbstverständlich auch eine „ T e u t s c h e Verskunst" integriert 3 0 . Die B e s c h r e i b u n g der deutschen Sprache in ihrer „grundgewissen Richtigkeit" reicht allein zu ihrer D u r c h s e t z u n g u n d A u f w e r t u n g nicht aus. Hier k o m m t ihrer A n w e n d u n g in der literarischen K o m m u n i k a t i o n größte B e d e u t u n g zu 3 1 . „IV. Daß man alle Stammwörter in ein vollständiges Wortbuch samle/ derselben Deutung/ Ableitung/ Verdopplungen/ samt denen darvon üblichen Sprichwörtern/ anfüge." A l l g e m e i n e s W ö r t e r b u c h : Dieses Ziel richtet sich noch s t ä r k e r auf die Kodifikation der Sprache 3 2 . A u s g a n g s p u n k t ist die G r u n d a n n a h m e , dass die d e u t s c h e Sprache ü b e r eine geschlossene Klasse von S t a m m w ö r t e r n v e r f ü g e , aus denen sich alle nur d e n k b a r e n K o m b i n a t i o n e n durch die W o r t b i l d u n g herstellen lassen. Die S t a m m w ö r t e r sollen zunächst in e i n e m W ö r t e r b u c h g e s a m m e l t werden, u m so den u n a b d i n g b a r e n G r u n d v o r r a t der d e u t s c h e n S p r a c h e verfügbar zu m a c h e n . Uber die Einzelwortebene h i n a u s sollen K o m p o s i t a u n d Derivata u n d Phraseologismen a u f g e n o m m e n werden. Die F o r d e r u n g n a c h ein e m S t a m m w ö r t e r b u c h der d e u t s c h e n Sprache w u r d e zwischen 1640 u n d 1650 im Umkreis der F G , besonders von Schottelius, H a r s d ö r f f e r 3 3 , G u e i n t z u n d F ü r s t Ludwig intensiv d i s k u t i e r t 3 4 . Den detaillierten lexikographischen P r o g r a m m e n folgten allerdings nicht sofort die e n t s p r e c h e n d e n W ö r t e r b ü c h e r . E r s t m i t d e m 1691 erschienenen „Der Teutschen Sprache S t a m m b a u m u n d F o r t w a c h s " 3 5 von K a s p a r Stieler k a m ein umfassendes S t a m m w ö r t e r b u c h heraus. Einzelne Listen w u r d e n jedoch schon von Harsdörffer u n d S c h o t t e l i u s z u s a m m e n g e s t e l l t . I m Z u s a m m e n h a n g m i t der S p r a c h a r b e i t h a t t e d a s gef o r d e r t e S t a m m w ö r t e r b u c h folgende F u n k t i o n e n . Einerseits k o n n t e m i t i h m d e m o n s t r i e r t werden, wie wortreich die deutsche Sprache ist, d. h. ü b e r welch großes Inventar an wirklich u r s p r ü n g l i c h e n W ö r t e r n sie v e r f ü g t . D a m i t k o n n t e ihre E b e n b ü r t i g k e i t n e b e n den a n d e r e n , den a k z e p t i e r t e n S p r a c h e n „bewie-

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Schottelius, AA, S. 791-997: „Teutsche Verskunst oder R e i m k u n s t " . In dieser A r g u m e n t a t i o n bezieht sich Harsdörffer auf ein französisches Vorbild (Pasquier), s. R a n d n o t e S T S , S. 362. S2 Vgl. auch K a p . 8.1. 33 Vgl. seinen W ö r t e r b u c h p l a n m i t Probeartikel in Krause (1855/1973), S. 387-392. 3i Vgl. Stötzel (1970), S. 3, Henne (1975), R e i c h m a n n (1989), K ü h n / P ü s c h e l (1990). 35 Stieler (1691/1968). 31

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Spracharbeit als Programm

sen" werden. Andererseits konnte ein Stammwörterbuch ein grundlegendes Arbeitsmittel für die praktische Anwendung der deutschen Sprache sein. „V. D a ß m a n alle K u n s t w ö r t e r von B e r g w e r k e / J a g d r e c h t e n / S c h i f f a r t e n / H a n d w e r k e n / u.d.g. ordentlich z u s a m m e n t r a g e . "

F a c h w ö r t e r b u c h : Auch für die Kodifikation des Fachwortschatzes gelten die beiden oben beschriebenen Funktionen im Rahmen der Spracharbeit, Legitimations- und Arbeitsmittel zu sein. Harsdörffer selbst hat immer wieder auf fachspezifischen Wortschatz als sprachliche Bereicherung zurückgegriffen. Er hat deutlich die Differenzierung der deutschen Sprache in unterschiedliche Varietäten erkannt. Dies zeigt nicht nur sein Hinweis auf die institutionellen, religiösen und literarischen Kommunikationsbereiche (s.o.) sondern auch die Forderung nach Fachwörterbüchern. „VI. D a ß m a n alle in f r e m d e n Sprachen nutzliche und lustige B ü c h e r / ohne Einmischung fremder F l i c k w ö r t e r / ü b e r s e t z e / oder j a d a s beste d a r a u s dolmetsche."

Ü b e r s e t z u n g e n : Das letzte Ziel entfernt sich in gewisser Weise wieder etwas von der langue und dem Lexikon. Hier geht es um die Aneignung der europäischen Literatur und damit der kulturellen Inhalte. Die Funktion der Übersetzungen bestand nicht einfach darin, dass fremdsprachige Texte in der eigenen Sprache zugänglich gemacht werden sollten. Mit der Übersetzung erfolgte gleichzeitig eine Aneignung der beschriebenen Sachverhalte durch die Sprache. Gemäß der zeitgenössischen Vorstellung von einem direkten Zugriff auf die Wirklichkeit durch die Sprache konnten Übersetzungen diesen direkten Zugriff über die Einverleibung in die deutsche Sprache gewährleisten. Die Probleme der Übersetzbarkeit, der wörtlichen und übertragenen Bedeutungen h a t t e Harsdörffer dabei durchaus im Blick. Er plädiert für die sinngemäße Übersetzung, die „die Sache selbsten verstehen machet" 3 6 . Wenn dabei auch literarische Texte im Vordergrund standen, so bezog sich die Forderung von Übersetzungen nicht nur auf diese, sondern auf alle ,,nutzliche[n] und lustige[n] Bücher". Sie stellten somit ein zentrales Mittel dar, die Defizite des deutschen Sprachbereichs in den Wissenschaften u n d in der Literatur zu beseitigen. 36

Harsdörffer, STS, S. 392 f.: „Betreffend das Dolmetschen/ ist zu wissen/ daß die Wörter dreyerley Verstand haben: Nach dem Buchstaben/ nach der Vernennung/ und dann beyderley Weise. Zum Exempel/ wann ich sage: Ein schönes Pferd. Diese Wörter können nicht änderst als nach den Buchstaben verstanden werden. Wann ich sage: Das Fichtenpferd schwebet auf der offenen See/ wird hierdurch ein Schiff bedeutet/ und kan nach dem Buchstaben keinen Verstand haben. Wann ich aber sage: Wer liebt der Poeten Pferd/ kan es nach dem Buchstaben verstanden werden etwan von einem Pferd/ das etliche Poeten gebrauchen/ oder nach dem Sinnbegriff von dem Wein/ welchen sie der Poeten Saft nennen. Solcher gestalt sind dreyerley Arten zu dolmetschen: I. Wann man etwas von Wort zu Wort übersetzet/ wie die Knaben in den Schulen. II. Wann man die Meinung der Wort fasset/ und selbe fahren lasset. III. Wann man die Meinung oder den Verstand nach der Teutschen Mundart richtet/ und mit dem Dolmetschen die Sache erkläret. Hat man nun von fremden Kunsthändelen in unserer Sprache zu reden/ kan keine andere Dolmetschung stat finden als diese letzte/ und mag man wol die Wort der Grundsprache fahren lassen/ wann man nur die Sache selbsten verstehen machet."

Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit"

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Nach der Aufzählung dieser Hauptziele verwahrt sich Harsdörffer wiederum gegen vorweggenommene Kritik. Dem Einwand, dass es in diesen Kriegszeiten 37 doch wahrlich andere Sorgen als Spracharbeit gebe, begegnet er mit einem doppelten Argument. Einerseits könne, was in Friedenszeiten lobenswert sei, auch im Krieg nicht falsch sein. Andererseits — und dies ist das Wesentliche — ist die Spracharbeit bereits institutionalisiert. Trotz Kriegswirren hat sich in der FG eine Fürsprecherin der deutschen Sprache gefunden 3 8 . In eigenen Schriften und insbesondere in Ubersetzungen wird dort bereits lange Spracharbeit betrieben. Von dieser institutionalisierten Form der Spracharbeit versprach sich Harsdörffer viel, wie schon aus der bereits erwähnten Forderung zu ersehen ist, an den Universitäten Professuren für die deutsche Sprache einzurichten 39 . Dennoch bleibt die Umsetzung des gesamten Programms eine mühsame Aufgabe, die wie ein zweiter Spracherwerb zu verstehen ist. §34: Im dritten Teil der STS (S. 363-396) liefert Harsdörffer weitere Argumente für die Spracharbeit. Neben der Ausgrenzung sprachtheoretischer Probleme aus dem Kernbereich der Spracharbeit stehen deren Nützlichkeit, Schwierigkeit und Nichtvereinbarkeit mit pedantischer Schulmeisterei im Vordergrund. Der Text ist als eine fiktive Diskussion aufgebaut. Der Autor bringt zunächst einen kritischen Einwand gegen die Spracharbeit („Hierwider wenden etliche ein/ [ . . . ]" 40 , „Der grosse Hauff stehet ferners in diesem Wahn; [ . . . ]" 41 . Diesen widerlegt er dann ausführlich. Die Ausgrenzung sprachtheoretischer Streitfragen ist eine wichtige Bedingung für das Gelingen der Spracharbeit. Eine längere Passage beschäftigt sich daher mit dem Problembereich der Rechtschreibung. Diese ist „kein wesentliches Stuk der Spracharbeit" 4 2 , da bislang keine Einigkeit erzielt werden konnte. Darauf wurde bereits in §25, S. 37 hingewiesen. Die Frage, woher diese Uneinigkeit komme, bzw. welches die „gewisse" und welches die „zweiffelhaffte Wortschreibung" 43 sei, nimmt Harsdörffer als Anlass für einen kurzen Durchgang durch das deutsche Sprachsystem, d. h. von Buchstaben, als ungetrennter Einheit von Phonem und Graphem, über Silben, Wörter, Wort-

37

Dreißigjähriger Krieg von 1618-1648. Harsdörffer, STS, S. 364: „Im Jahre 1617. als die Rache den Brand der Vneinigkeit unsere elenden Vaterland eingestossen/ (die unersättlichen Kriegesflamen entstanden/ welche bis auf diesen Tag mit so vieler Christenblut nicht geleschet werden können/) hat die Hochfürstliche FRVCHTBRINGENDE GESELLSCHAFT die Erhebung unserer Muttersprache mit unsterblichem Nachruhm beginnet/ welche zwar Anfangs in der Enge gehalten/ nachmals aber auf Gutbefinden Fürstl. und Gräflicher/ R i t t e r = und Adelicher Personen/ nun über vierhundert Mitgenossen durch gantz Teutschland erstrecket worden/ unter welchen Theils noch lebende/ Theils jüngst verstorbene Feldherren/ Krieg= und Regimentshäubter begriffen gewesen/ und annoch sind." 39 Vgl. §30, S. 54 mit Bezug auf Harsdörffer, SPG, S. 95. io Harsdörffer, STS, S. 363. n Harsdörffer, STS, S. 365. •»2 Harsdörffer, STS, S. 372. « Harsdörffer, STS, S. 375. 38

Spracharbeit als Programm

68

bildungsmechanismen, regionalspezifischem Wortschatz bis hin zu einer Liste von Homophonen (S. 3 7 9 ) 4 4 . Wichtiger als diese Negativcharakterisierung, womit sich Spracharbeit weniger beschäftigt, ist jedoch deren positive Bestimmung. Besondere Bedeutung kommt dabei der Idee zu, Spracharbeit sei einem zweiten Erwerb der deutschen Sprache vergleichbar. Auf die Notwendigkeit desselben wird nicht nur in der „Schutzschrift" hingewiesen 4 5 , sondern auch an verschiedenen anderen Stellen der F Z G . „Arbeit" als aktives Lernen spielt dabei immer eine zentrale Rolle. Dies fasst Harsdörffer einmal prägnant zusammen in dem Satz: „Es wird nicht ein Wort mit uns gebohren: was wir nicht lernen das können wir n i c h t . " 4 6 Dieses optimistische Arbeitsethos ist eine grundlegende Voraussetzung des ganzen Unternehmens. Exemplarisch sei hierfür ein längeres Zitat aus den F Z G III vorgestellt und analysiert. Zur Erinnerung: Der dritte Band der F Z G erschien bereits 1643 also noch ein J a h r vor der zweiten Auflage der Bände 1 und 2, und damit noch vor der „Schutzschrift" die in dieser zweiten Auflage als Anhang zu Band 1 erschien. Das nachfolgende Zitat, das aus dem Gesprächspiel 139 „Von der Teutschen Sprache Vortrefflichkeit" stammt, nimmt inhaltlich und in der Argumentationsweise Gedanken aus der späteren „Schutzschrift" vorweg. „ U n s e r A b s e h e n a b e r ist s o n d e r l i c h / die T e u t s c h e S p r a c h e / deren W i s s e n s c h a f t j e d e r m ä n n i g l i c h wol a n s t ä n d i g i s t / a u ß z u ü b e / als welche der einige W e r k z e u g i s t / u n s e r e G e d a n k e n zu e r ö f f n e n / unsern V e r s t a n d a u ß z u s c h m u k e n / und a n d e r e n m i t R a h t und T h a t B e y s t a n d zu l e i s t e n . [1] W i e nun a n d e r e K ü n s t e und W i s s e n s c h a f t e n / uns nicht d u r c h den

Wind

a n = und e i n g e w e h e t / sondern m i t e m s i g e n F l e i ß begriffen werden m ü s s e n ; A l s sollen wir nicht g e d e n k e n / wir v e r s t e h e n u n s e r e S p r a c h e g e n u g s a m / weil wir s e l b e von unseren E l t e r e n e r l e r n e t / s o n d e r n b e t r a c h t e n / d a ß ein a n d e r s sey r e d e n / ein a n d e r s wol und zierlich r e d e n : ein a n d e r s s c h r e i b e n / ein a n d e r s r e c h t s c h r e i b e n : ein a n d e r s ist s i n g e n / ein a n d e r s ist aus der K u n s t s i n g e n . [2] F ü r w a r es ist zu e r b a r m e n / d a ß wir a u ß u n b e d a c h t s a m e r F r e m g i e r i g k e i t [!]/ u n s m i t E r l e r n u n g der G r i e c h i s c h e n / L a t e i n i s c h e n und a n d e r n S p r a c h e n von J u g e n d a u f p l a g e n / und unsere v o l k o m m e n e / h e r r l i c h e / d e u t l i c h e / wollautende/ vernemliche/

K r a f t = und S a f t r e i c h e / w u n d e r s c h i k l i c h e /

Teutsche

S p r a c h e zu begreifen n i e m a l s g e d e n k e n / und uns d u r c h f a u l e U n d a n k b a r k e i t / s o l c h e r hohen G a b e g a n t z u n w ü r d i g m a c h e n / [3] d a m a n d o c h v e r m i t t e l s t dieser in G e i s t l i c h e m und W e l t l i c h e m S t a n d e d a s B r o d m i t verdienen m u ß [4]. D e m F r a u e n z i m m e r ist auch diese W i s s e n s c h a f t wol T e u t s c h zu r e d e n / und r e c h t zu s c h r e i b e n so nöhtig als zierlich: n ö h t i g in A u f e r z i e h u n g ihrer E h e p f l a n t z e n : d a ß sie den j u n g e n K i n d e r n / gleich m i t der Milch die

rechte

A u s s p r a c h e / (welche ihnen f a s t die Zeit ihres L e b e n s zu v e r b l e i b e n p f l e g t / ) e i n f l ö s e n / und zum W o r t G O t t e s / so uns a n d e r e r g e s t a l t als durch u n s e r e Vgl. zu den zeitgenössischen Auffassungen zur Rechtschreibung K a p . 6.3. Vgl. das bereits in §30 angeführte Zitat aus S T S , S. 366. 16 Harsdörffer, F Z G V, S. 743. 44

45

Schutzschrift für die Teutsche Spracharbeit"

69

Sprache nicht vernemlich ist/ angewehnen [5a]; zierlich aber/ weil sie ihre schöne Gedanken/ mit unartigen Worten nicht ausreden mögen [5b]." 47 Dieses Zitat enthält sechs Argumente für die deutsche Sprache (im Zitat von mir durch eckige K l a m m e r n markiert). 1. Die Sprache ist unser einziges Werkzeug, mit dem wir Gedanken vermitteln können 2. Sie muss nach dem automatischen, natürlichen Erstspracherwerb nochmals erworben werden, da es hier u m den bewussten, stilisierten, kunstgerechten Sprachgebrauch geht, der nur durch Arbeit und Fleiß zu erreichen ist. Interessant ist hier die Argumentationstechnik der Analogie, die der rhetorisch geschulte Harsdörffer sehr häufig anwendet. Was für die Wissenschaften gilt (Wissenserwerb ist m ü h s a m ) , gilt auch für die Sprache. Dies impliziert zugleich: Diese Art des Sprachstudiums ist einer Wissenschaft gleichgestellt. Eine weitere Analogie besteht im Vergleich zur Kunst des Singens. 3. Die Tatsache, dass in der Regel Fremdsprachen wie Latein und Griechisch durch ihr hohes Prestige bedingt in der Jugend erworben werden, ist mit dafür verantwortlich, dass die Vorzüge der eigenen Sprache (vgl. die lange Adjektivliste) nicht genügend beachtet werden 4. Diese Nichtachtung ist sträflich, da die deutsche Sprache in einigen Funktionsbereichen unabdingbar ist (weltlicher und geistlicher S t a n d ) . 5ab. Auch für Frauen (die sonst in der Bildungsdiskussion der Zeit kaum berücksichtigt werden) ist dieser zweite Erwerb der deutschen Sprache sinnvoll: einerseits, damit sie diese an die Kinder vermitteln können, andererseits damit sie sich ü b e r h a u p t a d ä q u a t ausdrücken können. Alle diese A r g u m e n t e finden sich in der STS wieder. Die Welterkenntnis ist maßgeblich durch die Sprache mitbedingt. Nur für den Anfang der Spracharbeit ist noch zuweilen der Rückgriff auf andere Sprachen notwendig, prinzipiell lässt sich jedoch alles, auch die grammatische Terminologie in deutscher Sprache, verfassen 4 8 . Dies muss keineswegs zu Lasten der lateinischen Sprache 47 Harsdörffer, F Z G III, S. 308-310. 48 Harsdörffer, S T S , S. 370 f.: „Vns e r m a n g e l t nicht ein W o r t alles u n d j e d e s / was m a n n u r durchdenken k a n / wolverständig a u s z u r e d e n / o b m a n gleich noch bey A n f a n g o f t b e sagter S p r a c h a r b e i t / wegen der Leser oder Z u h ö r e r / d a s Latein zu einem D o l m e t s c h e r gebrauchen m u ß / d a m i t das noch u n b e k a n t e Ding d u r c h ein bekantes W o r t erlernet werde. 24 Hieher gehören die K u n s t w ö r t e r / welche ihre eigentlichen D e u t u n g e n meisterlich a u s w ü r c k e n / u n d zu E i n f ü h r u n g fremder Wissenschaften u n ü m g ä n g l i c h müssen ausged a c h t werden. Vns sind solche Sachen bis a n h e r o u n b e k a n t gewesen/ wie h a b e n wir d a n n davon reden können? Die Römer haben ihre K u n s t w e r k den Griechen a b g e b o r g e t / als Grammatica, Orthographia, Etymologia, Syntaxis: W i r können es/ wie auch

70

Spracharbeit als P r o g r a m m

gehen, wie m a n c h e argwöhnen. Der zweite Spracherwerb des Deutschen setzt sogar die lateinische Sprache voraus 4 9 . Auch die explizite Einbeziehung der Frauen in dieses Bildungsprogramm wird in der STS wieder aufgenommen 5 0 . In der STS k o m m e n über die im obigen Zitat genannten Aspekte hinaus noch weitere hinzu, die vor allem die Zielgruppe der Spracharbeit betreffen. Die wichtigste Zielgruppe für das P r o g r a m m der Spracharbeit sind die „vornemen Leute", d . h . diejenigen, die frei über ihre Zeit verfügen können. Damit sind natürlich in erster Linie die Adligen gemeint, aber eben auch die vornehmen Bürgerlichen. Diese Gruppe zu gewinnen, ist für den Erfolg der Spracharbeit besonders wichtig, stellen sie doch die Prestigegruppe seiner Zeit dar. Dazu formuliert er zunächst den vorhersehbaren Einwand: „Etliche halten die Teutsche Spracharbeit/ durch die Bank h i n / für Schulfüchserey/ welche vornemen Leuten nicht gezieme." 5 1 . Diesen widerlegt er nun nicht mit inhaltlichen Argumenten, die j a bereits zur Genüge vorgetragen worden sind. Vielmehr f ü h r t er große Vorbilder aus der Geschichte, also Identifikationsmöglichkeiten für die Adligen seiner Zeit, an. Jene haben seiner Meinung nach auch Spracharbeit betrieben: Julius Cäsar, Kaiser Claudius, Varro und Cicero für die lateinische, Karl der Große für die deutsche Sprache 5 2 . Schon dadurch sollte die Kritik der „Schulfüchserey" widerlegt sein: „Wer bist du aber / der du die hochermeldte Weltherren für Schulfüchse ausschreien darfst: Vergleiche deine und ihre Thaten / deine und ihre Siegsprachten / d u unbehirnter Frevler:" 53 Zusätzlich wird d a n n gezeigt, dass nicht nur das S t u d i u m der deutschen Sprache, sondern auch die literarische Praxis für die Zielgruppe der Adligen ziemlich ist. W i e d e r u m wird eine lange Reihe von Vorbildern angeführt: von den Griechen über den römischen Kaiser Augustus bis hin zu den adligen Minnedichtern der mittelhochdeutschen Zeit 5 4 . Abschließend sei auf den Bezug zwischen Inhalt und textlicher Verwirklichung der STS hingewiesen. Harsdörffers STS stellt in gewisser Weise bereits selbst eine Umsetzung des Spracharbeitsprogramms dar. Dazu zählt nicht nur die strikte Fremdwortvermeidung und die Verwendung zahlreicher Analoalles a n d e r e / d e u t l i c h / k l a r / u n d wolvernemlich a u s r e d e n / als: die S p r a c h k u n s t / die R e c h t s c h r e i b u n g / die W o r t f o r s c h u n g / die W o r t f ü g u n g / wie hiervon der unvergleichliche Suchende in seinen Schriften ausführliche N a c h r i c h t u n g ertheilet. W a n n m a n diese K u n s t w o r t den K n a b e n m i t d e m Latein lehrete/ solte m a n leichtlich eines neben d e m a n d e r n v e r s t e h e n / und in der M u t t e r s p r a c h e einen festen G r u n d legen." 19 Harsdörifer, S T S , S. 383: „40 Viel stehen in d e m W a h n / d a ß durch E r h e b u n g der Teutschen S p r a c h e die Lateinische fallen werde/ aller massen m a n s i h e t / d a ß auf den hohen Schulen o f t m e h r T e u t s c h e / als Lateinische Gedichte aufgesetzet w e r d e n / d a m a n doch wegen dieser u n d nicht jener Sprache Erlernung d a h i n geschicket. 41 Solches ist gewißlich nicht zu beförchten. Keine kan der Z e i t / ohne die a n d e r e / erlernet werden:". so Vgl. Harsdörffer, S T S , S. 390f. 51 Harsdörffer, S T S , S. 384. 52 Harsdörffer, S T S , S. 384f. 53 Harsdörffer, STS, S. 385. 51 Harsdörffer, S T S , S. 386-389.

Specimen Philologie Germanicae"

71

gien als Verständnis- und Argumentationshilfen (s. die Froschanalogie zu Beginn). Insbesondere die didaktisch motivierte Textstrukturierung ist zu nennen: Nummerierte, kurze Absätze, Verwendung eines fiktiven Dialogs, zahlreiche Querverweise (sowohl auf eigene Schriften wie die FZG, als auch auf die zur damaligen Zeit relevante wissenschaftliche Literatur 5 5 ), Randnoten auch als Zusammenfassung des im Absatz Gesagten, typografische Hervorhebungen 56 und grafische Mittel 57 werden eingesetzt. 4.2

„Specimen Philologiae Germanicae"

§35: HarsdörfFer war kein Sprachtheoretiker oder Grammatiker wie Schottelius. Dennoch hat er eine Schrift verfasst, die man als sein sprachtheoretisches Hauptwerk bezeichnen kann: das „Specimen Philologiae Germanicae" von 1646. Auf die Besonderheiten der Edition wurde bereits hingewiesen (s. §31, S. 56). Die Vorschaltung des „Porticus virtutis" ermöglichte die Veröffentlichung des eigentlichen Textes. Zum SPG gibt es wenig Sekundärliteratur. Vergleichsweise detailliert geht Jellinek auf das SPG ein, wenn auch seiner Gesamteinschätzung keineswegs zuzustimmen ist (vgl. §36, S. 81). Einzelbeiträge zum SPG, wie die von Blume (1972) und Forster (1974) (1991), sind selten. Ein Reprint des Textes, wie er für die meisten anderen Texte Harsdörffers bereits erfolgte, steht nach wie vor aus. Daher soll im Folgenden etwas ausführlicher auf Inhalt und Funktion des SPG im Rahmen der Spracharbeit eingegangen werden. Einen Uberblick über den gesamten Text des SPG bietet Tabelle 1:

55 56

57

Z.B. Biondi, Cassiodor, Goldast, Lipsius, Pasquier, Plutarch, Ronsard, Schottelius. Neben der zeitüblichen Schreibung fremdsprachiger Wörter und Sätze in Antiqua gehört hierzu v.a. der ausgiebige Gebrauch von Fettdruck; daneben das Symbol einer Hand als Verweis auf die FZG, s. STS, S. 378. Die Grafik zu den Buchstaben/Lauten (STS, S. 376), sowie die Homophonentabelle (STS, S. 379-383).

S p r a c h a r b e i t als P r o g r a m m

72

Überschrift

Seiten

Kommentar

Frontispiz

unpag.

programmatisches Titelbild, s. Abb. 2, S. 75

Harsdorfferi Specimen Philologiae Germanicae [ . . . ]

unpag. (*1)

Titel

Trochaeus

unpag., (*2)

Interpretation des Frontispiz in 20 Tetrametern.

P r o g r a m m a ad Heroes Frvctiferi Sodaliti

unpag., (*3-*7)

Serenissime atq Celsissime Princeps.

unpag. (*8-*12)

Porticus virtutis

unpag. (*13-*61)

Specimen Philologiae Germanicae

unpag. (*63)

Titelblatt

Praefatio

unpag. (*64-*77)

Vorwort zu Inhalt und Zielen des S P G

Amicorum missilia

unpag. (*78-*90)

Zuschriften von Joann Ulricus, Johann Saubert, J . M. Dilherr, J . Hellwig, J . G. Styrtzel, J. M. Moscherosch, Chr. Gueintz

Epigramma

unpag. (*91)

Zuschrift an den Leser (captatio benevolentiae)

Protestatio

unpag. (*92)

Antwort Harsdörffers auf die Zuschriften

Disquisitio I - XII

S. 1-303

Notae

S. 304-361

teilweise ausführliche Anmerkungen zu einzelnen Textstellen

Index I. Rerum & verborum Latinorum

unpag. (*362-*388)

Index zu lateinischen Sach- und Personennamen

Index II. Vocum Germanicarum

unpag. (*389-*403)

Index zu deutschen S a c h und Personennamen.

Corrigenda

unpag. (*404-*406)

Widmungsrede an Herzog August

T a b e l l e 1: I n h a l t s ü b e r s i c h t z u m S P G

Specimen Philologiae G e r m a n i c a "

73

In unserem Z u s a m m e n h a n g sind die zwölf Abhandlungen von besonderem Interesse. Deren Inhalt soll daher kurz vorgestellt werden. Einen Uberblick z u m Argumentationsgang bietet die nachfolgende Tabelle (s. Tab. 2). Abhandlung

Titel

Seiten

Disquisitio I

De Philologia in genere

S. 1-18

Disquisitio II

De Nominibus Germanorum

S.19-33

Disquisitio III

De Linguae German. Antiquitate

S.34-58

Disquisitio IV

Delatatio Iaphet

S.58-79

Disquisitio V

Linguam Germanicam esse discendam

S.80-102

Disquisitio VI

De Litteris Germanorum

S.103-126

Disquisitio VII

De Conformitate Hebrasae h Germanicae Linguae

S.127-151.

Disquisitio VIII

De commercio Graecae & Germanicae Linguae

S.152-170

Disquisitio IX

De re Poetica apud Germanos

S.171-199

Disquisitio X

De Orthographia Germanica

S. 199-235

Disquisitio XI

De Nominibus propriis Germanorum

S.236-274

Disquisitio XII

De parallelis Linguarum

S.275-303

Tabelle 2: Die zwölf Abhandlungen des SPG Bereits im Frontispiz kommt — ähnlich wie bei der STS — der programmatische Charakter des SPG zum Ausdruck (vgl. Abb. 2, S. 75). Es zeigt eine G r u p p e von Personen, die mit vereinten Kräften einen Pfahl einschlagen, indem sie eine Seilwinde betätigen, an deren Ende ein Sack h ä n g t . Dies symbolisiert die G r ü n d u n g des F u n d a m e n t s der deutschen Sprache (lingua? nostra ) durch die gemeinsamen Anstrengungen derjenigen, die Spracharbeit betreiben. Im einem Gedicht, das auf das Frontispiz folgt, bringt Harsdörffer selbst eine dahingehende Interpretation: Die Arbeit an der Sprache ist nur gemeinsam zu bewältigen 5 8 . So wird bereits durch das Frontispiz verdeutlicht, dass es Harsdörffer auch in seiner Theorieschrift letztlich u m Spracharbeit 58

Harsdörffer, S P G , S. *2. Das Gedicht setzt mit einer Abwehrhaltung gegen die Bedrohung durch fremden Wortschwall ein (Z. 1-2), geht dann jedoch darauf ein, was mit Arbeit alles erreicht werden kann (Z 9-10) und schließt m i t der Feststellung, dass dieses Werk nur gemeinsam zu bewerkstelligen ist; denn allein schafft es nur Herkules (Z. 18). „Trochaeus Frontispicii mterpres 1 Imminet torrens loquelae barbarae; repagula obicesque congeramus m u t u i s laboribus. 5 Aspice, ut Fistuca pendet! ponderosa Machina,

74

Spracharbeit als Programm

ging. Dabei standen allerdings die Aspekte im Vordergrund, die auf die Legitimation der deutschen Sprache zielten. Die Adressaten des „Specimen" sind die Gelehrten. Das ergibt sich aus der Tatsache, dass es in deren lingua franca, in Latein, verfasst ist 59 . Jeder Abhandlung ist ein kurzes Abstract in Stichwörtern vorgeschaltet. Gemeinsam mit den beiden Indizes (s. Tab. 1) kann so der Text als Nachschlagewerk verwendet werden. Der schnelle Zugriff auf einzelne Textteile ist gewährleistet. Das fehlende Inhaltsverzeichnis wird so ζ. T. kompensiert. Eine detaillierte inhaltliche Analyse des SPG würde den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Daher sei lediglich der Inhalt der einzelnen Abhandlungen und ihr Bezug zum Programm der Spracharbeit kurz umrissen. 1. Abhandlung: Von der „Philologie" im Allgemeinen. Zunächst wird die Begriffsbestimmung von philologia geklärt. Die Herkunft wird als ,Freund des gesprochenen und geschriebenen Wortes' bestimmt. Für die Verwendung im SPG wird die Definition eingeschränkt auf die Erklärung der Wörter in Herkunft und Bedeutung (S. 4). Dann werden ,alte' Stammwörter für Philosoph und Philologe hergeleitet als „Witdode" und „Wortdode 160 . „Wit" steht für „Weisheit, Wissen", „dod" für ,Freund'. Selbst eine Parallele zum Hebräischen wird angestrengt. Das Kompositum „Wortdodschaft" bildet schließlich die Entsprechung für philologia (S. 12). Es folgen Ausführungen zum Problem der Analogie und Anomalie in der Schreibung. Harsdörffer stellt sich hier klar auf die Seite der Analogie (S. 15 ff.) 61 . 2. Abhandlung: Von den Namen der Deutschen / Germanen. Diese Abhandlung bietet etymologische Herleitungsversuche der Stammesnamen der ,Germanen',,Kelten',,Alemannen', ,Cimbern' und der Bezeichnung ,Teutsch'. Es werden ζ. T. mehrere Ableitungsversuche nebeneinandergestellt. Bei ,Germane' werden insgesamt acht Mögliche Ableitungen vorgeführt, bei ,Kelten' drei, bei den ,Alemannen' vier und bei den ,Cimbern' fünf. Eine enge Beziequä, remisso fune, pondus, pulsat alte sublicas: Sic statuminantur urbes, 10 Templa, Pontium pedes. Ast, ut arbor per vireta quassa, nunquam concidit. Ni labor bipennis ictu adurgeat frequentior: 15 Sic manus jungamus; esto sudor unus omnibus. Magna subducenda moles: Solus, hiscet Hercules. Surget, ex labore surget 20 pulchra cunctis gloria.'1 59 So auch Böttcher (1984), S. 313. 60 Vgl. dazu die briefliche Diskussion zwischen Gueintz, der diese Wortneubildungen ablehnt, und Harsdörffer in Krause (1855/1973), S. 363 f. und 372. 61 Harsdörffer, STS, S. 18: „sicque in cardinalibus Unguis, dicendi & scribendi perpetua analogia custodienda est, si non in triviis, in scholis tarne, ubi in dubiis ad fundamenta h Etymologias recurrendum."

Specimen Philologiae Germanicae"

Abbildung 2: Frontispiz des S P G

75

76

S p r a c h a r b e i t als P r o g r a m m

h u n g bzw. eine faktische Gleichsetzung der g e r m a n i s c h e n m i t der d e u t s c h e n S p r a c h e wird a n g e n o m m e n . W e n n auch teilweise eine U n t e r s c h e i d u n g („Teut o n i c a Lingua", „ G e r m a n i c a Lingua") v o r g e n o m m e n wird, so sind beide i h r e m U r s p r u n g nach als idealisierte langue praktisch identisch. Bei ,Teutsch' werden alle zu Harsdörffers Zeit kursierenden A b l e i t u n g e n gegeben. Z u m einen schafft die H e r l e i t u n g aus ,Ascenas' 6 2 , d e m Sohn G o m e r s 6 3 , einen biblischen Bezug ( S i n t f l u t / T u r m b a u zu Babel). Ü b e r ,Ascenas / Ascanaz' b e s t e h t d a n n auch ein Bezug zu den hebräischen W ö r t e r n ,Aesch' (Feuer) u n d ,Koher' (Priest e r ) . Harsdörffer bezieht sich hier auf Goropius Becanus, der diese H e r l e i t u n g M e l a n c h t h o n zuschreibt 6 4 . Auch eine Verbindungsmöglichkeit von lat. deo u n d ,deud' wird a n g e f ü h r t (S. 30). Die V e r b i n d u n g beider stellt Harsdörffer her, i n d e m er Ascenaz z u m (Zeichen)Deuter m a c h t , weshalb das ,Teutschen' ein ,Deuten' sei. Schließlich f ü h r t er mit Bezug auf Sebastian Franck die Herleitung von ,Tuisco' einem G e r m a n e n k ö n i g a n 6 5 . Die lautlichen W a n d l u n g e n der A u s g a n g s w ö r t e r bis hin zu Teutsch sind f ü r Harsdörffer kein P r o b l e m 6 6 . Seine H a u p t q u e l l e f ü r die Ableitungen ist Goropius Becanus 6 7 , ein Streiter f ü r das Niederländische aus d e m 16. J a h r h u n d e r t . Dies ist deshalb e r w ä h n e n s w e r t , weil er sich sonst m e h r f a c h von den Ansichten des B e c a n u s deutlich d i s t a n z i e r t (S. 25, 40, 50) u n d i h m die wissenschaftliche G l a u b w ü r d i g k e i t abspricht. Das zeigt, dass die Richtigkeit der Herleitungen nicht e n t s c h e i d e n d f ü r ihn war. Sie werden letztlich nicht b e w e r t e t . Welche davon auch i m m e r richtig sein m o c h t e , so galt doch bei j e d e r , dass die Bezeichnung ,Teutsch' eine e h r w ü r d i g e A b s t a m m u n g h a t , u n d dass die deutsche Sprache d u r c h ihr hohes Alter in die N ä h e der hebräischen zu setzen sei. 3. A b h a n d l u n g : Vom Alter der deutschen Sprache. Alle Sprachen u n t e r liegen einem W a n d e l an der Oberfläche. Kein Volk kann seine u r s p r ü n g l i c h e S p r a c h e b e i b e h a l t e n . D a f ü r sind im D e u t s c h e n die Dialekte Belege. A u c h die h e b r ä i s c h e Sprache ist diesem W a n d e l unterworfen (S. 39) 6 8 . Der M y t h o s der U r s p r a c h e m i t der nachfolgenden babylonischen S p r a c h e n v e r w i r r u n g wird ang e f ü h r t (S. 44ff.). 72 Sprachen in 74 S t ä m m e n k a m e n d a r a u s hervor. Es gilt

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Dieses sollte aus ,the ascan' zu ,Teutsch' zusammengezogen worden sein. Ein Reflex bestünde noch in der italienischen Bezeichnung ,Todesca'. Harsdörffer, SPG, S. 29. Dieser war wiederum ein Sohn Japhets und ein Enkel Noahs. Vgl. Genesis 10,2. Zu Melanchthon vgl. Borst (1995), S. 1069f., wo lediglich die Ableitung aus dem biblischen Volksnamen angegeben wird. „Aus der Bezeichnung Die Ascanes sei lautgesetzlich der Name Tuiscones geworden." Vgl. dagegen Borst (1995), S. 1077, der für Franck die Verbindung von Tuisco als Sohn von Noah belegt. Ζ. B. nimmt er in der Frage ob man ,Teutsch' oder .Deutsch' schreiben solle eine vermittelnde Stellung ein. Beides ginge, d a f ü r beide Schreibungen Argumente beigebracht werden können. Zu Goropius Becanus vgl. Borst (1995), S. 1215-1219. Der Niederländer Becanus (15181572) setzte „zum Frontalangriff auf die hebräische Ursprache" (S. 1216) an, und versuchte im Hebräischen Spuren des Niederländischen nachzuweisen. Harsdörffer, SPG, S. 39: „Nulla Lingua pura, fc ab omni peregrinitate immunis est, nec Hebrasa, in qua divina ad nos defluxere eloquia:"

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der Primat des Hebräischen, das dieser Ursprache noch am nächsten steht 6 9 . Dann werden die germanischen Stämme aufgezählt mit dem Fazit, dass ganz Europa in einer ursprünglichen germanischen Sprache verbunden gewesen sei (von Spanien bis Norwegen, S. 51) 70 . Durch die Verbindung der alten germanischen, i.e. im Grunde deutschen Sprache mit der babylonischen Sprachverwirrung und mit den alten Stämmen, die dann Europa besiedelt haben, ist der Altersnachweis erbracht. Zusätzlich fügt er dann noch konkretes Wortmaterial aus dem Althochdeutschen, dem Dänischen und dem Gegenwartsdeutschen des 17. Jahrhunderts an. In einer Liste stellt er 35 Wörter nebeneinander, die den Zusammenhang der Sprachen belegen sollen (S. 52-54). 4. A b h a n d l u n g : „Ausbreitung" [der deutschen Sprache durch] J a p h e t . Eingehend wird die Herkunft der deutschen Sprache beschrieben. Alle Sprachunterschiede kommen von Ausspracheunterschieden her. Sie sind durch Temperament, Sitten, Klima und ähnliche Faktoren bedingt. Germanisch kommt vom Hebräischen her und zwar über Japhet, einen der drei Söhne von Noah. Die europäischen Sprachen wurden Japhet zugewiesen, gemäß der Aufteilung der Welt durch Noah an seine drei Söhne. Sem erhielt den Nordosten, Ham den Süden und Japhet den Nordwesten. Dieser hatte wiederum drei Söhne, Ascenas, Riphat und Thagarma, denen die Elbgermanen, die Skythen und die Nordgermanen zugeordnet werden (S. 64f.). Die Ausbreitung der Japhetiten über Griechenland, Italien, Gallien und Spanien (S. 71) wird beschrieben. Dies soll zeigen, dass die so konstruierte deutsche Sprache in Europa die älteste und reinste ist (S. 72). Sie hat über ihre direkte Verwandtschaft mit dem Hebräischen sogar noch vor dem Griechischen und Lateinischen den Vorrang (S. 74). Die Vereinnahmung des vermeintlichen Ursprungs wird fortgeführt, indem auch die keltische Sprache letztlich zur alten deutschen Sprache gehört (S. 74). Dem schließt der Autor wieder einen „Beweis" in Form einer Wortliste an (S. 75ff.). Schließlich zieht er die Konsequenz aus dem Vorrang der deutschen vor den anderen europäischen Sprachen. Das Prestige, das griechische und lateinische Rechtskodifikationen bei den Juristen haben, sollte auf das Deutsche verlagert werden. 5. A b h a n d l u n g : Die Lernbarkeit der deutschen Sprache. Die alte Frage nach der natürlich erworbenen Erstsprache wird aufgeworfen: Welche Sprache lernt ein Kind, das in keiner unterrichtet wird (S. 83). Prinzipiell gilt, dass auch die deutsche Sprache problemlos erlernt werden kann (S. 87). So wie die Griechen und Römer darauf achteten, dass ihre Kinder die Sprache richtig erlernten (S. 88 f.), sollten es auch die Deutschen tun. Die Sprachnorm dafür geben Schottelius und Gueintz vor (S. 92). Die Pflege der deutschen Sprache muss keineswegs zu Lasten der Lateinischen gehen (S. 93). Sinnvoll wäre die Institutionalisierung der deutschen Sprache als Lehrfach an den Universitäten (S. 95). Die Umstellung auf das Deutsche wäre gerade in Insti69

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Klar wendet er sich hier gegen Goropius Becanus (S. 50), der die cimbrische Sprache noch hinter d a s Hebräische zurückverlegen möchte. Harsdörffer bezieht sich auf Wolfgang Lazius, dessen wissenschaftlichen R a n g er insges a m t hoch einschätzt.

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tutionen sinnvoll, da dies die Verständlichkeit erhöht. Luther wird mit seiner Bibelübersetzung als Beweis angeführt. 6. A b h a n d l u n g : Von den deutschen Buchstaben. Zunächst wird der Ursprung des deutschen Alphabets ergründet, von den Phöniziern (S. 105) bis zu Wulfila, der das gotische Alphabet erfand (S. 106). Letztlich sind die Buchstaben ein Geschenk Gottes (S. 107f.). Verschiedene Meinungen zum Ursprung und zur Motiviertheit der Buchstaben werden angeführt (S. 111 ff.). Nach Beispielen zeitgenössischer Druckerschriften wird auch auf Runen, die ältesten Buchstabenformen eingegangen. Ausführlich werden die etymologischen Erklärungsversuche zu ,Buchstabe' und ,littera/Letter' dargestellt (S. 120124). Die unterschiedlichen Herleitungen stehen nebeneinander, da für jede Argumente sprechen. Der Ursprung von Zahlen und Ziffern bildet den Abschluss (S. 124 ff.). 7. A b h a n d l u n g : Von der Ubereinstimmung der hebräischen und der deutschen Sprache. Es wird versucht, die Verwandtschaft beider Sprachen nachzuweisen. Dies geschieht zum einen über Wortvergleiche (S. 129-131), zum anderen über sprachsystematische Bezüge (S. 132ff.). Ähnlichkeiten bestehen nicht nur in den Buchstaben (verstanden als Laute!) sondern auch in den Namen, den Wörtern und den Wortbildungsmöglichkeiten. Die phonologischen Ähnlichkeiten werden breit ausgeführt (S. 134-138), ebenso die Gemeinsamkeiten in der Wortbildung (Vorkommen substantivierter Verben, S. 138f., starke und schwache Verben, S. 140f.). In der Stammwortfrage stellt sich Harsdörffer auf die Seite von Schottelius, d . h . er geht von einsilbigen Stammwörtern aus, die den Imperativ Sg. des Verbs darstellen. Zudem gilt für die Ursprünglichkeit möglicher Stammwörter: „quo quid simplicius, eö etiam est prius."n Er weiß, dass es in der Stammwortfrage einen Gelehrtenstreit gibt. Obwohl er zugesteht, dass es von diesem Prinzip Ausnahmen gibt, hält er prinzipiell an der Position des Schottelius fest (S. 144). Nach der Übereinstimmung in den Verben kommt er zu den Partikeln, einer Wortklasse, die in beiden Sprachen besteht (S. 145f.). Es folgen Ähnlichkeiten in der Suffixwortbildung und in der Kompositabildung (S. 146ff.). Aus etymologischen Gründen spricht er sich klar für die Silbentrennung nach dem morphologischen Prinzip (und nicht nach Sprechsilben) aus 7 2 . Selbst die in beiden Sprachen verwendeten Satzzeichen Virgel und Komma sollen die Verwandtschaft beider Sprachen bezeugen (S. 150). Die aus heutiger Sicht teilweise abstrusen Argumente dienen dem Zweck, über die Verbindung der deutschen mit der hebräischen Sprache, jene in den Stand einer Hauptsprache zu erheben, sie damit aufzuwerten und als Mittel der Kommunikation akzeptabel zu machen. Dies gilt auch für die folgende Abhandlung. 8. A b h a n d l u n g : Die Verbindung zwischen der griechischen und der deutschen Sprache. Hier wird über die Brücke der Kelten und Goten eine Verbindung zur griechischen Sprache hergestellt: „ GreBcaq; cum Getico mixta loqutla 71 Harsdörffer, SPG, S. 141. 72 Z.B. ,Schänd-er' statt ,Schän-der'.

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sono est."73 Letztlich ist die germanische, i. e. letztlich die d e u t s c h e S p r a c h e ä l t e r als die griechische (S. 162f.). Bei den B e z i e h u n g e n zwischen den griechischen u n d d e u t s c h e n B u c h s t a b e n (S. 164) k o m m t Harsdörffer auch auf den Streit u m Schreibungen b e s t i m m t e r B u c h s t a b e n zu sprechen. Er spricht sich deutlich v e r m i t t e l n d aus u n d wirbt f ü r das N e b e n e i n a n d e r b e s t e h e n unterschiedlicher Meinungen. Dissens in den M e i n u n g e n h a t einer Sprache noch nie geschadet, wohl aber Zwietracht 7 4 . Nach dieser M a h n u n g z u m friedlichen A u s t r a g der M e i n u n g e n wiederholt er (S. 166 ff.) sein S p r a c h a r b e i t s p r o g r a m m in sechs P u n k t e n . D a m i t liefert er eine lateinische Version des in der S T S 7 5 bereits f o r m u l i e r t e n P r o g r a m m s f ü r alle G e l e h r t e n n a c h . 9. A b h a n d l u n g : D i c h t u n g in deutscher Sprache. D i c h t u n g ist f ü r die S p r a c h e notwendig. Tacitus wird a n g e f ü h r t , der bereits von den alten Liedern der G e r m a n e n schrieb (S. 174). Die Herleitung des W o r t e s ,Weise' u n d dessen Beziehung zu ,Gesetz' folgt (S. 175ff.). Der B a r d e / Sänger ist die U r f o r m des Dichters. Die provengalischen T r o u b a d o u r s werden als Beispiele f ü r B a r d e n u n d deren K l e i d u n g vorgeführt (S. 180ff.). A l t e u n d n e u e Versmaße w e r d e n vorgestellt (S. 184ff.), wobei den heutigen der Vorzug gegeben wird (S. 189 f.). Die deutschsprachigen Versmaße u n d Verse s t e h e n nach Harsdörffers M e i n u n g den spanischen, italienischen u n d französischen j e t z t in Nichts m e h r nach (S. 191 f.) 7 6 . Die A u f z ä h l u n g vorbildlicher deutscher A u t o r e n u n d deren S c h r i f t e n (S. 194 ff.) soll dies b e s t ä t i g e n . Sie bereichern die d e u t s c h e Sprache d u r c h ihre Schriften 7 7 . Es folgt eine Liste zeitgenössischer A u t o r e n , von Dietrich von d e m W e r d e r bis Daniel Czepko. Als W e i t e r f ü h r u n g in dieser M a t e r i e weist er wiederholt auf P a s s a g e n aus den F Z G hin. Vor allem zwei F u n k t i o n e n h a t diese A b h a n d l u n g . Sie h e b t hervor, dass die d e u t s c h e Sprache auch in literarischen Dingen eine hohes Alter u n d d a m i t große D i g n i t ä t a u f w e i s t . D a d u r c h soll zud e m u n t e r s t r i c h e n werden, dass sie den a n d e r e n L i t e r a t u r s p r a c h e n e b e n b ü r t i g ist. 10. A b h a n d l u n g : Von der deutschen O r t h o g r a p h i e . Z u n ä c h s t stellt er klar, dass kein I s t - sondern ein Sollzustand b e s c h r i e b e n wird (S. 203). Die R e c h t s c h r e i b u n g h a t sich im Laufe der Zeit g e w a n d e l t (S. 204ff.). W o h e r k ö n n e n Kriterien zu ihrer N o r m i e r u n g bezogen werden? Detailliert zeigt er auf, dass die R e c h t s c h r e i b u n g entweder auf ratio oder auf autoritas b e r u h t (S. 206). Beide Prinzipien werden dargestellt. A r g u m e n t e g e m ä ß der ratio ergeben sich aus: a) der N a t u r der B u c h s t a b e n 7 8 , b) aus der W o r t b i l d u n g

Harsdörffer, SPG, S. 161. Harsdörffer, SPG, S. 165: „Aliud est dissensus; aliud est discordia; hasc ad animum & actionem, ille ad opinionem & contemplationem spectat." 75 Harsdörffer, STS, S. 361 f. 76 Harsdörffer, SPG, S. 191: „Nunc rythmorum tractus, ita decens & omnibus numeris est perfectus, ut neq; Hispanorum majestati, neq; Italorü decentiae neq; Gallorum elegantiis concedimus." 77 Harsdörffer, SPG, S. 195: „Quantos illorü est numerus, qui publicis scriptis linguä nostra ditarunt?" 78 Daher darf man nicht ν statt u schreiben. V ist ein Konsonant. S. 207.

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Spracharbeit als Programm

(Komposition und Derivation) 79 , c) aus der Flexion 80 , d) aus der bezeichneten Sache selbst (Lautmalerei/ Lautsymbolik), e) aus dem Unterschied zwischen den bezeichneten Sachverhalten (Vermeidung von Homonymen) 81 , f) aus der Analogie (Entscheidung gemäß ähnlich gelagerter Fälle) 82 . Die autoritas hingegen, als maßgebliche Meinung der besten Schriftsteller, ist als Normkriterium zweigeteilt in eine sichere und eine zweifelhafte. Jene bezieht sich auf die Fälle, die von allen verständigen Sprachteilnehmern anerkannt werden, diese auf die strittigen Schreibungen. An dieser Stelle (S. 211) setzt Harsdörffer auch Luther als Entscheidungsinstanz in orthographischen Fragen ab. Luther war für ihn der Vater der deutschen Rhetorik, darin Cicero vergleichbar. Er war jedoch nicht ein Varro, d. h. ein Grammatiker und Kritiker der eigenen Sprache. Harsdörffer unterscheidet klar die sprachsytembezogenen von den sprachgebrauchsbezogenen Normkriterien. Es folgen (S. 213-219) Einzelprobleme wie die Verwendung des Buchstabens c in ck, ch, sch und die Schreibung von Fremdwörtern. Die Frage, ob die Aussprache sich nach der Schreibung richten soll, beantwortet er positiv (S. 219if.). Da die Aussprache sehr wandelbar ist, darf es nicht umgekehrt sein. Dies unterstreicht er mit einem zusätzlichen Beispiel. Das Chinesische weist verschiedene Aussprachen bei einer einheitlichen (Begriffs)Schrift auf. Wenn im Mündlichen nun Missverständnisse auftreten, muss man lediglich das entsprechende Zeichen aufschreiben. Zum Abschluss ruft er zur systematischen Spracharbeit auf und verwahrt sich gegen mögliche Kritik. Vor allem die Abhandlung zur Rechtschreibung brachte Harsdörffer in Opposition zu Gueintz und Fürst Ludwig in der FG. Zwar hatte auch Fürst Ludwig bei Luther Schreib- und Druckfehler moniert, gegen Harsdörffer erhob er ihn allerdings wieder zur unangreifbaren Autorität 8 3 . Allerdings sollte die einseitige Rezeption des SPG im Kreis der FG getrennt werden von der Gesamtintention des Textes. 11. Abhandlung: Die Eigennamen der Germanen. Hier werden vor allem Beispiele von Titeln und geographischen Namensableitungen gegeben. Eine Liste die von Akker/Acker bis zu Wit/Witz reicht (S. 251-274), bringt jeweils etymologische Versuche. Der Nachweis, dass sowohl Titel als auch geographische Bezeichnungen im Deutschen auf einen sehr alten (germanischen) Ursprung zurückgehen, dient wiederum legitimatorischen Zwecken. 12. A b h a n d l u n g : Die Parallelen in den Sprachen. Diese Abhandlung ist in einer gewissen Weise sprachtypologisch. Bereits im ersten Abschnitt umreißt Harsdörffer das Ziel: „Nihil sine comparatione magnum, nihil sine comparatione parvum est." Der Sprachvergleich soll die „Praecellentia ver79

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Deshalb schreibt man besser erdisch statt irdisch (von Erde) oder gelt statt geld (von gilt Imp.Sg.). Man schreibt Schwert statt Schwerdt wegen des Plurals Schwerter. Ζ. B. soll dass als Konjunktion von das als Artikel orthographisch geschieden sein. So schreibt man besser Genoßschaft und nicht Genossenschaft ähnlich wie Freundschaft. Vgl. Jellinek (1913), S. 160-184, der die gesamte Rechtschreibdiskussion zwischen Ludwig, Gueintz, Schottelius und Harsdörffer aus den Briefen (Krause (1855/1973)) rekonstruiert und sehr präzise darstellt, hier S. 175.

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naculae nostrae" 84 erweisen. Sechs Hauptsprachen mit jeweils davon abgeleiteten Sprachen 8 5 gebe es (S. 278): 1) Hebräisch (Chaldäisch, Syrisch, Arabisch), 2) Germanisch/Cimbrisch, die eigentliche deutsche Sprache (Dänisch, Schwedisch, Englisch, Belgisch), 3) Griechisch (Dorisch, Ionisch, Aolisch, Attisch), 4) Lateinisch (Italienisch, Französisch, Spanisch, Wallachisch), 5) Slavisch (Polnisch, Böhmisch, Moscowitisch), 6) Tartarisch (Abbessinisch, Sabäisch, Äthiopisch). Nach dieser Gliederung, die v. a. die B e d e u t u n g des Deutschen hervorheben sollte, wird nochmals der P r i m a t des Hebräischen (S. 282) betont. In dieser Sprache sind zudem zahlreiche Geheimnisse begründet (Kabbala, S. 284). Die Aufdeckung verborgenen Wissens in den W ö r t e r n ist auch in der deutschen Sprache möglich. Hier verweist Harsdörffer auf die entsprechenden Gesprächspiele mit Anagrammen (S. 285). Wohl auch um sich gegen den Vorwurf zu wehren, die Kinder vom Lateinlernen abhalten zu wollen, spricht er ein Lob auf das Latein aus. Diese Sprache ist der „Ubersetzer" f ü r ganz Europa und daher unbedingt zu lernen. Allerdings hat die deutsche Sprache vor der lateinischen Vorzüge in der Lautmalerei und auch in der W o r t b i l d u n g (S. 293ff.). So schneidet die deutsche Sprache im Vergleich zu allen a n d e r e n Sprachen, die im weiteren Verlauf angeführt werden (S. 295 ff.), stets gut ab. Allerdings spricht sich Harsdörffer ausdrücklich für das S t u d i u m möglichst vieler Fremdsprachen aus (S. 298). Zuletzt kann er sein Ziel als erreicht ansehen. Er wollte zeigen, dass die deutsche Sprache allen anderen nicht nur gleichkommt, sondern diese bei weit e m übertrifft 8 6 . Dieses Ziel gilt nicht nur für diese eine Abhandlung, sondern für das gesamte SPG. §36: Welche Funktion h a t t e das SPG im R a h m e n der Spracharbeit? Folgt m a n der Einschätzung Jellineks, so handelt es sich eigentlich nur u m eine „Streitschrift gegen Gueintz und seine Rechtschreibung" 8 7 . Jellinek n i m m t ferner an, dass Harsdörffer selbst a m meisten Wert auf die Abhandlungen 7 und 10 gelegt habe, also auf die Verwandtschaft des Deutschen mit d e m Hebräischen, sowie auf die Rechtschreibung 8 8 . Μ. E. ist diese Einschränkung äußerst fraglich. Es trifft zwar zu, dass sich die Rezeption des SPG in der F G vorwiegend auf den Aspekt der Rechtschreibung beschränkte. Der Briefwechsel, der sich zum SPG entspann, geht deutlich in diese Richtung 8 9 . Auch soll nicht bestritten werden, dass Harsdörffer in der 10. Abhandlung die Theorieposition von Schottelius einnahm und der Gewinnung von Normierungs84 Harsdörffer, SPG, S. 277. 85 In der folgenden Liste in Klammern gesetzt. 86 Harsdörffer, SPG, S. 300: „ [ . . . ] Lingua Germanica omnium aliarum parallela non modo aequat, sed multis parasangis superat." 87 Jellinek (1913), S. 174. 88 Jellinek (1913), S. 176: „Das Hauptgewicht legte Harsdörfer [!] auf die 7. und die 10. Disquisitio." 89 Krause (1855/1973), S. 356ff. Harsdörffer hebt in einem Brief an Fürst Ludwig diese beiden Abhandlungen hervor. Das ist jedoch im Zusammenhang mit der in dem Briefwechsel stattfindenden Diskussion zu sehen. Das SPG erschöpft sich nicht in dieser Frage.

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Spracharbeit als Programm

kriterien aus dem Sprachsystem und aus der Analogie den Vorzug vor dem Sprachgebrauch gab. Dies hatte allerdings für die Praxis keine große Relevanz. Auch Jellinek konzediert das, wenn er zum Gegensatz zwischen beiden Positionen schreibt: „In der Praxis stumpfte er sich allerdings ab." 9 0 . Dieses Einlenken dürfte weniger einer „Ermüdung" 9 1 Harsdörffers in diesem Streit zuzurechnen sein als vielmehr einer grundlegenderen Überlegung. Spracharbeit als sprachreflexive Praxis hat für ihn Vorrang vor den Theoriequerelen. Deshalb spricht sich Harsdörffer an anderen Stellen deutlich versöhnlicher aus. Er will gerade die sprachtheoretischen Streitpunkte aus der Spracharbeit ausklammern 9 2 . Die Vermutung liegt nahe, dass der Orthographiestreit eher von Fürst Ludwig und von Gueintz angetrieben wurde und insbesondere für das SPG eine Rezeption in Gang setzte, die ihm nicht gerecht wird. Wenn man dagegen den gesamten Inhalt der Abhandlungen berücksichtigt, wird eine andere Hauptintention viel wahrscheinlicher. Sie lässt sich auf den Punkt bringen als Spracharbeit zum Zweck der Legitimation und Prestigesteigerung der deutschen Sprache. Aus dem Inhalt ergeben sich im wesentlichen vier Argumentationsstränge, die letztlich alle in diese Richtung zielen. Sprachalter: Erstens geht es darum, das hohe Alter der deutschen Sprache und ihrer Elemente nachzuweisen. Je weiter man das Alter einer Sprache zurückverlegen konnte, umso mehr wurde dadurch ihr innerer Wert und ihr äußeres Ansehen gesteigert. Diesem Ziel dienen nicht nur die dritte Abhandlung sondern auch die zahlreichen Textstellen, an denen durch Wortetymologien zeitliche Rückprojektionen vorgenommen werden. Hauptsprache: Die postulierte Verwandtschaft mit dem Hebräischen hat eine wichtige legitimatorische Funktion. So sollte die deutsche Sprache nicht nur als eine Hauptsprache erwiesen werden, sondern als eine Hauptsprache, die besonders engen Kontakt zu der wichtigsten hatte, zum Hebräischen. Diese Argumentation wird nicht nur in der 7. Abhandlung vorgeführt sondern auch in den anderen anhand zahlreicher Wortähnlichkeiten zwischen beiden Sprachen aufgebaut. Gleichrangigkeit: Wenn die deutsche Sprache Hauptsprache ist, hat sie damit denselben (für Lateinisch und Griechisch) bzw. fast denselben Rang (für Hebräisch) wie die anderen Hauptsprachen. Ein zusätzliches Ziel besteht darin, die Vorzüge der deutschen Sprache gegenüber den europäischen Nachbarsprachen (Italienisch, Französisch, Spanisch) herauszustreichen (Abhandlungen 4, 9 und 12). Lernen und A r b e i t an der Sprache: Uber diese legitimatorischen Argumente hinaus wirbt Harsdörffer für eine Institutionalisierung der Arbeit an und mit der deutschen Sprache. Die Vermittlung in der Schule, die Errichtung einer Professur, sowie die Wiederholung der sechs Punkte der Spracharbeit 90 Jellinek (1913), S. 184. 91 Jellinek (1913), S. 183. Er bezieht sich dabei auf eine Stelle aus dem P T III, Vorrede, in der sich Harsdörffer für das Zurückstellen der Streitfragen zugunsten der Anwendung und Einübung der deutschen Sprache ausspricht. 92 S. §25,S. 37, §34, Harsdörffer, STS, S. 372; P T III, Vorrede.

Lobreden"

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aus der „Schutzschrift" belegen dies (5. und 8. Abhandlung). Dabei ist zu beachten, dass dies alles keineswegs zu Lasten der Fremdsprachenkenntnisse gehen sollte. Bleibt die Frage, was das SPG — außer der Sprache und der Zielgruppe — von der STS unterscheidet? Beide ordnen sich dem Spracharbeitsprogramm unter. Allerdings ist das SPG, eventuell bedingt durch die veränderte Adressatengruppe, stärker theorielastig. Auch liegt hier größeres Gewicht auf der Legitimation und auf dem Nachweis der Gleichrangigkeit der deutschen neben anderen Sprachen. Dem Spracharbeiter sollte ein Katalog an Argumenten für die deutsche Sprache an die Hand gegeben werden. Dies ist das Ziel und zugleich die Schwäche des SPG, muss sich dazu Harsdörffer doch weit ins Feld der Sprachtheorie begeben. Dies hatte wiederum innerhalb der FG eine ungünstige Rezeption des Werkes zur Folge. 4.3

Zehn „Lobreden von der Uhralten Teutschen HaubtSprache"

§37: In den zehn Lobreden der AA finden sich alle sprachphilosophischen Grundannahmen, die für Schottelius relevant sind. Sie sind daher unverzichtbarer Bestandteil nahezu jeder Forschungsarbeit über ihn. Durch den Neudruck der AA sind sie zudem leicht verfügbar. Die Lobreden begleiten das gesamte Werk des Schottelius. Bereits der ersten Fassung der „Sprachkunst" von 1641 sind neun Lobreden beigegeben, die im wesentlichen desselben Inhalts sind wie die späteren Fassungen von 1651 und 1663. In der zweiten Auflage der „Sprachkunst" von 1651 wird die 10. Lobrede, die in der ersten Auflage vom Autor in Aussicht gestellt worden war 93 , hinzugefügt 9 4 . Die gewissermaßen kanonisierte Fassung liegt dann in der AA von 1663 vor. Ahnlich wie im SPG steht zu Beginn jeder Lobrede ein lateinisches Abstract zur Orientierung für den Leser. Die Lobreden bringen das gesamte sprachtheoretische Spektrum von Schottelius zum Ausdruck 95 . 93 Schottelius (1641), S. 172. 94 Vgl. Hecht (1995), S. ' 6 . 95 Stich p u n k t a r t i g gliedert sich der I n h a l t wie folgt: 1. Lobrede: (S. 1-14) Ausführlich k o m m e n t i e r t e G l i e d e r u n g des G e s a m t w e r k s der AA / das A n a l o g i e - A n o m a l i e - P r o b l e m wird bereits angesprochen / die d e u t s c h e S p r a c h e muss erst noch erworben werden. 2. Lobrede: (S. 14-27) S a m m l u n g von positiven Äußerungen von G e l e h r t e n u n d A u t o ritäten (Prestigenachweis) für und Abwehr von Vorwürfen gegen die deutsche Sprache. 3. Lobrede: (S. 27-49) Altersnachweis der deutschen Sprache (Babel, J a p h e t , Ascenas etc.) / N a m e n s h e r l e i t u n g e n / Verbindungen zu anderen Sprachen (Keltisch, Griechisch, Lateinisch) / die heutige deutsche Sprache ist im G r u n d e noch dieselbe wie die f r ü h e r e (Identifikation m i t der postulierten und konstruierten Idealsprache t r o t z D i a l e k t e n ) , Beweise d a f ü r / Denkzeiten der deutschen Sprache ( E p o c h e n g l i e d e r u n g der d e u t s c h e n Sprachgeschichte). 4. Lobrede: (S. 49-65) Eigenschaften der S t a m m w ö r t e r / Vorrang des Deutschen vor d e m Lateinischen, Beispielwort ,Letter' / Gleichsetzungen von Keltisch u n d D e u t s c h , Gotisch u n d Deutsch / Beispielwort ,Druide' / deutsche B u c h s t a b e n / M o t i v i e r t h e i t der W ö r t e r (Lautmalerei u n d göttlicher Ursprung) / zur Form u n d A n z a h l der S t a m m wörter.

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S p r a c h a r b e i t als P r o g r a m m

Die Ziele der L o b r e d e n h a t b e r e i t s R ö m e r (1986) k u r z dargestellt. D e r W e r t d e r d e u t s c h e n S p r a c h e s o l l t e e r k a n n t u n d a n e r k a n n t w e r d e n . Sie s o l l t e e i n g e h e n d u n t e r s u c h t ( g r a m m a t i s c h e S t r u k t u r ) u n d kodifiziert werden ( S t a m m w ö r terbuch)96. Die für den Wert der deutschen Sprache beigebrachten A r g u m e n t e fasst R ö m e r ebenfalls präzise z u s a m m e n : „1. d a s hohe Alter der d e u t s c h e n Sprache, 2. ihre weite A u s d e h n u n g , 3. die große Zahl ihrer S t a m m w ö r t e r , 4. der N a t u r l a u t vieler d e u t s c h e r W ö r t e r , 5. die a u ß e r o r d e n t l i c h e Beweglichkeit, F ü g s a m k e i t d e u t s c h e r W ö r t e r , 6. die U n v e r m i s c h t h e i t der d e u t s c h e n S p r a c h e . " 9 7 F r a g l i c h b l e i b t j e d o c h i h r e S c h l u s s f o l g e r u n g , i n d e r sie S c h o t t e l i u s a n

den

B e g i n n des Sprachchauvinismus stellt98. D a bereits die V e r e i n n a h m u n g des 17. J a h r h u n d e r t s d u r c h d i e S p r a c h c h a u v i n i s t e n d e s 19. J a h r h u n d e r t s s a c h l i c h n i c h t g e r e c h t f e r t i g t w a r , ist a u c h k e i n e d i r e k t e V e r b i n d u n g s l i n i e v o n j e n e n z u diesen zu ziehen. I m Unterschied z u m S P G Harsdörffers war den zehn Lobreden des Schottelius nicht nur eine breite, sondern insgesamt a u c h eine sehr positive Rezept i o n b e s c h i e d e n . D i e P l a t z i e r u n g d e r L o b r e d e n z u B e g i n n d e s W e r k e s ist z u g l e i c h e i n I n d i z f ü r i h r e F u n k t i o n i m G e s a m t p l a n . Sie r e c h t f e r t i g e n n i c h t n u r die n a c h f o l g e n d e n K a p i t e l zu e i n z e l n e n B e r e i c h e n des S p r a c h s y s t e m s , d. h. zur „Wortforschung" (Phonologie, Morphologie, Flexion, Wortbildung

und

5. Lobrede: (S. 66-71) Derivations- und Flexionsmöglichkeiten der deutschen Sprache. 6. Lobrede: (S. 72-103) ausführliche Darstellung der Kompositionsmöglichkeiten der deutschen Sprache / zahlreiche Beispiele hierzu / die erkenntniskonstitutive Funktion der Sprache / die wichtigsten Affixe / Geschlossenheit des Stammwortinventars wird durch Wortbildung kompensiert. 7. Lobrede: (S. 103-122) Funktion der Dichtung / Handlungsanweisungen (Fremdwortvermeidung, Metrik) / zum Stand der deutschen Dichtung / Hinweise auf die Poetiken von Hardörffer und Buchner / die vielfältigen Möglichkeiten, die der Dichtung in der deutschen Sprache offenstehen (am Beispiel zahlreicher Synonyme und Umschreibungen für sterben). 8. Lobrede: (S. 122-134) Vereinnahmung der europäischen Sprachen in das konstruierte Idealdeutsch / Stammwörter deutschen Ursprungs lassen sich in allen anderen Sprachen nachweisen / Französisch, Spanisch, Italienisch, Englisch, Dänisch, Schottisch, Norwegisch, Isländisch leiten sich vom ,alten' Teutsch ab / selbst in Troja wurde deutsch gesprochen / Wurzeln/ Stammwörter der alten (idealen) deutschen Sprache haben sich „weltweit ausgebreitet" (S. 134). 9. Lobrede: (S. 135-148) Aufzählung der Argumente die gegen Abstammung, Vortrefflichkeit, Alter etc. der deutschen Sprache vorgebracht werden / deren Widerlegung / Bekräftigung der Abstammung der deutschen Sprache direkt von Babel / sie ist nicht von anderen Sprachen abgeleitet. 10. Lobrede: (S. 148-170) die deutschen Dialekte / zum Prestige des Meißnischen / Dialekte sind aber letztlich nicht Untersuchungsgegenstand sondern die ihnen zugrunde liegende, eigentliche Sprache (langue) / Programm zur Abfassung eines Stammwörterbuchs (einschließlich Fachwortschatz) / Beispiele zum Ordnungsprinzip dieses Wörterbuchs (Stammwortprinzip) / Erklärungen für den Sprachwandel / Begründung für die Verwendung von Abstracts zu Beginn der Lobreden. 96 Römer (1986), S. 132. 97 Römer (1986), S. 132. 98 Vgl. dazu §1, S. 3, Kap. 8.2.

Lobreden"

85

auch Etymologie im engeren Sinne), zur „Wortfügung" ( S y n t a x der phrasalen E b e n e , R e k t i o n ) und zu sprachlichen Grundlagen der Dichtung ( M e t r i k ) . Sie weisen darüber hinaus auf die noch zu leistende A r b e i t in Bezug auf die deutsche Sprache hin. Diese beiden Komponenten m a c h e n die Lobreden zu einer Programmschrift der Spracharbeit. Welche F a c e t t e n weist sie in den Lobreden auf? Das Schwergewicht liegt sicherlich auf der Legitimation der deutschen Sprache. Diese wird mit unterschiedlichen A r g u m e n t e n gestützt. Neben dem gängigen Altersnachweis ist vor allem die Vereinnahmungsstrategie bemerkenswert. Schottelius argumentiert nicht mit der konstruierten Verwandtschaft der deutschen mit der hebräischen Sprache wie dies Harsdörffer im S P G tut. Nicht diese Verwandtschaft, die die deutsche Sprache zu einer heiligen Sprache m a c h t , ist der Grund für die Gleichwertigkeit und den Vorrang vor den anderen Sprachen. Vielmehr erweisen sich die anderen Sprachen letztlich als von der eigentlichen, ursprünglichen deutschen Sprache abgeleitet. Die Details dieser A r g u m e n t a t i o n s k e t t e müssen hier nicht nachvollzogen werden (vgl. die achte Lobrede). Schottelius vergleicht die Sprachen nicht ausführlich, es genügt i h m , die G l e i c h - und Vorrangigkeit exemplarisch aufgezeigt zu haben. In unserem Zusammenhang ist die Funktion der Vereinnahmungsstrategie von B e d e u t u n g . Die Bezugsgröße ist dabei eine postulierte Idealsprache, die auch dem heutigen Deutsch noch inhärent ist, quasi als langue. Das tatsächlich gesprochene und geschriebene Deutsch der Zeit wird so zu einem großen Teil aus der Beweispflicht genommen. Aus der vorausgesetzten, zugrunde liegenden (,grundrichtigen') S p r a c h e ergibt sich der zweite Aspekt der Spracharbeit, nämlich die Erforschung und Kodifikation der Sprache. Mehrmals stellt Schottelius klar, dass die eigentliche Arbeit an der deutschen Sprache noch zu tun sei. Dies gilt sowohl für deren Erforschung und Kodifikation als auch für deren Anwendung in poetischen T e x t e n . Gerade dort sind „Fleis und A r b e i t " 9 9 nötig, u m über die Alltagssprache hinauszukommen. Insofern kommt diese Art der Spracharbeit einem zweiten Spracherwerb gleich. Eine sehr wichtige Grundlage, j a eine letztlich notwendige Voraussetzung dafür, dass das ganze P o t e n t i a l der deutschen Sprache ausgeschöpft werden kann, ist die B e s t a n d s a u f n a h m e . Hier ist die Forderung nach einem Stammwörterbuch einzuordnen. Ein letzter Aspekt — neben der Aufwertung, dem zweiten Erwerb und der Kodifikation — besteht im demonstrativen C h a r a k t e r der Lobreden. S c h o t t e lius beschränkt sich nicht auf bloße ,Beweise 1 und Forderungen sondern zeigt exemplarisch, wie die theoretische Grundlegung und die praktische Anwendung aussehen könnten. E r gibt Beispiele für W ö r t e r b u c h a r t i k e l und Listen für Ableitungen aus einzelnen Stammwörtern (,brich', ,lauff ) 1 0 0 . Diese Art der Demonstration wird in den „sieben T r a k t a t e n " (s. K a p . 4 . 4 ) noch ausgeweitet. Auch Beispiele der praktischen Anwendung in poetischen Zusammenhängen finden sich. In mehr als 160 Varianten führt er Umschreibungen für ,sterben' vor. Sogar kurze Gedichte schiebt er zu diesem Zweck ein: 99 Schottelius, AA, S. 10. loo Schottelius, AA, S. 161-163

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S p r a c h a r b e i t als P r o g r a m m

„Ist nunmehr gantz erblichen/ Der Jugend Glantz wird greis/ Ist T o d t f a r b angestrichen Die H ä n d ' und Hertz ist Eis/& c. So viel wir Menschen s t e r b e n / Und eine Nacht erwerben Die lange Jahre w e h r t / Die könnten nicht entfliehen/ Der Geist muß weiter ziehen/ So bald es G o t t begehrt." 1 0 1 W a s die p r o g r a m m a t i s c h e n T e x t e b e t r i f f t , b e s t e h t zwischen S c h o t t e l i u s u n d H a r s d ö r f f e r i m wesentlichen U b e r e i n s t i m m u n g in der D u r c h s e t z u n g ihres A n liegens. Die D i f f e r e n z e n liegen in der p r a k t i s c h e n U m s e t z u n g . W ä h r e n d sich H a r s d ö r f f e r auf die Seite des P r a k t i k e r s schlägt, der i n s b e s o n d e r e in den „ F r a u e n z i m m e r g e s p r ä c h s p i e l e n " einen sehr a u s g e d e h n t e n A n w e n d u n g s k a t a l o g f ü r die V e r w e n d u n g u n d E t a b l i e r u n g der d e u t s c h e n S p r a c h e in u n t e r s c h i e d l i c h e n K o m m u n i k a t i o n s b e r e i c h e n g i b t , bleibt S c h o t t e l i u s s t ä r k e r auf der Seite d e r T h e o r i e . Zwar h a t auch er in a n d e r e n T e x t s o r t e n f ü r die d e u t s c h e S p r a c h e gew o r b e n , i n d e m er d e r e n Vorzüge p r a k t i s c h d e m o n s t r i e r t e — so ζ. B. i m „Horr e n d u m B e l l u m G r a m m a t i e a l e " 1 0 2 u n d n o c h s t ä r k e r in religiösen T e x t e n wie d e r „ G r a u s a m e n B e s c h r e i b u n g u n d V o r s t e l l u n g Der Hölle u n d d e r Höllischen Q u a l " 1 0 3 . Diese A n w e n d u n g s b e i s p i e l e t r e t e n j e d o c h h i n t e r d e n g r a m m a t i s c h e n S c h r i f t e n i m e n g e r e n Sinne deutlich z u r ü c k . Auf die b r e i t e R e z e p t i o n der A A u n d d a m i t auch der L o b r e d e n w u r d e b e r e i t s h i n g e w i e s e n . H a n k a m e r n a n n t e d a s W e r k eine „ b a r o c k e s u m m a phil o l o g i c a " 1 0 4 , wobei die B e t o n u n g auf der S a m m l u n g des d a m a l i g e n W i s s e n s z u r d e u t s c h e n S p r a c h e lag. Zusätzlich ist j e d o c h a u c h m i t einer A n s c h u b w i r k u n g d e r A A u n d vor a l l e m der L o b r e d e n zu r e c h n e n , die nicht allein auf die D a r s t e l l u n g des g r a m m a t i s c h e n u n d lexikalischen W i s s e n s z u r ü c k z u f ü h r e n ist. Diese W i r k u n g ist in d e n o b e n b e s c h r i e b e n e n A r g u m e n t a t i o n s s t r a t e g i e n b e g r ü n d e t , die Teil der S p r a c h a r b e i t i m 17. J a h r h u n d e r t w a r e n . Die A d r e s s a t e n der A A w a r e n die G e l e h r t e n der Zeit ü b e r den d e u t s c h s p r a c h i g e n Bereich h i n a u s . Diese wollte S c h o t t e l i u s e r r e i c h e n , auf sie s t e l l t e er sich explizit ein. D a h e r sind die A b s t r a c t s vor den L o b r e d e n sowie viele Zit a t e u n d W o r t e r k l ä r u n g e n in Latein v e r f a s s t . Mit d e m t y p o g r a f i s c h e n Wechsel zwischen F r a k t u r f ü r d e u t s c h e u n d A n t i q u a f ü r lateinische P a s s a g e n e r s c h e i n t so d e r T e x t streckenweise als M i s c h u n g zwischen b e i d e n S p r a c h e n . Die Lobred e n sollten in d e n G r u n d z ü g e n auch d e m lediglich L a t e i n k u n d i g e n z u g ä n g l i c h sein. „Es sind auch deshalber [zur Orientierung - Μ. H.] die Summaria und kurtzer Inhalt vor jede Lobrede Lateinisch beygefügt/ damit dem jenigen/ so 101 Schottelius, AA, S. 120. 102 Schottelius (1673/1991). 103 Schottelius (1976). 104 Hankamer (1927), S. 124.

Sieben Traktate"

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keinen Lust hat Teutsch zu lesen/ oder der das Hoch-Teutsche nicht allerdings verstehet/ wie die Niederländer und Frantzosen (von deren Sprache dennoch viel merkwürdiges in diesem Buche vorfället) könten dennoch aus dem wenigen Lateinischen/ den Punctweis eingeteilten Inhalt der gantzen Oration vernehmen/ da dann einem jedwederen freystehet/ den Paragraphum, den er suchet/ so bald zu finden/ und nur zulesen." 105 Mit der AA gewissermaßen als Trägermedium erreichte das in den Lobreden enthaltene P r o g r a m m der Spracharbeit die Gelehrten der Zeit. Abschließend bleibt festzuhalten: Eine wichtige Funktion der Lobreden war es, die deutsche Sprache im europäischen und biblischen Sprachenkanon zu legitimieren, aufzuwerten und ihr Prestige zu verbessern. Darauf wurde in der bisherigen Forschung stets verwiesen. Daneben ist aber auch folgende Funktion von Bedeutung. Indem die Möglichkeiten der deutschen Sprache demonstriert werden, wird ihrer künftigen Anwendung und Verfeinerung gleichzeitig der Weg gewiesen. Grundlage dafür sind einerseits die Erforschung des grammatischen Systems, v. a. auf der Ebene der Wortbildung, und andererseits die Aufbereitung des Sprachmaterials in einem S t a m m w ö r t e r b u c h . Diese Aspekte der Spracharbeit (Vorführen, Erforschen und Dokumentieren der Möglichkeiten der deutschen Sprache) rücken schließlich in der letzten hier zu besprechenden Programmschrift noch stärker ins Z e n t r u m . 4.4

„Sieben T r a k t a t e " (5. Buch der AA)

§38: Die letzte programmatische Schrift zur Spracharbeit, die in die vorliegende Arbeit einbezogen wird, ist eine Sammlung. Dies hat sie mit den Lobreden gemein, allerdings ist sie von wesentlich größerem Umfang. Die sieben T r a k t a t e stellen das f ü n f t e Buch und zugleich den Abschluss der AA dar (S. 998-1466). Sie sind eine Art Bestandsaufnahme der deutschen Sprache und ihrer Möglichkeiten. Auch den T r a k t a t e n sind lateinische Abstracts zur Orientierung für den Leser beigegeben. Ausnahmen hiervon sind der f ü n f t e T r a k t a t (Verdeutschung) und aus inhaltlichen Gründen der siebte T r a k t a t (Indices). Inwiefern m a n bei den T r a k t a t e n von einer B e s t a n d s a u f n a h m e sprechen kann, wird ein kurzer Uberblick über deren Inhalt zeigen. Dem schließt sich die Frage an, inwiefern die T r a k t a t e zur Spracharbeit beitragen. Es wird sich zeigen, dass sie in einer anderen Weise Argumentationshilfen für die Spracharbeit liefern, als die bisher besprochenen programmatischen Texte. In §39 wird dann abschließend die Wichtigkeit und die Funktion des siebten Trakt a t s dargestellt. 1. T r a k t a t : „Die Einleitung zur Teutschen Sprache" (S.1000-1028). Der Text wurde bereits 1643 erstmals veröffentlicht. Er gliedert sich in drei Teile: a) Widmungsschreiben an Fürst Ludwig, b) Rede der personifizierten deutschen Sprache, c) Erklärungen zu einzelnen Stellen der Rede. Die Rede ist der wichtigste Teil des Traktats. In 136 vierzeiligen Strophen klagt die deutsche Sprache in Alexandrinern über die Sprachverwendung, Sprachvermenlos Schottelius, AA, S. 169.

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Spracharbeit als Programm

gung und über die mangelnde Achtung, die der deutschen Sprache entgegengebracht wird. Es werden im wesentlichen die Argumente, die bereits in den Lobreden vorgebracht wurden, wiederholt. In der Funktion unterscheidet sich hier die allegorische Dichtung nicht von den Lobreden. Zusammengefasst lauten die wichtigsten Punkte wie folgt: Kritik am Alamode-Wesen, am überbordenden Einbau sprachlicher Versatzstücke aus Fremdsprachen 106 , Legitimation und Aufwertung der deutschen Sprache, ihr Vorrang vor anderen Sprachen 107 , Dialekte als Nachweis der Vielfalt und des Wertes der deutschen Sprache 108 , die Menge der deutschen Stammwörter 1 0 9 , die Wortbildungsmöglichkeiten 110 und die Lautmotiviertheit der Zeichen 111 zeugen vom Wert der deutschen Sprache, ein Stammwörterbuch ist nötig 112 , die ganze Welt kann über die Sprache erschlossen werden 113 , es empfiehlt sich, eher die deutschsprachige Sagentradition zur Kenntnis zu nehmen als die Griechische 114 . In106

Schottelius, AA, S. 1015: „Ja spricht m a n / es ist jetz die Alomod Manier/ Die Damen brauchens so/ und mancher Cavalier Was Brauchs! begehrt man daß ein frömdes Pferd und Ziege Der Teutschen Ehr und Zucht dem Wort nach überwiege?", ebenso Schottelius, AA, S. 1003: „Ja Mich der Eselstank und Sprach verderberei/ Soll lassen die ich bin/ Rein/ Edel/ Teutsch und frei:" 107 Schottelius, AA, S. 1003: „Ich bin kein Mengling nicht/ kein Sprößling/ kein geflikke/ ob mich wol viel geplagt ein wiedriges geschikke/" 108 Schottelius, AA, S. 1006: „Und diß ist wie man s a g t / ein reiches Sprachvermögen/ Daß ich aus Würtzelkraft Mundarten hab' erzogen Mehr als die Griechinn h a t / welch' an sich gleichfals g u t / [ . . . ]" 109 Schottelius, AA, S. 1008: „Die volle Wurtzelzahl/ rein/ aus ihr selbst wolklingend Die Deutung der Natur aufs schönste mit sich bringend [ . . . ]"; ebenso Schottelius, AA, S. 1013: „Ich bin von Worten j a reich/ dringend/ mächtig/ voll." 110 Zur Komposition Schottelius, AA, S. 1008: „Bring Paarweis Stamm an S t a m m / bald Doppelweis an Zweige/ Bald DoppelStamm an S t a m m / umsetz was heißt anzeige/ Wend auch das Wort gantz um; bring der Vorwörter Zahl Welch' überkünstlich sind zur Doppelung zumahl."; zur Derivation Schottelius, AA, S. 1007: „Bring meine Leitungskunst/ schön/ kurtz/ gewiß und saftig/ B a r / e / ei/ el/ e n / er/ ern/ heit/ icht/ ig/ inn/ h a f t i g / Isch/ keit/ lieh/ ling/ lein/ niß/ sal/ s a m / schaft/ thum und ung/ Einlautend/ zwantzig drey/ und Teutsch der Uhransprung." 111 Schottelius, AA, S. 1006: „Hör doch der Wörter Schall/ laß ein zu deinen Sinnen Solch liebliches Gethön/ solch kräftiges Beginnen/ das endigen mit Macht/ die Deutung der N a t u r / Frag deinen Witz was doch wol besser brech' herfür?" 112 Schottelius, AA, S. 1009: „Zuvor bring richtig auf nach meinem selbst-vermögen Ein volles Wörterbuch: [ . . . ]" 113 Schottelius, AA, S. 1011: „Ich wil durchstreichen gantz das große Haus der Welt. Kan der altages Mann mit mir so ferne streichen? Κ an er die hohe Bahn durch seine Red' erreichen? Ich sage/ nein. Es sey/ daß er der Sprache Kraft Nach Weisung rechter Kunst ihm zu geböte schaft." 114 Schottelius, AA, S. 1012: „Laß auf der Lügensee nur den Ulyssem fahren: Greiff doch mit voller Hand aus unsren Teutschen J a h r e n / Aus unsrem Gottesdienst/ und der Geschichten Lauff/ Und großer Heldenzahl/ du hast mehr als vollauf."

Sieben Traktate"

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haltlich kommt also nichts Neues hinzu. Die Argumente werden lediglich in anderer Form präsentiert. Bereits die Darstellung ist ein Beweis dessen, was von der deutschen Sprache behauptet wird. Der demonstrative Aspekt der Spracharbeit kommt hier zum Tragen. Die in den Alexandrinern häufig sehr komprimierten Aussagen werden schließlich in einem ausführlichen Anmerkungsapparat kommentiert, der so selbst wiederum zu einem eigenständigen Text auswächst. Obwohl der erste Traktat also inhaltlich nichts Neues bringt, liegt er doch in seiner Hauptintention auf der Linie der nachfolgenden Traktate: praktische Demonstration der Möglichkeiten in der deutschen Sprache, die zusätzlich die gesamten Forderungen und Einzelargumente stützen. 2. Traktat: „Eine Erklärung der alten Teutschen Celtischen Nahmen oder Nahmwörter" (S. 1029-1098). Nach einer kurzen Einleitung, die bereits Herleitungen zu Bestandteilen von Namen enthält, folgt in alphabetischer Anordnung eine Liste mit Namen deutschen bzw. germanischen oder vermeintlich deutschen Ursprungs. I. d. R. wird versucht, die Bedeutung der Namen anzugeben. Dies ist noch auf dem Hintergrund der Annahme zu sehen, dass über die Etymologie des Personennamens auch gewisse Eigenschaften des Namensträgers vielleicht erschlossen werden können. Ein typischer Artikel dieser Namensliste sieht wie folgt aus: „Heinricus,

Heimricus,

ein N a h m / qui domi nitur)

Hemericus, est dives,

Honoricus,

Henricus,

Emericus

H e n r i c h / H e i n t z / H a i n r i c h / H e i n t z e l / H e i n t z / contracte.

Henric, ait Lutherus, gubernator,

id, quod domi dives, seu familiarum

veluti si Abraham

scilicet familiarum.

ist a l s o

H e i m r i k / H e n r i k / (hen seepe pro h e i m dives, multorum

ebraica (ϊ £cμι ober £euerbani* ftttf

C a n o n

A n t i q u a .

X t t f S r a c t u r / ober 33i6dfeßrtff. Parangon Antiqua. ParangonSct)tt>aba5« Tertia $ractur*

c

Parangon

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TertiaQdjawbadjcir» ©vöbe Mittel §raftut\ ©robe fljittel tdc&ixrcba; cfper o b e r p o f M f c ^ r i f t . STOiffcl J r a c f u r .

tYlittel Scfewabacfeet. ©ccroSraciur. Ctcero e d i w r t b r t c b e c . Corpus, »(er (Sarmuty grectur. Corpus oO@ifcn>abacbei:. 9>rr3ungffe ^icr λπ Da^

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- j · · dici.

Abbildung 9: Symbolschrift (MPE III, S. 53 f.) Obwohl diese Verschlüsselung im Rahmen der Frage nach einer Schnellschrift behandelt wurde, ist davon auszugehen, dass sie in ihrer Komplexität dazu nicht geeignet ist. Es dürfte die Freude an den Kodierungsmöglichkeiten von Buchstaben und Silben im Vordergrund gestanden haben. Spätestens hier zeigt sich, dass man sich mit den kryptographischen Anwendungen immer schon am Rande dessen befindet, was als Spracharbeit gelten kann. Insgesamt sind sie nur selten praktikable Mittel, wie etwa bei der Verfertigung eines Gedichtes, dessen Zahlenwert auf den Textinhalt bezogen ist. Häufiger stellen sie lediglich kuriose Themen für mögliche Gesprächspiele dar. Ähnliches gilt auch für die Behandlung der geheimen Schreibtechniken 200 . §82: Gegenüber den buchstabenkombinatorischen Sprachspielen treten die l a u t - und intonationsbezogenen Spiele deutlich zurück. Die onomatopoetische Fundierung der deutschen Sprache wird von Harsdörffer vorausgesetzt und bietet von daher — außer im Bereich der Dichtung, in dem sie intensiv genutzt wurde — relativ wenig Ansatzpunkte für eine spielerische Erarbeitung der Sprache. Wenn die Lautmalerei in einem Sprachspiel auftaucht, 199

Eine direkte Parallele besteht hier zu der von J. Wilkins entworfenen Universalsprache. Jeder Begriff sollte sich in ihr als Kombinationssymbol aus einer Menge von Grundkategorien darstellen lassen. Vgl. Gardt (1994), S. 310ff. 200 Vgl. das Beispiel in Harsdörffer, FZG I, S. 167f.

Anwendungsfelder

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dann in deutlich legitimatorischer Absicht. Indem die Mitspieler nach lautmalerischen Wörtern suchen, beweisen sie zugleich die „Vortrefflichkeit der Teutschen Sprache". „Diesem nach wil ich ohn fernere Vorrede von der Vortrefflichkeit der Teutschen Sprache ein solches Gesprächspiel fürgeben: Wir wollen solche Wörter zusammen suchen/ welche die Natur gleichsam selbsten außspricht: als es donnert/ [ . . . ] mich bedunkt ich höre gleichsam die Wolken dieses Wort formen. 2. A[ngelica] Es krachen die Wolken. 3. R[eymund] Es prauset und sauset der Wind. 4. C[assandra] Es blitzt zugleich. 5. D[egenwert] Und in dem sich das Gewülk zertrennet/ 6. J[ulia] folgt bißweilen der Hagelschlag mit vielem Geprassel. 7. V[espasian] Hier wollen wir allen Sprachen den Trutz bieten/ daß sie/ wann sie können/ so kräftige Wort finden/ um den Nachdruk deß Dings selbsten/ so gar eigentlich außbilden." 201 Der Zusatz Vespasians macht die Zielrichtung des Spieles deutlich: Mit jedem neuen lautmalerischen Beispielwort werden die Vorzüge des Deutschen noch vor anderen Sprachen hervorgehoben. Im weiteren Verlauf wird dabei auch der Einwand abgewehrt, dass die Lautmalerei in der deutschen Sprache lediglich deren ernste und grobschlächtige G r u n d s t i m m u n g zeige. Nicht nur die negativ besetzten Naturlaute (wie „schnorren/ schnarren und marren" 2 0 2 ) sind in der deutschen Sprache ihrem Wesen nach bewahrt. Auch die positiven Eigenschaften sind über die Lautsymbolik adäquat dargestellt. So ist vor allem das l lautsymbolisch positiv besetzt für emotionale Eigenschaften oder Naturerscheinungen. Untermauert wird diese Behauptung mit einem Verweis auf die Autorität Luther, der — ohne direkt auf das / abzuheben — bereits ähnlich argumentierte. „[ . . . ] sie [die deutsche Sprache - Μ. H.] ist eben so füglich zur Freundlichkeit und zur Liebe. Von welchem letzten Wörtlein der Teutsche Sprachmeister [Luther - M.H.] schreibt: Ich weiß nicht/ ob man auch das Wort Liebe/ so hertzlich und genugsam in Lateinischer/ oder in einiger andern Sprache reden möchte/ daß also dringe und klinge in das Hertze/ und durch alle Sinne/ wie es thut in Teutscher Sprache." 203 Neben das l treten dann noch die Frikative / und s (letzteres in s t i m m h a f t e r und stimmloser Realisierung) als positiv besetzte Lautsymbole. Als Beispiele dienen Wörter wie Gesausei, Wässerlein, lispelt, sanffte Luffto. A. Müssen die lautsymbolischen .Gleichsetzungen im Spiel etwas ausführlicher kommentiert werden, so besteht die Grundform des onomatopoetischen Gesprächspiels in einer schlichten Aufzählung des Typs χ macht y, wobei χ ein Tier oder Naturvorgang ist und y das lautmalende Wort. a n Harsdörffer, F Z G III, S. 310. 2t>2 Harsdörffer, F Z G III, S. 311 [Fettdruck getilgt], 203 Harsdörffer, F Z G III, S. 311 in einer M a r g i n a l n o t e wird d i r e k t auf L u t h e r verwiesen [Fettdruck getilgt].

240

Spracharbeit mit Lauten und Buchstaben „18. J[ulia] Der Haan krehet. 19. V[espasian] Der Low brüllet. 20. J[ulia] Der Ochs blökt. 21. R[eymund] Der Beer brummet." 204

Eine Verfeinerung und anspruchsvollere Art des lautmalerischen Sprachspiels stellt schließlich die Umsetzung der gefundenen Wörter in gereimter Form dar. Eine andere Form der Spracharbeit auf der Lautebene betrifft die poetische Textproduktion. Es geht dabei darum, die Ebene der Suprasegmentalia kunstvoll miteinzubeziehen. Bei der Verfertigung eines Gedichtes soll darauf geachtet werden, dass die Abfolge der einzelnen Laute harmonisch ist. Es sollen aussprachebedingte Stolperstellen vermieden werden. Im P T erörtert Harsdörffer den „Mißlaut und Wollaut der Verse" 205 in fünf Punkten, von denen die ersten zwei in diesem Zusamenhang relevant sind 206 . Zunächst fordert Harsdörffer, dass die Wiederholung gleichlautender Wortteile in einer Reimzeile vermieden werden müsse. Dabei orientiert er sich an der Trennung zwischen Stammwörtern und Affixen. Affixe sollen in einer Reimzeile nicht wiederholt werden. Bei Stammwörtern empfiehlt sich dagegen eine derartige Reihung. „I. lautet sehr übel/ wenn zwo gleiche Vor= oder Nachsylben in eine Reimzeil gesetzet werden/ als in den Vorsylben be. Hört/ jederman begifit die Rauber zu beklagen. In der Nachsylben er und en. Der HErr erhört die Seinen/ entfernet nicht die Gnad/ &c. Hingegen klingt es wol/ wann die Stammwörter aufeinander treffen. Also: Die Liebe liebet selbst die vielbelobte Kunst/ Der Lust ist ohne Lust/ so bald die List erkafit." 207 Die Wiederholung gleichlautender Wortteile ist einerseits aus ästhetischen Gründen zu vermeiden; andererseits erschwert auch das direkte Aufeinandertreffen solcher Lautdubletten das Textverständnis. Es besteht die Gefahr, dass die Wortgrenzen an diesen Stellen in der Aussprache verschwimmen (Assimilation). Dieser Aspekt wird noch deutlicher im zweiten Punkt hervorgehoben. Was vorher auf Sprechsilben angewandt wurde, wird jetzt für Einzellaute gefordert. Die unmittelbare Abfolge der stimmhaften auf die stimmlose Variante in den Plosiven und beim Frikativpaar w / υ bringt an der Wortgrenze genau dieses Problem wieder. „II. Sollen in einem vollkommenen Gedicht zween verwandte Buchstaben nicht aufeinander treffen/ als da sind t und d / g und k/ b und p/ wie auch w/ ν und b/ &c. dieweil hierdurch die Wörter gleichsam zusammenfließen. Übel klingt es in poetischen Ohren/ wann ich setze:

204 Harsdörffer, F Z G III, S. 312. 205 Harsdörffer, P T II, S. 8. 206 V g l . Z u m F o l g e n d e n Harsdörffer, P T II, S. 8-14. 207 Harsdörffer, P T II, S. 9.

Anwendungsfelder

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Die Bitt dich solt erweichen für Die Bitte solt erweichen [ . . . ]" 208 Damit werden auch Suprasegmentalia zu einem möglichen Feld der Spracharbeit. Sie besteht hier in der Technik adäquater Lautabfolgen 2 0 9 . §83: Ahnlich wie die bisher beschriebenen lautbezogenen Sprachspiele bietet auch die dialektale Variation der deutschen Sprache nur in geringem Maße A n s a t z p u n k t e für die Spracharbeit Harsdörffers. Er ist sich zwar der Dialektvielfalt bewusst, macht diese auch indirekt mitverantwortlich für die Strittigkeiten in orthographischen Fragen 2 1 0 , zur Grundlage eines Sprachspieles wird sie allerdings nur in einem Fall. Das 97. Gesprächspiel t r ä g t den Titel „Die Sprachverwirrung". Es umfasst nur wenig mehr als eine Seite u n d wird von R e y m u n d vorgetragen. Die Aufgabe für die Spielteilnehmer besteht darin, entweder deutsche Dialekte oder aber f r e m d e Sprachen n a c h z u a h m e n bzw. in ihnen etwas vorzutragen. Harsdörffer in der Figur R e y m u n d s rechnet dieses Spiel zu den leichteren, liegt doch keine inhaltliche Aufgabe zugrunde. Die Demonstration der lautlichen Qualitäten der betreffenden Dialekte u n d Sprachen genügt. „Ich solte ein leichtes und kurtzweiliges Spiel anfangen/ daß alle Anwesende zugleich mitspielen könten/ damit aus der vermeinten Lust nicht eine unverhoffte Arbeit würde/ wie bey schweren Fragen zu geschehen pflege. Auff solches Begehren/ habe ich/ nach einem kurtzen Eingang von Verwirrung der Sprachen/ die Oesterreichische/ Schwäbische/ Schweitzerische/ Bömische/ Pomerische/ Fränckische Sprachen dem Frauenzimmer: Den jungen Gesellen Lateinisch/ Griechisch/ Frantzösisch/ Italianisch/ Spanisch/ &c. zu reden/ nach jeder Person Bewandnus ausgetheilet/ und Krafft tragenden Spielregiments gebotten; daß so lang ich das Stäblein in die Höhe halten werde/ jedes seine Sprach von allerhand Sachen (nach Belieben) reden solte/ und daß das Stillschweigen/ biß ich das Stäblein sincken lassen werden/ sträflich seyn solte." 211 Auffällig ist bei dieser Spielkonzeption einerseits, dass es sich nicht nur u m deutsche Dialekte handelt, die gesprochen werden sollen, sondern auch u m die damals relevanten europäischen Kultursprachen. Die Zuordnung der höherreichweitigen Landessprachen zu den männlichen Mitspielern und die der Dialekte zu den weiblichen, spiegelt ein zeittypisches Verständnis der Geschlechterrollen wider 2 1 2 , wenn auch Harsdörffer an verschiedenen anderen Stellen der FZG in durchaus progressiver Weise auf die Bildungsfähigkeit der Frauen

208 Harsdörffer, P T II, S. 9. 209 Die P u n k t e drei bis fünf in dieser Reihe betreffen die im Vergleich z u m Lateinischen weniger variable S y n t a x (3), die R e i m e n d u n g e n (4) und die R e i m a r t e n (5). H a r s d ö r f f e r , P T II, S. 10-14. 21t) Vgl. Harsdörffer, S T S , S. 372f. 211 Harsdörffer, F Z G II, S. 312f. [Fettdruck getilgt], 212 Eingeschränkter W i s s e n s - und E r f a h r u n g s h o r i z o n t der Frau vs. u m f a s s e n d e kulturelle und sprachliche Ausbildung des M a n n e s z . B . durch die peregrinatio academica.

242

Spracharbeit mit Lauten und Buchstaben

bzw. auf die Notwendigkeit ihrer Bildung verwiesen h a t 2 1 3 . Z u m i n d e s t kann diese Verteilung als ein T r i b u t an das Faktische gesehen werden, d. h. w e n n Harsdörffer auch in seiner A r b e i t Frauen explizit m i t e i n b e z i e h t , so muss er bei den Spielanleitungen i m m e r wieder Rücksicht auf die noch b e s t e h e n d e n , sozialisationsbedingten Bildungsunterschiede zwischen den Geschlechtern nehm e n . Aber auch d a n n , wenn m a n die Sprachenverteilung als E r l e i c h t e r u n g f ü r die N a c h a h m u n g des Spieles versteht, ist dieses als G a n z e s nur sehr bedingt d u r c h f ü h r b a r . Es wird nicht nur vorausgesetzt, dass die Spielteilnehmer ζ. B. des Italienischen, Französischen oder Spanischen m ä c h t i g sind, was zu dieser Zeit in einer gebildeten Gesellschaftsrunde nicht außergewöhnlich war. D a r ü b e r h i n a u s wird von den Spielteilnehmern K o m p e t e n z in den verschiedenen d e u t s c h e n Dialekten verlangt. Selbst wenn sich der Spielführer m i t r u d i m e n t ä r e n D i a l e k t ä u ß e r u n g e n zufrieden gäbe, bliebe es doch fraglich, ob in der R u n d e alle im Zitat angegebenen Dialekte einbezogen werden k ö n n e n . Das Ziel dieses Spieles, insofern es ü b e r h a u p t spielbar war, lag in erster Linie in der D e m o n s t r a t i o n der Sprachenvielfalt. Bezieht m a n die W e r t u n g Reym u n d s m i t ein, so wird diese Sprachenvielfalt nicht ausschließlich positiv gesehen. W i e b e i m T u r m b a u zu B a b e l zeigt sich in der Sprachvielfalt das V e r s t ä n d i g u n g s p r o b l e m . Die Vielfalt wird zur Verwirrung. „Fürwar man hätte vermeinen dörfFen/ daß/ wie bey Zeiten deß hoch auffgeführen Turns Babel/ die Sprachen widerumb verwirret wären worden/ so ein wunderlich Geschrey hat sich hören lassen/ weil/ wie gedacht/ die Gesellschaft sehr groß/ und die Sprachen mancherley." 214 Insofern h a t die Dialektvielfalt Anteil an der v e r w i r r e n d e n , weil verständig u n g s h i n d e r n d e n Sprachenvielfalt. F ü r die positive S p r a c h a r b e i t kann dieses Spiel somit n u r in indirekter Weise dienen. I n d e m die Spielteilnehmer die verschiedenen L a u t u n g s m ö g l i c h k e i t e n in den Dialekten zur K e n n t n i s n e h m e n , schärfen sie zugleich ihr Bewusstsein f ü r die überregional gültigen F o r m e n . W e n n diese S p e k u l a t i o n in die richtige R i c h t u n g weist, läge d a m i t Spracharbeit aus der Differenzerfahrung vor.

213

214

Ζ. B. Harsdörffer, FZG III, S. 17: „Welche die Unwissenheit für deß Frauenvolcks sicherste Tugend halten/ stehen in irrigem Wahn [ . . . ]." Harsdörffer, FZG II, S. 313.

7

Spracharbeit als Wortforschung

7.1

Gegenstand und Grundlagen der Wortforschung

§84: Für die Grammatiker des 17. Jahrhunderts war die „Wortforschung" der Kernbereich der Sprache. Die gesamte Grammatik, die gesamten Sprachvorstellungen rankten sich um das Wort. Gemeint war damit das lexikalische (Stamm-)Morphem, zu dem grammatische Morpheme, Derivationsmorpheme oder auch weitere lexikalische Morpheme (Komposition) hinzutraten. Die im vorigen Kapitel besprochene, kleinteiligere Ebene der Graphoneme wurde als Teilgebiet ebenfalls der Wortforschung zugeschlagen. Größere Einheiten wie Syntagmen oder Sätze waren Gegenstand der „Wortfügung", die allerdings im Vergleich zur „Wortforschung" einen sehr geringen Stellenwert besaß. Mit der „Wortforschung" befindet man sich daher im Zentrum der zeitgenössischen Grammatik. Der Terminus selbst ist eine Verdeutschung des aus der lateinischen Grammatik stammenden Begriffs etymologia. Hier ist es zunächst aufschlussreich, die Unterschiede zwischen dem damaligen Verständnis der etymologia und dem heutigen Etymologie-Begriff zu erörtern. W ä h r e n d heute Etymologie die Rekonstruktion einer ursprünglichen Wortbedeutung und die Rückverfolgung der Veränderungen am jeweiligen Wortkörper meint, war der Begriff im 17. Jahrhundert wesentlich weiter gefasst. Der Gegenstand heutiger Etymologie ist nur ein Teilausschnitt aus dem Bereich, den die etymologia als Wortforschung im 17. Jahrhundert abdeckte. Die Differenz zum heutigen Etymologieverständnis lässt sich im wesentlichen in zwei Aspekten zusammenfassen. Zum einen betrifft sie das Verfahren der Bedeutungsrekonstruktion, zum anderen die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die Reichweite der etymologia: über die Herleitung der Wortbedeutung hinaus in die Flexionsmorphologie und Wortbildung hinein. B e d e u t u n g s r e k o n s t r u k t i o n : Die Verfahren der Bedeutungsrekonstruktion im 17. Jahrhundert waren noch deutlich dem Mittelalter verhaftet. Auf das spezifische Verfahren der eiposiü'o-Etymologie wurde bereits hingewiesen (s. §74, S. 212). Mit Petrus Helie wandelte sich im 12. J a h r h u n d e r t die Zielrichtung der Etymologie weg von der bloßen Rekonstruktion des Ursprungswortes und seiner Bedeutung hin zur spekulativen Deutung 1 . Aus dem Wort, seiner silbischen bzw. lautlichen Struktur sollte das Wesen der bezeichneten Sache erschlossen werden können. Der Etymologie wuchs damit eine erkenntniskonstitutive Funktion zu 2 . Wie schon der Blick auf die Sprachspiele mit Personennamen gezeigt hat, wurden die den Namen inhärenten Eigenschaften oft auf Grund formaler (Anagramme) oder lautlicher Analogien zugeordnet. Insgesamt gilt für die Bedeutungsrekonstruktionen im 17. J a h r h u n d e r t , dass 1

Vgl. zu diesem Wandel G r u b m ü l l e r (1975), 220fF.; einen Uberblick über die E n t w i c k lung der Etymologie gibt Sanders (1967)(1969), C u r t i u s (1965), S. 486-490; zur m i t t e l alterlichen Etymologie vgl. auch Klinck (1970), Ohly (1977); z u m 17./18. J a h r h u n d e r t Dietrich (1976); einen guten bibliographischen Uberblick bietet Olschansky (1996). 2 Vgl. H a r m s (1993), H a r m s (1977), S. 37ff.; H a r m s (1989), S. 367 m i t Bezug auf Harsdörffer.

244

S p r a c h a r b e i t als W o r t f o r s c h u n g

sie sich o f t m a l s schwer nachvollziehbarer E r k l ä r u n g s s p r ü n g e bedienen. Dieser Teilbereich der Etymologie erhält d a h e r aus heutiger Sicht einen willkürlichen C h a r a k t e r . Das gilt bis zur B e g r ü n d u n g der historisch-vergleichenden Sprachforschung, die auch die etymologischen Verfahren auf eine wissenschaftliche Basis stellte. Von daher ist das h a r t e Urteil S a n d e r s ' zu verstehen: „Im Uberblick könnte man die Zeit bis gegen 1800 als die dunklen Jahrhunderte der Etymologie bezeichnen, wenn man nicht den vorbereitenden Charakter dieser ,Adventszeit der Sprachwissenschaft' sähe." 3 D a f ü r die W o r t h e r l e i t u n g e n u n d D e u t u n g e n ein wesentlich größerer Interp r e t a t i o n s r a u m gegeben war, ließ sich dieser Teil der „Wortforschung" ausgezeichnet f ü r die Legitimation der d e u t s c h e n Sprache i n s t r u m e n t a l i s i e r e n . Das gewichtige A r g u m e n t des Alters der deutschen Sprache lässt sich m i t Hilfe solcher k o n s t r u i e r t e r Etymologien f ü r Einzelwörter u n t e r m a u e r n . G r u n d l a g e f ü r die etymologischen Versuche war ein „diffuser Analogiebegriff", der die I n t e r p r e t a t i o n s f r e i h e i t erst ermöglichte. „Bei der formalen Inbezugsetzung genügte den Sprachwissenschaftlern des 17. und 18. Jahrhundert[s] ein diffuser Analogiebegriff, der intuitiv oder den postulierten Relationen auf der Ebene der Semantik oder der Realität entsprechend angewandt wurde [ . . . ]." 4 Die E t y m o l o g i e im engeren Sinne war d e m n a c h f ü r das 17. J a h r h u n d e r t m e h r fach von B e d e u t u n g . Einerseits k o n n t e m i t ihrer Hilfe die erkenntniskonstit u t i v e F u n k t i o n der Sprache verdeutlicht werden. D a r ü b e r h i n a u s war sie ein wichtiges I n s t r u m e n t , m i t d e m sich das Alter der d e u t s c h e n Sprache bzw. ihre Gleichrangigkeit mit a n d e r e n H a u p t s p r a c h e n „nachweisen" ließ. Die spek u l a t i v e W o r t d e u t u n g aus Silben oder B u c h s t a b e n diente somit nicht nur der expositio von Wesenseigenschaften, sondern auch als legitimatorisches M i t t e l f ü r die Sprache als Ganzes. Bei Schottelius f ü g t e sich z u d e m die E t y m o l o g i e als R e k o n s t r u k t i o n eines ursprünglichen Wortes u n d seiner B e d e u t u n g in die G e s a m t r e k o n s t r u k t i o n der langue, der „ U h r a l t e n Teutschen H a u b t s p r a c h e " ein. G e g e n s t ä n d e der „Wortforschung": Schon die Etymologie als Rekons t r u k t i o n verborgener Wesenseigenschaften der Signifikate geht ü b e r die Bet r a c h t u n g einzelner W ö r t e r hinaus. Die proprietas rei wird auch aus Silben u n d B u c h s t a b e n eruiert. Z u d e m b e s c h r ä n k t sich eine so v e r s t a n d e n e E t y m o logie nicht auf die R e k o n s t r u k t i o n einzelner B e d e u t u n g e n , sondern lässt sich ebenso als R e k o n s t r u k t i o n der ursprünglichen F o r m e n der g e s a m t e n Sprache v e r s t e h e n . Etymologia als „Wortforschung" wird so zur Suche nach der z u g r u n d e liegenden langue, d e m von Schottelius p o s t u l i e r t e n I d e a l d e u t s c h . Hierin b e s t e h t die E r w e i t e r u n g des Etymologie-Begriffs im Vergleich zu h e u t e . Schottelius selbst gibt in der A A eine klare Gliederung der „Wortforschung" in die Bereiche a) Etymologie (im engeren Sinne), b) Flexionsmorphologie u n d c) W o r t b i l d u n g (Derivation u n d K o m p o s i t i o n ) vor.

3 Sanders (1967), S. 380. 4 Papp (1985), S. 17.

G e g e n s t a n d u n d G r u n d l a g e n der W o r t f o r s c h u n g

245

„Die Wortforschung ist das erste Teihl der Sprachkunst/ welche die Uhrankunften/ Eigenschaften/ Ableitungen und Verdoppelungen der einzelen W ö r t e r / richtig erforschet und untersuchet. (Etymologia

in lingua Germanica

nes, derivationes

& compositiones

est, qucE vocum origines,

naturam,

flexio-

inquirit.)"5

In der g r a m m a t i s c h e n Beschreibung stehen d a n n Flexionsmorphologie, Derivation u n d K o m p o s i t i o n im Vordergrund. Die E t y m o l o g i e im engeren Sinne ist nicht m e h r ein eigenständiger Gegenstandsbereich der g r a m m a t i s c h e n Beschreibung. Z u d e m werden Wortetymologien vergleichsweise selten zur Beg r ü n d u n g morphologischer Details angegeben. Die E t y m o l o g i e als Bedeut u n g s r e k o n s t r u k t i o n fließt somit in die anderen beiden Bereiche m i t ein. Dies m a c h t eine zweite Gliederung der „Wortforschung" bei Schottelius, die u n m i t t e l b a r auf die vorherige folgt, deutlich. Als G e g e n s t ä n d e der g r a m m a t i s c h e n Beschreibung u m f a s s t sie vier Bereiche: 1. Die Rechtschreibung: „Die W o r t f o r s c h u n g nun erfodert Erstlich entweder eine Erforschung der L e t t e r e n oder B u c h s t a b e n [ . . . ]; Und solches Anfangs=Stükk der W o r t f o r s c h u n g wird genennet die R e c h t s c h r e i b u n g [ . . . ]."6 Die R e c h t s c h r e i b u n g , v e r s t a n d e n als Analyse der kleinsten sprachlichen E i n h e i t e n , bildet die G r u n d l a g e oder V o r a u s s e t z u n g f ü r die nachfolgenden drei Bereiche. 2. A u s s p r a c h e u n d Schreibung der Silben: „[ . . . ] oder die W o r t f o r s c h u n g beobachtet die Silben/ wie solche recht auszureden und zuschreiben/ und solches wird genant die A u s s p r e c h u n g / (Prosodia) [ . . . ]."7 D a die sprachliche G r u n d e i n h e i t das G r a p h o n e m ist, gehört folgerichtig zur prosodia nicht nur die lautliche Realisierung sprachlicher E l e m e n t e , sondern auch deren richtige Schreibweise. D e s h a l b ist die „Aussprechung" weiter gefasst als i m heutigen Verständnis. Der Prosodia-Begriff der antiken Poetiken wird hier verwendet, der auf die S i l b e n m a ß e abzielt. Hier m a c h t sich z u d e m die g r a m m a t i s c h e T r a d i t i o n b e m e r k b a r , nach der das Ziel einer G r a m m a t i k an der M ü n d l i c h k e i t orientiert war. F ü r G u e i n t z (s. u.) gilt dies in noch s t ä r k e r e m M a ß e als f ü r Schottelius. 3. Die W o r t a r t e n g e m ä ß den partes orationis: „[ . . . ] erfodert die W o r t f o r s c h u n g eine grundrichtige Erforschung gantzer eintzeler W ö r t e r / nach deren Eintheilung [ . . . ]." 8 Schottelius s t e h t hier in der Tradition der lateinischen S c h u l g r a m m a tik, die n e u n W o r t a r t e n unterscheidet: Artikel („GeschlechtWörter"), N o m i n a ( „ N e n w ö r t e r " ) , P r o n o m i n a ( „ V o r n e n n w ö r t e r " ) , Verben („Zeitwörter"), Partizipien („Mittelwörter"), Präpositionen („Vorwörter"), 5 Schottelius, «Schottelius, 7 Schottelius, 8 Schottelius,

AA, AA, AA, AA,

S. S. S. S.

181. 181. 181 f. 182.

246

Spracharbeit als Wortforschung Adverbien („Zuwörter"), Konjunktionen („Fügewörter") und Interjektionen („Zwischenwörter") 9 . Die Adjektive gehören in dieser Einteilung zu den Nomina 10 . Eine ganz ähnliche Einteilung (außer den Interjektionen) findet sich bereits bei Dionysios Thrax, der über Priscian ins Mittelalter und in die lateinische Schulgrammatik tradiert wurde 11 .

4. Die Flexionsmorphologie und die Wortbildung: Beide werden von Schottelius unter der „Gestalt" 1 2 zusammen behandelt. Darunter fallen zunächst Kasus, Numerus, Genus, Komparation und „Enderung". Letztere zielt auf die schwache und starke Adjektivdeklination und auf die Movierung. Adjektiv- und Substantivflexion werden gemeinsam beschrieben. Ebenso gehören in diese Klasse die Verbkonjugation, sowie Tempus und Modus 13 . Schließlich gehört zur „Gestalt" der Wörter noch die Wortbildung in Form der Derivation und Komposition. Zwei weitere Haupttypen, die in der heutigen Wortbildung getrennt behandelt werden, die Konversion und die Kürzung, bleiben noch unberücksichtigt 14 . Für Gueintz gilt dieser weite Begriff der „Wortforschung" nicht. Er trennt bereits „Wortschreibung", „Wortsprechung" und „Wortforschung". In dieser sind dann allerdings wiederum Flexionsmorphologie und Wortbildungsphänomene gemeinsam behandelt. In der „Wortschreibung" befasst er sich mit den Graphonemen, die „Wortsprechung" handelt „von der Sylben thon" 1 5 , d.h. von der Prosodia. Die größere Differenzierung bei Gueintz dürfte damit zusammen hängen, dass er das Ziel der Grammatik noch stärker als Schottelius in einer ars recte loquendi sieht. Der Hauptzweck der „Sprachlehre" bestand in der Anleitung, die „Deutschen Wörter recht rein Deutsch zu r e d e n " 1 6 . Damit ist hier der Primat der Mündlichkeit in der Grammatik von Gueintz noch deutlicher als in der von Schottelius, was auch in der unterschiedlichen 9

Mit nahezu denselben deutschen Termini findet sich diese Einteilung bei Gueintz. Bei ihm werden die Interjektionen als „Bewegewörter" übersetzt. Die deutschen Wortartenbezeichnungen sind im Zusammenhang mit der deutschsprachigen Fachterminologie für die Grammatik, die nach 1640 entwickelt wurde, zu sehen. Erst mit Bödiker erfolgte ein neuerlicher Umschwung hin zum Lateinischen. Vgl. hierzu Leser (1914), S. 3; Jellinek (1911/1912) zur Vorreiterfunktion von Christoph Helwigs „Sprachkünste" (1619) und Wolfgang Ratkes „Köthener Sprachlehre" (1619/1959). 10 So auch bei Gueintz, DSE, S. 48 ff. als „beyständige" im Unterschied zu den „selbständigen" Nennwörtern. 11 Vgl. Arens (1969), S. 23-27, 35. 12 Schottelius, AA, S. 182. 13 Donhauser (1986), S. 38 f. weist daraufhin, dass Schottelius bereits die Reduktion des Modussystems von fünf auf vier Möglichkeiten vollzogen hat. Er unterscheidet Indikativ, Konjunktiv, Imperativ und Infinitiv. Den in älteren Grammatiken noch angesetzten Optativ lässt er aus. Den Infinitiv, der später als Modus nicht mehr eigens geführt wird, da er keine Personenmarkierung und keinen semantischen Eigenwert besitzt, rechnet er noch zu den Modi. 14 Vgl. Fleischer/Barz (1992), S. 44ff. mit weiterer Untergliederung. 15 Gueintz, DSE, S. 21. i Barach —> 'entfliehen', 'sich vor der Gefahr verbergen'. Degenwert verbindet die Deutung von Julia/Cassandra einerseits mit der von Vespasian, indem er eine neue Ableitung anbringt, die Burg. Mit dieser Assoziation können 'Flucht' und 'Verstecktsein' zusammengeführt werden. Es ensteht die Kette: Berg —>· Burg —> '(vor der Gefahr) entflohen sein' und 'in Sicherheit (versteckt) sein'. Dass es in diesen ίο» Harsdörffer, FZG II, S. 268f. [Pfeile und Nummern vom Verf.]. 101 Vgl. zu berg Kluge (1989), S. 75, der * bhergh-in der Ausgangsbedeutung 'Höhe' ansetzt. Für Burg bestehen konkurrierende Etymologien. Eine stimmt mit der Deutung im Spiel überein. Kluge (1989), S. 115: „2) kann Burg näher zu bergen [ . . . ] gehören (Ort, an dem man sich birgt, versteckt, wohin man flieht)." 102 Vgl. die Marginalnote in Harsdörffer, FZG II, S. 268 mit der lateinischen Bedeutungsangabe fugit, abdidit.

274

Spracharbeit als Wortforschung

Spielen nur zum Teil darum geht, Bedeutungen zu klären oder Ableitungsformen der Ausgangswörter zu finden, zeigt dann die letzte Assoziationskette, die bezeichnenderweise von Reymund, dem gelehrten Studenten, angebracht wird. Durch ein neues Wort, das mit dem Ausgangswort homophon ist, werden die beiden bislang gefundenen Teilbedeutungen in ihr Gegenteil verkehrt. Die Assoziationskette sieht folgendermaßen aus: Berg —l· (die) Berg —>• 'der Gefahr ausgesetzt sein', 'bedroht sein', eben 'unverborgen sein'. In dieser letzten Kette zeigt sich am deutlichsten, dass es in diesen Spielen in erster Linie d a r u m geht, sich das Sprachmaterial zunächst zu erschließen, und sei es auch über bloße Lautähnlichkeiten. Danach sollen möglichst plausible aber ,unerhörte' Bedeutungsassoziationen die einzelnen Wörter miteinander verbinden, um so eine übergreifende Deutung für das Ausgangswort zu finden. Das Hilfsmittel für diese Assoziationen ist die Variation des Wort materials, wobei die Ableitungen nicht notwendigerweise mit dem Ausgangswort in etymologischer Verbindung stehen müssen. Eine ähnliche Spielform, die von einem einzelnen Stammwort ausgeht, besteht darin, das Grundwort unverändert zu lassen, zu diesem jedoch möglichst viele Derivationsformen zu finden. Es geht hier also nicht darum, möglichst plausible, interessante bis skurrile Assoziationsketten zu formen, sondern darum, das Wortbildungspotential eines Stammwortes aufzudecken. Im 198. Gesprächspiel wird diese Form skizziert. Ausgehend vom Stammwort Gast sollen Adjektive, Substantive, Negationsformen, Komposita, seltene Ableitungen, Redewendungen und Sprichwörter gefunden und deren Bedeutungen angegeben werden. „ H i e r u n t e r [zur W o r t a r t als G r u n d l a g e eines Gesprächspiels - Μ . H.] gehöret alles waÄ von der A n k u n f t e / Ableitung und Verdopplung eines jeden Wortes zu sagen i s t / a l s / G a s t ist das S t a m m w o r t / heist den der bey einem die Einkehr n i m m e t / und als ein Fremder oder Freund bewirtet wird. 2. C[assandra] Daher k o m m e t G a s t e r e y / G a s t g e b / Gastiren oder zu G a s t bitten. 3. Dfegenwert] Wie auch G a s t f r e y / G a s t u n g / G a s t b a r oder G a s t p a r / Ung a s t b a r / Nimmerwirt. 4. Afngelica] Jenes ist so viel als G a s t f r e y s e y n / oft G a s t b o t e oder Gastgeb o t e ergehen lassen/ und wird der O r t / d a solches b e s c h i h e t / genennet der Gasthof. 5. R[eymund] Gastrich [ . . . ] wird gesagt als G a s t r i e c h e n d / dessen m a n nach dreyen Tagen genug h a t Einen S c h m a r o t z e r kan m a n nennen Gerng a s t . E r b g a s t ist der Z u k ö m m l i n g / der ein unverhoffter G a s t bey dem E r b e ist. 6. J[ulia] M a n sagt auch das G a s t r e c h t / die G a s t = oder E h r e n g a b e / G a s t liches G e s p r ä c h / u . d . g . 7. V[espasian] Hiebey möchte m a n allerhand Sprichwörter von den G ä s t e n und G a s t u n g e n herbeybringen. [ . . . ] " 1 0 3

103 Harsdörfler, FZG IV, S. 462 [Fettdruck getilgt].

Anwendungsfelder

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Wird ein Gespräch in dieser sprachspielerischen Form geführt, t r ä g t dies nicht nur zu einer gepflegten Konversation bei, sondern vor allem zur Bildung u n d Verbreitung der Sprache. Sprache wird somit zu dem wesentlichen Zivilisationsmittel, das die Kommunikationsteilnehmer vor der drohenden Alternative schützt, die am Eingang des Gesprächspiels drastisch beschrieben wird. In Kriegszeiten ist es das Militär, in Friedenszeiten die stumpfsinnige „Füllerey", die kommunikations- und d a m i t kulturverhindernd wirken. „Canonen/ grobe Stucke/ Degen und Spiese sind zu Kriegszeiten unsere öffentliche Feinde; Zu Friedenszeiten die grossen Hofbecher/ Gläser und Kannen/ welche bey den Gastmahlen von den Kriegeren in der Füllerey gebrauchet werden." 104 Das Finden von interessanten Assoziationsketten und das Ausloten des Kombinationspotentials eines Stammwortes ist die G r u n d f o r m der wortbezogenen Sprachspiele. Der Bezugspunkt ist dabei immer die Ausdrucksseite des Stammwortes, d. h. pure Lautähnlichkeiten bieten Anlass zu etymologischen Spekulationen oder zu Digressionen innerhalb der Konversation. §92: Eine Ausweitung der Anwendungsmöglichkeiten ist die Suche nach Komposita zu gegebenen Stammwörtern. Neben der Derivation ist sie die wichtigste Art einer mechanischen W o r t - und Bedeutungsfindung. Das S a m m e l n und Erklären von Komposita ist für die Spracharbeit in zwei Formen relevant. Einerseits kann es als Spielaufgabe umgesetzt werden, andererseits findet es sich zu D e m o n s t r a t i o n s - und Nachahmungszwecken in den sprachtheoretischen Werken selbst. Der Begriff der „Komposition" ist dabei nicht i m m e r einheitlich. Insbesondere Schottelius verfährt hier inkonsequent, wenn er einmal Derivation und Komposition klar t r e n n t 1 0 5 und auf der anderen Seite die Derivation wieder als eine Art der Komposition gelten lässt 1 0 6 . Bereits Jellinek hat auf diese „Inkonsequenz" hingewiesen und erklärt sie aus d e m gleichzeitigen Wirken der lateinischen und der hebräischen G r a m m a t i k t r a d i tion 1 0 7 . Trotz dieser terminologischen Unklarheiten sind die verschiedenen „Komposita"-Listen in der AA ein wichtiger Beitrag zur Spracharbeit. Die Spielform mit Komposita besteht darin, unter Berücksichtigung bes t i m m t e r Kombinationsregeln Zusammensetzungen zu finden und zu erklären. Eine einfache Regel ist die Umkehrung von G r u n d - und Bestimmungswort; der Spieleffekt besteht in der Bedeutungsveränderung. 101 Harsdörffer, F Z G IV, S. 461. ms Vgl. Schottelius, AA, S. 318. I06 1n der 6. Lobrede der AA, S. 88 u n d 90. i ° 7 Jellinek (1914), S. 163f.: „Diese Inkonsequenz e r k l ä r t sich so. Die lateinische Ableit u n g s t h e o r i e kennt nur E n d u n g e n , keine Präfixe. Die V e r b i n d u n g eines W o r t e s m i t einer praepositio mseparabilis gilt als Z u s a m m e n s e t z u n g . N u n n e n n t aber S c h o t t e l i u s u n t e r d e m Einfluß der hebräischen G r a m m a t i k sowohl die P r ä p o s i t i o n e n wie die Ableitungssilben literae essentiales [ . . . ] . Folgerichtig h ä t t e er die Grenzlinie zwischen A b l e i t u n g u n d Z u s a m m e n s e t z u n g so ziehen müssen, d a ß er dieser nur die V e r b i n d u n gen von Elementen zuwies, von denen jedes R a d i k a l b u c h s t a b e n e n t h ä l t . Aber d a w i r k t e die T r a d i t i o n der lateinischen G r a m m a t i k zu s t a r k . "

276

Spracharbeit als Wortforschung „[Reymund] Die kräftige Füglichkeit unserer Sprache/ ist sonderlich auß denen Doppelungen abzumerken/ in welchen sich gar etliche Wörter verwenden lassen/ und beedergestalt ihren richtigen Verstand haben/ als: Geltlehen/ Lehengelt. Friedgelt/ Geltfriede. Wassermühl/ Mühlwasser. Schifflast/ Lastschiff. Strafamt/ Amtstraf. Geltwehr/ die auß güldenen Büchsen geschieht/ und Wehrgelt/ dardurch man etwas verwehrt/ und sich abkaufFt." 108

Weitere Variationen bietet die Regeln, nach der das G r u n d - oder das Bestimmungswort konstant gehalten wird. Es entstehen so Kompositionsreihen. Harsdörffer deutet die Ausgestaltung des Spieles nur an 1 0 9 . Ein wesentlicher Aspekt ist auch bei diesem Typus die mit ihm verbundene sprachliche Kreativität. Nicht nur die bloße Aufzählung gängiger Komposita soll im Spiel erfolgen. Das A u f - und Erfinden neuer Formen ermöglicht die Ausweitung der deutschen Sprache selbst, d. h. die Vergrößerung des eigenen aktiven Wortschatzes. ,,R[eymund] Dergleichen Wortdopplung kan man unzählich zusammen suchen und selbsten nach Nohtdurfft fertigen lernen. Dann obwol über erzehlte Grundwort/ und Beyfügungsendungen noch 104. andere gezehlet werden/ und derselben auch vielmehr zu finden; so kan doch dieses zur Anweisung eines nützlichen und lustigen Gesprächspiels genug seyn." 1 1 0 Insgesamt sind die Kompositionsspiele listenartiger als die in §91 beschriebene Form des Spiels mit Stammwörtern. Das gilt auch f ü r die zweite Form der Spracharbeit mit Komposita, die in grammatischen Texten selbst anzutreffen ist. Hier handelt es sich ähnlich wie in den „Sieben Traktaten"(s. Kap. 4.4) u m Sammlungen zu Demonstrationszwecken. A m Beispiel von Schottelius zeigt sich dies besonders deutlich. Er behandelt die Komposition nicht nur am systematischen Ort innerhalb der AA (S. 398-533), sondern auch in der sechsten Lobrede. Dort unterscheidet er vier „Verdoppelungs=arten in Teutscher Sprache" 1 1 1 . 1. Komposition von „Nennwörtern" (Substantive, Adjektive) miteinander 2. Komposition von „Nennwort" und „Zeitnennwort" (Verb) 3. Komposition von Stammwort und Präfix(en) 4. Komposition von Stammwort u n d Suffix(en) loa Harsdörffer, FZG III, S. 315 f. [Fettdruck getilgt], los Harsdörffer, FZG III, S. 316: „ [ . . . ] Wie nun die Haubtendung Wehr verdoppelt wird: Gegenwehr/ Handwehr/ Brustwehr/ &c. Man setzet auch wol die Dopplungsylben vorher/ als Jahr. 2. A[ngelica] Jahrzahl/ Jahrgedächtniß/ Jahrgeschenk/ &c. [ . . . ]." n o Harsdörffer, FZG III, S. 317. III Schottelius, AA, S. 77. Zum Folgenden vgl. AA, S. 77, 84, 88, 90.

Anwendungsfelder

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Auf die Ü b e r s c h n e i d u n g m i t der Derivation bei den l e t z t e n b e i d e n „ K o m positionen" w u r d e bereits verwiesen. Aus diesen vier T y p e n e r g e b e n sich n u n zahlreiche Möglichkeiten der Auflistung von S p r a c h m a t e r i a l . A m ergiebigsten ist die erste A r t der Verdoppelung. Schottelius b r i n g t Beispielreihen f ü r die K o m p o s i t i o n von zwei bis sechs S u b s t a n t i v e n bzw. W o r t b i l d u n g s k o n s t i t u e n t e n m i t e i n a n d e r . J e länger die Gebilde w e r d e n , u m so d e u t licher wird die eigentliche I n t e n t i o n sichtbar. Es sollen m e h r die Möglichkeiten als die t a t s ä c h l i c h v e r w e n d e t e t e n W ö r t e r d o k u m e n t i e r t w e r d e n . Die „ U n = w i e d e r = a b = t r e i b = l i c h = k e i t " als K o m p o s i t i o n aus sechs K o n s t i t u e n t e n zeigt dies deutlich 1 1 2 . Zur e r s t e n K o m p o s i t i o n s a r t gehören die V e r b i n d u n g von S u b s t a n t i v e n m i t A d j e k t i v e n ebenso wie die K o p p e l u n g von A d j e k t i v e n m i t A d j e k t i v e n . Auch hier werden Beispielreihen gegeben, die die K o m b i nierlust h e r v o r h e b e n (ζ. B. bei Bildungen wie ein Schönböser, Froböser o d e r Fromböser113). Die Möglichkeit der V e r t a u s c h u n g von G r u n d - u n d B e s t i m m u n g s w o r t m i t e n t s p r e c h e n d e r B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g ist f ü r S c h o t t e l i u s ein Spezifikum der deutschen Sprache u n d d a m i t ein gewichtiger Beweis f ü r i h r e n Wert. „Noch ferner/ in welcher Sprache ist wol müglich/ daß die Wörter oder Stammwörter/ welche in den einen Verdoppelten der Grund seyn/ bald in anderen gantz neuen/ das Beyfügige werden." 1 1 4 Die a n g e f ü h r t e n Beispielreihen m i t lust, frey u n d haus als G r u n d - o d e r Bes t i m m u n g s w o r t zeigen, dass Schottelius noch keine klare U n t e r s c h e i d u n g zwischen K o p u l a t i v - u n d D e t e r m i n a t i v k o m p o s i t u m 1 1 5 k e n n t . Er h a t lediglich d a s letztere im Blick. G e r a d e die B e d e u t u n g s v e r ä n d e r u n g zeigt die Möglichkeit e n , die im S y s t e m der d e u t s c h e n Sprache liegen. U b e r m e h r e r e Seiten f ü h r t er f ü r den Bereich der F a r b e n die unzähligen B e d e u t u n g s s c h a t t i e r u n g e n vor, die sich aus den Kombinationsmöglichkeiten der einzelnen F a r b b e z e i c h n u n gen ergeben 1 1 6 . Die zweite V e r d o p p e l u n g s a r t b e s t e h t in der K o m b i n a t i o n eines N e n n w o r tes m i t einem Verb. W i e d e r u m gibt Schottelius Listen, die die P r o d u k t i v i t ä t des P a r a d i g m a s ' S u b s t a n t i v + Verb' d o k u m e n t i e r e n . Die u m g e k e h r t e K o m b i n a t i o n , bei der das Verb das B e s t i m m u n g s w o r t u n d das S u b s t a n t i v das G r u n d w o r t ist, lehnt Schottelius mit Verweis auf das S p r a c h s y s t e m a b . „Bey dieser anderen Verdoppelungs=Art/ ist wol in acht zunehmen/ daß das Zeitnennwort (nomen verbale) müsse allezeit der G r u n d / oder das letzte in diesen verdoppelten Wörteren seyn/ Kraft dessen/ was zuvor davon ist angedeutet worden. Es laufft dem Verstände und den Grundregulen der 112 Schottelius, AA, S. 79. na Schottelius, AA, S. 79. ι 1 4 Schottelius, AA, S. 80. 115 Vgl. Fleischer/Barz (1992), S. 128f. Bei Kopulativkomposita sind die Wortbildungskonstituenten koordiniert und stehen damit nicht in einem Determinationsverhältnis (Grund-/Bestimmungswort). Sie lassen sich ohne deutliche Veränderung der Semantik gegeneinander austauschen, z.B. bei Manteljacke - Jackenmantel. lie Schottelius, AA, S. 81-84.

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S p r a c h a r b e i t als W o r t f o r s c h u n g

Sprache zuwider/ wenn man wolle das Zeitnennwort verstünden/ und vorn in das Wort bringen: Als wenn man findet bey etzlichen: Tilgesünd/ Stürmehell/ Jagteuffel/ Zwingetodt. Welches ein Teutscher fast nicht recht verstehen kan/ was dardurch gemeinet sey/ weil es wider den Grund der Teutschen Sprache geredet ist." 1 1 7 Allerdings f ü h r t er nichts N ä h e r e s zu den „ G r u n d r e g u l e n " aus, so dass dieser Ausschluss willkürlich erscheint. Z u d e m muss er eine ganze Reihe von Ausn a h m e n d e m Sprachgebrauch konzedieren. Die K o m p o s i t i o n n i m m t als Teil der W o r t b i l d u n g bei Schottelius eine zentrale Stellung ein. Er ist in diesem P u n k t ein Vordenker gewesen 1 1 8 . Dennoch w u r d e nur ein Teil der möglichen K o m p o s i t i o n s t y p e n von i h m klar erkannt u n d dargestellt 1 1 9 . F ü r die letzten beiden „ V e r d o p p e l u n g s = a r t e n " gibt Schottelius w i e d e r u m Beleglisten an. Vor allem die entlegenen Bildungen zeigen die F u n k t i o n dieser S a m m l u n g e n . Als Beispiel sei ein Auszug aus der Liste von Verben m i t P r ä f i x e n gegeben. F ü r Schottelius beweist sie e i n m a l m e h r die Überlegenheit der d e u t s c h e n Sprache: „Es nehme einer zum Exempel nur diese Vorwörter/ er/ ge/ u n / ver/ zer/ be/ beobachte wol die dahero fliessende Composita, versuche dabeneben/ wie wenig die fremden Sprachen den kräftigen Inhalt deroselben doch begreifen und nachsprechen können müchten. [ · · · ] Lossch [r]auben Hinschrauben Herschrauben [... ] Ausplatzschen Non amplius in aqua palpare. Zerrühren Circummotitando confringere. Wegplompen Cum sonitu mersitando in aquam abigere. Ausründen Concavä rotunditate donare."120 G e n a u s o wird die m e h r f a c h e K o p p e l u n g von „ V o r n e n n w ö r t e r n " an ein S t a m m wort v o r g e f ü h r t . J e komplexer die abgeleiteten S t r u k t u r e n dabei werden, u m s o besser ist dies f ü r die A r g u m e n t a t i o n . „Teihl/ Vorteihl/ vervorteihlen/ unvervorteihlet. L a u b / Uhrlaub/ Uhrlauben/ entuhrlauben/ un ent u h r = l a u b t . " 1 2 1 A u c h im s y s t e m a t i s c h e n Teil der AA ist die K o m p o s i t i o n als Teil der W o r t b i l d u n g vorwiegend listenartig dargestellt. Das zwölfte K a p i t e l des zweiten Buches h a n d e l t von der „ D o p p e l u n g " ( A A , S. 398-533). Es bringt nach wenigen einleitenden Seiten zur T h e o r i e der K o m p o s i t i o n auf m e h r als 120 Seiten eine „zimliche A n z a h l T e u t s c h e r Nominum compositorum, von derer Deu117 Schottelius, AA, S. 86 [Fettdruck getilgt], lis Vgl. Jellinek (1914), S. 169: „Eine eigentliche Theorie der Komposition hat erst Schottelius aufgestellt." 119 Ahnlich Jellinek (1914), S. 169: Es „ergibt sich, daß Schottelius zwar die Zweiteiligkeit der deutschen Komposita, aber nicht alle Arten ihrer Gliederung erkannt hat." 120 Schottelius, AA, S. 89. 121 Schottelius, AA, S. 90.

Anwendungsfelder

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t u n g und Füglichkeit der Leser selbst uhrteilen kan [ . . . ]." 1 2 2 P r i m ä r ist d a m i t auch hier das Sammeln von tatsächlichen oder fiktiven Belegen. Ziel ist es, die welterschließende Funktion, die Kombinationsmöglichkeiten u n d die Überlegenheit der deutschen Sprache unter Beweis zu stellen. Insofern sind die listenartigen Sprachspiele und die K o m p o s i t a s a m m l u n g e n genuine Anwendungsfelder für die Spracharbeit. §93: Neben der Komposition wird die Derivation als zweites wesentliches Mittel der Wortbildung in den Anwendungen genutzt. Wie bei der Komposition bestehen auch für die Derivation Umsetzungsmöglichkeiten in Form von Sprachspielen und in Form von Listen zu Demonstrationszwecken. Harsdörffer beschreibt in den FZG drei Arten von Sprachspielen m i t abgeleiteten Wortformen. Im ersten Typus erhält jeder Mitspieler ein Derivationssuffix zugewiesen, zu dem er ein Wort finden muss. Dieses soll z u m vorgegebenen R a h m e n t h e m a passen. Der Spieltypus ist bereits von den B u c h s t a b e n spielen her bekannt. Waren es dort die Buchstaben, so sind es hier Suffixe wie -bar, -haft, -niß, -isch, -sam, die themenorientiert ergänzt werden müssen. Dabei sind — ähnlich wie bei den Stammwortspielen — gedankliche Sprünge erlaubt und erwünscht, so lange sie noch in Verbindung mit dem Ausgangskonzept gebracht werden können. „[Julia] 1. Wie wir vor diesem gewiese Buchstaben außgetheilet haben/ von welchen die Antwort auf die vorgegebene Frage/ anfangen müssen; so könte man auch die Endungen der Wörter erkiesen/ und in Beobachtung selber alles beantworten/ zu solchem Ende will ich nemen die Endung hafft. 2. V[espasian] und ich die Endung bar. 3. A[ngelica] Ich will ein g e m e i n e E n d u n g Wehlen/ nemlichen n i ß .

4. R[eymund] Und ich isch. 5. C[assandra] Was soll ich dann haben? 6. D[egenwert] Das ig/ und solle mein seyn sam. 7. J[ulia] Nun frage ich: Was bedunkt die Herren und Jungfrawen von unseren Zusammenkunfften/ sollen wir nicht in unserem Fürhaben standhafft verbleiben? 8. V[espasian] Ich halte es für erbar. 9. A[ngelica] Zu gutem Verständniß und Erkäntniß dienend. 10. R[eymund] Ich bin hierinn parteyisch/ halte aber den/ der von uns mißredt/ für neidisch oder närrisch. 11. C[assandra] Ja für anrüchtig [ . . . ] und unrichtig. 12. D[egenwert] Es ist rahtsam daß wir unsere Zusamenkunfften fortsetzen I" j «123 Die zweite Spielform ist eine Abwandlung der ersten. Bei gleichbleibendem Suffix sollen W ö r t e r gefunden und mit den bereits genannten inhaltlich verbunden werden. Vor allem hochproduktive Suffixe wie keit sind dabei als Spielgrundlage geeignet. Wie bei der Kompositasuche erschöpft sich diese Form

122

Schottelius, AA, S. 410. ^ H a r s d ö r f f e r , FZG III, S. 318 f.

280

Spracharbeit als Wortforschung

stärker in der Sammlung entsprechender Derivata, die idealerweise inhaltlich miteinander verknüpft werden, wie im folgenden Beispiel. „[Cassandra] [ . . . ] Nun sage ich es seye nichts über die Frölichkeit. 2. D[egenwert] Nach Gelegenheit und Begebenheit. 3. J[ulia] Wann selbe nicht herrühret von Trunkenheit/ 4. Vfespasian] sondern von der Geselschaft Höflichkeit. 5. A[ngelica] und Beredsamkeit. 6. R[eymund] samt allerley Schertz Ergötzlichkeit/ &c. [ . . . ]." 124 Auf Präfixe zielt die dritte Form des Derivationsspiels ab. Ein Mitspieler gibt ein Wort als Einstieg vor. Der letzte Buchstabe dieses Wortes wird vom nächsten Spieler aufgenommen. Er muss zunächst ein Präfix finden, das mit diesem Buchstaben beginnt. Schließlich wird mit dem Präfix ein neues Wort gebildet, dessen letzter Buchstabe wieder für den nächsten Spieler den Ausgangspunkt bildet. Das Beispiel in den FZG fordert keine inhaltliche Verbindung der gefundenen Wörter miteinander. „[Angelica] 1. In unserer Sprache sind etliche Wort/ welche a n = und fürsich selbsten nicht gebrauchet oder verstanden werden/ als: Ab/ be/ d a / ent/ für/ ge/ her/ in/ loß/ mit/ nach/ ob/ seit/ ver/ wol/ zu/ &c. 2. R[eymund] Diese werden Vorwort/ [ . . . ] in der Sprachlehre [ . . . ] genennet. 3. A[ngelica] Von besagten Vorworten wil ich ein solches Spiel aufgeben: von welchem Buchstaben sich das erste endet/ solle das andere anfangen; von deß anderen Endbuchstaben das dritte/ und so nach und nach. 4. R[eymund] Die Jungfrau mache den Anfang/ wir wollen folgen. 5. A[angelica] abstriken. 6. R[eymund] Nachreu. 7. C[assandra] überhöhen. 8. D[egenwert] Nebenweg. 9. J[ulia] Gegenmittel. [ . . . ]." 125 Noch stärker als bei der Suche nach Wörtern mit konstantem Derivationssuffix tritt hier das pure Wortsammeln in den Vordergrund. Die schiere Kombinationslust bricht durch. Nicht nur, dass die zu findenden Wörter nicht in einer inhaltlichen Verbindung miteinander stehen. Endbuchstabe und neuer Anfangsbuchstabe müssen zudem nicht immer völlig übereinstimmen. Das u in Nachreu wird von Cassandra als ü in überhöhen wiederaufgenommen, ohne dass dies als eine Regelverletzung geahndet worden wäre. Wie bei zahlreichen anderen Spielen hat auch dieses einen didaktischen Effekt, der in den Spieleinleitungen zum Ausdruck kommt. Angelica erörtert die sprachsystematische Grundlage. Reymund führt den grammatischen Terminus Vorwort ein. Neben dieser Art der Belehrung haben die Sprachspiele zur Wortderivation insgesamt eine eher einübende und sprachentdeckende Funktion.

124

Harsdörffer, F Z G III, S. 322. 125 Harsdörffer, F Z G III, S. 320 f.

Anwendungsfelder

281

Wie bei der Komposition so gibt Schottelius auch bei der systematischen Behandlung der Derivation in der AA 126 detaillierte Beispielsammlungen für jede der 23 „Haubtendungen" an. Nach einer kurzen Theorieeinleitung, in der auch eine Reihe weiterer Endungen als landschaftsgebunden bzw. als entlehnt von der Betrachtung ausgeschlossen werden 127 , folgen diese Listen (AA, S. 324-398), die sich wie ein Nachschlagewerk verwenden lassen. Ubergeordnetes Gliederungsprinzip sind die einzelnen Suffixe, die alphabetisch angeordnet sind (s. Tab. 14):

1. bar

5. en

9. heit

13. isch

17. ling

21. schüft

2. e

6. er

10. icht

14. keit

18. niß

22. tuhm

3. el

7. ern

11. ig

15. lein

19. sal

23. ung

4. ey

8. haft

12. inn

16. lieh

20. sam

Tabelle 14: Die 23 „Haubtendungen" der Derivation nach Schottelius Die einzelnen Listen zu den Suffixen sind dann ebenfalls alphabetisch angeordnet, so dass ein schneller Zugriff möglich ist. Wiederum finden sich in ihnen neben gängigen Ableitungen auch eine ganze Reihe von seltenen Belegen. Die Erschließung des Sprachsystems ist somit wieder deutlich mit der Intention verbunden, das Potential und die Überlegenheit der deutschen Sprache zu demonstrieren. Zudem lassen sich diese Listen als Reimlexika verwenden. Auf diese Nutzungsmöglichkeit weist Harsdörffer bei seiner Wortgenerierungsmaschine (§94) explizit hin. Insgesamt entsprechen die Anwendungen zur Derivation denen zur Komposition in Form und Funktion. §94: Am sinnfälligsten kommt der mechanistische Charakter der Stammworterzeugung und der Wortbildung überhaupt im „fünffachen Denckring der Teutschen Sprache" zum Ausdruck. Diese einfache Maschine zur Erzeugung von Wörtern stellt die Verbindung her zwischen der langue der deutschen Sprache (Stammwörter/Wortbildung) und den Ideen zur Wissenskombinatorik in der Tradition eines Raimundus Lullus. Ebenso steht das „Sprachrad" am Ubergang zur Universalsprachenkonzeption. Auf diese Verbindungen hat Gardt bereits hingewiesen 128 . Wie sich aus der regelgeleiteten, mechanischen Kombination einfacher Gedanken komplexere Konzepte und Erkenntnisse gewinnen lassen, so ergibt die mechanische Kombination von Stammbuchstaben denkbare Stammwörter der deutschen Sprache. Darüber hinaus lässt sich durch die „Haubtendungen" und die „Vorsylben" eine nahezu unendliche Menge von Wörtern konstruieren (s. Abb. 10). 126 Kapitel 11 des zweiten Buches, AA, S. 317-398. 127 Schottelius, AA, S. 320: „Es befinden sich noch etzliche andere Endungen/ als: ist/ sehe/ le/ lin/ chen/ ken/ die doch keine Haubtendungen machen mögen [ . . . ]." 128 Gardt (1994), S. 208 f.

282

Spracharbeit als Wortforschung „Wie alle Sachen im Anfang/ Mittel vnd Ende bestehen/ also wollen wir auch die Buchstaben der einsylbigen Wörter abtheilen in 60. AnfangsBuchstaben auf dem zweyten Ringe: in 12 MittelBuchstaben auf dem dritte Ringe: in zweymal 60 das ist 120 Endbuchstaben: auf dem vierten Ringe. Diesen werden vorgesetzet 48 Vorsylben auf dem ersten Ringe/ und nachgesetzet 24 Nachsylben/ auf dem fünfften Ringe. Hierbey werden wir als an einem Denckring/ alle einsylbige Stammwörter/ wie auch alle Reimendungen leichtlich bemercken können." 129

Unter A n f a n g s - und Endbuchstaben sind einzelne Konsonanten und Konsonantenverbindungen zu verstehen. Nicht alle dieser Verbindungen sind im phonologischen System der deutschen Sprache zulässig. So finden sich unter den Konsonantenverbindungen auch pfn im Anlaut oder ngf im Auslaut. Die a n - und auslautenden Konsonantenbündel sind über Vokale als „Mitt e l b u c h s t a b e n " miteinander verbunden. Bei den Vokalen schöpft Harsdörffer nicht alle Möglichkeiten aus. Er berücksichtigt die Monophthonge a, e, i, o, u, ü, ä, ö und die Diphtonge au, ei, eu. Die Langvokale bleiben unerwähnt. Bei ie ist nicht klar ersichtlich, ob der Langvokal Γ oder der entsprechende fallende Diphthong gemeint ist 1 3 0 . Nicht sprechbare Verbindungen und fehlende Differenzierungen sind insgesamt jedoch kein wesentlicher Einwand gegen die Generierungsmaschine. Es kommt bei ihr nicht auf die Vollständigkeit der G r u n d e l e m e n t e oder auf die Konsistenz der einzelnen Glieder an. Die 24 „Nachsylben" stimmen nicht vollständig mit der Menge bei Schottelius überein. Es fehlen die Substantivierungsaffixe e, el und die Adjektivmarkierung ern. Anders als bei Schottelius rechnet Hardörffer b e s t i m m t e Flexionsendungen wie es (Genitiv), et (2. Ps. PI.) und era (Dat. Sg., s. u.) zu den Endungen. et taucht zweimal auf. Es scheint ein Druckfehler vorzuliegen (et statt el). Dies könnte auch bei em der Fall sein, es kann als em oder aber als ern gelesen werden. Als Flexionsendung taucht em lediglich bei b e s t i m m t e n Formen des Adjektivs, des unbestimmten Artikels oder der Demonstrativpronomina auf: als Dat. Sg. der determinierenden (starken) Flexion der Maskulina oder Neutra. Beispiele hierfür sind gut-em Wein, schön-em Kind (Adjektiv), ein-em (unbest. Art.) oder dies-em (Dem.pron.). Allerdings wird em nicht in der von Harsdörffer vorgesehenen Position als E n d u n g eines Stammwortes verwendet. Daher scheint die Lesart ern s t a t t em plausibel zu sein.

129 Harsdörffer, M P E II, S. 516. 130 Vgl. dazu die Klassifikationen von Schottelius, AA, S. 200 und Gueintz, DSE, S. 13, sowie §63, S. 184

Anwendungsfelder

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atibrrtSuct&tofcr·

däEBSSBBSSS Abbildung 10: Der „Fünffache Denckring der Teutschen Sprache" Die Anzahl der „Nachsylben" sind im Sprachrad selbst 49 und nicht wie von Harsdörffer angegeben 48. Sie weist ebenfalls Unterschiede zu Schottelius auf. Dieser rechnet die „Vorwörter" (Pr4itei*·

2id)feU

Abbildung 11: Vergleichsliste Hebräisch-Deutsch (SPG, S. 129-131)

Anwendungsfelder

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„[...] D. Henischius in prdsf. [des Wörterbuches - Μ. H.] meldet/ daß gar in Taurica Chersoneso [= die Krim - Μ. H.] die alte Teutsche Sprache in Übung sey. [ · . . ] [mit Bezug auf Busbequius] Nunc adscribam pauca vocabula de multis, qu§ Germanica (ille ex Tauricä Chersonesus legatus) reddebat: [ ... ] Pro Stul VVingart Thür Stern Sune Plut Hus Goltz Kor Sa.lt Fisct Hoef Tag Oegene Ηan da

Panis Sedes Vitis Porta Stella Sol Sangvis Domus Aurum Triticum Sal Piscis Caput Dies Oculus Manus

Regen Bruder Schwester Alt VVinth Silver Rinck Wagen Apel Schieten Schliepen Kommen Singen Lachen Geen

Pluvia Frater Soror Senex Ventus Argentum Annulus Currus Pomum mittere sagittam dormire venire canere ridere ire, ©c." 41

Bis ins Persische können so mit einem Listenbeweis die Auswirkungen und die räumliche Erstreckung der deutschen Sprache erweitert werden 4 2 . Insgesamt gilt für die Vergleichslisten, dass das Material, das in ihnen verglichen, aufeinander bezogen und voneinander abgeleitet wird, nicht tatsächlich miteinander verbunden sein muss. Der Einzelbeleg als solcher und die Richtigkeit der Ableitungen sind nachrangig gegenüber der Plausibilität der Reihung. Die Belegreihe ersetzt somit die Uberzeugungskraft des Einzelwortvergleichs. A u t o r e n l i s t e n : Einem anderen Zweck dienen die A u t o r e n - und Werkverzeichnisse, wie sie ζ. B. in sehr expliziter Form bei Schottelius 4 3 oder in komprimierter Form bei Hardörffer 4 4 in der STS und im SPG zu finden sind. Der vierte Traktat in der AA von Schottelius ist ein Panoptikum der zeitgenössischen Literatur in deutscher Sprache. Bemerkenswert ist dabei, dass Schottelius versucht, sowohl diachron als auch synchron das Spektrum deutschsprachiger Texte auszuloten. Dabei beschränkt er sich keineswegs auf literarische Texte, auf die Reichsabschiede, die Rechtstexte, religiöse Schriften etc. Er bezieht darüber hinaus die damaligen Anfänge fachsprachlicher Literatur mit ein, wenn er z . B . auf J. C. Aitingers „Bericht vom Vogelstellen" von 1653 45 , auf Chr. Nohtnagels „Handbüchlein von der Festungs=Baukunst" von 1659 46 n Schottelius, AA, S. 132 f. 12 Vgl. dazu Schottelius, AA, S. 133. 13 Schottelius, AA, S. 1148-1215. « Harsdörffer, STS, S. 387-389 und SPG, S. I95f. 15 Schottelius, AA, S. 1205. is Schottelius, AA, S. 1207.

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Spracharbeit und Lexikographie

oder auf ein ähnliches Werk von G. A. Bökler 47 verweist. So gesehen lässt sich der vierte Traktat in der AA als rudimentäre Bestandsaufnahme von deutschsprachigen Textsorten verstehen. Das Ziel dieser Aufzählung und ausführlichen Beschreibung der unterschiedlichen Texte in deutscher Sprache ist ein doppeltes. Zum einen soll damit die lange Traditionslinie deutschsprachiger Schriften aufgezeigt werden. Nicht erst seit wenigen Jahren wird die deutsche Sprache mit Erfolg in ganz unterschiedlichen Varietätenbereichen (Literatur, Religion, Recht, Handwerke) eingesetzt. Zum anderen soll der Verweis auf die prestigeträchtigen Autoren der Textproduktion in deutscher Sprache zum Durchbruch verhelfen 48 . Diese letzte Funktion der Autorenlisten kommt besonders bei den komprimierten Aufzählungen von Harsdörffer zum Tragen. In der STS leitet er seine Autorenliste mit genau diesem Argument ein. Die Beschäftigung mit der deutschen Sprache — hier am Beispiel der Produktion poetischer Texte — wird durch die Berühmtheit der Autoren selbst geadelt. „Bey den alten Teutschen hat die Poeterey nicht nach der Schul gestunken/ und ist des Adels gröster Ruhm gewesen die Lantzen und die Feder wol zu führen; in den Ritterspielen und derselben Beschreibungen der Jungfrauen Dank (wie in den Gesprächspielen üblich) darvon zutragen/ wie sothane Spiel= und Gedichtschreiber gewesen. Heinrich Römischer Kaiser/ Chunrad Römischer König/ Wencel König in Böhmen/ [ . . . ] Virich von Lichtenstein/ Virich Schenk von Winterstetten/ Walter von der Vogelweid/ Wolfaram von Eschelbach/ und noch fast unzählich andere von der Ritterschaft." 49 Im Unterschied zu den Vergleichslisten sind die Autorenlisten in ihrer argumentativen Funktion sprachimmanent. Sie werben für die Beschäftigung mit der deutschen Sprache dadurch, dass sie auf prestigeträchtige Autoren und auf die lange Tradition deutschsprachiger Schriftlichkeit verweisen. Die Legitimation der deutschen Sprache wird somit durch ein Textkorpus unterstützt. Erklärende / etymologische Listen: Diese Art von Verzeichnissen zielt darauf ab, die prinzipielle Motiviertheit der sprachlichen Einheiten in der deutschen Sprache unter Beweis zu stellen. Dazu eignen sich v. a. Verzeichnisse von Personennamen und Sprichwörtersammlungen. Bei beiden kommt die Motiviertheit der Sprachelemente, ihr wesenhafter Bezug zur Wirklichkeit, besonders deutlich zum Ausdruck. Namenslisten finden sich im zweiten Traktat in der AA 50 , sowie bei Harsdörffer im SPG 5 1 . Zur etymologischen Herleitung und Erklärung werden die Personennamen von ihren Morphemen her analysiert. Harsdörffers Liste ist alphabetisch nach dem Grundwort geordnet. Bei diesem stehen dann die verschiedenen Möglichkeiten der Namensbildung. 17 Schottelius, AA, S. 1207. 48 Für den vierten Traktat ist ferner zu berücksichtigen, dass Schottelius die Textproduktion in deutscher Sprache verquickt mit der Aufzählung von Texten über die deutsche Sprache und die Geschichte „Deutschlands", is Harsdörffer, STS, S. 386-388. so Schottelius, AA, S. 1038-1098. si Harsdörffer, SPG, S. 251-272.

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Für Wortbildungen, bei denen das L e m m a im Bestimmungswort a u f t a u c h t , verweist er auf den entsprechenden Artikel des Grundwortes (ζ. B. auf „heim" bei „Friedhelm"). „§13. F r e d / F r i d / Fried Pax. Luitfred/ Leutfried/ Pacificus, Pax hominü Magdelfredus. Machtallfried/ qui omnibus, vel inter omnes est pacificus. Siegfred/ Victor pacts. Helifred/ Salvator Pacis. Heerfred/ Pax exercituü. Friedhelm. vide infra helm." 52 Das Verzeichnis bei Schottelius ist dagegen alphabetisch nach dem gesamten Personennamen geordnet. Das L e m m a ist eine lateinische Form des N a m e n s , der die verschiedenen deutschen Namensformen mit kurzen Erklärungen folgen. Durch die wesentlich größere Lemmamenge und die auf das G e s a m t w o r t bezogene Anordnung ist dieses Verzeichnis eher als Nachschlagewerk geeignet. Die typische Artikelstruktur enthält nach dem lateinischen L e m m a und seinen Varianten ein kurzes lateinisches I n t e r p r e t a m e n t , gefolgt von den deutschen Namen. Sigebrandus, Sigibrandus, Victoria incensus Sigbrand/ Siegbrand. Sigefridus, Sigfriedus, Seifridus, Sefredus pacifice vincens, victoriam pacis amans. Sigfried/ Siegfried/ Sivert/ Seifried/ Seitz. Sigegastus qui novit victoriose agere, perspicax ut celeriter vincat. Siggast/ Sigegast/ vid. in Gasto, Segastus, Sigastus. Sigevvaldus Sivvaldus Sigoaldus Victoria compos, vel, ob victoriosa potens. Sigwalt/ wegen sieghafter Sachen berühmt und gewaltig." 53 Durchbrochen wird diese Einteilung an verschiedenen P u n k t e n . Teils werden auch deutsche Bedeutungserklärungen gegeben wie bei „Sigwalt". Teils wird auch die auf das Gesamtwort bezogene alphabetische L e m m a a n o r d n u n g aufgebrochen. So finden sich beim Eintrag „Gast" auch Bildungen wie „Salegast/ Hildegast/ bosegast/ Suabgast" 5 4 . Dies geschieht jedoch mit d e m Verweis auf die zugehörigen Artikel, so dass letztlich das Anordnungsprinzip gewahrt bleibt. Berücksichtigt man, dass im 17. J a h r h u n d e r t etymologische Namensdeutungen durchaus noch üblich waren, d a n n kann m a n die Bedeutung solcher Namenslisten ermessen. Wie bereits bei den Sprachspielen zu den Personennamen (s. §74) ausgeführt, ging m a n davon aus, dass die Bed e u t u n g des Namens u. U. Auskunft über Eigenschaften des Namensträgers geben konnte. Inwieweit im 17. J a h r h u n d e r t dieses analoge Schlussverfahren noch anerkannt bzw. bereits als Kuriosum abgelehnt wurde, kann nicht i m m e r zweifelsfrei ermittelt werden. Für den sprachlegitimatorischen Kontext eignen sich diese Namenslisten allerdings in jedem Fall. Auch dann, wenn m a n den Rückschluss von einem Namen und dessen Bedeutungen auf einen konkreten Namensträger ablehnte, konnte m a n doch akzeptieren, dass in den N a m e n ursprünglich diese Bedeutungen verkapselt waren. In den N a m e n k o m m t , wenn m a n sie nur richtig rekonstruiert und interpretiert, die besonders enge Bezie52 Harsdörffer, SPG, S. 255. 53 Schottelius, AA, S. 1084. 54 Schottelius, AA, S. 1057.

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hung der deutschen Sprache zur Welt, auf die sie referiert, zum Ausdruck. Uber die Namen ließ sich ein Teil der Welt erschließen; sie haben als Elemente der deutschen Sprache erkenntniskonstitutiven Charakter. Dies galt — da sich die Argumentation auf das postulierte „Idealdeutsch" (langue) bezog — auch dann für die Personennamen, wenn sich die Namenseigenschaften nicht mehr bei deren Trägern finden ließen. Unzutreffende Namensvergaben konnten nicht das zugrunde liegende Prinzip aushebeln. Insofern ließen sich die Namenslisten problemlos für die Legitimation der deutschen Sprache instrumentalisieren. In ähnlicher Weise wie die Namenslisten tragen auch die Sprichwörtersammlungen dazu bei, die erkenntniskonstitutive Funktion gerade der deutschen Sprache zu dokumentieren. Wie in den Namen, so sind auch in den Phraseologismen spezifische Wahrheiten kondensiert. An ihnen zeigt sich die welterschließende Funktion der deutschen Sprache besonders deutlich. Da die Phraseologismen noch auf der sprachsystematischen Ebene der Syntagmen eingehender besprochen werden (s. §116), sollen hier nur die beiden Hauptargumente eingeführt werden. Phraseologismen beinhalten tiefere Wahrheiten, und sie tun dies vor allem in der deutschen Sprache 5 5 . Diese ausgezeichnete Stellung der Phraseologismen lässt sich nach Schottlius teilweise sogar bis zu einem — durchaus positiv gemeinten — „vox populi, Vox DEI"56 steigern. Auf diesem Hintergrund werden die Sprichwörtersammlungen zu demonstrativen Zwecken verwendet. Ob dies in literarischen Ausformungen wie im „Schauspiel Teutscher Sprichwörter" 5 7 oder in bloßer Listenform geschieht, ist dabei irrelevant. Es kommt darauf an, durch den Reichtum an Phraseologismen in der deutschen Sprache deren besonderen Erkenntnisleistungen hervorzuheben. Indiz dafür ist auch, dass die Liste bei Schottelius eine vollkommen ungeordnete Anhäufung einzelner Phraseologismen ist. Dies ist ihm selbst durchaus bewusst. Aber auch eine Sammlung in dieser Form kann das gesteckte Ziel erreichen. Zum einen soll die spezifische Leistungskraft der deutschen Sprache bewiesen werden. Zum anderen soll dem Leser der Liste vor Augen geführt werden, dass sich die deutsche Sprache erst demjenigen voll erschließt, der auch ihre Sprichwörter kennt. [Wenn der Leser auch die Unvollständigkeit und die Ungeordnetheit der Liste in Kauf nehmen muss, so gilt doch:] „Zum wenigsten kan der Leser d a b e y der Teutschen Sprache rechte A r t und Ausspruch oft w a h r n e h m e n : 55

Schottelius, AA, S. 1102: „Der Kern der Wissenschaft/ der Schluß aus der Erfahrung/ der Menschlichen Hendel kurtzer Ausspruch und gleichsam des weltlichen Wesens Spiegel/ stekket in den Sprichwörteren und stellet sich jedermänniglich klar vor Augen." Schottelius, AA, S. 1111: „In den Sprichwörteren oder in den Sprichwörtlichen Redarten stekket der rechte schmak/ rechte Kühr und das eigene der Sprache; Dan ein Sprichwort [ . . . ] nimmt seine Ankunft als ein eigenes angebornes Landkind im Lande/ wechset und wird gebohren den Landsleuten im Munde/ und ist also ein natürlich Klang der Sprache und ein Ausspruch und Schluß dessen/ was als eine Teutsche Landlehre/ bekant worden." 56 Schottelius, AA, S. 1102. st Harsdörffer, FZG II, S. 327-434.

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und dieses beobachten/ daß leichtlich niemand sich einbilden dürfe in Teutscher Sprache sonderliche K u n s t / es sey Schrift= oder Mündlich/ z u t h u n / wan er nicht der rechten Teutschen Redarten zugleich mit kündig/ und also vor Teutschen Ohren rechten Teutschen Klang und Thon mit anzubringen wisse [ . . . ]." 5 8 Die S a m m l u n g selbst besteht z u m ü b e r w i e g e n d e n Teil aus der u n k o m m e n t i e r t e n R e i h u n g einzelner Phraseologismen. N u r selten k o m m t eine lateinische B e d e u t u n g s a n g a b e oder eine explizite H e r l e i t u n g vor. Dies u n t e r s t r e i c h t zusätzlich den d e m o n s t r a t i v e n Zweck der S a m m l u n g . C o p i a v e r b o r u m u n d V a r i e t ä t e n t a u g l i c h k e i t : Belegten die vergleic h e n d e n Listen das Sprachalter u n d den genetischen Vorrang des D e u t s c h e n , die A u t o r e n l i s t e n die deutschsprachige T e x t t r a d i t i o n u n d die N a m e n s - bzw. Sprichwörterlisten die spezifische welterschließende F u n k t i o n der d e u t s c h e n Sprache, so zielen die nachfolgenden Beispiele stärker auf ihre S y s t e m e i g e n s c h a f t e n („Füglichkeit") u n d auf ihr V e r w e n d u n g s p o t e n t i a l ab. W e n n S c h o t t e lius in der AA die Derivation u n d K o m p o s i t i o n der S t a m m w ö r t e r b e s c h r e i b t , b e g n ü g t er sich nicht d a m i t , a n h a n d einzelner Beispiele das z u g r u n d e liegende P r i n z i p zu e r ö r t e r n . F ü r die D e r i v a t i o n s e n d u n g e n legt er jeweils a u s f ü h r l i c h e Beleglisten a n 5 9 . Gleiches gilt f ü r die E r ö r t e r u n g der K o m p o s i t i o n . A u c h hier erstellt er detaillierte Belegreihen, die teilweise a m G r u n d w o r t , teilweise a m B e s t i m m u n g s w o r t orientiert sind. Die b e h a n d e l t e n L e m m a t a sind nicht a l p h a betisch geordnet. Lässt sich die Liste m i t den W o r t b i l d u n g e n aus Derivationse n d u n g e n ansatzweise noch als Nachschlagewerk verwenden, so trifft dies f ü r die K o m p o s i t a l i s t e n in der AA nicht m e h r zu. D a d u r c h , dass weder die Lemm a t a selbst, noch die mit ihnen v e r b u n d e n e n K o m p o s i t a e i n e m s i c h t b a r e n O r d n u n g s p r i n z i p folgen, wird die g e s a m t e A u f z ä h l u n g zu einer d e m o n s t r a tiven Reihung. Schon durch die bloße K o m p o s i t a m e n g e wird d e m Leser die besondere „Füglichkeit" der d e u t s c h e n Sprache gezeigt. [Einleitend zur Kompositasammlung in der AA] „Folget also eine zimliche Anzahl Teutscher Nominum compositum, von derer Deutung und Füglichkeit der Leser selbst uhrteilen kan [ . .. ]." 6 0 Schottelius v e r s ä u m t es nicht, darauf hinzuweisen, dass es sich nur u m einen A u s s c h n i t t h a n d e l n kann, den er selbst z u s a m m e n g e t r a g e n h a t . Die D e r i v a t a u n d K o m p o s i t a l i s t e n in der AA sind nur besonders anschauliche Beispiele, die sich u m kürzere Listen und A u f z ä h l u n g e n e r g ä n z e n ließen. So h a b e n letztlich auch die Sprachspiele, bei d e n e n Derivata u n d K o m p o s i t a gebildet werden müssen (s. §91 u n d §92), das Ziel, d e m Leser dieses Gesprächspieles das W o r t b i l d u n g s p o t e n t i a l seiner Sprache zu beweisen. Auch im S P G finden sich k ü r z e r e R e i h u n g e n , ζ. B. wenn die Vorzüge der d e u t s c h e n vor der lateinischen S p r a c h e an den Kompositionsmöglichkeiten des Lexems lust als G r u n d - o d e r B e s t i m m u n g s w o r t vorgeführt wird: 58 Schottelius, AA, S. 1112. 59 Schottelius, AA, S. 323-398 60 Schottelius, AA, S. 410.

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Spracharbeit und Lexikographie „In Nominibus verö nectendis [ . . . ] Lingua Latina, est. Unum ex plurimo dabo; Nos dicimus: Wollust/ Weltlust/ Bücherlust/ Blumenlust/ Herrenlust/ Saufflust/ Spiellust/ & inverso modo. Lusthaus/ Lustseuche. Lustweg. Lustspiel. Lustgarten.

nostra,

plane

inferior

Lustreise/ oder Spatzirreise."61 Die Derivata- und Kompositareihungen haben primär den Zweck, Beweismittel zu sein. Demgegenüber haben „Poetische Schatzkammern" wie die von Harsdörffer darüber hinaus auch den praktischen Zweck, als Nachschlagewerk für die poetische Produktion nutzbar zu sein. Bei der „Prob und Lob der Teutschen Wolredenheit" 62 handelt es sich um ein Lexikon übertragener Lesarten und Bedeutungen zu Lemmata aus einem poetisch relevanten Themeninventar. Harsdörffer war ein Vorreiter für diese Art von Sammlungen 63 . Die entsprechenden Artikel werden so für den Ratsuchenden nicht nur zu einer Fundgrube sprachlicher Ausschmückungen, sondern er erhält auch Hinweise zum angemessenen Gebrauch 64 oder auch sprachlich relevante Informationen zur Verwendung 65 , zur Etymologie und zur Orthographie 66 . Insgesamt leistet Harsdörffer hier praktische Spracharbeit, indem er ζ. B. verschiedentlich die Worterklärungen selbst in Gedichtform verfasst (s. „Abschied" 67 ).

ei Vgl. Harsdörffer, SPG, S. 293. 62 Harsdörffer, P T III, S. 114-504. 63 Vgl. Windfuhr (1966), S. 73: „1653 eröffnet Harsdörffer die neue Phase mit seiner Sammlung »Poetischer Beschreibungen/ verblümter Reden und Kunstzierlicher Ausbildungen« im dritten Teil des »Poetischen Trichters«." 64 Vgl. Harsdörffer, P T III, S. 115 zum poetischen Einsatz von Aas: „Wann nicht der Inhalt deß Gedichtes/ nohtwendig dergleichen abscheuliche Sachen zu beschreiben erfordert/ sol sie der Poet vermeiden: Massen solche einen Ekel verursachen können/ er aber seine Erfindungen beliebt zumachen bemühet seyn sol." 65 Vgl. Harsdörffer, P T III, S. 117 zur Partikel aber: „Das Wörtlein Aber wird zierlicher nachständig als vorständig gebrauchet also: Wann aber der Tröster/ &c. nicht: Aber wann der Tröster kommen wird &c." [Fettdruck getilgt], 66 Vgl. Harsdörffer, P T III, S. 121 zum Lemma Almosen: „Wird mit einem L. geschrieben/ weil es von Eleemosyna herkommet/ und eines unter denen Wörtern ist/ welche das Teutsche Bürgerrecht erlanget haben; müsst sonsten heissen die Armengabe." Eine zutreffende Herleitung, vgl. Kluge (1989), S. 21; Duden (1989), S. 29f. 67 Harsdörffer, P T III, S. 118: „Wer Bulerscheiden Scheiden nennet/ ein blosses Scheiden wie man pflegt/ desselben Hertz hat nie gebrennet/ von solcher Glut die Liebe hegt."

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So detailliert und explizit wie für den Bereich der Literatur wurde die Tauglichkeit der deutschen Sprache in Form von Listen für andere Bereiche nicht durchgeführt. Dennoch kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch die anderen kommunikativen Bereiche für die deutsche Sprache erschlossen werden sollten u n d erschließbar waren. Auf die Bedeutung der deutschen Sprache für den gesamten weltlichen und geistlichen Varietätenbereich hat Harsdörffer bereits in der STS explizit verwiesen 6 8 . An verschiedenen Stellen demonstriert er, dass dies auch für die Fachsprachen gilt. In der Praxis verhält es sich jedoch oftmals so, dass den Experten die fremdsprachlichen Termini v e r t r a u t e r sind, als mögliche deutsche Entsprechungen. Dies gilt ζ. B. für die Fachsprache der „Baukunst". ,,R[eymund], Weil nun diese hochbelobte Baukunst von den Griechen und Römern zu uns gekommen ist/ sind derselben viel fremde Wörter/ fremde Sachen bedeutend/ eingeflochten/ die man zwar wol teutsch geben kan/ dem Werkmeister aber meinsten Theils in fremder Sprache bekanter sind. Der Grundriß* [Randnote: Ichnographia] wird mit dem Cirkel und Lineal/ nach dem verjüngten Maßstab/ aufgetragen. Auf demselben wird die erste oder förderste Seiten/ * [Randnote: Orthographia] oder auch wann man wil/ und kein Anstösser ist/ alle die vier Seiten* [Randnote: Scenographia] aufgeführet/ daß man/ wie in sie in das Gesicht kommen/ erkennen kan. In diesem ersten Entwurff des Gebäus ist die Ebenmaß* [Randnote: Eurythmia oder Symnietria] oder Gleichartung aller desselben Theile leichtlich zu bemerken oder einzurichten [ . . . ]." 69 Alle besprochenen Listentypen tragen in unterschiedlicher Weise zur Aufwertung bzw. zur Legitimation der deutschen Sprache bei. Teilweise sind sie als Nachschlagewerke gedacht und verwendbar wie z . B . die „poetische Schatzkammer" Harsdörffers. Oftmals sollten sie jedoch durch die bloße Reihung der Einträge überzeugen. §111: Ein weiterer Sonderfall in den Anwendungsgebieten der Spracharbeit bilden die bella grammaticalia. Diese hatten — wie die Wörterlisten u n d die Verzeichnisse — eine Doppelfunktion. Wie die Listen sollten sie der Neubewertung und Prestigesteigerung der deutschen Sprache dienen. Daneben h a t t e n sie jedoch auch einen didaktischen Zweck. Die a b s t r a k t e Materie der deutschen G r a m m a t i k wurde in einer Erzählung erlebbar, indem die W o r t a r t e n als handelnde K o m b a t t a n t e n auftraten. In der Schilderung des Sprachkrieges wurden grammatische Grundlagen und Sprachwandelphänomene erörtert. Spracharbeit setzte also an dieser Stelle — wie die Wortlisten — auf einer Metaebene ein. Es ging u m die Vermittlung von Systemspezifika der deutschen Sprache. Dieser zweifache Nutzen der bella grammaticalia für die Spracharbeit wird insbesondere an der Version von Schottelius von 1673 70 deutlich. Der Sprachkrieg gerät hier nicht nur zu einer Folie, auf der m a n g r a m m a t i s c h e P h ä n o m e n e veranschaulichen kann. Er wird zugleich als Erklärung dafür her68 Harsdörffer, STS, S. 358 f. 69 Harsdörffer, FZG VIII, S. 477 f. 70 Schottelius (1673/1991).

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angezogen, weshalb die zeitgenössische deutsche Sprache augenscheinlich teilweise so weit entfernt von der „uhralten", idealen deutschen Sprache ist. Dennoch können auch diese Scharmützel an der langue als solcher nichts ändern. Im Gegenteil: Durch die Schilderung des Wörterkrieges kommen erst recht die unzerstörbaren sprachsystematischen Grundlagen der deutschen Sprache, die selbstverständlich auch für die deutsche Sprache des 17. Jahrhunderts gelten, zum Vorschein. In Harsdörffers Schilderung des „Wörterkrieges" liegt dagegen der Schwerpunkt auf der Vermittlung grammatischen Wissens, weniger auf dem Nachweis des Sprachalters. Mit dem „Sprachkrieg" stehen Schottelius und Harsdörffer in der Tradition des bellum gramamaticale von Andrea Guarna von 151171. Guarnas Werk bezog sich auf die lateinische Sprache und deren Unregelmäßigkeiten. Es war auch im 17. Jahrhundert bekannt. Verschiedene Ubersetzungen lagen vor 72 . Eine Übertragung auf die deutsche Sprache bot sich daher an. Während Harsdörffers Version noch stärker der Tradition verpflichtet ist, löst sich Schottelius mit seiner sehr differenzierten Darstellung nahezu gänzlich von den Vorlagen 73 . Beide weisen nicht nur in ihren Zielsetzungen, sondern auch strukturell Parallelen auf. In beiden Texten ist die Schilderung der Kriegsparteien, der Kriegsverlaufes und der Kriegsfolgen metaphorisch abgebildet auf die einzelnen Wortarten und ihre grammatischen Besonderheiten, sowie auf bestimmte Sprach Wandelphänomene. Der Hauptunterschied zwischen beiden Versionen besteht im unterschiedlichen Grad der Ausarbeitung. Der kurze Text Harsdörffers war lediglich als Grundlage eines Gesprächspiels gedacht. Von daher sollte er — wie viele andere Gesprächspiele auch — den Leser dadurch zur Nachahmung anregegen, dass der Inhalt eben nicht bis ins letzte Detail ausgearbeitet war. Demgegenüber ist das Werk von Schottelius deutlich elaborierter. Es stellt eine vollständig ausgearbeitete Erzählung des gesamten Geschehens dar, inklusive einer Rahmenhandlung, in der ein „Runer" (Dichter/Weiser) die Handlung in Versen kommentiert. Da es in unserem Zusammenhang stärker um die Funktion der bella grammaticalia für die Spracharbeit geht, genügt es, ihre Struktur in den Grundzügen darzustellen. Deshalb bildet Harsdörffers Version die Grundlage. Lediglich in bestimm7

1 Vgl. Meissner (1924), S. 258 und Hecht (1995), S. 7*. Zur Tradition der bella grammaticalia Bolte (1908) und Müller (1896). 72 Müller (1896), S. 451 hebt besonders die Ubersetzung von Buno (1650) hervor. Buno bleibt in seinem Sprachkrieg insofern der lateinischen Sprache verbunden, als er das Ziel darin sieht, die Grammatik der lateinischen Sprache leichter fassbar zu machen. Dies zeigt sich daran, dass die Kriegsteilnehmer, die Truppenteile usw. ganz der lateinischen G r a m m a t i k angehören. Z.B. Buno (1650), S. 13 bei der Beschreibung des Heers der Participia: „Am aller ersten haben sich eingestellt die da ausgehen in ^4ns und Ens, in Tus, Sus, Xus, Rus, und in Dus: Samt den Nominibus Verbalibus in Tor, und in Trix, und dergleichen/ [ · • • ] Aber auch die Gerundia und Supma, damit sie den Innerlichen Bürger Krieg meyden möchten/ sind wiederumb von dem Verbo zu dem Participi übergelaufen." Die Anwendung auf die deutsche Sprache von Harsdöffer (FZG V) kennt Buno. Er verweist explizit auf sie. 73 Müller (1896), S. 506: „Dasz Schottel von seinen Vorgängern abhieng oder auch nur von ihnen angeregt wäre, läszt sich nicht sagen [ . . . ]."

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t e n Einzelfällen kann daher noch auf die wesentlich komplexere F a s s u n g von Schottelius eingegangen werden 7 4 . In der g r a m m a t i s c h e n Terminologie u n d S y s t e m a t i k , die den b e i d e n Heeren u n d ihren Untergliederungen z u g r u n d e liegt, bezieht sich H a r s d ö r f f e r auf Schottelius 7 5 . Es ist wahrscheinlich, dass Harsdörffer G u a r n a s bellum grammaticale gekannt h a t 7 6 . Die k r i e g f ü h r e n d e n P a r t e i e n sind die beiden G r o ß g r u p p e n der W o r t a r t e n . Auf der einen Seite die „ N e n w ö r t e r " , zu d e n e n hier a u c h die P r ä p o s i t i o n e n u n d P r o n o m i n a gerechnet werden; auf der a n d e r e n Seite die „Zeitwörter". N e u t r a l in diesem Krieg sind die „ M i t t e l w ö r t e r " ( P a r t i z i p i e n ) , was sich aus ihrer s p r a c h s y s t e m a t i s c h e n M i t t e l s t e l l u n g zwischen den N e n n u n d Zeitwörtern ergibt 7 7 . Bei e i n e m Gelage g e r a t e n die beiden P a r t e i e n in Streit. Kriegsgrund u n d - a n l a s s ist die Uneinigkeit ü b e r den s p r a c h s y s t e m a tischen Vorrang. J e d e P a r t e i b e g r ü n d e t kurz, weshalb ihr der Vorrang g e b ü h r e u n d v e r m i t t e l t d a m i t bereits g r a m m a t i s c h e s Wissen. Die N e n n w ö r t e r ziehen sich auf ihre Referenzeigenschaften zurück. „Was vermöchte doch das Zeitwort/ ohne mich? man würde seine Rede so wenig verstehen können als einen S t u m m e n / der einen Blinden unterrichtet: Ich bin das erste/ und stehe jedesmals obenan: Und billich/ denn G O t t / der auch ein Stiffter der Zeit und vor allen Zeiten gewesen ist/ wird durch das Wort genennet/ welches ist Fleisch worden. Johannes der grösste von Weiberen geboren/ ist ein Nennwort und kein Zeitwort. Ist sich also zu verwunderen/ daß bey so Sonnenklarer Wahrheit sich jemand findet/ der mir widersprechen darf." 7 8 Der König der Zeitwörter „Hör" lehnt diese A r g u m e n t a t i o n a b u n d verweist d a r a u f , dass die N e n n w ö r t e r im Satz stets von den Zeitwörtern regiert werden. O h n e die Zeitwörter k ö n n t e n also die N e n n w ö r t e r ihrer R e f e r e n z f u n k t i o n gar nicht gerecht werden. Z u d e m seien die N e n n w ö r t e r von den Z e i t w ö r t e r n abgeleitet. Darin k o m m t die Ansicht z u m A u s d r u c k , dass die G r u n d f o r m des S t a m m w o r t e s der I m p e r a t i v Singular des Verbs sei. „Aber dieses alles/ weches [!] ohne mich nit kan außgeredet werde [die biblischen Argumente des Nennwortes - Μ. H.]/ will ich übergehen und allein erwehnen/ daß jederzeit in diesem Reich das N e n n = W o r t / von dem Zeitwort ist regieret/ und dasselbe/ gleichsam mit Pflichten verbunden worden. Ohne mich und die Meinen können sich die Nenn=Wörter nicht f ü g e n / 74

A u f b a u und S t r u k t u r des bellum grammaticale von Schottelius ist von Müller (1896) sehr detailliert erörtert worden, auf den an dieser Stelle verwiesen sei, vgl. Müller (1896), S. 506-515. 75 Vgl. die M a r g i n a l n o t e n in Harsdörffer F Z G V, S. 192 u n d S. 190: „Die E r f i n d u n g dieser A u ß b i l d u n g ist nach H. Schottels S p r a c h k u n s t [1. Auflage von 1641 - M . H . ] g e r i c h t e t . " 76 Vgl. dazu Müller (1896), S. 455. 77 Harsdörffer, F Z G V, S. 193: ,,R[eymund], Die M i t t e l w ö r t e r haben sich in diesen S t r e i t nicht einflechten lassen/ ob sie zwar jederseits von ihren Freunden bittlich u n d betrohlich angelanget w o r d e n / sondern h a b e n sie zur Fried u n d E i n t r ä c h t e n / j e d o c h o h n e Nachduck [!]/ e r m a h n e t . " Bei Schottelius, der die einzelnen T r u p p e n als S p r a c h e l e m e n t e stärker differenziert, treten als N e u t r a l e auch noch die s u b s t a n t i v i e r t e n Verben u n d die Sprichwörter auf. 7 8 Harsdörffer, F Z G V, S. 188 [Fettdruck getilgt].

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Spracharbeit und Lexikographie oder eine gantze Meinung schliessen. Ohne mich kan kein Verstand in die Rede gebracht werden: J a / von mir und den Meinen sind die Nennwörter erzeuget/ [ . . . ]." 79

Nachdem diese Grundpositionen ausgetauscht worden sind, kann dazu übergegangen werden, die Schlachtordnung zu schildern. In dieser Schilderung werden die grammatischen Besonderheiten der einzelnen W o r t a r t e n als Truppenteile personifiziert. Dem König der Zeitwörter „Hör" stehen zwei H a u p t heere zur Seite, nämlich „Gleichfliessende und ungleichfliessende Zeit Wandelungen" 8 0 . Diesen reiten die „drey HülfFwörtlein: Sey/ W e r d e / und H a b " 8 1 voran. Das Offizierskorps besteht aus den beiden Feldmarschällen Aktiv und Passiv, den fünf Obersten als Tempora und den vier H a u p t l e u t e n Imperativ, Indikativ, Konjunktiv und Infinitiv (Modi) 8 2 . Dem steht das Heer der Nennwörter auf der anderen Seite gegenüber. Sein rechter Flügel wird von den Präpositionen und den Pronomina, sein Linker Flügel von den Komposita, den Derivationsendungen und der Komparation gebildet. Das H a u p t h e e r stellen die Genera und ihre Kombinationsmöglichkeiten in Numerus und Kasus dar. Bemerkenswert ist hier ein metaphorisches Detail: die Sturmleiter der Komparation. In Fortführung der Metapher werden die Sprossen dieser Leiter beschrieben als die drei Steigerungsformen. Die Truppenbeschreibung geht in eine Grammatiklektion über. ,,R[eymund]. Die Leiter der Ergrösserung hat nur drey Sprüssel oder Stuffen. I. das Stammwort/ als: Starck/ Groß/ Stumm. Die II. hat er/ und wandelt a / o / u/ in ä / ö/ ii/ als: Stärcker/ Grösser/ Stummer. III. die höchste hat nach ihrem Geschlecht stes/ ste/ ster/ als: stärkstes/ gröste/ stümmster." 8 3 Der Krieg zeitigt für beide Parteien Verluste, die Harsdörffer an Endungsverlusten, Synkopierungen und Vereinheitlichungen der Schreibung festmacht. So werden den Artikeln und Pronomina im Akkusativ und Dativ ihre ursprünglichen Endungen (en, es, es) „nidergemachet" 8 4 . Gleiches gilt für die Nennwörter, die im Nominativ ihr r verlieren, was die Differenz zwischen starker und schwacher Deklination markiert 8 5 . Dem ck vor Konsonant wurde das 79 Harsdörffer, FZG V, S. 189 [Fettdruck getilgt]. 80 Harsdörffer, FZG V, S. 191. si Harsdörffer, FZG V, S. 191. 82 Der Optativ wird von Harsdörffer, der sich dabei an Schottelius orientiert, bei den Modi bereits weggelassen, der Infinitiv noch hinzugerechnet, vgl. dazu Donhauser (1986), S. 38 f. 83 Harsdörffer, FZG V, S. 193. 81 Harsdörffer, FZG V, S. 195: „Im ersten Angriff ist der G e b = und Klagendung der mehreren Zahl der Geschlechtwörter der/ die/ das die letzte Silben nidergemachet word e n / daß sie nunmehr an statt derer/ und denen/ heissen/ der/ den: wie auch den vornefiwörteren es/ Seiner/ Euerer/ und Irer/ das er dem Dessen/ das en/ dem Unseres/ das [!]/ dem Unserem das es; daß sie jetzund in der Geschlechtordnung heissen/ sein/ e u r / I h r / deß/ unser/ unserm." [Fettdruck getilgt], 85 Harsdörffer, FZG V, S. 195: „Unter den Nennwörteren sind auch etliche verwundet/ und beschädiget darvon kommen/ die Männliche Nennendung er hat das r. verlohren/ daß man nicht sagt der Allmächtiger/ der Gnädiger/ der Barmhertziger/ sondern der Allmächtige/ Gnädige/ Barmhertzige Gott:"

Anwendungsfelder

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c „weggeschossen", zudem verlieren sich b, ρ und e in vielen Nennwörtern. Die E n d u n g - s c h a f f t büßte ein / ein, ebenso die Präposition auff. S, ρ und b in den Präpositionen auß, sampt, umb sind ebenfalls Kriegsverluste 8 6 . Aber auch die Zeitwörter h a t t e n unter dem Krieg zu leiden. Die Modalverben verloren die Fähigkeit, Imperative zu bilden, einige Verben mussten e-Synkopen hinnehmen 8 7 . In den Detailschilderungen werden Spezifika der deutschen G r a m m a tik und der Orthographie vermittelt. Dies findet in derselben Art bei Schottelius s t a t t (s.u.). Beim Friedensschluss, den die neutralen Partizipien und Konjunktionen vermitteln, verfährt Harsdörffer diplomatisch. Wie Schottelius verzichtet er darauf zu entscheiden, ob nun die Verba oder die N o m i n a den Vorrang haben. Er plädiert für eine friedliche Koexistenz 8 8 . Wie bereits erwähnt, nutzt Harsdörffer nicht alle metaphorischen Möglichkeiten aus. Einige deutet er nur an, so wenn er i und u als Spione im Lager der Konsonanten unter der Maske von j und υ vorstellt 8 9 oder wenn er die keilförmige Schlachtordnung der Komposita umsetzt. „Das Grundwort Mit Beyfügung Nach der zweyten Art. Nach der dritten Art. Nach der vierten Art.

Mann/ Haubtmannn [!]. Land=Haubtmann/ Ober=Land=Haubtmann/ Ober=Berg=und Land=Haubtmann/" 9 0

Dass Harsdörffer die literarische Form des bellum grammaticale als Mittel der Spracharbeit verstanden hat, machen die Ausführungen von R e y m u n d deutlich. Auf die Kritik von Julia hin, dass „diese Erfindung" dem Sprachexperten nichts Neues sage und dem Unwissenden zu wenig über die deutsche Sprache mitteile, entgegnet R e y m u n d , der Text könne keinen f u n d i e r t e n Sprachunterricht ersetzen. Aber er diene als Katalysator dafür, dass der Leser sich ü b e r h a u p t mit der deutschen Sprache beschäftige und sie verwende. „29 Rfeymund], Es ist ein guter Einwurff [von Julia - Μ. H.]. Ich antworte hierauf also: Sind sie Teutschgelehrte/ so werden sie sich mit belusten erinnern/ wz sie in unterschiedlichen Büchern hiervon gelesen; Sind sie der Sachen unbericht/ so werden sie hierdurch veranlasset werden/ dieser Spracharbeit weiter nachzuforschen/ und solcher Gestalt alles viel leichter als sonsten bemercken." 91 Die Dramatisierung der G r a m m a t i k soll den Leser aufgeschlossen gegenüber dem Gegenstand der Spracharbeit machen. Durch den Wechsel zur Vermittlungstextsorte — Literarisierung s t a t t Abhandlung — soll eine breitere Rees Harsdörffer, F Z G V, S. 195 f. 87 Harsdörffer, F Z G V, S. 196: „etlichen [Verben - M . H . ] ist d a s g e / etlichen d a s e weggeschossen worden. D a ß m a n nun s a g t / l i e b t / g e b t / s a g t / für l i e b e t / g e b e t / s a g e t . " 88 Harsdörffer, F Z G V, S. 196 f.: „ [ . . . ] h a b e n die Mittel u n d F ü g e w ö r t e r [ .. . ] beide Theil d a h i n b e r e d e t / [ · • · ] d a ß beide N e n n = und Zeitwörter in ihren alten E h r n s t a n d / freundliches v e r n e i n e n / verständige H ü l f b i e t u n g / und alles in vorgewesene Fügnissen gesetzet seyn s o l t e / m i t Vergleichung beiderseits aufgeloffener U n k o s t e n und S c h ä d e n . " 89 Harsdörffer, F Z G V, S. 197. 90 Harsdörffer, FZG V, S. 198. Harsdörffer, FZG V, S. 199.

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Spracharbeit und Lexikographie

zeption des Stoffes gesichert werden. Dies gilt in noch viel stärkerem Maße für den „Wörterkrieg" von Schottelius, der in seiner Elaboriertheit wesentlich m e h r Sprachfakten metaphorisch umsetzen kann. Abschließend sei noch auf wenige Besonderheiten hingewiesen, die das bellum grammaticale des Schottelius auszeichnen. Auf seine größere Elaboriertheit wurde bereits hingewiesen. Dies betrifft nicht nur die Schilderung der einzelnen Truppenteile, in der einige Einheiten auftauchen, die bei Harsdörffer noch fehlen, z . B . die trennbaren Affixe bei Verben, die Adverbien, l a u t m a lende W ö r t e r , Sprichwörter, Interjektionen etc. Auch die Gesamtanlage des Werks ist komplexer. Es ist zweigeteilt. Im ersten Teil wird der Zustand des Sprachreiches vor dem Krieg geschildert, was einer Beschreibung der „uhralt e n " d e u t s c h e n Sprache gleichkommt. An oberster Stelle stehen die S t a m m wörter (Kaiser), von denen sich erst die Königreiche der Z e i t - und Nennwörter ableiten. „[ . . . ] die S t a m w ö r t e r / als alte/ ansehnliche/ breit= und knebelbärtige Männer/ hatten eiserne Schuh und kieselsteinerne Füsse/ drauff sie fest und unwankelbar stunden/ und Seulengleich einher gingen [ . . . ]." 92 Deutlich ist hier die Parallele zur Beschreibung der Stammwörter in der vierten Lobrede der AA mit Hilfe der Gebäudemetapher 9 3 . Die ausführliche Beschreibung des Sprachreiches ist ein Gang durch die G r a m m a t i k der deutschen Sprache, auf die die Phasen der politischen Intrige, der Kriegserklärung und — hier beginnen wieder die Parallelen zu Harsdörffer — der Kriegsführung und der Kriegswirkungen folgen. Bemerkenswert ist dabei, dass Schottelius in noch stärkerem Maße als Harsdörffer grammatische Details metaphorisch umsetzt u n d so zu erklären versucht. So lassen sich die unregelmäßigen bzw. im P a r a d i g m a unvollständigen Formen der Verben kiesen und niesen als Kriegsfolge darstellen. Sie sind kriegsgeschädigt. „Kopf und Leib zwar hiessen/ ich kiese, du kiesest, er kieset/ Arm und Bein aber muste sich hernach nur nennen ich kohre/ du kohrest/ erkohren. Der Dragoner N i e s e n wurde gantz zum Krüppel gehauen/ und nam sein Anverwandter G e n i e s s e n / hinfort seinen Wörterplatz ein. Das tapfere Wort Sinnen velor dergestalt Leib und Glieder/ daß nur sein rechter Fuss/ g e s o n n e n / übrig blieb." 94 Liegt hier eine Reduktion möglicher Verbformen vor, so ist auch ein besonders produktives Verb aus dem Kriegsverlauf deutbar. Am Beispiel von brechen, das in seinen möglichen Formen die gesamte Vokalreihe a, e, i, o, u aufweist — von den Kompositionsmöglichkeiten ganz abgesehen — wird dies veranschaulicht. „Der Zeitwörtliche Dragoner=Haubtman B r e c h e n / hatte über hundert Nennwörteren an einem Passe die Hälse zerbrochen/ deshalber ward er und seine Nachkommen fünfschildig/ und mit selblautender Ehr/ vom Könige 92 Schottelius (1673/1991), S. 37. 93 Vgl. Schottelius, AA, S. 50; s. §85, S. 248. Μ Schottelius (1673/1991), S. 135.

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Lob im freien Felde begäbet/ daß er/ und seine Angehörige in ihrem EhrenSchilde führen solten / a / e / i/ o / u / als B r a c h / B r e c h / B r i c h / geb r o c h e n / Bruch: welches eine sonderliche fünffache SprachWürde war." 9 5 Das Kriegsende bleibt bei Schottelius offen. Es k o m m t nicht zu e i n e m Friedensschluss. Dies liegt d a r a n , dass es Schottelius nicht darauf a n k o m m t , Gew i c h t u n g e n i n n e r h a l b der G r a m m a t i k das Wort zu reden. Er will v i e l m e h r zeigen, dass der jetzige, o f t m a l s verworrene u n d von der idealisierten langue e n t f e r n t e S p r a c h z u s t a n d Folge dieser A u s e i n a n d e r s e t z u n g e n ist. Hier wird der e r s t e Teil, die Schilderung des Sprachreiches vor d e m Krieg, wieder relevant. W i e im Sprichwort so gilt auch f ü r die deutsche Sprache: „Wolte aber einer alhier das Kind mit dem Bade ausschütten/ als ob die alte rauhe/ knorrige Teutsche Sprache niemals in einer Zier und völligem guten Wesen bestanden/ sonderen es wäre/ nur unförmliches Gemurmel und kunstloses unsprachmessiges Wörtergeknarr gewesen/ und wäre vergebens/ in ungewissen Wegen/ gewissen Fuß zusetzen; Der muß ihm berichten lassen/ daß er bei seinem/ in diesem Punct verhandenen Unverstände/ zehen Baurenschritte von der Sprachwarheit abtrete." 9 6 K o n s e q u e n t m e t a p h o r i s c h weitergedacht ergeben sich auch die d e u t s c h e n Dialekte, die Schottelius j a als Abweichungen u n d V e r ä n d e r u n g e n des idealen Urd e u t s c h e n ansieht, als Kriegsfolgeschäden. Diese Abweichung der M u n d a r t e n von der langue m a c h e n das F e h l e r h a f t e an ihnen aus 9 7 . „[ . . . ] weil Zunge/ Lippe und Maul den Teutschen verkrümmet w a r / kunte man auch hin und wieder die Stammwörter und Wurtzelen selbst nicht mehr recht und natürlich aussprechen/ [ . . . ]/ Zum Exempel die Stammwörter Groß, M u h t , M i c h wurden hin und wieder ausgesprochen/ als für G r o s / kroos/ k r a a t / g r u o t / g r a u t / grat. Für M u h t / m u a t / muato, kmuet, moet, moot. Für M i c h / meek/ mek/ mi/ mei/ mik. Und also durch und durch/ wodurch aus einer reinen Sprache/ hunderterlei ungewisse seltzame Mundarten entstanden sind." 9 8 Sowohl das bellum grammaticale von Schottelius als auch das e n t s p r e c h e n d e Gesprächspiel bei Harsdörffer werden ihrer D o p p e l f u n k t i o n in Bezug auf die S p r a c h a r b e i t gerecht. Sie sind e b e n nicht nur didaktische Hilfsmittel im G r a m m a t i k u n t e r r i c h t . F ü r die Version von Harsdörffer ließe sich noch so argum e n t i e r e n . Sie b e t r e i b e n d a r ü b e r h i n a u s in s t a r k e m M a ß e S p r a c h l e g i t i m a tion d a d u r c h , dass sie auch die sprachphilosophischen G r u n d a n n a h m e n n e b e n den g r a m m a t i s c h e n T a t s a c h e n i m engeren Sinne t h e m a t i s i e r e n . Besonders der k o m p l e x a u s g e a r b e i t e t e „ W ö r t e r k r i e g " von Schottelius m a c h t dies deutlich. Insofern betreiben beide T e x t e S p r a c h a r b e i t auf der M e t a e b e n e der G r a m m a t i k v e r m i t t l u n g u n d der Sprachlegitimation.

95 Schottelius (1673/1991), 96 Schottelius (1673/1991), 97 Vgl. Schottelius, AA, S. AA, S. 152ff. 98 Schottelius (1673/1991),

S. 136. S. 16 f. 41 m i t denselben Beispielen wie im nachfolgenden Z i t a t sowie S. 144.

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Spracharbeit und Lexikographie

§112: Wenn man die Rolle des Sprachpurismus im Zusammenhang mit der Spracharbeit erörtert, so lassen sich zwei Schlagwörter nennen: Kompromissbereitschaft und Diskussion. Wie die nachfolgenden Skizzen zu Schottelius, Gueintz und Harsdörffer zeigen werden, war das Verhältnis zum Fremdwort in der Sprachpraxis deutlich entspannter, als man es aus dem Rückblick der Forschung erwarten würde. Die Konzessionen, die man dem usus machte, wurden in Listen erfasst. Die Fremdwörter, bei denen noch keine Einigkeit darüber erzielt werden konnte, ob sie nun besser durch deutsche Neubildungen ersetzt oder beibehalten werden sollten, wurden als Diskussionsgegenstände für die Spracharbeit genutzt. Es ist also mit Blick auf die Spracharbeit deutlich zu unterscheiden zwischen den theoretischen Forderungen und den praktischen Umsetzungen. Während die theoretischen Forderungen deutlich sprachpuristisch waren und insbesondere die Alamode-Sprechweise der Zeitgenossen geißelten", wurde in der Sprachpraxis dem eingebürgerten Sprachgebrauch insbesondere im Bereich der Fachterminologien Konzessionen gemacht. Der Sprachpurismus des 17. Jahrhunderts wird häufig mit Philipp von Zesen identifiziert. Er gibt das Leitbild des Hyperpurismus ab. Allerdings ist auch bei der Beurteilung Zesens Vorsicht geboten. Nicht nur, dass sich seine puristische Haltung erst allmählich ausbildete und zu der extremen Form entwickelte 100 , sondern auch die Tatsache, dass gerade diese kompromisslose Haltung bei den Zeitgenossen auf Ablehnung stieß, sollte berücksichtigt werden. Darauf verweist Jones, der die Entwicklung Zesens kurz nachzeichnet 1 0 1 . Zudem sahen die Zeitgenossen in Zesen neben dem Puristen stets auch den radikalen Orthographiereformer, was seiner Akzeptanz abträglich war 1 0 2 . Im Folgenden steht daher die für die Spracharbeit weitaus bedeutendere Kompromisshaltung von Autoren wie Hardörffer, Schottelius und Gueintz im Vordergrund. S c h o t t e l i u s hat sich an ganz unterschiedlichen Stellen zur Fremdwortfrage geäußert 1 0 3 . Der Sprachtheoretiker argumentierte dabei vom postulierten System der deutschen Sprache aus. Für den Sprachpurismus h a t t e dies entscheidende Konsequenzen. Die Ausmerzung der Fremdwörter war gegenüber der Rückbesinnung auf die ureigene Sprache zweitrangig. Bereits in der Dichtung „Lamentatio Germaniae Expirantis" von 1640, in der die deutsche Sprache als Nymphe personifiziert auftritt, wird dieser Unterschied deutlich. 99

Wichtige Beispiele dieser Alamode-Kritik sind der „Vnartig Teutscher SprachVerderber" von Schorer (1643) sowie dessen zweite Auflage, die „Newe außgeputzte Sprachposaun" von 1648; ebenso der „Ala mode Kehrauß" im zweiten Teil der „Gesichte Philanders von Sittewald" von Moscherosch (1643). Vgl. daneben auch Harsdörffer, FZG II, S. 53-55. 100 Erst nach 1645 wurde er zum „Hyperpuristen im großen Stil", Jones (1995), S. 199. 101 Vgl. Jones (1995), S. 198: „Zeitgenossen und Nachfolger begrüßten sein [Zesens - M.H.] Werk bekanntlich entweder mit überschwenglichem Lob oder mit gehässigem Spott [ . .. ]. Ob Cäsar oder Teufel, Sprachheld oder Sprachketzer [ . . . ] , Zesen verkörperte für viele seiner Zeitgenossen die sprachliche Reinheits-Ideologie in extremer Form. Gerade diese Tatsachen sollten zur Vorsicht mahnen." Vgl. zum Fremdwortpurismus von Zesen auch Blume (1967). 102 Vgl. Jones (1995), S. 200. 103 Vgl. die sehr gute Zusammenstellung bei Jones (1995), S. 166-192.

Anwendungsfelder

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Der Zustand und die Vernachlässigung der deutschen Sprache werden beklagt. Sie wird zur Bettlerin degradiert. Die romanischen Sprachen, die j a selbst vom Lateinischen abgeleitet sind, das wiederum vom Celtischen (also Urdeutschen) h e r s t a m m t , sehen die Zeitgenossen als Vorbilder an. Das Original (Deutsch) wird durch Kopien (besonders romanische Sprachen) ersetzt. Schottelius formuliert dies drastisch: die „Hurenkinder" dominieren. „Ich eine Königin, bin nun ein Bettelweib Kan kaum umhüllen mit dem Sacke meinen Leib." 104 „Was redet der Frantzos mit fliessendem Gemenge, Was pralt der Spanier mit trotzigem Gepränge; WEIS bellt der Engelsman: was sagt der Welscher her, Das ist vermengtes Werck, sind Hurenkinder nur." 1 0 5 Die Metaphorik zeigt bereits, dass das Problem nicht in einer Überschwemm u n g durch fremdes Sprachmaterial liegt, sondern vielmehr darin, dass das System der eigenen Sprache nicht genutzt, nicht voll ausgeschöpft wird. Dabei wird die Rückbesinnung auf die eigene Sprache auch als eine Rückbesinnung auf ein mit dieser Sprache verbundenes Wertesystem verstanden. In dieser Ausprägung ist der Sprachpurismus dann durchaus abwertend gemeint. „So offte der Frantzos aus flüchtig-leichten Sinnen Verändert seine Tracht, setzt aussen was war binnen, Ein enges macht er weit, ein grosses wieder klein, So wolt ihr Teutschen stracks ein Affe mit jhm seyn. Auff Spanisch wird ewr Fleisch gewürtzt vnd vberstrewet, Geschnitten auff Frantzösch, auff welsche art gekewet, Ein teutscher Magen den nimbt die Verdewung hin, Draus wird gebrütet ein Spansch-Welsch-Fransch-Teutscher Sinn." 106 Diese Konsequenz ergibt sich letztlich aus den sprachtheoretischen G r u n d a n n a h m e n . Wie bereits an früherer Stelle ausgeführt (vgl. §51, S. 134) stellte Schottelius den Konnex her zwischen Sprache und Moral. Die Abkehr von der Ursprache implizierte zugleich auch eine Abkehr von — ebenso idealisierten — Verhaltensformen. N i m m t man den historischen Vorrang und die welterschließende Funktion, die der deutschen Sprache zugemessen wurden, hinzu, so folgt daraus die Notwendigkeit der Rückkehr, des Ausbaus und der Aufwertung der deutschen Sprache. Soweit ist Schottelius in seinen theoretischen Forderungen durchaus als konsequenter Sprachpurist zu bezeichnen. Betrachtet m a n dagegen seine Empfehlungen für die Sprachpraxis, d a n n werden diese Theoreme deutlich abgemildert. Fremdwörter, die verbreitet und in Aussprache und Schreibung in das System der deutschen Sprache integriert seien, können passieren. „Die Wörter/ welche aus der Hebräischen/ Lateinischen/ Griechischen/ Frantzösischen und anderen Sprachen etwa behalten/ und also gebrauchet werden/ die behalten auch das Geschlechte/ welchs sie in jhren Sprachen 104 Schottelius (1640/1908), S. 6. ms Schottelius (1640/1908), S. 23. 106 Schottelius (1640/1908), S. 24.

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Spracharbeit und Lexikographie haben/ und ob man wol diese und derogleichen Wörter Teutsch zu geben vermöchte/ so wil es dennoch deshalber nicht nötig seyn/ weil sie überall bekant/ meistentheils Teutsche Art an sich genommen/ auch wol deütlich und zierlich/ ohn Beschimpfung der Sprachen/ zugebrauchen seyn." 107

Zusätzlich gilt, dass mit den (neuen) Sachen auch die (fremden) Bezeichnungen in die deutsche Sprache kommen. Schottelius beruft sich damit — wie Harsdörffer — auf drei wesentliche Kriterien für die Tolerierung von Fremdwörtern: die Verbreitung, die Systemintegration und die Bezeichnungslücke. Die deutsche Sprache leidet unter diesen Ausnahmen nicht. Ihr System ist in dieser Hinsicht robust genug. „Es ist auch keine Sprache von solcher Zärtligkeit/ daß jhr eben alle frömde Wörter unleidsam seyn müsten [ . . . ]." 1 0 8 Wie in der Orthographiediskussion, so folgt auch hier auf die Diskussion der Tolerierungskriterien eine Liste mit akzeptablen Fremdwörtern, die überwiegend die Bereiche ,Religion' und ,Institutionenwesen' betreffen. Diese Liste vergrößerte sich von der ersten Publikation in der „Teutschen Sprachkunst" 1 0 9 von 51 auf 84 in der AA 1 1 0 . Insgesamt kann somit für die Spracharbeit von Schottelius festgestellt werden, dass seine puristischen Theorieanforderungen einer gemäßigt puristischen Praxis gegenüberstanden. Nicht alles musste eingedeutscht werden. Vor allen Dingen sollten die Neubildungen in deutscher Sprache transparent sein und sprachsystematisch richtig, d. h. gemäß der Komposition und Derivation gebildet werden. Abgelehnt wurde — mit einem Seitenhieb auf Zesen — die „unnötige neuerung". Im f ü n f t e n Traktat des zweiten Buches der AA, der sich mit der Ubersetzungsarbeit beschäftigt, wird dies besonders deutlich. „Und obwol solche Wörter [aus dem religiösen bzw. institutionellen Bereich - Μ. H.] verteutschet/ und andere Teutsche Wörter an derer stat aufgebracht werden könten/ so wolte es doch eine unnötige neuerung seyn/ und das Verum, Linguae Germanica Studium gehäßiger machen. Sonsten aber die termini artium und Kunstwörter/ wan in Teutscher Sprache Künste und Wissenschaften neu sollen beschrieben werden/ künnen gar wol/ wo

107 Schottelius, AA, S. 284. los Schottelius, AA, S. 284. loa Schottelius (1641). 110 Schottelius, AA, S. 284 f.: „[ . . . ] also kan man folgende Worte behalten/ als: S a b b a t h / Zebaoth/ Cherubin/ Crucifix/ Belial/ Lucifer/ Prophet/ Apostel/ Patriarch/ Superintendent/ C a p l a n / Musiciren/ Cantor/ Psalter/ Alleluja/ A m e n / Litaney/ Evangelium/ T e s t a m e n t / Instrument/ Cathechismus/ Articul/ Text/ Bibel/ Advent/ Rector/ Collegia/ Canonicus/ Münche/ Nonne/ Capitel/ Meße/ Käyser/ Monarch/ Printz/ Cantzley/ Regiment/ Poet/ Doctor/ Keyser/ Accord/ Commendant. Capitäin/ Baß/ Proceß/ T r i u m p h / Musicant/ Aspect/ Planet/ C o m e t / Contract/ Dignität/ Facultät/ Unversität/ Prophecey/ Poeterey/ Philosophey/ Fantasey/ Copey/ Lection/ Religion/ Union/ Armee/ Ordonantz/ Audientz/ Melodey/ Barbarey/ Notul/ Ingrossation/ Intotulation/ Substanz/ Clausul/ Imbreviatur/ Interliniatur/ Spectacul/ Castel/ Panquet/ Parlament/ Sacrament/ Element/ Planket/ Secret/ Privet/ Protocol/ &c."

Anwendungsfelder sie annoch nicht verhanden/ nach den principiis componendi schiklich und deutlich aufgebracht werden [ . . . ] . " m

339 &

derivandi

Solche angemessenen N e u b i l d u n g e n sind d a n n f ü r den Novizen der Wissenschaft d u r c h s c h a u b a r e r , d. h. sie bezeichnen „ o f t m a l s ihr Ding g e n a u e r u n d vernemlicher" 1 1 2 . Beispiele hierfür sind Wortfügung s t a t t Syntax o d e r Sinnbild s t a t t Emblem. G u e i n t z : Insgesamt weichen die Ansichten von Schottelius u n d G u e i n t z in Bezug auf das F r e m d w o r t k a u m voneinander ab. Prinzipiell k ö n n e m a n f ü r alles Bezeichnungen in der d e u t s c h e n Sprache finden, dies ergebe sich aus ihrer „Völligkeit" 1 1 3 . In der Alltagssprache sollte d a h e r der F r e m d w o r t g e b r a u c h v e r m i e d e n werden. Allerdings m u s s auch G u e i n t z zugeben, dass in b e s t i m m t e n Fachsprachen die f r e m d s p r a c h i g e n Termini eingebürgert sind, d. h. Eind e u t s c h u n g s v e r s u c h e wenig erfolgreich scheinen. „Ein anders [als in der Alltagssprache - Μ. H.] aber ists/ wen man die Kunstwörter (Technica) gleich wie auch die Latini die Griechischen behalt e n / gebrauchet: Wiewol man auch dieselben meistentheils füglich Deutsch geben kan/ wie in Götlichen Sachen/ im Rechte/ und in der Artzney zu sehen. In andern Künsten seind sie gemein/ wiewol die meisten/ ausser denen/ die der Kunst seind/ unbekant." 1 1 4 Bei aller U b e r e i n s t i m m u n g lässt sich doch m i n d e s t e n s ein U n t e r s c h i e d zwischen G u e i n t z u n d d e m Sprachtheoretiker Schottelius a u s m a c h e n . W ä h r e n d Schottelius problemlos eine captatio principii in Bezug auf die Sprachgeschichte v o r n i m m t , ist G u e i n t z skeptischer. F ü r Schottelius lassen sich die Ableitungsverhältnisse der europäischen Sprachen letztlich i m m e r auf eine celtische oder auch gotische G r u n d l a g e z u r ü c k f ü h r e n , die selbst m i t der „ u h r a l t e n Teutschen Sprache" identifiziert wird. D a h e r s t a m m e n auch W ö r t e r wie letter, die offenkundig aus d e m Lateinischen e n t l e h n t w u r d e n , letztlich aus d e m u r d e u t s c h e n S p r a c h s y s t e m 1 1 5 . G u e i n t z geht diesen Schritt nicht. Schon der g e n a u e Z u s a m m e n h a n g zwischen der idealen u r d e u t s c h e n u n d der zeitgenössischen deutschen Sprache ist f ü r ihn fraglich. „Ob viel deutsche Wörter von den Griechen vnd Lateinern genommen, oder ob sie eine verwandschafft haben, ist fragenswerth, dan obwohl die deutsche Sprache älter scheinet, alß die Griechische vnd Lateinische, so ist doch noch nicht erwiesen das eben dieß die wir an izo gebrauchen die Alte Deutsche Sprache sey [ . . . ]." 1 1 6 W e i t e r h i n gibt G u e i n t z zu b e d e n k e n , dass Bezeichnungen f ü r Sachen, die den alten Deutschen nicht b e k a n n t waren, notwendigerweise e n t l e h n t werden m u s s t e n . Hier trifft er sich m i t Schottelius u n d Harsdörffer im A r g u m e n t der i n Schottelius, AA, S. 1248. " 2 Schottelius, A A , S. 1248. u 3 G u e i n t z , DSE, S. 11: „Die Völligkeit der deutschen spräche ist so g r o s / d a ß auch fast nichts kan gefunden w e r d e n / welches m a n in dieser spräche nicht n e n n e n könte [ . . . ]." 114 Gueintz, DSE, S. 10 f. 115 Vgl. hierzu §87, S. 262. 116 K r a u s e (1855/1973), S. 369f.

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S p r a c h a r b e i t u n d Lexikographie

Bezeichnungslücke. Es wird d a d u r c h noch v e r s t ä r k t , dass nicht alles W o r t m a terial aus den r o m a n i s c h e n u n d germanischen N a c h b a r s p r a c h e n a u t o m a t i s c h der langue der d e u t s c h e n Sprache zugerechnet wird. Das b e d e u t e t , dass die Menge der E n t l e h u n g e n deutlich größer sein kann, als es e t w a Schottelius zugeben würde. „Was von Griechen vnd Lateinern, der Sachen nach herkommen vnd bey den deutschen vorhin nicht gewesen daß ist auch nothwendig mit deren Nahmen Zu nennen wie dan in dergleichen die andern Sprachen Auch gethan. Zitber, Ingber, Pfeffer können keine deutsche nahmen haben weil sie in deutschland nicht wachsen, was die deutschen nicht erfunden, das haben sie auch nicht nennen können [ . . . ]." 1 1 7 W ä h r e n d die A r g u m e n t a t i o n s s t r a t e g i e von Schottelius die Menge möglicher E n t l e h n u n g e n d a d u r c h drastisch reduziert, dass er die g e m e i n s a m e G r u n d l a g e als „ T e u t s c h " definiert, gesteht G u e i n t z zu, dass diese Menge d u r c h a u s größer sein kann. Ein P r o b l e m e n t s t e h t d a d u r c h j e d o c h nicht, d a diese F r e m d w ö r t e r Bezeichnungslücken füllen u n d d a m i t gerechtfertigt sind. W e n n sich letztlich sogar W ö r t e r wie Papier oder schreiben als E n t l e h n u n g e n erweisen, t u t dies der W ü r d e der d e u t s c h e n Sprache keinen A b b r u c h . „Wer wolte sagen daß Papyr ein deutsch wort sey dem Ursprünge nach? Wer wolte nicht bekennen daß das wort schreiben von denen herkehme, die es gelehret; Nun gedencket Stumpfius in seiner Chronica Carolus Magnus habe es Zuerst nach Lateinischer Art den Deutschen weisen laßen, dorüm sie auch das Wort schreiben, sonder Zweifel von Scribo behalten." 1 1 8 G u e i n t z w e n d e t sich also gegen die allzu spekulative historische Vereinnahm u n g f r e m d e n S p r a c h m a t e r i a l s . In der P r a x i s schwinden die Unterschiede. A u c h er wendet sich gegen die A l a m o d e - S p r e c h w e i s e u n d konzediert b e s t i m m t e n F a c h s p r a c h e n den F r e m d w o r t g e b r a u c h . U b e r das A r g u m e n t der Bezeichnungslücke a k z e p t i e r t G u e i n t z eine Reihe von F r e m d w ö r t e r n , die bei Schottelius f ü r die d e u t s c h e Sprache v e r e i n n a h m t werden. Beide Verfahren gelangen schließlich zu d e m s e l b e n Ergebnis. H a r s d ö r f f e r ist f ü r den Z u s a m m e n h a n g zwischen F r e m d w o r t f r a g e u n d S p r a c h a r b e i t u n t e r den drei A u t o r e n a m ergiebigsten 1 1 9 . M i t seiner e r s t e n F o r d e r u n g in der S T S nach der E r h a l t u n g der d e u t s c h e n S p r a c h e „ohne Einmischung f r e m d e r ausländischer W ö r t e r " 1 2 0 reiht er sich v o m t h e o r e t i s c h e n S t a n d p u n k t her „ m i t t e n in den S t r o m der sprachreinigenden B e s t r e b u n g e n seiner Z e i t " 1 2 1 ein. Er f o r m u l i e r t e nicht nur a m klarsten die K r i t e r i e n f ü r die Tolerierung u n d E i n b ü r g e r u n g von F r e m d w ö r t e r n in die d e u t s c h e Sprache. Er p l ä d i e r t e d a r ü b e r h i n a u s in der S p r a c h p r a x i s f ü r eine k o m p r o m i s s b e r e i t e H a l t u n g g e g e n ü b e r b e s t i m m t e n F r e m d w ö r t e r n . Die Verständlichkeit h a t t e 117 Krause (1855/1973), S. 370. 118 Krause (1855/1973), S. 370. 119 Einen Uberblick über fremdwortrelevanten Passagen in den Texten Harsdörffers bietet Jones (1995), S 243-269. 120 Harsdörffer, STS, S. 361; vgl. auch §33. 121 Jones (1995), S. 244.

Anwendungsfelder

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g e g e n ü b e r der Sprachreinheit P r i o r i t ä t , d . h . er n a h m lieber v e r s t ä n d l i c h e — weil v e r b r e i t e t e — F r e m d w ö r t e r in K a u f , als ungewöhnliche, a b e r d e m S y s t e m der d e u t s c h e n Sprache e n t s p r e c h e n d e N e u b i l d u n g e n zu v e r w e n d e n oder zu schaffen. Als Anwendungsfeld der S p r a c h a r b e i t n u t z t e H a r s d ö r f f e r die F r e m d w o r t f r a g e insofern, als er sie in verschiedenen G e s p r ä c h s p i e l e n t h e m a t i s i e r t e . Für die S p r a c h a r b e i t ist der diskursive U m g a n g m i t d e m F r e m d w o r t p r o b l e m relevant. Dies kann exemplarisch an den G e s p r ä c h s p i e l e n „Die F r e m d e n W ö r t e r " 1 2 2 u n d „Von den f r e m d e n W ö r t e r n in T e u t s c h e r S p r a c h e " 1 2 3 gezeigt werden. Das erste b e s c h ä f t i g t sich vorwiegend m i t der Frage, w a n n , ob u n d welche F r e m d w ö r t e r in der d e u t s c h e n Sprache B ü r g e r r e c h t e r l a n g e n k ö n n e n . Das zweite b e h a n d e l t d a n e b e n die Frage d e u t s c h s p r a c h i g e r Neubildungen. Die A u f g a b e i m Spiel „Die F r e m d e n W ö r t e r " b e s t e h t d a r i n , jeweils drei F r e m d w ö r t e r zu n e n n e n , die das „ S t a d t r e c h t " in der d e u t s c h e n S p r a c h e erhalt e n sollten. Es geht also d a r u m , A r g u m e n t e f ü r die V e r w e n d u n g b e s t i m m t e r F r e m d w ö r t e r zu finden, die noch nicht eingebürgert sind, die also noch d e u t lich als F r e m d w ö r t e r zu e r k e n n e n sind. ,,D[egenwert], Es soll dieses Orts nicht von denen Wörtern die Frag seyn/ welche von Ankunfft Teutsch/ oder von dem Hebraeischen h e r s t a m m e n / von denen bereit Meldung beschehen: sondern ich bitte/ daß jedes drey Wort vorschlagen wolle/ welche nicht vom Hebraeischen [ . . . ] sondern vom Lateinischen/ oder dem Latein verwandten Sprachen/ Welschen/ Frantzösischen oder Spanischen herkommen/ und zu dem Teutschen Stadtrecht zuzulassen seyn möchten." 1 2 4 Nach einer allgemeinen Einleitung, in der sprachhistorische u n d p u r i s t i s c h e A r g u m e n t e vorgetragen werden, g e r a t e n Degenwert u n d R e y m u n d ü b e r d a s W o r t Bastard in Streit. W ä h r e n d Degenwert es von den r o m a n i s c h e n S p r a c h e n (bastard/bastardo) herleitet, spricht sich R e y m u n d f ü r die d e u t s c h e A b l e i t u n g von Bast aus. I m Gegenteil, die a n d e r e n Sprachen h ä t t e n es v o m D e u t s c h e n e n t l e h n t 1 2 5 . Vespasian soll den Streit schlichten. I h m k o m m t in der Folge nicht nur der P a r t zu, die e n t s c h e i d e n d e n Kriterien des F r e m d w o r t g e b r a u c h s vorzustellen. Auch in der weiteren Abfolge des Spiels wird es i m m e r Vespasian sein, der bei den drei W ö r t e r n , die die Mitspieler zur D u l d u n g vorschlagen, das R i c h t e r a m t a u s ü b t . „Die fremden W ö r t e r / welchen das Teutsche Bürgerrecht ertheilet werden solle/ müssen dreyerley folgende Eigenschafften haben: I. Das selbe in unserer Sprach ermanglen/ oder ohn Umbschreibung nicht füglich auszureden seyn. II. Daß solche Wort bereit bey jedermann bekand/ und auch von d e n e n / welche anderer Sprachen nicht kundig/ verstanden werden. 122 Harsdörffer, FZG II, S. 191-201. 123 Harsdörffer, FZG III, S. 323-330; vgl. zu Fremdwörtern aus dem Hebräischen FZG II, S. 48ff. 124 Harsdörffer, FZG II, S. 192. 125 Vgl. Harsdörffer, FZG II, S. 195f.

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Spracharbeit und Lexikographie III. Daß selbe sich Burgerlich halten/ ich will sagen/ Teutsch geschrieben und Teutsch geendet werden." 126

Diese Kriterien finden sich auch im SPG 1 2 7 . Die dort gegebenen Beispiele für akzeptable Fremdwörter tauchen ebenso in der Fremdwörterliste von Schottelius auf. Die Begriffs- bzw. Bezeichnungslücke, die Gebräuchlichkeit und die Systemintegration verhelfen bestimmten Fremdwörtern zum „Bürgerrecht". Als Gründe für die Bezeichnungslücken gibt Harsdörffer an verschiedenen Textstellen die Mobilität der Völker in Krieg und Handel an 1 2 8 . Es findet ein Austausch von Wörtern und Sachen statt, der einen natürlichen Sprachwandel darstellt 1 2 9 . Diese Art von Fremdworteinfluss sieht Harsdörffer durchaus positiv. Er wirkt veredelnd auf die deutsche Sprache. Ein ähnliches Argument findet sich im P T : „Also ist fast keine Sprache aus ihren Gründen erhoben rein und selbständig zu nennen: nicht nur deßwegen/ weil etliche Wörter mit andern gleichen Laut= und Deutung haben/ wie erstbesagtes Wort Metall/ sack und etliche andre die Cruciger in Harmonia Linguarum erzehlet; sondern auch wegen der Räisen/ Handelschaft und Gemeinschaft der Völker/ welche uns fremde Wahren bringen und zugleich fremde Wörter/ darmit sie genennet werden/ aufdringen. Ja wie fast kein Metall/ ohne deß andern Zusatz diene kan/ also muß man auch solche fremdeingeschaltne Wörter nothdringlich gebrauchen." 130 Wie für Schottelius und Gueintz gilt dieser Vorteil insbesondere für den Bereich der Wissenschaften. Dort sind die fremdsprachlichen Termini dem Fachmann ohnehin geläufiger als manche Eindeutschung. Für etwaige Neubildungen in deutscher Sprache wird wiederum gefordert, dass sie gemäß den Wortbildungsregularitäten systemgerecht und transparent gebildet werden sollen 131 . Unverständliche Neuerungen werden auch hier abgelehnt 1 3 2 . Dies zielt bereits auf das zweite Kriterium ab, auf die Gebräuchlichkeit der Fremdwörter, d. h. sowohl auf ihre Bekanntheit in der Sprachgemeinschaft als auch auf ihre Verwendungsfrequenz. Dieses Kriterium ist schwer zu erfassen, was auch die Diskussion der vorgeschlagenen Fremdwörter deutlich macht. Hilfe soll der Blick auf die Verwendungsgeschichte eines Wortes bieten. Harsdörffer trägt als Argument vor, dass der Zeitpunkt der Fremdwortübernahme oftmals sehr lange zurück liege. In so einem Fall können bestimmte Fremdwörter selbst auf eine lange Geschichte in der deutschen Sprache zurückblicken. Sie erwirken damit ihr Bleiberecht. Die entstandenen „Bastardwörter" soll126 Harsdörffer, FZG II, S. 196f. 127 Harsdörffer, SPG, S. 228. 128 Vgl. Harsdörffer, FZG II, S. 49. 129 Vgl. Harsdörffer, FZG II, S. 193. 130 Harsdörffer, P T III, S. 10. 131 Vgl. Harsdörffer, P T III, S. 10. ι 3 2 Harsdörffer, FZG II, S. 194: „In sonderlichem Bedencken/ daß man vielmals die vermeinte [neugebildeten - M.H.] Teutsche Wörter weniger/ als das lang gewohnte halb Lateinische verstehen kan/ [ . . . ]."

Anwendungsfelder

343

t e n a u f g r u n d ihrer langen Verwendung als „ E i n k ö m b l i n g e " 1 3 3 toleriert werden. Sprachtheoretisch gesprochen s t e h t hier die F o r d e r u n g nach vollständiger E i n d e u t s c h u n g d e m S p r a c h g e b r a u c h gegenüber. Harsdörffer geht d a v o n aus, dass „die allzulang e i n g e w u r t z t e A r t zu r e d e n / nicht wol a u s z u r e u t e n t h u n lich seyn w i r d . " 1 3 4 B e m e r k e n s w e r t ist z u d e m an dieser Textstelle die Rollenverteilung der Figuren. R e y m u n d , der häufig als das S p r a c h r o h r des A u t o r s Harsdörffer i n t e r p r e t i e r t werden kann, v e r t r i t t eine s t ä r k e r an der S p r a c h t h e o rie orientierte, sprachpuristische H a l t u n g . Degenwert, d e m S o l d a t e n , bleibt es überlassen, die s p r a c h p r a k t i s c h e H a l t u n g a r g u m e n t a t i v zu s t ü t z e n . B e r e i t s im Vorfeld des Spieles wird so die S p a n n u n g zwischen s p r a c h t h e o r e t i s c h e m Anspruch u n d p r a k t i s c h e r U m s e t z b a r k e i t deutlich. I m Spiel selbst werden d a n n die drei Kriterien auf ihre Tauglichkeit hin ü b e r p r ü f t . Es zeigt sich, dass Anspruch u n d Einlösbarkeit divergieren. F ü r jedes vorgeschlagene Wort bleibt die E n t s c h e i d u n g , ob es toleriert werden könne oder nicht, s t r i t t i g . Vespasian fällt dabei die A u f g a b e zu, gegen die F r e m d w ö r t e r zu a r g u m e n t i e r e n u n d Verdeutschungen a n z u b r i n g e n . Zur Diskussion stehen folgende W ö r t e r u n d U b e r s e t z u n g e n (vgl. Tab. 15):

campiren

zu Feld ligen

canoniren

mit Stucken

marschiren

ziehen oder reisen

Dame

Jungfrau oder Frau

Cavalier

Rittersmann

Compagnie

Gesellschafft, Genoßschafft Fähnlein Soldaten

meritiren

der Gunst würdig sein

serviren

dienen

obligiren

verbunden

sein

firmament

Feste des

Himmels

discretion

Bescheidenheit

fundament

Grund

Autor



Proviant



Potentat



beschiessen

oder ein

Tabelle 15: Fremdwörter und Eindeutschungen, FZG II, S. 197-200. 133 Harsdörffer, F Z G II, S. 194. 134 Harsdörffer, FZG II, S. 194.

344

Spracharbeit und Lexikographie

Vespasian lehnt die jeweiligen Fremdwörter mit unterschiedlichen Argumenten und mit unterschiedlicher Heftigkeit ab. W ä h r e n d campiren, canoniren und marschiren unter den Militärs als üblich und zulässig anerkannt werden, sollten sie in anderen Kommunikationszusammenhängen eingedeutscht werden. „Ich bekenne zwar gern/ daß wan ich bey Soldaten mich befinde/ daß ich dergleichen Wort zu gebrauchen nicht Bedenckens tragen wolte; unter Frauenzimmer a b e r / oder Liebhabern der reinen Teutschen Sprach wolte ich sagen: Zu Feld ligen (campiren/) [ ... ]."135

Dame, Cavalier und Compagnie sind zwar auch üblich aber nicht so transparent wie die Ubersetzungen, die zudem Bedeutungsnuancen besser aufzeigen können. Als vollkommen unnötig werden meritiren, serviren und obligiren abgelehnt. Wieder anders ist der Fall bei firmament, discretion und fundament gelagert. Vespasian gesteht zu, dass es eine Reihe von Sachbezeichnungen gibt, die zu Recht entlehnt worden sind. Für die drei in Frage stehenden W ö r t e r gelte dies jedoch nicht. ,,V[espasian]. Es wird niemand in Abred s e y n / daß die von andern Ländern zu uns gebrachte G e w ä c h s / Früchten/ B l u m e n / Gewürtz und Kleidungsa r t e n / mit fremden Namen zu nennen/ weil selbe durch den Gebrauch gleichsamb geteutscht werden/ als C i t r o n e n / Tulipanen/ Indigo/ Muscat &c. firmament aber kan heissen die Feste des H i m m e l s / [ . . . ]." 1 3 6

Autor, Proviant und Potentat sind schließlich ohne Verdeutschung akzeptabel, wenn sie in das deutsche Sprachsystem integriert werden. Sie müssen in Flexion, Aussprache und Schreibung (Fraktur s t a t t Antiqua) angepasst werden. Hier k o m m t das dritte Kriterium (Systemintegration) voll zum Tragen. Im Gesprächspiel wird kontrovers diskutiert. Die Gegenspieler von Vespasian sind keineswegs Statisten. Ihre Argumente haben durchaus Gewicht u n d sollen zeigen, dass die Eindeutschung nicht immer vorzuziehen ist. So ist die A r g u m e n t a t i o n von Angelika, die bezeichnenderweise die a m heftigsten abgelehnten W ö r t e r vorschlägt, durchaus ernstzunehmen. A[ngelica]. Man sagt im Sprichwort/ wan man unter den Wölffen i s t / so muß man mit heulen. Sonderlich/ weil sehr verhasset/ und bißweilen gefährlich/ etwas besonders einführen/ und Handhaben wollen." 1 3 7

Andererseits findet sich keines der diskutierten Wörter in der Liste akzeptierter Fremdwörter bei Schottelius 1 3 8 . Dies zeigt, dass es sich hier durchweg u m fragliche K a n d i d a t e n handelte. Das Gesprächspiel h a t t e somit ein doppeltes Ziel. Einerseits sollte der Leser mit der Fremdwortproblematik vertraut gemacht werden. Die Divergenz zwischen Anspruch (Kriterien) und Umsetzbarkeit wird m i t den Beispielen und der damit verbundenen Diskussion deutlich. Dies betrifft die thematische Ebene des Spiels. Andererseits ging es u m die 135 Harsdörffer, 136 Harsdörffer, 137 Harsdörffer, 138 Schottelius,

FZG II, S. 197f. FZG II, S. 200. FZG II, S. 199. AA, S. 284 f.

Anwendungsfelder

345

Spielform. Die Diskussion selbst sollte dazu a n r e g e n , weitere W ö r t e r d a r a u f hin zu ü b e r p r ü f e n , ob sie das „ S t a d t r e c h t " e r h a l t e n sollten. Das Diskussionsspiel, das per se eine E i n ü b u n g in die d e u t s c h e S p r a c h e darstellte, w u r d e hier t h e m a t i s c h m i t e i n e m P r o b l e m f e l d der d e u t s c h e n S p r a c h e v e r b u n d e n . Das zweite Gesprächspiel, das sich mit der F r e m d w o r t p r o b l e m a t i k bes c h ä f t i g t , befindet sich im d r i t t e n B a n d der F Z G 1 3 9 . V o r d e r g r ü n d i g geht es in d e m Spiel u m die Frage, ob m a n N e u b i l d u n g e n in d e u t s c h e r Sprache schaffen solle. Es h a n d e l t sich somit u m ein Diskussionsspiel, in d e m die T e i l n e h m e r jeweils z u m P r o b l e m kontrovers diskutieren. J u l i a stellt die A u f g a b e : R e i h u m soll j e d e r Mitspieler seine Meinung sagen. W i e d e r u m fällt Vespasian a m E n d e das R i c h t e r a m t zu. I m Verlauf der Diskussion e n t f e r n t m a n sich allerdings rasch von der Ausgangsfrage u n d diskutiert allgemeine A s p e k t e des F r e m d w o r t p r o b l e m s . Degenwert eröffnet die Diskussion m i t e i n e m deutlich pragm a t i s c h e n V o t u m . W i e alle Sprachen so sei auch die d e u t s c h e d e m allgemeinen Sprachwandel unterworfen, d. h. auch die d e u t s c h e S p r a c h e müsse i m m e r wieder zur F ü l l u n g von Bezeichnungslücken F r e m d w ö r t e r a u f n e h m e n . Z u d e m seien diese d a n n i. d. R. d u r c h den S p r a c h g e b r a u c h legitimiert. N e u b i l d u n g e n seien von d a h e r u n n ö t i g . E n t l e h n u n g e n aus p r e s t i g e t r ä c h t i g e n S p r a c h e n h a b e es schon i m m e r gegeben u n d werde es auch weiterhin geben. Letztlich sei somit die ganze F r e m d w o r t p r o b l e m a t i k irrelevant. „Schliese derhalben mit Demosthene/ welcher/ als ihm von Eschine aufgerukt wurde/ daß er in seinen Reden barbarische Wort mit untermischte/ geantwortet: Es bestehe die Wolfahrt deß gantzen Griechenlands (ich sage Teutschlandes/) nicht in so geringen Sachen!" 1 4 0 J u l i a spricht sich f ü r eine klare S p r a c h e n t r e n n u n g aus. F r e m d e Sprachen sollen d u r c h a u s verwendet werden, aber so „daß sie m i t d e m T e u t s c h e n nicht u n t e r m e n g t u n d außgeflikt w e r d e / wie auch das T e u t s c h e sich u n t e r a n d e r e S p r a chen nicht mischen last." 1 4 1 . R e y m u n d , der j a auch i m vorigen Gesprächspiel eine stärker sprachpuristische H a l t u n g v e r t r e t e n h a t t e , versucht anschließend, Degenwert zu widerlegen. Das F r e m d w o r t p r o b l e m sei ganz im Gegenteil sehr relevant. „Wann nun außländische Wörter/ sich nach und nach in unsere Sprache einflechten/ und die Einheimischen außwinden und außstossen/ solte man fürwar in wenig J a h r e / die Teutschen in Teutschland mit der L a t e r n / wie Socrates auf dem Markt zu Athen/ die Menschen suchen/ aber nicht finden können." 1 4 2 U b e r die Parallelisierung von Sprache u n d V e r h a l t e n s n o r m e n wird hier die Sprachreinigung zur nationalen Aufgabe. Die einfache Ü b e r n a h m e f r e m d e n S p r a c h m a t e r i a l s kann keine Lösung sein. Wo k o n k u r r i e r e n d e Bezeichnungen b e s t e h e n , d ü r f e sich die deutsche Sprache nicht v e r d r ä n g e n lassen. V i e l m e h r 139 Harsdörffer, ι « Harsdörffer, 141 Harsdörffer, ι « Harsdörffer,

FZG FZG FZG FZG

III, III, III, III,

S. S. S. S.

323-330. 325 [Fettdruck getilgt], 326. 326 f.

346

Spracharbeit und Lexikographie

sei aktive Spracharbeit geboten, mit der m a n die eigene Sprache ausbauen und ihr Potential ausschöpfen könne. „Haben die Frantzosen ihe [!] Sprach durch emsigen Fleiß gelehrter Leute [ . . . ] erhaben/ solte solches Beyspiel zu gleicher Arbeit uns anmahnen/ daß wir/ wie sie/ in Annehmung fremder Hülffwort/ ihrer Zungen Unkräffte/ der unserigen Volkommenheit in eignen Vermögen erweisen möchten [ . . . ]." 1 4 3 Schließlich spricht auch der unausweichliche Sprachwandel nicht gegen die Sprachreinigung. Es sei unbestritten, dass durch den Handel ein ständiger Sprachaustausch stattfinde. Auch gehe es nicht u m die Herabwürdigung der f r e m d e n Sprachen (alias „Wahren"). Besser sei doch ein Reichtum, der aus eigener K r a f t zustande gekommen ist, als der lediglich geborgte. „daß sich die Sprachen verändern/ und durch Handel und Wandel vermengen/ bezeugt die tägliche Erfahrung: Daß wir aber uns von fremden Völkern und Sitten/ benebens unserer vortrefflichen Sprache unterdruken/ und zu unwürdigen Nachfolgern unserer Ehrliebenden Vorfahren dargeben solten/ ist darauß gar nicht zu schliesen. Wir verachten nicht außländische Wahren/ sondern trachte nach so beliebtem Reichthum/ um selben zur Zeit und Gelegenheit recht zu gebrauchen/ aber nicht das unsere damit zu verfälschen und unsere Zunge mit abentheurlichen Wortthand zu befleken." 144 Verficht R e y m u n d noch bis zu dieser Stelle einen klassisch zu nennenden Fremdwortpurismus, so bricht dieser in der Folge auf. Was R e y m u n d vorschwebt, ist nicht eine national beschränkte Fremdwörterjagd und Eindeutschungswelle. Für die von ihm vorgeschlagene aktive Spracharbeit ist es im Gegenteil unabdingbar, sich mit den fremden Sprachen und Kulturen vertraut zu machen. Nur auf dieser Grundlage sei der Ausbau und die Aufwertung der deutschen Sprache möglich. „Die Kündigung anderer Sprachen/ ist zu Außarbeitung der unserigen höchstnöhtig/ und würde es der vorbelobte Gekrönte [Martin Opitz - Μ. H.] ohne Behuf deß Ebreischen/ Lateins= Niederländ= und Frantzösischen so weit niemals gebracht haben/ wie ihm dann absonderlich die Wissenschaft der Grundsprachen/ in Dolmetschung deß Psalmbuchs unvergleichlich gedienet." 1 4 5 D a m i t wird auch die sprachpuristische Argumentationsweise offen für die Fremdsprachen. R e y m u n d spricht sich klar für Neubildungen in deutscher Sprache aus, aber eben unter der Bedingung, dass der Spracharbeiter die anderen Sprachen und die mit ihnen verbundenen kulturellen Leistungen sehr gut kenne. Die Neubildungen werden damit unter dem Aspekt der Aneignung f r e m d e r Literatur und fremden Kulturwissens gesehen. Bevor Vespasian sein Abschlusswort spricht, plädiert noch Angelica für den (zweiten) Erwerb der deutschen Sprache, und zwar nicht in ihrer gro-

143 Harsdörffer, FZG III, S. 327. 1 « Harsdörffer, FZG III, S. 327f. [Fettdruck getilgt], 145 Harsdörffer, FZG III, S. 328.

Anwendungsfelder

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ben Alltagsvariante, sondern auf einer höheren Stilebene 146 . Vespasian kehrt schließlich zur Ausgangsfrage zurück. Er entscheidet die Streitfrage ganz im Sinne der bereits aus dem ersten Gesprächspiel bekannten Kriterien. Neubildungen auf der sprachsystematischen Basis des Deutschen sind demnach durchaus zulässig und erwünscht. Ausgenommen hiervon sind Eigennamen und bestimmte Fachtermini 147 . Fazit: Bei den relevanten Spracharbeitern Harsdörffer und Schottelius herrscht eine deutlich pragmatische Haltung zum Fremdwort vor. Diese kann ebenso — wenn auch durch weniger Textzeugnisse belegt — für Gueintz angenommen werden. Die Kriterien für die Akzeptanz von Fremdwörtern, für die Schaffung neuer deutschsprachiger Termini sowie die Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch (Sprachpurismus) und sprachlicher Praxis im 17. Jahrhundert lassen sich wie folgt zusammenfassen. 1. Fremdwörter sind in der deutschen Sprache tolerierbar, wenn sie Bezeichnungslückenfüllen. Wegen des unvermeidlichen Sprachwandels, der mit dem Handelsaustausch und mit der Differenzierung der Kommunikationsbereiche (ζ. B. Fachkommunikation) verbunden ist, werden diese Begriffs- und Bezeichnungslücken immer wieder auftauchen. 2. Fremdwörter sind zu tolerieren, wenn sie bereits in der deutschen Sprache gebräuchlich sind. Dies betrifft die Verwendungsfrequenz und die Bekanntheit des Wortes in der Sprachgemeinschaft. 3. Fremdwörter müssen in das System der deutschen Sprache integriert werden. Dies betrifft besonders deren Aussprache, Schreibung und Flexion. 4. Prinzipiell kann für alles in der deutschen Sprache eine Bezeichnung auf der Grundlage des deutschen Sprachsystems gefunden werden. Dieser theoretische Anspruch wird jedoch deutlich dadurch eingeschränkt, dass Neubildungen nicht in jedem Fall den Fremdwörtern vorzuziehen sind. Fremdwörter sollen beibehalten werden, wenn die Eindeutschungen undurchsichtig sind und/oder wenn das Fremdwort gebräuchlicher ist. 5. Verdeutschungen von Fremdwörtern müssen in ihrer Semantik transparent, in Wortbildung und Flexion systemgerecht gebildet werden. Eindeutschungen müssen nicht um jeden Preis erfolgen. Extremformen in Bezug auf Neubildungen und Orthographie, wie sie beim Hyperpuristen Zesen zu beobachten sind, werden abgelehnt. 146

Harsdörffer, FZG III, S. 329: ,,A[ngelica]. Es were oft besser/ daß wir an stat unserer groben Muttersprache/ unseres gelehrten Vatters Sprache lerneten. Dann so eine grosse Ungleichheit ist zwischen deß Sprachverständigen und Unverständigen Rede." ι " Vgl. Harsdörffer, FZG III, S. 330.

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Spracharbeit und Lexikographie

6. Fremdwörter sind insbesondere in bestimmten Fachsprachen zu tolerieren, da hier für die Experten das Kriterium der Gebräuchlichkeit zutrifft. 7. Für jedes Fremdwort muss letztlich gesondert entschieden werden, ob es in der deutschen Sprache „Bürgerrecht" erhalten kann oder nicht. Die Ergebnisse dieser Abwägungen werden — ähnlich wie in der Orthographiediskussion — in sich ändernden Listen verzeichnet. 8. Im Sinne der Spracharbeit ist die Diskussion um eine eventuelle „Einbürgerung" oder „Ausbürgerung" bestimmter Wörter bereits wichtig. Sie vermittelt relevante sprachtheoretische Kriterien und Argumentationsmuster, schafft ein Bewusstsein für die eigene Sprache und zeigt auch die Grenzen möglicher (deutscher) Neubildungen auf.

9

Spracharbeit und Phraseologismen

§ 1 1 3 : Beim Gang durch die sprachsystematischen Ebenen konnte bislang davon ausgegangen werden, dass sich die Ebene der grammatischen Beschreibung mit den Anwendungsfeldern der Spracharbeit zur Deckung bringen lässt. Diese Ubereinstimmung gilt ab der phrasalen Ebene nicht mehr. Die Syntax war nicht in gleicher Weise Gegenstand der grammatischen Beschreibung wie Anwendungsfeld der Spracharbeit. Dies gilt in noch stärkerem Maße für die Ebene der Textstrukturen und der kommunikativen P r a g m a t i k . Trotz dieser Entkoppelung von sprachsystematischer Beschreibung und V e r m i t t l u n g in der Spracharbeit lassen sich einige Anwendungsfelder ausmachen. Diese beziehen sich stärker auf das Lexikon, zu dem neben dem Wortschatz im engeren Sinne auch die Phraseologismen gehören, und auf die Poetik, die neben der „Maasforschung" auch die „Reimfügung" 1 , also syntaktische A s p e k t e aus der Sicht der literarischen Produktion, umfasste. Die theoretische Fundierung der Spracharbeit auf der syntaktischen Ebene wurde d e m n a c h nicht aus dem Bereich der G r a m m a t i k im engeren Sinne („Wortforschung" und „Wortfügung") geschöpft. Spracharbeit greift hier auf Bereiche zurück, die zur G r a m m a t i k als Sprachbeschreibung im weiteren Sinne gehören. U m diese Trennung von grammatischer Beschreibungsebene und Anwendungsgebiet für die Spracharbeit zu erfassen, wird daher im Folgenden zunächst der Gegenstandsbereich der Syntax im 17. J a h r h u n d e r t kurz umrissen (§114). Daran schließt sich ein Blick auf die Gliederung und Funktion der Poetik in der Sprachbetrachtung des Zeitraums an. Die „Wortfügung" findet hier ihre Parallele in der „Reimfügung" (§115). Zwischen Syntax und Lexikon stehen die Phraseologismen aus heutiger Perspektive. Ihre Defintion und Funktion im 17. J a h r h u n d e r t wird in §116 erörtert. Schließlich ist auf der Ebene des Satzes bzw. genauer auf der Ebene einfacher Propositionen die Verwendung analoger Argumentationsmuster für die Sprachlegitimation und für die praktischen Anwendungen der Spracharbeit von Bedeutung. Nicht nur in der literarischen Produktion, sondern auch für alle anderen Diskurszusammenhänge sind Analogien konstitutiv (§ 117 f.). In den Anwendungsfeldern spiegelt sich die angesprochene Loslösung von der Syntax im damaligen Verständnis wider. Breiten R a u m n e h m e n daher phraseologische Anwendungsformen ein (§§120-122). Geringer vertreten sind dagegen Sprachspiele, die auf Satzteile und Sätze (§123), auf die Reimtechnik (§124) oder auf die Technik adäquater Syntax (§125) bezogen sind. Analoge Argumentationsmuster sind in der sprachlegitimatorischen Diskussion geradezu ubiquitär. Daneben eignen sie sich auch als Grundlage für Sprachspiele (§126), wobei hier bereits Ubergänge zur Spracharbeit auf der T e x t e b e n e (Gleichnisgeschichten) bestehen.

1

Zur A u f t e i l u n g der Poetik in diese beiden Großbereiche vgl. Schottelius, AA, S. 1461.

350 9.1

Spracharbeit und Phraseologismen Syntax und Syntagmen

§114: In der linguistischen Forschung zur historischen Syntax und zur Grammatikgeschichte des Deutschen wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass Syntax erst spät in den Blick der Grammatiker kam. Nur sehr allmählich ging die Loslösung von der an den Wortarten orientierten lateinischen Grammatik vor sich (s. §14). Syntax kam lediglich als „Wortartenverbindungslehre" in den Blick. Dies gilt für die AA von Schottelius genauso wie für die DSE von Gueintz oder für andere zeitgenössische Grammatiken 2 . Diese Wortverhaftetheit der Syntax galt noch lange über das 17. Jahrhundert hinaus. Selbst Jakob Grimms „Deutsche Grammatik" zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist dafür noch ein spätes Beispiel. „ G r i m m s S y n t a x (als Band 4 seiner G r a m m a t i k erst 1837 erschienen) ist noch W o r t a r t e n v e r b i n d u n g s l e h r e , wie auch die S y n t a x Adelungs, allerdings stofflich durch die Einbeziehung vieler germanischer Sprachstufen wesentlich erweitert; wissenschaftsgeschichtlich bleibt sie hinter den Erkenntnissen der Zeit zurück, hinter Karl Ferdinand Beckers S y n t a x als Lehre von den Satzgliedern."3

Wie der nachfolgende Uberblick über den Gegenstandsbereich der Syntax bei Schottelius und Gueintz zeigen wird, lässt sich die „Wortfügung" durchaus als Appendix zur Grammatik im engeren Sinne, d. h. als Zusatz zur Wortforschung verstehen. Schottelius behandelt die „Wortfügung" im dritten Buch der AA auf knapp 100 Seiten. Sie teilt sich in zwei Großbereiche auf. 1. „die kunstmessige Fügung": hiermit sind die Kongruenz- und Rektionsphänomene, die mit den einzelnen Wortarten verbunden sind, gemeint. 2. „die Schriftscheidung" umfasst den Bereich der Interpunktion, der auf wenigen Seiten abgehandelt wird 4 . Aus heutiger Sicht geht die „Wortfügung" i. d. R. nicht über die phrasale Ebene hinaus. Von daher wird die Interpunktion folgerichtig zur Syntax gerechnet, da sie ein graphisches System der Gliederung von Phrasen und Sätzen zur Verfügung stellt. Schottelius geht die Syntax von den Wortarten aus an. In je einem Kapitel behandelt er die Regularitäten der Wortverbindungen 2

Vgl. z.B. die Untersuchung von Takada (1994) zur Wortstellung in Grimmelshausens „Simplizissimus", der ebenfalls klar belegt, dass Syntax kein Gegenstandsbereich der Grammatikschreibung im 17. Jahrhundert war. Ebd. S. 215: „Seit Koschlig [ . . . ] ist die These allgemein anerkannt, daß dem Korrektor [der Simplizissimus-Ausgabe - M.H.] Grammatik und Orthographie von Christian Gueintz von 1641 und 1645 ,als sprachliches Vorbild' gedient haben. Aber dies kann mindestens für die Wortstellung nicht behauptet werden, weil Gueintz [ . . . ] in seiner Grammatik dazu nichts vorschreibt. Es ist nicht die Satzlehre, sondern die Wortbildungslehre, welche die damaligen Grammatiker wissenschaftlich interessierte [ . .. ]." 3 Naumann (1986), S. 347 [Sperrung getilgt], ι Schottelius, AA, S. 668-679.

Syntax und Syntagmen

351

von Artikeln 5 , Adjektiven und Substantiven („beyständige und selbständige Nennwörter") 6 , Pronomina 7 , Verben 8 , Partizipien 9 , Präpositionen 1 0 , Adverbien 1 1 sowie von den Konjunktionen 1 2 . Nur ansatzweise kommen S a t z t y p e n wie Frage- und Aussagesatz in den Blick, etwa wenn die Abfolge von Verben und Substantiven behandelt wird 1 3 . Satzbaupläne oder Nebensatztypen — wie sie sich bei der Behandlung von Konjunktionen anbieten — werden nicht systematisch ausgeführt. Ein ganz ähnliches Bild bietet sich in der zweiten maßgeblichen G r a m m a tik des Zeitraums. Gueintz r ä u m t in der DSE der Syntax ebenfalls vergleichsweise wenig R a u m ein. Wenn er auch die Interpunktion nicht explizit in sein Dichotomiensystem a u f n i m m t , so rechnet er sie faktisch doch zur Syntax als „der Wörterfügung zufal" 1 4 . Wie Schottelius sieht er den Kernbereich der Syntax von den Wortarten aus. Allerdings teilt er seine Darstellung nach den G r u p p e n der flektierbaren und nichtflektierbaren Wortarten ein. Aber auch 5

6

Schottelius, AA, S. 693-705. Dabei werden folgende A s p e k t e besprochen: K o n g r u e n z p h ä n o m e n e ; die Wortabfolge innerhalb der ( N o m i n a l - ) P h r a s e ; die V e r w e n d u n g des b e s t i m m t e n u n d u n b e s t i m m t e n Artikels; artikellose N o m i n a l p h r a s e n ; die V e r w e n d u n g von Artikeln in koordinierten N o m i n a l p h r a s e n ; die Verwendung von Artikeln bei der Konversion von Verben in Substantive; der Wechsel von starker und schwacher Deklin a t i o n bei der Auslassung von Artikeln in einer N o m i n a l p h r a s e ; P r o b l e m e , die d u r c h h o m o n y m e Artikelformen (Nom. und Akk.) entstehen; Artikel vor K o m p o s i t a .

Schottelius, AA, 706-729. Folgende Aspekte werden berücksichtigt: die K o n g r u e n z von A d j e k t i v e n und S u b s t a n t i v e n in Kasus, N u m e r u s u n d G e n u s in N o m i n a l p h r a s e n ; die Abfolge von Adektiven und S u b s t a n t i v e n in N o m i n a l p h r a s e n ; die Verwendung von A d j e k t i v e n als P r ä d i k a t s n o m i n a ; die Bildung verschiedener K o m p o s i t a t y p e n ; die Genuskongruenz in K o m p o s i t a ; die m e h r f a c h e Verwendung a t t r i b u t i v e r A d j e k t i v e in Nom i n a l p h r a s e n ; die Konversion von Adjektiven in S u b s t a n t i v e ; Adjektive in Infinitivk o n s t r u k t i o n e n ; adverbial verwendete Adjektive; die Bildung von K o m p a r a t i v - u n d Superlativkonstruktionen. 7 Schottelius, AA, S. 729-740. Folgende Aspekte werden berücksichtigt: die K a s u s - , N u m e r u s - u n d Genuskongruenz; die Verwendung von Reflexiv- D e m o n s t r a t i v - u n d Possessivpronomina; die Konversion von P e r s o n a l p r o n o m i n a in Substantive; die Verw e n d u n g des R e l a t i v p r o n o m e n s so; die M a r k i e r u n g des Vokativs durch 0 , die Verwend u n g von P r ä p o s i t i o n a l a d v e r b i e n ; die a t t r i b u t i v e Verwendung von Partizipien. 8 Schottelius, AA, S. 740-761. Folgende Aspekte werden berücksichtigt: die N u m e r u s k o n gruenz zwischen S u b j e k t u n d P r ä d i k a t ; die Kasusrektion der Verben; die Partizipienbildung; die Verwendung von Auxiliarverben; die Konversion von Verben in S u b s t a n t i v e ; V e r b a l k o m p o s i t a ; der erweiterte Infinitiv m i t zu; b e s t i m m t e Formen der Verbvalenz; unpersönliche K o n s t r u k t i o n e n m i t man und es; polyseme Verben. 9 Schottelius, AA, S. 761-763. Hier stehen die a t t r i b u t i v e u n d adverbiale V e r w e n d u n g von Partizipien im Z e n t r u m . 10 Schottelius, AA, S. 764-773. Dabei werden die A u f z ä h l u n g von P r ä p o s i t i o n s k l a s s e n nach den Kasus, die sie fordern (Akkusativ, Genitiv, Dativ) und die V e r w e n d u n g von P r ä p o s i t i o n e n , die verschiedene Kasus regieren können, b e h a n d e l t . 11 Schottelius, AA, S. 773-785. Er n i m m t eine Klassifikation der Adverbien nach E n d u n g e n vor und geht besonders auf die Formvarianz b e s t i m m t e r Adverbien (ζ. B. scharf vs. schärflich) oder auf die (missbräuchliche) Verwendung von Adverbien in O x y m o r a ein. 12 Schottelius, AA, S. 785-790. Dieses K a p i t e l b e s c h r ä n k t sich auf die A n g a b e von Verwendungskontexten einzelner K o n j u n k t i o n e n . 13 Schottelius, AA, S. 742. 14 Gueintz, D S E , S. 118.

352

S p r a c h a r b e i t u n d Phraseologismen

hier s t e h e n d a n n K o n g r u e n z - u n d Rektionsfragen („Übereinstimmung", „ann e m u n g " 1 5 ) im V o r d e r g r u n d . Durch die v e r k n a p p t e D a r s t e l l u n g kann G u e i n t z in seinen E r k l ä r u n g e n teilweise präziser sein als Schottelius, bei d e m oft der lateinische Text z u m besseren Verständnis hinzugezogen werden muss. Dies kann a m Beispiel der Kongruenz i n n e r h a l b von N o m i n a l p h r a s e n gezeigt werden. Gueintz: „Die beyständige Nenwörter kommen mit dem selbständigen in der Zahl/ geschlechte/ und endung überein/ als: Der grosse Gott. Die teure Zeit." 1 6 Schottelius: „DAs beyständige und selbständige Nennwort/ wenn sie zusammen kommen/ müssen allezeit gleiches Geschlechtes/ gleicher Zahl und Zahlendung seyn/ als: (Si Substantive Adjectivum aut Participium adjungitur, sunt ejusdem Generis, Numeri & Casus.) Ein gutes Wort findet eine gute Stelle. [ . . . ]" 1 7 I n s g e s a m t ergeben sich j e d o c h zwischen Schottelius u n d G u e i n t z sachlich i m Bereich der S y n t a x als G e g e n s t a n d der g r a m m a t i s c h e n Beschreibung keine wesentlichen Differenzen. Somit konzentriert sich die Beschreibung s y n t a k tischer P h ä n o m e n e in den zeitgenössischen G r a m m a t i k e n auf die E b e n e der M o r p h o s y n t a x . N u r ansatzweise werden Valenzaspekte bei der K a s u s r e k t i o n des Verbs e r ö r t e r t . Klassifikationen von Sätzen nach ihrer s y n t a k t i s c h e n S t r u k t u r oder n a c h i h r e m M o d u s dicendi, wie dies in heutigen G r a m m a t i k e n üblich ist 1 8 , spielten noch keine Rolle. Allerdings blieb die S p r a c h b e t r a c h t u n g keineswegs auf der phrasalen E b e n e stehen. Wenn auch die „ W ö r t e r f ü g u n g " ihre Grenze in der V e r b i n d u n g einzelner W o r t a r t e n m i t e i n a n d e r f a n d , so k o n n t e n die „ R e i m k ü n s t e " den fehlenden Bereich zwar nicht ersetzen, a b e r in gewisser Weise k o m p e n s i e r e n . § 1 1 5 : Die „ R e i m f ü g u n g " ist neben der „Maaßforschung" der zweite konstitutive B e s t a n d t e i l der zeitgenössischen „ R e i m k u n s t " 1 9 . Diese selbst bildet zus a m m e n m i t der „ D i c h t k u n s t " die Poetik (s. u.). Es ist kein Zufall, dass Schottelius in seine AA nicht nur diejenigen A r b e i t e n a u f g e n o m m e n h a t , die auch aus h e u t i g e m V e r s t ä n d n i s d e m Gegenstandsbereich der G r a m m a t i k zuzurech15 Gueintz, DSE, S. 96. 16 Gueintz, DSE, S. 97. 17 Schottelius, AA, S. 707. 18 Vgl. ζ. B. zur formalen und funktionalen Definition von Satzarten Duden (1995), S. 591; zu den Modi dicendi Zifonun et al. (1997), S. 607-675; zu Satztypen nach der Stellung des finiten Verbs Eisenberg (1994), S. 408ff. 19 Nach der Unterteilung bei Schottelius, AA, S. 802: „Die Maaßforschung ist das erste Teihl/ und gleichsam der Anfang und Grund der Verskunst/ welche jhre zwey Haubteihle/ nemlich die Wortzeit und Reimmaaß richtig untersuchet und forschet." Zur „Reimfügung" Schottelius, AA, S. 840: „Das andere Haubttheil der Teutschen Reimkunst begreift in sich die Reimfügung: Die Reimfügung aber ist/ welche lehret jede Reime und Reimarten/ nach rechter kunstmessiger Ordnung auf allerhand weise zufügen und zusammen zusetzen/ und begreift die Reimfügung in sich die Abmessung/ die Reimung und die Reimarten."

Syntax und Syntagmen

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nen sind, sondern auch solche, die literarische Textformen betreffen. G e r a d e die „Reimfügung" als Lehre der sprachadäquaten Umsetzung von Versformen betrifft dabei syntaktische Aspekte. Natürlich ist die „Reimfügung" nicht mit der Beschreibung von Satzbauplänen, K o n s t i t u e n t e n s t r u k t u r e n , Satzarten ο. A. zu vergleichen. Jedoch kann sie für den in der damaligen Zeit sehr wichtigen Bereich der literarischen Textproduktion über die Einzelwortebene hinaus Anweisungen und Richtlinien geben, die zu einer „grundrichtigen" Verwendung der deutschen Sprache führen. Es geht hier also nicht allein d a r u m , b e s t i m m t e ästhetische Kriterien zu vermitteln, sondern auch d a r u m , die puren Techniken adäquater Syntax einzuüben. Die Poetiken dürfen daher nicht missverstanden werden als bloße Anleitungen, wie m a n zu einem Poeten wird, der die Kunst der Dichtung beherrscht. Sie sind viel stärker von dieser technischen Seite aus zu verstehen. Die Trennung zwischen Kunst und Technik war den Zeitgenossen ebenso bewusst, wie die Trennung zwischen den inhaltlichen und den formalen Aspekten der Dichtung. Letzteres zeigt ζ. B. die Differenzierung zwischen „ R e i m k u n s t " und „Dichtkunst" bei Schottelius. „Es lesset sich aber ofternante Poeterey füglich theilen in die Reim= oder Dichtkunst: Jene/ die Reimkunst/ lehret die Reden auf mancherley Arten zierlich binden: Diese/ die Dichtkunst entweder die wahre Geschichte mit erdichteten Umständen ausschmücken/ oder künstlich verborgene Gleichnisse finden/ oder dieses beydes (Geschichte und Gedichte) auf den Schauplatz spielweis vorzustellen. Werden also ins gemein die Reime mit den Gedichten/ die Gedichte aber nicht allezeit mit den Reimen verknüpfet [ . . . ]." 2 0 Der „Poetische Trichter" Harsdörffers wurde in den nachfolgenden J a h r h u n derten oftmals als mechanische Anleitung zum inspirierten Dichten verstanden. Er weist jedoch selbst ausdrücklich auf die entscheidende T r e n n u n g zwischen Kunst und Technik hin. „Daß zu der Poeterey absonderliche seltne Gaben der Natur/ und die Erkundigung fast aller Wissenschaften vonnöhten/ kan aus alle wolverfasten und leswürdigen Gedichten beglaubet werden. Die natürliche Fähigkeit solcher Kunst bestehet in einem darzu gleichsam gewidmeten Verstand: Dann gleichwie nicht ein ieder/ der redet und gehet/ singen oder springen kan/ weil seine Stimme/ und seine Füsse darzu nicht schicklich/ also kan auch nicht ein ieder ein Trauer= oder Freudenlied zu Papier setzen/ daraus Feuer und Geist erhelle/ dadurch er den Namen eines Poeten verdienen möchte." 21 Allerdings kann der Sprachinteressierte durch beharrliche Arbeit d e m Ziel, über die Sprache kunstgerecht verfügen zu können, ein gehöriges Stück näher kommen. Wie oft im Z u s a m m e n h a n g mit der Spracharbeit tauchen hier nicht nur positiv konnotierte Ausdrücke wie Mühe, Arbeit, studiren und Wissenschaft auf sondern auch analoge Argumentationsformen (Dichtkunst als Jungfrau).

20 Schottelius, AA, S. 801 [Fettdruck getilgt], 21 Harsdörffer, P T II, Vorrede.

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Spracharbeit und Phraseologismen „5. Es ist die edle Poeterey eine Jungfrau/ die ihr lange Zeit aufwarten lässet/ und nicht sonder grosse Mühe/ benebens zuvor besagter Fähigkeit und Belieben/ zu erwerben. Welcher ihr etwan sechs Stunden [Anspielung auf den Untertitel des P T - Μ. H.] Gesellschaft geleistet/ hat vielleicht einen Zutritt erlangt/ aber ihre Tugend noch lang nicht erkennen lernen/ und muß er zuvor nicht mit geringer Wissenschaft ausgezieret seyn/ wann er dieses Orts Ehre einlegen will." 22

Genauso klar äußert sich Schottelius zu diesem P u n k t in seiner „ R e i m k u n s t " . Zugleich gibt er an, weshalb die Poetik konstitutiver Bestandteil der Sprachb e t r a c h t u n g ist. Sie ist die Gebrauchsgrammatik für den kommunikativen Bereich der Dichtung. Als solche kann sie vermitteln, wie die deutsche Sprache situationsadäquat („kunstgründig") und systemgemäß („grundrichtig") im Bereich der Literatur verwendet werden kann. „Diese angedeutete Wissenschaft oder Anleitung/ kan an sich keinen Poeten machen/ noch demselben die Kunst eintröpflen: Denn ein Poetischer Geist ist von sich selbst von Sinnreichen anmuhtigen Einfallen/ voll Feuers/ steiget unnachfölgig/ kekkes Unternehmens/ flügelt sich mit Göttlicher Vernunft/ Übertrift die Altags=Erfindungen/ und übersteiget das/ was nur erlernet wird: Sondern dieses wird nur alhe [!] durch die Wissenschaft verstanden/ wie ein munters geistreiches Gemüht/ der seinen Gedanken die süssen Musen zu begleiterinnen beyfügen kan/ jeden seinen Sinnbegrif und jede Erfindungen in Teutsche Worte nach Poetischer Kunst/ Zier und Art einkleiden und also die Teutsche Haubtsprache Kunstgründig und grundrichtiglich/ nach aller beliebender Mannigfaltigkeit/ auf Poetische weise/ anwenden/ aufsuchen und gebrauchen künne,"23 Werke wie der P T Harsdörffers oder die „Reimkunst" von Schottelius sind so gesehen Anleitungen zu einer kommunikativen Verhaltskompetenz im Bereich der Gelegenheitsdichtung. Die kommunikative Aufgabe, zu b e s t i m m t e n Anlässen (Hochzeit, Tod, E h r u n g etc.) Gedichte zu verfassen, sollte daher weniger unter dem ästhetisch-literarischen Kriterium gesehen werden, als vielm e h r als Aufgabe zur Verfertigung bestimmter Gebrauchstextsorten. Dies ist sicherlich nur ein Aspekt der Barockpoetiken, der jedoch im Zusammenhang mit der Spracharbeit relevant ist. Die technischen Aspekte der Dicht u n g sind es, die für den Spracharbeiter das notwendige I n s t r u m e n t a r i u m für die Anwendungen darstellen. Dies gilt für die „Maaßforschung", die sich mit Wortakzent 2 4 und M e t r u m auseinandersetzt, in gleicher Weise wie für die „Reimfügung". Als Ergänzung und teilweise Kompensation der syntaktischen Beschreibung ist jedoch die „Reimfügung" relevant. Systematisch ist sie in drei Abteilungen gegliedert: die „Abmessung" (1), die „Reimung" (2) und die „ R e i m a r t e n " (3). 22

23 24

Harsdörffer, P T II, Vorrede. Vgl. d a z u auch d a s 151. Gesprächspiel „die P o e t e r e y " in F Z G IV, S. 45-59. Schottelius, A A , S. 800f. [Hervorhebung vom Verf.]. N u r in der Terminologie klingt bei Schottelius noch die lateinische T r a d i t i o n als „längere", „ k ü r t z e r e " u n d „ m i t t l e r e Wortzeit" an.

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1. Die „Abmessung" befasst sich einerseits mit den Zäsuren innerhalb eines Verses. Der Einschnitt zur Versmitte soll sowohl von der Wortabfolge als auch inhaltlich stimmig sein. Andererseits geht es u m die harmonische Verbindung von Metren als intonatorischen Formen mit dem entsprechenden Sprachmaterial. Hier kann Schottelius wiederum die Vorzüge der deutschen Sprache hervorheben. Das M e t r u m muss nicht mit der Wortgrenze übereinstimmen, „sonderen es können sich entweder die Reimglieder mit iedem Wort wol endigen/ oder künnen lauter einsilbige in sich h a b e n / oder auch sich fein zumitten der W ö r t e r abschneiden." 2 5 2. Die „Reimung" behandelt zum einen männliche („steigende") und weibliche („fallende") Reimendungen. Andererseits werden die „reinen" und „unreinen Reime" vorgestellt. Damit sind die Fälle gemeint, in denen die Reime nicht nur lautlich, sondern auch in der Schreibung übereinstimmen („reine Reime") und diejenigen, bei denen die Schreibung (trotz gleicher Lautung) abweicht („unreine Reime"). Diese Differenzierung weist wiederum auf die enge Verbindung zwischen Laut und Buchstabe hin, die im 17. J a h r h u n d e r t postuliert wurde 2 6 . „Unrein" sind gemäß dieser Definition Reime wie „weht, höht, seet &c." auf „geht" oder „wehr/ leer/ s t ö r / gebär/ &c." auf „ehr" 2 7 . Zudem zeigen die von Schottelius angeführen Beispiele dialektale Besonderheiten wie die in der obersächsischen Prestigevarietät verbreitete E n t r u n d u n g von ö > e auf. 3. Der Abschnitt zu den „Reimarten" betrifft schließlich die größten Einheiten des Gedichts. Dort wird neben den Vers-, S t r o p h e n - und Gedichtformen auch eine Klassifikation der Gedichte nach inhaltlichen Kriterien vorgenommen. Insbesondere die Demonstration der einzelnen Gedichttypen liefert nicht nur eine theoretische Fundierung praktischer Spracharbeit. Indem die einzelnen Gedichttypen jeweils mehrfach durch Beispiele belegt werden, kann die Tauglichkeit der deutschen Sprache als Literatursprache unter Beweis gestellt und d a m i t Spracharbeit betrieben werden. Zusammenfassend kann die „Reimfügung" als Ergänzung der g r a m m a t i s c h e n Beschreibung auf der syntaktischen Ebene verstanden werden. In ihr wird zwar keines der traditionellen oder später wichtigen T h e m e n (Satzbaupläne o . A . ) behandelt. Dennoch wird eine kommunikative Verhaltenskompetenz vermittelt, die über die Einzelwortebene hinausreicht bzw. die teilweise bis zur Textsortenkompetenz reicht (Gedichttypen). Insofern kompensiert der Teil der „Reimkunst", der sich mit dem Z u s a m m e n b a u , der Kombination 25

Schottelius, AA, S. 845. Als Beispiel für Wortfolgen, die ü b e r d a s j a m b i s c h e M e t r u m hinausreichen, f ü g t er an: Gerech-ter Leut-e Licht. 26 Schottelius, AA, S. 866: „Ein unreiner Reim oder eine unreine R e i m u n g i s t / wan der R e i m l a u t oder die R e i m l e t t e r e n nach der Schreibung nicht b e h a l t e n w e r d e n / u n d doch d e m Gehör g e m e ß k o m m e n [ . . . ] . " 27 Schottelius, AA, S. 867.

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Spracharbeit und Phraseologismen

von Versen und mit der Harmonie zwischen Metrum und Sprachmaterial befasst, bis zu einem gewissen Grad die in den zeitgenössischen Grammatiken noch fehlenden Teile der syntaktischen Beschreibung. Unbestritten bleibt dabei die wesentliche Einschränkung dieser Kompensationsleistung, insofern nur ein bestimmter Kommunikationsbereich (Literatur) und dieser wiederum nur in bestimmten Textsorten (Lyrik) erörtert wird. §116: Um die Funktion von Phraseologismen in der Sprachtheorie des 17. Jahrhunderts nachvollziehen zu können, müssen zunächst zwei Grundannahmen erörtert bzw. wiederholt werden. Die erste Grundannahme betrifft das besondere Verhältnis der sprachlichen Zeichen zu ihren Referenten. Im ontologischen Sprachpatriotismus wurde durchaus davon ausgegangen, dass die Zeichen prinzipiell motiviert und nicht arbiträr sind. Nach diesem sprachtheoretischen Verständnis bilden die Wörter der deutschen Sprache in spezifischer Weise das Wesen der Dinge ab, die sie bezeichnen. Natürlich ist dies nicht für alle Zeichen offenkundig und einfach nachvollziehbar. Am besten lässt sich dies noch im Bereich der Lautmalerei und der Lautsymbolik belegen. Schottelius und Harsdörffer, die zugleich die prominentesten Vertreter des ontologischen Sprachpatriotismus waren, bringen in diesem Zusammenhang immer wieder dieselben Klangbeispiele. Vom Prinzip her gilt die Motiviertheit der Wörter aus dem Wesen der bezeichneten Sache heraus auch für die Wörter, bei denen diese Verbindung nicht mehr so offensichtlich ist, bzw. bei denen der Sprachwandel die ursprünglich klare Verbindung verdunkelt hat. Als Beispiele lassen sich hier die Personennamen nennen, bei denen der Rückschluss vom Namen und der in ihm steckenden Semantik auf den Namensträger nicht mehr plausibel war. Generell trägt der Teil des Sprachwandels, der für eine Entfernung von der idealisierten Ursprache verantwortlich ist, dazu bei, dass die wesenhafte Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat verwischt wird. Die zweite Grundannahme zielt auf die erkenntniskonstitutive Funktion, die der Sprache im 17. Jahrhundert beigemessen wurde. Wörter und darüber hinausgehend auch bestimmte Syntagmen (Phraseologismen) dienen nicht einfach als Bezeichnungsmittel. In ihnen vollzieht sich das Denken und die Erkenntnis der Welt. Sprache gewinnt somit eine genuine welterschließende Funktion. Indem man sich eine Einzelsprache, ζ. B. das Deutsche, aneignet, erschließt man sich dadurch die Welt. Die Sprache repräsentiert nicht in einfacher Weise die Welt, sondern sie konstituiert sie. Es ist von daher durchaus gerechtfertigt, von einer frühen Weltbildhypothese im 17. Jahrhundert zu sprechen, wie dies etwa Aarsleff und Werlen tun 2 8 . Ganz im Sinne des Sprachpatriotismus kommt diese welterschließende Funktion der deutschen Sprache in besonderem Maße zu. Die Verschiedenheit der Sprachen und damit auch der unterschiedliche Zugang zur Welt ergibt sich wiederum aus Sprachwandelphänomenen. Harsdörffer fasst die wichtigsten Argumente zusammen. 28

Vgl. Aarsleff (1975), S. 397f. Er nennt aus dem deutschen Sprachraum nicht nur die sprachliche Weltsicht der Mystik (Böhme) sondern auch Schottelius und nach ihm Leibniz als Vertreter dieser Auffassung; Werlen (1989), S. 13.

Syntax und Syntagmen

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Als die Ureinheit der Sprache verloren ging, t r a t e n Wanderbewegungen ein. Zusätzlich sorgten die klimatischen Unterschiede und v. a. auch Unterschiede in den Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften der Sprechenden d a f ü r , dass sich die Sprachen auseinanderentwickelten (vgl. §26, S. 39). Generell wird von einem engen Konnex zwischen Sprache und Sitten, also Verhaltensformen bzw. Verhaltenskodex ausgegegangen. Die Konzeption der Phraseologismen ergibt sich aus diesen G r u n d a n n a h m e n . Waren die Lautmalerei und die Lautsymbolik die besten Beispiele, u m die prinzipielle Natur-Motiviertheit der deutschen W ö r t e r vor Augen zu führen, so sind die Phraseologismen die besten Beispiele, u m die darüber hinausgehende erkenntnisstiftende und wahrheitskonstituierende Funktion der deutschen Sprache zu zeigen. Unter Phraseologismus ist im 17. J a h r h u n d e r t i. d. R. entweder eine (sprichwörtliche) Redensart, eine lehrhafte Sentenz oder ein Sprichwort zu verstehen 2 9 . Der Begriff „Phraseologismus" ist auch in der heutigen Forschung nicht eindeutig definiert 3 0 . In einer weiter gefassten Definition lassen sich auch Sprichwörter, Sentenzen und Redensarten zur P h r a seologie rechnen 3 1 . Sie erfüllen die Kriterien eines relativ hohen Grades an Idiomatizität 3 2 sowie an Stabilität/Fixiertheit. Der in der heutigen Forschung angesetzte weite Begriff von „Phraseologismus" 3 3 , der daneben auch noch konventionalisierte Wendungen, stehende Vergleiche ( z . B . Geld wie Heu haben) ο. A. umfasst, ist für die vorliegende Fragestellung einzuschränken. Wenn daher im Folgenden von Phraseologismus gesprochen wird, sind d a m i t die für das 17. J a h r h u n d e r t wesentlichen H a u p t t y p e n Sprichwort, Sentenz und Redensart gemeint. Der in der heutigen Forschung diskutierte Randbereich der Phraseologismen, der den Übergang zur Syntax m a r k i e r t , spielte in der damaligen Sprachbetrachtung noch kaum eine Rolle. Je größer der Schatz an Sprichwörtern, Sentenzen und Redensarten in einer Sprache ist, umso wertvoller ist folgerichtig auch diese Sprache. Voraussetzung dafür ist natürlich, dass die jeweilige Sprache von ihrem System her ü b e r h a u p t dazu in der Lage ist, die Wahrheiten in Phraseologismen zu fassen. Sie muss eine entsprechende S t a m m w ö r t e r m e n g e („reichlich") und ausreichende W o r t b i l d u n g s - und Wortverbindungsmöglichkeiten („künstlich") aufweisen. Die deutsche Sprache erfüllt diese Bedingungen. Der Zuwachs an Sprichwörtern ergibt sich dann fast zwangsläufig mit einer Ausbreitung des Kommunikationsradius. Je mehr Welt mit der Sprache erschlossen wird, u m s o 29

Zu dieser Unterscheidung vgl. die von Harsdörffer, F Z G II, S. 331-334 v o r g e n o m m e n e Differenzierung; s. §121. 30 Vgl. P a l m (1995), S. 2: „Die terminologische Vielfalt (böse Zungen b e h a u p t e n Verwirrung!) in der Phraseologie ist b e r ü h m t - b e r ü c h t i g t u n d p r o b l e m a t i s c h . " Vgl. auch B u r g e r / B u h o f e r / Sialm (1982), S. 46-56; Mla ? ek (1983); Fleischer (1982); Duden (1992), S. 11 ff.; zu verschiedenen Definitionsversuchen Pilz (1978). 31 Vgl. P a l m (1995), S. 3f.; D u d e n (1992), S. 12. 32 Die B e d e u t u n g des P h r a s e m s ergibt sich nicht a u s der S u m m e seiner Teile. Es erfolgt i m m e r eine m e h r oder weniger starke semantische U m d e u t u n g . Zu den verschiedenen P r o b l e m e n der B e s t i m m u n g des Idiomatizitätsgrades vgl. P a l m (1995), S. 9-29. 33 Vgl. Mlagek (1983), S. 135; Pilz (1987), S. 129.

358

Spracharbeit und Phraseologismen

größer ist die Menge an Grundwahrheiten, die sich in dieser Sprache niederschlägt. Schottelius formuliert diesen Gedanken mit dem stereotypen Hinweis auf „Handel und Wandel". „Mit d e m Zuwachs einer jedwederen Sprache sind auch mit der Zeit die Sprichwörter oder Sprichwörtliche R e d a r t e n in solcher Sprache e n t s t a n d e n : je reichlicher und künstlicher eine Sprache gestiegen/ und je mehr solches Volkes W e s e n / Handel und Wandel zur A u f n a h m und Flor erwachsen und sich a u s g e b r e i t e t / j e m e h r sind solcher gleichsam Landleuftiger Schlußreden/ S p r i c h w ö r t e r / nachdenkliche mit wenig viel Dinges in sich e n t h a l t e n d e Redarten a u f k o m m e n [ . . . ]." 3 4

Ein Beweis für die Bedeutung der Phraseologismen ist die semantische Ökonomie, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Die Tatsache, dass „mit wenig viel Dinges" gesagt werden kann, ist ein Indiz für die Gültigkeit der Phraseologismen. Denn nur dadurch, dass sie Wahrheiten transportieren, konnten sie sich bewähren, und nur durch die Prüfung in der Zeit vermochten sie es, ihre reduzierte, eben vom sprachökonomischen Standpunkt aus betrachtet optimale Form zu erhalten. Dieses Verändern, Abschleifen und Veredeln der Sprichwörter im Laufe der Sprachgeschichte wird nicht in Beispielen belegt, sondern mit einer analogen Argumentation verstärkt. Wie die Sprache das Land so verkörpern die Sprichwörter bestimmte Kinder, die dieses Land bevölkern. „In den Sprichwörteren oder in den Sprichwörtlichen R e d a r t e n stekket der rechte s c h m a k / rechte K ü h r und das eigene der Sprache; D a n ein Sprichwort [ . . . ] n i m m t seine A n k u n f t als ein eigenes a n g e b o r n e s Landkind im L a n d e / wechset und wird gebohren den Landsleuten im M u n d e / und ist also ein natürlich Klang der Sprache und ein Ausspruch und Schluß d e s s e n / was als eine T e u t s c h e L a n d l e h r e / bekant w o r d e n . " 3 5

Die Bindung der Wahrheit an eine Einzelsprache ist jedoch nur ein Teil des Phraseologismus-Konzeptes. Genauso wichtig ist die Verkapselung der Wahrheit in der Sprachform. Schottelius, der sich im dritten Traktat der AA („Von den Teutschen Sprichwörteren") intensiv mit ihrer sprachsystematischen Stellung auseinandersetzt, geht dabei sogar soweit, die in den Sprichwörtern steckenden Wahrheiten zu göttlichen Wahrheiten zu überhöhen. Aus den Erfahrungstatsachen werden so — in einem Kurzschlussverfahren — geradezu ewige Wahrheiten. Die vox populi, die im Sprichwort ihren Ausdruck findet, wird so zur Vox DEI. „Der Kern der W i s s e n s c h a f t / der Schluß aus der E r f a h r u n g / der Menschlichen Hendel kurtzer Ausspruch und gleichsam des weltlichen Wesens Spiegel/ s t e k k e t in den Sprichwörteren und stellet sich jedermänniglich klar vor Augen. D a n nicht allein/ wie Dr. Zinkgräfe hievon r e d e t / h a t die N a t u r und V e r n u n f t s e l b e r / solche Sprichwörter in der Vorfahren Hertz und M u n d geschrieben und eingelegt/ sonderen es h a t sie auch die langwierige P r o b und E r f a h r u n g / unserer gantzen N a t i o n / von Geschlecht zu Geschlecht geleh34 Schottelius, AA, S. 1102. 35 Schottelius, AA, S. 1111; ebenso Schottelius (1669/1980), S. 375.

Syntax u n d Syntagmen

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ret und also bestetiget. Daß unter aller Menschen Uhrtheilen und Sprüchen nicht warhaftigers noch gewissere seyn kan/ als eben die Sprichwörter/ da man oft recht von sagen mag/ vox populi, vox DEI."36 Diese Konzeption der Phraseologismen ist keineswegs einzigartig für die deutschen G r a m m a t i k e r des 17. J a h r h u n d e r t s . Die A n n a h m e , dass in den Sprichwörtern grundlegende Wahrheiten in national sprachlicher Form niedergelegt seien, war im 17. J a h r h u n d e r t und darüber hinaus gängig. Dies zeigt ζ. B. ein Blick auf G i a m b a t t i s t a Vico, der sich in seiner „Szienza nuova" (1725) in dieser Funktion auf sie bezieht. Auch bei ihm sind sie Kondensate universaler Wahrheiten in einer Einzelsprache. Bei der Erklärung der Verschiedenheit menschlicher Sprachen über K l i m a - , N a t u r - und Sittenunterschiede gesteht er den Sprichwörtern eine wichtige Rolle zu. „Aber noch bleibt die größte Schwierigkeit: Wie konnten ebenso viele gemeine Sprachen entstehen, als es Völker gibt? Um diese zu lösen, müssen wir hier folgende wichtige Wahrheit feststellen: wie sicherlich den Völkern vermöge der Verschiedenheit des Klimas verschiedene abweichende Naturen zugefallen sind, aus denen so viele verschiedene Sitten hervorgegangen sind, so sind aus ihren verschiedenen Naturen und Sitten ebenso viele verschiedene Sprachen erwachsen, so daß sie, wie sie eben wegen dieser Verschiedenheit ihrer Naturen ebendieselben Vorteile oder Bedürfnisse des menschlichen Lebens mit verschiedenen Augen angesehen haben — woher so viele meistenteils verschiedene und gelegentlich einander entgegengesetzte Gewohnheiten der Völker erwachsen sind —, so und nicht anders ebenso viele, als sie selbst sind, verschiedene Sprachen hervorgebracht haben. Das wird bis zur Evidenz erwiesen durch die Sprichwörter, welche Maximen aus dem menschlichen Leben sind, die dem Wesen nach ein und dieselben, aber nach so vielen verschiedenen Gesichtspunkten ausgedrückt sind, als es Völker gegeben hat und gibt, wie in den Grundsätzen erwähnt worden ist." 3 7 In diesem P u n k t umschreibt und erklärt der italienische Sprachhumanist Vico das, was auch von den Sprachtheoretikern der deutschen Sprache im 17. J a h r hundert so gesehen wurde. Die Sprichwörter werden zum Beweismittel für ein grundlegendes Prinzip der Sprache. In einer Einzelsprache drücken sich die für die jeweilige Sprachgemeinschaft spezifischen Umgebungsbedingungen aus, sie sind in sie eingegangen. Dadurch kann die Einzelsprache nicht nur ein spezifisches Weltbild vermitteln, sondern Denken und Wahrheit vollziehen sich gleichermaßen in ihr. Bereits im vorangegangenen Kapitel wurde auf die Funktion von Listen zur Legitimation der deutschen Sprache eingegegangen (vgl. §110). Die Sprichwörtersammlungen konnten diesem Zweck dienen, weil den Phraseologismen diese spezifische Erkenntnisfunktion zugebilligt und d a m i t die Listen als Wissensspeicher vorgeführt wurden. Daneben boten sich diese Spracheinheiten jedoch noch für eine Reihe weiterer Anwendungen der Spracharbeit an. Die Sprichwörter waren — wie die Stammwörter — Einheiten des Lexikons. Von 36 Schottelius, AA, S. 1102. 37 G i a m b a t t i s t a Vico „Szienza nuova" zitiert nach B r a u n (1996), S. 156 f.

360

Spracharbeit und Phraseologismen

daher waren sie ebenso als Material für Sprachspiele geeignet. Für den sekundären Spracherwerb in der Spracharbeit waren sie geeignete und notwendige Instrumente. Schottelius weist in der Einführung zu seiner Sprichwörterliste ausdrücklich darauf hin, dass zur vollen Kompetenz in der deutschen Sprache die Kenntnis ihrer Sprichwörter gehöre (vgl. §110, S. 326). Die idiomatische Ebene der deutschen Sprache steht damit für den sekundären Spracherwerb gleichberechtigt neben den Stammwörtern. Es gilt somit generell, dass „niemand sich einbilden dürfe in Teutscher Sprache sonderliche K u n s t / es sey Schrift= oder Mündlich/ z u t h u n / wan er nicht der rechten Teutschen Redarten zugleich mit kündig [ . . . ]." 3 8

Mit der erkenntniskonstitutiven Funktion der Sprache und insbesondere der Sprichwörter ist auch das ethische Potential, das in ihnen steckt, angesprochen. Neben der Sprachlegitimation und der Wissensvermittlung haben Phraseologismen für Schottelius eine präventive bzw. regulative Funktion. „Wehre auch der Teutschen Jugend zu vielen guten ersprießlich/ wan die Teutschen Sprichwörter recht bey Zeiten beygebracht und erkläret würden: Solches könte oft viel böses hinderen/ dan solche erlernte anmuthige Hendel bleiben im Gedächtniß/ und halten oftmals böse Einfalle zurükk." 3 9

Hier schließt sich der Kreis wieder, den die Spracharbeit von ihren Zielen her umschreibt. Die Arbeit mit den Sprichwörtern ist Sprachvermittlung im besten Sinne, dient sie doch der Sprachlegitimation, der Welterkenntnis und letzlich auch der Verhaltensorientierung. Zuletzt bleibt schließlich die Frage, auf welche Weise die Phraseologismen Erkenntnisse vermitteln konnten? Vereinfacht lässt sich diese Vermittlung wie folgt darstellen. Der Phraseologismus ist einerseits eine Beschreibung und Beurteilung einer ganz bestimmten Situation. Diese wörtliche Lesart ist zwar nicht für alle Phraseologismen sinnvoll, als Ausgangspunkt für die zahlreichen übertragenen Lesarten kann sie jedoch in jedem Fall dienen. Ein Beispiel von Schottelius mag für viele stehen: „Es gehet zu wie in König Artus Hofe. König Artus zu Britannien hat Lust gehabt zu allem Ritterspiel/ wie man es auch hat erdenken mögen/ daran er auch keinen Kosten hat erwinden lassen. Es haben alle Könige und Fürsten des gantzen Occidens ihre Kinder und Adel in König Artus Hof geschikt/ Ritterspiel/ Zucht/ E h r e / und Manliche T h a t e n daselbst zu lernen. Die versamlung der Ritter ließ die Taffeirunde/ oder die Meßeney/ viel König und F ü r s t e n / wen sie den Hofe und das geschrey der warhaftigen Helden besichtigen wolten/ wurden sie veruhrsacht/ aus Liebe und Redligkeit der Gesellschaft d a zubleiben/ und in allen Landen Abentheuer und Mafiheit zubrauchen und zuerfaren. An diesem Hofe ward niemand kein Recht/ kein R i t t e r s c h a f t / kein Essen noch Trinken versagt. Wenn nun jemand eines Mannes Haußmildigkeit/ Z u c h t / und gute Außrichtung/ G ü t e und guten Willen/ der ihm widerfahren i s t / 38 Schottelius, A A , S. 1112. 39 Schottelius, AA, S. l l l l f . ; vgl. auch §38.

Wissenskonstitution durch Analogien

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auf das allerhöchst rühmen und preisen will/ so sagt e r / was sol ich sagen/ es ging zu wie in König Artus Hofe/ da war nichts vergessen/ daß zu Ehren uii aller Erbarkeit dienet." 40 Die besondere Erkenntnisfunktion der Phraseologismen besteht in ihrer Ubertragbarkeit. Gerade die Tatsache, dass sie sich in vielen verschiedenen, vergleichbaren Situationen anwenden lassen, macht ihren sprachsystematischen Wert aus. Ein Urteil, das sich in der Praxis bewährt h a t , findet zunächst seinen Ausdruck in der Form eines Sprichworts. Dann wird es i m m e r wieder auf neue konkrete Fälle angewendet. Diese werden dadurch in einer bestimmten Perspektive wahrgenommen. Sie werden so durch den Filter gesehen, den die im Sprichwort beschriebene Situation vorgibt. Eine Teilmenge der Phraseologismen beruht zudem auf einem Vergleich. Dafür ist das obige Zitat ein Beispiel. Hier wird das analoge Schlussverfahren noch deutlicher als bei den Sprichwörtern, die ein allgemeingültiges Urteil ausdrücken, ζ. B. „Wer ein Jungfrau schändet/ der stirbt keines guten Todts." 4 1 Durch die Ubertragungsleistung von bekannten auf neue Situationen rücken d a m i t Phraseologismen in die Nähe eines Verfahrens, das nicht erst und nicht nur im 17. J a h r h u n d e r t weit Verbreitet war: das Argumentieren über Analogien, d. h. die Erklärung eines (evtl. unbekannten) Konzeptes oder Sachverhaltes auf der Grundlage eines anderen, bereits bekannten bzw. unstrittigen Konzeptes.

9.2

Wissenskonstitution durch Analogien

§117: In der Argumentation und Wissensvermittlung des 17. J a h r h u n d e r t s sind die H a u p t m i t t e l Analogien. In unserem Z u s a m m e n h a n g sind sie bereits an den verschiedensten Stellen aufgetaucht, etwa wenn das Konzept „Poetik" als „Jungfrau" verstanden wird, der m a n lange und mühevoll a u f w a r t e n muss, bis sie einen erhört 4 2 . Ebenso wichtig waren Analogien bei der Fremdwortfrage, wenn die inkriminierten Fremdwörter als Personen erscheinen, denen das „Stadtrecht" oder das, „Bürgerrecht" zuerkannt werden kann oder — wegen ihrer A b k u n f t („Hurenkinder" 4 3 ) auch nicht. Hier liegt ein komplexes metaphorisches Modell zugrunde, zu dem neben Anthropomorphisierungen auch Konzepte wie „ S t a d t " gehören. Gleiches gilt für die B e s t i m m u n g der „Sprichwörter" als „Landkinder" 4 4 oder für die besonders plastischen Personifizierungen der deutschen Sprache als gedemütigte Frau („Bettelweib" 4 5 u. Α.). Hinzu kamen die G e b ä u d e - und die Wachstumsmetaphorik, in der die „Stammwörter" als „wolbepfälte Gründe" oder „saftvolle Wurtzelen" 4 6 verstanden wurden.

40 Schottelius, AA, S. 1139. Ii Schottelius, AA, S. 1138. « Vgl. §115, S. 354. 43 Schottelius (1640/1908), S. 23. 44 Vgl. §116, S. 358. 45 Schottelius (1640/1908), S. 6. 46 Schottelius, AA, S. 50.

362

Spracharbeit und Phraseologismen

Der Begriff der Analogie soll im Folgenden weit gefasst sein. Nach den Ergebnissen der kognitiven Metapherntheorie sind darunter nicht allein explizite Vergleiche zu verstehen. Zu den Analogien gehören genauso die verschiedenen Arten der Metaphern, Allegorien, Metonymien etc. Obwohl nicht davon ausgegangen werden kann, dass Einigkeit in Bezug auf die Begriffsabgrenzungen und -definitionen besteht, so ist doch die Funktionsweise und der Zweck der Analogien weitgehend unstrittig. Der wesentliche Punkt in der Analogie als Argumentationsmuster ist, dass aus einem Quellkonzept, das in seiner Struktur und / oder in seinem Inhalt vertraut ist, eine Projektion auf ein Zielkonzept stattfindet. Nicht der Vergleich zweier Konzepte auf Grund eines gemeinsamen semantischen Merkmals (als tertium comparationis) sondern die Projektion von Begriffsstruktur und -inhalt von einem Konzept auf ein anderes ist dabei das Wesentliche. So verstandene Analogien greifen auch dann, wenn das Zielkonzept weder inhaltlich noch von seiner Struktur her bekannt ist, sondern erst durch das metaphorische Modell konstituiert und fassbar werden. Es wird nicht lediglich ein semantisches Merkmal aus dem Quellkonzept auf das Zielkonzept übertragen. Vielmehr wird das Zielkonzept über das Quellkonzept erst erschlossen. Es geht also um weit mehr als um eine bloße Merkmalsübertragung im Sinne der Bildspender-BildempfängerVorstellung. Von daher können Analogien durchaus semantisch konstitutiv für das Zielkonzept sein. Gerade dann, wenn es sich um abstrakte Begriffe (ζ. B. „Sprache") handelt, findet die semantische Konstitution des Begriffs maßgeblich unter Zuhilfenahme solcher Analogien statt. Die Geschichte der Sprachwissenschaft hat zur Genüge gezeigt, wie stark solche Analogien gewirkt haben. Sie reichen von komplexen Analogien wie Organismus-Metaphern, über Personifizierungen, bis hin zu einfachen Modellen, die sich in Ausdrücken wie Inhalt (Container-Metapher) oder Wert (Geld-Metapher) eines Zeichens zeigen. Dass Metaphern nicht allein stilistische Mittel, Ausschmückungen rhetorischer Art, semantische Abweichungen ο. A. sind, kann mittlerweile als gesichert gelten. Die Ergebnisse von Studien aus dem Bereich der kognitiven Psychologie und der kognitiven Metapherntheorie sprechen für die wissenskonstituierende Funktion von Analogien auf der Grundlage metaphorischer Modelle 4 7 Aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive wird das 17. Jahrhundert oft als „vorwissenschaftlich" dargestellt. Zu dieser Charakterisierung trägt maßgeblich bei, dass in dieser Zeit die Verwendung analoger Argumentionsmuster in gelehrten Texten gängig und üblich war. Vereinfacht gesagt: Neben Sachunterschieden war es auch die metaphernreiche Diktion der Texte, die zu ihrer späteren Abwertung geführt haben. Für den Bereich der Fachlichkeit und der Fachsprachen wurde lange angenommen, dass hier Metaphern allenfalls als ein Hilfsmittel für die Lehre eingesetzt werden dürften. Für die Konsti47

Aus der ständig wachsenden Literaturmenge sei hier auf einige „Klassiker" und Standardwerke verwiesen: Lakoff/Johnson (1980), Lakoff (1987)(1989), Johnson (1987), Gentner/Gentner (1983), Ortony (1993), Vosniadou (1989). Weitere Literatur bei Hundt (1995).

Wissenskonstitution durch Analogien

363

t u t i o n des Gegenstandsbereiches selbst wurden sie als irrelevant b e t r a c h t e t . Diese A n n a h m e hat sich allerdings als verfehlt erwiesen. Die K o n s t i t u t i o n von Wissen über analoge Schlüsse findet nicht lediglich im Alltag und in der Alltagssprache s t a t t , sondern sie gilt für alle Wissensbereiche. Dies k o n n t e an verschiedenen Fachsprachen gezeigt werden. Metaphorische Modelle u n d Analogieschlüsse sind vielmehr eine K o n s t a n t e in der historischen Entwicklung aller Kommunikationsbereiche, d. h. auch der Fachsprachen. F ü r die historische Entwicklung der Techniksprache hat dies Jakob (1991) gezeigt. Ähnliche metaphorische Modelle wie in der Techniksprache ließen sich in der historischen Fachsprache der Geldtheorie nachweisen. Mit großer Konstanz tauchen hier vom Beginn geldtheoretischer Überlegungen bis heute b e s t i m m t e Basismodelle analogen Schließens (Mechanik-, Flüssigkeits-, C o n t a i n e r - M e t a p h o r i k u. A.) auf 4 8 . Die einzelnen metaphorischen Modelle werden im Laufe der Zeit zwar weniger explizit versprachlicht, sie liegen den Konzepten aber nach wie vor zugrunde und sind zu ihrem Verständnis wesentlich. Von daher erscheint auch die metaphernreiche Sprache im 17. J a h r h u n d e r t in einem anderen Licht. Allein die Tatsache, dass hier metaphorische Modelle in sehr expliziter und ausgebauter Form eingesetzt werden, kann nicht per se als Beleg für ihre „Vorwissenschaftlichkeit" gewertet werden. Hier kommt ein grundlegendes semantisches Prinzip zum Tragen, das sich lediglich in seiner Ausprägung im Laufe der Zeit verändert hat. Das Argumentieren auf der Grundlage von Analogien ist eine Grundkonstante jeden Diskurses. Daher ist es nicht verwunderlich, dass auch im Kontext der Sprachlegitimation im 17. J a h r h u n d e r t die Verwendung analoger Argumentationsmuster eine maßgebliche Rolle spielte. In der Frühen Neuzeit wurden die Analogien häufiger und ausführlicher versprachlicht eingesetzt als in heutigen fachsprachlichen Texten. Sie prägten d a m i t den Text in offenkundigerer Weise. Andererseits waren sie in ihrer S t r u k t u r häufig komplexer als die in modernen Texten oftmals auf einfache M e c h a n i k - oder Raumorientierungskonzepte reduzierten metaphorischen Modelle. W ä h r e n d die Basismetaphorik, die sich auf Orientierungen im R a u m oder auf einfachste Handlungskonzepte bezieht, erkenntnistheoretisch unhintergehbar ist, gilt dies für so komplex strukturierte Modelle wie die des „Bürgerrechts" nicht. Zwar basieren auch diese letztlich auf einfachen metaphorischen G r u n d l a gen 4 9 , als Analogien sind sie jedoch im Text komplexer s t r u k t u r i e r t . Die Relevanz so verstandener Analogien für den Bereich der literarischen Textproduktion ist bekannt und muss daher nicht näher erläutert werden. Der gesamte Bereich der Emblematik 5 0 und der Topik 5 1 gehören hierher. Die großen Inventare an metaphorischen Umschreibungen und die I n t e r p r e t a t i o n i s H u n d t (1995). 49

Das komplexe Modell „Bürgerrecht" lässt sich letztlich wieder auf R a u m o r i e n t i e r u n gen, Containervorstellungen und A n t h r o p o m o r p h i s i e r u n g e n z u r ü c k f ü h r e n . So e r g i b t sich das Verständnis der T e i l b e d e u t u n g ,Geltungsbereich' (des Rechts) aus e i n e m R a u m - K o n z e p t , das V e r s t ä n d n i s der T e i l b e d e u t u n g ' R e c h t s i n h a b e r ' aus einem P e r s o n K o n z e p t etc. so Vgl. Schöne (1964), H e n k e l / S c h ö n e (1996). Vgl. z . B . C u r t i u s (1965), Sieveke (1976).

364

Spracharbeit und Phraseologismen

von Geschichten auf verschiedenen Ebenen, ζ. B. die Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn, war den Zeitgenossen vertraut. Beides gehörte zur Grundausbildung des literarisch Beflissenen. Dadurch war die Wissensvermittlung per Analogie nicht nur — wie heute — gängig und als Hilfsmittel bekannt, sondern durch die rhetorische Tradition und die literarische Vermittlung als Normalform der Argumentation und Wissensvermittlung anerkannt. Für die vorliegende Studie sind die analogen Argumentionsmuster insofern von Interesse, als sie für die Spracharbeit instrumentalisiert wurden. Es geht darum zu zeigen, inwiefern die Verwendung von Analogien die Ziele der Spracharbeit unterstützen konnten. Dies wird im nachfolgenden Abschnitt exemplarisch erörtert. §118: In den sprachtheoretischen Texten und Textpassagen, die sich um die Mitte des 17. Jahrhunderts der Legitimation der deutschen Sprache widmen, sind analoge Argumentationsmuster weit verbreitet. Sie haben in diesen Kontexten eine dreifache Funktion. 1. Semantische Einzelmerkmale des Quellkonzeptes werden auf das Zielkonzept angewendet. Deutlich ist dabei, dass es sich nicht lediglich um einen Vergleich handelt, sondern dass Teilbedeutungen in das Zielkonzept projiziert werden. Die Analogien tragen hier klar zur Konzeptbildung bei. Gerade für die Pflanzen- und Wachstumsmetaphorik in Bezug auf den Begriff der „deutschen Sprache" ist dies offenkundig. 2. Neben einzelnen Teilbedeutungen wird in manchen Fällen auch die Struktur des Quellkonzeptes ganz oder in Teilen auf das Zielkonzept übertragen. Eine Konsequenz davon ist, dass die Analogien immer weiter ausgebaut und versprachlicht erscheinen. Was sich am Modell des Quellkonzeptes ablesen lässt, wird analog beim Zielkonzept angenommen. Auch hier ist die Baummetaphorik ein überzeugendes Beispiel. 3. Nicht nur die Konzeptstruktur oder Teilbedeutungen, die zum Denotat gehören, werden auf das Zielkonzept angewendet, sondern zugleich Konnotate. Je nach dem, wie das Zielkonzept vom Argumentierenden beurteilt wird, werden positive oder negative Konnotate, die mit dem Quellkonzept verbunden sind, auf das Zielkonzept übertragen. Gelten die ersten beiden Punkte für alle Analogien in mehr oder weniger ausgeprägter Form, so ist der letzte Punkt für den Legitimationsdiskurs im 17. Jahrhundert von besonderer Bedeutung. Die Quellbereiche der Analogien sind vielfältig. Allerdings lassen sich einige Schwerpunkte ausmachen. Einige Beispiele sollen die Funktionsweise und insbesondere die Konnotatübertragung der analogen Argumentationsmuster verdeutlichen. Das metaphorische Modell „Mensch, Lebewesen" ist für die Legitimation der deutschen Sprache besonders wichtig. Dies zeigen nicht nur die zahlreichen Personifizierungen der „deutschen Sprache" als mehr oder weniger geschundene bzw. missachtete „Frau" sondern auch andere Literarisierungen

Wissenskonstitution durch Analogien

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wie etwa die bella grammaticalia, in denen die einzelnen Wortarten als Krieger und die Stammwörter als „knebelbärtige Männer" 52 auftreten. Die allegorische Darstellung von abstrakten Begriffen (Tugenden, Laster etc.) war so verbreitet, dass das metaphorische Modell „Mensch" sicherlich als ein Hauptmodell der analogen Argumentation bezeichnet werden kann. Ein zusätzliches Beispiel für die Übertragung semantischer Teile, der Konzeptstruktur sowie der Konnotate verdeutlicht dies. Im Rahmen der sprachpuristischen Argumentation wird die deutsche Sprache als Frau vielfältig gedemütigt. Ist erst einmal die Konzeptstruktur „Frau" auf das noch unbestimmte Konzept „deutsche Sprache" (verstanden als „uhralte Teutsche Sprache" und langue) angewendet, kann man im zweiten Schritt Schlüsse vom Modell auf das Ziel ziehen. Wie ein Mensch „Zähne" hat, die er zum klaren Sprechen benötigt, so kann auch die deutsche Sprache ihrer Zähne nicht entbehren. „ J a es ist vielmehr ein unverantwortliches W e s e n / unserer Sprache j h r e Z ä h n e / wie L u t h e r u s r e d e t / a u s z u b r e c h e n / und sie zwingen wollen den frömden nur n a c h z u m u m m l e n . " 5 3

Jedoch wird in diesem Beispiel nicht allein die Struktur (Mensch und seine Körperteile), sowie ein Merkmal (Zähne) übertragen. Zugleich wird das Quellkonzept in einen Handlungsrahmen gestellt, der negativ konnotiert ist. Der „Frau" werden die Zähne ausgebrochen und sie wird darüber hinaus gezwungen, in einer bestimmten Weise zu sprechen. In beiden Fällen wird so das Quellkonzept mit dem negativen Konnotat 'Gewalt' verbunden, das dann auch für die Handlungsweise derjenigen gilt, die nach Meinung des Argumentierenden ein gleiches mit der deutschen Sprache tun. In vergleichbarer Weise ausgebaut sind die metaphorischen Modelle „Organismus, Wachstum, Pflanze". In ihrer Kombination eignen sie sich in besonderer Weise zur Charakterisierung des Systems der deutschen Sprache. Auch ist die Funktion der Analogien dreifach. Ein besonders explizites Beispiel aus der fünften Lobrede in der Α Α kann dies belegen. „Das K u n s t g e w ä c h s unserer H a u p t s p r a c h e vergleichet sich einem ansehnlichen f r u c h t b a r e n B a u m e / welcher seine saftreiche Wurtzelen tief in den Erdb o d e n / und darin weit und räumig a u s g e s t r e k t / also d a ß er die Feuchtigkeit und das M a r k der E r d e n / v e r m i t t e s t [!] seiner äderlein an sich z e u c h t / seine Würtzelen durch ein fruchtreiches saftiges naß d u r c h h ä r t e t / und t a u r h a f t m a c h e t / und sich selbst in die N a t u r einpfropfet: [1] Denn die Wurtzelen und saftige S t a m w ö r t e r unserer Sprache haben nach obgesetztem Beweistuhme den Kern und d a s M a r k a u s der V e r n u n f t gesog e n / und sich auf die H a u p t g r ü n d e der N a t u r g e s t a m m e t : j h r e n S t a m m aber lassen sie hoch e m p o r r a g e n / j h r e Zweige und Reiserlein in unaussäglicher M e n g e / in steter G e w i s h e i t / w u n d e r s a m e r Mannigkfaltigkeit und ansehnlicher P r a c h t heraus w a c h s e n / also daß die E r l u s t i g u n g an diesem Wun-

52 Vgl. §111, S. 334. 53 Schottelius, AA, S. 110.

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Spracharbeit und Phraseologismen derstükke künne stets völlig/ und die Geniessung dero süssesten Früchte unendlich seyn [2]. Däfern man gehörige Lust und erfoderte Arbeit hinzuträgt/ und der Teutschen Sprache/ zu erfoderung dero vollgültigen Kundigkeit/ dasjenige nicht versaget/ was man bey Erlernung anderer Sprachen/ so ungespartes Fleisses/ durch reume der Zeit/ anwendet [3]."54

Im ersten Teil des Zitats führt Schottelius das Quellkonzept mit einer ganzen Reihe von Teilbedeutungen ein. Der „Baum" wird als Modell genutzt, ebenso seine „Wurtzelen", der „Erdboden" als Nahrungsgrundlage, die Ausdehnung der Wurzeln, die Nahrung („Mark") und selbst das Wachstum im Sinne einer Ausdehung und Fortpflanzung („einpfropfet" 55 ). Da dieses differenzierte Modell sich nicht ohne weiteres auf die „deutsche Sprache" beziehen lässt, fügt Schottelius im zweiten Zitatteil eine Erklärung und noch eine Erweiterung an. Die „Stammwörter" sind die Wurzeln des Baumes, sie ziehen selbsttätig die Nahrung aus der Vernunft (= Erdboden). Hier werden die Wurzeln selbst zu aktiv Handelnden und damit als Lebewesen metaphorisiert. Nicht erklärt wird die Anwendung der Zweige und des Wachstums auf die Sprache. Gemeint ist damit jedoch, wie sich aus anderen Textstellen ergibt, dass auf der Grundlage der Stammwörter die kommunikativen Leistungsmöglichkeiten der deutschen Sprache sehr groß sind. Bei systemgerechter Wortbildung lassen sie sich immer weiter ausdehnen. Mit den „Zweigen und Reiserlein in unsäglicher Menge" ist die Menge der Komposita- und Derivationsbildungen in der deutschen Sprache gemeint. Obwohl dieser Teil der Analogie also nicht übersetzt wurde, dürfte er aus dem Kontext der bereits vorangegangenen Lobreden klar verstanden worden sein. Daran schließt Schottelius noch eine Erweiterung des Modells an. Die „Früchte" des Baumes „Sprache" sind — wie die Aste — prinzipiell unendlich. Gemeint sind hier vor allem (aber nicht ausschließlich) die literarischen Produkte in deutscher Sprache. Uber die „Früchte" gelangt Schottelius schließlich zu einer letzten Erweiterung des Modells im dritten Teil des Zitats. Der Genuss der Früchte ist wie bei Obstbäumen davon abhängig, dass sie von kundiger Hand bearbeitet werden. Hier wird das metaphorische Modell „Baum" in Richtung „Gartenbau" erweitert. Diese Erweiterung bietet die Möglichkeit, die Spracharbeit als konstitutiven Bestandteil des Konzeptes „deutsche Sprache" einzuführen. Die Logik des metaphorischen Modells wird in gleicher Weise auf das Ziel übertragen. Dieses wird dadurch erst eigentlich konstituiert. So wie sich „Wachstum" und „Früchte" am Baum erst durch mühevolle und sachkundige „Arbeit" ergeben, kann sich auch die deutsche Sprache erst mit Hilfe der Spracharbeit voll entwickeln. Damit wird an diesem Beispiel die Übertragung der Teilbedeutungen und der Konzeptstruktur besonders deutlich. Aber auch die dritte Funktion, mit der positive Konnotate auf das Zielkonzept übertragen werden, ist erfüllt. 54

55

Schottelius, AA, S. 68. Der Übersichtlichkeit wegen wurde das Zitat von mir in drei Teile gegliedert. Vgl. zu einpfropfen den Artikel im DWB, Bd. 3, Sp. 243, wo sich diese beiden Teilbedeutungen durch die angeführten Belege (Fleming, Tscherning) ergeben.

Wissenskonstitution durch Analogien

367

Der beschriebene B a u m , sein Wachstum, seine Früchte usw. wird nicht wertneutral als bloßes Instrument beschrieben. An zahlreichen Ausdrücken zeigt sich die positive Konnotierung dieses Beispielbegriffs. Er wird zugleich mit „Gesundheit / S t ä r k e " (fruchtbar, saftreich, saftig, weit, reumig), „Beständigkeit" ( t a u r h a f t ) und „(gutem) Geschack" (süssesten Früchte) verbunden. Wie immer, wenn es um die Legitimation der deutschen Sprache geht, wird auch hier intensiv die Konnotatebene zur Aufwertung des Zielkonzeptes genutzt. Auf einen anderen Bereich der „ N a t u r " - M e t a p h o r i k bezieht sich das folgende Beispiel. Auch hier geht es um die Arbeit an der deutschen Sprache, die als ein N a t u r p r o d u k t erklärt wird. Jedoch ist in diesem Fall die Materie „Sprache" nicht belebt („Pflanze"), sondern ein Rohstoff, den es zu veredeln gilt. Zusätzlich ist die Analogie mit einer nationalen Komponente versehen. „Man wird Teutsches Gold nirgendes anders/ als aus Teutschen Bergen graben können: Zier/ Wolstand und Reichtuhm Teutscher Rede muß nur aus Teutscher Sprache entsprossen/ und nach rechter Kraft entlehnet sein." 56 Die Spracharbeit zielt auf die Ausbildung der eigenen Sprache ab, ebenso wie die P r o d u k t e eines Bergwerks nur dem Land zugerechnet werden, in dem das Bergwerk steht. So können auch die P r o d u k t e der deutschen Sprache nur aus dem System dieser Sprache geschöpft werden, sollen sie gut sein. Bemerkenswert an diesem Beispiel ist ferner, dass eine Kombination von Analogien verwendet wird. Die Rohstoffanalogie wird zunächst ergänzt u m den Aspekt der menschlichen Güterwelt (Reichtum). Schließlich wird die Gleichsetzung von „Sprache" mit „Gold" durch die bereits bekannte Wachstumsanalogie ergänzt (entsprossen). Diese Kombination von metaphorischen Modellen ist in den sprachtheoretischen Texten sehr häufig anzutreffen 5 7 . Sie wurde nicht als semantischer Bruch empfunden. Auch hier ist wiederum die positive Konnotierung des Ausgangskonzeptes („Gold") entscheidend. Wie das Gold im Berg verborgen ist, so liegt die „uhralte Teutsche Sprache" der gegenwärtigen, von ihrem Ursprung entfernten Sprache zugrunde. Durch beharrliche (Sprach-)Arbeit kann sie wieder als seltener Schatz (Edelmetall) gehoben werden. Allerdings lohnt es sich nur in deutschen Bergen zu graben, d. h. an der gegenwärtigen deutschen Sprache zu arbeiten. Der Schatz kann allerdings nur auf der Grundlage des deutschen Sprachsystems gehoben werden. Dies kommt dann einer Veredelung der Sprache gleich. Genauso kann man „Teutsches Gold" (Was immer das sein mag?) nur aus einem Berg gewinnen, der in diesem Land liegt. Besonders detailliert formuliert Schottelius diese Analogie auch in seinem bellum grammaticale. „Wo ein gold= und silberreiches Bergwerk verborgen/ dastehen zwar keine gold= und Silberklümpe zutage/ sonderen man muß vorher suchen/ schürfen/ aushauen/ puchen/ schmeltzen: Wo auch Gold= oder Silberplatten schon liegen/ da ist eben kein Geld/ man muß schmeltzen/ prägen/ miintzen: Was mit Drekke überschüttet/ mit Staub und Schimmel überzogen/ 56 Schottelius, AA, S. 114. 57 Vgl. auch d a s Beispiel weiter unten m i t den „ M u s i k " - u n d „ C o n t a i n e r " - A n a l o g i e n .

368

Spracharbeit und Phraseologismen solches ist eben nicht vernichtiget; sondern ein solches Verlornes kan man wiederfinden/ wenn man die Erde und Unflaht wegschaffet/ den Staub und Schimmel abwischet/ und an gebührlicher Pflege und Erhaltung nichts ermangelen lasset." 58

Die nationalsprachliche Einengung ist jedoch nicht typisch. Häufiger wird darauf verwiesen, dass die Kenntnis der anderen Sprachen für den vollständigen Erwerb der eigenen notwendig ist. So auch im Nachsatz zu der folgenden Analogie. Das metaphorische Modell der „Musik" wird ebenfalls vergleichsweise häufig verwendet. Die deutsche Sprache als System wird dabei als „kunstvolle Musik" verstanden. Beide erschließen sich nur dem Kenner. Die Verächter der deutschen Sprache werden so zu Ignoranten. So wenig wie die „Baurdirn" anspruchsvolle Musik verstehen oder umsetzen kann, sowenig kann jemand, der von der Sprache nichts versteht, diese beurteilen oder adäquat anwenden. „Eine Baurdirn mag etwas daher singen/ aber ein künstlich Capellenstük nicht meisteren/ weil sie weniger als nichts von der Music verstehet: ein ander mag wol etwas/ so in seine Verrichtung läuft/ abfassen und gehöriger massen aufsezzen können/ darff aber darum gar nicht vermeinen/ daß er der Teutschen Sprache nach dero Grundrichtig= und und Volkommenheit recht und gründlich alsbald kündig/ vielweniger über die kunstmessige Anweisung/ welche nicht ohn Arbeit und Erkundigung anderer Sprachen/ die rechten Grundfeste einzurichten bemühet ist/ früzeitiger Urteihler seyn könne." 59 Wie im vorangegangen Beispiel findet sich auch hier eine Analogienkombination. „Musik" wird neben der bekannten „Gebäude"-Metapher 6 0 problemlos eingesetzt. Die positiv konnotierte Komplexität und der Kunstcharakter der Musik werden auf die deutsche Sprache übertragen. Somit wird die Analogie auch hier nicht allein in Teilbedeutungen ('Komplexität') oder strukturellen Aspekten genutzt, sondern v. a. von der Konnotatebene her. Die deutsche Sprache als System ist ebenso kunstvoll und komplex wie ein „künstlich Capellenstük". Dies bringt der Argumentation einen doppelten Vorteil. Einerseits wertet das Konnotat die deutsche Sprache selbst auf. Andererseits wird dadurch auch das Studium der deutschen Sprache als Vertiefung in eine Kunst aufgewertet 61 . Die Verächter der deutschen Sprache werden stigmatisiert. Sehr häufig wird dabei über die „Kunst"-Analogie argumentiert. Dies galt für das vorige Beispiel ebenso wie für das nun folgende. In ihm wird die deutsche Sprache in indirekter Form aufgewertet. Zunächst arbeitet Schottelius mit einem einfachen „Container"-Modell. Die deutsche Sprache steckt in einer Kiste, die verschlossen ist. Durch bloßes Anschlagen der Kiste kann sie genausowenig be58 Schottelius (1673/1991), S. 17. 59 Schottelius, AA, S. 10. 60 Sprache als „standfestes Gebäu" mit dem Stammwörtern als „wolbepfälte Gründe". Schottelius, AA, S. 50. 61 Für weitere Beispiele zur Musikanalogie vgl. Schottelius, AA, S. 52, 66.

Wissenskonstitution durch Analogien

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urteilt werden, wie durch den Versuch, die Kiste mit einem falschen Schlüssel ( = fremdsprachliche Vorbilder) zu öffnen. „Von denen berühmten Authoren/ welche von den Sprachen und deroselben vielerley Eigenschaften geschrieben/ wird gemeiniglich diese HaubtSprache/ als ein grobes barbarisches ungewisses Geläut übergangen; Man schlaget j a wol daran/ als an eine grosse eiserne Kiste/ man weiß aber nicht/ ob sie leer oder voll sey weil man keine Schlüssel dazu haben will/ noch mit einem ausländischen Diedriche das Schlüsselloch finden kan." 62 Von den Materialeigenschaften der Kiste darf nicht auf ihren Inhalt geschlossen werden, wie auch nicht die gegenwärtige deutsche Sprache als teilweise verderbte Oberfläche für das ihr zugrunde liegende System stehen kann. Somit wissen die Verächter der deutschen Sprache gar nicht, was sie da ablehnen. Zudem legen sie oft an die deutsche Sprache einen völlig falschen Bewertungsmaßstab an. Sie gehen von den anderen, prestigeträchtigen europäischen Sprachen und deren Ausbaustand aus, was „einem ausländischen Diedriche" gleicht. Auch hier liegt wieder eine Kombination verschiedener metaphorischer Modelle vor. Einerseits ist dies die „Musik"-Analogie. Die Verächter der deutschen Sprache halten sie für ungeeignet, alle kommunikativen Aufgaben (Literatur, Wissenschaft, Institutionen etc.) zu erfüllen. Ihres Erachtens ist sie von den Sprachen, die dies vermögen (Französisch, Italienisch, Spanisch) soweit entfernt wie das „barbarische Geläut" von der Musik. Dies ist der argumentative Hintergrund, der im Zitat mitgelesen werden muss. Andererseits verwendet Schottelius zudem eine ausgebaute Version der „Cont a i n e r - A n a l o g i e . " D i e Schatzkiste birgt die Sprache. Sie öffnet sich nur dem, der sich um sie bemüht (Spracharbeit) und der den richtigen, systemadäquaten Zugang findet. Bemerkenswert ist dabei, dass eine Analogie gegen eine andere ausgespielt wird. Schottelius wehrt den Einwand des ,,ungewisse[n] Geläut[s]" ab, indem er auf das Modell der „Kiste" übergeht. Dass die Verächter der deutschen Sprache in diesem Beispiel noch vergleichsweise glimpflich davonkommen, ist nicht typisch. Sehr häufig finden sich Analogien, die diese in den Kontext von „ K r a n k h e i t " bis „ V e r b r e c h e n " stellen. Hier funktioniert die Analogie im wesentlichen wieder über die Konnotatebene. Zwar werden auch Teilbedeutungen verwendet (ζ. Β . ,Geschmacksverlust'), die Überzeugungskraft erhält die Argumentation jedoch über die Parallelisierung von Quell- und Zielkonzept in ihrer Bewertung. „Wen aber dieselbe/ welche ihre Sinne absinnig und verrükt sind/ anders Sinnes hierin sind/ solches benimt der Warheit ganz nichts: Denn es leugt j a einer nicht/ der das Honig süsse heisset/ wenn schon ein smakloser Kranker anders davon sprechen würde: Gleicher Gestalt geschiehet sothanem Beweistuhme kein Abbruch/ wenn ein Abgeneigter und Ungesunder einen vermeineten Reichtuhm zutadelen bey sich hat: Noch verleurt unsere Muttersprache jhr Recht und Werthaltung/ wann sie von den Ausländischen so gehässiglich angeschielet/ und in öffentlichen Schriften/ als ein untaugliches beuhrteihlet wird. Wer nach eines Ehebrechers oder Diebes Neigungen von 62 Schottelius, AA, S. 150.

370

Spracharbeit und Phraseologismen der verständlichen Natur uhrteihlet/ tuht gleiche Arbeit mit dem/ der nach seiner Unküdigkeit die Kunst abmisset." 63

Vorbereitet wird der argumentative Schlag durch eine Analogienreihung. Honig ist süss, auch wenn ihm dies abgesprochen wird; fiktiver Reichtum und die Kritik an diesem, haben nichts mit seinem realen Wert zu t u n . In der M i t t e des Zitates werden die Analogien in Bezug zum Zielkonzept gestellt. Nach dieser Einleitung kann Schottelius dazu übergehen, die bereits diskreditierten Kritiker der deutschen Sprache vollends zu vernichten. Hier ist es insbesondere die Teilbedeutung, die Diebe und Ehebrecher als 'moralisch verwerfliche S u b j e k t e ' auszeichnet, die die Abwertung der Verächter bewerkstelligt. Als solchen wird ihnen das Urteilsvermögen in Bezug auf die deutsche Sprache abgesprochen. Wie stark dieses Argumentationsverfahren funktionalisiert ist und wie groß der Anteil der Konnotatebene dabei ist, soll ein abschließendes Beispiel zeigen. Dabei ist das Zielkonzept bereits bekannt, d. h. das Ergebnis der Analyse steht von vornherein fest. Es geht lediglich d a r u m , die passende semantische Basis zu finden, von der aus m a n das positiv konnotierte Zielkonzept „Druide" verstehen kann. Um eine missliebige Etymologie zu diskreditieren, wird ein analoges Erklärungsmuster herangezogen und in seiner Unbrauchbarkeit vorgeführt. Es gilt, eine würdige semantische Basis für das nach Schottelius urdeutsche Wort Druide zu finden. „Das Wort Druiden/ körnt von einem Teutschen uhralten Stamworte/ welches auch Cluverius mit mehren beweislich gemachet: Irrig ist es/ dz mans vom Grichischen δρυς, welches einen Eichbaum bedeut/ abgaukeln wil/ wie komt von einem eichen Klotze der Nahm der vornehmsten Landrichter und heiligsten Priester doch her? wil man sagen/ darum/ weil sie unter einem Eichenbaume zuweilen gesessen; so meine ich gleichfals/ δρυς käme von einer Drüse; denn wen ein Eichbaum einem auf den Kopf fiele/ würde solches eine grosse Drüse schlagen." 64 Zunächst wird Druide als Stammwort okkupiert. Es wird angegeben, was es ursprünglich bedeutet habe ('Priester, Weiser'), nicht jedoch wie es abgeleitet werden kann. Daran schließt sich die Ablehnung einer Etymologie aus d e m Griechischen an. Das mit der Bedeutung 'Eiche' verbundene Konnotat von 'Klotz, grob, unförmig' passt nicht zu den zulässigen Konnotaten von Druide. 'Richter' und 'Priester' sind 'ehrwürdig'. Ziel ist es somit, die „Eichen"-Etymologie als beliebig zu erweisen. Dazu n i m m t Schottelius einen fiktiven Herleitungsversuch des griechischen δρυς vor, in dem auf Grund einer Lautähnlichkeit δρυς mit der Drüse verbunden wird. Drüse ist hier in der Bedeutung 'Beule, Geschwulst' 6 5 zu verstehen und damit negativ konnotiert. Ebenso wie die Herleitung des griechischen δρυς von Drüse als beliebig abzulehnen ist, gilt dies für die Herleitung von Druide aus δρϋς. In beiden Fällen ist es das Negativkonnotat ('grob' bzw. 'krank'), das sich als unvereinbar mit «3 Schottelius, AA, S. 16. 64 Schottelius, AA, S. 56 65 Nach DWB, Bd. 2, Sp. 1458.

Anwendungsfelder

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dem zu erklärenden Konzept erweist. Ziel dieser Analogie ist es, die Beliebigkeit der ersten Herleitung aus der Beliebigkeit der zweiten Herleitung zu erweisen. Dass Druide mit 'grober Eichenklotz' in Verbindung gebracht wird, ist für Schottelius ebenso absurd, wie die Erklärung von δρυς aus 'Beule'. Damit kann Schottelius zwar keine überzeugenden A r g u m e n t e für die eigene Ableitung anbringen, aber doch gegen die konkurrierende Erklärung (Negativkonnotat, Beliebigkeit der Herleitung). Weil das Zielkonzept, das hier inhaltlich schon festgelegt ist, mit den Quellkonzepten („Eiche" oder „Beule") nicht in den Konnotaten kompatibel ist, kann es nicht von diesen herkommen. Die Analogiebildungen werden dann als beliebige abgelehnt, wenn sie nicht das widerspiegeln, was m a n vom Zielkonzept erwartet. Aus heutiger Sicht hat Druide etymologisch sowohl Anteile von 'Weiser', als auch von 'Eiche', was von Schottelius noch abgelehnt wurde 6 6 . Fazit: Der Begriff der „deutschen Sprache" wurde zu ganz wesentlichen Teilen über Analogien vermittelt. Entscheidend war dabei, dass diese nicht nur zur Erklärung der S t r u k t u r und zur Semantik des Konzeptes beitrugen. Alle verwendeten metaphorischen Modelle dienten gleichzeitig der Aufwertung der deutschen Sprache, keines war in dem Sinne „neutral", dass es nur der Strukturierung und semantischen Füllung des Zielkonzeptes diente. Die W u r z e l - B a u m - M e t a p h e r war ebenso positiv markiert („saftvoll") wie der Vergleich der Spracharbeit m i t der Bergwerksarbeit („Teutsches Gold"). Das Aufwertungsverfahren wurde durchaus bewusst eingesetzt. Dies konnte das Beispiel der abgelehnten Etymologie von Druide zeigen, die mit einer negativ konnotierten Analogie einherging. Auffällig war ferner, dass häufig verschiedene metaphorische Modelle gleichzeitig zum Einsatz kamen. So t r a t etwa die Wachstumsmetaphorik problemlos zusammen mit der G e b ä u d e - oder Bergwerksmetapher auf. Diese Kombinationen wurden nicht als unvereinbar empfunden. Sie sollten vielmehr in ihrer Addition die jeweils vorgeschlagenen Argumente und Konzeptdefinitionen unterstützen.

9.3

Anwendungsfelder

§119: Spracharbeit auf der syntaktischen Ebene spiegelt das Verständnis und die Gewichtungen wider, die sich aus den sprachtheoretischen Vorstellungen zur Syntax ergeben. Den größten R a u m nehmen die Einheiten ein, die selbst auf der Schwelle zwischen Elementen des Lexikons und Syntagmen stehen: die Phraseologismen. Die Anwendungsfelder zu den Phraseologismen lassen sich in drei Gruppen gliedern. In den FZG Harsdörffers gibt es eine Reihe von Spielanleitungen, die sich mit dem Ursprung, der B e d e u t u n g und konkre66

Kluge (1989), S. 157: „ D r u i d e n m. PL ,Priesterklasse der alten Kelten', sonderspr. Hauptsächlich aus Caesars Beschreibung bekannt. Dessen 1. druides aus einem gallischen Wort, dem ir. drm, ,Zauberer', kymr. dryw (dass.) entspricht. Voraus liegt ' druwido-, dessen zweiter Teil zu 'weid- ,sehen, wissen' gehört [ . .. ]; der erste Teil gehört zu dem Wort für ,Eiche, Holz', das auch ,fest, treu' und im Keltischen ein Verstärkungswort liefert. Also etwa ,der sicher Sehende' oder ,der Hochweise' o . ä . "

372

Spracharbeit und Phraseologismen

ten Verwendungskontexten von Phraseologismen befassen (§120). Darüber hinaus lassen sich in einer Extremform Texte vollständig aus Phraseologismen zusammenstellen (§121). Schließlich kann eine Aufgabe darin bestehen, Phraseologismen zu erfinden, abzuändern oder sie als Rollenspiele zu inszenieren, um so nicht nur in der Verwendung flexibler zu werden, sondern auch, um damit den Phraseologismenreichtum der deutschen Sprache aufzuzeigen (§122). Vergleichsweise wenige Sprachspiele setzen auf der Ebene der freien Syntagmen oder gar der Sätze ein. Zudem sind sie eher semantisch ausgerichtet, syntaktische Regularitäten sind als solche nicht Gegenstand der Spiele (§123). In §115 konnte gezeigt werden, inwiefern sich die zeitgenössischen „Reimkünste" als Ergänzungen der Grammatik auf der syntaktischen Ebene verstehen lassen. Dem entsprechen eine Reihe von kommunikativen Aufgaben, die auf die Reimtechnik bezogen sind (§124). Auf einen ebenfalls technischen Aspekt poetischer Textproduktion heben weitere Anleitungen ab. Dabei soll die Technik der adäquaten Syntax bei der Textproduktion vermittelt und zur Nachahmung empfohlen werden (§125). Analoge Argumentationsmuster lassen sich in sehr vielen Sprachspielen nachweisen. Häufig sind sie funktionale Bestandteile von Gesprächspielen, deren Aufgabe es ist, Geschichten oder andere Textformen zu produzieren und zu interpretieren (ζ. B. in Form einer allegorischen Deutung). Diese Anwendungen lassen sich dann bereits der Textebene und der kommunikativen Pragmatik zuordnen. Insofern markieren Analogien als Gegenstand der Spracharbeit bereits den Ubergang von der syntaktischen zur Textebene (§126). § 1 2 0 : Die Grundform der Sprachspiele mit Phraseologismen zielt darauf ab, sie zu popularisieren und sie transparent zu machen. Dazu führt Harsdörffer in den F Z G drei verschiedene Aspekte vor, unter denen die Phraseologismen als Sprachmaterial und Spielressource verstanden werden können. Erstens kann versucht werden, die ursprüngliche Situation, die zur Bildung eines einzelen Phraseologismus geführt hat, zu rekonstruieren. Seine Etymologie wird dann Gegenstand des spekulativen Sprachspiels. Zweitens kann die Bedeutung eines Phraseologismus thematisiert werden. Die Rekonstruktion der historischen und der aktuellen Bedeutung sollen den Phraseologismus für den Benutzer durchschaubar machen. Eine dritte Spielform besteht in der Angabe von konkreten Verwendungskontexten für Phraseologismen. Es geht also darum, sich kommunikative Kontexte zu schaffen, in denen Phraseologismen angewendet werden können. Ausgehend von einem Phraseologismus wird ein passender Kontext erschlossen. Die Umkehrung dieses Verfahrens ist ebenfalls möglich und stellt eine Variante dieser Spielform dar. Dann gilt es, aus einer Beispielerzählung den passenden Phraseologismus zu erschließen, quasi als zusammenfassende Beurteilung des Ganzen. Im 38. Gesprächspiel („Die

Anwendungsfelder

373

S p r i c h w ö r t e r " ) führt Harsdörffer diese drei A s p e k t e ein, die er m i t B e i s p i e l e n erläutert. „Die Gesprächspiel von den Sprichwörtern können auf mancherley Weise vorgetragen werden. Wann jenes ein Sprichwort nach Belieben erwehlet/ von welchem es erstlich den Ursprung selbst/ er sey erdicht/ oder in der Warheit gegründet/ beybringe: [erstmalige Verwendung/ Ursprung = 1] Nachmals desselben Gebrauch; [aktuelle Bedeutung = 2] und dann eine kurtze Geschieht/ darinn solches artig angebracht worden/ oder sich zu solcher Lehre schicket/ erzehlet. [Verwendungskontexte = 3] Als zum Beyspiel nim ich das Sprichwort/ Gut Wein/ gut Pferd: sage/ daß solches von einem alten Teutschen Reuter aufgebracht worden/ weiln er in Gewonheit g e h a b t / seinem Pferd jedesmals/ bevor er selbes bestiegen/ ein Stück in Wein eingetauchtes Brod zu geben/ mit vermelden/ daß wann der Wein stark und gut/ er desselbigen Wirkung auch bey den unvernünftigen Pferde leichtlich spüren könne. [Beispiel für 1] Daher in Gewonheit kommen/ daß wann einer berauschet/ und sein Pferd zu ungewönlichen Springen vermüssiget/ man zu sagen pfleget: Gut Wein/ gut Pferd/ [Beispiel für 2] dieses Sprichwort ist gleichsam mit Frolocken angebracht worden/ als sich begeben/ daß zween von Adel eine Jungfer begleiteten/ unter welche der eine ein treflicher Reuter/ der ander aber ein Liebkoser deß Rebensaffts gewesen: Als nun von diesen beyden keiner dem andern/ aus halsstarriger Höflichkeit/ vorgehe wollen/ hat die Jungfer diesen Außschlag gegeben: Die Herren folgen dem Sprichwort: Gut Wein/ gut Pferd. [Beispiel für 3 ] " 6 7 Nach der Auffassung des ontologischen S p r a c h p a t r i o t i s m u s waren die W ö r t e r der deutschen S p r a c h e grundsätzlich m o t i v i e r t . E s b e s t a n d e i n e wesentliche Verbindung zwischen dem Wort als Zeichen und d e m B e z e i c h n e t e n . E b e n s o sollten in den P h r a s e o l o g i s m e n grundlegende W a h r h e i t e n kondensiert sein. Soweit die S p r a c h t h e o r i e . Dieses P o s t u l a t geriet auch dann nicht ins W a n k e n , wenn sich in der S p r a c h p r a x i s Beispiele h ä u f t e n , bei denen sich die n a t ü r l i c h e S e m a n t i k (ζ. B . in F o r m von L a u t m a l e r e i ) nicht m e h r o h n e weiteres a n n e h m e n ließ. Die S p r a c h p r a x i s m u s s t e nicht i m m e r konsequent m i t den sprachtheoretischen A n n a h m e n h a r m o n i e r e n . Sie ließ sich als Abweichung (ζ. B . als D i a l e k t i s m e n ) oder allgemeiner als E n t f e r n u n g und Verwischung der zugrunde liegenden S p r a c h e verstehen. In gleicher Weise scheidet sich t h e o r e t i s c h e r Anspruch und p r a k t i s c h e U m s e t z u n g bei den P h r a s e o l o g i s m e n . In der T h e o r i e ist ihre wissenskonstitutive Funktion von großer B e d e u t u n g . E s ist theoretisch durchaus relevant, in welchen ursprünglichen S i t u a t i o n e n ein Sprichwort geprägt wurde. In der P r a x i s wird dieser Anspruch insofern aufgeweicht, als es ohnehin nicht für alle Phraseologismen möglich ist, ihre H e r k u n f t „in der W a r h e i t g e g r ü n d e t " anzugeben. W e n n die ursprüngliche Verwendungssituation und Herkunft bei Beispielen wie „Es gehet zu wie in K ö n i g A r t u s Hofe" plausibel aufgezeigt werden kann, so gilt dies für F ä l l e wie den im Z i t a t an-

67

Harsdörffer, F Z G I, S . 2 1 7 f. [Fettdruck getilgt, das Zitat wurde zur Verdeutlichung entsprechend strukturiert].

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Spracharbeit und Phraseologismen

geführten eben nicht. Harsdörffer zeigt sich hier wieder einmal als Pragmatiker, wenn er bei der Ursprungssuche sowohl Dichtung als auch Wahrheit zulässt. Worauf es hier ankommt, ist eben nicht ein möglichst hoher Grad an Richtigkeit sondern an Plausibilität. Diese kann auch die Erfindung einer Ausgangssituation (wie beim Reiter und seinem Pferd) haben. Bereits das Spekulieren, Erfinden und Begründen ist ein wichtiger Teil der Sprichwörteraneignung. Hier und in noch größerem Maße bei der Konstruktion aktueller Verwendungszusammenhänge kann der Spracharbeiter seine eigene Scharfsinnigkeit unter Beweis stellen, indem er möglichst differenzierte und komplexe Situationen entwirft. Bei der Suche nach der aktuellen Bedeutung eines Phraseologismus kann auch die Analyse der einzelnen Lexeme, aus denen er besteht, Ausgangspunkt sein. Dies lässt sich zudem mit Reihenbildungen verbinden, die wiederum die „Füglichkeit" der deutschen Sprache zeigen. Die Erörterung von Phraseologismen kann so Gegenstand von Diskussionsspielen 68 werden. Angelica gibt einen Phraseologismus mit einer bedeutungsgleichen Variante vor. ,,A[ngelica], [ . . . ] wariim man doch zu sagen pfleget/ keinem Gescheiden wiederfähret eine kleine Thorheit: oder wie es andre ausreden/ ein jeder verständiger M a n n / seye G o t t eine grosse Thorheit schuldig." 6 9

Wie so oft übernimmt auch hier Reymund den Part des Erklärers. Er nutzt die Gelegenheit, um anhand der Phraseologismen eine Kurzeinführung in die theoretischen Grundlagen der deutschen Sprache zu geben. Für die erste Variante verwendet er als Aufhänger das Wort Gescheid, bei der zweiten verständig. Sie sind die Angelpunkte der Phraseologismen. ,,R[eymund]. Erstlich ist zu b e t r a h t e n / was durch das Wort gescheid/ oder verständig/ gemeinet sey? Gescheid kommet sonderszweiffel h e r / von dem S t a m m w o r t scheid/ daher bescheiden/ verabschieden/ unterscheiden/ &c. h e r k o m m e n / und verstehe ich darunter einen M a n n / der zwar Gutes und Böses scheiden und absondern k a n / sich aber aus U n b e d a c h t / in eine Thorheit verleiten lasset." 7 0

Zunächst wird das in Frage stehende Wort auf seine sprachliche Grundform zurückgeführt, d.h. im damaligen Verständnis auf die Singularform des Imperativs. Dies bietet dann die Möglichkeit, andere Ableitungen zu finden, die wiederum das Ausgangswort erklären helfen und die Grundbedeutung hervortreten lassen. Relevant ist dabei vor allem unterscheiden. Somit ist der Gescheide jemand, der die Dinge beurteilend trennen kann. Daraus allein würde sich jedoch noch nicht die Bedeutung des Phraseologismus erklären lassen. Ein zweites Wort muss der Bedeutungsanalyse unterzogen werden und zwar Thorheit. Sie muss sich als etwas erweisen, das unabhängig vom Unterscheidungsvermögen des Einzelnen auf alle Menschen zutrifft. Diese Einengung der Bedeutung von Thorheit vollzieht Reymund, nachdem er für verstehen (zweite es Vgl. dazu §138. 69 Harsdörffer, FZG VII, S. 430f. [Fettdruck getilgt], 70 Harsdörffer, FZG VII, S. 431 [Fettdruck getilgt].

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Phraseologismusvariante) eine ähnliche G r u n d b e d e u t u n g wie f ü r scheid e r m i t telt hat: ' k e n n e n , wissen, beurteilen k ö n n e n ' . „Dergleichen Deutung hat auch das Wörtlein verständig/ entsprungen von dem verstehen/ wissen/ oder erkennen eines Dings/ &c. Es kome nun solcher Verstand her/ aus Erlernung aller Wissenschaften/ oder aus natürlichem Unvermögen/ so ist keiner/ so der Thorheit nicht unterworffen were/ wann wir mit solchem Wort/ die Sünde benamen wollen." 71 Die Gleichsetzung der Begriffe „ T h o r h e i t " u n d „ S ü n d e " bringt die Lösung f ü r die B e d e u t u n g der Phraseologismen. Als S ü n d e r , die alle M e n s c h e n unausweichlich sein müssen, ist auch der Gescheide oder Verständige nicht vor Thorheiten geschützt. Was von R e y m u n d allerdings u n e r k l ä r t bleibt, ist die B e t o n u n g der Größe der begangenen Thorheit. Sie lässt sich allenfalls implizit mitlesen: W e n n ein Verständiger schon e i n m a l f e h l t , d a n n gleich in großem Maße. Die Kernaussage Jeder Mensch ist ein Sünder, also auch der Verständige u n t e r m a u e r t R e y m u n d schließlich noch d a d u r c h , dass er biblische Figuren als Zeugen a n f ü h r t . Was f ü r diese Größen gilt, m u s s in analoger Weise erst recht f ü r die Nachgeborenen gelten. „Moses/ David und Salomon/ haben ihrer begangenen Fehler/ Denkmahl hinterlassen; andrer zu geschweigen/ welch von G O t t keine so hohen Gaben empfangen." 72 Vorgegebene Phraseologismen lassen sich somit in unterschiedlicher Weise als A u s g a n g s m a t e r i a l f ü r Sprachspiele n u t z e n . U m g e k e h r t können auch P h r a s e o logismen aus vorgegebenen B e d e u t u n g s z u s a m m e n h ä n g e n erschlossen w e r d e n . Dies ist eine Variante der Sprachspielaufgabe, bei der P h r a s e o l o g i s m e n in möglichst scharfsinniger Form in aktuelle V e r w e n d u n g s k o n t e x t e e i n g e b e t t e t werden müssen — wie im obigen Beispiel (S. 373) m i t der „ J u n g f e r " u n d ihren zwei Verehrern. Das 221. Gesprächspiel („Die S p r i c h w ö r t e r " ) f u n k t i o niert nach diesem Muster. J u l i a stellt kurz die beiden Möglichkeiten vor: v o m Sprichwort a u g e h e n d eine Geschichte erfinden u n d die U m k e h r u n g dessen. Schließlich f ü g t sie eine e n t s p r e c h e n d e Geschichte an. „[Julia] ICh habe dergleichen [Zusammenfassen einer Geschichte in einem Satz - M.H.] von den Sprichwörteren aufgeben höre. Man sagt ein Sprichwort/ und bewähret dasselbe mit dergleichen Geschichte; und dieses ist fast gemein: Oder man erzehlet etwas/ und fraget iim/ auff was für ein Sprichwort man das Absehen gehabt. 2. Vfespasian]. Wer den Raht giebt/ der leiste auch die T h a t . " 7 3 In der Geschichte wird das Leben des ursprünglich a r m e n , aber klugen Syrakusaners Berlinger erzählt. Er wird im Anschluss an eine Goldschmiedelehre P i r a t u n d kehrt nach einigen J a h r e n reich nach S y r a k u s zurück. Dort gaukelt er d e m reichen C a r a f a vor, er könne aus e i n e m Pulver Gold m a c h e n . Auf diese vagen Versprechungen hin geben i h m C a r a f a u n d einige seiner reiHarsdörffer, FZG VII, S. 431 [Fettdruck getilgt], 72 Harsdörffer, FZG VII, S. 432. 73 Harsdörffer, FZG V, S. 603.

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chen Freunde Schmuck und andere Kleinodien, die der unter falschem Namen (Odoart) auftretende Berlinger in Geld umwandelt. Nach einiger Zeit flieht er nach Flandern, von wo aus er als Soldatenwerber wieder nach Italien zurückkehrt. Dort, d . h . in Florenz wird er von dem inzwischen verarmten Carafa erkannt, angezeigt, und der gerechten Strafe überantwortet. Der Erzherzog hat ihn „auf die Galeren lassen Schmitten" 7 4 . Die Erzählung endet mit der Aufforderung, passende Sprichwörter auf diese Geschichte anzuwenden. „[Angelica] Nun ist die F r a g e / auf welches Teutsche Sprichwort in dieser Erzehlung gezielet worden. 12. R[eymund]. Odoart [der Betrüger - Μ. H.] hat viel versprochen/ und wenig g e h a l t e n / wie man sagt: Versprechen ist edelmännisch/ Halten ist bäurisch. 13. Afngelica] Vielleicht auf dieses: mit dem Trümmelein gewinnen/ mit dem Pfeifflein wieder verthun: Dann weil grosse Herren viel Gelt h a b e n / daß sie wenig Mühe k o s t e t / so pflegen sie es auch wiederum tükkisch zu wagen: W i e es h e r k o m m e t / so gehet es wieder hin. 14. D[egenwert]. Ich vermeine/ es sey dieses Sprichwort gemeinet: Der Trug wäret nicht länger/ als der Soldaten H o i f a r t / und der Witfrauen A n d a c h t . 15. C[assandra]. Die Lügen b e s t e h e t / wie B u t t e r an der Sonnen. 16. V[espasian], E s ist nicht so klein gesponnen/ es komt doch endlich an die S o n n e n / [ . . . ] 17. J[ulia]. Alle diese Sprichwörter schikken sich hierzu/ doch hab ich auf dieses gesehen: Bey grossem Gewinn/ ist grosser B e t r u g . " 7 5

Bei dieser Art der Sprichwörtersuche handelt es sich um eine zweifache Aufgabe. Zunächst muss der Sprachspieler die gehörte Geschichte auf wenige, im Idealfall auf eine einzige Proposition reduzieren. Dabei reicht es nicht aus, eine wertneutrale Aussage aus der gesamten Erzählung zu abstrahieren. Sie muss zusätzlich mit einem Werturteil verbunden sein. Die sechs Beispiele genügen alle diesem Kriterium. Daneben dient dieser Spieltyp dazu, die passive und aktive Kompetenz in Bezug auf das Sprichwörterrepertoire unter Beweis zu stellen bzw. durch die Beiträge der anderen Mitspieler zu erweitern. Zusammenfassung: Die drei Grundformen der Sprachspiele mit Phraseologismen bestehen darin, a) eine plausible Erklärung des Ursprungs argumentativ vorzutragen, b) die sich daraus ergebende aktuelle Bedeutung zu klären und c) den Phraseologismus in konkreten Verwendungskontexen einzusetzen. Diese Grundformen lassen sich in verschiedener Weise variieren. So können Bedeutungsrekonstruktionen zu Ausflügen in die allgemeine Sprachtheorie der Zeit genutzt werden (s. scheid), oder es wird die Zielrichtung des Sprachspieles umgekehrt (von der Erzählung auf ein Sprichwort schließen). § 1 2 1 : Eine Extremform der Spracharbeit mit Sprichwörtern stellt der Versuch dar, ganze Texte nahezu ausschließlich mit Sprichwörtern zu verfassen. Diese Art der Sprachspiele trägt einerseits kuriose Züge, was auch für das 74 Harsdörffer, FZG V, S. 610. 75 Harsdörffer, FZG V, S. 610f. [Fettdruck getilgt].

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Verständnis der damaligen Zeit gegolten haben dürfte. Andererseits sind sie in ihrer Funktion für die Spracharbeit jedoch nicht irrelevant. Wenn sich nämlich — mehr oder weniger plausibel — zeigen lässt, dass ganze Texte auf der Grundlage deutscher Phraseologismen geschrieben werden k ö n n e n , d a n n sind diese als zweite lexikalische Ebene neben den S t a m m w ö r t e r n u n d ihren Wortbildungsprodukten gesichert. Die kurios a n m u t e n d e n Texte, in denen sich ein Phraseologismus an den anderen reiht, ü b e r n e h m e n d a m i t eine wichtige sprachlegitimatorische Aufgabe. Natürlich ist es für den Sprachspieler selbst wiederum ein Anlass, seine aktive Sprachkompetenz scharfsinnig unter Beweis zu stellen und — eventuell unter Rückgriff auf eine Sprichwört e r s a m m l u n g wie die von Schottelius — sein Repertoire zu erweitern. Diese doppelte Funktion gilt es im Hinblick auf die Spracharbeit zu berücksichtigen. Die prominentesten Beispiele s t a m m e n wiederum von Harsdörffer, von dem sie Schottelius zum Teil ü b e r n i m m t . Es handelt sich einmal u m zwei Briefentwürfe und zum anderen u m das „Schauspiel Teutscher Sprichwörter" im zweiten Teil der FZG. Das „Schauspiel Teutscher Sprichwörter" basiert auf einer französischsprachigen Vorlage 7 6 . Dieser U m s t a n d macht die besondere Intention Harsdörffers deutlich. Er will zeigen, dass nicht allein die französische Sprache über eine große Phraseologismenmenge als zweite lexikalische Ebene verfügt. Dies gelte in gleicher Weise für die deutsche Sprache. In der Vorrede zum „Schauspiel" legt Harsdörffer seine theoretischen A n n a h m e n zum Phraseologismus dar. Bereits Mieder (1974) hat darauf hingewiesen, dass Harsdörffer „sachgerecht zwischen dem eigentlichen Sprichwort, dem Lehrspruch (im Sinne von Sentenz) und der gleichnishaften oder figürlichen Rede (also der sprichwörtlichen Redensart)" 7 7 unterscheidet. Allerdings wird aus der bloßen terminologischen Trennung noch nicht klar, was die drei Typen inhaltlich voneinander t r e n n t . „Die Sprichwörter sind dreyerley Art/ und bey uns Teutschen/ als allen andern Zungen mit gleichem Unterscheid zu beobachten. [ . . . ] Ein Sprichwort ist ein gemeines und fast jederman bekandte Rede/ welche vielmal gesprochen oder wiederholet zu werden pflegt. [Typ l]" 7 8 „Die andere Art der Sprichwörter/ hafftet in Lehrsprüchen und beruhet in denselben die Weißheit eines jeden Volckes/ wie sonderlich aus der Ebrseer/ [ . . . ] und Araber [ . . . ] Schriften beweißlich ist. [Typ 2]" 79 „Zum dritten/ finden sich unter der Sprichwörter Titul alle Gleichniß und figurliche Reden/ welche kurtz verfasset/ ins gemein gebrauchet werden [Typ 3]." 80 Ebenso schwierig wie heute eine klare Trennung zwischen Sprichwörtern im engeren Sinne und Redensarten ist, scheint in diesem Zitat die Abgrenzung 76

Diese ist um 1632 anonym unter dem Titel „La Comedie des Proverbs" erschienen. Vgl. dazu Hain (1970), S. 462. 77 Mieder (1974), S. 185. 78 Harsdörffer, FZG II, S. 331 [Fettdruck getilgt], 79 Harsdörffer, FZG II, S. 332 [Fettdruck getilgt], so Harsdörffer, FZG II, S. 334 [Fettdruck getilgt].

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der T y p e n 1 und 3 zu sein. Erst mit den Beispielen, die Harsdörffer für die einzelnen Typen anfügt, lässt sich klären, was unterscheidende Merkmale sein könnten. Dabei n i m m t der Lehrspruch (Typ 2) eine herausragende Stellung ein. Er hat sprechakttheoretisch gesprochen eine klar direktive Intention. Dies kann für die anderen beiden Typen nicht ohne weiteres angenomen werden. Auch im Sinne der Erkenntnisleistung ist der zweite T y p ausgezeichnet. Die einzelsprachspezifischen Wahrheiten sind insbesondere in diesem Typus von Sprichwort greifbar. An ihm lassen sich die Vorzüge der deutschen Sprache besonders gut zeigen. Gegenüber dem Griechischen oder Lateinischen steht die Menge deutscher Sprichwörter dieser Art keineswegs zurück. „Die alten Teutschen/ ob sie wol ein Volck gewesen/ welche sich deß Faustrechts und nicht viel spitziger Wort beflissen; jedoch haben sie den Griechen und Römern an klugen Sprichwörtern nicht bevorgeben [ . . . ]." 81 Vielmehr besteht in der deutschen Sprache sogar die Möglichkeit einer breiteren Varianz eines Sprichwortes. Harsdörffer verweist dazu auf Fischart, dem es gelungen sei, das Sprichwort Erkennt Dich selbst mit knapp vierzig deutschen Sprichwörtern auszudrücken 8 2 . Was aber unterscheidet nun den ersten vom dritten Sprichwörtertypus, die „bekandte Rede" von der „figürlichen Rede"? „Ein solches Sprichwort [vom ersten Typus - Μ. H.] ist zum Exempel/ wenn man sagt: Es ist so/ und so geschändet und gescholten worden &c. daß kein Hund kein Stück Brod von ihm genommen hätte [ . . . ]." 8 3 „Ein solcher Spruch [vom zweiten Typus - Μ. H.] ist/ wenn ich sage: Hüte dich vor der T h a t / der Lügen wird wohl raht/ oder: Jung gewohnt/ Alt gethan/ und dergleichen [ . . . ]." 84 „Inzwischen kan ein Exempel eines solchen Gleichniß [vom dritten Typus Μ. H.] seyn: Wann ich einen Vatter/ der an Haaren/ und Gesichtsbildung ihm gantz ungleiche Kinder hätte/ deßwegen befragte/ und er mir mit diesem Sprichwort antwortete: Es sind nicht alle gleich die mit dem Käiser reuten [ . . . ]." 85 Ein wesentlicher Unterschied zwischen dem ersten und dritten Typus besteht darin, dass einerseits aus der beschriebenen Situation lediglich ein Teil akzentuiert und semantisch intensiviert wird, während andererseits im dritten Beispiel die gesamte Situation charakterisiert wird. Es geht hier weniger u m die semantische Verstärkung als u m eine prägnante (analoge) Erklärung. Harsdörffer benötigt alle drei Sprichwörtertypen für die Ubersetzung des „Schauspiels". Er ist sich durchaus der Schwierigkeiten bewusst, die eine Übertragung idiomatischer Texte in sich birgt. Deshalb gesteht er sich nicht allein zu, alle drei Typen (und nicht nur den zentralen zweiten) zu nutzen, sondern d a r ü b e r hinaus bei Bedarf auch neue Sprichwörter zu erfinden.

81 Harsdörffer, FZG II, S. 333. 82 Vgl. Harsdörffer, FZG II, S. 315. 83 Harsdörffer, FZG II, S. 332 [Fettdruck getilgt], 84 Harsdörffer, FZG II, S. 333 [Fettdruck getilgt], 85 Harsdörffer, FZG II, S. 334 [Fettdruck getilgt].

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„Aus diesem kurtzen Bericht wird der vernünfftige Leser leichtlich ermessen können/ d a ß / der einen gantzen Verlauff Spielweis mit Sprichwörtern erzehlen will/ sicher dieser unterschiedlichen Arten derselben zugleich gebrauchen müsse; ja in Ermanglung/ neue Sprichwörter aus andern Sprachen Teutschen/ oder selbsten nach Beschaffenheit erfinden." 8 6 Die H a n d l u n g des Schauspiels ist in u n s e r e m Z u s a m m e n h a n g irrelevant. W i c h tig ist dagegen die A d r e s s a t e n o r i e n t i e r u n g des Schauspiels. H a r s d ö r f f e r weist ausdrücklich darauf hin, dass es dazu dienen soll, die aktive u n d passive K o m p e t e n z in Bezug auf Phraseologismen zu verbessern. Diese A u f f o r d e r u n g b e t t e t er in die übliche captatio benevolentiae a m E n d e der Vorrede z u m „ S c h a u spiel" ein. „Schließlichen/ wolle der Teutsche Leser dieses Spiel nicht müssig vernehmen/ sondern bey allen Handlungen und Auffzügen/ trachten und betracht e n / wie diese in Eil zusammen geraffte Sprichwörter zu vermehren/ zu verbessern/ zu ergründen/ und dergleichen künfFtig zu mit sattsamer Volkommenheit zu Werck gerichtet werden möge." 8 ' D e m eigentlichen Schauspiel schaltet Harsdörffer noch eine I n h a l t s a n g a b e vor, die f ü r das T e x t v e r s t ä n d n i s sehr hilfreich ist. O h n e dieses Vorwissen w ä r e es sonst f ü r den Leser schwer, aus der A n h ä u f u n g der P h r a s e o l o g i s m e n , die jeweils nur m i t wenigen, kurzen U b e r g ä n g e n v e r b u n d e n sind, d e n H a n d l u n g s verlauf zu erschließen. Die H a n d l u n g liefert lediglich die B ü h n e , auf d e r das d e u t s c h e S p r a c h m a t e r i a l ausgebreitet u n d v o r g e f ü h r t wird. Ein Beispiel aus d e m Beginn des sechsten A u f z u g s soll dies veranschaulichen. „1. W[achtmeister], DAs Hembd ist jedem näher als der Rock/ es ist jeder ihm die nechste Treu schuldig. Wer reut/ der r e u t / wer leidt/ der leidt. Hat Fierebras viel zu fordern/ so mag er es suchen. Der Kinder Weinen/ macht die Frauen singen: Was ihm abgeht/ geht dir z u / hast du aber bey dem Herrn Doctor den Brey verschütt/ so wollen wir selben wieder einfassen. 2. Lid[ias], Alles hat seine Zeit. Die Lieb weiß viel Abwege. Es kan nicht allzeit gleich zugehen/ geschehen ist geschehen/ man muß das Beste und nicht das Böste darzureden. 3. Alägfre], Beschert bleibt ungewehrt. Was einem unser HErr G O t t ginnet/ das kan S. Peter nicht hindern. 4. Phil[ippin]. Es last sich eine jede Warheit sagen/ aber es ist doch w a a r / wen die Hüner brutig seyn/ sind sie begürig zu den Ehren [ . . . ]." 8 8 Phraseologismus wird an Phraseologismus gereiht, o h n e dass der B e z u g zur H a n d l u n g in j e d e m Einzelfall deutlich werden würde. Dies h ä n g t sicher auch d a m i t z u s a m m e n , dass es k a u m möglich ist, in einem relativ langen T e x t wie d e m „Schauspiel" jeden einzelnen T e x t b a u s t e i n phraseologisch u m z u s e t z e n u n d plausibel m i t der H a n d l u n g zu verkoppeln. Dies ist bei k ü r z e r e n Text e n , wie etwa Briefen, leichter. I m ersten Teil der F Z G f ü h r t Harsdörffer vor, wie ein phraseologischer Briefwechsel aussehen könnte. Er b e s t e h t a u s zwei 86 Harsdörffer, FZG II, S. 335. st Harsdörffer, FZG II, S. 342. 88 Harsdörffer, FZG II, S. 427 f.

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S c h m ä h - B r i e f e n , d e m eines M a n n e s an eine Frau u n d deren Replik hierauf. A u c h in diesen Briefen verwendet Hardörffer alle drei P h r a s e o l o g i s m u s t y p e n , d. h. die „ b e k a n d t e Rede" zur s e m a n t i s c h e n Intensivierung, den L e h r s p r u c h m i t direktiver u n d hier insbesondere kritisierender I n t e n t i o n sowie die „figürliche R e d e " zur E r k l ä r u n g eines Sachverhalts. „Liebe=vermeinte Jungfer/ &c. Ob ihr zwar für einen Articul des Glaubens h a l t e t / ich habe den Narren an euch gefressen/ so wisset doch/ daß es noch üm ein gantzen Baurnschuch fehlet. Ich will mir kein Blat fürs Maul nemen/ und mit euch das Spiel der unzeitigen Warheit spielen: Ich will euch weisen/ wo der Hund im Pfeffer lieget: Mit der Bitte/ ingedenk zu seyn/ daß ein Freund/ der sauer sihet/ besser ist/ als ein lachender Feind. Ein Ehrwort ist darüm kein wahr Wort: Loben ist nicht Lieben/ und betrieget ihr euch sehr/ wann ihr für Gold haltet alles/ was da gläntzet. Fürwar ich habe euch kein Evangelium geprediget: Die Wahrheit ist ein seltzam Wildbred/ Kinder und Narren sagen sie/ (wie das Sprichwort l a u t e t / ) die Verständigen aber gehen derselben billich müssig/ denn wer die Warheit geigt/ dem schlägt man die Fiedel üm de Kopf: Man gebraucht sie kaum die Feiertag/ zu geschweigen/ daß man solte alle Tags=Hosen daraus machen. Habe ich euch gute Worte gegeben/ so dankt mir d a r ü m / wolt ihrs aber glauben/ und mir meine Tauben abgefangen/ so kan ich wol sagen/ daß ihr viel Dünkel zu verkauffen h a b e t / u n d / nach eurer und meiner Meinung für die Schönste zu achten/ wann ihr allein seyd. Gewiß/ ihr sehet mich für einen anderen a n / der nicht weiß/ was geng und geb in der Welt ist/ aber ich bin genug berichtet/ daß die Weiberleute unrichtige uhren sind: Irrwische/ die einen am hellen Tage verführen/ Feuerspiegel/ die die Jugend verbrennen/ Katzen/ die glatte Bälge/ aber scharffe Klauen haben. Es ist nichts neues/ daß in einem schönen Wirtshaus der Wirt ein Schalk ist: Rohte Oepffel sind auch sauer/ und in einem schönen Buch findet man auch wol Böses. Wann ich auch in diesem mich betriege/ so habe ich doch bey euch schon vermerket/ wie viel es geschlagen: Euer Handwerk hat ein gülden Boden/ Ihr habt gern neu Werk am Rocken/ und ist die Losung in eurem Haus Geld: Da ich doch vermeinet/ die Zeit solte euch allgemach solch wucheren verbieten/ weil es an der Haubtsumma mangeln wil. Bey solcher Beschaffenheit nun/ wäret meine Liebe nit länger/ als der Geruch von dürren Rosen/ und weis ich wol/ daß der mit solchem Feuer zu thun h a t / muß einen silbern Blasbalk haben. Bald die Ehre einen Riß gewinnt/ wie leichtlich geschehen kan/ so stehet sie jedem offen/ und ein Krämer leget üm eines Kunden willen seine Waar nicht aus. Ein Wirt steckt üm eines Gastes willen keinen Schild a u s / sondern es heist/ je m e h r / je besser. Aber doch sagt man auch im Sprichwort/ Viel verdirbt/ daß man nicht wirbt: Es ist kein N a r r / der einem eine Thorheit z u m m u h t e t / sondern d e r / der selbe begehet. Diesemnach weis ich gewiß/ daß die allerkürtzte Thorheit die beste ist. Wann es an das Riemenziehen kommet/ so ist fürwahr bey mir niemand zu Haus/ denn ich habe erfahren/ warzu das Geld gut ist/ (ob man gleich s a g t / das Gold der neuen Welt habe die alte Welt zum Narren gemacht/) Es schickt sich doch so wol zu allen Dingen/ und ge-

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denke ich stetige bey mir/ was man ersparet/ ist schon gewonnen. Diesem nach könt ihr euch nach andern ümthun/ bey welchen euer Glaub seine Jungfrauschaft noch nicht verlohren hat: Ich laß mir keine falsche Brillen aufstecken/ dardurch das alte grün scheinet. Wolte lieber alles das Meine zu dem Kloster Maulbrunn stifften/ oder an nasse Waar legen/ als in einen solchen Sack schütten. GOTT woll uns alle mit seiner Gnaden hand/ mich aber sonderlich vor euch behüten. Verbleibe der Jungfer/ wann sie meiner nicht bedarff/ jederzeit Dienstwilliger." 89 Obgleich der Text für den Leser wesentlich leichter nachzuvollziehen ist als bestimmte Teile des Sprichwörterschauspiels, gilt auch hier, dass es in erster Linie darum geht, eine Projektionsfläche für das Sprachmaterial als solches zu schaffen. Daneben sollen die Beispiele den Leser dazu anregen, selbst häufiger Phraseologismen als Mittel einzusetzen, die der vertretenen Sache zu größerer Überzeugungskraft verhelfen können. Gerade in den Beispielbriefen wird so die rhetorische Tradition deutlich, in der die Phraseologismenverwendung steht. Richtig eingesetzt tragen sie zum decorum, d. h. zu einer dem Sachverhalt angemessenen Ausschmückung des Textes bei 9 0 . Schottelius drückt dies in seiner „Ethik" so aus. „Die Sprichwörter recht und wol beygebracht/ sind in der Rede/ gleich wie Specerey im Essen/ und Gold und Perlen auf einen schönem Kleide: Und kan eines grossen und wichtigen Handels Ausspruch durch ein Sprichwort oft geschehen." 91 Im Rahmen der FZG haben die phraseologischen Briefe somit eine Doppelfunktion. Einerseits sollen sie zeigen, dass die deutsche Sprache über einen reichen Sprichwörterschatz als zweite Ebene des Lexikons verfügt. Neben dieser demonstrativen Funktion sollen die Briefe aber sicher auch zu einer — wenn auch gemäßigteren — Nachahmung im Sinne des decorum dienen. Schottelius druckt beide Briefe am Ende seiner Sprichwörtersammlung ebenfalls ab 9 2 . Die Funktion der Briefe an dieser Stelle beschränkt sich auf den sprachlegitimatorischen Aspekt. Was als Liste bereits dargelegt wurde, sollte in anderer Form nochmals gezeigt werden. §122: Stellen bereits die aus Phraseologismen verfertigten Texte in hohem Maße artifizielle Anwendungsfelder der Spracharbeit dar, so gilt dies auch für drei andere Sprachspiele auf der Grundlage von Phraseologismen. Sie heben sich durch ihren Schwierigkeitsgrad deutlich von den Grundformen phraseologischer Spracharbeit (§120) ab. Dabei müssen entweder neue Sprichwörter erfunden, bereits existierende szenisch aufgeführt oder aber ein bestimmtes T h e m a in verschiedenen Sprichwörtern variiert werden. N e u e P h r a s e o l o g i s m e n erfinden: Mit den Normalfällen der phraseologischen Spracharbeit sollte dem Leser eine Möglichkeit an die Hand gegeben 89 Harsdörffer, FZG I, S. 219-223. 90 Vgl. zum Begriff decorum bzw. aptum Ueding/ Steinbrink (1994), S. 216 f. si Schottelius (1669/1980), S. 375. 32 Schottelius, AA, S. 1146 f.

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werden, seine Kompetenz in Bezug auf die existierende Phraseologismenvielfalt auszuweiten. Es ging darum, die bestehende Menge nutzbar zu machen, ihre Einsatzmöglichkeiten aufzuzeigen, ihre wissenskonservierende Funktion unter Beweis zu stellen etc. Ein entscheidender Schritt darüber hinaus wird dann getan, wenn die Menge an nationalsprachlichen Weisheiten durch einzelne Personen erweitert werden soll. Damit jemand einen neuen Phraseologismus auch nur vorschlagen kann, muss er über ein profundes Wissen verfügen. Er muss nicht nur lebenserfahren, sondern in erster Linie spracherfahren, belesen, in der europäischen Literatur beschlagen sein. Dass dies nur auf wenige zutrifft, schränkt den Radius solcher Anwendungsformen drastisch ein. Die Neueinführung eines Phraseologismus eignet sich damit in der Praxis kaum als Gegenstand der Spracharbeit. Harsdörffer lässt in den FZG dazu die Mitspieler sprechen. „13. V[espasian]. M a n kan auch von den Sprichwörtern v o r g e b e n / ein Altes zu ä n d e r n / vnd ein Neues aufzubringen. 14. J[ulia]. Dieses Spiel wird unter F r a u e n z i m m e r n / als welche wenigsten Theils belesen/ nicht annemlich s e y n . " 9 3

Zwar kontert Vespasian diesen Einwand damit, dass es doch genügend Sprichwörtersammlungen gebe, aus denen sich auch das „Frauenzimmer" Anregungen holen könne, faktisch bleibt diese Art des Sprachspiels dennoch abgelehnt. Spracharbeit soll nicht allein die bereits Gebildeten erreichen sondern v. a. die Bildungsfähigen und -interessierten, für die an dieser Stelle stellvertretend die Frauen stehen 94 . Das Erfinden von Phraseologismen ist damit eine denkbare Möglichkeit, die jedoch auf Grund des kleinen Personenkreises, in dem diese Form der Spracharbeit betrieben werden könnte, hypothetisch bleibt. P h r a s e o l o g i s m e n inszenieren ist zwar ebenso artifiziell wie das Erfinden, aber im Gegensatz dazu durchaus praktikabel. Hier besteht die Spielaufgabe darin, die Phraseologismen wortwörtlich in Szene zu setzen. Durch die Idiomatizität der Phraseologismen können die Szenen nicht aus sich selbst heraus sinnvoll interpretiert werden, sondern allein über die Kenntnis der dargestellten Sprichwörter. ,,R[eymund]. Besagtem zu Folge/ kan m a n bey Gesellschaften nach solchen S p r i c h w ö r t e r n u m f r a g e n / welche zu erwänten Dantzspielen dienstlich seyn m ö c h t e n . Als d a ist: Einem Stroh in den B a r t flechten: D a s Hälmlein d u r c h d a s Maul ziehen/ auf beyden Achseln t r a g e n / bey der Nasen h e r u m f ü h r e n / u. d. g . " 9 5

In dieser Anwendung wird Sprache durch die theatralische Inszenierung physisch präsent. Harsdörffer versuchte, alle ihm zur Verfügung stehenden Medien für Spracharbeit zu nutzen. Er setzte sie musikalisch in Liedtexten oder in der Oper „Seelewig" um. Er benutzte die Veranschaulichung der Sprache auf der

93 Harsdörffer, FZG I, S. 228. 94 Zum Frauenbild Harsdörffers vgl. Griesshaber-Weninger (1993). 95 Harsdörffer, FZG I, S. 232 [Fettdruck getilgt].

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Bildebene ζ. Β. in Lehralphabeten, Geheimschriften 9 6 oder in den „Gemählspielen" 97 . Somit ist die Inszenierung von Phraseologismen nur eine weitere mediale Möglichkeit der Spracharbeit. Sprache kann so auch körperlich erarbeitet und erfahren werden. Dass Harsdörffer für die Inszenierungen gerade „Dantzspiele" als Aufhänger wählt, ist nicht zufällig. Spracharbeit h a t t e auch schon im 17. Jahrhundert den Beigeschmack der „Schulfüchserey". Als sekundärer Spracherwerb musste sie mit einigen Hindernissen rechnen. In der STS macht Harsdörffer dies explizit, indem er diesen Einwand diskutiert: „Etliche halten die Teutsche Spracharbeit/ durch die Bank hin/ für Schulfuchserey/ welche vornemen Leuten nicht gezieme." 98 „Dantzspiele" und „Gesellschaften" befinden sich dagegen im Zentrum der damals prestigeträchtigen Hofkultur. Die „Aufführung" von Phraseologismen könnte so die Spracharbeit in einen zentralen Handlungsbereich der damaligen Zeit hineintragen und so nicht nur für die Gelehrten, sondern auch für größere bürgerliche und adlige Kreise akzeptabel machen. Spracharbeit kann sich einmal mehr als reflexive Praxis erweisen, die in die Lebenswelt der Sprachgemeinschaft integriert werden kann. An einigen Beispielen führt Harsdörffer vor, wie er sich solche Inszenierungen vorstellt. Selbst Phraseologismen des dritten Typs, die eine ganze Situation beschreiben und erklären, lassen sich so darstellen. Der Phraseologismus Mit dem Pfeifflein gewonnen/ mit dem Trümmlein wieder verthan soll folgendermaßen inszeniert werden: , , R [ e y m u n d ] . S o l c h e r g e s t a l t / d a ß m a n erstlich einen P f e i f f e r e i n f ü h r e t / u n d zween o d e r d r e y B e u t e l m i t G e l d (so zwischen d e n B r e t t e r n d e r B r ü c k e n r e g i e r e t / ) die g l e i c h s a m h i n t e r i h m d a n t z e n : A l s d a n n e i n e n / d e r a u f e i n e m kleinen T r ü m m e l e i n s p i e l e t / d e m g e d a c h t e B e u t e l w i e d e r z u r u c k f o l g t e n . " 9 9

Zudem macht Reymund deutlich, welche Phraseologismen sich ü b e r h a u p t für diese Spielart eignen. Sie müssen darstellbar sein und menschliche Handlungen betreffen. Sind Tiere involviert, muss eine Inszenierung scheitern. „ E s s c h i c k t e n sich a b e r a m f ü g l i c h s t e e n [!] h i e h e r d i e g e m e i n e R e d e n o d e r S p r i c h w ö r t e r / welche v o n P e r s o n e n / und nicht von T h i e r e n o d e r a n d e r n S a c h e n r e d e n : Als d e r K a t z e n die Schellen a n h ä n g e n / d a s F e t t will o b e n s c h w i m m e n / viel K ü h e / viel M i l c h / u. d . g. k ö n n e n n i c h t leichtlich v o r g e bildet w e r d e n . A b e r wol diese: E s sind n i c h t alle K ö c h e / d i e l a n g e M e s s e r t r a g e n : E i n e n zeitigen D i e b e r l ä u f f t ein h i n k e n d e r S c h ü t z : W e r n i c h t s h a t zu s c h a f f e n / n e m e eine F r a u / k a u f f e i n e u h r / u n d s c h l a g e e i n e n P f a f f e n / u. d. g . " 1 0 °

S p r i c h w ö r t e r variieren: Dies trägt ebenfalls dazu bei, den Reichtum der deutschen Sprache zu beweisen und die Flexibilität der Sprachbenutzer zu erhöhen. Harsdörffer nutzt diese Technik immer wieder. Am auffälligsten ist dies in den phraseologischen Texten, in denen jeweils Sprichwörter zu einem Vgl. §80 und §81. " V g l . §136. 98 Harsdörffer, STS, S. 384 [Fettdruck getilgt], 99 Harsdörffer, FZG I, S. 232. 100 Harsdörffer, FZG I, S. 232f. [Fettdruck getilgt].

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S p r a c h a r b e i t u n d Phraseologismen

b e s t i m m t e n I n h a l t gereiht werden. So variiert er e t w a das T h e m a 'Schein vs. Sein' im oben zitierten Brief dreifach: „Ein Ehrwort ist darüm kein wahr Wort: Loben ist nicht Lieben/ [ . . . ] betrieget ihr euch sehr/ wann ihr für Gold haltet alles/ was da gläntzet." 1 0 1 Es w u r d e bereits darauf hingewiesen, dass die Variation von Sprichwörtern f ü r Harsdörffer ebenso ein Beweismittel f ü r die Überlegenheit der d e u t s c h e n S p r a c h e ist. Wo das Lateinische oder Griechische lediglich eine Version h a b e n (Noscere te ipsum) verfügt die d e u t s c h e Sprache ü b e r zahlreiche Möglichkeit e n , diesen Lehrsatz zu fassen 1 0 2 . Abschließend lässt sich die S p r a c h a r b e i t m i t Phraseologismen in folgenden P u n k t e n z u s a m m e n f a s s e n . Auf G r u n d ihrer h e r a u s r a g e n d e n s p r a c h t h e o r e t i schen Stellung sind die Phraseologismen als G e g e n s t ä n d e der S p r a c h a r b e i t b e s o n d e r s wichtig. Das Interesse an Sprichwörtern war schon im 16. J a h r h u n d e r t sehr s t a r k , wie ζ. B. die S p r i c h w ö r t e r s a m m l u n g e n von Agricola u n d Seb. Franck zeigen, die in diesem Z e i t r a u m stark rezipiert w u r d e n 1 0 3 . E i n e n Höhep u n k t erreichte es nach Hain j e d o c h erst u m 1650 1 0 4 . W i c h t i g e zeitgenössische S p r i c h w ö r t e r s a m m l u n g e n waren die von Eyering, P e t r i , G r u t e r u s u n d besonders L e h m a n n 1 0 5 , auf den Harsdörffer u n d Schottelius zurückgriffen 1 0 6 . A u c h i m W ö r t e r b u c h von Henisch waren zahlreiche Phraseologismen verzeichnet 1 0 7 . S p r a c h s y s t e m a t i s c h sind sie — i m Ü b e r g a n g zur S y n t a x — als eine zweite E b e n e des Lexikons neben den S t a m m w ö r t e r n zu verstehen. Sie konservieren W a h r h e i t e n u n d W e r t u r t e i l e in nationalsprachlicher Form, weshalb sie ζ. B. Schottelius in seiner „ E t h i k " i m m e r wieder verwendet. Ethische G r u n d s ä t z e

101 Harsdörffer, FZG I, S. 220. iü2 Vgl. §121, S. 378. Prominente Beispiele dieser Variationstechnik finden sich auch in Kaspar Stielers „Sekretariats=Kunst"(1673, Teil II). Als eine „Vorübung" für den Sekretär betrachtet Stieler „die Redeenderung" oder den „SpruchWechsel" (ebd. S. 65). Der variantenreiche Ausdruck ist jedoch nicht nur ein Zeichen der „Schreibfertigkeit" sondern eben auch „Beyspiel und Beweis/ was unsere teutsche Sprache hierinnen vermag" (ebd. S. 68). Diese Leistungsfähigkeit demonstriert Stieler am Thema 'Arroganz wird bestraft'. Es wird in zahlreichen Paraphrasen und Phraseologismen variiert. Vgl. Stieler (1673), II, S. 68-72. ms Agricola (1534/1970), vgl. Hain (1970a), S. X ' ; Franck (1541/1987), vgl. Mieder (1986), S. 26 und Mieder (1987). ιοί Hain (1970), S. 463. ι 0 5 Eucharius Eyering (1601-1604) „Proverbtorum Copia", Friedrich Petri (16041605/1983) „Der Teutschen Weissheit", dazu Mieder (1983), Janus Gruterus (1610/1612) „Florilegium Ethico-Politicum", Christoph Lehmann (1639/1986) „Florilegium Politicum". Für das späte 17. Jahrhundert sind die Sammlungen von Seybold (1665) (1677) relevant. Als wiederholt aufgelegte Sammlung von Aussprüchen berühmter Persönlichkeiten ist auch Zincrefs (1626) „Der Teutschen Scharpfsinnige kluge Sprüch" relevant. 106 Mieder (1986), S. 48. 107 Ζ. B. Henisch (1616/1973) , Sp. 1245 zum Lemma frisch „Frisch auff ist halb gewunnen", zum Lemma Gesetz, ebd. Sp. 1245: „Das glück förchtet der fromb/ das Gesatz der Thumb."

Anwendungsfelder

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werden dort wiederholt aus Sprichwörtern abgeleitet 108 . Die Grundformen der Spracharbeit mit Phraseologismen bestanden darin, deren historische und aktuelle Bedeutung zu rekonstruieren sowie Verwendungskontexte zu erfinden bzw. die Phraseologismen aus solchen zu erschließen. Artifiziellere Anwendungsformen betrafen die Produktion ganzer Texte, das Erfinden neuer sowie die Inszenierung und Variation bekannter Phraseologismen. §123: Die Anwendungsfelder, die sprachsystematisch zwischen dem Wort auf der einen Seite und der Produktion ganzer Texte auf der anderen Seite stehen, sind vergleichsweise gering besetzt. Der Gegenstand der praktischen Anwendungen ist dabei einerseits der Bereich der Phrasen bzw. der Satzteile (1) und andererseits die Ebene des einfachen Satzes (2). Allerdings ist hier einschränkend anzumerken, dass nicht syntaktische Aspekte Gegenstand der Spracharbeit sind, sondern semantische Fragen, die über die Einzelwortebene hinaus in den Bereich der Syntax erweitert werden. 1) Noch unterhalb der Satzebene setzen zwei Sprachspieltypen ein, die Harsdörffer im zweiten Teil der FZG vorstellt. Im ersten Fall geht es um ein spekulatives Zufallsspiel aus dem Bereich der Mantik, im zweiten Fall um die Zusammenfügung von Syntagmen zu einfachen Sätzen. la) Bei diesem Sprachspiel greift Harsdörffer auf eine beliebte Orakeltechnik zurück, die sich in bestimmten Zirkeln bis heute gehalten hat: dem Verse-Stechen 109 . Dabei wird aus einer Schrift, die besonders große Autorität genießt (ζ. B. die Bibel) eine Zeile per Zufall ermittelt, indem mit einer Nadel zwischen die Blätter gestochen wird. Die Einstichstelle gibt den Zielvers an. Dieser wird dann auf die Lebenssituation des Ratsuchenden hin interpretiert. Die Grundannahme ist dabei, dass der Zufall der Zeilenwahl nur ein scheinbarer ist. Vielmehr lenke die Hand Gottes den Ratsuchenden genau an die Stelle, die dem Fragenden Trost oder Erleuchtung bringen kann. Dieses Verfahren ist auch im 17. Jahrhundert verbreitet gewesen. Von der Sache her eigneten sich insbesondere die salomonischen Sprichwörter und das Buch „Jesus Sirach" als Quellen. Die in ihnen enthaltenen Lebensweisheiten und Verhaltensregeln lassen sich vergleichsweise einfach an die jeweilige Situation des Ratsuchenden anpassen. Hier knüpft Harsdörffer mit seinem Sprachspiel an. „Ich werde auch hierbey eingedenck/ daß man das Buch Sirachs/ oder die Sprüche Salomonis zu nemen pfleget/ eröffne selbe ungefehr/ und begehrt zuvor von einem nach dem andern eine gewiese Zahl zu ernennen/ (welche die Zeil desselben Blats auswehlet) alsdann liest man zu beeden Seiten die Wort und fragt/ wie sie auff diesen oder jenen in der Gesellschafft/ sonderlich aber auff den der die Zahl erfordert/ gezogen werden könten." 110

108 Vgl. §51 und die Belege bei Schottelius (1669/1980), S. 375. 109 Vgl. Z um Terminus Stechen in dieser Bedeutung das DWB, Bd. 17, Sp. 1239: stechen „zum orakel mit einer nadel zwischen die blätter eines Buches stechen; der so getroffene Spruch wird dann prophetisch ausgedeutet [ ... ]." h o Harsdörffer, FZG II, S. 249.

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S p r a c h a r b e i t u n d Phraseologismen

Das S t a n d a r d v e r f a h r e n des Orakels wird in zwei P u n k t e n f ü r die S p r a c h a r b e i t modifiziert. E r s t e n s geht es nicht d a r u m , R a t , Trost oder Hilfe in einer schwierigen Lebenslage zu vermitteln. Zweitens ist die a u s g e w ä h l t e Textstelle nicht allein auf d e n j e n i g e n zu beziehen, der die Zeilenzahl g e n a n n t h a t . Der Einfluss des N u m i n o s e n , der sich j a gerade darin ä u ß e r t , dass d e m R a t s u c h e n d e n die H a n d g e f ü h r t oder i h m die Zeilenzahl eingegeben wird, ist in diesem Zus a m m e n h a n g irrelevant. Zwar konzediert Harsdörffer, dass die S a t z f r a g m e n t e v o r n e h m l i c h auf denjenigen bezogen werden sollen, der die e n t s p r e c h e n d e Zahl g e n a n n t h a t . F ü r die Anlage des Sprachspiels ist dies allerdings unerheblich. Harsdörffer profanisiert eine religiöse P r a k t i k f ü r die Zwecke der S p r a c h a r b e i t . Ahnlich wie er bei der Inszenierung von Phraseologismen die S p r a c h a r b e i t in die Lebenspraxis hineintragen will, versucht er hier, an eine religiös-mantische P r a x i s a n z u k n ü p f e n . Dessen war er sich d u r c h a u s bewusst, wie sein Hinweis auf die H e r k u n f t dieses Verfahrens aus der M a n t i k zeigt 1 1 1 . E n t s c h e i d e n d ist das Zufallsprinzip. Dieses m a c h t Harsdörffer zur A n w e n d u n g s g r u n d l a g e eines weiteren Textes, d e m „Stechbüchlein". In 100 kurzen T e x t e n werden jeweils positive u n d negative C h a r a k t e r e i g e n s c h a f t e n k u r z beschrieben, die zugehörigen Laster g e t a d e l t und die Tugenden gelobt. J e d e r Text ist von einer Abbild u n g flankiert. Vom „argen" über das „bücherliebende", das „eselartige", das „sorgenvolle" bis hin z u m „ v e r b u l t e n " u n d „verzweifflenden H e r t z " reicht die P a l e t t e . Die T e x t e sind teils in G e d i c h t f o r m , teils in Prosa, teils als Fragen o d e r Rätsel verfasst. Sie sollen der U n t e r h a l t u n g in einer geselligen R u n d e dienen. Harsdörffer äußert sich in der Vorrede selbst dazu, wie das Buch verw e n d e t werden soll: „Der Erste Theil begreifft in sich 50 KupfFerblätlein/ die Tugenden und Laster deß löblichen und schandbaren Frauen=Volcks vorstellend; wie der andre Theil ebenmässiger Zahle der Kupferblätlein/ deßgleichen von den jungen Freyern vorbildet/ und in der Mitten von dem Buchbinder mit einem Registerlein kan unterschieden werden. Wann man sich nun in vertraulicher Gesellschafft dieser Erfindungen gebrauchen will/ muß jedes anwesende/ in dem ersten Theil/ wann es eine Weibsperson/ und in dem andern/ wann es eine Mannsperson/ mit einem Steift [!]/ Messer oder Stecknadel einstechen/ seines Hertzens Siegel= oder Spiegel=Bild auffwehlen/ ablesen und bemercken: damit folgendes eben dasselbe Blat nicht betreffe. Zu solchem Ende sind auch die Geistlichen Sachen von den Weltlichen nicht abgesondert/ und fast jedesmals ein gutes Bild nechst einem bösen gesetzet worden/ daß es dem Glück unterworffen/ was man bey solchen einstechen begegnen möchte." 1 1 2

111

In einer R a n d n o t e bezeichnet er d a s Verfahren als „ R a h t f o r s c h u n g " , d a s er als deutschen T e r m i n u s f ü r „σθιχίίομαντίίαν" a n g i b t . G e m e i n t ist d a m i t die W a h r s a g e k u n s t (Mantik) aus Versen (στίχοι). Vgl. zum Verfahren Zintzen (1979), Sp. 739, der auf die T r a d i t i o n dieses Orakelverfahrens von der Antike bis ins Mittelalter hinweist. Einzelne Verse w u r d e n aus H o m e r und Vergil, im Mittelalter z u n e h m e n d aus der Bibel per Zufalls-, d . h . Stechverfahren gewählt. 112 Harsdörffer (1654a), S. 12 f.

Anwendungsfelder

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Die Funktion des „Stechbüchleins" gleicht der der FZG. Der Unterschied besteht v. a. darin, dass in den FZG eine sehr große Bandbreite an Spieltypen vorgeführt wird, während im „Stechbüchlein" ein Spieltypus für den gesamten Band gilt 113 . Von der Sache her ist der beschriebene Spieltypus mit den Namensspielen verwandt, bei denen aus den Namen auf die Eigenschaften der Träger geschlossen werden musste. Die mit dem Sprachmaterial verbundene Semantik muss in der konkreten Spielsituation auf die jeweiligen Spielteilnehmer bezogen werden. lb) Die Syntax — verstanden als „Wortartenverbindungslehre" — kommt beim folgenden Sprachspiel zumindest in Ansätzen in den Blick. Beim Orakelspiel hing es vom Zufall ab, wie groß der sprachliche Baustein war, der verarbeitet werden sollte. In diesem Spieltypus ist dagegen die Grenze klarer gezogen. Jeder Spieler hat die Aufgabe, maximal eine Phrase beizutragen. Die Reihung der einzelnen Phrasen sollte schließlich einen vollständigen Satz ergeben. Seinen Reiz erhielt das Spiel dadurch, dass der einzelne Mitspieler jeweils nur die Phrase oder den Phrasenteil seines Vorgängers kannte. Erst am Ende wurden die Fragmente zu einem sinnvollen Ganzen verbunden. „[Julia] Wie ich von dem Spiel der G e h e i m n u s auch selbsten e r f a h r e n / d a jedes dem a n d e r n ein oder zwey W o r t in d a s O h r g e s a g t / zur lincken u n d rechten H a n d / nach der O r d n u n g / wie m a n zu sitzen k o m b t / und nachm a l s / alle W o r t z u s a m m e n s e t z e t / d a r m i t eine wunderlicher [!] Spruch und wunderliche Sprach h e r a u s k o m m e t . " 1 1 4

Die Spielrichtung soll sich bei jeder Runde ändern. Wie die angeführten Beispiele zeigen, muss nicht in jedem Fall ein vollständiger Satz das Ergebnis sein. Die erste Runde bringt eine Nominalphrase (evtl. das Subjekt) und einen konditionalen Nebensatz hervor. Das Prädikat fehlt. Die zweite Runde schließt mit einem vollständigen Fragesatz ab. „2. R[eymund]. W i r wollen es probiren: Es rede jedes zu beeden Seiten d e m Beysitzenden in die Ohren. Degenw. Cassand. Raym. Kohlen. Die schönste unter allen Angel. Vespasian. Julia. Wenn sie allein ist. Nun auff die ander Seiten: Vespasian. Angel. 3. Julia. W a s macht die Nachbarin Morgensfrü Degenw. Raym. Cassand. N a s e n / &c. mit ihrer alten

Offenkundig war die syntaktische Vollständigkeit der Ergebnisse für das Spiel weniger wichtig. Es kam darauf an, verblüffende Wortkombinationen hervorzubringen, die dann wiederum gedeutet werden konnten. Die syntaktische Korrektheit der Kombinationen wurde dabei stillschweigend vorausgesetzt. 113 114 115

Vgl. zur Einordnung in das Textsortenspektrum §60, S. 170. Harsdörffer, FZG II, S. 313 f. [Fettdruck getilgt]. Harsdörffer, FZG II, S. 314 [Fettdruck getilgt].

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Spracharbeit und Phraseologismen

In den vorgestellten Beispielen ergaben sich zwar zusammenhängende Phrasen und Sätze. Dies muss jedoch nicht immer der Fall sein, können doch die Mitspieler auch ihre Phrasen so weiterspinnen, dass am Ende eine Reihe von syntaktischen Brüchen steht 116 . Damit dieses Spiel in der Praxis reibungslos ablaufen kann, ist es nötig, sich in einem ersten Schritt auf bestimmte syntaktische Muster bzw. auf Satzbaupläne als Vorgaben zu einigen. 2) Auf die Satzebene beziehen sich zwei weitere Spielformen. Wie für den vorangegangenen Typus ist auch für diese der Wechsel zwischen Heimlichkeit und Offenheit ein wesentliches Merkmal. Dadurch werden sie zu Ratespielen, bei denen nicht nur einzelne Konzepte 117 , sondern Propositionen die Zielgrößen sind. 2a) Die einfachste Form der Rätsel auf der Satzebene ist das „Ohrenblasen" . Dabei stellt eine Person seinem Nachbarn eine Frage, ohne dass die anderen Mitspieler diese hören können. Aus der Antwort, die die befragte Person gibt, müssen nun die Mitspieler die Frage erschließen. Dieses Sprachspiel hat zugleich die Funktion, zu einem Konzept (der Anwort) Bedeutungsangaben zu machen. Die Rekonstruktion der Frage kommt einer Begriffsbestimmung gleich. Diese Spielform wurde bereits in §97 am Beispiel des Antwortbegriffs „Wein" und der zugehörigen Fragen als Bedeutungsparaphrasen ausführlich erörtert 1 1 8 . An dieser Stelle sei daher lediglich auf eine Besonderheit hingewiesen. Bemerkenswert am „Ohrenblasen" ist, dass sich Harsdörffer nicht mit der einfachen Version der „stillen Post" begnügt. Nicht allein die Verfremdung der Information, die durch die Weitergabe über verschiedene Personen zustande kommt und die dadurch Unterhaltungswert gewinnt, interessiert ihn. Das Sprachmaterial soll so weit als möglich auch inhaltlich bearbeitet werden. 2b) Die Intention, mit Fragen und Antworten möglichst kunstvoll umzugehen, kommt besonders gut am Spieltypus „die heimliche Frage" zum Ausdruck. ,,A[ngelica]. SOnsten ist auch ein gemeines Spiel/ welches der heimliche Frage genamet wird/ wan nemlich eines das andere/ nach und nach/ in geheimb fraget und beantwortet/ nachmals aber des ersten Frag/ und des anderen Antwort öffentlich und laut zusammensaget/ welche dann von unterschiedlichen Sachen offtmals wunderlich miteinander übereinkommen." 119 Bei diesem Sprachspiel können also prinzipiell mehrere Personen teilnehmen. Das Muster, auf dem das Spiel basiert, bezieht sich auf drei Teilnehmer. Ziel ist es, eine indirekte aber zutreffende Antwort auf eine Ausgangsfrage zu erhalten. Dazu stellt Spieler Α heimlich eine Frage. Die Antwort, die Spieler Β darauf gibt ist irrelevant. Spieler Β beantwortet im eigentlichen Sinne die Frage von Α dadurch, dass er dem Spieler C eine neue Frage stellt. Die Ant116

Dies ist ζ. B. dann der Fall, wenn der erste Spieler mit einer finiten Verbform beginnt, der zweite das Subjekt nachliefert und der dritte — in Unkenntnis des ersten Teils — wiederum eine finite Verbform beisteuert; etwa (1) Geht - (2) die Frau - (3) fragt.

117 V g l . d i e R ä t s e l s p i e l e in §95.

u s Vgl. §97, S.291. u s Harsdörffer, FZG I, S. 203 [Fettdruck getilgt].

Anwendungsfelder

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wort des Spielers C auf die Frage von Β soll nun so beschaffen sein, dass sie zugleich eine — eben indirekte — Antwort auf die Frage von Spieler Α ist (vgl. Abb. 12).

Abbildung 12: Schemazur „heimlichen Frage" (FZG I, S.203f.) Nach der Frage-Antwort-Runde offenbart Spieler Β sowohl die Frage, die von Spieler A an ihn gerichtet wurde, als auch die Antwort, die er von Spieler C erhalten hat. Wenn am Spiel mehr als drei Personen teilnehmen, wiederholt sich das Dreierprinzip jeweils. Für sein Beispiel nutzt Harsdörffer die persönlichen Merkmale, die die Figuren in den FZG tragen. Der gelehrte Student Reymund zeigt an verschiedenen Stellen seine Neigung für die „Jungfrau Angelica", die ihn jedoch insgesamt abweist. Vespasian, der die Anlage des Spiels an einem fiktiven Beispiel demonstrieren will, wählt dazu die Gefühlskonstellation zwischen Reymund und Angelica. ,,V[espasian]. E s h a f f t e t a b e r in solchem Spiel der V o r t h e i l / d a ß ich alsbald eine solche Frage e r d e n k e / deren A n t w o r t sich auf d a s mir a u f g e g e b e n e recht und wol schiket. Als wann ich den Herrn Reimond [!] heimlich b e f r a g t e / welche J u n g f e r seine Liebste sey? E r aber a n t w o r t e t / E r k ü n t e sich desselbigen nicht erinnern: N a c h m a l s a b e r er Frauen J u l i a m f r a g t e / wer ihre N a c h b a rinn were? D a sie d a n n ungezweiffelt w ü r d e a n t w o r t e n / J u n g f r a u A n g e l i c a / M ü s t e also Herr Reimund Vermöge des Spiels sagen: Ich bin g e f r a g t / welche J u n g f e r meine Liebste seye: Und ist mir zur A n t w o r t w o r d e n : J u n g f e r Angelica. R[eymund]. Der R a h t ist g u t . A[ngelica], A b e r nicht zu g e b r a u c h e n . " 1 2 0

Die Sprachspiele auf der Ebene von Syntagmen und einfachen Sätzen lassen sich in folgenden Punkten zusammenfassen. Sie sind entweder nach einem Zufallsprinzip organisiert, wie es etwa aus der Vers-Mantik her bekannt war, oder sie basieren auf heimlich weitergegebenen Satzfragmenten, die erst am Ende zu einem möglichst kuriosen Ganzen zuammengesetzt wurden. Bei all diesen Spieltypen kam es letztlich nicht auf die Analyse, Einübung oder Vermittlung syntaktischer Muster o. Ä. an. Vielmehr hatten sie eine semantische 120 Harsdörffer, FZG I, S. 203f. [Fettdruck getilgt].

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S p r a c h a r b e i t u n d Phraseologismen

Zielrichtung. Die semantischen A s p e k t e , die die E b e n e o b e r h a l b des Einzelwortes bis hin zur einfachen P r o p o s i t i o n b e t r a f e n , w u r d e n b e h a n d e l t . §124: Auch in den Anwendungsfeldern der S p r a c h a r b e i t zeigt sich, dass die „ R e i m k ü n s t e " bis zu einem gewissen Grad die noch nicht a u s g e b a u t e S y n t a x als g r a m m a t i s c h e Beschreibungsebene ersetzten. Hier bot die ü b e r g e o r d n e t e A u f g a b e , T e x t e möglichst k u n s t g e r e c h t m i t f o r m a l e n E i n s c h r ä n k u n g e n in Einklang zu bringen, vielfältige Möglichkeiten der Variation. Die f o r m a l e n Vorgab e n , die in diesem Fall Probierstein f ü r die S p r a c h a r b e i t waren, k o n n t e n dabei den einzelnen Vers, den Reim, das M e t r u m oder sogar die grafische F o r m des Textes betreffen. Harsdörffer f ü h r t im 269. Gesprächspiel ( „ R e y e n r e i m e n " ) gleich fünf verschiedene Sprachspieltypen an. Diese A r t der S p r a c h a r b e i t ist auch von Harsdörffer selbst s t ä r k e r u n t e r e i n e m f o r m a l - ä s t h e t i s c h e n Kriter i u m u n d weniger u n t e r d e m A s p e k t der W i s s e n s v e r m i t t l u n g d u r c h Sprache gesehen worden. Indiz d a f ü r ist eine B e m e r k u n g der Figur J u l i a a m Beginn des Gesprächspiels. Sie sagt, dass die „Reyenreime" f ü r die F r a u e n leichter zu bewerkstelligen seien als f ü r die M ä n n e r . Dies entspricht der Rollenverteilung, die den Geschlechtern in den F Z G zugeschrieben werden. Die Frauen weisen dabei größere K o m p e t e n z im s p r a c h l i c h - ä s t h e t i s c h e n Sektor auf, die M ä n n e r dagegen in den Fragen des Wissens u n d der W e l t g e w a n d t h e i t . „[Julia] ICH will ein solches Spiel anfangen/ welches uns leicht/ den Herren aber schwerer/ doch nicht unthunlich fallen wird. Es sol heissen Reyenreim e n / [ . . . ]." 1 2 1 Die e i n f a c h s t e Form dieses Sprachspiels besteht in der A u f g a b e , dass jeder Spieler zu e i n e m potentiell endlosen Gedicht eine Verszeile b e i t r ä g t . Die sprachlichen Beiträge müssen i m M e t r u m u n d in der Versform ü b e r e i n s t i m m e n . Jeweils zwei Spieler verwenden eine R e i m e n d u n g , so dass Abfolgen der A r t aa, bb, cc, dd, ee ... e n t s t e h e n . Z u d e m sollen sich die Zeilen inhaltlich a u f e i n a n d e r beziehen lassen. „2. V[espasian]. Wir wollen hören/ wie es sol geführet werden. 3. J[ulia]. Dergestalt: Ich will eine Reimzeile sagen/ der Herr sol darauf folgende/ nachzufügen schuldig seyn. [... ] 6. V[espasian]. Es ist alles gleich viel/ die Frau fange an. 7. Jfulia]. Was ist in dieser Welt/ das lange Zeit bestehe? 8. Vfespasian]. Was ist in dieser Welt/ das nicht so bald vergehe? 9. C[assandra]. Wie steht die eitle Welt/ sie wallet kugelrund? 10. D[egenwert]. Wie steht der Erdenlast/ der schwebet ohne Grund? 11. Afangelica]. Der Grund ist leichte L u f t / doch kan der Last nicht fallen. 12. R[eymund]. Es ist die gantze Welt/ des Glükks und Unglükks Pallen." 1 2 2 In d i e s e m Beispiel w u r d e der prototypische Vers der Barockzeit, der Alexand r i n e r , v e r w e n d e t . Prinzipiell lassen sich jedoch auch alle anderen Versformen 121 Harsdörffer, F Z G VII, S. 396 [Fettdruck getilgt], 122 Harsdörffer, F Z G VII, S. 396f. [Fettdruck getilgt].

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( „ R e i m a r t e n " ) als G r u n d l a g e verwenden 1 2 3 . Zwar s t e h t die f o r m a l e A u f g a b e im V o r d e r g r u n d , allerdings lässt sich Harsdörffer auch in diesem Beispiel die Gelegenheit nicht e n t g e h e n , über Sprache Wissen zu v e r m i t t e l n . Dies zeigen die Beiträge von C a s s a n d r a , Degenwert u n d Angelica, die alle auf d a m a l i g e kosmologische E r k e n n t n i s s e abzielen (Welt als Kugel, F ü l l u n g des Weltalls m i t Luft etc.). Eine erste Steigerung des Schwierigkeitsgrades stellt die A n f o r d e r u n g d a r , nicht lediglich eine sondern a n d e r t h a l b bzw. zwei Verszeilen b e i z u t r a g e n . Der erste Spieler gibt a n d e r t h a l b Verse vor, der nachfolgende e r g ä n z t den Halbvers, bringt einen ganzen weiteren Vers und schließt m i t e i n e m Halbvers, den w i e d e r u m der n ä c h s t e Spieler ergänzen muss. Dies ist vor allem eine Erschwernis inhaltlicher A r t . Der Mitspieler muss nicht allein m i t M e t r u m , V e r s m a ß u n d R e i m zurecht k o m m e n , sondern d a r ü b e r h i n a u s das Gedicht inhaltlich s t e u e r n . Bereits der zweite Spieler muss den b e g o n n e n e n G e d a n k e n seines Vorgängers (Halbvers) f o r t f ü h r e n u n d f ü r seinen Nachfolger w i e d e r u m Stoff liefern, der sich f ü r einen weiteren Anschluss eignet. „15. V[espasian], Man kan es auch änderst bedingen/ daß nemlich der erste eine gantze und halbe Zeile sagen sol. 16. J[ulia]. Aller Menschen kurtzes Leben/ ist mit Threnen angefüllt/ überlastet und bejammert/ 17. V[espasian]. in dem Trauerkleid verhüllt. und wann wir gleich kurtze Zeit lachen/ in beliebten Freuden/ müssen wir doch bald hernach 18. C[assandra]. wieder büssen/ reuen/ leiden. [ . . . ]" 1 2 4 Eine a n d e r e Möglichkeit, die G r u n d f o r m der R e i m t e c h n i k ü b u n g zu erschweren, besteht d a r i n , die R e i m e n d u n g festzulegen. Bei gleicher R e i m e n d u n g muss nun das Gedicht sinnvoll weitergeführt werden. A u c h dieser T y p u s ist vielfach nach Versformen variierbar. Wegen der i m Vergleich z u m vorangegangen Spiel rigideren F o r m b e s c h r ä n k u n g wird dieses Sprachspiel lediglich den „ g e ü b t e n P e r s o n e n " e m p f o h l e n . „22. J[ulia]. Unter geübten Personen/ könte man dieses Spiel/ noch auf vielerley Weise führen/ als einreimig/ also: G O t t lässt nicht die Seinen/ 23. V[espasian], die ihn von Herzen meinen. 24. C[assandra] Nach ihrer Angst und Weinen/ 25. Djegenwert]. wird letzt die Sonne scheinen. 26. A[ngelica], In Städten und in Hainen/ 27. R[eymund]. gedenkst du GOtt der deinen!" 1 2 5 Die letzten b e i d e n V a r i a t i o n s f o r m e n der Reimtechnikspiele sind w i e d e r u m etwas stärker inhaltlich eingeschränkt. Ein b e s t i m m t e r Halbvers ist jeweils vorgegeben, der d a n n e r g ä n z t werden muss. Zusätzlich m u s s die R e i m e n d u n g

123 Vgl. Harsdörffer, F Z G VII, S. 397. 124 Harsdörffer, F Z G VII, S. 397f. [Fettdruck getilgt], 125 Harsdörffer, F Z G VII, S. 399 [Fettdruck getilgt].

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mit einer der vorangegangen übereinstimmen. Bei festgelegtem ersten Halbvers kann das Ergebnis so aussehen: „30. J. 31. V. 32. C. 33. D. 34. A. 35. R.

Dein Güte/ treuer Gott/

ist es/ daß wir Menschen leben/ ist es/ daß die Sonne scheint/ ist es/ daß die Reben weint/ hat uns Speis und Trank gegebe. [!] hat es allzeit gut gemeint. heist uns nach dem Himmel streben." 126

Syntaktisch und semantisch gesehen wird bei dieser Anwendungsform das Subjekt fixiert. Es muss mit immer neuen Prädikaten belegt werden, die zudem den formalen Ansprüchen des vierhebigen zweiten Halbverses genügen müssen. Bei der Umkehrung dieses Verfahrens wird der Prädikatsteil fixiert. Es empfiehlt sich hier ein relativ allgemeines Prädikat zu wählen. Harsdörffer führt es am Beispiel von ist für GOtt recht angenem als festem Bestandteil vor. „38. 39. 40. 41. 42. 43.

J[ulia]. V[espasian]. Cfassandra]. Rfeymund]. A[ngelica], R[eymund].

Glauben/ hoffen/ brünstig lieben/ Seinen Nechsten nicht betrüben/ Den Verirrten Wege weisen/ Blose kleiden/ Arme speisen/ Oft besuchen die Gefangen/ Nicht an eitlen Gütern hangen/

ist für GOtt recht angenem." 127

Wiederholt weist Harsdörffer darauf hin, dass sich für diese reimtechnikbezogenen Sprachspiele „wol noch viel Arten" 1 2 8 finden ließen. Die beschriebenen Sprachspieltypen sind gemäß der Klassifikation nach verschiedenen Metren, Vers- und Strophenformen nahezu endlos variierbar. Anregungen dafür fand der damalige Leser zur Genüge in den Poetiken, Reimkünsten oder auch in Reim-Lexika wie sie Zesen oder Hübner boten. In letzteren wurden tabellarisch passende Reimwörter zu einer Reimendung aufgelistet 1 2 9 . In Reimkünsten wie denen von Schottelius sind darüber hinaus eine ganze Reihe von Anwendungsformen verzeichnet, deren Hauptmerkmale bestimmte formale Beschränkungen sind, die es sprachkünstlerisch mit dem Inhalt in Übereinstimmung zu bringen gilt. §125: In einem weiten Verständnis von „Spracharbeit" lässt sich sicher jede Art poetischer Textproduktion subsummieren, insofern sie regelgeleitet ist. So gesehen sind alle Metren, Strophenformen und auch alle thematischen Vorgaben, die die Textproduktion begrenzen, als mögliche Anwendungsfelder der Spracharbeit zu sehen. Am deutlichsten wird der technische Aspekt dieser Art der Dichtung jedoch bei einer Reihe von „Reimarten", in denen 126 Harsdörffer, FZG, VII, S. 400 [Fettdruck getilgt], 127 Harsdörffer, FZG VII, S. 400 [Fettdruck getilgt]. 128 Harsdörffer, FZG VII, S. 401. •29 Vgl. ζ. B. in Zesen (1641/1971) die „Anzeiger", d. h. die Reimlexika zu weiblichen und männlichen Reimendungen, S. 77-240, 415-570. Hübner (1696) beschränkt sich nach einer kurzen Einführung in die Reimkunst ganz auf ein Reimlexikon.

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die formalen Restriktionen, denen sich der Textproduzent beugen muss, besonders groß sind. Dadurch sind diese Gedichtformen typische Anwendungsfelder der Spracharbeit. Grundsätzlich stellt somit der Teil der „Reimkunst" bei Schottelius, der sich mit den Strophen- und Gedichtformen befasst, eine Demonstration und Anregung zur Nachahmung für die unterschiedlichsten poetischen Textsorten dar. Die einzelnen Typen werden hier nicht nur von ihrer technischen Seite her beschrieben, sondern jeweils mehrfach mit Beispielen belegt. Die angesprochene technische Ausrichtung kommt bei einigen dieser Gedichtformen besonders gut zum Ausdruck. Exemplarisch seien hier sechs verschiedene Typen genannt: 1. „Wiederkehr" 2. „RingelReim" 3. Akrostichon („Vornlauff") 4. Anagramm („Letterwechsel") 5. Rätselreim und Logogriph 6. „BilderReime" Sie unterscheiden sich in erster Linie durch die Art der formalen Beschränkung, die im jeweiligen Typus vorgegeben ist. Um welche Kriterien es sich dabei handelt, soll nachfolgend kurz erläutert und mit einem Beispiel belegt werden. 1) Bei der „Wiederkehr" müssen nicht nur die Reimendungen übereinstimmen, sondern auch die entsprechenden Reimwörter in einer bestimmten Reihung aufeinander folgen. Das erste Reimwort muss auch das letzte sein, das zweite das vorletzte usw. Zusätzlich zu dieser formalen Bedingung muss eine inhaltliche erfüllt sein. Die beiden Gedichthälften sollen abgeschlossene Sinneinheiten darstellen. Im Idealfall ist der zweite Teil eine Antwort auf den ersten. „Wiederkehr (Carmen retrocurrens.) Von vier Reimwörteren 1. Alle Welt ist Sorgen voll. 2. Niemand sorget wie er soll/ 3. 4. 4. 3. 2. 1.

Jeder wünscht ein eignes w o l / (So zu reden) S o r g e n v o l l . Wiederkehr Armer Mensch bist Sinnen=toll Leib und Seel hats nimmer w o l / Biß du lernest wie man soll/ Recht seyn Himmels=Sorgen voll." 1 3 0

Schottelius gibt nicht nur zahlreiche Beispiele, sondern auch verschiedene Spezialformen an 1 3 1 . Die Anzahl der Reimwörter kann erhöht werden. Die „Wie130 Schottelius, AA, S. 936. 131 Schottelius, AA, S. 936-941.

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derkehr" kann mit einem Anagramm kombiniert auftreten. Kürzere Schemata des Typs 1 - 2 - 2 - 1 können mehrfach wiederholt werden. 2) Die „RingelReime" fordern neben den richtigen Reimendungen, dass sich der Strophenbeginn am Strophenende wiederholt. Dies kann einzelne Wörter oder Phrasen betreffen. Wiederum sind die Gedichtlänge und der technische Schwierigkeitsgrad variierbar. Ein einfaches Beispiel stellt Schottelius an den Beginn. „RingelReim von zwo Zeilen Glükk=Unglükk hat die zeit/ gefaßt steh und bereit Wans Glükke lacht/ dieweil Glükk=Unglükk hat die zeit." 132 3) Das Akrostichon (der „Vornlauff") stellt noch höhere formale Anforderungen. In ihm müssen die jeweils ersten Buchstaben der Verszeilen zusammen ein Wort ergeben, das sich inhaltlich auf das Gedicht beziehen lässt. Uber diese formale Bedingung ist das Gedicht auf einer zweiten Ebene semantisch kodiert. Vornlauff (Acrostichis) Darin die vordersten Buchstaben/ IESVS, In der Welt einer ist allein/ .Einer wird in dem Himmel seyn So nur bleibt mein Wunsch und Begier/ ί/nd mein Trost und der Seelen Zier/ Seelig ist der ihn findt alhier." 133

andeuten.

Auch hier sind verschiedene Variationen denkbar: rückläufige Anordnung der Buchstaben, die Ermittlung des Zielwortes aus den Anfangsbuchstaben der Wörter der ersten Verszeile usw. 134 4) Das Anagramm („Letterwechsel") ist bereits von der Spracharbeit auf der Graphonemebene her bekannt (§77). Ist das Anagramm an sich schon eine sprachkünstlerische Technik, so gilt dies für den anagrammatischen Vers um so mehr. Weil diese Technik besonders schwer ist, gelten Ausnahmebedingungen. „Von sonderlicher Kunst ist/ wan der Letterwechsel einen gantzen Vers oder Reim vorbilden kan. Es müssen aber nicht leichtlich etzliche Buchstaben ausgelassen/ oder hinzugesetzet/ oder verändert werden/ doch wan die Meynung nachdenklich und anmuhtig wird/ kan man auch alhier/ einer kleiner übersehung wegen/ ohn fehler verfahren." 135 Vor allem für die Gelegenheiten, an denen Lobgedichte verfasst werden mussten, eigneten sich die Anagramme. Ähnlich wie bei den Namen, ließ sich aus einer Verszeile eine zweite Bedeutungsebene anagrammatisch eruieren. Die meisten Beispiele bei Schottelius gehen in diese Richtung. 132 Schottelius, AA, 133 Schottelius, AA, 134 Vgl. Schottelius, 135 Schottelius, AA,

S. 948. S. 963. AA, S. 963 ff. S. 971.

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„Christian Ludowig/ Hertzog zu Braunschweig und L ü n e b u r g / etcet. Durch Letterwechsel Schutz und Schatz der wahren Tugend/ lobwürdig wegen Gerechtigkeit." 1 3 6

5) Die unterschiedlichen Formen der Rätsel sind ebenfalls zugleich Anwendungen auf der Ebene der Graphoneme (§79) und der Wörter (§95). Allerdings stellt die inhaltliche Komponente nur einen Teil der sprachlichen Bearbeitung dar. Der zweite Teil steckt im formalen Aspekt der Reimung. Ahnlich wie bei der „Wiederkehr" besteht also eine doppelte Aufgabe: das Rätsel als solches zu stellen und dieses in Reimform zu verfassen. Von daher sind auch Worträtsel wie das nachfolgende gleichzeitig Aufgabe einer Spracharbeit auf der syntagmatischen Ebene. „MEin Antlitz gläntzet g a n t z / mein Räch' auch offen s t e h e t / Gantz Eisren ist die Z u n g / die d o n n e r t / wan sie g e h e t / Freywillig thu ich nichts/ man muß mich schlagen wol/ Wan ich dir sonst mein Amt und Dienst verrichten sol. (Klokke)" 1 3 7

6) Eine besonders reizvolle Variation der reimtechnikbezogenen Spracharbeit stellen schließlich die Gedichte dar, die in ihrer graphischen Form der Darstellung eine zweite Bedeutungsebene repräsentieren: die „BilderReime" (Figurengedichte). In ihnen muss die äußere Form des Gedichtes, mit dessen Inhalt in Beziehung stehen. Sie muss ein Bild dessen skizzieren, was im Gedicht thematisiert wurde. „BilderReime nennet m a n / welche eine Gestalt oder abbildung eines dinges/ als eines Eyes/ Seulen/ Creutzes/ Bechers/ Hertzens/ Flügels und derogleichen Formen und vorstellen/ und also geordnet und eingeschlossen seyn/ daß die Reimarten nach erforderter Form des abzubildenden dinges gebraucht/ und unter sich nach gebührender Stelle vermenget werden." 1 3 8

Wie beim Akrostichon wird im Gedicht eine zweite Interpretationsfläche geschaffen, hier im wörtlichen Sinne als graphische Repräsentation des Gedichtgegenstandes. Das Kreuz war wegen seiner relativ einfachen Form und der geradezu universellen Deutbarkeit in religiösen Bezügen sehr beliebt 139 . Aber auch komplexere Formen wurden verwendet. Neben den im Zitat bereits genannten tauchen ζ. B. ein Pokal (s. Abb. 13), ein Baum, eine Sanduhr, eine Totenbahre etc. auf. Dieser Gedichttypus war im 17. Jahrhundert sehr beliebt wie die Beispiele von Zesen, Birken, Kornfeld oder Männling zeigen 140 . Im Hinblick auf die Spracharbeit ist dies wohl eine der komplexesten Anwendungsformen, die sich auf den Bereich der Syntax und auf die Reimtechnik beziehen. Der Spracharbeiter muss hier nicht allein den auszudrückenden Inhalt mit der Gedichtform verbinden und so die zweite semantische Ebene aufzeigen, sondern darüber hinaus auch mit den wechselnden Versmaßen und der Pflicht zum Reim zurecht kommen. Zwar nimmt Schottelius im Pokal-Beispiel 136 Schottelius, AA, S. 973. 137 Schottelius, AA, S. 985. 138 Schottelius, A A , S. 951. 139 Vgl. die Beispiele bei Schöne (1988), S. 7 3 7 f . von Birken sowie Schottelius, A A , S. 954. 140 Vgl. dazu Schöne (1988), S. 736-739.

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durchaus auch die Größe der Schrifttypen ausgleichend zu Hilfe. Zudem wird die einfache Reimfolge aa, bb, cc ... verwendet (vgl. Abb. 13). Dennoch erfordert die Verfertigung eines solchen Textes eine hochgradige sprachliche Durchformung. Das sprachliche Material muss sehr stark auf seine phonetisch und graphematisch S t r u k t u r hin reflektiert werden, d a m i t das Textganze nicht in zusammenhanglose Phrasen und Syntagmen zerfällt.

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