Georg Philipp Harsdörffers Universalität: Beiträge zu einem uomo universale des Barock 9783110251074, 9783110251081

Georg Philipp Harsdörffer ‑ lawyer, scholar and mathematician, patrician, diplomat and judge ‑ has in recent decades bec

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German Pages 342 [344] Year 2011

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Im Silberbergwerk der Tradition
Literarische Imagination als ars combinatoria
»Der übertrefflichste unter allen äusserlichen Sinnen«?
Gebärde und Bühne
Die Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte
Thesen zum Zusammenhang von Quellenverwertung und Kompilationsstrategie in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen
»Die wahre und merckwuerdige Geschichte lehret«
Rechtsgefühl, poetische Gerechtigkeit und Wahrscheinlichkeit
»Die maechtige Bildung unserer Gedanken«
Der musiktheologische Diskurs in der Musikanschauung Georg Philipp Harsdörffers
Harsdörffer und die Musik
Harsdörffers Naturkunde
Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer
Andächtige Liebesglut und kurioses Welttheater
Himmlische Rhetorik
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Georg Philipp Harsdörffers Universalität: Beiträge zu einem uomo universale des Barock
 9783110251074, 9783110251081

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Frühe Neuzeit Band 158

Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt

Georg Philipp Harsdörffers Universalität Beiträge zu einem uomo universale des Barock Herausgegeben von Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher

De Gruyter

ISBN 978-3-11-025107-4 e-ISBN 978-3-11-025108-1 ISSN 0934-5531 %LEOLRJUD¿VFKH,QIRUPDWLRQGHU'HXWVFKHQ1DWLRQDOELEOLRWKHN Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen 1DWLRQDOELEOLRJUD¿HGHWDLOOLHUWHELEOLRJUD¿VFKH'DWHQVLQGLP,QWHUQHWEHU http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/ New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII

Jörg Robert Im Silberbergwerk der Tradition Harsdörffers Nachahmungs- und Übersetzungstheorie . . . . . . . . . . . . . .

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Peter-André Alt Literarische Imagination als ars combinatoria Zum Verhältnis von Bildpoetik, Fiktion und Epistemologie bei Harsdörffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Werner Wilhelm Schnabel »Der übertrefflichste unter allen äusserlichen Sinnen«? Harsdörffers Lobrede des Geschmackes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Dirk Niefanger Gebärde und Bühne Harsdörffers Schauspieltheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Hans-Joachim Jakob Die Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Judit M. Ecsedy Thesen zum Zusammenhang von Quellenverwertung und Kompilationsstrategie in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Stefan Manns »Die wahre und merckwuerdige Geschichte lehret« Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen . . . . . . . . 147

VI

Inhaltsverzeichnis

Gesa Dane Rechtsgefühl, poetische Gerechtigkeit und Wahrscheinlichkeit Georg Philipp Harsdörffers Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Ursula Kocher »Die maechtige Bildung unserer Gedanken« Zur Emblematiktheorie Georg Philipp Harsdörffers . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Sven Rune Havsteen Der musiktheologische Diskurs in der Musikanschauung Georg Philipp Harsdörffers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Irmgard Scheitler Harsdörffer und die Musik Seelewig im Kontext deutschsprachiger Musikdramatik . . . . . . . . . . . . . 213 Georg Braungart Harsdörffers Naturkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Berthold Heinecke Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Guillaume van Gemert Andächtige Liebesglut und kurioses Welttheater Zu Harsdörffers geistlichem Schrifttum als überkonfessioneller Anleitung zur christlichen Lebenspraxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Stefan Keppler-Tasaki Himmlische Rhetorik Harsdörffers Poetik des Gebets zwischen lutherischer Orthodoxie und europäischem Manierismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

Vorwort

Kurtz davon zu reden / so sind die Poeten vor alters zugleich Naturkündiger / Sittenlehrer und Saitenspieler / oder Musici gewesen. […] Hieraus ist zu schliessen / daß der den Namen eines Poeten / mit Fug / nicht haben möge / welcher nicht in den Wissenschaften und freyen Künsten wol erfahren sey […]. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter, I. Stunde

Das vorliegende Buch dokumentiert die Tagung, die vom 1. bis 3. November 2007 an der Freien Universität Berlin aus Anlaß von Georg Philipp Harsdörffers 400. Geburtstag stattfand. Es setzt die Folge der Sammelbände fort, die den unübersehbaren Relevanzgewinn der Harsdörffer-Forschung seit den 1990er Jahren begleiten: 1991 Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter, 2005 Georg Philipp Harsdörffer und die Künste, 2006 Harsdörffer-Studien. Eine neue Reihe von Nachdrucken, die das seit den späten 1960er und den 1970er Jahren Vorliegende ergänzen und Harsdörffers Hauptschriften in modernen Bibliotheksregalen komplettierten, besetzt denselben zeitlichen Korridor: 1990 Ars Apophthegmatica, 1991 Nathan und Jotham, 2007 Hertzbewegliche Sonntagsandachten, 2008 Kunstverständiger Discurs von der edlen Mahlerey. Daraus ergibt sich das Bild, daß Harsdörffer einer der meistbehandelten Barock-Autoren der letzten beiden Dezennien ist: aus seiner Rolle als beliebter Zitatgeber herausgewachsen zu einer selbständigen Größe. Die Rehabilitationserklärungen für den barocken Großschriftsteller, die frühere Arbeiten rituell eröffneten, haben sich damit weitgehend erübrigt. Allein schon die Aufarbeitung der Forschungsgeschichte – wie sie die Bibliografie der Forschungsliteratur zu Georg Philipp Harsdörffer von 1847 bis 2005 unterstützt – hat ausreichend viele angemessene Urteile über Harsdörffers kulturhistorische Schlüsselposition in Erinnerung gebracht.1 Im deutschen 19. Jahrhun-

1

Vgl. Hans-Joachim Jakob: Bibliografie der Forschungsliteratur zu Georg Philipp Harsdörffer von 1847 bis 2005. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 13–35.

VIII

Vorwort

dert als »Prototyp der Auslandssucht«2 diskriminiert, fand die internationale Komparatistik in Harsdörffers Wirksamkeit sehr bald eine Drehscheibe europäischer Literaturbeziehungen.3 Bei der Neuausrichtung der Barockforschung in den 1960er Jahren hat Manfred Windfuhr zur Entwicklung der Stilhaltungen in der frühneuzeitlichen deutschen Literatur deutlich genug erklärt: »Harsdörffer und Breitinger sind die Eckpfeiler«, weil der Nürnberger Kosmopolit vor allen Bestrebungen der ›Zweiten Schlesischen Schule‹ bereits in den 1640er Jahren den europäischen Manierismus zum literarischen Maßstab machte.4 Daß Harsdörffer unter deutschen Verhältnissen ein pionierhafter Parteigänger der Wissenschaftstheorie Francis Bacons war, wußte man früh, wenn man es auch spät als eine epistemologiegeschichtliche Besonderheit erfaßt hat.5 Ebenfalls frühzeitig stand fest, daß der studierte Jurist, Philologe und Mathematiker, der Patrizier, Diplomat und Richter in allen erdenklichen Fragen der »arbiter elegantiarum seiner Epoche«6 ist. Kein anderer deutscher Barockschriftsteller reicht an das Ideal des uomo universale so nah heran wie er. Die amüsante Fehlinterpretation dieser Universalität: lebte Harsdörffer heute, er »wäre einer unserer bekanntesten Journalisten«7, bildete nur einen Zwischenschritt zur Entdeckung Harsdörffers für eine kulturwissenschaftlich geöffnete Frühneuzeitgermanistik, die ihr Augenmerk »auf die enge Verflechtung der Literatur mit bestimmten institutionellen Strukturen, auf ihre ausgeprägte funktionale Nützlichkeit«8 gelegt hat. Wer nach einer Funktionsgeschichte von Literatur fragt und wissen will, wie mit Literatur praktische Handlungen vollzogen werden, findet in Harsdörffer einen um Antwort beflissenen Gesprächspartner. Auf kaum einem Titelblatt nennt sich Harsdörffer mit Namen. Die Person verschwindet so zunächst hinter der Funktion: eines Spielleiters, Zeitvertreibers, Kriminalers, Briefstellers oder Vorbeters. Die Signatur »G. P. H.« statt des Namens Georg Philipp Harsdörffer

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6 7

8

Karl Borinski: Die Poetik der Renaissance und die Anfänge der literarischen Kritik in Deutschland. Berlin 1886, S. 156. Vgl. Gilbert Waterhouse: The Literary Relations of England and Germany in the Seventeenth Century. Cambridge 1914, S. 35ff., 55, 88 u. 102f. Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 32. Vgl. Kaspar Rudel: Harsdörffers mathematisch-naturphilosophische Schriften. In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens. Hg. v. Theodor Bischoff u. August Schmidt. Nürnberg 1894, S. 301–403; sowie Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 386f. Albin Franz: Johann Klaj. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts. Marburg 1908, S. 78. Georg Adolf Narciss: Studien zu den Frauenzimmergesprächspielen Georg Philipp Harsdörfers (1607-1658). Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1928, S. 73. Stephen Greenblatt: Was ist Literaturgeschichte? In: Ders.: Was ist Literaturgeschichte? Mit einem Kommentar von Catherine Belsey. Übers. v. Reinhard Kaiser u. Barbara Naumann. Frankfurt/M. 2000, S. 9–50, hier S. 13.

Vorwort

IX

bezeichnet den feinen Unterschied zwischen einem »philosophus et poeta«, wie sich etwa Andreas Gryphius auf dem Titelblatt seiner Sonn= und Feiertagssonette (1639) nennt, und dem ratsfähigen Berufspatrizier, dessen öffentliche Gesamtverantwortung keine Einschränkung vorsieht. Sein etwa fünfzig Bände umfassendes Gesamtwerk durchdringt nahezu alle Wissens- und Praxisbereiche, mit denen ein Mensch des 17. Jahrhunderts überhaupt in Berührung kommen konnte, ob Anthropologie oder Andacht, Tischsitten oder Technik, Verwaltung oder Verbrechen. Es ist ein Knotenpunkt sämtlicher Diskursfäden seines Zeitalters. Das Gattungsspektrum, mit dem man es hierbei zu tun bekommt, führt weg vom konventionellen Kanon von Drama, Gedichtsammlung und Roman hin etwa zu Singspiel und Andachtsbuch. Literarische Gestaltung ist für Harsdörffer ein Mittel, Sprache vom Gehen ins Tanzen zu versetzen, Wissenskapital flüssig zu machen und in Kommunikation zu investieren. Literatur, wie Harsdörffer sie einsetzt, entfaltet eine doppelte Kraft der Synthesis: sie erzeugt Summen und bringt sie – darin unterschieden von einer nur gelehrten Enzyklopädik – mit einem allgemeinen Publikum zusammen. Sie versammelt Wissen auf einen Platz und bereitet es zur Schau: Das Prinzip ›Schau=Platz‹ ist hier organisatorisch und funktional durchwaltend. Die Sammlung der folgenden Beiträge versucht das Spektrum dieser Universalität widerzuspiegeln. Nach einleitender Prüfung von Harsdörffers Verhältnis zur humanistischen Tradition (Jörg Robert) zunächst von der Anthropologie eines der ›inneren Sinne‹, nämlich der Einbildungskraft und ihrer intellektuellen Ordnungsleistungen (Peter-André Alt), zur Diskussion um die Hierarchie der ›äußeren Sinne‹ (Werner Wilhelm Schnabel). Anschließend von Harsdörffers Schauspieltheorie (Dirk Niefanger) zur Tragweite der Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in den Titeleien von Harsdörffers Erzählsammlungen (HansJoachim Jakob). Drei weitere Beiträge zu den Schau=Plätzen kennzeichnen die Novellistik als einen aktuellen Schwerpunkt der Harsdörffer-Forschung: Quellenverwertung und Kompilationsstrategie in wiederum komparatistischer, genauer französisch-spanisch-deutscher Dimension (Judit M. Ecsedy), Grundzüge der Erzähltechnik (Stefan Manns) und als eine der zentralen Funktionen die Schulung des Rechtsgefühls (Gesa Dane). Die Beobachtungen zur emblematischen Struktur der Schau=Platz-Erzählungen führen auf das Gebiet der Intermedialität, auf dem Harsdörffer zum einen nicht nur die internationale Emblemtheorie zusammenfaßt, sondern auch eigenständig akzentuiert und variiert (Ursula Kocher), zum anderen den Bereich der Musikdramatik und ihrer theologischen Theoretisierung eröffnet (Irmgard Scheitler, Sven Rune Havsteen). Wird hierfür schon aus den Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden geschöpft, so stützen sich die beiden anschließenden Studien ganz auf Harsdörffers naturkundliches Werk, das im Spannungsfeld zwischen höfisch-galanter ›Experimental-Wissenschaft‹ und protestantisch-religiöser Bekämpfung des Müßiggangs steht (Georg Braungart) und vom Baconschen Wissenschaftsideal über den Kopernikanismus bis zu den damals jüngsten Vakuumexperimenten euro-

X

Vorwort

päische Diskussionsstände konzis und aktuell auf den Punkt bringt (Berthold Heinecke). Am Schluß stehen naturgemäß die ›letzten Dinge‹: Harsdörffers religiöser Standpunkt zwischen andächtiger Liebesglut und kuriosem Welttheater (Guillaume van Gemert), zwischen lutherischer Orthodoxie und europäischem Manierismus (Stefan Keppler-Tasaki). In drei dieser Beiträge setzt sich das auffällige Interesse fort, das die internationale Germanistik seit den Arbeiten von Jean-Daniel Krebs, Leonard Forster und Italo Michele Battafarano an Harsdörffer, dem »Sohn Europas«9, zeigt (Ecsedy, Havsteen, van Gemert). Zwei Beiträge geben Einblick in entstehende Dissertationen über Harsdörffer (Ecsedy, Manns). Die Herausgeber danken der Fritz Thyssen Stiftung, die die Tagung finanziell ermöglicht hat, und Sophie Annette Kranen für die redaktionelle Mitarbeit.

Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher

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Berlin im Juli 2010

Italo Michele Battafarano: Vom Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung. Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer – ein Sohn Europas. In: Der Franken Rom. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 196–213.

Jörg Robert

Im Silberbergwerk der Tradition Harsdörffers Nachahmungs- und Übersetzungstheorie

1. Die Diagnose des Kultur- und Sprachverfalls, die Metapher der »todkranken studia« zählt zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits zu den topischen Wahrnehmungsmustern einer krisenhaft erschütterten späthumanistischen Gelehrtenrepublik.1 In diesen kulturkritischen Tenor stimmt auch der junge Martin Opitz mit seinem sprachpatriotischen Frühwerk, dem 1617 im schlesischen Beuthen erschienenen Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae ein,2 einer vehementen Brandrede im Dienste der deutschen Sprache und Dichtung, entstanden während Opitz’ Aufenthalt am Beuthener Schönaichianum, dessen bedeutender professor morum, Caspar Dornau, die Frage der Volkssprache (in ihrem Verhältnis zur Latinität) in einer Reihe von Schriften thematisiert hatte.3 Opitz geht es in dieser – im Wortsinn – ungehaltenen Rede darum, die vermeintliche Sprachvergessenheit seiner Landsleute durch ein entschiedenes Plädoyer für die »rein und ohne fremde Beimischung tradierte« lingua Teutonica aufzurütteln. Diesem Anliegen dient ein kursorischer Blick auf den Verfall der studia 1

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Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, bes. S. 67–135. Martin Opitz: Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae. In: Ders.: Gesammelte Werke. Kritische Ausgabe. Hg. v. George Schulz-Behrend. Bd. 1: Die Werke von 1614 bis 1621. Stuttgart 1968, S. 51–75. Eine zweite, an einigen Punkten verbesserte Ausgabe bietet die Zincgrefsche Edition der Teutschen Poemata: Martin Opitz: Teutsche Poemata und Aristarchus wieder die verachtung Teutscher Sprach. Straßburg 1624, S. 105–117. Zum Forschungsstand sei verwiesen auf die neueren Arbeiten von Robert Seidel: Späthumanismus in Schlesien. Caspar Dornau (1577–1631). Leben und Werk. Tübingen 1994, S. 308f., Anm. 8, sowie meine Beiträge: Martin Opitz und die Konstitution der Deutschen Poetik. Norm, Tradition und Kontinuität zwischen Aristarch und Buch von der Deutschen Poeterey. In: Euphorion 98 (2004), S. 281–322, sowie: »Vetus Poesis – nova ratio carminum«. Martin Opitz und der Beginn der »Deutschen Poeterey«. In: Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. Jörg Robert. Münster u. a. 2007, S. 397–440. Zur Position des Aristarch innerhalb der Diskurse der späthumanistischen Gelehrtenrepublik vgl. Wilhelm Kühlmann: Apologie und Kritik des Lateins im Schrifttum des deutschen Späthumanismus. In: Daphnis 9 (1980), S. 33–63, hier S. 50–56. Grundlegend zum Einfluß Dornaus auf Opitz jetzt Seidel (wie Anm. 2), S. 307–337, bes. S. 320ff.

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Jörg Robert

Graeca bzw. Latina. Vor allem das Lateinische, das Opitz im Sprachcharakter dem Deutschen annähert, befinde sich seit der Zeit des Augustus in einem kontinuierlichen Verfall, an dessen schicksalhaftem Endpunkt in der Gegenwart (»fatali quadam lege«) ein Stil vorherrschend geworden sei, den Schlagwörter wie »curiosa subtilitas« oder »argute lascivire« deutlich als manieristisch im Sinne des »frühbarocken Modernismus« kennzeichnen.4 Jeder folge, so Opitz, nur seinem eigenen, höchst kontingenten Stilideal (»singularem loquendi ideam«). Der Verlust einer klassizistischen Norm, die Verdrängung der »Kohorte der Klassiker« wird beklagt. Am Ende, so die sinistre Prophezeiung, werde das gute Latein seinem sicheren Ende entgegengehen: »Latina illa puritas ad fatalem metam tendit.«5 Opitz stellt sich damit auf den Standpunkt des Klassizisten und (Sprach-) Puristen, ohne doch zur Rückkehr ad fontes (womöglich: ad fontes graecas) aufzurufen. Sein Votum für die latina puritas macht Klassizismus zum taktisch-strategischen Argument; Opitz geht es nicht um die Latinität, sondern die Konstitution des Deutschen – in Sprache wie Dichtung. Dennoch ist die imitatio veterum die grundlegende historische Reflexionsfigur des Aristarch: wird das Augusteische Zeitalter (Augusti aetas) als Höhepunkt der stilistischen Entfaltung des Lateinischen gepriesen, so vertritt für das Deutsche die germanische Ursprache die Position des Klassischen, es ist dies jedoch eine Klassik ohne Modelle, ohne auctores imitandi. Die nach Goldast zitierten Beispiele deutscher Dichtung dienen lediglich als moralische, nicht als elokutionelle Muster. Aus dieser intrikaten Logik – Appell zur imitatio veterum ohne eigene veteres auctores – entspringt die eigentümlich aporetische (Geschichts-)Konstruktion des Aristarch, die zugleich ein Zurück zur idealen Natur-Sprache (im Sinne der Renaissance-Idee) und ein Vorwärts zur erst noch auszubauenden KunstSprache propagiert.6 Diese Hoffnung schließt nun nicht an die imitatio veterum, sondern an die imitatio bzw. translatio recentium, d. h. die Übertragung romanischer Modelle in Theorie wie Praxis der Dichtung an: Wir wollen mit allem Eifer dafür sorgen, daß wir von den Franzosen und Italienern, von denen wir Bildung und feine Sitten entlehnen, auch erlernen, unsere Sprache mit Sorgfalt auszubilden und zu schmücken, ganz so, wie jene es offensichtlich mit der ihrigen tun.7

Die ersten Muster eigener Kunstdichtung, die Opitz am Ende der Schrift einrückt, folgen denn auch erklärtermaßen prosodisch-metrischen Prinzipien der

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Kühlmann (wie Anm. 1), S. 136–188. Opitz: Aristarchus (wie Anm. 2), S. 59. Robert: »Vetus poesis« (wie Anm. 2), bes. S. 406–408. Opitz: Aristarchus (wie Anm. 2), S. 60: »Sedulo hoc agamus, ut qui a Gallis ac Italis humanitatem mutuamur et elegantiam: non minus ab ipsis et linguam nostram, quod certatim eos facere in sua animadvertimus, perpolire accurate et exornare addiscamus.«

Im Silberbergwerk der Tradition

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französischen Metrik, dem sogenannten Welschvers, insbesondere dem Gesetz der festen Silbenzahl bei freier Tonverteilung im Vers (»observandus saltem accurate syllabarum numerus«8). Die antike Poetik wie Poesie dienen (noch) nicht als Referenzpunkt der eigenen Nachahmungs- und Übersetzungsbemühungen, sondern als Kontrastfolie, vor der sich Aufstieg und Legitimität des Deutschen als zukunftsfähige Ur- und Hauptsprache abheben sollen. 2. Diese Verhältnisse geraten nach Opitz’ Weggang aus Beuthen, seinem Kontakt zum jüngeren Heidelberger Kreis um Lingelsheim und Zincgref, vor allem aber durch seine Berührung mit dem Dichterphilologen Daniel Heinsius, den Opitz wahrscheinlich im Oktober 1620 in Leiden kennenlernt, in Bewegung. Was folgt, lässt sich als »klassizistische Wende« beschreiben.9 Nicht nur, daß Heinsius mit seinen bereits 1616 erschienenen Nederduytschen Poemata10 ein wichtiges Paradigma ›deutscher‹ Dichtung vorgelegt hatte; vor allem seine Reform der (nieder-)deutschen Metrik analog zur antiken wird zum Modell für die Opitzsche Regelkonzeption im Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Gegenüber der Aristarch-Stufe bedeutet diese »Prosodia Germanica« (so der Untertitel in den späteren Auflagen) einen vollständigen Paradigmenwechsel, der sich nicht allein auf die Metrik, sondern auch auf Gattungspoetik und systemische Konzeption erstreckt. Das Buch von der Deutschen Poeterey integriert nun unter dem gemeinsamen Dach einer kursorischen »Vollpoetik« eine »doppelte Poetik«11 mit teilweise widersprüchlichen Bestimmungen. Opitz versucht zunächst, die deutsche Dichtung systematisch am Paradigma der Antiken auszurichten; dies zeichnet sich eben in der Gattungspoetik ab. Zweimal kündigt Opitz eine Diskussion über die »arten von Gedichten« an: Ein erstes Mal wird sie im fünften Kapitel im Rahmen der inventio-Lehre auf den Spuren Scaligers entfaltet: Konsequent versucht Opitz hier, die Genera der antiken bzw. späthumanistischen Poetik wie »Heroisch getichte«, »Tragedie«, »Comedie«, »Epigramma«, »Eclogen« usw. als verbindlich für die neue deutsche Kunstrichtung auszuweisen und mit exempla domestica zu füllen. Das Projekt ist neu, kühn und hoffnungslos, und Opitz selbst konstatiert den »mangel anderer deutschen exempel«12, dem punktuell mit eigenen (dem Trostgedicht für das »poema heroicum«) oder mit Hinweis auf die antiken und neulateinischen Autoren begegnet werden muß. Auf der

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Opitz: Aristarchus (wie Anm. 2), S. 72. Robert: »Vetus poesis« (wie Anm. 2), S. 415–417. Daniel Heinsius: Nederduytsche Poemata (1616). Nachdruck hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Bern u. a. 1983. Robert: »Vetus poesis« (wie Anm. 2), S. 420–426. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 26.

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Jörg Robert

anderen Seite ist die Aristarch-Schicht nicht verschüttet, sondern integriert in den Gesamtentwurf einer deutschen »Spezialpoetik« (»poetica specialis« – ein Ausdruck von Johann Heinrich Alsted), die gewissermaßen als Aufbaumodul und Anhang zur allgemeinen, d. h. zur basalen Antikenpoetik als poetica generalis dient.13 Kurz nachdem Opitz im siebten Kapitel sein neues metrischprosodisches Elementargesetz (nach »accenten vnnd dem thone«14) formuliert und damit die technisch-versifikatorischen Vorgaben des Aristarch kassiert hat, predigt er erneut die Ausrichtung an den Metren und Formen der romanischen Dichtung, dem Sonett vor allem in Alexandrinern oder Vers communs, die nun jedoch vor dem Hintergrund der antiken Metrik neu gedeutet werden. Eine Übertragung antiker Formen und Metren zieht Opitz nicht in Betracht; gesucht werden weiter Entsprechungen in der romanischen Metrik. Den Alexandriner hatte Opitz bereits im Aristarch als Analogon zum heroischen Hexameter bezeichnet; in der Poeterey setzt sich dies mit dem Vergleich zwischen binnengereimtem Alexandriner und versus leoninus (S. 54) oder in dem von Alexandriner mit männlicher Kadenz und iambus trimeter (S. 53) fort. Im Übrigen scheinen sich die modernen Formen wie das Sonett einer Einordnung in das Raster der klassischen Gattungspoetik zu widersetzen. Opitz hat die Widersprüchlichkeit, zu der seine klassizistische Wende geführt hat, nicht ausdrücklich vermerkt. Gelöst hat er sie, indem er die romanischen Formen an anderer Systemstelle behandelt: nämlich im Kontext der elocutio-Lehre, im Hinblick auf die formalmetrischen Aspekte, nicht im Hinblick auf den Stoffaspekt, der im inventio-Kapitel im Mittelpunkt stand. Es überrascht daher auch nicht, daß Opitz für beide Poetiken auf unterschiedliche theoretische Gewährsleute zurückgreift: folgt er hinsichtlich der Antikenpoetik explizit Scaliger (neben Vida und Aristoteles), so für die romanische ›neue‹ Poetik Ronsards Abbregé de l’art Poëtique François (1565). 3. In der Poeterey fehlt – wie in den meisten Poetiken nach ihr – ein eigenes Kapitel zu Fragen der Nachahmung und Übersetzung. Dennoch verdienen Opitz’ verstreute Bemerkungen besonderes Augenmerk im Hinblick auf den konzeptionellen Rahmen, dem die neue deutsche Dichtung eingeschrieben werden soll. Prekär – das wird sich zeigen – ist auch hier das Verhältnis der deutschen zur lateinischen Dichtung. Von jeher viel beachtet wurde ein Passus im abschließenden achten Kapitel der Poeterey. Dort heißt es: Eine guete art der vbung aber ist / das wir vns zueweilen auß dem Griechischen vnd Lateinischen Poeten etwas zue vbersetzen vornemen: dadurch denn die eigenschafft

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Robert: »Vetus poesis« (wie Anm. 2), S. 417–420. Opitz: Teutsche Poemata (wie Anm. 2), S. 52.

Im Silberbergwerk der Tradition

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vnd glantz der wörter / die menge der figuren / vnd das vermögen auch dergleichen zue erfinden zue wege gebracht wird. Auff diese weise sind die Römer mit den Griechen / vnd die newen scribenten mit den alten verfahren: so das sich Virgilius selber nicht geschämet / gantze plätze auß andern zue entlehnen.15

Nun stellen diese erkennbar kursorischen Überlegungen noch kein Manifest zugunsten einer flächendeckenden Übersetzung und ›Vulgarisierung‹ antiker Literatur dar. Im Gegenteil: Mehr als von Programmatik ist hier von Propädeutik die Rede. Für diese These spricht, daß Opitz eine solche imitatio veterum ausdrücklich als Option, nicht als Norm und Regel bezeichnet; nur ›zueweilen‹, eben nicht konsequent, sollten solche Übertragungen inventio und elocutio (copia verborum) des Deutschen befestigen. Imitatio veterum dient allein der ›vbung‹ – exercitatio, sie macht keineswegs das Hauptgeschäft des Dichters aus. Dennoch stellt sie einen demonstrativen, kulturschaffenden Akt dar. Er bestimmt das Verhältnis schon der antiken Literaturen zueinander; hier schwingt immer die Idee der translatio im Sinne eines Kulturtransfers über Sprach- und Nationengrenzen hinweg mit.16 Vergils enge Entlehnungen aus Homer,17 die nach Macrobius auch Scaliger in seinen Poetices libri septem analysiert hatte, dokumentieren für Opitz die Legitimität der imitatio bei der Begründung einer neuen Nationalsprache und -literatur, immerhin wird die Entlehnung ganzer loci nicht ausdrücklich als imitatio servilis oder plagium bezeichnet, wenngleich diese Möglichkeit doch allzu nahe liegt (»nicht geschämt«). Die Übersetzung soll auf der Ebene der ›Einzeltextreferenz‹ dieselbe Integration leisten wie auf der Ebene der ›Systemreferenz‹ die Implementierung der antiken/späthumanistischen Gattungslehre. Hier – in der Implementierung der Makrostruktur – liegt denn auch der programmatische Akzent der Poeterey, der noch auf die Reform von Prosodie und Metrik durchschlägt. Im inventio-Teil, d. h. im Katalog der poetischen Genera, finden sich beinahe ausschließlich antike, um genauer zu sein: ausschließlich lateinische Exempla für die einzelnen »art der gedichte« und ihre »zuebehör« – seien es antike oder neulateinische (Secundus, Lotichius, Dousa)18. Dies bildet 15 16

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18

Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (wie Anm. 12), S. 71. Zu diesem Komplex vgl. Franz Josef Worstbrock: Translatio artium. Über die Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen Theorie. In: Archiv für Kulturgeschichte 47 (1965), S. 1–22; ders.: Über das geschichtliche Selbstverständnis des deutschen Humanismus. In: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972. Hg. v. Walter Müller-Seidel. München 1974, S. 499–519. Vgl. Gregor Vogt-Spira: »Warum Vergil statt Homer?«. Der frühneuzeitliche Vorzugsstreit zwischen Homer und Vergil im Spannungsfeld von Autorität und Historisierung. In: Poetica 34 (2002), S. 323–344; Jörg Robert: »Ex disceptationibus veritas«. Julius Caesar Scaligers kritisch-polemische Dichtkunst. In: Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. Jörg Robert. Münster u. a. 2007, S. 249–279 u. 257–263. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (wie Anm. 12), S. 31.

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nun einen Widerspruch zur eigenen Praxis, der nach einer Erklärung verlangt. Denn der Blick auf Opitz’ deutsche Dichtungen belehrt, daß er die Vulgarisierung antiker (d. h. lateinischer) Texte allenfalls sporadisch unternommen bzw. kaum in ihren Ergebnissen publiziert hat – mit den beiden prominenten, weltanschaulich, d. h. durch »Neostoizismus und Didaxe«19 begründeten Ausnahmen der Seneca- und Sophokles-Übersetzung. Ihnen zur Seite stehen isolierte Horaz- und Properz-Übertragungen, denen ihr Experimentalcharakter durchaus anzumerken ist. Gegenüber dem ›vertikalen‹ Übersetzen aus der antiken in die moderne Sprache besitzt für Opitz (und seine Nachfolger) das ›horizontale‹ Übersetzen von der einen modernen Fremdsprache in die andere ein deutliches quantitatives Übergewicht.20 Dagegen hat Opitz nicht einmal den Versuch unternommen, systematisch die im inventio-Kapitel genannten lateinischen Gattungsvertreter ins Deutsche zu übersetzen. Also keine Übersetzung der Aeneis, der Eklogen, der Satiren des Juvenal und Persius usw. Wie läßt sich dieser Widerspruch zwischen (Gattungs-)Theorie und (Übersetzungs-)Praxis, den die Opitz-Forschung – soweit ich sehe – nie als solchen kommentiert hat, interpretieren? Folgende inhaltliche wie formale Aspekte scheinen dabei eine wesentliche Rolle zu spielen: (1.) Antike Literatur ist für das 17. Jahrhundert immer auch heidnische Literatur. Der Konflikt zwischen Rom (bzw. Athen) und Jerusalem ist in den Poetiken seit dem Humanismus ungebrochen virulent.21 Die apologetischen Bemühungen ziehen sich dabei mit Vorliebe auf das von Aristoteles begründete Argument der poetica theologia zurück, so schon Opitz: »DIe Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie / vnd vnterricht von Göttlichen sachen.«22 Sofern die deutsche Kunstdichtung den esoterischen Kreis des Akademismus zugunsten eines weiteren, ›exoterischen‹ Publikums überschritt, mußten sittlich-religiöse Irritationen bei der Aneignung antiker Dichtung und Kultur schwerer ins Gewicht fallen. Schon Opitz konzentriert seine apologetischen Bemühungen auf das doppelte Skandalon von Eros und Idolatrie. Die Spielräume einer engeren Anlehnung an solche ›sensiblen‹ Felder kultureller Heterogenität waren naturgemäß in der Gelehrtendichtung weiter. Das Anstößige und Inkompatible konnte sich hier unter dem Mantel philologischer Interessen verbergen oder in ›klandestinen‹ Spielformen einen den Augen einer weiteren Öffentlichkeit entzogenes Eigenleben führen. Erotische Dichtung 19 20 21 22

Klaus Garber: Opitz, Martin. In: Literaturlexikon. Hg. v. Walther Killy. Gütersloh 1990, Bd. 8, Sp. 504–509. Gianfranco Folena: Volgarizzare e tradurre. Turin 1991, S. 13. Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (wie Anm. 12), S. 14. Die diesbezüglichen Debatten innerhalb der Philologie des 17. Jahrhunderts rekonstruiert minutiös das Buch von Ralph Häfner: Götter im Exil. Frühneuzeitliches Dichtungsverständnis im Spannungsfeld christlicher Apologetik und philologischer Kritik (ca. 1590–1736). Tübingen 2003.

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ist aus diesem Grund in Deutschland seit den Tagen eines Peter Luder, Konrad Celtis und zumal nach der Reformation (Simon Lemnius!) überwiegend auf das Neulateinische festgelegt, auch wenn offen oder verdeckt obszöne Produkte einer libertinen Catull-Rezeption wie Antonio Beccadellis Hermaphroditus oder Pietro Aretinos Modi-Dichtung (Sonetti lussuriosi) in Deutschland kaum anzutreffen sind. Entschiedener als in Italien oder Frankreich legitimiert sich der Humanismus, insbesondere nach der Reformation, als ethisch-moralische Erziehungsbewegung.23 In diesen Horizont eines ›moralischen Humanismus‹ gehören denn auch die Bearbeitungen antiker Stoffe im 16. Jahrhundert, etwa die Antikendramen eines Hans Sachs.24 Hinzu kommen im weiteren Sinne poetologische Gründe: (2.) erkennt Opitz die noch unbewältigten Schwierigkeiten, die vor allem in sprachlich-elokutioneller Hinsicht einem ›vertikalen‹ Übersetzen entgegenstehen – das egestas-linguae-Argument, könnte man in Anlehnung an Lukrez sagen. Jede Übertragung würde dann zum unfreiwilligen Ausweis mangelnder copia verborum, das Gefälle zwischen Ausgangs- und Zielprodukt käme einem descensus in Stil und Geschmack gleich.25 (3.) haben imitatio und aemulatio im Grunde eine doppelte Funktion im intertextuellen Spiel. Die Bezugnahme auf einen Prätext kann diesen selbst zum agonalen ›Gegner‹ bzw. Mitspieler machen, an dem und gegen den sich das eigene Schreiben positioniert (d. h. in der Form: der ›neue Horaz‹ mißt sich am alten und übertrifft ihn), oder aber die imitatio veterum ist – und dies dürfte auf Opitz zutreffen – lediglich Vehikel und Medium einer Auseinandersetzung mit den romanischen Dichtungen, die den Akt der aemulatio veterum ihrerseits bereits vollzogen haben. All dies hat Folgen für die Diglossiestruktur des ›literarischen Feldes‹ der deutschen Dichtung im 17. Jahrhundert. Das Ausweichen der volkssprachigen Dichtung vor einer engeren imitatio veterum z. B. in Form von Übersetzungen scheint sich dem Umstand zu verdanken, daß Opitz diesen Sektor bereits durch die neulateinische Dichtung – an der er ja selbst in erheblichem Umfang partizipierte – besetzt sieht.26 Hier, in der Neolatinitas, setzte sich die rekombinierende Fortschreibung der antiken Gattungsnormen und -formen vermittels der

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Vgl. Ethik im Humanismus. Hg. v. Walter Rüegg u. Dieter Wuttke. Boppard 1979. Vgl. Hans Sachs im Schnittpunkt von Antike und Neuzeit. Hg. v. Stephan Füssel. Nürnberg 1995 (= Pirckheimer-Jahrbuch 10). Vgl. Jörn Albrecht: Literarische Übersetzung. Geschichte – Theorie – Kulturelle Wirkung. Darmstadt 1998, S. 143–147. In der Poeterey betont Opitz nebenbei und im offenen Widerspruch zum Aristarch, daß das Lateinische bereits Renaissance erlebt habe: »ich bin der tröstlichen hoffnung / es werde nicht alleine die Lateinische Poesie / welcher seit der vertriebenen langwierigen barbarey viel große männer auff geholfen / vngeacht dieser trübseligen zeiten vnd höchster verachtung gelehrter Leute / bey jhrem werth erhalten werden« (Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey [wie Anm. 12], S. 22).

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imitatio bruchlos und gewissermaßen in der sprachlichen ›Horizontale‹ fort. Sie erstreckte sich selbstverständlich nicht nur auf die antiken Autoren (unter Einschluß der ›silbernen Latinität‹), sondern auf das gesamte Spektrum lateinischer Produktion bis in die eigene Gegenwart. Auch auf diesem Feld erweist sich Opitz als Modernist, der zuerst die aktuelle neulateinische Dichtung, z. B. Daniel Heinsius’ Hipponax ad Thaumantidem in einem eigenen lateinischen Gedicht imitiert (Hipponax ad Asterien).27 Genres engster intertextueller Anregung wie die parodia, z. B. in Gestalt der im protestantischen Raum florierenden parodia Horatiana oder parodia Christiana, blieben sogar zwingend auf die Latinität beschränkt.28 Ähnliches gilt für das vergilische Großepos, das seit den Bauernkriegen29 und mit Nachdruck in der Gegenreformation weite Bereiche der Neolatinität überdeckt, ohne doch das Projekt einer vergilischen Epik in der Volkssprache anzustoßen. Thomas Murners Vergilübersetzung (1515) bleibt ein historischer Findling humanistischer Bemühung um ›Einbürgerung‹ der klassischen Tradition, Diederich von dem Werder übersetzt programmatisch lieber Tassos Gerusalemme liberata oder Ariosts Orlando Furioso,30 Tobias Hübner Guillaume du Bartas’ Semaine (1578).31 Andreas Gryphius verfaßt seine Bibelepen Herodis Furiae, et Rachelis lachrymae (Glogau o. J. [1634]), Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus (Danzig o. J. [1635]) oder Olivetum Libri tres (o. O. u. J. [Florenz 1646]) lateinisch – im Deutschen bleibt es bei den ›modernen‹ Formen der Lyrik wie dem Sonett.32 Übersetzt bzw. bearbeitet wird von Gryphius allenfalls ein moderner Manierist wie Jakob Balde (z. B. in den Kirchhoffs=Gedancken, 1657) – selbst über die Konfessionsgrenzen hinweg. Wenn Opitz mit Barclays Argenis (1621) einen lateinischen Text übersetzt, so ist dies ein neulateinischer, noch dazu ein entschieden ›modernes‹ Genre – der höfisch-politische Roman. Die antiken Autoren fungieren dagegen als ein von der Schule vermitteltes poetisch-poetologisches Substrat, das zumeist im Modus

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Robert Seidel: Zwischen Architextualität und Intertextualität – Überlegungen zur Poetik neulateinischer Dichtung am Beispiel von Martin Opitzens Hipponax ad Asterien. In: Parodia und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Reinhold F. Glei u. Robert Seidel. Tübingen 2006, S. 171–207. Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit. In: Parodia und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Reinhold F. Glei u. Robert Seidel. Tübingen 2006, S. 47–66. Joachim Hamm: »Servilia bella«. Bilder vom deutschen Bauernkrieg in neulateinischen Dichtungen des 16. Jahrhunderts. Wiesbaden 2001. Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem (1626). Nachdruck hg. v. Gerhard Dünnhaupt. Tübingen 1974; Die Historia Vom Rasenden Roland. Leipzig 1636. Wilhelms v. Saluste Herrn Von Bartas Reimen-Gedichte genand Die Alt-Väter. Köthen 1619; Die Andere Woche Wilhelms v. Saluste. Köthen 1622; Gesamtausgabe postum hg. v. Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen u. Diederich von dem Werder. Köthen 1640. Andreas Gryphius: Lateinische Kleinepik, Epigrammatik und Kasualdichtung. Hg. u. übers. v. Beate Czapla u. Ralf Georg Czapla. Berlin 2001.

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punktueller ›Einzeltextreferenz‹ eingeholt wird. Von hier verfügen alle volkssprachigen Dichter des 17. Jahrhunderts selbstverständlich über Kenntnisse der auctores classici wie über das Instrumentarium ihrer Aneignung und produktiven Transformation – hier gab es keinen Bedarf an Vermittlung. Die Auseinandersetzung mit der antiken Literatur war auf die protestantischen, später auch die jesuitischen Gymnasien verwiesen, auf das vorakademische Grundstudium also, für dessen Rahmen die neueren, ihrer Tendenz nach konservativen Lehrbücher zur imitatio eines Johannes Sturm oder Gerhard Johannes Vossius verfaßt werden. Der Nachahmungsfrage haftete fortan ein Geruch von Schulstube und poetologischem Proseminar an, das wenig Raum zu Distinktion durch Innovation ließ. 4. Daß die Kenntnis der antiken Literatur als rein propädeutische Voraussetzung volkssprachiger Dichtung zu verstehen ist, legt denn auch ein viel zitierter Passus am Ende des vierten Kapitels der Poeterey nahe, in dem Opitz auf Ronsards Vorbild verweist, der »mit der Griechen schrifften gantzer zwölff jahr sich vberworffen habe«, da von hier »die Poeterey jhre meiste Kunst / art vnd liebligkeit bekommen«. Ähnliches, so Opitz, müsse auch für die »deutsche Poeterey« gelten: Niemand könne hier auf Ruhm hoffen, der »in den griechischen vnd Lateinischen büchern nicht wol durchtrieben ist / vnd von jhnen den rechten grieff erlernet hat«.33 Die Metapher vom ›rechten Griff‹ entstammt der Musik, gedacht ist offenbar an das Spiel auf Saiteninstrumenten wie der Laute. Der Sinn ist klar: Das Studium der antiken Autoren garantiert die elementare Fingerfertigkeit, die Kenntnis der Akkorde sozusagen, derer die muttersprachliche Dichtung bedarf. Die Neueren spielen mit denselben Tönen wie die Alten, ohne doch deren Stücke selbst zu intonieren. Wenn daher Richard Alewyn in Opitzens Antigone-Übertragung das Muster eines »vorbarocken Klassizismus« erkennt,34 so ist dies im Werk des Bunzlauers gerade der Sonderfall, nicht die Regel. Im übrigen dienen imitatio und translatio veterum als Fundament und Vehikel einer progressiven Kultivierung der deutschen Sprache und Dichtung; der Blick geht voraus, nicht zurück. Die aemulatio der klassischen Muster bleibt bis zur Jahrhundertmitte die Domäne der neulateinischen Produktion, die nach Opitz auch Buchner, Fleming, Gryphius, Moscherosch bis hinzu Morhof und Christian Günther, in unterschiedlicher Gewichtung, pflegen. Diese Feststellung rüttelt nicht an der zuerst von Trunz35,

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Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (wie Anm. 12), S. 25. Richard Alewyn: Vorbarocker Klassizismus und griechische Tragödie. Analyse der Antigone-Übersetzung des Martin Opitz (1925). Nachdruck Darmstadt 1962. Erich Trunz: Deutsche Literatur zwischen Späthumanismus und Barock. Acht Studien. München 1995, dort die Aufsätze (zuerst 1931) Der deutsche Späthumanismus um 1600

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Conrady36 und anderen gezeigten Verwurzelung der deutschen in der neulateinischen Gelehrtenkultur und -literatur, perspektiviert jedoch den Blick auf eine Arbeitsteilung, die im literarischen Feld in Deutschland bis in die hohe Zeit der Aufklärung bestimmend bleiben wird. Randständig sind einerseits Versuche einer Vulgarisierung klassischer Texte bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, verbreitet dagegen solche vermeintlichen Spätzeitphänomene wie Christan Adolph Klotz’ Carmina und Opuscula poetica – ganz zu schweigen von der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten Übung, klassische Lyrik (Schillers Lyrik oder Goethes Hermann und Dorothea u. ä.) in die klassische Sprache gewissermaßen rückzuübersetzen.37 Erst der Paradigmenwechsel von einer produktions- zu einer deskriptionsorientierten Philologie, wie er im Gefolge des ›ersten Historismus‹ Herderscher Prägung vollzogen wird und zur disziplinären Neukonstitution der ›Klassischen Philologie‹ führt, setzt dieser gelebten neulateinischen Tradition ein Ende und privilegiert und initiiert dann im Zusammenspiel mit veränderten Lese- und Rezeptionsgewohnheiten auch neuer Bildungsschichten Projekte wie Johann Heinrich Vossens Homer-, Vergil- und Ovidübersetzungen. 5. Die Nürnberger bezeichnen innerhalb dieser Entwicklung eine entscheidende Peripetie. Sie gibt sich in dem Umstand zu erkennen, daß Harsdörffer, Birken, Klaj, Schottelius und andere als erste die poetische Diglossie in Frage stellen. Ihren programmatischen, ja polemischen Ausdruck findet diese Haltung in einer Ode Johann Klajs, die im Vorspann des sechsten Teils der Frauenzimmer Gesprächspiele (1646) unter dem Titel Die Ziegeunerische Kunstgöttinnen gedruckt wurde.38 Es handelt sich um die Übersetzung einer Ode des jesuitischen Neulateiners Jakob Balde, den Harsdörffer als »weltberühmte[n] Poet[en]«39 bezeichnete, allerdings unter Hinweis auf sein (teilweise) volkssprachiges Poema

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als Standeskultur (S. 7–82) und Der Übergang der Neulateiner zur deutschen Dichtung (S. 207–227). Karl Otto Conrady: Lateinische Dichtungstradition und deutsche Lyrik des siebzehnten Jahrhunderts. Bonn 1962. Robert Seidel: Die ›tote Sprache‹ und das ›Originalgenie‹. Poetologische und literatursoziologische Transformationsprozesse in der Geschichte der deutschen neulateinischen Lyrik. In: Lateinische Lyrik der Frühen Neuzeit. Poetische Kleinformen und ihre Funktionen zwischen Renaissance und Aufklärung. Hg. v. Beate Czapla, Ralf Georg Czapla u. a. Tübingen 2003, S. 422–448, hier S. 428f. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. VI, S. 60–68 (jeweils nach neuer Paginierung). Dazu Wilhelm Kühlmann: Balde, Klaj und die Nürnberger Pegnitzschäfer. Zur Interferenz und Rivalität jesuitischer und deutsch-patriotischer Literaturkonzeptionen. In: Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Hg. v. Thorsten Burkard, Günter Hess u. a. Regensburg 2006, S. 93–113. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 38), Tl. V, S. 185f.

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de vanitate mundi oder seinen Agathyrsus Teutsch (1647), der im dritten Teil des Poetischen Trichters als »berühmtes Buch« gelobt wird.40 Klaj stellt nun in seiner Übersetzung die Botschaft Baldes vom Kopf auf die Füße. Aus dem Votum für eine deutsche neulateinische Dichtung wird eine strikte Absage an die antike Sprache und Literatur, d. h. konkret: eine Absage an die Neolatinitas der Balde, Sarbiewski oder Sannazaro; sie gipfelt in dem Ausspruch: »Die Teutschgelehrte Schaar // spricht: Römer komm / komm Griech / wir wollen eines wagen / Was du kanst / kann ich auch / Ich kann dich schlagen / jagen« (Verse 121–124). Klajs Version kommt einer Konversion gleich, zumal in konfessioneller Hinsicht, sofern hier eine »Opposition von Nürnberg und Rom«41, von deutsch-protestantischer Nationalliteratur und ultramontaner, mithin unpatriotischer Neolatinität eröffnet wird – eine griffige Opposition, welche die Reputation einer ›oberdeutschen Literatur‹ auf lange Sicht hin beschädigen wird.42 Daß diese Abwendung von der (neu-)lateinischen Kultur und dem »Handgekläpper der Grichen und Römer«43 keineswegs dem schlechten Gewissen eigener philologischer Unzulänglichkeit entspringt, versteht sich angesichts von Klajs und Harsdörffers gediegener klassischer Bildung von selbst. Hier liegt vielmehr eine bewußte kultur- und literaturpolitische Entscheidung vor, gerichtet gegen eine mit dem Ruch der »Schulfüchserey«44 und des Pedantischen behaftete akademische Sphäre.45 Harsdörffer konnte, wenn es der Sache diente, auch anders. Dies zeigt sich etwa darin, daß er (in der Nachfolge des Schottelius) wiederum mit seinem Specimen Philologiae Germanicae einen ›akademischen‹ lateinischen Traktat zur Sprachenfrage vorlegte.46 Das Lateinische bleibt im Bereich der artes fraglos akademische Metasprache und lingua franca, schon der schwierigen Terminologie (»kunstwörter«) wegen, außerhalb dieses Reviers wird es für die Nürnberger zunehmend obsolet. Es ist daher als strategisch-polemischer Akt zu verstehen, wenn Harsdörffer seinen Poetischen Trichter bereits im Untertitel (»ohne Behuf der lateinischen Sprache«) aus dem komplementären Zusammenhang der späthumanistischen lateinischen Poetik ausklammert. Eine Schlüssel- und Indikatorrolle für solche Umbau- und Verschiebungsprozesse spielt nun Harsdörffers Umgang mit imitatio und Übersetzung. Als

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Kühlmann (wie Anm. 38), S. 96. Kühlmann (wie Anm. 38), S. 96. Rolf Baur: Didaktik der Barockpoetik. Heidelberg 1982, S. 71: »Die deutschssprachigen Poetiken waren ein Phänomen der protestantischen Territorien und Unterrichtsstätten.« Justus Georg Schottel: Teutsche Sprachkunst. Braunschweig 1651, S. 224f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 47), Tl. I, S. 385. Irmgard Böttcher: Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 321. Markus Hundt: »Spracharbeit« im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin u. a. 2002, S. 71–83.

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»Meister der Integration und der Vermittlung«47, ja als »Sohn Europas«48 entfaltet er ein weit gespanntes Übersetzungsprojekt, das in der Orientierung an den modernen romanischen Sprachen und Literaturen darauf abzielt, einem kulturell noch immer als rückständig empfundenen Land »Zivilisation, Sozialität, Erkenntnis und Selbstbewußtsein im Zeichen der Sprache«49 zu injizieren. Übersetzen – ›Dolmetschen‹, interpretari – ist für Harsdörffer nicht nur eine sprachliche Transposition, sondern immer auch hermeneutische Anstrengung, akkulturierende Einschreibung in die neuen und eigenen sozialen, kommunikativen und konfessionellen Kontexte, ganz im Sinne der rhetorischen aptum-Forderung, eine proto-hermeneutische Operation also, die Aspekte der Kommentierung, Kritik und Auslegung einschließt50 und bis zur »völligen Neuorganisation des Textes reichen«51 kann. Daraus ergibt sich die Maxime: Also ist es auch einem Ubersetzer frey / den Inhalt eines andren Buchs in seine Sprache zu übertragen / und ihm selben nach gutdünken dienen machen; wann er gleich allem und jeden so genau nicht nachgehet / von dem eigentlichen Wort verstand abtritt / und nur den Verlauff der Sachen richtig behält.52

Diese strikte Ausrichtung an Zielsprache und -publikum gilt als Prämisse für alle Harsdörfferschen Übersetzungsprojekte:53 Die Schau=Platz-Anthologien, welche die Geschichten des Jean-Pierre Camus und anderer ins zeitgenössische Nürnberg transponieren, die Protagonisten in moderne Kleidung hüllen und dabei gleichsam ins Lutheranische konvertieren; aber auch für die Übertragung von Montemayors Diana, die Lehrdichtungen von Nathan und Jotham, für die Frauenzimmer Gesprächspiele oder die naturwissenschaftlichen Essays der Ma47 48

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Böttcher (wie Anm. 45), S. 292. Italo Michele Battafarano: Vom Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung. Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer – ein Sohn Europas. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 196–212. Battafarano (wie Anm. 48), S. 199. Zu Harsdörffers Interpretationslehre vgl. Peter Hess: Poetik ohne Trichter. Harsdörffers Dicht- und Reimkunst. Stuttgart 1986, S. 89–97, hier S. 102: »Übersetzen bedeutet eine formale und inhaltliche Anpassung eines fremdsprachlichen Vorbilds an den Erfahrungshorizont, generell an den verschiedenartigen soziokulturellen Kontext des angesprochenen neuen Lesers wie auch an die gegenüber der ursprünglichen Intention veränderte Wirkungsabsicht.« Dazu auch Manfred Beetz: Nachgeholte Hermeneutik. Zum Verhältnis von Interpretations- und Logiklehren in Barock und Aufklärung. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), S. 591–628. Peter Hess: Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie bei Georg Philipp Harsdörffer. In: Daphnis 21 (1992), S. 9–26, hier S. 18. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten (1649–1650). Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975, Vorrede, unpag., § 15. Eine Liste von Harsdörffers Übersetzungswerken findet sich bei Hess: Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie (wie Anm. 51), S. 25.

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thematischen und Philosophischen Erquickstunden, jener »Anthologie aus internationaler naturwissenschaftlich-mathematisch-technischer Fachliteratur«.54 Peter Hess hat den umfassenden Bildungsanspruch des Harsdörfferschen Übersetzungswerkes nach folgenden Einzelaspekten aufgeschlüsselt: Übersetzung macht fremdsprachige Werke verfügbar, dient der Kanonpolitik, ist Teil der Kultivierung der Sprache, schafft volkssprachige Mustertexte, befördert die rhetorisch-poetologische Schulung und schließlich die »Didaktisierung christlicher Moralvorstellungen«.55 Vor allem aber weiß der Übersetzer Harsdörffer, um noch einmal Battafarano zu zitieren, »daß Deutschland in puncto Literatur gleichsam Missionsland ist«.56 6. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überraschen, daß in Harsdörffers ›Missionstasche‹ kaum Antikes steckt. Klassizismus als Kult des Antiken um seiner selbst willen ist ihm als Ausdruck von ›Schulfuchserei‹ suspekt, sein Zielpublikum ist nicht mehr die akademische Welt des internationalen Späthumanismus, sondern eine neue literarische, in Ansätzen ›mondäne‹ Öffentlichkeit, die er zu diesem Zweck allererst begründet bzw. erfindet. In dem Gesprächsspiel Verlangen etwa (d. h. Verlangen, gute Bücher zu lesen57) findet sich eine lange Liste spanischer, italienischer und französischer Autoren, daneben nur vier lateinische Schriften – allesamt nicht antik.58 Wie nirgends sonst kristallisiert sich in Harsdörffers Übersetzungspraxis und -theorie der Prestigeverlust der antiken Literatur und Philologie, die im 17. Jahrhundert sukzessive ihre leitkulturelle Hegemonie an die modernen Literaturen abtreten muß. Ihnen weiß sich die deutsche Literatur eher strukturverwandt als der antiken: »das Latein kan uns in den Reimgebänden wenig Nachrichtung geben / sondern wir müssen solche von den Niederländern / Frantzosen / Spaniern und Italiänern absehen / als welcher Poeterey auch in Reimen bestehet.«59 In der Vorrede (§ 4) zum Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte zitiert Harsdörffer zustimmend Virgilio Malvezzi, wonach »wir sehr fehlen / indem unsre Jugend in Lateinischen und Griechi-

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Böttcher (wie Anm. 45), S. 323. Hess: Imitatio-Begriff und Übersetzungstheorie (wie Anm. 51), S. 23. Battafarano (wie Anm. 49), S. 203. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 38), Tl. I, S. 285–291. Harsdörffers Umgang mit einer konkreten Nationalliteratur, der französischen, zeigt Jean-Daniel Krebs: Georg Philipp Harsdörffer liest die französischen Dichter. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 224–242. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. II, S. 111f.

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schen Geschichten unterrichtet wird / von den Zustand aber ihres Vaterlands und desselben Beschaffenheit von Alters her / fast niemals reden gehöret«.60 Harsdörffer hat sich an verschiedenen Stellen seines Werkes kursorisch oder systematisch zum Thema Übersetzen geäußert; am prominentesten sind die Vorreden zu den oben genannten Übertragungen: zum Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte, Nathan und Jotham, Diana von Montemayor. Es ist jedoch der zwischen 1648 und 1653 erschienene Poetische Trichter, in dem sich die meisten – längst nicht alle – literaturtheoretischen Überlegungen gebündelt finden. Angesichts des Stellenwertes, den das Übersetzen in Harsdörffers Arbeit einnimmt, kann es nicht überraschen, daß er dem Thema – anders als die meisten Poetiken – ein eigenes Kapitel seines Trichters widmet.61 Es findet sich im dritten, 1653 erschienen Band und trägt den Titel Von der Nachahmung (de Imitatione).62 Hierin wie in der gesamten Anlage des Trichters verrät sich Harsdörffers neues Selbstbewußtsein, eine genuin volkssprachige Vollpoetik vorzulegen, die sich – anders als noch bei Opitz – nicht mehr bescheiden als poetologischer Aufbaustudiengang zur allgemeinen Antikenpoetik ankündigt, sondern alle Bereiche der Dichtungslehre – auch die imitatio – unter dem eigenen Dach versammelt. Er wendet sich an den deutschsprachigen Laien, jene Jugend, die bisher auf die protestantische Gelehrtenschule und ihre strikte Festlegung auf die Latinität verwiesen war.63 Ein Blick auf Struktur und Substanz des Kapitels zeigt eine Zweiteilung, die in der Ambivalenz des Begriffs imitatio begründet liegt. Nachahmung schließt sowohl die eigentliche imitatio als auch den Sonderfall Übersetzung ein. Steht zunächst die interpretatio/translatio im Mittelpunkt, so geht es im zweiten Teil ausdrücklich um die imitatio, am Ende – und dies ist neu gegenüber Opitz – um Nachahmung deutscher Autoren in Prosa und Vers. Diese Abfolge entspricht einer traditionellen Stufung der Abhängigkeits- bzw. Freiheitsgrade von Nachahmung. Die klassische Rhetorik unterscheidet hier interpretatio, imitatio, aemulatio,64 im Hinblick auf die Übersetzungstheorie entwickelt Andreas Schottus in seinen Tullianae Quaestiones De instauranda Ciceronis Imitatione (zuerst 1610) die Stufenfolge: »interpretatio fida ac religiosa«, »interpretio liberior« und »interpretatio arbitraria«.65 Überraschend ist dabei weniger die Dichotomie von Übersetzung und freier imitatio als die Tatsache, daß für beide Bereiche unterschiedliche Autoritäten bemüht werden: Werden im

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Er meint Virgilio Malvezzi: Opere. Venedig 1676 (darin: Il privato politico). Den besten Überblick über die Anweisungen zu lectio und imitatio bietet Gunter Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Tübingen 1983, S. 165–177. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 68), Tl. III, S. 36–54. Böttcher (wie Anm. 59), S. 317. Arno Reiff: Interpretatio, imitatio, aemulatio. Begriff und Vorstellung literarischer Abhängigkeit bei den Römern. Köln 1959. Hess: Poetik ohne Trichter (wie Anm. 50), S. 101.

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ersten Abschnitt vorwiegend aktuelle, romanische Gewährsleute und Beispiele benannt, so beziehen sich die Partien zur imitatio auf die klassische Antikenpoetik, vor allem auf Scaliger. Es handelt sich also um eine Synthese zweier Poetiken bzw. poetologischer Systemtypen. Von Anfang an wird deutlich, daß Harsdörffer Nachahmung als didaktisches Medium, als ›Lerntheorie‹ begreift: »Massen keiner so glückselig / daß ihm das beste am ersten einfallen sol.«66 Der Weg von der interpretatio über die imitatio zur aemulatio bezeichnet einen (auch biographischen) Reifungs- und Selbstfindungsprozeß, in dem der Schreibende sich buchstäblich von seinem Modell emanzipiert. Plausibilisiert wird dies durch einen ausgedehnten Malervergleich, der sich wie ein roter Faden durch das Kapitel zieht. Über das Topische hinaus belegt er Harsdörffers Doppelliebe zur Bildkunst67 wie zu den rhetorischen Kunstbildern, jenen ›Gleichnissen‹, denen sich das unmittelbar folgende Kapitel des Trichters (unter Berufung auf den vorausgehenden Malervergleich!) widmet: Ein Mahler aber muß anfänglich andere geringe Gemählde für die Hand nehmen / selbe nachzeichnen / die Freundschaft und Feundtschafft der Farben erlernen / ihre Mischung Liecht und Schatten verstehen / und wann er darinnen geübet / so ist die Natur sein bester Lehrmeister dere er kunstrichtig nachzuahmen verbunden ist.68

Das bedeutet nichts anderes, als die beiden konkurrierenden Nachahmungstypen, rhetorische imitatio veterum und aristotelische Mimesis (imitatio naturae) in ein zeitliches, ja curriculares Verhältnis zu setzen. Natur wird in Kunst gebunden und zur Nachahmung verfügbar gemacht, bevor der Adept den Blick auf die Natur selbst richtet. Harsdörffers Harmonisierung von imitatio und Mimesis hat ein prominentes Vorbild, das an dieser Stelle ungenannt bleibt: Scaligers Poetices libri septem. Scaliger war es gelungen, die beiden konfligierenden Prinzipien von Mimesis und imitatio veterum dergestalt zu verbinden, daß Vergil zur zweiten Natur (»altera natura«) wird: »Itaque non ex ipsius naturae opere uno potuimus exempla capere, quae ex una Vergiliana idea mutuati sumus.«69 Die Aeneis als Buch integriert und destilliert gewissermaßen alle kunstfähigen

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 37. Vgl. Hess: Poetik ohne Trichter (wie Anm. 59), der S. 77 im Gefolge Baurs auf die eminent didaktische Funktion der Rhetorik, insbesondere der imitatio-Lehre, hinweist. Barbara Becker-Cantarino: Ut pictura poesis? Zu Harsdörffers Theorie der »Bildkunst«. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 9–20; Rosemarie Zeller: Sinnkünste. Sinnbilder und Gemälde in Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen. In: Ebd., S. 215–229. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 36. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg. v. Luc Deitz u. Gregor Vogt-Spira. Stuttgart u. a. 1994, Bd. 2, S. 310 (= Buch 3, Kap. 24).

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Aspekte aus dem großen Buch der Natur. Kunst – auch hier steht Aristoteles Pate – perfektioniert Natur.70 Harsdörffers Ausführungen zur ›Dolmetschung‹/interpretatio verdienen schon besonderes Augenmerk, weil sie eine eigene Sensibilität für die Störempfindlichkeit von Kommunikation verraten. Interpretatio steht hier im Vorfeld frühhermeneutischer Theoriebildungen. Harsdörffer ist sich der kulturellen Heterogenität von Ausgangs- und Zielkontexten bewußt. Klarheit, Deutlichkeit, Verständlichkeit – rhetorisch: perspicuitas – müssen oberste Ziele des ›Dolmetschens‹ bleiben, »deßwegen man den Wortverstand zurucke lassen und die Meinung allein dolmetschen muß«. An einem modernen italienischen Text (Galeazzo Gualdo Priorato: Historia della vita d’Alberto Valstein, 1643), wird die Idiomatik sprachlicher Strukturen gezeigt, die zu einer strikten Ausrichtung an der Individualität der Zielsprache verpflichtet. Entschieden heißt es: »der jenige verleurt das Lob eines Dolmetschers / welchen man nicht oder schwerlich verstehen kan.«71 Harsdörffer erläutert dies mit der in der imitatio-Theorie längst topischen Kleidermetaphorik, deren kulturhistorische Relevanz sich vor dem Hintergrund der strengen Kleiderordnungen der frühneuzeitlichen Stadt erschließt – überhaupt wäre die ›Gleichniskunst‹ Harsdörffers einmal in kulturhistorischer Perspektive auf ihr lebensweltliches Substrat hin zu befragen. ›Gleichnisse‹ als Aussichtsfenster in die zeitgenössische Lebenswelt: »Wan ein Franzos oder ein Italianer ein teutsches Kleid anziehet / sol es ihm so gerecht seyn / daß man ihn für keinen Fremden / sondern für einen gebornen Teutschen halten kan.«72 Der Hinweis auf den zeitgenössischen italienischen Lyriker Tomaso Stigliani illustriert überdies den literaturgeschichtlichen Hintergrund für Harsdörffers perspicuitas-Ideal. Es ist die Poetik der argutia, die in besonderem Maße Sensibilität für ›schwierige‹ Texte und ihre Transformationen wecken mußte. Dies zeigt sich im hermeneutischen Umgang mit Grenz- und Problemfällen literarischer Kommunikation, den »zweydeutige[n] Wörtern« und »aequivoca« (also: Wortspiele, Paronomasien u. ä.), deren semantisches Potential in wörtlicher Übersetzung verloren geht. Das Gebot der Verständlichkeit führt ganz natürlich zu einer Übersetzung, welche die argute Pointe, nicht die referentielle Sinnoberfläche hervortreten läßt. Auch hier wird die Analogie zur Malerei betont: »Wann ich aber eines andern Meinung gantz behalte und nur mit andern Worten

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Jörg Robert: »Ex disceptationibus veritas«. Julius Caesar Scaligers kritisch-polemische Dichtkunst. In: Maske und Mosaik. Poetik, Sprache, Wissen im 16. Jahrhundert. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. Jörg Robert. Münster u. a. 2007 S. 249–279, hier S. 257–263. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 39. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 39. Schon im ersten Teil schließt sich Harsdörffer der Auffassung an, wonach »die Schüler aus ihrer Lehrmeister Mäntel Kleider machen / und so statlich mit Silber und Gold überbremen / daß sie nicht erkänntlich sind« (ebd., Tl. I, S. 102).

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ausrede / ist solches gleich dem Gemähl / welches mit andern Farben dem ersten von guter Hand gemahlten Stücke nachgemahlet wird.«73 Solche interpretatio ähnle dem »listige[n] Stehlen / welches / wann es nicht erfahren worden / unbestrafft geblieben«; d. h. jedoch im Umkehrschluß: Die poetischen Besitzverhältnisse müssen gewahrt bleiben, Plagiat bleibt verboten: »Wer nun redlich handeln / und fremdes Gut nicht für sein eignes ausgeben will / der setzet dazu wie Herr Opitz: ›fast aus dem Niederländischen / Nach Ronsards Sonet‹ [...].«74 Legitim sei – hier folgt Harsdörffer nur der communis opinio – eine eklektische Nachahmung, die »gleichsam aus vielen Bächen einen guten Poetischen Einfluß [macht] den er zu seinem Vorhaben ohne Mühe leiten wird«.75 Damit ist die nächste Stufe intertextueller Nähe erreicht, die imitatio im engeren Sinne; Harsdörffer vergleicht sie mit einem Maler, der ein »Gemähle zu Gesicht gefasset / und hernach zu Hause etwas dergleichen jedoch mit andren Stellung mahlet«76. Solche freie Nachahmung – felix imitatio – praktiziert nur in der Gegenwart, »was Cicero aus Demosthene / Virgilius aus Homero, Horatius aus Pindaro abgesehen und glückselig nachgekünstelt«77. Übertroffen wird sie allein von jenen »urständigen Stücke[n]« – Harsdörffer spricht von »Original[en]« – , die voraussetzen, daß man die »abgesehene Gleichheit« (d. h. das verarbeitete Bezugsmodell) nicht zu erkennen vermag. Es ist die Stufe der Erfindung, wie »wann ein Mahler / ohne Beyhülfe andrer Kunst-Stücke mahlet / was kein andrer vor ihme gemahlet«78. Das Gemeinte charakterisiert Harsdörffer anhand von Caspar Barlaeus’ Geschichtreden, einer Sammlung historischer Deklamationen, die ›berühmte Weiber‹ in bestimmten Not- und Konfliktsituationen zeigen – eine oratorische Spielart der Heroiden-Dichtung. Aus diesem Beispiel für ein poetisches ›Original‹ wird deutlich: Harsdörffer präferiert die Ausrichtung an ›architextuellen‹ Gattungsformen und -typen, die mit bestimmten ›Autoren‹ (im Sinne von prägenden Erfindern) verbunden sind, gegenüber der Verarbeitung einzelner Prätexte; ein Votum also für die ›System-‹ und gegen die ›Einzeltextreferenz‹ – in Harsdörffers eigener Terminologie: »Erfindungen, [die] dem Geschlechte und [nicht] der Art nach unterschieden [sind]« – »Inventiones specie non genere differentes«79, wie sie Harsdörffer in den »200 geistlichen und 200 weltlichen Lehrgedichten« des Nathan und Jotham gegeben habe.

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 41. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 41. Vgl. Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Stuttgart 1979, S. 50f.: »Es sei mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß seine Ansichten über das geistige Eigentum von den heutigen nicht wesentlich abweichen.« Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 41. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 42. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 42. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 43. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 47.

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Harsdörffer schließt sein Kapitel mit einem Hinweis zum Kanon, zur »lectio poetarum« – »qui poetae legendi«.80 Hier wird deutlich unterschieden zwischen domestica und externa. Anders als Opitz, der sich noch mit dem »mangel anderer deutschen exempel«81 konfrontiert sah, kann Harsdörffer nunmehr auf einen gewachsenen Kanon in Prosa wie Vers zurückblicken. Mitte des 17. Jahrhunderts ist auch die deutsche Literatur kanonfähig geworden, und so kann sogar ein volkssprachiger Ciceronianismus erwogen werden. In der Akklamation des »deutsche[n] Sprachmeister[s]«82 Luther zur Norm der Prosa (nicht der Dichtung übrigens!) fallen rhetorische und protestantische Überzeugung zusammen: »In der ungebundnen Rede sollen wir erstlich lesen den Teutschen Ciceronem H. D. Luthers Bücher / welcher das Liecht des H. Evangelii / gleichsam auf den Leuchter unsere Sprache gesetzet.«83 Ihm nachgeordnet werden Autoren und Texte, die – und das fällt auf – fast durchgehend der Sachprosa zugehören, inhaltlich vielfach einen politisch-›nationalen‹ Bezug aufweisen. Neben Johann Aventin und Melchior Goldast werden die Reichsabschiede genannt, deren letzter, der sogenannte Jüngste Reichsabschied (recessus imperii novissimus) gerade in die Jahre 1653–1654 – die Entstehungszeit des dritten Teils des Trichters – datiert. In dieser Vorliebe spiegeln sich die fachspezifischen Interessen des Juristen Harsdörffer, es fehlt jedoch der Hinweis auf die von Opitz empfohlene genuine Kanzlei- und Formularprosa. Insgesamt wirkt die Liste der minores ein wenig rat- und orientierungslos; reichhaltiger fällt da schon der Kanon der Poeten aus: Opitz und Rist werden klar herausgehoben gegenüber den sekundären Autoritäten Paul Fleming, Ernst Christoph Homburg und anderen. 7. Bei dieser – überschaubaren – Liste kann es jedoch »nicht verbleiben«, wie Harsdörffer feststellt: Hinzukommen müsse ein Lektürepensum, das nichts weniger als enzyklopädisch und kosmopolitisch, ja ›weltliterarisch‹ genannt werden muß. Lectio und imitatio erstrecken sich nämlich auf »alle / oder ja die meinsten Poëten in der Griechischen / Lateinischen / Frantzösischen / Italianischen / Hispanischen und Niederländischen Sprache«, die auf lumina orationis hin »durchsuchet« und exzerpiert werden sollen.84 Man sieht: Der kategorielle Unterschied zwischen antiqui und moderni ist aufgehoben. Die antiken Sprachen sind nun Nationalsprachen und -literaturen wie alle anderen, keine privi-

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Er findet sein Gegenstück im Specimen, wo 41 Autoren genannt werden, darunter auch neuere wie Opitz, Fleming, Gryphius etc. Vgl. die Übersicht über die Kanonempfehlungen anderer Poetiken bei Grimm (wie Anm. 61), S. 169. Opitz: Teutsche Poemata (wie Anm. 2), S. 26. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 38), Tl. III, S. 311. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 52. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 52.

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legierten Autoritäten mehr.85 Jede Sprache ist, dies betont Harsdörffer in der Schutzschrift für die teutsche Spracharbeit,86 gleich unmittelbar zu Gott. Diese egalitäre Sprachenpolitik hat jedoch in Verbindung mit dem Vollständigkeitspostulat (»alle / oder ja die meinsten«) ihre Schattenseite. Sie impliziert eine Aus- wenn nicht Überdehnung des potentiell Lesens- und Wissenswerten. Die Vermehrung der autoritativen Quellen und auctores durch einen expandierenden Buchdruck und -markt führt zu Orientierungs- und Strukturierungsproblemen im Bereich der Wissensakquisition und -verarbeitung. Tradition wird mehr und mehr, um einen Titel Conrad Gesners zu zitieren, zur bibliotheca universalis des je Geschriebenen, zum hybriden Wissensarchiv, das intern kaum noch durch Selektionskriterien und Werttaxonomien gegliedert scheint. Dies wirkt sich auch auf die Nachahmungstheorie aus: Unter den Bedingungen einer gewaltigen, vom einzelnen kaum mehr zu verarbeitenden Literatur- und Textflut gewinnt imitatio einen neuen polyhistorisch-enzyklopädischen Sinn. Sie beschreibt nun nicht mehr einen poetisch-stilistischen Austauschvorgang, sondern wird zum universellen Verfahren des Wissens- und Textmanagements. Dies verlangt zwingend nach einer eklektischen Vorgehensweise auf der Ebene der Sachen wie der Wörter, die Harsdörffer am Ende seines Kapitels mit Senecas »Bienengleichnis« belegt, das in der poetologischen Reflexion des 17. Jahrhunderts längst keine Sonderposition, sondern den Normalfall enzyklopädischer Textaneignung und -verarbeitung darstellt.87 An die Stelle der individuellen Auseinandersetzung mit Autoren der Vergangenheit treten Formen ›strukturierter‹ bzw. vorstrukturierter Intertextualität wie Florilegien, ›Schatzkammern‹, aeraria poetica und »Phrasen-Anthologien«88, die mit ihren vorgeformten Versatzstücken der eklektisch-exzerpierenden Sammelarbeit des einzelnen aufhelfen und als externe Speichermedien die längst überlasteten natürlichen Gedächtnisse der Schreibenden entlasten.89 Um 1700, als die aeraria poetica endgültig in Verruf geraten 85

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Dies macht Schule. Vgl. die Liste von Morhof: »Erstlich / ehe einer erfinden kann / muß er zuvor gelesen und gesamblet haben / sonsten wird er leres Stroh dreschen. Er muß nicht allein die vornehmbsten Teutschen Poeten / sondern auch die Lateinischen und Griechischen / von welchen doch alles herfließet / wohl durchkrochen / und ihre Künste ihnen abgelernet haben. Will er diesen die Außländer / als Spanier / Frantzosen / Italiäner / hinzusetzen / wird er seinen Schatz desto grösser machen« (Daniel Georg Morhof: Unterricht von der teutschen Sprache und Poesie [1700]. Nachdruck hg. v. Henning Boetius. Bad Homburg u. a. 1969, S. 313f.). Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 38), Tl. I, S. 341–396. Jürgen von Stackelberg: Das Bienengleichnis. Ein Beitrag zur Geschichte der literarischen Imitatio. In: Romanische Forschungen 68 (1956), S. 271–293; Peter K. Kapitza: Dichtung als Bienenwerk. Traditionelle Bildlichkeit in der Imitatio-Lehre. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 9 (1974), S. 79–101. Conrad Wiedemann: Vorspiel der Anthologie. Konstruktivistische, repräsentative und anthologische Sammelformen in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Die deutschsprachige Anthologie. Hg. v. Joachim Bark u. Dietger Pforte. Bd. 2: Studien zu ihrer Geschichte und Wirkungsform. Frankfurt/M. 1969, S. 1–47, hier S. 8. Ferdinand van Ingen definiert diese Textgruppe als »lexikonartige Sammlungen poeti-

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sind, wird man dagegen von »oratorischen Trödel-Buden« (Kempe), von ihren Autoren als »Realien-Crämer[n]« (Hallbauer) sprechen.90 Sie konstitutieren, auch hier dem Internet vergleichbar, einen zunehmend anonymen, autor- und referenzlosen Fundus aus Segmenten, Spolien, disiecta membra unterschiedlicher Ausdehnung. Die notwendige materiale Ergänzung zu Harsdörffers imitatio-Theorie stellt daher jene fast vierhundert Seiten starke Appendix zum dritten Teil des Trichters dar,91 die unter dem Titel der Poetischen Beschreibungen / verblümten Reden und Kunstzierlichen Ausbildungen nicht nur alphabetisch sortierte und vorgereimte Spolien zur poetischen Weiterverarbeitung anbietet, sondern nebenbei auch – was eigens zu untersuchen wäre – »ebenso viele Kapitel zu Harsdörffers Weltverständnis«.92 Es handelt sich hier um das erste volkssprachige Modell einer ›poetischen Schatzkammer‹ in Deutschland; sie versammelt vor allem jene Elemente der elocutio, die im Nachahmungskapitel eingefordert worden waren, so z. B. die »eigentlichen Beschreibungen« oder »die nachsinnigen Beywörter (epitheta)«.93 Harsdörffers alphabetisches Verzeichnis ist ein Wörterbuch der poetischen Sprache, das sich aus der Lexikographie, eigener Dichterlektüre und -exzerpten sowie enzyklopädischen Traditionen aller Art, vor allem aber aus der Emblematik speist. In der Praxis kann man davon ausgehen, daß Harsdörffer auch hier, wie Berns betont hat, mit ›Zettelkästen‹ – deren Anlage er in den Erquickstunden beschreibt – gearbeitet hat, »in die er nach thematischen Kriterien in alphabetischer Ordnung Exzerpte aus Büchern einspeiste«.94 Dieses Verfahren erklärt sowohl die kombinatorische Mehrfachverwendung einzelner Textbausteine, wie sie für Harsdörffers Werk so konstitutiv ist, wie auch die Offenheit der einzelnen Lemmata. Mit der Appendix des Poetischen Trichters liegt ein solcher poetischer ›Zettelkasten‹ im Ansatz vor. Man hat für die Textgruppe der »Poetischen Schatzkammern« von »Schwundund Restformen des Zitats«, ja von einer »›schwachen‹ Form von Intertextualität«95

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scher Bildmuster, Sentenzen oder Redensarten in teils alphabetischer, teils systematischer Anordnung« (Ferdinand van Ingen: Strukturierte Intertextualität. Poetische Schatzkammern und Verwandtes. In: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolfgang Neuber. Frankfurt/M. u. a. 1994, S. 279–308, hier S. 281). Den Aspekt der »Materialität der Kommunikation« arbeitet Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001, S. 235–244, heraus. Nach Stöckmann (wie Anm. 89), S. 241. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 114–504. Böttcher (wie Anm. 45), S. 315. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 59), Tl. III, S. 53. Jörg Jochen Berns: Harsdörffers Technikandacht. Zum Zusammenhang von Naturwissenschaft, Erbauung und Poesie in den Sonntagsandachten und Erquickstunden. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 22–38, hier S. 22. van Ingen (wie Anm. 89), S. 298.

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gesprochen, die gerade nicht mehr ein Geschehen zwischen Texten darstellt, sondern einen Vorgang des ›Herunterladens‹ aus einem Traditionsbestand, in dem Altes und Neues, Fernes und Nahes unterschieds- und hierarchielos, jedenfalls dekontextualisiert verfügbar und fungibel gehalten wird. Statt (klassizistische) Selektion (polyhistorische) Akkumulation. Die einzelnen Lemmata lassen sich dabei kaum einheitlichen Auswahl- und Gestaltungskriterien subsumieren, sie formieren keine ›Gattung‹. Die Einheit des Lexikons ist keine phänomenologische, sondern – vergleichbar dem Wörterbuch – eine funktionale, anwendungsbezogene, sofern alle Lemmata dem einen Ziel dienen, produktionsseitig die elocutio poetica zu befördern. Dies gilt gleichermaßen für Konkreta (Tiere, Pflanzen, Kleidung, Dinge aller Art) wie Abstrakta (Liebe, Mäßigkeit, Rache) bis hin zu bloßen Konjunktionen (»Aber«); die Artikel sind daher allesamt mehr oder weniger offen und amplifikabel angelegt, schließen des öfteren mit einem vielsagenden »usw.« oder »etc.«. Die alphabetische Ordnung des Wörterbuchs stellt angesichts des disparaten und desperaten, durch topische Kriterien nicht mehr zu erfassenden Bestandes die einzige sinnvolle Struktur dar. Immerhin: Kritisch wird Harsdörffers furioses Exzerpieren von Zeitgenossen wie Sigmund von Birken beobachtet: In einem Brief charakterisiert er den inzwischen verstorbenen Weggefährten, indem er ihn unter Anspielung auf seinen Gesellschaftsnamen gegenüber dem großen Philologen Schottelius (›der Suchende‹) absetzt. Dort heißt es: Er »war kein Suchender, der ihm hätte mögen Zeit nehmen, Zum Grund zu räumen, sondern ein Spielender, der nur darüber hingefahren, in superficie geblieben u. dem centro ni genahert«.96 Wie dem auch sei: Harsdörffers Verfahren hat hohen Symptomwert für die zeitgenössische Wissenskultur und -pragmatik. Innerhalb der imitatio-Lehre ist hier ein Endpunkt erreicht, an dem die im Bienengleichnis geforderte ›Blüten-Lese‹ konkreter Einzelautoren und -texte durch Hypertrophie von Tradition in den Aufbau poetischer Anthologien und Florilegien einmündet. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Herbert Jaumann hat gezeigt, wie die Strukturkrise eines unüberschaubar gewordenen Wissens zuerst in Frankreich im 17. Jahrhundert zu einer »Verzeitlichung des Gegenstandsbezugs«97 im Umgang mit Literatur, d. h. zur Ausbildung einer modernen Literaturkritik geführt hat. Der Kritiker, in Harsdörffers Fall der Übersetzer, fungiert als publizistisches Medium und »Vermittler zwischen verschiedenen Mentalitäten«, der Divergenzen in Rezeptionsvoraussetzungen auszugleichen hat.98 Harsdörffers

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Böttcher (wie Anm. 45), S. 300. Böttcher (wie Anm. 45). Herbert Jaumann: Die Kommunikation findet in den Büchern statt. Zu Harsdörffers Literaturprogramm. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 163–179, hier S. 168; in größerem Rahmen ders.: Critica. Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden u. a. 1995.

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Werk, insbesondere seine Gesprächspiele partizipieren bereits an dieser Tendenz, auf den »Druck der Aktualität« zeitnah zu reagieren. Sie vollziehen jene epochale Bewegung »von der Ordnungsarbeit der Polyhistorie zur Synchronie der Vernunft und ihrer nicht von der Autorität des Textes abhängigen Urteilspraxis« nach.99 Bei Harsdörffer treffen damit zwei widersprüchliche Medien und Modelle der Wissensverarbeitung aufeinander: das statische der Enzyklopädie (der »Buntschriftstellerei«, des »Gellianismus« usw.)100 und das dynamische der Literarkritik, später: der moralisch-literarischen Wochenschriften. Insofern haben wir es nicht nur im Fall der Gesprächspiele sondern in Harsdörffers Werk insgesamt mit einem epistemischem Grenzfall zu tun, bei dem eine Spannung zwischen Tradition und Innovation, Expansion der Lektüre und Exzerpt als Lektüre besteht. Nachahmung ist bei Harsdörffer nicht mehr einfach »Schreibbefehl«,101 sondern Sammelauftrag polyhistorischen Ausmaßes. Sie beschränkt sich nicht mehr auf poetologisch-rhetorische Textbeziehungen, sondern codiert umfassend epistemische Prozesse der Wissensakquise und -verwertung, der Be- und Verarbeitung von vertexteten Traditionen. Faute de mieux versucht Harsdörffer, sein gesamtes enzyklopädisches Vermittlungswerk im Horizont der traditionellen imitatio-Theorie (Malervergleich, Bienengleichnis, Abstufung der Abhängigkeitsgrade etc.) einzukreisen. Daß deren Begriffsinstrumentarium wenig geeignet ist, die komplexen Prämissen und Prozeduren des eigenen Bearbeitungs- und Übersetzungswerks deskriptiv zu erfassen, dürfte deutlich geworden sein. Das imitatio-Kapitel stellt dennoch den bemerkenswerten Versuch dar, mit Hilfe der alten Poetik eine neue Wissenspoetik festzuhalten. Im Zeichen der Anthologie als Wissensprinzip hat es im einzelnen wie als ganzes die Anmutung des »kulturvermittelnden Kompendiums«; es stellt »einen hochgradig aktiven literarischen Umschlagplatz« dar.102 – Es ist wohl kein reiner Zufall, daß diese Tauschbörse des Weltwissens ihren Sitz gerade in der blühenden Handelsmetropole Nürnberg aufgeschlagen hat.103

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Jaumann: Kommunikation (wie Anm. 98), S. 167. Jaumann: Kommunikation (wie Anm. 98), S. 174. Stöckmann (wie Anm. 89), S. 246. van Ingen (wie Anm. 89), S. 281 bzw. 297. Die Analogien zwischen literarischem und ökonomischem commercium, Schrift- und Warenverkehr wären eine weitere Fährte für eine kulturwissenschaftlich perspektivierte, Poetik und Ökonomie verbindende Harsdörffer-Forschung. Daß der Handel auch Gefahren für die Sprache und – übertragen – die eigene Identität bietet, macht eine Stelle aus Harsdörffers Lob und Prob Teutscher Wolredenheit deutlich: »auch wegen der Räisen / Handelschaft und Gemeinschaft der Völker / welche uns fremde Wahren bringen und zugleich fremde Wörter / darmit sie genennet werden / aufdringen« (zit. n. Die Pegnitzschäfer. Nürnberger Barockdichtung. Hg. v. Eberhard Mannack. Stuttgart 1988, S. 88f.).

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Literarische Imagination als ars combinatoria Zum Verhältnis von Bildpoetik, Fiktion und Epistemologie bei Harsdörffer

1. Imagination und literarisches Bild Harsdörffer hat sich wiederholt mit Fragen der poetischen Einbildungskraft befaßt, allerdings darauf verzichtet, den Begriff ausdrücklich zu nennen oder explizit zu bestimmen. Anstelle einer präzisen Definition bevorzugt er ein – für die Poetiken der Zeit generell typisches – Verfahren der Anspielung, das die Imagination nur implizit thematisiert.1 Ähnliches kann man schon in Julius Caesar Scaligers Poetices libri septem (1561), dem Haupt- und Grundtext der frühneuzeitlichen Dichtungstheorie, aber auch in Martin Opitz’ Buch von der Deutschen Poeterey (1624) beobachten, die beide den Terminus an keiner Stelle anführen.2 In der Vorrede zum ersten Teil des Poetischen Trichters (1648–1653), der der Technik und der Geschichte literarischen Schreibens gewidmet ist, betont Harsdörffer unter Rekurs auf einen seit der Antike gängigen Topos, zum Dichter gehöre neben Regelkenntnis auch »poetischer Geist«.3 Ausgezeichnet werde dieser Geist durch die Fähigkeit, sich etwas Abwesendes zu vergegenwärtigen: Der Poet handelt von allen und jeden Sachen / die ihm vorkommen / wie der Mahler alles / was er sihet / bildet ja auch / was er nie gesehen / als in seinem sinnreichen Gedancken: Deßwegen wird er auch ein Poet / oder Dichter genennet / daß er nemlich aus dem / was nichts ist / etwas machet; oder das / was bereit ist / wie es seyn könnte / kunstzierlich gestaltet […].4

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Hier wirkt die christliche Kritik der Imagination nach, wie sie seit dem 16. Jahrhundert gängig war; vgl. Volkhard Wels: Der Begriff der Dichtung vor und nach der Reformation. In: Melanchthons Wirkung in der europäischen Bildungsgeschichte. Hg. v. Günter Frank u. Sebastian Lalla. Ubstadt-Weiher 2007, S. 81–104. Julius Caesar Scaliger: Poetices libri septem (1561). Nachdruck hg. v. August Buck. Stuttgart u. a. 1964, Lib. III, cap. L (S. 127) (zum Bild, aber nicht zur Imagination); Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hg. v. Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 16ff. (zu Inspiration und Gelehrsamkeit als Fermenten der Poesie, jedoch nicht zur Einbildungskraft). Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. I, Vorrede, Bl. 4r. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. I, S. 3f.

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Die Leistung der Imagination, die hier implizit bezeichnet wird, beruht darin, daß sie Bilder in die vorgegebenen Formen von Stilen und Genera überführt. Die imaginatio unterstützt auf diese Weise die inventio, indem sie ihre Modelle möglicher Wirklichkeiten in den Formen der poetischen Sprache kommuniziert. Einbildungskraft und Inventionsgabe schaffen jedoch, wie Harsdörffer unter Rückgriff auf den seit der Antike gängigen (in unterschiedlichen Deutungen tradierten) Inspirationstopos bemerkt, nur dann neue Welten, wenn sie durch den nötigen Enthusiasmus unterstützt werden. Die Literatur, die »ohne Sinnreiche Gedancken / ohne Verstandreiche Erfindungen / ohne Kunstreiche Ausbildungen / und ohne Wortreiche Vorstellungen« keine Wirkung entfalte, bedürfe des furor poeticus, der erst den Akt des Fingierens ermögliche.5 »Die Kunst«, so lautet das prinzipielle Credo, »ist sonder Behuff der Natur ohnmächtig […].«6 Der Begriff der Natur steht für die nicht regelgeleitete Seite der poetischen Produktion, für die Arbeit der Imagination, mit deren Hilfe jene ›wortreichen Vorstellungen‹ generiert werden, die ihrerseits die Parallelwelten der Poesie in den Formen der Gattungen erzeugen.7 Wer genauere Hinweise auf die Kardinalleistung der Imagination sucht, wird in Harsdörffers poetologischem Eröffnungskapitel nicht fündig.8 Hier begegnen uns Bestimmungen des Verhältnisses von Sprache und literarischer Invention, Überlegungen zur natura-ars-Relation, zur Mimesis (im für das 17. Jahrhundert typischen Doppelsinn als imitatio naturae und imitatio litterarum), Reflexionen über die poetische Wirkung (im Kontext eines spirituellen Erbauungskonzepts), vor allem aber ausgedehnte Ausführungen zu den Gattungen und zu den Strukturen des Reims. Was die Einbildungskraft für die Dichtkunst leisten kann, ergibt sich aus einem anderen, versteckten Zusammenhang. Es ist der Traum, dessen bilderproduzierende Tätigkeit bei Harsdörffer exakt so beschrieben wird, 5

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, Vorrede, Bl. 5v. Zur Inspiration Volkhard Wels: Begabte oder entrückte Dichter. Aristoteles 1455a 32–34 in den Kommentaren des 16. Jahrhunderts. In: Neulateinisches Jahrbuch 8 (2006), S. 293–312. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, Vorrede, Bl. 1r. Das Verfahren, das ich im folgenden praktiziere, hat Barbara Bauer als »supplementäre Hermeneutik« bezeichnet: Es gibt den Anspruch des Verstehens nicht auf, öffnet sich aber der Möglichkeit, daß auch im 17. Jahrhundert Texte nicht ›einsinnig‹ funktionieren, sondern durch komplexe und widerspruchsreiche Konditionierungen im Spannungsfeld von Normen und Abweichungen geprägt werden (Barbara Bauer: Naturverständnis und Subjektkonstitution aus der Perspektive der frühneuzeitlichen Rhetorik und Poetik. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, Bd. 1, S. 69–132, bes. S. 123). Auch die Einbildungskraft gehört damit zu jenen Elementen der Dichtkunst, die von den Poetiken des 17. Jahrhunderts nicht vermittelt wird. Vgl. dazu die erhellende Übersicht bei Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, Bd. 1, S. 33–68; ferner Volkhard Wels: Imaginatio oder Inventio. Das dichterische Schaffen und sein Gegenstand bei Puttenham, Sidney und Temple. In: Poetica 37 (2005), S. 65–91.

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daß seine Gemeinsamkeit mit der Imagination hervortritt. Im dritten Teil des Poetischen Trichters heißt es, der Traum schildere, »was wir zuvor gesehen / oder was uns sol geschehen«.9 Harsdörffers Formulierungen machen klar, daß Traum und Imagination für ihn analoge Medien der Vorstellungsproduktion sind. Beide führen abwesende Welten mit sinnlichen Mitteln vor, wobei sie sich nicht auf die Hilfe der äußeren Wahrnehmung, sondern auf die Organisationsleistung des Gedächtnisses stützen. Dieses hat den Charakter eines Speichers, der die Daten anliefert, die sich im Vorgang des Träumens oder der Einbildung neu ordnen und zusammenfügen. Die Imagination ist die intellektuelle Kraft, die Ähnlichkeiten zwischen den Erscheinungen wahrnehmbar macht; ihre bevorzugten stilistischen Mittel sind die Sprachbilder, denen Harsdörffer sein besonderes Augenmerk schenkt, weil sie mehr leisten, als nur sichtbare Natur zu beschreiben oder zu veranschaulichen. Ihre besondere Funktion liegt darin, die inneren Konkurrenzen, Sympathien, räumlichen Verwandtschaften und formalen Entsprechungen aufzuzeigen, die die Phänomene auf eine dem ersten Blick nicht zugängliche Weise miteinander verbinden. Die erkenntnistheoretische Aufgabe der Bildsprache liegt darin, daß sie die Ähnlichkeiten zur Anschauung bringt, die Gottes Schöpfung beherrschen. Michel Foucault hat bekanntlich darauf hingewiesen, daß die Frühe Neuzeit epistemische Ordnungen jenseits der Erfahrung in Räumen der Vorstellung und des Modelldenkens entwirft, um die geistige Realität der Analogie als Strukturgesetz der Natur unter Beweis zu stellen. Bilder fungieren in diesem epistemischen System als Zeichen für die spirituellen Bedeutungen, die den Dingen eingeschrieben sind. Die Verwandtschaft der kosmischen Elemente wird durch die übergreifende geistige Bedeutung gewährleistet, die ihrerseits Beziehungen zwischen den Erscheinungen schafft. Das Prinzip der Ähnlichkeiten trifft Foucault, wie zu erinnern ist, in den Ausprägungen der convenientia, der aemulatio, der Analogie und der Sympathie an, die er für die vier Grundmuster hält, in denen sich die epistemische Ordnung des 16. und (frühen) 17. Jahrhunderts organisiert.10 Überträgt man diese vier Muster auf die historisch relevanten Begriffe, die hinter ihnen stehen, so wird einleuchtend, was sie mit der Poetik gemein haben. Die convenientia korrespondiert der Topik, die aemulatio verweist auf das Prinzip des Wettstreits als Triebfeder auch dichterischer Arbeit, die Analogie gemahnt an das rhetorische Prinzip von aptum und decorum (in der Übereinstimmung von res und signa), die Sympathie bezeichnet die für die philosophia perennis maßgebliche Kraft der attractio, die nicht nur Erscheinungen, sondern auch Wörter und Sachen, Stimme und Materie, Körper und Geist verbindet.11 9 10

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 453. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Orig. u. d. T. Les mots et les choses, zuerst 1966). Übers. v. Ulrich Köppen. Frank furt/M. 1974, S. 46ff. Zum letzten Punkt vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Histori-

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Leander Scholz hat vor dem Hintergrund solcher Zusammenhänge zutreffend davon gesprochen, daß dem System der Ähnlichkeiten die »weltaufschließende Struktur der Sprache« zugrundeliege.12 Zum Medium der genannten epistemischen Muster wird auf dem Feld der Literatur, so lautet die These, die poetische Bildsprache, weil sie die Verknüpfungen zwischen den Erscheinungen in den hier bezeichneten Ordnungsverhältnissen wiedergibt. Die Strukturen der Bildsprache offenbaren die Prinzipien der frühneuzeitlichen Epistemologie im Rahmen der Beziehungen, die zwischen Zeichen und Sache herrschen. Weil das tropische Bild Verhältnisse topischer Nähe und spiritueller Verwandtschaft ebenso wie Relationen der Konkurrenz (Ironie) oder Sympathie (Metapher) darstellen kann, eignet es sich zur Vermittlungsinstanz, die den epistemischen Gesetzen der Ähnlichkeit Geltung verschafft. Wie eng diese Gesetze mit der Tropenlehre Harsdörffers verbunden bleiben, demonstriert der Poetische Trichter in seinem dritten und letzten Teil, der eine explizite Theorie des literarischen Bildes mit einer impliziten Theorie der Imagination zusammenführt, deren gemeinsames Drittes das Denken in Ähnlichkeiten im Sinne der Analyse Foucaults ist. Rhetorik, Poetik und Epistemologie konstituieren eine Einheit, die das besondere Merkmal der von Harsdörffer vorgelegten Systematik ausmacht.13 Die formale Darstellung der hier präsentierten Tropenlehre unterliegt bei Harsdörffer relativ eigenwilligen Strategien, die das Grundmuster der antiken Rhetorik keineswegs orthodox fortführen – wobei die Abweichungen nicht so sehr auf dem Gebiet der strukturellen als auf dem der terminologischen Ordnung liegen, die Harsdörffer im Zuge seiner sprachreformatorischen Bestrebungen ähnlich wie nach ihm auch Sigmund von Birken konsequent eindeutscht. Grob unterscheidet der Poetische Trichter »Gleichnisse« und »Bildereyen«, die das allgemeine System der literarischen Bildsprache begründen.14 Das »Gleichnis« repräsentiert den Oberbegriff für die tropischen Stilmittel innerhalb des Ordnungsschemas der rhetorischen Figuren, während die »Bildereyen« als literarisierte Gemälde unterschiedlicher genera zu fassen wären. Zunächst zum ersten Gebiet. Tropen sind laut Harsdörffer jene Figuren »welche die Rede zieren«; sie heißen im Poetischen Trichter »Deutungs=Änderungen«, weil sie einem

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sche Um risse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt/M. 1998, S. 49ff. Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen 2002, S. 26. Wenig ergiebig im Hinblick auf die epistemische Funktion der Bildsprache hier Barbara Becker-Cantarino: Ut pictura poesis? Zu Harsdörffers Theorie der Bildkunst. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 9–21. Vgl. auch Jean-Daniel Krebs: Georg Philipp Harsdörffer (1607–1658). Poétique et poésie. Bern u. a. 1983, S. 134ff. (zur Analogie). Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 53ff. u. 101ff.

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Gegenstand durch ein Bildzeichen eine andere Interpretation geben können.15 Sie greifen entweder auf einen bereits bestehenden inneren Zusammenhang der Erscheinungen zurück oder erzeugen ihn auf künstliche – willkürliche – Weise durch die Zuschreibung eines Bildes zu einer Sache; dem ersten Typus weist Harsdörffer die Synekdoche, dem zweiten die Metonymie zu.16 Neben diesen beiden Formen werden Ironie und Metapher als tropische Stilmittel genannt; als »Spottrede« operiert die Ironie mit dem Prinzip der Opposition von Zeichen und Bezeichnetem, während die Metapher sich als »Umsetzung« auf eine Gleichheit zwischen den Gliedern stützt, die sie in der virtuellen Kontiguität von Vorbild und Bild aufeinander bezieht.17 Nach dieser eher knappen Definition geht Harsdörffer zu seinem Schlüsselbegriff, dem des Gleichnisses über. Schon Quintilians Institutio oratoria widmet ihm bekanntermaßen eine sehr ausführliche Untersuchung, grenzt ihn jedoch deutlich von Metapher und Allegorie ab.18 Bei Harsdörffer taucht der Terminus der Allegorie explizit nicht auf; betrachtet man seine Definition des Gleichnisses, so erkennt man, daß es sich hier um die metaphora continua, die aus mehreren Gliedern fortgesponnene Metapher, mithin um die gängigste Form der Allegorie handelt (ihre zweite Variante, die prosopopoeia oder fictio personae wird nur im Kontext der Malerei erwähnt). Das Gleichnis, von dem Harsdörffer spricht, ist im genauen Sinne die Variante der allegoria permixta, die ihr Bezugsfeld offenlegt und damit erklärt, auf welchen Horizont sie verweist (von ihr wird die dunklere, implikative allegoria tota ohne Reflexion ihres Hintergrundes geschieden). Das Gleichnis erscheint als ›Königin‹ der tropischen Stilmittel, wie es hundert Jahre zuvor bereits der Aristoteles-Kommentar des Francesco Robortello formuliert hatte: »metaphora est, seu analogia regina«.19 Es bezeichnet einen intellektuellen Mechanismus, über den es heißt: Der Lehrbegierige Verstand hat zwey Mittel sich zuvergnügen: 1. in Erkantniß der Sachen selbsten / ohne Betrachtung / was derselben Eigenschaft / und Beschafenheit seye / wann sie mit andern vereinbaret wird. 2. Durch die Gegenhaltung gleichständiger Sachen / wann man vil auf einmahl anschauet / und solche gegeneinander hält / ihre Gleichheit und Ungleichheit betrachtet / und diese Erkäntniß vergnüget den Verstand so vielmehr / so viel weiter sie sich erstrecket / eine Sache vollständiger an das Liecht setzet / und gleichsam von einer Warheit in die andere leitet.20

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 56. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 56. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 56. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners 12 Bücher. Übers. u. hg. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1972–1975, Buch VIII, Kap. 6, § 7–11. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 57; Francesco Robortello: In librum Aristotelis de arte poetica explicationis (1548). Nachdruck hg. v. Bernhard Fabian. München 1968, S. 259. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 57.

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Das Gleichnis ermöglicht nicht nur die einfache ›Erkenntnis der Sachen‹, sondern vermittelt Einblicke in die Vernetzung der Erscheinungen, indem sie deren Entsprechungen und Differenzen sichtbar macht. Seine epistemische Funktion beschreibt Harsdörffer metaphorisch, wenn er formuliert, das Gleichnis sei »der Hebel oder Hebstangen / welche durch Kunstfügige Ein= und Anwendung aus dem Schlamm der Unwissenheit empor schwinget / was man sonder solche Geretschaft unbewegt muß erliegen lassen«.21 Das Gleichnis bietet dieser Bestimmung gemäß keine bloße Illustration eines ohnehin bestehenden Sachverhalts, sondern arbeitet als Werkzeug, das die Gemeinsamkeiten, die zwischen den Dingen liegen, ans Licht befördert. Im vierten Band der Frauenzimmer Gesprächspiele (1644) heißt es mit analoger Tendenz über die Erkenntnisfunktion des Emblems: »Die Sinnbildkunst ist wie ein Siegelgraber / der das Bild oder Wapen und den Namen unserer Einbildung fertiget; Der Verstand ist das zarte Wachs / in welches das Gedächtniß solches Siegel eindrucket.«22 Mit Quintilians Institutio oratoria unterscheidet Harsdörffer zwischen erklärenden und beweisenden Gleichnissen.23 Die erklärenden Gleichnisse müßten, so hören wir, »ein unbekante Sache / durch eine bekante vorstellig machen / wie etwann des Blinden Stab seine Schritte versichert.«24 Die beweisenden Metaphern stützen sich dagegen auf die Technik der Beispielführung; sie gehen induktiv vom exemplum aus, um mit seiner Hilfe eine allgemeine Hypothese zu demonstrieren.25 Summarisch erklärt Harsdörffer über diese epistemische Leistung, wiederum in der Form der tropischen Rede: »Die edle Poeterey gleichet einer reichlich geschmuckten Königin / welcher Thron über alle andre Wissenschaften hinauf gesetzet ist.«26 In diesem Bild scheint der Zusammenhang von Imagination und figurativer Rede auf, der für Harsdörffers Dichtungsverständnis konstitutiv ist. Zur Königin wird die Poesie durch die Hebammendienste der Gleichnissprache und deren zentrales Instrument, die Einbildungskraft. Opitz’ Diagnose, daß die Poesie »alle andere kuneste und wissenschafften« in sich enthalte, wird durch die intellektuelle Anlage des Gleichnisses, wie es Harsdörffer definiert, exemplarisch bestätigt.27 21 22

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 57. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. IV, S. 211 (jeweils nach neuer Paginierung). Quintilian (wie Anm. 18), Buch V, Kap. 11, § 22–24; Buch VIII, Kap. 3, § 73–75. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 58. Bei Quintilian heißt es, erklärende Gleichnisse sollten klar sein (»ipsum esse clarius eo, quod illuminat«), beweisende Gleichnisse die Reden schmücken (»genus ornat oratorium facitque sublimen, floridam, iucundam, mirabilem«) (Quintilian [wie Anm. 18], Buch VIII, Kap. 3, § 73 bzw. Buch VIII, Kap. 3, § 74). Harsdörffer unterscheidet nicht zwischen ›Fabel‹ und ›Gleichnis‹ (Poetischer Trichter [wie Anm. 3], Tl. III, S. 57ff.). Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 112. Opitz (wie Anm. 2), S. 17.

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Die zweite Gruppe, die der Trichter im Gebiet der erweiterten Tropik nennt, ist die Malerei, die Harsdörffer unter dem Oberbegriff der »Bildereyen« faßt.28 Die Vorlagen für die systematische Untersuchung sind Cesare Ripas Iconologia (1593) als anleitendes Handbuch der allegorisch-mythologischen Kunst und Jakob Masens Speculum imaginum (1650) als systematische Studie, die der Geschichte und den Strukturen der Sinnbildkunst gilt.29 Zur Quelle der Poesie kann die Malerei in sämtlichen Varianten werden, wobei Harsdörffer grundsätzlich zwei Typen unterscheidet, nämlich die Ausführung »im eigentlichen« und die Ausführung im »figürlichen Verstand«.30 Detaillierte Beachtung finden die figürlichen Bilder, wie sie primär die allegorische Malerei und die Emblematik liefern. Über diese Formen heißt es: »Sie bedeuten aber ein anders als sie vorstellen / und zwar Gleichniß= oder Erklärungsweis in den Sinnbildern / deßwegen also genennet / weil besagte Bilder einen verborgenen und nachdenklichen Sinn begreiffen.«31 Das Stichwort ›begreifen‹ erschließt eine doppelte Bedeutung, denn es meint einerseits das Subsumieren des Bildes unter einen sensus mysticus und andererseits das intellektuelle Konstruieren dieses Sinns durch die Findung des Bildes, das aufgrund geeigneter Eigenschaften dem zu bezeichnenden Abstraktum zugeordnet werden kann. ›Verborgen‹ ist der sensus mysticus seu allegoricus, weil er hinter den äußeren Eigenschaften der Dinge liegt; ›nachdenklich‹ ist er, weil seine Erschließung durch die Arbeit des Bildes einen kognitiven Erkenntnisprozeß freisetzt. Wieder haben wir es hier mit einem epistemischen Effekt der Imagination als konstruktivem Vermögen der Bilderproduktion zu tun. Gegen Foucault wäre dabei zu betonen, daß die Imagination noch kein Medium der Repräsentation ist, die im klassischen – cartesianischen – Zeitalter die Ähnlichkeit einzig als Bestandteil eines Abbildungsverhältnisses, mithin auf zweiter Stufe denkt. Bei Harsdörffer ermöglicht sie vielmehr das intellektuelle Abrufen von Analogiebeziehungen, die als Elemente der Natur ontologisch aufgefaßt werden müssen, da sie in den res angelegt, nicht aber durch die signa konstituiert sind.32 Die Imagination bringt die Ähnlichkeit ans Licht, wie sie in den Vernetzungen der Erscheinungen selbst begründet ist. Im Unterschied dazu wird der Cartesianismus das Ähnliche als Produkt logischer Setzungen betrachten und folgerichtig nur durch die Repräsentation realisiert finden; an die Stelle der Ontologie der Ähnlichkeit tritt dann ein epistemisches System, das den Konnex der Phänomene nachträglich erzeugt, indem sie ihn durch die Repräsentationsform der Sprachzeichen hervorbringt.

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 102. Cesare Ripa: Iconologia overo Descrittione Dell’ imagini Universali cavate dall’ Antichità et da altri luoghi. Rom 1593; Jakob Masen: Speculum imaginum veritatis occultae. Köln 1650. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 102. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 102f. Foucault (wie Anm. 10), S. 104ff.

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In den Poetischen Tafeln (1667) erklärt Georg Neumark, der als Generalsekretär der Fruchtbringenden Gesellschaft in Weimar mit Harsdörffer verbunden war, über den Konnex von Bild und Literatur: Die Bild=Kunst eignet ihr ein Himmelblaues Kleid zu / damit man aus dem eußerlichen Zeichen ihre innerliche Eigenschaft beurtheilen könne. Keine Farbe stehet ihr besser an als diese / weil sie ihrem ersten Ursprunge nach himmlisch ist und anfänglich zu dem Gottesdienste gebrauchet worden.33

Hier kann man die Trias von Imagination, Bildpoetik und Episteme der Ähnlichkeit vergleichbar exemplarisch studieren wie in Harsdörffers Trichter. Das Repertoire der tropischen Rede zieht den Dingen ein Kleid an, das es erlaubt, ihre inneren über äußere Qualitäten sichtbar zu machen. Das ist eine Leistung, die nur durch die Imagination ermöglicht wird; sie hebt die geheime Verbindung des Profanen mit dem Spirituellen hervor, welche die göttlich verbürgte Einheit der Schöpfung trägt – eine Einheit, die wiederum die Sprache der Poesie zu vergegenwärtigen vermag, indem sie ihre innere Ordnung abbildet. Die tropische Rede ist kein Mittel der kunstvollen Kombinatorik, sondern ein Zeichensystem mit mimetischer Qualität. Sie konstruiert die Beziehungen der Analogie nicht durch die signa, vielmehr erschließt sie den inneren Zusammenhang der Natur als besondere Qualität der res (was sie von der produzierenden Arbeit der Imagination im späteren System der cartesianischen Repräsentation unterscheidet). Den dritten Teil des Trichters beschließt ein poetisches Lexikon mit einer Auflistung bildhafter Paraphrasen zu 539 Stichwörtern von »Aal« bis »Zwilling«, dessen reicher Fundus Anregungen für Autoren bieten soll. Die Einzelbegriffe repräsentieren Lemmata, zu denen zumeist allegorisierende Umschreibungen treten, die das weite Feld eines zweiten, vorwiegend spirituellen Sinns aufhellen; die verschiedenen Aussagen dieser Umschreibungen werden am Ende des jeweiligen Abschnitts in einer abstrakten Interpretation nochmals zusammengefaßt. Harsdörffer bedient sich hier des Programms der Allegorese, das aus dem sensus litteralis einen sensus tropologicus (Moralistik), einen sensus allegoricus (Heilsgeschichte) und einen sensus anagogicus (Eschatologie) ableitet. Nicht immer sind sämtliche drei Versionen des sensus mysticus präsent, jedoch fällt auf, daß das Lexikon sich an der Grundstruktur der Allegorese orientiert. Ein exemplarisches Muster bietet der Artikel zum Stichwort »Taube«. Zunächst liefert er die bildhaften Paraphrasen, die äußere Eigenschaften sukzessive in metaphorische Zeichen überführen: Die schneeweiss / flüchtige / girrende / waffenlosse / furchtsame / friedsame / zage / feige [...] Taube deß Geyers Beut und Raub. Die lässt das Nest nicht leer. Die den

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Georg Neumark: Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst (1667). Nachdruck hg. v. Joachim Dyck. Frankfurt/M. 1971, S. 3.

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Venuswagen ziehen. Ihr Hals glänzt mit edlen Steinen / die voller bunten Farben scheinen.34

Die exegetische conclusio zieht diese Reihung von äußeren und inneren Merkmalen zu einer Interpretation zusammen, deren vier Sinnstufen den hierarchisierenden Zuschreibungen der allegorischen Hermeneutik entsprechen: »Die Tauben bedeuten die Einfalt / neue Liebe / Friedfertigkeit und Frommigkeit.«35 Die vier Leitbegriffe lassen sich den vier Ebenen des sensus mysticus, dem profanen, moralischen, ekklesiologisch-heilsgeschichtlichen und eschatologischen Sinn zurechnen. Die Poetik des Bildes zielt nicht auf eine Technik der Illustration, sondern auf ein Verfahren, das den vorgegebenen geistigen Hintergrund der Erscheinung zu Gesicht kommen läßt; darin liegt seine epistemische Funktion, die ihrerseits durch die imaginatio als Medium der Verknüpfung gestützt wird. Das Modell, dem die poetische Bildsprache verpflichtet ist, repräsentiert die Heilige Schrift. Dem Verhältnis zwischen buchstäblichem Sinn und allegorischem Zweitsinn entspricht die typologische (figurale) Beziehung von Andeutung und Erfüllung, wie sie das Alte und das Neue Testament ausbilden. Dazu heißt es: Betrachtet man die Vorbilder des Alten Testaments / und hält sie gegen die Erfüllung des Neuen Testaments / so wird erhellen / daß das Alte / so auf Christum abgesehen / nachdenklich erfüllet worden / und daß nicht nur die Wort / sondern auch die Geschichte geistliche Geheimnissen ausgebildet […].36

Aus dem Verhältnis zwischen Andeutung und Erfüllung leitet sich die Lizenz des poetischen Schreibens ab, das die Relation von sichtbarem Zeichen und unsichtbarem Sinn reproduziert, die für die Allegorese verbindlich ist. Die spirituelle Legitimation des literarischen Textes führt bei Harsdörffer keineswegs zur Selbstbeschränkung der Literatur und zur alleinigen Konzentration auf einen Erbauungsauftrag. Die Sprache der Bilder ist vielmehr das Objekt einer ars combinatoria, die im Spiel den geistlichen Ernst dekonstruiert, der ihre auf Analogiedenken gründende Arbeitsbasis schafft.37 Die Bilderschätze, mit denen das gleichermaßen spielerisch und spirituell disponierte allegorische Verfahren operiert, liefert die Imagination. Sie ist für Harsdörffer ein Vermögen, das gezielt auf die Leistungen des Gedächtnisses und dessen speichernde Archivfunktionen zurückgreift. Das Bild muß abrufbar sein, damit es gesteuert eingesetzt werden kann. Der literarische mundus symbolicus, den der Anhang des Poetischen Trichters bietet, dient dem Zweck, das Arsenal 34 35 36 37

Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 447. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 448. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 108. Diesen Punkt vernachlässigt Jörg-Ulrich Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter als Poetik geistlicher Dichtung. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 143–162.

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der memoria zu füllen. An das hier gesammelte Material soll sich der Autor bei Bedarf erinnern, um es über das Gedächtnis zu aktivieren und in seinen Text einzufügen. Die enge Verbindung von memoria und imaginatio entspricht der für die humanistische Medizin verbindlichen – ursprünglich von Galen entwickelten – Ventrikellehre, derzufolge die Einbildungskraft als Vermögen zwischen dem sensus communis und dem Gedächtnis angesiedelt ist. Während der sensus communis die von den fünf Sinnesorganen erfaßten Erfahrungsdaten lediglich aufnimmt, ergänzt sie die imaginatio durch Material, das aus dem hinteren Speichermagazin der Erinnerung stammt. Dieses topische Modell der zeitgenössischen Hirnforschung findet man in John Peckhams Speculum animae (1504), Melanchthons Seelenlehre (Liber de anima, 1553), Paulus Scalichius’ Encyclopaedia (1559), Cosimo Rosellis Thesaurus Artificiosa Memoriae (1579) und Juan Huartes Examen de ingenios para las sciencias (1575). Der in der Medizin verbreiteten Auffassung von der räumlichen Rückbindung der Imagination korrespondiert die Theorie der Bildpoetik, die Harsdörffer entwickelt. Die vom Gedächtnis gestützte Imagination produziert vorstrukturierte Bilder, die ihrerseits die innere Verbindung der Erscheinungen und deren gemeinsame spirituelle Ordnung sichtbar machen. Auch auf der Ebene der formalen Ablauflogik ist die Poetik des Bildes folglich an die zeitgenössische Epistemologie gebunden, weil sie die topische Ordnung des Gehirns reflektiert, die durch die im 17. Jahrhundert noch geltende Ventrikellehre begründet wird.

2. Imagination und Episteme Einen zentralen Bereich, in dem sich die Macht der Imagination als Betriebsstoff des von Harsdörffer vertretenen Denkens in Ähnlichkeiten offenbart, bildet das bereits in den Gesprächspielen berührte Gebiet des wissenschaftlichen Diskurses.38 Harsdörffer war ein uomo universale oder – mit dem für die Hofkultur des Humanismus einschlägigeren Begriff – ein uomo perfetto, der das Wissen der Zeit in vielfältiger Weise verarbeitete. Zwischen 1623 und 1626 hatte er Rechtswissenschaft, Philosophie, Geschichte, Philologie und Mathematik in Altdorf und Straßburg studiert (das 1634 angetretene Amt bei der Stadt Nürnberg verlangte ihm dann primär juristische Kenntnisse ab). Dieser Fächerkanon, ergänzt um einen auf ausgedehnten Reisen nach England, Italien und in die Niederlande ausgebildeten europäischen Erfahrungshorizont, schafft Harsdörffer die Mög38

Angesichts der hier sichtbaren Einheit scheint es mir unangemessen, die »enzyklopädische Seite des Unternehmens« gegen die Ebene des Spiels abzugrenzen (Herbert Jaumann: Die Kommunikation findet in den Büchern statt. Zu Harsdörffers Literaturprogramm. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 163–179, hier S. 175f.).

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lichkeit, an zahlreichen Wissensdiskursen der Zeit aktiv teilzunehmen. Nicht nur in den Gesprächspielen oder der Ars Apophthegmatica, sondern auch in stärker fachspezifischen Abhandlungen hat er das eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Die äußere Form seiner gelehrten Studien zeigt, daß es Harsdörffer auf diesem Terrain gleichfalls um eine spielerische Vermittlung des Wissens geht. Die wissenschaftliche Diskussion theoretischer Erklärungsmuster bleibt gebunden an den Einsatz genuin literarischer Stilmittel, der wiederum ein signifikantes Licht auf das epistemische Selbstverständnis wirft, das hier vertreten wird. Ein Muster für das offene Denken in Modellen und Hypothesen, das bereits die Gesprächspiele bestimmte, liefern die Delitiae Mathematicae et Physicae, die Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden, die Harsdörffer 1636, 1651 und 1653 in drei Folgen herausgibt. Die Konzeption der nicht nur für gelehrte Leser verfaßten Bände geht auf Harsdörffers mathematischen Lehrer Daniel Schwenter zurück, der im selben Jahr starb, in dem der erste Teil erschien. Zu den Gegenständen der Erquickstunden, die logische und naturwissenschaftliche Probleme auf anschauliche Weise – »mit einem Gelächter« – erörtern und lösen möchten, gehören Fragen der Arithmetik und Geometrie, der Mechanik, Akustik und Optik, der Metereologie und Astronomie.39 Zu einem Leitmotiv der Darstellung wird Harsdörffers Überzeugung, daß die wissenschaftliche Erkenntnis notwendig von der Arbeit der Imagination zu stützen sei. Jegliches Wissen bleibt für ihn hypothetisch, insofern es keine Wahrheiten enthüllt, sondern nur Denkmodelle mit je eingeschränkt gültiger Erklärungskraft gebiert. Die Ursache für diesen erkenntnistheoretischen Relativismus liegt in Harsdörffers Orthodoxie begründet, die zur Einsicht verpflichtet, daß allein Gott absolute Wahrheit für sich reklamieren darf. Angesichts dessen reduziert sich jeder Streit über die Evidenz von Theorien auf eine Frage des Standpunkts; das Gewußte ist immer nur ein Modell, das eine Form bildet, in der Mutmaßungen zur Anschauung gebracht werden können. »Was wir wissen«, so heißt es in der Vorrede zum dritten Teil, »das lernen wir aus den Afterursachen kennen / und solche sind vielen Änderungen unterworffen.«40 Nach diesem Erkenntniskonzept existieren keine unumstößlichen Wahrheiten, die in unveränderlichen Ursachen aufzufinden wären, sondern nur variable Möglichkeiten einer Einsicht, die von den ›Änderungen‹ bestimmt bleiben, denen unser Blick auf die Natur unterliegt. Typisch für diese Position ist Harsdörffers Diskussion der kopernikanischen Himmelslehre, die auf das Problem der Perspektive astronomischer Theorien zurückgeführt wird. Der epistemische Relativismus findet sich in bezeichnender

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Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, Vorrede. Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil (1653). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, S. 15.

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Weise durch ein Gleichnis illustriert, das wiederum verdeutlicht, wie eng wissenschaftliche Reflexion und literarische Form bei Harsdörffer korrespondieren: Als ich auf eine Zeit von einer hohen Person befraget würde / wie es doch seyn könte / daß diejenigen / welche der Sonnen Lauff berechnen / und die Erde für ohnbeweglich halten / mit denjenigen / welche der Sonnen Ruhe mit Copernico behaubten / sogenau zusammentreffen / und die Sonnen und MondFinsternissen auf eine Zeit benennen? Hierüber / sagte ich / ist nicht zu wundern / dann es gleich viel / ob ich den Finger umb dieses unbwegte Trinkglas herumbdrehe; oder / daß ich den Finger still halte / und drehe das Glas herumb.41

Einerseits müssen sich, so erklärt Harsdörffer, astronomische Lehrmeinungen auf möglichst präzise Berechnungen stützen, die Priorität gegenüber den Eindrücken der Sinneswahrnehmung besitzen, andererseits gilt es, den Raum der reinen Hypothesenbildung zu überschreiten und die Verfahrensweisen der empirischen Beobachtung durch technische Instrumente zu verbessern.42 Im Hinblick auf die Ausstattung der optischen Geräte, die die Arbeit des Astronomen unterstützen, heißt es: Obwol nun scheinet / daß die Betrachtung der himmlischen Liechter / ohne Gewißheit vorzustellen / wegen der Entfernung / und deß dazwischen schwebenden Lufftes / der bald heiter / bald trüb ist / und die Durchstralung zu verändern pfleget; so haben doch die Sterngläser / oder asterischen Tubi uns den Himmel gleichsam auf die Erden geneiget / daß solcher Kunste Meister [...] billich hoch zu halten / und zu ehren sind.43

Das alte ptolemäische System, das von einer gestuften Hierarchie der Himmelsebenen ausgeht, verträgt sich offenbar vorzüglich mit derartigen Einsichten in die Notwendigkeit einer empirischen Absicherung astronomischer Forschung. Prämisse dieser eklektizistischen Annäherung an neue Methoden bleibt die Abschirmung der theozentrischen Weltsicht gegen die Expansionsansprüche der kopernikanischen Astronomie, deren Lehren nur erörtert werden dürfen, wenn sie sich von metaphysischen Fragen fernhalten und mit der Beschränkung auf die Rolle eines theoretischen Modells jenseits des Strebens nach absoluter Wahrheit vorlieb nehmen.44 41 42

43 44

Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae (wie Anm. 40), S. 308. Harsdörffer, der in den Frauenzimmer Gesprächspielen (wie Anm. 22) des öfteren Francis Bacon, den Begründer des englischen Empirismus, zustimmend zitiert (Tl. II, S. 56; Tl. VII, S. 260ff.), bekundet hier ein auffälliges Interesse an Fragen der praktischen Naturerkenntnis, das für das 17. Jahrhundert keineswegs typisch ist. Näheres zu Harsdörffers Bacon-Rezeption bei Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthuma nismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 386f. Vgl. auch den Beitrag von Berthold Heinecke in diesem Band. Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae (wie Anm. 40), S. 296. Zu Harsdörffers Eklektizismus Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit.

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Auch für die Astronomie erfüllt die Imagination eine bilderproduzierende Funktion, insofern sie die Struktur des Wissens in Modellen anschaulich macht. Geo- und heliozentrische Ordnung besitzen innerhalb dieses Verfahrens primär hypothetischen Zuschnitt. Ähnlich wie im Spiel existiert im System der Naturforschung keine eindeutige Wahrheit, weil deren absoluter Charakter von der begrenzten menschlichen Erkenntnis niemals erschlossen wird; es geht folglich nicht um die Erfassung eines unbedingten Einheitsgrundes, auf den die Phänomene zurückgeführt werden können, sondern um die Kohärenz in der Vielfalt. Das Spiel bestimmt die Regeln des Diskurses, indem es gegensätzliche Theorien verknüpft und in ihrer Konkurrenzbeziehung als gleichberechtigt ausweist. Naturerkenntnis offenbart sich so als Wettstreit von Hypothesen, denen nur relative Bedeutung zufällt. Da die zwei unterschiedlichen Modelle der Astronomie lediglich als Fiktion der exklusiven Wahrheit betrachtet werden können, ist es für Harsdörffer sinnlos, sie auf ihre absolute Evidenz zu befragen. Im zweiten Teil der Delitiae Mathematicae et Physicae heißt es zu diesem Punkt bilanzierend, daß »die unterschiedlichen widerigen Meinungen der Schwachheit menschliches Verstandes beyzumessen / und daß sie durch soviel zweiffelursachen irrig gmachet / bekennen müssen, sie wissen keine Gewißheit«.45 Die Differenz der Urteile und Hypothesen findet ihren Grund in den unterschiedlichen Begabungen, die Gott den Menschen verliehen hat. In der vielschichtigen Struktur der individuellen Erkenntnis spiegelt sich die Pluralität der Naturerscheinungen und die Polyvalenz ihrer Ursachen: Die Engel / welche sehr vollkommene Geister / sind nicht in gleicher Ordnung / und hat Gott auch seine Gaben unter die Menschen gantz ungleich ausgetheilet / und dem / den er wenig gegeben / der kann nicht so viel mitwuchern / als der / dem er aus Gnaden mehr anvertrauet hat […].46

Wenn sich in der je spezifischen Defizienz unseres Wissens die Vielfalt der mit unterschiedlichen Qualitäten ausgestatteten, nur in ihrer Gesamtheit perfekten Natur spiegelt, dann kann der gelehrte Diskurs nicht nach unerschütterlichen Wahrheiten fahnden, sondern allein die Pluralität der Urteile dokumentieren. Entscheidende Bedeutung gewinnt vor diesem Hintergrund die Form, in der Wissen reflektiert und prozessiert wird. Die Ars Apophthegmatica erläutert grundsätzlich, daß das Wissen »schwer aufzuladen und leicht zu tragen« sei.47 Die ›Leichtigkeit‹, von der hier die Rede ist, entsteht auch durch den Verzicht auf eine Hierarchie der Methoden und Erkenntnisziele. Weil jegliches Wissen

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Bd.4/1: Barock-Humanismus: Krisen-Dichtung. Tübingen 2006, S. 325f. Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae (wie Anm. 39), S. 289. Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae (wie Anm. 40), S. 14. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden (1655–1656). Nachdruck hg. v. Georg Braungart. Frankfurt/M. 1990, Tl. I, S. 346, Nr. 1633.

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Peter-André Alt

gleichermaßen viel wert ist, bedarf es keiner Abstufung. Anstelle einer systematischen Distinktion, die ihrerseits die selektive Urteilsbildung beförderte, weitet sich das epistemische Feld in der horizontalen Ebene aus. Wissen repräsentiert einen Gegenstand permanenter Hybridisierung und Supplementierung; die einzige epistemische Funktion, die ihm Form verleiht, ist die kombinatorische Assoziation seiner Bestandteile. Diese Organisation des Wissens korrespondiert der Technik des Spiels, insofern sie Verknüpfungs- und Brückenleistungen erbringt, wie sie bereits von der vermittlungsbezogenen Dialogkultur der Renaissance ermöglicht werden. Das Spiel verweist aber auch auf die Ordnung der Natur, die Harsdörffer in seinen Gesprächsfiktionen als Modell für die Aktivitäten der freien Verstandesarbeit gepriesen hatte.48 Das Modell des Spiels tritt damit als gleichermaßen imitierende und formierende Instanz auf, die es erlaubt, Verknüpfungen zwischen Erscheinungen oder Erklärungsmodellen vorzunehmen, ohne damit unbedingte Wahrheitsansprüche und Hierarchisierungen zu verbinden. Die in der Programmatik der Metapher sichtbar werdende Ausrichtung am Prinzip der Kombination trägt zentrale Bedeutung auch für das Feld der Naturerkenntnis. Die causa finalis für das methodische Verfahren, das Harsdörffer praktiziert, ist weder die innere aemulatio der Erscheinungen noch ihre Analogie oder deren Koexistenz im Raum. Vielmehr fällt es dem Spiel zu, ihre Verbindung in einem Akt gedächtnisgestützter Assoziation aufzubauen und als Resultat der ars combinatoria zu behaupten.49 Bestimmend für die Legitimation dieses Vorgehens ist kein rationales Prinzip – Analogie oder Kausalität –, sondern die Annahme, daß die jeweiligen Denkmodelle gleichermaßen hypothetisch und damit auch imaginär sind. Die Erkenntnismethodik Harsdörffers entwickelt sich in Entsprechung zu den Leistungen der Einbildungskraft über eine Perspektive, die jener von Metapher und Gleichnis im literarischen Text korrespondiert. Die szientifische Hypothese ist wie das Gleichnis mit den bereits zitierten Worten des Poetischen Trichters der »Hebel oder die Hebstangen | welche durch Kunstfügige Ein= und Anwendung aus dem Schlamm der Unwissenheit empor schwinget / was man sonder solche Geretschaft unbewegt muss erliegen lassen.«50 Dieses Verfahren schließt

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 22), Tl. IV, S. 511. Vgl. zu Harsdörffers Spielbegriff auch Peter-André Alt: Sexus ludens. Androgynie als Spiel der Rhetorik und des Theaters in den Dramen Daniel Caspers von Lohenstein. In: Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Hg. v. Thomas Anz u. Heinrich Kaulen. Berlin u. a. 2009, S. 231–254, bes. S. 234ff. Dazu bereits Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 33; ferner Rosmarie Zeller: Spiel und Konversation im Barock. Untersuchungen zu Harsdörffers Gesprächspielen. Berlin u. a. 1974, S. 18f. u. 159ff. Grundlegend Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Eine Modellgeschichte humanistischer und barocker Wissenschaft. Hamburg 1983, bes. S. 156ff. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 57.

Literarische Imagination als ars combinatoria

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ein, daß es nicht um selektive Urteile, sondern um Sammlung und Erweiterung, um Querbeziehungen und Kombinatorik geht. Mit der literarischen Imaginationsleistung des auf Ähnlichkeiten abzielenden Gleichnisses teilt Harsdörffers Wissenskonzept die Tendenz zur Produktion von horizontalen Verbindungen, die Fülle, nicht Substanz erzeugen sollen. Man kann Harsdörffers Verfahren mit Foucault als Indiz für eine Transformation des Denkens in Ähnlichkeiten deuten, dessen Elemente am Ende der Epoche nur noch als Spielfiguren auftreten, ohne daß eine feste Struktur existiert, die ihnen heuristische Zwecke im System der Erkenntnis zuschreibt. Wesentlich, so Foucault, sei in diesem Stadium nicht mehr die epistemische Ordnung, sondern der Effekt der Illusion, der aus dem Prinzip der Ähnlichkeit hervorgehe. Eine Schlüsselkategorie für diesen Prozeß bildet in Les mots et les choses der Terminus des Spiels, der die strukturierenden Leitfunktionen des älteren Systems verdrängt: Das Zeitalter des Ähnlichen ist im Begriff, sich abzuschließen. Hinter sich läßt es nur Spiele, deren Zauberkräfte um jene neue Verwandtschaft der Ähnlichkeit und der Illusion wachsen. Überall zeichnen sich die Gespinste der Ähnlichkeit ab, aber man weiß, daß es Chimären sind. [...] Es ist die Zeit der Sinnestäuschungen, die Zeit, in der die Metaphern, die Vergleiche und die Allegorien den poetischen Raum der Sprache definieren.51

Foucault macht die hier beschriebene Dynamik des Spiels, die er als Treibsatz einer »gemischten und regellosen Erkenntnis« deutet, an der französischen Situation des frühen 17. Jahrhunderts fest.52 In Deutschland markiert dagegen die Periode zwischen 1650 und 1680 mit Autoren wie Hoffmannswaldau, Lohenstein und Kuhlmann den Höhepunkt solcher Prozesse der selbstreferentiellen Sprache des ingenium ludens. Harsdörffer gehört fraglos zu den frühesten Vertretern einer Diskurskonstellation, in der die Ähnlichkeit zum Objekt des Spiels gerät. Indem er die epistemische Ordnung der Ähnlichkeit für die Poesie produktiv macht, sprengt er ihren beschränkteren Rahmen und ersetzt die inneren Prinzipien der Gliederung durch eine Technik der ständig wechselnden Verknüpfung. Das Besondere dieser Struktur liegt darin, daß jedes Wort als Erklärendes und zu Erklärendes fungiert, Metapher und Begriff nicht geschieden sind und die Serie der möglichen Kombinationen unterschiedlicher Termini bzw. Bilder unbeendbar zu sein scheint. Das Lexikon des Poetischen Trichters mit seinen über fünfhundert Stichwörtern und die über sechstausend Lemmata der Ars Apophthegmatica demonstrieren die emergierende Tendenz der Harsdörfferschen Poetik des Ähnlichen hinreichend.

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Foucault (wie Anm. 10), S. 84f. Foucault (wie Anm. 10), S. 84.

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Harsdörffers Imaginationspraxis dokumentiert, daß das Wissen der Analogien, des Wettstreits, der Sympathie und der Filiationen in der Mitte des 17. Jahrhunderts zum Material für die literarische Erfindung geraten ist. Am Ende wird es die Abundanz dieses Materials sein, die den Wunsch nach der genauen Analyse der Ursachen für Ähnlichkeiten und die Bemühung um eine präzise Erkenntnis der äußeren Qualitäten der Erscheinungen aufkommen läßt. Die neue Methodik des Cartesianismus antwortet auf die Fülle der Verweisungen, die in der von Harsdörffer exemplarisch vertretenen Imaginationskultur der barocken Episteme erscheint. Seine rationalistische Zergliederungskunst ist als Beitrag zu einer Purifizierung zu verstehen, die das Denken in Bildern in Frage stellt, weil es keine Grenzen mehr zuläßt. Mit dem Einzug des Rationalismus in die Poetik ist das Regiment der Dichtung als Königin der Wissenschaften beendet, und mit ihm werden auch die Tropen als ihre Höflinge aus dem Reich der Erkenntnis vertrieben.53 Für Harsdörffer aber existiert noch die Einheit von Denken und Poesie, Episteme und Imagination, Wissenschaft und Fiktion, die im Begriff des Spiels aufgehoben ist.54 Die Kooperation von Spiel und Imagination zeigt eine letzte Stufe der barocken Epistemologie, indem sie die Ähnlichkeit zwischen den Erscheinungen als Organisationsprinzip der Natur gleichermaßen durch Zeichen nachahmt und im Zeichen erzeugt. Die Konsequenz dieses Verfahrens ist die Darstellung einer Welt, die keine Grenzen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit kennt. Die Bilder, die Spiel und Imagination bei Harsdörffer schaffen, stiften einen unabschließbaren Raum der Ähnlichkeiten, in dem sich die Phänomene wie durch Spiegel erweitert, gebrochen und vervielfältigt finden. Im Appendix des Poetischen Trichters heißt es über den Dichter, er rede »mit den Entferneten«.55 Man mag hier an die berühmte Zielformel denken, in der sich vor knapp zwanzig Jahren der New Historicism als Beitrag zu einer poetics of culture vorstellte: an Greenblatts »desire to speak with the dead«.56 Bei Harsdörffer hegt nicht allein der Gelehrte, sondern auch der Dichter den Wunsch, mit den Toten zu sprechen. Erfüllt wird er durch jene Aktivität, die im System der barocken Epistemologie über das Zusammenwirken zwischen Nachahmung und Konstruktion die Einheit von Wissen und Kunst stiftet – durch die imitierenden und zugleich generativen Spiele der literarischen Imagination.

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So der Status der Tropen im allegorischen Drama Die Redkunst (Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele [wie Anm. 22], Tl. V, S. 451–583, hier S. 454f.). Vgl. auch Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004, S. 85ff. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 3), Tl. III, S. 377. Stephen Greenblatt: Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England. Oxford 1988, S. 1.

Werner Wilhelm Schnabel

»Der übertrefflichste unter allen äusserlichen Sinnen«? Harsdörffers Lobrede des Geschmackes

Eine Lobrede des Geschmackes, wie sie hier behandelt werden soll, weckt gerade unter Vertretern der literaturhistorischen Zunft möglicherweise falsche Erwartungen. Das beruht unverkennbar auf dem zweiten Bestandteil der Bezeichnung. ›Geschmack‹: das ist einer der Kernbegriffe des ästhetischen Diskurses im 18. Jahrhundert, das Vermögen, »das Schöne zu empfinden« und zu beurteilen, das im Verein mit Verstand und Genie – so zumindest Johann Georg Sulzer in den 1770er Jahren – den eigentlichen Künstler ausmache.1 Darum geht es hier nicht. Als Tropus ist das Wort erst am Beginn des Aufklärungsjahrhunderts in den ästhetischen Bereich übertragen worden, nachdem Thomasius den angeblichen oder tatsächlichen bon goût der Franzosen schon 1687 in die Diskussion eingebracht hatte – wohlweislich ohne deutsche Übersetzung.2 Im 17. Jahrhundert bezeichnet das Wort hingegen – wie schon im Titel angedeutet – einen der ›äußeren Sinne‹. Ihre Aufgabe ist es, die Außenwelt wahrzunehmen, und nach der Zahl der beteiligten Organe wurden und werden sie meist in einer Fünfzahl zusammengefaßt.3 Für den gustus, den Geschmackssinn, sind Zunge und Gaumen verantwortlich, zwei Körperteile also, die zumindest im 17. Jahrhundert nicht im Zentrum ästhetischer Spekulation standen. Ist damit der Stellenwert des Geschmacks als äußere Sinneswahrnehmungsfähigkeit bezeichnet, so mag doch sofort eine weitere Irritation entstehen. Die äußeren Sinne – Gesicht (visus), Gehör (auditus), Gefühl (tactus), Geschmack (gustus) und Geruch (odoratus) – wurden gerade in der frühneuzeitlichen Kunst bekanntlich immer wieder zum Gegenstand gemacht.4 Als Personifikationen

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Vgl. Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Leipzig 1771, Bd. 1, S. 462–465. Christian Thomasius: Von Nachahmung der Franzosen, zitiert nach Deutsches Wörterbuch. Begr. v. Jacob u. Wilhelm Grimm. Nachdruck München 1991, Bd. 5, Sp. 3928. Tatsächlich gab es aber auch andere Zahlenkonzepte zwischen einem Sinn und sieben Sinnen, die meist durch Analogiebildungen motiviert waren; vgl. etwa Marielene Putscher: Die fünf Sinne. In: Aachener Kunstblätter 41 (1971), S. 152–173, hier S. 155. Nach neueren physiologischen Konzepten verfügt der Mensch über (zumindest) zwölf Sinne: Wärmesinn, Bewegungssinn, Körpergleichgewichtssinn, Schmerzsinn, Raumsinn, Zeitsinn, Gemein-Vital-Sinn, Tastsinn, Geruchssinn, Gehörsinn, Geschmackssinn, Gesichtssinn; vgl. etwa Horst E. Miers: Lexikon des Geheimwissens. München 1976, S. 376. Vgl. Hans Kauffmann: Die Fünfsinne in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhun-

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mit entsprechenden Attributen und Tieren waren sie im späten 16. Jahrhundert beliebt, als Bild- und Kupferstichfolgen mit exemplarischen Szenen und begleitenden Beitexten wurden sie im frühen 17. Jahrhundert geradezu zu einer Modeerscheinung. Im Laufe der Zeit verselbständigen sich die Motive dann zunehmend, ohne ihren ursprünglichen ikonographischen Zusammenhang abzulegen. So werden in Gesellschaftsbildern und Kabinettstücken des Barockjahrhunderts nicht selten gezielt Darstellungen der Sinneswahrnehmungen in inszenierte Alltagsszenen übernommen, die oft nur noch dem geübten Blick auffallen und erst zu entschlüsseln sind. All das ist hinlänglich bekannt. Freilich sind derartige Darstellungen so gut wie nie ein Selbstzweck oder gar wertneutral. Sie stellen nicht bloße Verbildlichungen exemplarischer Sinneserfahrungen dar, sondern dienen der didaktischen Vermittlung abstrakter Sachverhalte. Im Positiven sind das etwa Verweise auf die von Gott verliehenen Fähigkeiten, die Schöpfung wahrzunehmen, auf die unterschiedlichen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen,5 auf christologische Szenen6 oder den Stellenwert der Sinne bei der Erlangung der Seligkeit.7 Sehr viel häufiger aber sind die warnenden Hinweise auf die Gefahren, die aus der Verhaftetheit an die sinnliche Wahrnehmung und deren Freuden, insbesondere aus deren Übersteigerung erwachsen. Nicht nur triumphiert der Glauben letztendlich über die Sinne.8 FünfSinne-Bilder und -Bilderfolgen führen auch vor Augen, daß Sinne täuschbar und Menschen verführbar sind, daß die Wahrnehmungsorgane zu verdächtigen Genüssen verlocken. Der Gesichtssinn nimmt nur die Oberfläche wahr und verlockt zum Laster, das Gehör ist offen für Schmeichelei und Verführung, der Geruch täuscht über die wahren (Miß-)Qualitäten hinweg, der Geschmack verleitet zu Gier und schädlichem Genuß, der Tastsinn zur Wollust.9 Die Sinne binden an

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derts. In: Kunstgeschichtliche Studien. Festschrift Dagobert Frey. Hg. v. Hans Tintelnot. Breslau 1943, S. 133–157; Putscher (wie Anm. 3); Die Sprache der Bilder. Realität und Bedeutung in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Herzog Anton Ulrich-Museum. Braunschweig 1978, S. 66–73; Norbert Schneider: Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge. Die Stillebenmalerei in der frühen Neuzeit. Köln 1989, S. 65–75; Harald Olbrich u. Helga Möbius: Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts. Leipzig 1990, S. 139–142. Zur Ikonographie Cesare Ripa: Iconologia overo Descrittione di diverse Imagini cauate dall’antichità, & di propria inventione (1603). Nachdruck Hildesheim u. a. 1970, S. 447–449. Ein reichhaltiges Verzeichnis von Verarbeitungen bei Andor Pigler: Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts. Budapest 1956, Bd. 2, S. 462–465. Olbrich u. Möbius (wie Anm. 4), S. 140. Red.: Sinne, fünf. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie. Hg. v. Engelbert Kirschbaum u. Wolfgang Braunfels. Rom u. a. 1972, Bd. 4, Sp. 160f.; vgl. auch Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace. München 2000, S. 110. Jütte (wie Anm. 6), S. 91f. Jütte (wie Anm. 6), S. 93. Vgl. etwa die Bilderfolge von Jan Saenredam (1565–1607) nach Hendrik Goltzius (1558– 1617) mit ihren belehrenden Bildunterschriften (Sprache der Bilder [wie Anm. 4], S. 70– 72). Weitere Beispiele bei Jütte (wie Anm. 6), S. 94–99.

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die diesseitige, vergängliche Welt, was sich eigentlich dem Ewigen, dem Himmel zuwenden sollte. Sie sind vor einem primär religiös fundierten Wertungshorizont und im Zusammenhang mit allgegenwärtigen vanitas-Konzepten infolgedessen überwiegend negativ belegt. Auch in den zeitgenössischen Affektenlehren ist es der appetitus, die Begierde und Begehrlichkeit, die an oberster Stelle der anthropologischen Theorien steht und letztendlich auf sinnlichen Reizwahrnehmungen beruht. Erst seit der Frühaufklärung wird der Stellenwert der äußeren Sinne als Werkzeuge der Erkenntnis differenzierter gesehen10 und schließlich sogar rehabilitiert.11 Vor diesem Hintergrund12 ist eine Lobrede auf die Sinnlichkeit Mitte des 17. Jahrhunderts einigermaßen außergewöhnlich. Eine auf den Geschmack ist es überdies, konnte nach zeitgenössischer Auffassung doch allenfalls der visus, der Gesichtssinn, auf Rechtfertigung hoffen. Er diente der Wahrnehmung von Gottes Schöpfung, stellte den wichtigsten Kontakt zur Außenwelt her und ermöglichte so auch erst die verstandesmäßige Verarbeitung des Aufgenommenen.13 Von allen äußeren Sinnen stand er der ratio also am nächsten, und bereits Hieronymus hatte die Sonderstellung des visus damit begründet, daß er zur Vermittlung erbaulicher Lehrinhalte besonders geeignet sei.14 Dem Geschmack hingegen kam nicht zuletzt durch seine Verbindung mit dem körperlichen Wohlleben und dem kanonischen Hauptlaster der gula, also der Völlerei und Schwelgerei, eine besonders unrühmliche Rolle zu.15 Nur der Tastsinn hatte aufgrund seiner sexuellen Anwendungsgebiete eine noch schlechtere Einschätzung zu gewärtigen.16 All das hat Harsdörffer nicht daran gehindert, im Jahre 1651 eine Lobrede des Geschmackes zu verfassen.17 Erstaunlicherweise ist diese kleine Schrift von

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Etwa Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste (1732–1754). Nachdruck Graz 1962, Bd. 37, Sp. 1691–1699; Bernhard Jahn: Simulierte Sinnlichkeit. Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung für die Theorie und Praxis des frühneuzeitlichen Epigramms. In: Salomo in Schlesien. Beiträge zum 400. Geburtstag Friedrich von Logaus (1605–2005). Hg. v. Thomas Althaus u. Sabine Seelbach. Amsterdam u. a. 2006, S. 103–123, hier S. 105. Theodor Verweyen: Emanzipation der Sinnlichkeit im Rokoko? Zur ästhetisch-theoretischen Grundlegung und funktionsgeschichtlichen Rechtfertigung der deutschen Anakreontik. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 25 (1975), S. 276–306. Zur literarischen Verarbeitung von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (v. a. in Frankreich und England) vgl. Louise Vinge: The Five Senses. Studies in a Literary Tradition. Lund 1975; zur frühmodernen Einschätzung und Bewertung Wilhelm Kühlmann u. Robert Seidel: Askese oder Augenlust? Sinnesvermögen und Sinnlichkeit bei Jakob Balde SJ und Barthold Heinrich Brockes. In: Iliaster. Literatur und Naturkunde in der Frühen Neuzeit. Festschrift Joachim Telle. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke. Heidelberg 1999, S. 131–166. Putscher (wie Anm. 3), S. 154; Jütte (wie Anm. 6), S. 73. Jütte (wie Anm. 6), S. 76f. Vgl. auch Olbrich u. Möbius (wie Anm. 4), S. 140. Jütte (wie Anm. 6), S. 74f. u. 80. Georg Philipp Harsdörffer: Lob=Rede Des Geschmackes: In welcher bewiesen und dar-

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der Forschung bislang in keiner Weise beachtet worden.18 Wir wollen deshalb zunächst den Gang der Argumentation und ihre rhetorische Struktur zumindest in groben Zügen verfolgen, ehe dann nach den Entstehensumständen zu fragen und ein Blick auf die spätere Verwendungsgeschichte zu werfen ist. 1. In Harsdörffers Lobrede stand nicht der Wettstreit der einzelnen Sinne um den Vortritt im Mittelpunkt, wie er sich seit der Renaissance zu einem einigermaßen populären Motiv in Literatur und Oper entwickelt hatte und am Ende meist mit einem mehr oder minder salomonischen Richterspruch endete.19 Das Argumentationsziel des ›Spielenden‹ wurde vielmehr bereits im Untertitel ausdrücklich angegeben: es sollte bewiesen und dargetan werden, daß der Geschmack »der übertreflichste unter allen äusserlichen Sinnen seye«. Diese außergewöhnliche Absicht verfolgte der Text nach einer kurzen Einleitung mit poetologischen Vorinformationen, den obligatorischen Bescheidenheitsbekundungen und Ergebenheitsadressen zunächst einmal dadurch, daß er ein gängiges System der Sinneswahrnehmungen und ihrer hierarchischen Relationen entfaltete.20 Er berief sich dabei vor allem auf Aristoteles und seine Schrift De anima,21 zog bei Bedarf synthetisierend oder kontrastierend aber auch die Kirchenväterliteratur (Chrysostomus) und neuere Einschätzungen des Gegenstandes (von Avicenna und Scaliger bis hin zu Comenius, Montaigne und Robert Fludd) heran. Als grundlegend erwies sich demzufolge die Unterscheidung zwischen inneren und äußeren Sinnen. Die drei inneren Sinne22 – Verstand, Einbildungskraft (facultas imaginativa) und Gedächtnis – machten den Menschen eigentlich aus. Sie bildeten einen

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gethan wird / Daß der Geschmack der übertreflichste unter allen äusserlichen Sinnen seye. In: Fortpflanzung der Hochlöblichen Fruchtbringenden Geselschaft: Das ist / Kurtze Erzehlung alles dessen / Was sich bey Erwehlung und Antrettung hochbesagter Geselschaft Oberhauptes / deß Höchteursten und Wehrtesten Schmackhaften begeben und zugetragen. Samt Etlichen Glückwünschungen / und Einer Lobrede deß Geschmackes. Nürnberg 1651, S. 25–56 (Nachdruck in: Die Fruchtbringende Gesellschaft. Quellen und Dokumente. Hg. v. Martin Bircher. München 1971, Bd. 1, Anhang). Knappe Hinweise finden sich allenfalls bei Theodor Bischoff: Georg Philipp Harsdörffer. Ein Zeitbild aus dem 17. Jahrhundert. In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens, gegründet in Nürnberg am 16. Oktober 1644. Hg. v. Theodor Bischof u. August Schmidt. Nürnberg 1894, S. 93–96, und Carl August Hugo Burkhardt: Aus dem Briefwechsel Georg Philipp Harsdörffers zur Geschichte der Fruchtbringenden Gesellschaft 1647–1658. In: Altes und Neues aus dem Pegnesischen Blumenorden. Hg. v. Pegnesischen Blumenorden. Nürnberg 1897, Bd. 3, S. 23–140. Jütte (wie Anm. 6), S. 73f. Vgl. Jütte (wie Anm. 6), S. 65–83. Aristoteles: Von der Seele. Übers. v. Olof Gigon. München 1996, S. 65–84. Das Dreiermodell konnte in der zeitgenössischen Diskussion keine allgemeine Verbindlichkeit in Anspruch nehmen. Schottel identifizierte wenig später etwa fünf ›innerliche

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Schatten der Heiligen Dreieinigkeit und seien wie diese einerseits voneinander zu sondern, andererseits aber kaum trennscharf zu unterscheiden. Wie für die zeitgenössische Naturkunde charakteristisch, verknüpfte Harsdörffer dabei empirische Beobachtung, anthropologische Grundüberzeugungen und humoralphysiologische Ansätze, analogische Spekulation, moralphilosophische und heilsgeschichtliche Bezüge in einer Weise, die die Systemhaftigkeit des Weltbaus im großen und kleinen sinnfällig machen sollte. So konstatierte er Entsprechungen der inneren Sinne im Makrokosmos, indem er Verbindungen zu Himmel, Luft und Erde herstellte. Zugleich benannte er ausdrücklich die Hirnsektoren, die nach Meinung der Zeit der Sitz der jeweiligen Sinne seien, und er führte Unterschiede in den Fähigkeiten verschiedener Völker mit humoralphysiologischen Argumenten auf klimatische Bedingungen zurück – ein Vorgehen, das in seinen naturkundlichen Überlegungen häufig zu beobachten ist. Das eigentliche Interesse des Verfassers galt freilich den äußeren Sinnen. Üblicherweise wurden sie in der zeitgenössischen Diskussion untereinander als gleichrangig betrachtet, wobei allenfalls dem Gesichtssinn als Medium der unmittelbaren Weltwahrnehmung ein gewisser Vorrang eingeräumt wurde.23 Harsdörffer hingegen war um eine Analogiebildung mit den inneren Sinnen bemüht. Er entwarf deshalb ein Konzept, das die seit Aristoteles übliche Fünfzahl der äußeren Sinne24 durch Über- und Unterordnung modifizierte. Den drei Sinnen des Gesichts, des Gehörs und des Gefühls wies er eine besondere Stellung zu, weil sie dem Verstand, der Einbildungskraft und dem Gedächtnis besonders eng verbunden seien. Dieser Systemzwang hatte zur Folge, daß sich das Gefühl hier gleich dreier Sinnesorgane bedienen konnte: das Gehirn nahm den durch die Nasenlöcher aufsteigenden Geruch auf, Zunge und Gaumen vermittelten den Geschmack und die Hände und andere Körperglieder den eigentlichen Tastsinn. Bei Aristoteles war übrigens lediglich der Geschmack gemeinsam mit dem Tastsinn als Nahsinn klassifiziert worden,25 da er gleich diesem auf einer direkten Berührung mit dem Gefühlten beruhe und – nach dem Kommentar des Avicenna – wie dieser für das Leben unerläßlich sei.26

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Sinne‹ (Unterscheiden – Bedenken – Gedenken – Begehren – Sich-Bewegen), die in deutlicher Analogie zu den fünf ›äußerlichen Sinnen‹ stehen; vgl. Justus Georg Schottelius: Ethica Die Sittenkunst oder Wollebenskunst / Jn Teutscher Sprache vernemlich beschrieben in dreyen Bücheren (1669). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Bern u. a. 1980, S. 87–112. Auch ansonsten wurde in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Diskussion immer wieder eine Fünfzahl vertreten, wohl nicht zuletzt, um den fünf ›äußerlichen Sinnen‹ eine entsprechende Zahl entgegenzusetzen; vgl. Jütte (wie Anm. 6), S. 70. Putscher (wie Anm. 3), S. 154 (unter Bezug auf den Anticlaudianus des Alanus ab Insulis). Jütte (wie Anm. 6), S. 65–69. Aristoteles (wie Anm. 21), S. 72 u. 74–77. Jütte (wie Anm. 6), S. 71, 80.

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Dieses gegliederte, hierarchisierte Modell, das in dieser Form wohl eine Entwicklung Harsdörffers ist, stellt freilich nicht sein Argumentationsziel dar; es bildet vielmehr erst den Ausgangspunkt für die eigentliche probatio, das Unterfangen also, dem Geschmackssinn in diesem Gefüge eine neue Dignität zu verschaffen. Der Weg zu diesem Ziel bleibt zunächst einigermaßen unklar. Harsdörffers Überlegungen zur Etymologie des Wortes ›Geschmack‹ etwa, die er zunächst formuliert, exemplifizieren eher seine sprachsystematischen und sprachhistorischen Positionen, als daß sie tatsächlich Aufschluß über den Rang der so bezeichneten Sinneswahrnehmung gäben. Immerhin meint er in dem Wort einen lautmalenden Nachvollzug des Schmatzens, Lispelns und Zischens, des Rauschens, Brummens und Murmelns zu erkennen, der bei der Bewegung von Zunge und Lippen entstehe, wenn Speisen gekostet, geprüft und geschmeckt würden. Auch die physiologischen Ausführungen zur Beschaffenheit der Zunge, ihrer Empfindlichkeit und den Nervenverbindungen bleiben auf der Ebene einer polyhistorisch fundierten Beschreibung. In einen argumentativen Kontext einbezogen sind sie einstweilen noch nicht. Selbst die gewählten Beispiele aus der Bibel, dem autoritativen Referenzwerk schlechthin, dienen zunächst lediglich dem Nachweis, daß das Schmecken bereits dort Niederschlag gefunden habe. Diese zunächst etwas auffällige Beliebigkeit der beigebrachten Belege ändert sich freilich da, wo Harsdörffer versucht, den Geschmackssinn als den ontogenetisch ersten nachweisbaren Sinn zu belegen. Noch im Mutterleib lerne das Ungeborene die Nahrung zu unterscheiden, ehe es noch fühlen, hören oder sehen könne.27 Es ist deshalb zunächst das Argument des Alters, das für einen Ehrenvorrang des Geschmackes spreche. In einem ordnungsgemäßen System habe dem Ersten und Ältesten immer die Oberstelle zuzustehen – eine Argumentationsfigur a tempore,28 die Harsdörffer mit einem Verweis auf das Selbstverständnis des Adels und damit auf den gesellschaftlichen Kontext noch unterstreicht. Schwerwiegender ist dann die folgende Beweisführungsstrategie. Sie bedient sich eines argumentum a finitione,29 also einer zergliedernden Definition, die dann weiter erklärt und ausgeführt wird. Harsdörffer bemüht sich nämlich, den Geschmackssinn als Organ der Verständnisfähigkeit zu präsentieren. Das läßt sich nach Ansicht des Verfassers mit einer etymologischen Beobachtung bele-

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Aristoteles (wie Anm. 21), S. 27 schreibt diesen Primat eigentlich dem Tastsinn zu, der in Harsdörffers Systematisierungsmodell allerdings eine enge Verbindung zum Geschmackssinn aufweist. – Die Einschätzung der Lobrede wird überraschenderweise übrigens von der modernen medizinischen Physiologie gestützt; vgl. Hanns Hatt: Botschaften der Zunge. Zur Physiologie des Geschmacks. In: Geschmacksache. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Göttingen 1996, S. 229–243, hier S. 233 u. 243. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960, S. 211–213, § 385–389. Lausberg (wie Anm. 28), S. 215, § 392f.

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gen. Immerhin hätten die Römer sapientia und sapere, also Verstand, Klugheit, Weisheit und das zugehörige Verb, von sapor abgeleitet, also dem Geschmack.30 Zur Stützung seiner Annahme bringt er eine ganze Folge von Belegen bei, die bezeugen, daß »schmecken« selbst in der Bibel im Sinne von »eigentlich und gründlich verstehen / zu Hertzen nehmen / erkennen und wissen« verwendet worden sei.31 Mit dieser Interpretation der Formulierungen aus der Heiligen Schrift – es handelt sich um die Übersetzungen Luthers, die also mehr über den Sprachgebrauch des 16. Jahrhunderts aussagen als über den in den Grundsprachen – gelangt der Lobredner dann wie von selbst auf einen weiteren Aspekt des Geschmacks, den er weitergehend als Unterscheidungsfähigkeit konturiert. So wie der Chemiker verschiedene Stoffe in ihrer Zusammensetzung erkennen könne, so erlaube der Geschmack, unterschiedliche Qualitäten der Nahrung (Süßes, Herbes, Bitteres, Scharfes, Salziges, Saures, Fettes) zu identifizieren. Schon der Säugling, ja die unvernünftigen Tiere könnten mit seiner Hilfe überdies Gutes von Schlechtem, Gesundes von Schädlichem unterscheiden. Der Geschmack sei also nicht nur von Anfang an da; er begleite den einzelnen auch sein ganzes Leben hindurch. Ihm komme deshalb von Natur aus eine zentrale Rolle für die Erhaltung der menschlichen Existenz zu, die so von keinem anderen Sinn beansprucht werden könne. Den folgenden Versuch, den Geschmack als allegorische Figur zu beschreiben,32 wird man nicht nur der Vorliebe Harsdörffers für die bildliche Vorstellung von Abstrakta zuschreiben, die er in vielen seiner Schriften gezeigt hat; er dient zugleich als Beweisführungsinstrument, das exemplarisch noch einmal Funktionen des beschriebenen Sinnesvermögens aufzählt. Denn mit dem fröhlichen Gesichtsausdruck der abzubildenden holdseligen Jungfrau, ihren bunten Kleidern und der silbernen Schale mit einem goldenen Apfel oder mit Pomeranzen wird nicht nur die belustigende Funktion des Geschmacks signifiziert, sondern auch der Wohlgeschmack und das (erlaubte) Vergnügen am Genuß. Wenn der Lobredner dieser Gestalt als tierischen Begleiter einen Falken zugesellt, so bezieht er sich damit auf Berichte der Naturforscher, die diesem Greifvogel ein besonderes Geschmacksvermögen beilegen.33 Daß die Personifikation des gustus ansonsten häufig mit einem Affen dargestellt wird,34 erwähnt er hingegen wohl nicht ohne Bedacht nur kurz in einer Endnote. Schließlich

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Diese Strategie zur Höherbewertung des Geschmackssinnes geht letztendlich auf Isidor von Sevilla zurück (vgl. Jütte [wie Anm. 6], S. 80), den Harsdörffer aber nicht nennt. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 33f. Vgl. die Aufstellung bei Jütte (wie Anm. 6), S. 86f. Ausdrücklich erwähnt wird hier Ulisse Aldrovandi (1522–1605) und sein Buch De avibus (1599). Putscher (wie Anm. 3), S. 154; vgl. etwa die Abbildungen bei Kauffmann (wie Anm. 4), Abb. 20; Sprache der Bilder (wie Anm. 4), S. 68 u. 71.

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figurierte der Affe zumindest in der christlichen Ikonographie als Verkörperung des Teufels, des Sünders und des Lasters,35 während er in der volkstümlichen Vorstellungswelt als von Gott verwünschter Mensch galt.36 Die Zugesellung eines Tiers mit einem ausgesprochen schlechten Image hätte die argumentatorische Absicht des Verfassers ohne Zweifel konterkariert. Mit einer vorläufigen Zusammenfassung, die gewissermaßen eine Summe des bisher Ausgeführten darstellt, zieht der Redner nun eine recht kühne Zwischenbilanz seiner Bemühungen: der Geschmack sei nach dem bisher Vorgebrachten unverkennbar »der übertreflichste unter allen Sinnen / der älteste und der erste / der Ernehrer und Erhalter der Natur / der Richter und Schiedmann des Guten und Bösen / der Bediente der Lebenswärme«.37 Die ihm benachbarten äußeren Sinne – so vermutet er – würden ihm die Oberstelle jedenfalls willig abtreten. Daß dieser Anspruch nicht unbestritten ist, wird rasch klar, wenn der Text nun einen zweiten Argumentationsgang durchschreitet. Der Autor bedient sich dabei des Verfahrens der prosopopoeia und führt Gesicht und Gehör als redende Instanzen ein. Beide Gesprächspartner entwerfen zunächst ein neues Gliederungsmodell der äußeren Sinneswahrnehmungen. Wieder wird mit einer Entsprechung zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos gearbeitet, nur daß sich die Sinne jetzt mit den Elementen korreliert sehen. Um auf die nötige Vierzahl zu kommen, erfordert das die Verselbständigung des Geruchsinns, der zuvor dem tactus zugerechnet worden war. Dem Geruch wird dabei das Feuer (Schwefel), dem Gesicht das Wasser (Feuchtigkeit des Augapfels), dem Gehör die Luft (die die Geräusche überträgt) zugeordnet. Für das Gefühl, dem der Geschmack weiterhin subsumiert wird, bleibt die Erde, die allein ›greifbar‹ sei und mehr Eigenschaften habe als die anderen Elemente. Allerdings sind die beiden Gesprächspartner selbst Partei. Zunächst betonen sie zwar noch generös, daß im Sinne ihrer Analogiebildung alle Sinne gleich notwendig seien, dienten sie doch gleichermaßen der Erhaltung des Menschen. Dann aber streichen sie vor allem ihren eigenen Stellenwert heraus. Insbesondere weisen sie den Superioritätsanspruch des Geschmacks zurück, der unbegründet sei. Schließlich sei der Sinn am wichtigsten, dessen Fehlen man am meisten spüren, am wenigsten verkraften könne. Breit ausgeführt und mit zahlreichen Tropen ausgeschmückt werden deshalb vor allem die Defizite des Blinden und des Tauben, womit die Redeinstanzen natürlich ihre eigene Wichtigkeit zu begründen versuchen – beim Gesicht übrigens mit diskretem Verweis auf die Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Harsdörffers, die 35 36 37

Liselotte Wehrhahn-Stauch: Affe. In: Lexikon der Christlichen Ikonographie. Hg. v. Engelbert Kirschbaum u. Wolfgang Braunfels. Rom u. a. 1968, Bd. 1, S. 76–79. Eduard Stemplinger: Affe. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli. Nachdruck Berlin u. a. 1987, Bd. 1, S. 206f. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 35.

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ein Lob der Sehfähigkeit enthalten.38 Beim Geschmack verzichten sie allerdings auf die Gegenprobe. Für sie ist ohnehin klar, daß durch ihn »fast alles das Böse in der gantzen Welt« verursacht worden sei. Auf den gustus sei nicht nur der verhängnisvolle Apfelbiß im Paradies zurückzuführen, sondern auch die Aufnahme unheilbringender Nahrungsmittel, wie sie in der Bibel in verschiedenem Zusammenhang erwähnt würden.39 Für den Lobredner sind die parteiischen Repliken der beiden fingierten Konkurrenten nun erwartungsgemäß kein Anlaß zur Bestürzung, sondern eine willkommene Gelegenheit, deren Argumentation als boshaft und verdrehend zu entlarven. Schließlich seien alle Sinne dem Mißbrauch unterworfen, ohne daß daraus der Unwert des rechten Gebrauchs abgeleitet werden dürfe. Richter in der Auseinandersetzung könne zudem nicht eine der beteiligten Parteien sein, sondern nur ein unverdächtiger Entscheider. So sieht sich unter anderem der königliche Poet David als Zeuge herangezogen, um – mit einigen interpretatorischen Winkelzügen – zu erweisen, daß bereits die Israeliten dem Geschmack den ersten Platz unter den Sinnen zuerkannt hätten. Mit seiner Wahrnehmungsund Unterscheidungsfähigkeit entspreche er der Philosophie, die dem Menschen besonders nützlich sei. Und gerade der Verlust des Geschmackssinns kündige gefährliche Krankheiten oder gar den nahen Tod an. So könne der Mensch zwar lange ohne den Nutzen anderer fehlender Wahrnehmungskräfte leben, nicht aber ohne den Geschmackssinn. Die gehässigen Einlassungen der beiden Opponenten sind also widerlegt. Tatsächlich habe der Geschmack als der »übertreflichste unter allen Sinnen« zu gelten.40 In der abschließenden peroratio appliziert der Redner die erarbeiteten Ergebnisse schließlich auf den Adressaten der Schrift, Herzog Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar, und – wie schon in einem vorangestellten Sonett – auf die kulturpolitischen Aufgaben der Fruchtbringenden Gesellschaft. In Prosa und Vers zieht er dabei noch einmal alle Register panegyrischer Wohlredenheit. Ein umfangreicher Anmerkungsteil schließt die Lobrede ab. 2. Natürlich ist dieses Elogium, so sehr es sich mit den äußeren Merkmalen der Disputationsliteratur schmückt, keine akademische Abhandlung über den Geschmackssinn. Zwar verfügt der Text über einen umfangreichen Anmerkungsapparat (S. 45–56), der nach allen Regeln der damaligen Praxis zusammengestellt ist. Er nennt Quellennachweise aus autoritativen Schriften der Vergangenheit

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Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, S. 177–192 (recte 182). Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 37. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 38.

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und Gegenwart, dokumentiert oft auch die Lektüre sehr abgelegener Belegstellen, gibt weitergehende Zusatzinformationen oder verweist auf ausführlichere Überlegungen anderer Autoren oder Harsdörffers selbst. Gelegentlich werden auch divergierende und strittige Meinungen angesprochen, deren Diskussion aber zurückgestellt. Vordergründig greift Harsdörffer also den gelehrten Apparat auf, wie er aus der zeitgenössischen Wissenschaftsliteratur geläufig ist. Allerdings erklären die Endnoten auch zum Teil ausgesprochen banale Dinge, deren Kenntnis man von den Lesern der Schrift durchaus erwarten durfte. So erläutert er dort den Begriff des Sonetts (Anm. a), gibt Leseanleitungen, die sich eigentlich von selbst verstehen (Anm. pp, qq), fügt verzichtbare Beispiele eigener Sprachartistik an (Anm. b) oder häuft polyhistorische Materialhalden an, die zwar umfassende Belesenheit dokumentieren, den Gegenstand aber nicht weiter klären (Anm. x, nnn). So scheint der umfangreiche Anhang weniger ein Beispiel ernsthafter akademischer Nachweis- und Absicherungsgepflogenheiten zu sein als vielmehr ein nicht unironischer Beleg spielerischen Umgangs mit ihnen. Auch gewisse Eigenheiten der Argumentationstechnik weisen in diese Richtung. Zu weit hergeholt erscheinen viele seiner beigebrachten Exempel, zu gewagt die Verknüpfungen, bei denen ohne weiteres fragwürdige etymologische und wortgeschichtliche Annahmen als Beweismittel verwendet werden, zu abwegig die Benutzung bildhafter Tropen zur Stützung seiner Aussagen. Auch wenn man in Rechnung stellt, daß die Zeit andere Vorstellungen vom kulturgeschichtlichen Quellenwert sprachlicher Phänomene hatte, auch wenn man berücksichtigt, daß sie sich durchaus ernsthaft bemühte, die spekulative Naturphilosophie mit neueren kausal-mechanischen Konzepten und den Lehrsätzen der Religion zu verbinden und sie auf diese Weise gegenseitig zu stützen: 41 richtig ernstgenommen werden können die Versuche des Lobredners an dieser Stelle nicht. Er selbst hat gerade in seinen naturwissenschaftlichen Schriften durchaus seriös und mit Vorsicht integrative Bezüge hergestellt; in seiner Lobrede überzeugen sie nicht. Hinzu kommt die nicht zu übersehende literarische Faktur des Textes. Es handelt sich eben nicht um eine Disputation oder einen Traktat, sondern um eine Lobrede. Sie bedient sich nicht nur der Form einer Eloge auf ein bestimmtes Wahrnehmungsvermögen, sondern greift zudem loci und argumenta der Gerichtsrede auf, ja integriert über die fictio personae eine spezifisch kunstpoetische Verfahrensweise, die einem Sachtext unangemessen gewesen wäre. Die Häufung poetischer Bilder und uneigentlicher Rede, die amplifizierende Reihung von Metaphern, die fast an die Darbietungsweise eines aerarium poeticum

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Rosmarie Zeller: Naturwissenschaften und Kabbala am Sulzbacher Hof und ihr kultureller Kontext. In: Morgen-Glantz 13 (2003), S. 11–19, hier S. 12f.

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erinnern:42 sie zeigen, daß Harsdörffer hier mit vollen Händen in das Repertoire rhetorischer Möglichkeiten gegriffen hat, um sein Ziel zu erreichen. Das hängt freilich auch mit der Zugehörigkeit des Textes zum anspruchsvollen genus admirabile zusammen. Ein Redetypus, der Gegenstände behandelt, die den »Zuhörer überraschen oder schockieren, da sie gegen die allgemein üblichen Vorstellungen verstoßen« – er stellt besonders hohe Anforderungen an den Sprecher.43 Und daß sich der Lobredner mit seiner Argumentationsabsicht im Gegensatz zur landläufigen Meinung befand, war ihm natürlich nur zu bewußt. Ausdrücklich formulierte er am Anfang sein Bestreben, »wider den gemeinen Wahn« anzuschreiben44 und eine »besondre / unerwarte / unerhörte« Meinung zu vertreten.45 In der einleitenden Passage, die der eigentlichen Lobrede vorangeht, findet sich sein Ziel denn auch klarer umrissen. Harsdörffer bezeichnet seinen Versuch im genus admirabile dort als »Paradoxon«.46 Mit diesem Wort meint er nicht etwa im landläufigen Sinne eine ›ungereimte Meinung‹, also eine in sich widersprüchliche Aussage;47 vielmehr steht es für eine Ausführung, die »gantz widersinnige Meinungen« vertrete oder genauer: die »wider die gemeine Lehre« laufe. Dabei macht er aber zugleich klar, daß es sich dabei nicht um einen Traktat handle, der eine grundsätzliche Umwertung von Einschätzungen und Normen, eine Revolution des öffentlichen Bewußtseins bezwecke. Vielmehr ordnet sich der Ansatz Harsdörffers den zeitgenössischen Impersonationskonzepten ein,48 den Rollenspielübungen, die nicht nur in der Weltsicht der Zeit,49 sondern als praktische Übungen auch in der rhetorisch-theatralischen Ausbildung eine wichtige Bedeutung einnahmen. Harsdörffer nahm bei seinen Ausführungen freilich nicht auf diese philosophischen oder pädagogischen Hintergründe Bezug. Ausdrücklich erinnerte er vielmehr an die Praxis der italienischen Akademien, die ihm als Mitglied der neapolitanischen Academia degli Ociosi50 wohlbekannt 42 43 44 45 46 47

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Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 35 u. 38. Gert Ueding u. Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode. Stuttgart 1986, S. 239. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 30. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 28. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 28 u. 47. Vgl. etwa André Chapuis: Paradox. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan Dirk Müller. Berlin u. a. 2003, Bd. 3, S. 15–19; Martina Neumeyer: Paradoxe, das. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2003, Bd. 6, Sp. 516–524; sowie Maria S. Celentano: Paradoxon. In: Ebd., Sp. 524–526. Vgl. Heinrich F. Plett: Aesthetic Constituents in the Courtly Culture of Renaissance England. In: New Literary History 14 (1982/1983), S. 597–621, hier S. 612; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 290ff. Barner (wie Anm. 48), S. 86–131. Irmgard Böttcher: Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 289–346, hier S. 298.

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waren. Dort – so führt er aus – veranstalte man solche Reden »zu übung des Verstandes und Beliebung«, diene damit also gleichermaßen dem docere wie dem delectare. Infolgedessen kennzeichnet er sein Verfahren als »Schertzweis«51, ja charakterisiert seinen Text als »einen gelehrten Schertz«52 und »Spielrede«.53 Unter diesem Blickwinkel sind denn auch die oft nicht recht passenden, überinterpretierten Exempel und die gelegentlich zwangsweise zurechtgebogenen Argumentationen seiner Abhandlung zu verstehen und zu erklären. Harsdörffers ›Paradoxon‹ versteht sich als vergnügliche Aufnahme akademischer Redeübungspraktiken. Dabei steht zunächst einmal die Verfahrensweise im Mittelpunkt des Interesses. 3. Zum anderen ist es aber auch der Gegenstand der Lobrede, der Aufmerksamkeit verdient. Denn dieser ist – wie aus den Paratexten der Lobrede und dem Veröffentlichungskontext hervorgeht – keineswegs willkürlich gewählt. Die Eloge auf den Geschmack steht vielmehr in direktem Zusammenhang mit den Bemühungen Harsdörffers, in näheren, förderlichen Kontakt mit dem Weimarer Herzog Wilhelm IV. (1598–1662, reg. ab 1626)54 zu treten. Wilhelm war 1617 eines der Gründungsmitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft gewesen, der Harsdörffer als ›Der Spielende‹ selbst erst seit 1642 angehörte. Anders als sein Vetter Ludwig I. (1579–1650, reg. ab 1606) aus der Köthener Linie, der literarisch nicht nur interessiert, sondern auch selbst produktiv gewesen war, pflegte der Weimarer Herzog, der viele Jahre als Soldat gekämpft hatte, eher mathematische, architektonische und musikalische Neigungen. Bereits 1645, 1646 und 1647 hatte der Nürnberger Patrizier Andienungsversuche unternommen, indem er dem Fürsten Exemplare des vierten, sechsten und siebten Teils seiner Gesprächspiele zugesandt hatte.55 Beantwortet worden waren seine Briefe allerdings nie. Eine neue Gelegenheit bot sich nun freilich, als das bisherige Oberhaupt des Palmenordens, Fürst Ludwig von Anhalt-Köthen, mit dem Harsdörffer in erster Linie brieflichen Kontakt hielt,56 Anfang Januar 1650 gestorben war. Die 24 vornehmsten Köthener Mitglieder hatten sich nach dem Verstreichen des Trauerjahres auf die Wahl Wilhelms zum neuen Präses geeinigt. Noch ehe der

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Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 34. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 48, Anm. p. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 28. Biogramm bei Klaus Conermann: Die Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617–1650. 527 Biographien, Transskription aller handschriftlichen Eintragungen und Kommentare zu den Abbildungen und Texten im Köthener Gesellschaftsbuch. Weinheim u. a. 1985, S. 10f. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 44f. (Harsdörffer an Herzog Wilhelm, 25. September 1647). Bischoff (wie Anm. 18), S. VII–474, hier S. 58–65 u. ö.

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Weimarer Herzog offiziell von diesem Entschluß unterrichtet worden war,57 schrieb ihm Harsdörffer in einem neuerlichen Schreiben vom 11. April 1651 vom Ergebnis der einstimmigen Wahl.58 Er nutzte diesen Anlaß nicht nur für die üblichen Glückwünsche zum neuen Amt, sondern auch für eine neuerliche Selbstempfehlung. Angekündigt wurde das baldige Erscheinen seiner Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden; zugleich bat er um die Aufnahme von vier neuen Mitgliedern, die sich an ihn zur Vermittlung gewandt hatten. Insbesondere durch seine guten Verbindungen zum österreichischen und schlesischen Adel galt Harsdörffer als der wichtigste Ansprechpartner der dortig ansässigen Literaten. Nicht wenige, die sich den kulturpatriotischen Zielen des Palmenordens verbunden fühlten, wären der berühmten Gesellschaft auch gerne beitetreten, scheuten sich aber, selbst um eine Aufnahme zu bitten. Über viele Jahre war es deshalb der Nürnberger Patrizier, der sich angelegentlich um die Ausweitung des Ordens bemühte, indem er immer wieder Vorschläge geeigneter Persönlichkeiten vorbrachte und deren potentiellen Nutzen für die Gemeinschaft betonte. So war es ihm in den Jahren 1642 bis 1650 gelungen, dem Orden immerhin mehr als 50 neue Mitglieder zuzuführen;59 er war damit der erfolgreichste Vermittler zwischen der Fruchtbringenden Gesellschaft und der literarisch interessierten Welt, die hier einen Mittelpunkt ihrer kulturpolitischen Ambitionen zu finden hoffte. Tatsächlich ließ sich das designierte Oberhaupt der Fruchtbringer nun denn doch huldvoll herbei, dem umtriebigen süddeutschen Poeten zu antworten. Er teilte ihm mit, daß seine Ernennung bislang noch nicht erfolgt sei und die Neuaufnahmen deshalb einstweilen ruhen müßten. Ausgefertigt wurde das bereits am 17. April konzipierte Schreiben allerdings erst an dem Tag, an dem die Köthener Gesandtschaft in Weimar eintraf, um Wilhelm um die Übernahme der Oberstelle zu bitten.60 In der Tat fand sich der Herzog am folgenden Tag dazu bereit und sah augenscheinlich auch die Chance, den bekannten und einflußreichen Nürnberger Korrespondenten für andere Ziele einzuspannen. Für das Projekt eines eindrucksvollen Grabmahls war die Kunst der Nürnberger Erzgießer gefragt, die damals gesamteuropäisch einen exzellenten Ruf besaßen.61 Harsdörffer sollte deshalb nach vorgegebenen Abrissen und Ausführungsbedingungen Kostenvoranschläge bei ansässigen Meistern einholen.62 Dieser Aufgabe

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Das Bittschreiben der Köthener Mitglieder um Annahme der Wahl datiert vom 8. Januar 1651, wurde aber erst am 8. Mai 1651 durch eine Gesandtschaft offiziell übergeben; vgl. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 1–8 u. 16–24. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 49f. Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972, S. 19. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 51–53 (Herzog Wilhelm an Harsdörffer, 7. Mai 1651). Sven Hauschke: Es muß nicht immer Gold und Silber sein. Messingguß und Eisenschnitt aus Nürnberg. In: Quasi Centrum Europae. Europa kauft in Nürnberg 1400–1800. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Germanischen Nationalmuseum. Nürnberg 2002, S. 240–271. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 53f. (Herzog Wilhelm an Harsdörffer, 11. Mai 1651).

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unterzog sich der Patrizier denn auch bereitwillig, hoffte er doch, sich dem neuen Ordensoberhaupt auf diese Weise angenehm zu machen und gegebenenfalls auch seinerseits Unterstützung zu erhalten, wo dies notwendig sein würde. In der Tat kümmerte sich Harsdörffer in den nächsten Monaten immer wieder um das herzogliche Anliegen.63 Trotz detaillierter Verhandlungen mit einem geeigneten Meister konnte er aber keinen eindeutigen Auftrag erhalten. Wohl angesichts der hohen Kosten ist aus dem Vermittlungsprojekt dann doch nichts geworden. Dem sich herzoglicher Gunst erfreuenden Harsdörffer bewilligte Herzog Wilhelm einen guten Monat nach der Annahme seiner Wahl denn auch die von ihm erbetenen Neuaufnahmen. Ausdrücklich rühmte er seine Bemühungen um die Angelegenheiten der Gesellschaft.64 Allerdings stellte er auf der anderen Seite klar, daß er die Vergabe der Gesellschaftsnamen, die Wahl der zugewiesenen Kräuter und die Konzipierung der Reimgesetze als ein Vorrecht des Oberhauptes betrachtete. Harsdörffers mitgelieferte poetische Vorschläge kritisierte er sogar recht offen, lehnte sich in seinen Entscheidungen dann aber doch weitgehend an dessen Vorgaben an. Erneut vier Wochen später übersandte der Weimarer Fürst dem Nürnberger dann Abschriften der Dokumente, die im Zusammenhang mit seiner Bestellung zum Oberhaupt des Ordens entstanden waren.65 Dabei befand sich sowohl das offizielle Ansuchungsschreiben der 24 Köthener Fruchtbringer an Herzog Wilhelm wie dessen Antwortbrief vom 14. Mai, mit dem er die angetragene Würde endgültig annahm. Weiter enthielt das Päckchen ein Entschuldigungsschreiben Christian Ernst Knochs (1608–1655, ›Der Weichende‹),66 der die Gesandtschaft eigentlich hätte leiten sollen, aber krankheitshalber an der Teilnahme verhindert war. Schließlich fand sich darin ein Bericht Wilhelm Heinrich von Freybergs (1617–1696, ›Der Gleichgefärbte‹),67 der statt seiner die Mission angeführt hatte und darin detailliert den Ablauf der Audienz, die Übergabe des Gesellschaftssiegels und des Erzschreins mitsamt den enthaltenen Dokumenten sowie das darauf folgende gemeinsame Mahl schilderte. Belegt wurde somit die ordnungsgemäße Wahl des neuen Oberhaupts, das topische Zögern des Gebetenen bei der Übernahme der Verantwortung und die ehrenvolle Behandlung der Gesandten, die durch Mäßigkeit im Trinken bewiesene moralische Vorbildlichkeit des Weimarer Hofes, schließlich die intellektuelle Eignung des Herzogs für die Fortführung der literaturpolitischen Ordensgeschäfte. Offensichtlich wurde den Schriftstük-

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Burkhardt (wie Anm. 18), S. 54–56 (Harsdörffer an Herzog Wilhelm, 23. Mai 1651), S. 57f. (Herzog Wilhelm an Harsdörffer, 15. Juni 1651), S. 63–65 (Harsdörffer an Herzog Wilhelm, 19. Juli 1651). Burkhardt (wie Anm. 18), S. 58–63 (Herzog Wilhelm an Harsdörffer, 15. Juni 1651). Burkhardt (wie Anm. 18), S. 63–65 (laut Antwortschreiben Harsdörffers an Herzog Wilhelm, 19. Juli 1651). Biogramm bei Conermann (wie Anm. 54), S. 297f. Biogramm bei Conermann (wie Anm. 54), S. 529f.

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ken eine legitimatorische Funktion zugemessen, zeigten sie doch, daß der Wechsel des Ordens von Köthen nach Weimar unter strenger Einhaltung der Regularien und nicht etwa auf Betreiben des neuen Oberhaupts vor sich gegangen war. In einem späteren Brief behauptete Harsdörffer, das empfangene Material ›auf gnädigen Befehl‹ des Herzogs in den Druck gegeben zu haben.68 Das wäre angesichts der Bedeutung der Schriftstücke nicht unmöglich. In der Publikation selbst findet sich darauf allerdings kein Hinweis, ja Harsdörffer benannte als seine Motivation zur Herausgabe in einem kurzen Vorbericht nur die Neugier vieler vornehmer Mitglieder in ganz Deutschland, zu erfahren, auf welche Weise der Übergang der Oberstelle vor sich gegangen sei.69 Möglicherweise sah er sich tatsächlich vor allem gegenüber seinen Mitgesellschaftern und natürlich gegenüber seinem Oberhaupt in der Pflicht, die Dokumente publik zu machen. Unter Umständen dachte er dabei aber auch an einen breiteren Interessentenkreis, der an den Entwicklungen in der berühmten Gesellschaft Anteil nahm. Immerhin wären so manche der Erläuterungen zu erklären; möglicherweise richteten sie sich an Personen, die mit poetischen Dingen nur mäßig vertraut waren. Da ihm das Material für eine eigenständige Publikation zu dürftig erschien, entschloß sich Harsdörffer allerdings, die Dokumentensammlung mit einer eigenen Zugabe zu erweitern. In der Tat umfaßte der Quellenteil im späteren Druck lediglich 24 Seiten, während seine Zugabe insgesamt 32 Seiten einnehmen sollte. Eine direkte Anregung für die Motivwahl seiner Lobrede fand der Nürnberger Poet zweifellos in den Briefen, die zwischen den vornehmsten Köthener Fruchtbringern und dem Herzog gewechselt worden waren und die er nun in Abschrift in Händen hielt. Dort hatten die Unterzeichner den Gesellschaftsnamen des Herzogs – ›Der Schmackhafte‹ – dazu benutzt, ihren eigenen Namen in jeweils zwei Verszeilen mit dem des Weimarers in Beziehung zu setzen.70 Der Angeschriebene war darauf in seiner Antwort eingegangen und hatte seinerseits Reime auf die Ordensnamen der Köthener verfaßt.71 Selbst im Entschuldigungsschreiben Knochs und im Bericht Freybergs von seiner Weimarer Rede hatten die Verfasser das Spiel mit den Aliasnamen weitergetrieben, um dem Herzog alles Gute anzuwünschen. Harsdörffer brauchte also nur an das anzuknüpfen, was seine Vorgänger bereits vorgelegt hatten. Mit seiner Lobrede des Geschmackes, die natürlich die Bedeutung des ›Schmackhaften‹ herausstreichen sollte, erfüllte er seine Aufgabe in aller Breite und mit erheblichem Aufwand an Esprit und polyhistorischer Gelehrsamkeit. So besteht die Fortpflanzung der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft, wie der dünne Druck betitelt wurde, aus eigentlich zwei unabhängigen, 68 69 70 71

Burkhardt (wie Anm. 18), S. 68 (Harsdörffer an Heinrich von Schwechhausen, 6. Oktober 1651). Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), Titelrückseite. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 3–8. Harsdörffer: Fortpflanzung (wie Anm. 17), S. 10–12.

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aber thematisch und motivisch aufeinander bezogenen Hauptsequenzen: der Titel und der nur wenige Zeilen umfassende Vorbericht (Titelrückseite) leiten einen ersten, dokumentarischen Hauptteil ein, der sich aus den erhaltenen vier Briefen mitsamt dem Bericht über den Gesandtschaftsbesuch in Weimar zusammensetzt (S. 1–24).72 Durch ein Binnentitelblatt getrennt, folgt anschließend der von Harsdörffer verantwortete zweite Hauptteil mit seiner überlegt strukturierten Eloge. Er zerfällt in ein einleitendes Sonett (S. 26) und die eigentliche Lobrede, die sich entsprechend den Regeln der Rhetorik aus einer Mehrzahl von Sequenzen zusammensetzt: das exordium umfaßt neben poetologischen Vorinformationen die obligatorischen Bescheidenheitsbekundungen und Ergebenheitsadressen (S. 27–29); die narratio stellt das System der Sinneswahrnehmungen und seine Relationen vor (S. 29f.); eine durch eine Zwischenbilanz (S. 35) zweigeteilte argumentatio enthält einmal die eigentliche Beweisführung (S. 31–35) und anschließend die Zurückweisung der von figurierten Sprechern vorgebrachten Gegenposition (S. 35–38); schließlich appliziert die peroratio die erarbeiteten Ergebnisse auf den ›Schmackhaften‹ und die kulturpolitischen Aufgaben der Fruchtbringenden Gesellschaft (S. 38–44) und zieht dabei in Prosa und Vers noch einmal alle Register panegyrischer Wohlredenheit. Ein umfangreicher Anmerkungsapparat, der sich auf beide Hauptteile bezieht, schließt den Sammeldruck ab (S. 45–56). 4. Der Blick auf das Strukturmodell der ›Fortpflanzung‹ macht zum einen den Kompositcharakter der kleinen Veröffentlichung deutlich. Er zeigt, daß Harsdörffers penibel ausgearbeitetes Elogium nur einen, wenn auch den umfangreicheren Teil der im September 1651 fertiggestellten Flugschrift bildete. Die Vergegenwärtigung des Aufbaus ist aber auch deshalb interessant, weil die Lobrede von ihrem Verfasser ein zweites Mal in den Druck gegeben worden ist – auch das ein Umstand, den die Forschung übrigens bislang nicht beachtet hat.73 Dieser zweite Druck erfolgte nun 1657 allerdings in einem ganz anderen 72

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Diese Dokumente hat später Georg Neumark erneut publiziert; vgl. Georg Neumark: Der Neu=Sprossende Teutsche Palmbaum. Oder Ausführlicher Bericht / Von der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang / Absehn / Satzungen / Eigenschaft / und deroselben Fortpflantzung (1668). Nachdruck München 1970, S. 295–330. Dem Herausgeber der Faksimileedition von 1971 (wie Anm. 17) war dieser Neudruck nicht bekannt; auch fehlt ein entsprechender Nachweis in der neuen Ausgabe von Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Stuttgart 1991, Bd. 3, S. 2007, Nr. 68. Ein kurzer Hinweis auf die Existenz des wiederverwendeten Textes findet sich lediglich bei Werner Wilhelm Schnabel: Vorschneidekunst und Tafelfreuden. Georg Philipp Harsdörffer und sein Trincierbuch. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 158–174, hier S. 165 u. 170.

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Publikationszusammenhang, der auch eine deutlich veränderte Ausrichtung der Urfassung bedingte. Harsdörffer fügte seine Lobrede – oder genauer: einen Teil davon – nämlich in das bereits in fünfter Auflage erscheinende Trincierbuch mit ein, das er seit 1649 für den Nürnberger Verleger Paul Fürst (gest. 1666) betreute.74 Seither hatte er die ursprünglich 86 Seiten starke Anleitungsschrift für das kunstgerechte Zerschneiden von Nahrungsmitteln bei Tisch peu à peu zu einem über 400 Seiten umfassenden Kompendium der Tischkultur erweitert. Mit der Verfünffachung des Umfangs hatte er den zunächst rein küchenpraktischen Charakter des Büchleins hin zu einer Materialsammlung über Verhaltenskonventionen bei Gastmählern, über das Falten von Servietten und Tischdecken (Plikaturkunst), die Saisonabhängigkeit von Nahrungsmitteln und ihre diätetische Bedeutung und – insbesondere – über Gespräche bei Tisch und ihre Themen umgeformt.75 Die didaktische und die unterhaltende Ausrichtung stützten sich dabei – wie generell bei Harsdörffer – gegenseitig. In diesem Zusammenhang kam der Aufnahme belehrender und informativer, vor allem aber geistvoller Kurztexte besondere Bedeutung zu, wobei er besonders auch auf die Vielgestaltigkeit literarischer Genres achtete, um den Leser nicht zu ermüden. In zahlreichen Fällen hat sich der Autor dabei in seinen bereits früher erschienenen Schriften bedient. Von dort hat er historische und poetische Exempel, Rätsel, Gedichte oder Prosatexte, Frage- und Antwortspiele übernommen, die er in der Regel ohne größere Änderungen in den neuen Zusammenhang einbaute. In diesem Rahmen findet sich seit 1657 nun die sechs Jahre zuvor entstandene Lobrede des Geschmackes wieder. Der Autor übernahm weite Teile des Textes zwar wortgenau, erreichte durch Detraktion und Adjektion allerdings eine grundlegende Umorientierung. Titel und Vorbericht sowie der gesamte Dokumententeil der ursprünglichen Veröffentlichung paßten nicht in den neuen

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Vollständiges und von neuem vermehrtes Trincir=Buch. Handelnd: I. Von den Tafeldekken / und was demselbigen anhängig. II. Von Zerschneidung und Vorlegung der Speisen. III. Von rechter Zeitigung aller Mundkoste / oder von dem Kuchen=Calender / durch das gantze Jahr. IV. Von den Schaugerichten / und etlichen Denckwürdigen Bancketen. V. XXV. Gast= oder Tischfragen / Und ist ferners neurlich beygebracht / was in den ersten Theilen / und sonderlich von dem Tafeldecken außßgelassen worden. Nach Italianischer und dieser Zeit üblichen Hof=Art mit fleiß beschrieben / und mit Kupffern lehrartig außgebildet. Nürnberg 1657, S. 175–192. Ein unveränderter Nachdruck erfolgte 1665 unter dem Titel: Vollständiges und von neuem vermehrtes Trincir=Buch. Handlend: I. Von den Tafeldecken / und was demselbigen anhängig. II. Von Zerschneidung und Vorlegung der Speisen. III. Von rechter Zeitigung aller Mundkoste / oder von dem Kuchen=Calender / durch das gantze Jahr. IV. Von den Schaugerichten / und etlichen Denckwürdigen Bankketen. V. XXV. Gast= oder Tischfragen. Weyl: durch Herrn Georg Philipp Harsdörffern Seel. Nach Italianischer und dieser Zeit üblichen Hof=Art mit fleiß beschrieben / und mit Kupffern lehrartig außgebildet. Nürnberg 1665. Einen knappen Überblick bietet Schnabel (wie Anm. 73). Demnächst hofft der Verfasser eine ausführlichere Behandlung dieses Buches vorlegen zu können.

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Rahmen. Aber auch im Elogenteil wurden Kürzungen vorgenommen. Es entfiel das einleitende Sonett, das auf Herzog Wilhelm Bezug genommen hatte, ebenso das exordium des Prätextes. Verzichtet wurde weiterhin auf die peroratio sowie auf den Anmerkungsteil mit seinen Erklärungen und weiterführenden Literaturhinweisen. Getilgt wurden also alle Hinweise darauf, daß sich die Abhandlung ursprünglich auf das Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft bezogen hatte und im Zusammenhang mit dessen Wahl in panegyrischer Absicht entstanden war. Was blieb, waren knapp 13 Druckseiten. Sie enthielten allein die argumentativen Passagen, die sich mit dem Geschmackssinn befaßten und seine herausgehobene Stellung unter den äußeren Wahrnehmungsvermögen zu belegen suchten. Im Unterschied zum Erstdruck war der Text nun bereits in der Überschrift als ›Paradoxon‹, als ›Widersinniger Beweiß‹ ausgezeichnet. Diese Einordnung wurde an dieser Stelle übrigens nicht wie im Prätext näher erläutert. Was Harsdörffer darunter verstand, war der Leser also selbst aufgerufen herauszufinden. Größte Tragweite hatte schließlich nicht nur die Umkontextualisierung und Kürzung, sondern auch die Anfügung einer neuen, viereinhalbseitigen Textsequenz. Sie war überschrieben als »Vorstellung der Widerigen Meinung / Daß in dem Geschmacke keine warhaffte Belustigung zu finden«. Die Kritik setzte etwa an den Nahrungsmitteln selbst an, die als Zerstörungs- und Zersetzungsprodukte gekennzeichnet wurden und deren ekelerregende »Endschaft« (also die Verdauungsprodukte) an die Vergänglichkeit auch der menschlichen Existenz erinnerten. Essen mache krank, der Wein verdüstere den Verstand, so daß der Geschmack den Körper dazu bringe, sich selbst in »Gastereien und Mastereien« zu verderben und gar zu Tod zu bringen. Fremde Speisen würden überdies fremde Krankheiten einschleppen, so daß die frühere Vitalität der naturverbundenen Menschen mittlerweile schon luxusbedingter gesundheitlicher Anfälligkeit gewichen sei. Aber nicht nur physiologisch und diätetisch sei der Geschmack an vielem Unheil schuld, auch moralisch und religiös sei er abzulehnen. Gerade aufgrund des nicht zu ersättigenden Geschmacks verlange der Bauch immer mehr. Schwelgerei hätten schon die antiken Philosophen verurteilt, und bereits Jesus habe vor übermäßiger Nahrungsaufnahme gewarnt. Schädliche Begierden würden dadurch hervorgerufen und nicht wie durch das Fasten gezähmt. Das zeige, daß Wohltaten für den Körper Übeltaten gegen die Seele seien. Ohnehin sei geschmacklicher Genuß nur kurz und vorübergehend, während die wahren Freuden beständig seien. In der Synthese wird deutlich, daß hier in erster Linie mit möglichen Mißbrauchserscheinungen argumentiert wird. Der gustus ist der Kuppler und Förderer der gula, die sowohl gesundheitlich wie moralisch-religiös zu verurteilen sei. Operiert wird mit einem ausgeprägten Gegensatz von Leib und Seele, wobei unter dem Gesichtspunkt des ewigen Heils die diesseitigen Vergnügungen natürlich der Verurteilung anheimfallen müssen. Zudem hat Harsdörffer diese

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moralisierenden Ausführungen mit ausgesprochen grobem Vokabular formuliert. Fast wie ein zorniger Kanzelredner schimpft er über »Trunckenbolde und Schlecker«, die »deß Teufels Märtrer« würden, über die »Viehischen Begierden und unbesonnene Blödigkeit« der Weltlinge, die das »Fressen und Saufen« nicht lassen könnten. Ob das seine Argumentation überzeugender macht, sei dahingestellt. In jedem Fall aber lehnte sie sich an bestimmte Predigtkonventionen an, die bei der Verurteilung des Lasters gerade die schärfsten Formulierungen der Mißachtung anzuwenden verlangten. Dahinter einen Meinungswandel eines Autors zu sehen, der sich mittlerweile dem asketischen Leben zugewandt habe, wäre freilich verfehlt. Es gehört zum Bauprinzip vieler Texte im Trincierbuch, gerade für die Unterhaltung in Gesellschaft passende Themen und geeignete Argumente bereitzustellen. Fast wie ein aerarium bot es dem Leser einen Fundus von Sachverhalten, Exempeln und Wertungen, aus dem sich der einzelne das ihm jeweils Passende heraussuchen konnte. Nicht das Recht-Behalten stand bei solchen geselligen und unterhaltenden Gesprächen im Vordergrund, sondern das Finden angemessener Argumente und Argumentationsstrukturen, das gekonnte Einsetzen von Bildungsinhalten unterschiedlicher Provenienz und die Anwendung (mitunter unerwarteter) Perspektivierungen. Auch das Trincierbuch ordnete sich damit in das Konversationsideal ein, das für Harsdörffer ein Zentrum seiner literarischen Bemühungen darstellte. Harsdörffer hat sich bei der Ausarbeitung dieser Passage keine solche Mühe mehr gegeben wie im vorausgehenden affirmativen Teil: es handelt sich nicht mehr um eine kunstvoll strukturierte Rede, sondern um eine kaum gegliederte, additive Sammlung von Argumenten, die die Verderblichkeit übermäßigen Essens und Trinkens (und damit auch des dafür verantwortlichen Geschmackssinns) dartun sollten. Gleichwohl: Die Versetzung des älteren Texts in einen neuen Kontext und Überlieferungszusammenhang, die Tilgung der personalund gruppenpanegyrischen Passagen und insbesondere die Erweiterung durch einen Folgetext mit konträrer Stoßrichtung änderten den Verständnishorizont des Lesers. Im Trincierbuch fungierte der Text nicht mehr als Elogium auf den Gesellschaftsnamen des obersten Fruchtbringers, sondern als eine Sammlung von Pro- und Contra-Argumenten, die den Stellenwert des Geschmackssinns im Hinblick auf Gesundheit und Moral betrafen. Damit war die Hierarchisierung der Sinne, wie sie in der Fortpflanzung von 1651 intendiert gewesen war, relativiert. Für diejenigen, die den Prätext kannten, muß der einstige Panegyrikus geradezu in sein Gegenteil verkehrt worden sein. Es gibt Hinweise darauf, daß das nicht ganz ohne Grund und Absicht geschah. Das Interesse Herzog Wilhelms an einem direkten Kontakt mit Harsdörffer, zur Zeit seiner Wahl aufgeflammt, war nämlich bereits im Herbst 1651 wieder erloschen. Trotz mehrerer Versuche konnte der Nürnberger keine Antwort auf seine Nachfragen wegen des geplanten Erzgusses erhalten, so daß seine Bemü-

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hungen letztlich erfolglos waren. Immerhin dankte ›der Schmackhafte‹ dem Patrizier in der zweiten Oktoberhälfte 1651 noch einmal für die Übersendung seiner Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden und äußerte seine Zufriedenheit über den Erhalt der Fortpflanzung; ›der Spielende‹ habe in seiner »zierliche[n] lobrede« »gahr gelehrt und Kunstreich gespielet«, um die Fortsetzung der Gesellschaft »weit und breit bekand zu machen«.76 Über den Absatz des kleinen Druckes liegen widersprüchliche Nachrichten vor. Endter hatte den Verlag des Quartheftchens nur deshalb übernommen, weil ihm Harsdörffer zugesagt hatte, der Weimarer Herzog werde vierzig oder fünfzig Exemplare zu einem Preis von jeweils sechs Kreuzern übernehmen.77 Auch angesichts dieses geringen Betrages konnte sich ›der Schmackhafte‹ zunächst aber nur zum Erwerb von vierzig Drucken verstehen.78 Erst im Juni des folgenden Jahres kam es zu einer Nachbestellung von vierzig Exemplaren,79 die der Herzog wohl in seinem Umfeld zu verteilen gesonnen war. Harsdörffer berichtete bei dieser Gelegenheit, daß die Auflage mittlerweile nahezu verkauft sei. Später allerdings klagte der Verfasser darüber, daß die Schrift »keinen großen Abgang gehabt« habe, und das, obwohl sie »zierlich teutsch und meines Erachtens wol leswürdig« sei.80 Harsdörffer selbst hatte nur zwanzig Belegexemplare erhalten, die er Ende Oktober bis auf zwei bereits verschenkt hatte. Daß »mit Bücherschreiben nicht das Salz zu verdienen« war,81 hat er bei dieser Gelegenheit wieder einmal selbst erfahren. Auch wenn Herzog Wilhelm in seinem Dankschreiben für die Drucklegung der Fortpflanzung für die Zukunft weitere Gunstbeweise in Aussicht gestellt hatte, kümmerte er sich in Zukunft doch kaum noch um die Aufrechterhaltung des Kontakts. Weitere Korrespondenzen besorgte nicht mehr er selbst, sondern er ließ sie offensichtlich durch den Weimarer Hofjunker Heinrich von Schwechhausen (gest. 1653?, ›Der Eigentliche‹) erledigen, der erst 1651 in die Gesellschaft aufgenommen worden war.82 Schon ab Ende 1652 trat dann der Schriftsteller und Weimarer Archivar Georg von Neumark (1621–1681, ›Der Sprossende‹) an dessen Stelle. Ihn hatte der Nürnberger selbst empfohlen,83 und noch ehe er ab

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Burkhardt (wie Anm. 18), S. 71f. (Herzog Wilhelm an Harsdörffer, Oktober 1651), hier S. 72. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 81 (Harsdörffer an Schwechhausen, 30. Oktober 1651). Zehn Exemplare kamen auf einen Gulden zu stehen. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 74 (Harsdörffer an Schwechhausen, 30. Oktober 1651?). Burkhardt (wie Anm. 18), S. 99 (Harsdörffer an Schwechhausen, 12. Juni 1652). Burkhardt (wie Anm. 18), S. 133f. (Harsdörffer an Neumark, 1. Mai 1657). Burkhardt (wie Anm. 18), S. 81 (Harsdörffer an Schwechhausen, 30. Oktober 1651). Burkhardt (wie Anm. 18), S. 31 u. 68. Vgl. auch das Gesellschafterverzeichnis bei Martin Bircher: Im Garten der Palme. Kleinodien aus dem unbekannten Barock. Die Fruchtbringende Gesellschaft und ihre Zeit. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. dems. Berlin 1992, S. 129–163, hier S. 147. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 100 (Harsdörffer an Schwechhausen, 12. Juni 1652).

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1656 offiziell die Position eines Erzschreinhalters einnahm, fungierte er bald als ständige Kontaktperson Harsdörffers in Weimar. Dabei scheint die einst zentrale Rolle des ›Spielenden‹ allerdings kaum mehr beachtet oder gar gezielt zurückgedrängt worden zu sein. Die regen Vorschläge Harsdörffers für die Aufnahme interessierter und einflußreicher Gesellschafter und die Einführung eines Gesellschaftsbandes, für die er selbst Kosten vorgeschossen hatte, wurden entweder auf die lange Bank geschoben oder verliefen ganz im Sande.84 Interessierte, die über Harsdörffer um eine Aufnahme in den Orden gebeten hatten, erhielten monate- und jahrelang keine Antwort und waren über dieses Gebaren denn auch nicht wenig verstimmt. Nicht oder erst mit langer Verzögerung erfüllt wurden seine ständigen Bitten, über den aktuellen Personalstand des Ordens auf dem Laufenden gehalten zu werden, da er die bereits vergebenen Gesellschaftsnamen und Kräuter nicht kenne. Prominente Mitglieder beschwerten sich in ihren Korrespondenzen mit dem Nürnberger darüber, daß ›der Schmackhafte‹ kein Interesse mehr daran habe, der Gesellschaft literarisch interessierte und tätige Mitglieder zuzuführen. Nur noch Höflinge aus dem Umkreis des Weimarer Hofes hätten eine Chance, aufgenommen zu werden. Auswärtige, die der Herzog nicht kannte, interessierten ihn offensichtlich kaum mehr, so daß die Literaten bald klagten, es würden nur noch Unwürdige Zugang finden, die gerade einmal ihren Namen schreiben könnten. Von den »Niedrig Geborene[n]«, die überhaupt noch zugelassen wurden, erwartete das Oberhaupt überdies vor allem »höfliche Bescheidenheit und schuldige Ehrerbietung« gegenüber dem Hochadel.85 Das war ein Verhaltenkodex, der sich aus den ursprünglichen Sozietätszielen kaum mehr ableiten ließ. Der Orden befand sich auf dem Weg zu einer adelslastigen Weimarer Lokalgesellschaft, die die einstigen weitausgreifenden Ziele aus den Augen zu verlieren begann.86 Anderes führte zu persönlichen Verstimmungen. Als es der Nürnberger Patrizier unternahm, einmal selbst um einen Gunsterweis zu bitten und seinen neunzehnjährigen Vetter Gabriel Imhoff nachdrücklich für eine Pagenstelle am Weimarer Hof zu empfehlen, erhielt er erst gar keine und nach wiederholten dringlichen Nachfragen eine abschlägige Antwort. Bei seinen Vermittlungsbemühungen zwischen dem Weimarer Hof und verschiedenen Nürnberger Künstlern, bei denen er Pläne und Kostenvoranschläge einzuholen hatte, wurde er ein ums andere Mal dadurch düpiert, daß endgültige Entscheidungen aus Weimar nur mit langer Verzögerung oder gar nicht zu erhalten waren. Wiederholt mußte er außerdem nachdrücklich um die Erstattung von Auslagen bitten, die er

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Die folgenden Bemerkungen nach Burkhardt (wie Anm. 18), S. 73–138, dazu auch die dortige Einleitung S. 29–41. Bischoff (wie Anm. 18), S. 97. Bischoff (wie Anm. 18), S. 98. Vgl. auch Martin Bircher: Johann Wilhelm von Stubenberg (1619–1663) und sein Freundeskreis. Studien zur österreichischen Barockliteratur protestantischer Edelleute. Berlin 1968, sowie Otto (wie Anm. 59), S. 25f.

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für den Weimarer Erzschrein vorgenommen hatte. Ob dies mit einer gewissen Schludrigkeit in der dortigen Verwaltung, der Überlastung des herzoglichen Sekretariats oder dem Desinteresse des ›Schmackhaften‹ zu tun hatte, ist wohl kaum zu klären; die Stimmung bei dem so aktiven Nürnberger Mitglied wird es aber kaum gehoben haben. So hatte sich gerade im Jahr 1657 das Verhältnis Harsdörffers zum Zentrum der Gesellschaft deutlich abgekühlt.87 Resigniert stellte er in einem Brief an Neumark fest, wie unzufrieden er mit der Entwicklung im Palmenorden war. Daß dieses Unbehagen nicht mehr in vorsichtige Andeutungen versteckt, sondern klar und deutlich formuliert wurde, ist bemerkenswert: »Teutschhertzig darvon zu reden, hat sich der Teutsche Palmbaum bereit weit ausgebreitet, ermangelt aber der unfruchtbaren Äste nicht, und scheinet, es werde von dem ersten Vorsatz weit abgewichen.«88 Die Qualität der Mitglieder war für Harsdörffer also der Quantität geopfert worden, die ursprünglichen Ziele drohten aus den Augen verloren zu werden. Konsequenterweise lehnte er es im gleichen Brief denn auch ab, seine Fortpflanzung als Beidruck für eine Neuauflage des Teutschen Palmbaums freizugeben, der einst bei Wolfgang Endter in Nürnberg erschienen war.89 Wenn er das damit begründete, daß »nur mit neuen Sachen Ehre einzulegen« sei, so war dies freilich nur vorgeschoben. Denn zum einen widersprach es eigentlich der Arbeitsweise des ›Spielenden‹, der ältere Texte sehr wohl immer wieder zweitverwertete; zum anderen war er zu ebendieser Zeit gerade dabei, das Elogium für den Abdruck in der fünften Auflage seines Trincierbuchs umzuarbeiten und dessen Aussage zumindest zu relativieren, wenn nicht sogar in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Koinzidenz dieser Ereignisse dürfte kaum ein Zufall gewesen sein. 5. Harsdörffers Lobrede ist somit in mehrfacher Hinsicht eine bemerkenswerte literarische Schöpfung. Die kleine Schrift bildet einmal ein originelles Beispiel für ein Verfahren, das in der Panegyrik durchaus nicht unüblich war: der Eigenname des Bedichteten diente als Ansatzpunkt für die inventio der Motivik und für die dispositio der Ausarbeitung eines Gegenstandes. In diesem Fall wurde er allerdings nicht lediglich dazu verwendet, alle möglichen Tugenden 87 88 89

Burkhardt (wie Anm. 18), S. 38. Burkhardt (wie Anm. 18), S. 136f. (Harsdörffer an Neumark, 17. Oktober 1657). Carl Gustav von Hille: Der Teutsche Palmbaum: Das ist / Lobschrift Von der Hochlöglichen / Fruchtbringenden Gesellschaft Anfang / Satzungen / Vorhaben / Namen / Sprüchen / Gemählen / Schriften und unverwelklichem Tugendruhm (1647). Nachdruck München 1970. Der von Neumark schließlich 1668 publizierte Neusprossende Palmbaum enthielt so zwar den dokumentarischen ersten Teil der Fortpflanzung (wie Anm. 17, S. 295–330), nicht aber das Lobgedicht Harsdörffers, das der Verfasser nun durch eigene Panegyrika auf den verehrten Arbeitgeber ersetzte.

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und Wünsche aus dem Namen abzuleiten bzw. mit ihm in Verbindung zu bringen; das Motiv verselbständigte sich vielmehr und wurde zum Gegenstand einer persuasiven Rede, die sich insbesondere im zweiten Teil an das genus iudiciale anschloß. Die explizite Applikation auf den Geehrten wurde lediglich in den Paratexten vollzogen und bildete einen mehr oder minder eigenständigen Teil der ›Spielrede‹, die sich an akademischen Mustern orientierte. Aufgegriffen hat Harsdörffer dabei Vorbilder aus der Gesprächskultur der italienischen Akademien. Nicht nur lag ihm die Vermittlung romanischer Kultur nach Deutschland bekanntermaßen besonders am Herzen; die unterhaltsamen Redeübungen dienten auch der Schulung der geistigen Beweglichkeit und der rednerischen Fertigkeiten – ein Anliegen, das der Nürnberger selbst stets ins Zentrum seiner schriftstellerischen Bemühungen stellte. Das Genre des scherzhaften Paradoxons mochte sich hierbei als besonders anspruchsvolle Spielform erweisen: das Plädoyer für eine unerwartete, zunächst abwegig erscheinende Position stieß zwangsläufig auf einen zögernden, ja widerstrebenden Hörer; ihn auf seine Seite zu ziehen, bedurfte es des geschickten Einsatzes stützender Argumente, einer Syllogistik, die notfalls einmal etwas übers Ziel hinausschießen durfte, und suggestiver rhetorischer Mittel. Harsdörffer hat von all dem reichlich Gebrauch gemacht. Ebendas erleichterte auch die Relativierung, ja Rücknahme der ursprünglichen Aussage in der Trincierbuch-Fassung von 1657. Durch eine Detraktion und Adjektion von Strukturelementen und durch die Neukontextualisierung des Textes wurde aus einer einsinnigen Lobrede eine kontrastierende Gegenüberstellung von Pro- und Contra-Argumenten, aus einer verblümten Eloge eine ebensolche Sottise auf das Oberhaupt der Fruchtbringer, der die Fehlentwicklung der Sozietät zu verantworten hatte. Den Kritikgehalt des Textes hat der Verfasser zwar nicht mehr in einem Paratext explizit gemacht; er war für diejenigen, die die erste Fassung und die ordensinternen Hintergründe kannten, aber durchaus zu durchschauen. So exemplifiziert die Lobrede des Geschmackes nicht nur die einfache Mehrfachverwendung einer Text- oder Argumentationssequenz, wie sie bei dem Nürnberger Patrizier ausgesprochen häufig vorkommt. Sie lenkt das Augenmerk mehr noch auf die bislang kaum untersuchten Techniken des Selbstzitats, des Verweises und auf die Verzahnung einzelner Werke.90 Bei einem Autor, der nicht

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Vgl. Jörg Jochen Berns: Harsdörffers Technikandacht. Zum Zusammenhang von Naturwissenschaft, Erbauung und Poesie in den Sonntagsandachten und Erquickstunden. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 22–38, hier S. 37, Anm. 30. Als Problemaufriß jetzt auch ders.: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 55–83.

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nur fremde, sondern auch eigene Texte und Bilder so häufig modularisiert und kombinatorisch weiterverwertet hat, dürfte eine systematische Recherche nach derartigen Bezügen und ihre Analyse noch manche Überraschung bereithalten.

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Anhang Strukturmodelle der beiden Fassungen Fortpflanzung (1651)

Trincierbuch-Fassung (1657)

Fortpflanzung der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft [...]. Nürnberg: Michael Endter 1651.

Vollständiges und von neuem vermehrtes Trincir=Buch [...]. Nürnberg: Paul Fürst, Christoph Gerhard 1657 (und Folgeauflage 1665)

»Vorbericht«

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Dokumententeil • Bittbrief der Köthener Fruchtbringer an Hzg. Wilhelm, 8.1.1651 • Antwortbrief Hzg. Wilhelms, 14.5.1651 • Entschuldigungsbrief Christian Ernst Knochs, 4.5.1651 • Berichtsbrief Wilhelm Heinrich von Freybergs an Knoch, 26.5.1651 Elogenteil • Binnentitelblatt: »Lobrede des Geschmackes«

• »Klingreimen« • »Lob=Rede« ° exordium: exemplum, Poetologie, insinuatio/ captatio benevolentiae ° narratio: System der Sinne ° argumentatio I: probatio ° enumeratio: Zwischenbilanz ° argumentatio II: prosopopoeia, refutatio ° peroratio: applicatio auf den ›Schmackhaften‹, Aufgaben der Fruchtbringenden Gesellschaft • »Kurtze Anmerckungen« ----

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Binnentitel: »Paradoxon, Widersinniger Beweiß / daß der Geschmack der übertrefflichste unter allen äusserlichen Sinnen seye« --• Lobrede --° ° ° °

dito dito dito dito

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--• »Vorstellung der Widerigen Meinung / Daß in dem Geschmacke keine warhaffte Belustigung zu finden«

Dirk Niefanger

Gebärde und Bühne Harsdörffers Schauspieltheorie

Zu den sogenannten transhistorischen Phänomenen1 der Barockzeit, die noch heute neben einigen Kirchenliedern und holländischen Gemälden einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich sind, gehören gewiß Georg Philipp Harsdörffers SpielKonzept und sein Poetischer Trichter. So erproben die Frauenzimmer Gesprächspiele dialogische Darstellungsformen, die nicht nur für die frühe Literaturkritik2 innovativ waren, sondern über Jahrhunderte ein wichtiges Modell für eine eher passive Teilhabe am Kulturdiskurs3 lieferten; man denke an periodische Publikationen ›mittlerer‹ Komplexität, literarische Salons oder modernere Formen des Kulturgesprächs vor Publikum. Der Trichter, inzwischen ein Markenzeichen von Harsdörffers Heimatstadt Nürnberg und dort in den Souvenirläden in Miniaturform erwerbbar, steht für ein geradezu gegenteiliges Vermittlungsmodell: das geordnete und aufgearbeitete Bereitstellen von Wissen. Wahrscheinlich liegt es am differenten Zugang der beiden Hauptwerke Harsdörffers4 – Poetischer Trichter auf der einen Seite, Gesprächspiele auf der anderen –, daß sich die Barockforschung meist nur jeweils auf eines der beiden Werke bezieht. Für das im folgenden verhandelte Thema muß man indes beide Bücher zur Hand nehmen. Denn bei der schwierigen Rekonstruktion der Schauspieltheorie Harsdörffers – wenn man bei den verstreuten Anmerkungen, die hier mosaikartig zusammengesetzt werden, überhaupt von einer Theorie sprechen darf – ist man auf kleinste Hinweise in ganz unterschiedlichen Texten angewiesen. Da

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Vgl. Peter J. Burgard: Vorwort. Äquivoke Anmerkungen zum vorläufigen Projekt einer Definition des Barock. In: Barock. Neue Sichtweisen einer Epoche. Hg. v. dems. Wien 2001, S. 11–14. Vgl. Sylvia Heudecker: Modelle literaturkritischen Schreibens. Dialog, Apologie, Satire vom späten 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2005. Die Frauenzimmer Gesprächspiele nehmen in vieler Hinsicht das Modell des literarischen Salons vorweg; vgl. Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Hg. v. Roberto Simanowski, Horst Turk u. a. Göttingen 1999. Vgl. vor allem die beiden zuletzt erschienenen Sammelbände: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, und Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005. Zum Nürnberger Kontext vgl. jetzt auch Renate Jürgensen: Melos conspirant in unum. Repertorium bio-bibliographicum zur Geschichte des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg (1644–1744). Wiesbaden 2006.

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Dirk Niefanger

es im 17. Jahrhundert aber kaum Quellen zur zeitgenössischen Schauspielkunst gibt, erscheint das Vorhaben, Harsdörffers Vorstellungen vom Schauspiel zusammenzutragen, für die Kultur- und Theatergeschichte dennoch lohnend.

1. Forschungspositionen zur Schauspielkunst im 17. Jahrhundert Beginnen sollen meine Ausführungen mit einem Klassiker der Barockforschung, mit Richard Alewyns Essay Maske und Improvisation aus den späten 1930er Jahren, der zuerst 1952 unter dem Titel Schauspieler und Stegreif des Barock veröffentlicht wurde. Hier lesen wir nicht nur, daß »der Schauspieler ein Geschöpf des Barock«5 sei, sondern auch, daß sich die europäischen Schauspieltraditionen besonders im deutschen Sprachgebiet begegnet sind und gegenseitig beeinflußt haben. Das fehlende Nationaltheater eröffnete Möglichkeiten – mit Barner »Spielräume«6 – des Experiments und Inspirierens, so daß der oftmals konstatierte Nachteil einer verspäteten Theaternation und der kulturellen wie politischen Zerstückelung durchaus auch als Vorteil gewertet werden könnte; die Diversität des Theaters im deutschsprachigen Raum bietet einen breiteren Zugang zu theatralen Möglichkeiten als in den meisten europäischen Nachbarländern.7 Nun, Alewyns Blick ist besonders auf die europäische Wanderbühne gerichtet, auf die Traditionen, die von England, den Niederlanden und Italien her dem stärker institutionalisierten Theater der Renaissance – er denkt vermutlich an die Schul- und Universitätsbühne – Konkurrenz boten. Die professionalisierte Wanderbühne lehne, so lesen wir bei Alewyn, eine Bühne ab, die ausschließlich »im Dienste des Worts und Geists« stände und deren »mimische Interpretation […] auf das Minimum beschränkt« sei. Das neue Schauspielgeschick sei »unentbehrlich« geworden, »um das Wort zu Gehör und die – meist bescheidene – Handlung zu Gesicht zu bringen«. Die »neuen Mimen« seien gekennzeichnet

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Richard Alewyn: Maske und Improvisation. Die Geburt der europäischen Schauspielkunst. In: Ders.: Probleme und Gestalten. Frankfurt/M. 1974, S. 20–42, hier S. 20. Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte, Barbara BeckerCantarino u. a. Wiesbaden 2000, Bd. 1, S. 33–67. Zu dieser Überlegung vgl. Dirk Niefanger: Die Chance einer ungefestigten Nationalliteratur. Traditionsverhalten im galanten Diskurs. In: Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle. Hg. v. Thomas Borgstedt u. Andreas Solbach. Dresden 2001, S. 147–163, und ders.: Barocke Vielfalt. Trauerspielformen auf deutschen und niederländischen Bühnen des 17. Jahrhunderts. In: Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur. Hg. v. Werner Frick in Zusammenarbeit mit Gesa von Essen u. a. Göttingen 2003, S. 158–178.

Gebärde und Bühne

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»durch die rücksichtslose Entfesselung aller histrionischen Mittel, wie sie nur Professionelle sich leisten können«.8 Alewyns Beschreibung der neuen Mimen im 17. Jahrhundert widerspricht der heute gängigen Ansicht von der vermeintlich rückständigen und steifen barocken Schauspielkunst. Sie wird wesentlich forciert von der Idee, erst im frühen 18. Jahrhundert habe sich mit den bahnbrechenden Konzepten Riccobonis, Engels, Diderots und Lessings das Verhältnis des Schauspielers zu seiner Rolle wesentlich verändert, ja, erst dann sei ein radikaler Paradigmenwechsel zu konstatieren.9 Der Verwendung natürlicher Körperzeichen im 18. stehe der Bezug auf künstliche Zeichen im 17. Jahrhundert gegenüber.10 Dabei bezieht man sich gerne auf den höfischen Bereich und grenzt die Vielfalt der barocken Bühne, insbesondere das professionelle Wanderbühnenspiel für das breitere Publikum, aus. Im Barock sei der Schauspieler »völlig abhängig [...] vom rhetorischen und symbolischen Ästhetizismus«. Sein Körper bleibe »den konventionellen Gesetzen des Ausdrucks streng unterworfen«.11 Um das Theater verständlich und kontrollierbar zu halten (argumentiert man im Sinne einer in der heutigen Geschichtswissenschaft für überschätzt gehaltenen Sozialdisziplin12), würde das Schauspiel »auf bestimmte Grundtypen« zurückgeführt; nur so, meint FischerLichte, sei die »Verwendung« der Darsteller »als Zeichen« gesichert.13 Anders als in der Aufklärung verstehe man den Körper noch »als ›Text‹ aus künstlichen Zeichen«14, der alle möglichen allegorischen Lesarten erlaube. Die Schauspie-

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Alewyn (wie Anm. 5), S. 22. Vgl. zuletzt Günther Heeg: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild des 18. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u. a. 2000, bes. S. 304ff.; Erika Fischer-Lichte: Theater im Prozeß der Zivilisation. Tübingen u. a. 2000, S. 30ff.; Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Jörg Schönert. Göttingen 1999. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Bd. 2: Vom ›künstlichen‹ zum ›natürlichen‹ Zeichen. Theater des Barock und der Aufklärung. 3. Aufl. Tübingen 1994. Giovanni Gurisatti: Die Beredsamkeit des Körpers. Lessing und Lichtenberg über die Physiognomik des Schauspielers. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), S. 393–416, Zitat S. 401. Vgl. Heinz Schilling: Disziplinierung oder ›Selbstregulierung der Untertanen‹? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht. In: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 675–691. Vgl. auch Markus Meumann u. Ralf Pröve: Die Faszination des Staates und die historische Praxis. In: Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Umrisse eines dynamisch-kommunikativen Prozesses. Hg. v. dens. Münster u. a. 2004, S. 11–49. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters (wie Anm. 10), Bd. 2, S. 33. Fischer-Lichte: Theater im Prozeß der Zivilisation (wie Anm. 9), S. 27. Ein zentrales anthropologisches Stichwort des 17. Jahrhundert ist die Verstellung (als Gegensatz zur natürlichen Gebärde); vgl. Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1992.

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ler seien – so schließlich Inge Schleier – »weder Gestalt noch Figur«, sondern »Abbild und Metapher«15 beziehungsweise »Emblem«.16 Auch der jüngste Beitrag zur barocken Schauspielkunst17 geht von einer strengen Bindung des körperlichen Ausdrucks an die Redekunst aus. Einleuchtend arbeitet Dietmar Till heraus, daß für das Schauspiel im 17. Jahrhundert die antike Rhetorik und ihre Fortführung in der Frühen Neuzeit von überragender Bedeutung gewesen seien. Da es keine eigene Theoriebildung im Bereich des Schauspiels gegeben habe, liefere sie die Parameter für das rechte Bühnenverhalten. »Schauspieltheorie und Rhetorik werden gleichgesetzt«,18 konstatiert Till thesenartig. Das Theater erscheint ihm als Hilfsmittel der Rhetorikausbildung. Erst im 18. Jahrhundert, wenn die Geltung der an der Antike ausgerichteten Rhetorik zurückgehe, setze eine Körpersprache ein, die sich am Natürlichen orientiere. Die Bedeutung der Rhetorik für die Schauspielausbildung an Schulen und Universitäten kann selbstverständlich nicht bezweifelt werden, doch war das Theater auch hier mehr als nur eine Einübung deklamatorischer Fähigkeiten. Es diente ebenfalls der Repräsentation, der politisch-moralischen Unterweisung, der Erziehung zu Disziplin und Körperbeherrschung sowie – nicht zuletzt – der ästhetischen Verwirklichung von Dichtern und Theatermachern. Denkt man die Schauspielkunst aber ausschließlich als Substitut der Rhetorik, reduziert man sie auf eine bloße Technik, die in den Bereichen actio (vor allem Gesten und Gebärden) und pronuntiatio (Stimme) Körperzeichen zur Unterstützung (oder in seltenen Fällen auch: Ersetzung) der Rede produziert. Dies ist, denke ich, zu einseitig von der Rhetorikausbildung her gedacht und bedenkt zu wenig den eigenen künstlerischen Anspruch des Schauspiels und seine Eigenständigkeit in einem komplexen kulturellen Feld. Es übersieht schließlich zudem die Vielfältigkeit des Schauspiels im 17. Jahrhundert, das ganz verschiedenen Zwecken diente, das auf je unterschiedlichen Traditionen beruhte, für ein je differentes Publikum gedacht war und schließlich in variablen Kontexten gespielt wurde. Betont auf der einen Seite die Aufklärungsforschung mit der Einführung ›natürlicher Zeichen‹ im 18. Jahrhundert die Modernität des eigenen Untersuchungsgegenstandes, so beharrt auf der anderen Seite die an der Rhetorikgeschichte interessierte Barockforschung auf der universalen Geltung ihres Paradigmas. Sie reduzieren die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten des 17. Jahrhunderts

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Inge Schleier: Die Vollendung des Schauspielers zum Emblem. Zu den ästhetischen Grundlagen der Theatersemiotik in der Gryphius-Zeit. In: Daphnis 28 (1999), S. 529– 562, hier S. 535. Schleier (wie Anm. 15), S. 543. Vgl. Dietmar Till: Rhetorik und Schauspielkunst. In: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Rebekka von Mallinckrodt. Wolfenbüttel 2008, S. 61–84. Till (wie Anm. 17), S. 70.

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auf eine geringe Anzahl rhetorischer Techniken.19 In beiden Fällen kommt als Ergebnis für das 17. Jahrhundert eine reglementierte, auf eingeübte, künstliche Körperzeichen beschränkte Schauspielkunst heraus, der jede Natürlichkeit und Freiheit abgeht. Auf wenigen Seiten erscheint es unmöglich, diese beiden mächtigen Deutungsperspektiven völlig in Frage zu stellen, zumal für die Bereiche Hof, Schule und Universität die Wichtigkeit der Rhetorik nicht zu leugnen ist; doch kann man sehr wohl zeigen, daß eine solchermaßen vereinfachte und einseitige Sicht der barocken Schauspielkunst mit Harsdörffer und seiner Vorstellung vom Theater nicht zu machen ist. Dabei ist als zentrales Argument die Notwendigkeit einer historischen Anthropologie anzuführen, die verlangt, die Vorstellung menschlicher Erscheinung je geschichtlich zu lesen und nicht von einer unverändert sich darstellenden Bezogenheit von Ausdrucksintention, Gefühl und Körperlichkeit auszugehen.20 Auch oder gerade im 17. Jahrhundert erscheint es möglich, ja notwendig, körperliche Regungen zu lesen und die leibliche Verfasstheit als natürliches Zeichenrepertoire aufzufassen, etwa um Affekte, Dispositionen und verbal verdeckte Intentionen zu erschließen. Zu nennen sind hier drei frühneuzeitliche Bereiche, wo das Lesen von ›natürlichen‹ Körperzeichen zweifellos zur Routine gehörte und zu mehr oder minder ›realistischen‹ Einschätzungen führte oder führen sollte: die Medizin mit ihren Anatomiesälen und Krankheitsbildern, der Gerichtssaal, der – wie Old Bailey in London – im Verhör eine ehrliche Körpersprache den Richtern und Geschworenen präsentieren konnte und schließlich die Malerei mit ihren spezifischen Körper- und Proportionsstudien, auf die Harsdörffer etwa in seinem Geschichtspiegel von 1654 Bezug nimmt.21 Ein vergleichbarer Realismus ist im Theater Harsdörffers nicht zu erwarten. Doch aus der Binnensicht des 17. Jahrhunderts heraus kann man bei ihm sehr wohl die Maxime eines angemessenen Einsatzes natürlicher Körperzeichen im Schauspiel erkennen. Seine Bühnenästhetik bleibt keineswegs aufs Deklamatorische beschränkt, sondern bezieht Bewegungen, Körpersprache, Mimik, Gestik und eine darauf abgestimmte Raumgestaltung mit ein. Natürlich hat der Nürnberger keine Schauspielkunst à la Riccoboni, Engel, Diderot und Lessing

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Dabei wird Wilfried Barner (Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970) gewiß mißverstanden, untersucht er doch die Herkunft und Verwurzelung des rhetorischen Denkens, überschätzt aber nicht seine Geltung. Vgl. hierzu auch Conrad Wiedemann: Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners ›Barockrhetorik‹. In: Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für Deutsche Barockliteratur 1 (1973), S. 21–51. Hierzu vgl. jetzt: Bewegtes Leben (wie Anm. 17). Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Der Geschichtspiegel: Vorweisend Hundert Denckwürdige Begebenheiten / Mit Seltnen Sinnbildern / nützlichen Lehren / zierlichen Gleichnissen / und nachsinnigen Fragen aus der Sitten-Lehre und der Naturkündigung / Benebens XXV. Aufgaben Von der Spiegelkunst. Nürnberg 1654.

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geschrieben,22 doch zeigen seine wenigen Anmerkungen ein durchaus differenziertes Bild schauspielerischer Repräsentation, das in der Forschung bislang nicht sonderlich beachtet wird. Allerdings muß man Harsdörffers Vorstellungen der Theaterpraxis aus unterschiedlichen Textstellen rekonstruieren.

2. Harsdörffers Ausgangspunkt: Waldmänner und verständige Schauspieler Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist Alewyns These vom Zusammenhang einer Professionalisierung des Schauspiels und der Befreiung von den deklamatorischen Fesseln des rhetorischen Schulbetriebs. Anders als Alewyn ziehe ich aber mit Harsdörffer einen deutschen Barockdichter heran, der die professionelle Wanderbühne zwar rezipiert hat, wie man etwa den Frauenzimmer Gesprächspielen entnehmen kann,23 der ihr aber nicht unmittelbar verbunden war. Sein Schauspielkonzept bleibt primär didaktisch ausgerichtet, ist indes – anders als beispielsweise dasjenige von Andreas Gryphius und Christian Weise – weder direkt an die schulische Ausbildung noch an die pädagogische Praxis gebunden. Harsdörffers Poetik setzt die »Erkundigung fast aller Wissenschaften«24 voraus, wie es zu Beginn des zweiten Teils seiner Poetik in einer oft zitierten Formulierung heißt. Dies erlaubt offenbar die Vorstellung einer Darstellungskunst, die von den primären Anforderungen der rhetorischpolitischen Ausbildung weitestgehend unabhängig gedacht ist, beziehungsweise diese vielfältig nutzt, statt sie zu erproben.

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Vgl. Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert. Tübingen 1995, und Wolfgang Bender: Schauspielkunst im 18. Jahrhundert. Grundlagen, Praxis, Autoren. Stuttgart 1992. Die einschlägigen Quellentexte sind in zentralen Auszügen abgedruckt in Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Hg. v. Jens Roselt. Berlin 2005, sowie Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. Klaus Lazarowicz u. Christoph Balme. Stuttgart 1991. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. VI, S. 43f.; hier grenzt Harsdörffer seine ›ernste‹ Dramaturgie von jener ›volksnaher‹ Lustspiele ab, die von »Schauspielern (Comoedianten/) um Gewinns willen gehalten« werden. Zur Veränderung des Schauspielens im 17. Jahrhundert vgl. unter anderem Manfred Brauneck: Die Welt als Bühne. Geschichte des europäischen Theaters. Stuttgart u. a. 1996, Bd. 2, sowie Dirk Niefanger: »Von allen Kunstverständigen hoch gepriesen.« Thesen zur Wirkung des niederländischen Theaters auf die deutsche Schauspielkunst des 17. Jahrhunderts. In: Niederländisch-deutsche Kulturbeziehungen 1600–1830. Hg. v. Jan Konst, Inger Leemans u. a. Göttingen 2009, S. 153–166. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. II, Bl. A 4v.

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Denn Harsdörffer, so kann man im Poetischen Trichter lesen, sieht den Dichter nicht allein für die »Rede« zuständig, sondern verlangt ausdrücklich, daß er sich darauf »verstehen« solle, »den Schauplatz auszuzieren / und die Music anzustellen«.25 Der Poet, beschäftigt er sich mit Schauspielen, erhält bei ihm zusätzlich die Aufgabe eines Dramaturgen, der »die Zugehör des Schauplatzes / auf welchem sein Gedicht vorgestellet werden sol / als ein Stück seiner Kunst verstehen / und anzuordnen wissen / und hierinnen keinen anderen einen Theil seines Lobs überlassen« darf.26 Allein diese deutlich formulierte Position rechtfertigt, Harsdörffers Poetik zugleich als Schauspieltheorie zu lesen. Schauen wir uns zunächst die beiden zentralen Schauspiel-Kapitel aus dem Poetischen Trichter27 an. Anders als es die Leitmetapher dieser Poetik suggeriert, setzt es nicht mit Regeln zur Verfertigung dramatischer Texte ein, sondern mit einer Darstellung antiker Theaterpraxis: Beim antiken Bacchanal, einer prädramatischen Theaterform, wäre noch »gesprungen und gesungen« worden, ohne auf Formen wie die Metrik zu achten.28 Die antiken Theaterleute hätten festgestellt, daß das Verhalten der »Waldmänner« beim Opferfest deshalb so gut ankäme, »weil sie ungescheut […] bey dem Trunk die Laster hoher Personen zu schimpfen pflegten«. Dies habe den Zuschauern so gefallen, »daß man sie zu mehr Belustigung auf den Schauplatz geführet und so wol traurige als freudige Geschichte / mit veränderten Personen vorstellen lassen«.29 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste des Bacchanals, genauer aus dem Weingeist des trunkenen Silenos. Hier soll es nicht darum gehen, Harsdörffers historische Herleitung der dramatischen Kunst zu bewerten, sondern auf eine elementare Differenzerfahrung aufmerksam zu machen. Natürlich dient die Gründungslegende dazu, innerhalb des Poetischen Trichters die Kultiviertheit barocker Schauspielkunst zu profilieren. Doch offenbart sie eindeutig Harsdörffers Wissen um die Wirkungsmacht natürlicher Körperzeichen im prädramatischen Spiel. Der Alkohol – schon seit der Antike, erst recht im 17. Jahrhundert als Inspirationsmittel anerkannt – enthemmt die Kunst des Schauspielers. Der geplante und insofern kontrollierte Kontrollverlust erlaubt es dem antiken Schauspieler mit seinen exzessiven Regelverstößen zu gefallen. Die Lizenz von Fest und Bühne schafft Spielräume eines körperbetonten, satirisch ausgerichteten Spiels. Zumindest anfangs – so muß man Harsdörffer hier wohl verstehen – beruht das Schauspiel nicht auf der Zuordnung allegorischer Inhalte, sondern – im Gegenteil – auf der Einheit vom Körper und dem, was er repräsentiert. Der trunkene Waldmann springt und singt ohne Regeln; er schimpft und poltert ›ungescheut‹ zum Amüsement des antiken Publikums; er ist ganz Zeichen seiner selbst. 25 26 27 28 29

Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 85. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 86. Vgl. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 70–112. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 70f. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 71.

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Beim prä- wie postdramatischen Theater dient die Performanz nicht der Auslegung vorgegebener Schrift, sondern erzeugt eine Semiose im Vollzug. Der Theatertext entsteht während der Aufführung und seine Dauer bleibt auf den Augenblick seiner Entstehung begrenzt. Schon deshalb kann eine allegorische Wirkung kaum intendiert, allenfalls spontan erzeugt sein. Die Akteure des Bacchanals bei Harsdörffer agieren also nicht als kunstvoll ausgestattete, gar emblematisch gemeinte Rollentexte, sondern in ihrer natürlichen Körperlichkeit, die durch den Alkoholgenuß freigelegt wird. Der Silen und seine Mitgenossen spielen ›ungescheut‹ und – wie es im oben noch nicht zitierten Klammerzusatz heißt – »unter dem Schein einer grossen Weisheit«.30 Das ›ungescheite‹ Spiel erscheint den Zuschauern als ›weise‹, weil es, wie das Spiel der Narren im frühneuzeitlichen Theater, eine unverstellte, nicht an Konventionen gebundene Wahrheit offenbaren darf. Es hat eine satirische Lizenz. Wenn man das Adjektiv ›gescheut‹ als ältere Form von neuhochdeutsch ›gescheit‹ versteht, deutet sich an, was Harsdörffers Erinnerung an das antike Spiel freilegen möchte. Das Spiel ist nicht nur unvernünftig, das macht der Klammerzusatz noch einmal klar, es kann auch nicht ausgelegt werden. Insofern schwingt im hier verwendeten ›gescheit/gescheut‹ noch die ältere Bedeutung ›scheiden‹, ›mittelhochdeutsch ›schíden‹ für ›deuten, auslegen‹ mit. Kurzum: das ›ungescheute‹ Verhalten der ›Waldmänner‹ auf der antiken Bühne, ihr Schimpfen, Tanzen und Singen erscheint als Ausdruck eines spontanen und formlosen Theaters, das der Ausdeutung nicht bedarf, weil es nichts anderes darstellt, als was unmittelbar evident erscheint. Das ›gescheite‹ Spiel referiert auf einen separaten – ›geschiedenen‹ – Sinn, das ›ungescheite‹ nur auf sich selbst. Obwohl Harsdörffer von der Wirkung des ›ungescheuten‹ Körperspiels also durchaus weiß, verlangt er im zeitgenössischen Schauspiel einen maßvollen Umgang mit körperlichen Zeichen. Denn das Theater der ›Waldmänner‹ wurde ja nicht nur als Ursprungslegende des Schauspiels, sondern auch als barbarische Kontrastfolie eingeführt, wobei bemerkenswert bleibt, daß die Antike hier nicht die Regelhaftigkeit, sondern die Regellosigkeit repräsentiert. Wer will, kann hierin eine amplifikatorische Geste in der Frühphase der deutschen Querelle sehen.31 Die einschlägige Stelle für Harsdörffers Vorstellung vom korrekten Spiel findet sich wenig später im selben Kapitel des Poetischen Trichters. Sie wird eingeleitet durch einen Reflex auf seine Bildpoetik. Das Schauspiel werde nicht gelesen, argumentiert Harsdörffer durchaus im Sinne der heutigen Theaterwissenschaft, sondern stelle ein »lebendiges Gemähl«, ein plurimediales Bühnengeschehen, dar.32 Dies sollte nicht mit den erst im 18. Jahrhundert populär 30 31 32

Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 70f. Vgl. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 72f.

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werdenden tableaux vivants, mit den Schlußbildern höfischer Schauspiele im 17. Jahrhundert und auch nicht mit den aus Festumzügen bekannten picturaInszenierungen der Barockzeit verwechselt werden. Der Ausdruck bezieht sich vielmehr auf die in den Kapiteln »Von den Bildereyen« und »Von der Nachahmung (de Imitatione)«33 entwickelte Nähe der Poesie zur Bildkunst. Von zentraler Bedeutung für Harsdörffers Position kann hier eine spezifische Rezeption des Horazischen »ut pictura poesis«34 ausgemacht werden, das sich bekanntlich im Brief an die Pisonen findet (De arte poetica): Dort illustriert die Formel unterschiedliche Rezeptionsperspektiven, während sie im hier entfalteten Kontext aber die gemeinsamen ästhetischen Gesetze von Malerei und Poesie betont, vor allem – und das ist für die Schauspiellehre relevant – ihre Verpflichtung zur Nachahmung. »Das Gedicht […] hat eine grosse Vereinbarung mit der Mahlerey«, heißt es im Poetischen Trichter,35 ist aber mit dieser nicht gleichzusetzen. Was er mit ›Gedicht‹ meint, präzisiert Harsdörffer an anderer Stelle, wenn er betont, »dass die Mahlerey mit der Reim- und Singkunst verschwestert seye«.36 Er hebt sie damit deutlich von der Alltagsprache und – hat man die ›Waldmänner‹-Legende im Kopf – auch von der Darstellungsweise der frühen antiken Schauspiele ab. Nicht die Sprache an sich, sondern die Poesie ist mit der Malerei verwandt, weil sie wie diese von der Alltagsnorm abweichende Verfahren der Mimesiserzeugung verwendet. Und genau so sollen auch die modernen Schauspiele verfahren. Dabei sind ihre dramatischen Imaginationen nicht spontan und willkürlich, sondern orientieren sich an eingeführten Vorstellungen, wie sie etwa durch die Sinnbildkunst, durch Emblematik und Allegorese vorgeprägt werden. Die Schauspieler referieren nicht oder besser nicht nur auf die Natur, sondern auch auf das Bildrepertoire der Zeit. Die vorgestellten Szenerien meinen wie alle poetischen Bilder also nicht nur das, »was sie vorstellen«, sondern referieren auch auf das, was man »Gleichniß= oder Erklärungsweis in den Sinnbildern«37 lernen kann. Nur in seinem Verweis auf das Bildgedächtnis seiner Zeit stellt der Körper des Schauspielers nach Harsdörffer eine Projektionsfläche für allegorische Texte dar. Aber durch seine strikte Bindung an die Mimesis bleibt erstens seine menschliche Gestalt stets präsent und zweitens arbeitet auch die herangezogene Emblematik, das Bildgedächtnis des 17. Jahrhunderts, mit ›natürlichen‹ Körperzeichen.38 Auch sie werden im Schauspieler wiedererkannt. Seine Gesten

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. III, S. 36. Vgl. Horaz: De arte poetica [auch: Ars poetica], Vers 361. Zum hier verhandelten Thema vgl. immer noch Hans Christoph Buch: Ut pictura poesis. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács. München 1972. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. III, S. 36. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 281), Tl. VI, S. 157. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. III, S. 102. Vgl. etwa: Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts.

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und Worte mögen – manchmal, keinesfalls immer – auf einen allegorischen Inhalt verweisen; ihre Herkunft in der menschlichen Gestalt verwischt Harsdörffers Dramaturgie aber natürlich nicht. Diese kulturelle Mehrfachcodierung des Schauspielkörpers überrascht kaum, wenn man Fischer-Lichtes Theatersemiotik im Kopf hat; diese konstatiert ja eine generelle doppelte Zeichenbelegung im Bereich des Theaters.39 Was im 17. Jahrhundert sicher noch nicht ausgebildet war, ist der Anspruch, mit dem Körperspiel eine einheitliche Empfindung auszudrücken.40

3. ›Natürliche‹ Bühnenzeichen im 17. Jahrhundert: Gebärdensprache Auf die Verwendung von Körperzeichen im Theater geht auch der Hauptbeleg für Harsdörffers Schauspieltheorie im Poetischen Trichter ein: Die Personen aber / so den Schauplatz betretten / werden behertzt in dem Reden / höflich in den Geberden / fähig in dem Verständniß / üben das Gedächtniß / und arten sich höhern Verrichtungen vorzustehen. Was Belustigung bey wol verfassten / und wol zu Werck gerichten Schauplatzspielen sey / ist beyzubringen unnöhtig / das Werck redet.41

Der Schluß des Zitats hebt einen Sachverhalt hervor, den die Aufklärungsforschung gerne übersieht:42 Auch die Barockzeit differenziert zwischen dem Drama (dem zugrundeliegenden literarischen Text) und der Aufführung (dem Theatertext auf der Bühne): Ersteres bestimmt das Verfahren des Schauspielers auf der Bühne. »Das Werck redet«, der Spieler setzt es, so gut er kann, um. Im Gegensatz zum prädramatischen Spiel der ›Waldmänner‹ orientiert sich das neue Theater am schriftlich niedergelegten poetischen Drama; deshalb setzt das richtige Spiel auch die Befähigung zum »Verständniß«, zur Hermeneutik voraus. Dem ›ungescheuten‹ Spiel der ›Waldmänner‹ steht das verstehende Agieren der modernen Bühne entgegen, das zwischen Signifikat und Signifikant unterscheidet.

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Hg. v. Arthur Henkel u. Albrecht Schöne. Taschenausgabe. Stuttgart u. a. 1996, S. 970 u. 1003–1038. Vgl. Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 19 u. ö. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Der Körper als Zeichen und als Erfahrung. Über die Wirkung von Theateraufführungen. In: Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts. Inszenierung und Wahrnehmung von Körper – Musik – Sprache. Hg. v. Erika Fischer-Lichte u. Jörg Schönert. Göttingen 1999, S. 53–68. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), S. 73. Vgl. etwa: Theater und Drama. Theoretische Konzepte von Corneille bis Dürrenmatt. Hg. v. Horst Turk. Tübingen 1992.

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Trotz dieser offensichtlichen Kopflastigkeit der Schauspieltheorie gibt es in dem Zitat einen unübersehbaren und prominent plazierten Hinweis auf das Körperspiel, genauer auf die Gebärde, die gemäß dem aptum – nämlich ›höflich‹ – eingesetzt werden soll. Keineswegs grenzt Harsdörffer hiermit das körperliche Agieren auf das ein, was in der zeitgenössischen französischen Theatertheorie bienséance (Schicklichkeit) heißt;43 denn zum angemessenen Ausdruck gehört – das macht der Text wenig später deutlich – gegebenenfalls auch ein zwar angemessener, aber ›unschicklicher‹ Sprachgestus: »In Schmertzen […] ist oft die Wolredenheit übel reden«,44 heißt es über die rechte Pronuntiation. Harsdörffers Poetik lizenziert also Abweichungen vom an sich festgeschriebenen hohen Stil im Trauerspiel. Und dies gilt mutatis mutandis für die Körpersprache. Wird von einem Boten – gemäß des Medea-Paradigmas45 – vom extremen Schrecken berichtet, so soll dieser seine Regung nicht nur über die Rede, sondern auch über den Körper ausdrücken: Die Wort / und des Erzählers Geberden sollen die Marter so erbärmlich ausbilden können / auch mehrmals durch eine unverhoffte Veränderung in der Zuschauer Gemüts-Neigung gleichsam miteinander streiten machen.46

Die Überlegungen zur Wirkung auf den Zuschauer orientieren sich an Aristoteles und vor allem Scaliger, wie der wenig später erfolgende Hinweis auf »Erstaunen / oder Hermen und Mitleiden«47 unmißverständlich deutlich macht. Die ›Gemüts-Neigung‹ soll ausdrücklich auch durch die ›Geberden‹ hervorgerufen werden. Die ›natürlichen‹ Körperregungen des Zuschauers beschreibt Harsdörffer an dieser Stelle übrigens recht präzise, wenn er den »kalten Angstschweiß«48 – humoralphysiologisch für eher passive Gemütszustände – mit dem Staunen

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Vgl. Harsdörffer: Der Geschichtspiegel (wie Anm. 21), bes. die Abschnitte 84 (»Die unterschiedne Höflichkeit«) und 33 (»Die barbarische Höflichkeit«). Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 85. In Harsdörffers Poetischem Trichter (wie Anm. 24) heißt es: »Grausame Marter und Pein so die Henkerbuben verüben / werden auf den Schauplätzen nicht gesehen / sondern von den Botten oder auch der Geplageten Angehörigen und Freunden erzehlet« (Tl. II, S. 82). Diese Bestimmung entspricht der barocken Interpretation einer Stelle der Ars poetica von Horaz. Entweder könne etwas auf der Bühne aufgeführt oder berichtet werden, heißt es dort. Das mittelbar Berichtete würde den Zuschauer weniger erregen als das unmittelbar Dargestellte, das sich dieser selbst aneignen müsse. Infolgedessen solle der Poet – so hat man Horaz verstanden – bei der Darstellung von Grausamkeiten eher die indirekte Darstellung präferieren. Horaz selbst geht es freilich nicht nur um die Vermeidung von Schrecken, sondern ausdrücklich um die Frage der Glaubwürdigkeit der Szene. Hierzu vgl. unter anderem Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987, S. 1–16, und Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit. 1495–1773. Tübingen 2005, S. 173f. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 82f. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 83. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 83.

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zusammenbringt. Die Körperreaktion auf den Schrecken dürfte vermutlich das Erröten sein. Mit natürlichen Körperzeichen beschäftigen sich auch Passagen aus Harsdörffers Teutschem Secretarius (1655), einer Kombination aus Briefsteller und »Titular- und Formularbuch«.49 Unter den Musterbriefen zu historischen, juristischen und philosophischen Angelegenheiten finden sich erstaunliche Ausführungen »Von dem Weinen«, die man auf Anhieb vielleicht eher der Empfindsamkeit zugeordnet hätte. Ausgangspunkt ist die Frage, »ob die Threnen füglich für ein Zeichen der Schwachheit konnen gehalten werden«.50 Nachdem der Brief die Herkunft der Tränen aus dem Feuchtigkeitshaushalt des Körpers abgeleitet hat, differenziert er zwischen Tränen aus »Furcht, Zagheit oder Blödigkeit«, die aus Einfalt und fehlender Körperbeherrschung resultieren, und solchen, die »auf ein gutes und liebreiches Gemüt« schließen lassen. Diese Tränen aus »Mitleiten« lassen es »keines Weges aber« zu, »eine Schwachheit daraus zu schliessen«.51 Analoges bemerkt der Verfasser zum Weinen aus »herzlicher Treue«.52 Es öffnet geradezu den Weg zu religiöser Einkehr. Der folgende Brief befaßt sich mit dem Gelächter. Solche Texte zeigen, daß es im 17. Jahrhundert sehr wohl möglich war, die Körperzeichen von ihrer natürlichen Herkunft her zu denken. Diese wird in Relation zu den Affekten gedacht, die die Körperreaktion auslösten und mit den Fähigkeiten zusammengebracht, diese zu regulieren. Das Weinen verweist – schon bei Harsdörffer – auf Mitleid, aber kann auch auf andere Affekte referieren. Dabei wird die Affektkontrolle keineswegs absolut gesetzt, sondern von der Art der Affekte abhängig gemacht. Körperzeichen, die positive Affekte mitteilen, wie das Mitleid, »sind vielmehr zu loben«.53 Sie können oder sollten durchaus gezeigt werden. Dies gilt mutatis mutandis natürlich auch für das barocke Theater der Affekte, das Harsdörffers Schauspieltheorie vor Augen hat. Angesichts der Reflexion ›natürlich‹ gedachter Körperzeichen wundert es nicht, wenn man in den Frauenzimmer Gesprächspielen lesen kann, daß der Poet auf dem »Schauplatz […] am Ende aller Personen Geberden ziemlich nachzuahmen« habe.54 ›Nachahmen‹ (Mimesis) muß man hier im Sinne der Nürnberger Bildpoetik als ausgesprochen sinnliche und anschauliche Repräsentation sehen. Zur Kompetenz des Schauspielers gehört demnach nicht nur die Redekunst sondern auch das Beherrschen des Körperspiels; von einem reinen

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Georg Philipp Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius. Das ist: Allen Cantzleyen / Studirund Schreibstuben nutzliches / fast nohtwendiges […] Titular- und Formularbuch (1655). Nachdruck der Ausgabe 1656–1659. Hildesheim u. a. 1971, S. [III]. Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius (wie Anm. 49), S. 651. Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius (wie Anm. 49), S. 652. Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius (wie Anm. 49), S. 654. Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius (wie Anm. 49), S. 654. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 23), Tl. VI, S. 42.

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Deklamationsstil kann bei Harsdörffer also keine Rede sein, zumal er sich über die Gebärden ausdrücklich in seiner Sammlung Poetischer Beschreibungen, die sich im Poetischen Trichter findet, genauer, wenn auch nicht erschöpfend, ausläßt. Ergänzendes kann man wiederum aus dem sechsten Teil der Frauenzimmer Gesprächspiele heranziehen. Das theatertheoretische Stück Der Schauplatz, das dort abgedruckt ist, liefert zwar vor allem Informationen zur adäquaten Bühnengestaltung der Singspiele, doch enthält es auch einige generelle Hinweise zum Agieren der Spieler.

4. Die Herkunft der Gebärden: anthropologische Grundlagen Nehmen wir zuerst den ›Geberden‹-Abschnitt aus den Poetischen Beschreibungen zur Hand. Schon mit den ersten Stichworten kombiniert Harsdörffer – wie in der ersten zitierten Schauspielerpassage – Gebärden und Höflichkeit: Die angebornen Geberden / der Sitten Wolstand / annehmliche Höflichkeit / ein Lobbrief ohne Wort. Das / was ein Knab wird werden / erscheinet in Geberden. Anständige Hofsitten / die man kaum lernen kann / und jedem eingeschaffen […].55

Die hier angeführten barocken Gemeinplätze machen deutlich, daß Harsdörffer mit den Gebärden nicht jene eingeübten und zeichenhaft überformten Deklamationsgesten meint, die die Forschung gerne der barocken Schauspieltheorie zudenkt. Zu diesen äußert er sich übrigens recht ausführlich in seinem Briefexempel »Von der Hände Deutung« im Teutschen Secretarius,56 das John Bulwers Chirologia (1644) auswertet. Bei den in obigem Zitat angesprochenen ›höflichen Gebärden‹ handelt es sich weniger um eingeübte als vielmehr um angeborene und durch schichtenspezifische Erziehung geprägte Verhaltensweisen. Die Gebärden interpretiert Harsdörffer als sozialdifferenzierende, aber weitestgehend unbewußte Selbstdarstellung. Mit Bourdieu könnte man hier vielleicht von einem distinktiv wirkenden Habitus sprechen.57 Für die Schauspieltheorie bedeutet dies, das die körperliche Präsenz der Spieler dem Habitus ihrer Rolle entsprechen muß; für das Trauerspiel, von dem Harsdörffer in seinem Schauspiel-Kapitel ja vor allem handelt, kommt also nur ein Agieren in Betracht, daß »höflich in den Geberden« ist.58 Die Körperzeichen deshalb aber ›künstlich‹ zu nennen, erscheint aus barocker Sicht falsch, weil die

55 56 57 58

Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. III, S. 216. Vgl. Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius (wie Anm. 49), S. 707–717. Till ([wie Anm. 17], S. 73–76) scheint dieses deutschsprachige Rezeptionszeugnis nicht bekannt zu sein. Vgl. Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Übers. v. Bernd Schwibs u. Achim Russer. Frankfurt/M. 1987, bes. S. 277ff. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. II, S. 73.

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höfische Körpersprache den adeligen Menschen in der Regel von Geburt an als eigen, als ›natürlich‹ angesehen wird. An den Gebärden kann man sehen, heißt es in den Inventionen, was ein Knabe werden wird. Die anständigen Hofsitten kann man kaum lernen; entweder man hat sie oder nicht. Die stratifikatorische Gesellschaft mag aus unserer heutigen Sicht ein künstliches Verhalten hervorbringen, weil sie nicht von einer anthropologischen Gleichheit ausgeht; aus Sicht des 17. Jahrhundert erscheint aber eine Schauspieltheorie, die die stratifikatorische Anthropologie der Zeit berücksichtigt, keinesfalls ›unnatürlich‹, sondern der menschlichen Natur angemessen. Im Sinne der theatrum mundi-Vorstellung des 17. Jahrhundert müßte man sicherlich auch die Notwendigkeit der Verstellung (simulatio, dissimulatio) hervorheben, die den körperlichen Habitus – insbesondere die Gesten – natürlich mit einbezieht; die Spielfähigkeit des Menschen wird gerade in Bezug auf die lebensweltliche Relevanz des Theaters von den Zeitgenossen denn auch immer wieder betont. So interpretiert Lohenstein in der berühmten Widmungsvorrede zum Trauerspiel Sophonisbe das Spiel als Weltprinzip, dessen Beherrschung Garant für ein Zurechtfinden in der Gesellschaft sei: »Für allen aber ist der Mensch ein Spiel der Zeit. // Das Glücke spielt mit ihm / und er mit allen Sachen.«59 Das Spielprinzip, will es erfolgreich sein, darf freilich nicht die Verstellung als Verstellung kenntlich machen, sondern muß sie im Prinzip verbergen, auch wenn alle um sie wissen. Dies gehört ebenfalls zum theatrum mundi-Prinzip. Schließlich könnte man noch aus Sicht einer verbal orientierten Rhetorik argumentieren, die Körpersprache sei bei Barockdenkern wie Harsdörffer doch nur auf einige Gesten reduziert, die die Deklamation unterstützen. Aber auch hier belehrt uns der Abschnitt aus den Inventionen eines Besseren. Er macht deutlich, welche Bereiche der Köpersprache Harsdörffer unter den Ausdruck ›Geberden‹ rubriziert: Die Geberden sind stumme Reden / die mit Freundlichkeit bereden. Der Gang / die Red und Sitten und äusserliche Zeichen von der innerlichen Beschaffenheit deß Gemütes gleich wie man einen Baumen an seinen Blättern kennet / so kennet man die Menschen an den Geberden.60

Die ›Geberde‹ umfaßt hiernach alle »äusserliche[n] Zeichen« des Menschen, also neben der Mimik und Gestik auch und ausdrücklich den Bereich der Proxemik. Zudem zeigt sich in Harsdörffers Beschreibung, daß in der Barockzeit die Körperzeichen sehr wohl Informationen von der »innerlichen Beschaffenheit deß Gemütes« geben können; dieses ist freilich weniger von der Seele im mo-

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Daniel Casper von Lohenstein: Sophonisbe. Hg. v. Rolf Tarot. Stuttgart 1981, S. 8. Hierzu vgl. Wilfried Barner: Disponible Festlichkeit. Zu Lohensteins Sophonisbe (Mit Diskussionsbericht von Elke Kaiser u. Bernhard Teuber). In: Das Fest. Hg. v. Walter Haug u. Rainer Warning. München 1989, S. 247–275 u. 299f. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 24), Tl. III, S. 217.

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dernen Sinne her zu denken, obwohl Harsdörffer an anderer Stelle den Leib als »SeelenWagen« oder »Seelenhaus« bezeichnet,61 sondern im Kontext der eben schon angeführten Humoralphysiologie zu deuten. Das Gemüt, das sich in den Gebärden zeigt, hängt – neben der Standeszugehörigkeit – mit jener körperlichen Verfaßtheit zusammen, die sich – zumindest in seinen groben Zügen – aus der Viersäftelehre erschließen läßt. Als Beleg wäre hier unter anderem auf eine einschlägige Passage im Schauplatz-Drama zu verweisen; dort, auf der imaginären Bühne der Frauenzimmer Gesprächspiele also, wird ein Schauspiel diskutiert, daß die Darstellung der »menschlichen Leibesbeschaffenheit« im Hinblick auf die Humorallehre praktiziert, wobei – im Sinne barocker Anthropologie – die vier Gemütszustände den entsprechenden Körpererscheinungen zugeordnet werden. Die Spieler geben, so formuliert es einer der Sprecher, »durch die Geberden den Zuschauern gleichsam ein Rähtsel« auf, welche Leibesbeschaffenheit »gemeinet« ist.62 Daß die körperliche Präsentation durch Bühnenbild, Farbgebung und Sprache beziehungsweise Gesang unterstützt wird, versteht sich von selbst. Von natürlicher Körperpräsentation in unserem Sinne kann deshalb zwar nicht die Rede sein, wohl aber von einer Körpersprache, die sich ostentativ auf zeitgenössische Vorstellungen vom Leib bezieht. Diese formuliert Harsdörffer noch einmal in seinem Geschichtspiegel von 1654; als Antwort auf die Frage »Wo die anständigen und höflichen Geberden herkommen?« führt er aus: 18. […] Der Leib ist der Model oder die Form / dardurch / oder nach welcher sich die Seele erweiset / und aus des äusserlichen und sichtbarlichen Zustand geberet auch das innerliche; daher kommet es / dass die Gallreichen zornig / die Schleimreichen faul / die Blutreichen frölich / etc. und daher kommen auch die Geberden / dass ein Melancholischer nicht freundlich / und ein Blutreicher nicht traurig seyn kann.63

Die körperliche Disposition des Menschen bestimmt seine Gebärden genauso wie seine Herkunft. Natürlich kann die Erziehung ein übriges dazu beisteuern, muß sich freilich aber am Ideal der jeweiligen Gesellschaftsgruppe orientieren. Diese führt auch zu ›unwissenden‹ Übernahmen eines Habitus, der im Schauspiel nachgeahmt werden kann. Uns gefällt dabei, so Harsdörffer, was unserem Stand am nächsten kommt. 19. Zu dem kommet die Auferziehung von den Kinder=Jahren / und dienen darzu Exempel der Eltern / und der Gesellschaffter / von welchen wir unwissend die Arten zu reden / und die Sitten an uns zu nehmen pflegen. Es können Geberden gut und böß seyn / nach ihrem Gebrauch / wie jener / der in einem Schauspiel sagte: O Himmel! Und sahe auf die Erden: O Erden! Und sahe gen Himmel. Zu dem kommet auch der 61 62 63

Vgl. den Abschnitt »Leib« in den Beschreibungen (Harsdörffer: Poetischer Trichter [wie Anm. 24], Tl. III, S. 313). Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 23), Tl. VI, S. 54f. Harsdörffer: Der Geschichtspiegel (wie Anm. 21), S. 617.

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Wahn / welcher Geberden bald für wolständig / bald für missständig beurtheilet / und gefallen uns sonderlich die Geberden / welche den unserigen gleichen.64

Das Schauspielbeispiel macht deutlich, daß auf der Bühne eine Differenz von Körpersprache und Rede Sinn erzeugen kann. Die Differenz sollte vom Publikum rezipiert werden können, wobei offen bleibt, auf welcher Ebene ›Wahrheit‹ ausgedrückt wird. Harsdörffer schließt jedenfalls nicht aus, daß die Gebärde die Rede korrigiert und daß also den Körperzeichen die primäre Wahrheitsvermittlung zukommt. Sicher scheint mir, daß Harsdörffer an dieser Stelle davon ausgeht, daß die Körpersprache nicht vollkommen steuerbar ist und deshalb unter Umständen ein adäquateres Verhalten preisgibt, als es die verbale Rhetorik verheißt. Schließlich macht der Geschichtspiegel noch deutlich, in welcher Weise die Standesdifferenz in den Gebärden ablesbar wird. Sie sollte – nach Harsdörffer – naturgemäß im Schauspiel Berücksichtigung finden. 20. Andere wollen / dass auch die Geberden mit uns geboren werden / wie andere Schönheiten des Leibes / daher sihet man / dass einem wol anstehet / was dem anderen übel anstehet / und wird ein grober Bauren=Flegel so wenig Höflichkeit erlernen können / als ein Mühlpferd das passagieren.65

Die Lehre vom aptum/decorum läßt ein bestimmtes Verhalten in den Gebärden erwarten. Ihre natürliche Anlage wird zwar erwogen, aber nicht mit Sicherheit vorausgesetzt. Die Passage läßt den tatsächlichen Anteil der Einübung offen, verweist aber auf eine anzutreffende Rezeptionshaltung, die für die Einschätzung des Publikums relevant ist. Dieses wird von der Gebärde auf den Stand schließen und umgekehrt mit anderen Standeszeichen – wie Kleidung, Sprache oder Titel – Gebärden des Körpers verbinden.

5. Fazit Die Ausführungen machten deutlich, daß man im Sinne einer historischen Anthropologie66 argumentieren muß, wenn man untersuchen möchte, ob die Körperzeichen im Schauspiel ›natürlich‹ gedacht werden. Geht man hingegen von einer universellen, überhistorischen Anthropologie aus, mißt man die geschichtlichen Befunde mit einer unangemessenen Kategorie. Erst mit dem Naturrechtsdenken, der Ablösung der Affekttheorie durch die eher am Individuum

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Harsdörffer: Der Geschichtspiegel (wie Anm. 21), S. 617f. Harsdörffer: Der Geschichtspiegel (wie Anm. 21), S. 618. Vgl. als Überblick Richard van Dülmen: Historische Anthropologie. Entwicklung – Probleme – Aufgaben. Köln u. a. 2000.

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orientierte Empfindsamkeit und schließlich vor allem mit der neuen Medizin im 18. Jahrhundert erscheinen der Körper und seine Erscheinungen unabhängig von Ständevorstellungen und wird die Humoralphysiologie peu à peu verabschiedet. Gerade die »Auseinandersetzung mit den historischen Ausprägungen der Anthropologie und der Semiotik im 18. Jahrhundert« habe für die Theaterforschung – so konstatiert Erika Fischer-Lichte schon 1999 – neue Perspektiven eröffnet. Für das Theater im 17. Jahrhundert sind solche anthropologischen Perspektiven bislang kaum berücksichtigt worden und auch die semiotische Untersuchung von Aufführungsbedingungen beschränkte sich meist auf leicht zugängliche expositorische Texte wie die erst im frühen 18. Jahrhundert erschienene Abhandlung des Jesuiten Franciscus Lang67 oder auf einige Tanzlehren um 1700.68 Kaum jemand schaut auf Aufführungsberichte oder Theaterhinweise in Poetiken und ähnliche theatergeschichtlich auswertbare Texte. Dies habe ich mit meiner Harsdörffer-Analyse versucht; sie wollte neue Akzente im Feld der Theatergeschichte setzen, indem sie Aspekte der historischen Anthropologie berücksichtigte. Was ist dabei herausgekommen? Die formelhafte Unterscheidung ›künstlicher‹ Bühnenzeichen im Barock und ›natürlicher‹ in der Aufklärung ist aus Sicht der Theatertheorie Harsdörffers nicht haltbar. Bedenkt man sein stratifikatorisches Menschenbild und seine humoralphysiologischen Ansichten kann man sehr wohl von einer Berücksichtigung ›natürlicher‹ Körperzeichen in seiner Theaterkonzeption sprechen. Wie bei jeder einigermaßen komplexen Vorstellung vom Bühnenspiel muß auch hier von einem vielschichtigen, polyphonen Einsatz von Theaterzeichen ausgegangen werden, der sowohl ›natürliche‹ als auch ›künstliche‹ Konnotationen berücksichtigt. Daß der Nürnberger sogar um das ungeregelte, weitestgehend ›natürliche‹ Körperspiel des prädramatischen Theaters wußte, zeigen seine Ausführungen zum antiken Bacchanal, das er in mancher Hinsicht ähnlich deutet wie die postdramatische Theatertheorie.69 Hier wie dort wird keine Rolle gespielt, sondern werden ›Blockaden‹ beseitigt, um Körper als Körper, Spieler als Spieler zu zeigen. Das Barocktheater in Harsdörffers Theorie verfährt natürlich anders; aber es vergißt nicht die Wirkungsmäch-

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Vgl. Franz Lang: Abhandlung über die Schauspielkunst (Dissertatio de actione scenica, 1727). Nachdruck übers. u. hg. v. Alexander Rudin. Bern u. a. 1975. Vgl. Marie-Thérese Mourey: Galante Tanzkunst und Körperideal. In: Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Rebekka von Mallinckrodt. Wolfenbüttel 2008, S. 85–103, und Rebekka von Mallinckrodt: Körperrhetorik und -semiotik der volkstümlichen Figuren auf der Bühne. In: Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730). Hg. v. Stefanie Arend, Thomas Borgstedt u. a. Amsterdam u. a. 2008, S. 105–141. Vgl. etwa Jens Roselt: Masken ab! Vom Schauspieler zum Performer. Richard Schechner. In: Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater. Hg. v. dems. Berlin 2005, S. 326–329; sowie Richard Schechner: Environmental Theater. In: Ebd., S. 330–357.

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tigkeit des Körpers. Die Gebärden, die sowohl als Körperregungen als auch als Körperbewegungen im Raum verstanden werden, sollen nicht nur die Rede unterstützen, sondern selbst Sinn erzeugen, der durchaus gegenläufig zur verbalen Spielebene gedacht werden kann. Als gleichberechtigter Teil des Theaters sind die Körperzeichen deshalb im Rahmen von Harsdörffers auf Sinn- und Bildlichkeit basierender Mimesis-Vorstellung einzusetzen. Das hohe Spiel der Tragödie verlangt eine angemessene und in diesem Sinne natürliche Gebärde, die aber bei großem Schmerz akzentuierend durchbrochen werden kann. Hinzu kommen Vorgaben an das Körperspiel, die sich aus der anthropologischen Gestaltung der Rollen ergeben; insofern sind zeitgenössische Medizinvorstellungen bei der Analyse von Theaterzeichen mitzudenken. In diesem Sinne plädiere ich für eine anthropologisch und soziologisch differenzierte Beurteilung der Schauspieltheorie des Barock, speziell Harsdörffers, und gegen eine vorschnelle Einordnung barocken Spiels durch eine am vermeintlichen Fortschritt im 18. Jahrhundert orientierte Theaterwissenschaft.

Hans-Joachim Jakob

Die Schauplatz- und Theater-Bildlichkeit in Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte

Der Mensch verwandelt sich und flieht von der Bühne; seine Meynungen fliehen und verwandeln sich mit ihm: die Geschichte allein bleibt unausgesetzt auf dem Schauplatz, eine unsterbliche Bürgerin aller Nationen und Zeiten. Friedrich Schiller: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789)

1. Die Mordgeschichten im Sinne eines performativen Begriffs von Theatralität Der | Grosse Schau= | Platz jämmerlicher Mord- | geschichte. | Bestehend in CC. traurigen | Begebenheiten | Mit vielen merkwürdigen Erzeh= | lungen / neu üblichen Gedichten / Lehrrei= | chen Sprüchen / scharffsinnigen / artigen / | Schertzfragen und Antworten / &c. | Verdolmetscht und mit einem Bericht | von den Sinnbildern wie auch hundert Exem= | peln derselben als einer neuen Zugabe / auß den | berühmsten Autoribus, | durch | Ein Mitglied der Hochlöblichen | Fruchtbringenden Gesellschafft. | Zum drittenmahl gedruckt.

So lautet der Text des Titelblatts der dritten Auflage von Harsdörffers erster Schau=Platz-Anthologie, die dem Nachdruck von 1975 zugrunde gelegt wurde.1 Die Signalwirkung des Haupttitels und der in den Nebentiteln angekün1

Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten. Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975. – Bereits seit einigen Jahren ist eine Ausgabe der Mordgeschichten bibliographisch erfaßt, die das Publikationsjahr 1648 aufweist und damit die Angaben von Gerhard Dünnhaupt, der eine zweibändige Ausgabe von 1649–1650 als Erstdruck verzeichnet, um ein Jahr unterbietet (Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Stuttgart 1991, zu Harsdörffer Bd. 3, S. 1969–2031, hier S. 1999f., Nr. 49.1). Vgl. den Hinweis von Alexander Halisch: Barocke Kriminalgeschichtensammlungen. In: Simpliciana 21 (1999), S. 105–124, hier S. 120 Anm. 8 (mit der Signatur der Marburger Universitätsbibliothek). Ein Vergleich der 1648er und der 1649–1650er Ausgabe wäre überaus interessant. – In diesem Zusammenhang ist auch die Entdeckung eines Exemplars des Grossen Schauplatzes Lust= und Lehrrei-

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digten Zugaben scheint sich als überaus publikumswirksam erwiesen zu haben – bis 1693 erschienen sieben Auflagen. Was ist mit dem in den beiden größten Drucktypen auf dem Titelblatt prangenden »Grosse[n] Schau=Platz« aber nun genau gemeint? Leichtfertige Assoziationen zu medialen Formaten des 20. und 21. Jahrhunderts drängen sich zunächst auf. Sollten wir es bei dem Schau=Platz mit der barocken Variante der unverwüstlichen deutschen Krimiserie Tatort (klingt schließlich so ähnlich wie Schauplatz) zu tun haben? Oder gar mit einem Vorläufer der erfolgreichen Crime Scene (klingt auch wieder ähnlich) Investigation? So bedenkenswert die in jüngster Zeit vollzogene Anbindung der Mordgeschichten an die deutschsprachige Kriminalliteratur auch ausgefallen ist,2 so wenig hilft die Terminologie des neuzeitlichen Krimis bei der Erhellung frühneuzeitlicher Begrifflichkeiten. Ernüchtert stellt man nach der rituellen Konsultierung des entsprechenden Bandes von Johann Heinrich Zedlers Universal-Lexicon denn auch fest: Theater, Schau=Platz, Schau=Büne, Gr. Theatron, Lat. Theatrum, Frantz. Teatre, Théatre, Ital. Teatro, ist ein erhabener Ort, auf welchem von darzubestellten Personen allerhand Trauer= Freuden und Singe=Spiele (Tragedies, Comedies, Opera) und andere zur öffentlichen Schau gehörige Dinge aufgeführet oder aufgestellet werden.3

Und am Ende des Artikels: »Theater, Theatra, heissen auch grosse in Gärten angelegte, meistens erhabene Plätze, die mit Fontainen und Statuen häuffig ausgezieret sind, und in allen Stücken, dienen bloß eine angenehme Aussicht zu machen.«4 In der Folge notiert das Lexikon denn auch gleich die Begriffe, die im semantischen Umfeld aufzufinden sind: von »Theater (Anatomisches)« bis »theatrum sympatheticum« (der Titel eines 1662 in Nürnberg gedruck-

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cher Geschichte ebenfalls mit dem Publikationsjahr 1648 im VD 17 zu vermerken; vgl. Hania Siebenpfeiffer: Narratio crimen. Georg Philipp Harsdörffers Der grosse SchauPlatz jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 157–176, hier S. 157 Anm. 4. Vgl. etwa Waltraud u. Matthias Woeller: Georg Philipp Harsdörffer. In: Georg Philipp Harsdörffer: Der grosse Schauplatz jämmerlicher Mord-Geschichte. Ausgew. u. hg. v. Waltraud u. Matthias Woeller. Leipzig u. a. 1988, S. 5–24, und prononciert Siebenpfeiffer (wie Anm. 1). Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste (1732–1754). Nachdruck Graz 1962, Bd. 43, Sp. 458. – Vgl. zum Zedler nur Nicola Kaminski: Die Musen als Lexikographen. Zedlers Grosses vollständiges UniversalLexicon im Schnittpunkt von poetischem, wissenschaftlichem, juristischem und ökonomischem Diskurs. In: Daphnis 29 (2000), S. 649–693, und Ulrich Johannes Schneider: Die Konstruktion des allgemeinen Wissens in Zedlers Universal-Lexicon. In: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Hg. v. Theo Stammen u. Wolfgang E. J. Weber. Berlin 2004, S. 81–101. Zedler (wie Anm. 3), Sp. 461.

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ten Buches),5 »worinnen alle Schrifftsteller von der Sympathie und Antipathie anzutreffen sind.«6 Hier erfährt die Bedeutung des Theaters als Aufführungsort von »Tragedies«, »Comedies« und »Opera« bereits eine signifikante Erweiterung. Im Anatomischen Theater geht es offensichtlich nicht mehr um die kunstvolle Inszenierung dramatischer Vorlagen. Vielmehr steht die kunstvolle und anschauliche Zergliederung des menschlichen (oder tierischen) Körpers und mithin eine hochritualisierte Form der Zelebrierung medizinischer Wissenschaft im Zentrum der Darstellung.7 Andererseits tragen auch ganz bestimmte Bücher den Titel Theatrum oder – wie bei Harsdörffer – Schau=Platz. Um kumulative Sammlungen dramatischer Spielvorlagen handelt es sich weder beim Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte noch beim Theatrum sympatheticum. Theatrum scheint also – bereits das ergibt das Herumblättern im Zedler – in der frühen Neuzeit vielfältigere Bedeutungen gehabt zu haben als nur Spielstätte.8 Zwei der Markierungen der Bedeutungsdimensionen aus dem Zedler – einerseits theatrum als übertragener Begriff für eine ausgewiesene Lokalität, etwa für wissenschaftliche Demonstrationen, und andererseits theatrum als beliebter Buchtitel im 16. und 17. Jahrhundert – sollen den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen bilden. Aber bleiben wir zunächst noch bei der Bedeutung von theatrum als ›Ort, auf welchem von darzubestellten Personen allerhand Trauer= Freuden und Singe=Spiele‹ dargeboten werden. Ein weitergehender Zusammenhang zwischen Harsdörffers Schauplatz-Titelei im Sinne eines Theaters als Spielstätte und den von ihm gesammelten hunderten von Erzählungen ist naheliegend. Ordnet man

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Zedler (wie Anm. 3), Sp. 462–471. Zedler (wie Anm. 3), Sp. 471. Vgl. zur überragenden wissenschaftshistorischen Bedeutung des theatrum anatomicum etwa Anna Bergmann: Massensterben und Todesangst im 17. Jahrhundert. Zur rituellen Leichenzergliederung im Anatomischen Theater. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Hg. v. Erika Fischer-Lichte. Stuttgart u. a. 2001, S. 316–336; Hartmut Böhme: Der Körper als Bühne. Zur Protogeschichte der Anatomie. In: Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Hg. v. Helmar Schramm, HansChristian von Herrmann u. a. Berlin 2003, S. 110–138, bes. S. 126–131, und Ludger Schwarte: Anatomische Theater als experimentelle Räume. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. a. Berlin u. a. 2003, S. 75–102. Vgl. zur Begrifflichkeit zunächst Urs H. Mehlin: Die Fachsprache des Theaters. Eine Untersuchung der Terminologie von Bühnentechnik, Schauspielkunst und Theaterorganisation. Düsseldorf 1969, bes. S. 15–20. – Nach wie vor grundlegend zur Kompendienliteratur mit Schauplatz- oder theatrum-Titelei ist Wolfgang Brückner: Historie und Historien. Erzählliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts als Forschungsaufgabe. In: Volkserzählung und Reformation. Ein Handbuch zur Tradierung und Funktion von Erzählstoffen und Erzählliteratur im Protestantismus. Hg. v. dems. Berlin 1974, S. 13–123, hier S. 102–110 (»Theatrum vitae humanae«). In diesem Zusammenhang informiert knapp, aber instruktiv Thomas Kirchner: Der Theaterbegriff des Barock. In: Maske und Kothurn 31 (1985), S. 131–140.

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Harsdörffers Geschichten und die französischen Originale eines seiner wichtigsten Gewährsmänner, Jean-Pierre Camus, in die Tradition der histoires tragiques ein,9 so stößt man umgehend auf die Begründer dieser Textsorte: Matteo Bandello, Pierre Boaistuau, François de Belleforest und François de Rosset. Deren Erzählsammlungen wurden von niemand geringerem als William Shakespeare als Quellen für einige seiner Dramen genutzt.10 Derartige Transferbewegungen zwischen Prosatexten und dramatischen Vorlagen deuten einen Zusammenhang zwischen Schauplatz- oder theatrum-Titelei und inszenierungskompatiblen Anteilen der Texte nicht nur an.11 Bieten sich die Erzählungen gegebenenfalls nicht nur wegen ihrer Inhalte, sondern auch schon wegen struktureller Besonderheiten zur dramatischen Weiterverarbeitung an? Harsdörffers Erzählungen scheinen sich der Dramaturgie zumal der Tragödie partiell einzufügen. Ausdrücklich handelt es sich ja um ›traurige Begebenheiten‹, also um Geschichten mit unerfreulichem Ende zumindest für einige der handelnden Figuren. Die Geschichten weisen häufig ein Promythion und ein Epimythion auf, also sowohl eine vorwegnehmende moralische Ermahnung am Anfang als auch eine verstärkende didaktische Festigung in Form etwa eines Merkverses am Schluß. Das gemahnt an die Fabel ebenso wie an die tragedi von Harsdörffers Landsmann Hans Sachs. Sachs versah seine Stücke sicherheitshalber mit einem rigoros moralisierenden Prolog und Epilog. Die Mordgeschichten also als blutrünstige Mini-Trauerspiele

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Vgl. zu dieser Tradition die neuesten Beiträge von Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires tragiques. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 177–194, und Misia Sophia Doms: »Wann ein Frantzos […] ein teutsches Kleid anziehet«. Die Behandlung konfessioneller Fragen bei der Übersetzung von Jean-Pierre Camus’ L’Amphithéâtre sanglant und in Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. In: Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Marcel Krings u. Roman Luckscheiter. Würzburg 2007, S. 51–69. – Die internationale Forschung zu Harsdörffers französischen Quellen wird verzeichnet von Halisch (wie Anm. 1), S. 121, Anm. 16. Vgl. darüber hinaus Dietmar Rieger: »Histoire tragique« und Ständeklausel. Zu den Wandlungen einer narrativen Gattung des 17. Jahrhunderts. In: »Diversité, c’est ma devise«. Studien zur französischen Literatur des 17. Jahrhunderts. Festschrift Jürgen Grimm. Hg. v. Frank-Rutger Hausmann, Christoph Miething u. a. Paris u. a. 1994, S. 397–424, außerdem die Beiträge zur histoire tragique in dem Band Violence et fiction jusqu’à la Révolution. Hg. v. Martine Debaisieux u. Gabrielle Verdier. Tübingen 1998. – Die neueste Monographie stammt von Thierry Pech: Conter le crime. Droit et littérature sous la Contre-Réforme: Les histoires tragiques (1559–1644). Paris 2000. Ingo Breuer hat in einem instruktiven Aufsatz die Forschung zu den Mordgeschichten perspektiviert und vielfältige Anregungen für weitere Untersuchungen gegeben. Vgl. Ingo Breuer: Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. v. Hartmut Böhme. Stuttgart u. a. 2005, S. 291–312, zu den histoires tragiques und Shakespeare S. 295. Breuer (wie Anm. 10), S. 295.

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für die kurzweilige Lektüre oder zur Weitererzählung im Rahmen von gesellschaftlichen Anlässen? Frappierend scheinen die Ähnlichkeiten auch zwischen Harsdörffers Erzählungen und z. B. Daniel Caspers von Lohenstein Tragödien zu sein, wenn man den polemischen Themenkatalog der schlesischen Trauerspiele von Felix Bobertag aus dem Jahr 1885 liest: »Sie sind tragisch, wenn Schandthaten, Handlungen des Wahnsinns, der Grausamkeit, der äußersten Verworfenheit, Hinrichtungen, Folterungen, Pest und Kriegsgreuel an sich tragisch sind.«12 Ohnehin ist eine Deutung des Harsdörfferschen Schauplatz-Begriffs im Sinne von Theater mit dezidiert performativem Einschlag hochgradig anschlußfähig an bereits vorliegende Erkenntnisse. Der Mensch im Barock als Schauspieler auf der Bühne des Lebens und der Welt, der im Fall der Mordgeschichten im Theater der Versuchungen und Laster seinen Schwächen unterliegt und ein gerechtes Ende findet – die einprägsame Metaphorik des theatrum mundi und theatrum vitae humanae darf als topisches Signum besonders des 17. Jahrhunderts gelten und wurde längst facettenreich erforscht.13 Die Ausfaltung des Theater-Begriffs in den Paratexten der Mordgeschichten stützt diese Interpretation. Die »Erklärung des Titels«, also die Erläuterung des Frontispiz,14 setzt ein mit dem Satz »Die Tragaedia / oder das Traurgeschicht

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Felix Bobertag: Einleitung. In: Zweite schlesische Schule I. Hg. v. dems. Berlin u. a. 1885, S. I–XXIV, hier S. XXIII. Vgl. in erster Linie den ›Klassiker‹ zum Thema von Richard Alewyn: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. 2. Aufl. München 1985, S. 60–90; weitergehend Peter Rusterholz: Theatrum vitae humanae. Funktion und Bedeutungswandel eines poetischen Bildes. Studien zu den Dichtungen von Andreas Gryphius, Christian Hofmann von Hofmannswaldau und Daniel Casper von Lohenstein. Berlin 1970, S. 9–24, Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. 2. Aufl. Tübingen 2002, S. 86–131 (»›Theatrum mundi‹. Der Mensch als Schauspieler«), und Hans Urs von Balthasar: Theodramatik. Einsiedeln 1973, Bd. 1, S. 147–160. Zur Ikonographie des Titelbildes vgl. Gottfried Kirchner: Fortuna in Dichtung und Emblematik des Barock. Tradition und Bedeutungswandel eines Motivs. Stuttgart 1970, S. 75f.: »Der bärtige Chronos mit Sense und Stundenglas kniet am Boden; auf seinem Rücken liegt eine Marmortafel, in die ›Tragoedia‹ mit einem Dolch den Titel der französischen Originalausgabe einritzt: ›Amphitheatre Sanglant‹. Das von einem Strahlenkranz umgebene Haupt wird auch in einem Spiegel sichtbar, den die Gestalt in der Hand hält; er ist das Signum ihrer abbildenden und deutenden Funktion.« – Marion Kintzinger interpretiert die Frauenfigur hingegen als Historia, was für den weiteren Bezug auf die Geschichtsschreibung in den Mordgeschichten von beträchtlicher Relevanz ist: »Allein die Moral steht im Mittelpunkt eines Titelkupfers, das Harsdörffers ›Schauplatz jämmerlicher Mordgeschichte‹ einleitet. Es zeigt das Bildmotiv, das seit dem 17. Jahrhundert typisch für die Paarzuordnung von Zeit und Geschichte war: Historia schreibt auf dem Rücken der Zeit. Die Vorlage des Historia-Typus zeigt bildlich, daß die ›Tragödia‹ oder ›Traurgeschicht‹ der Geschichtsschreibung zugeordnet wird. Das Titelblatt hebt hervor, daß Historia die Macht der Zeit gebrochen hat. Zwar bleiben ›der Zeit‹ Flügel und Sense, doch erscheint beides funktionsuntüchtig. Chronos liegt am Boden und vermag weder seine übergekreuzten Beine noch seine Sense zu benutzen. Betont sind dagegen alle Zeichen, die auf Ewigkeit hindeuten: die auf ihm stehende Historia ritzt das, was sie schreibt, mit einem Dolch in eine Marmortafel, erhält es also für die Ewigkeit. Der

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redet«. In der Zuschrift an Johann Wilhelm von Stubenberg15 wird eingangs ein römisches Amphitheater beschrieben – ein unverhohlener Verweis auf einen wichtigen Prätext von Harsdörffers Sammlung, L’amphithéâtre sanglant (1630) von Jean-Pierre Camus.16 Das Amphitheater wird näher als »Spielhaus« definiert und sein entsprechendes Personal aufgeführt: Gladiatoren, aber auch »Weiber / Zwerge« und »seltzame Wunderthiere«. Die Gladiatoren dienen Harsdörffer ohnehin in der Folge zur Explizierung seiner Geschichten: »In diesem gegenwertigen Schau=Platz finden sich fast dergleichen jämmerliche Lustspiele und Mordfechter (Secutores) in Beschreibung vieler Rauffhändel«. Die Kampftechniken der Gladiatoren und ihre Ausrüstung werden forciert mit den Lastern der Akteure in den Geschichten in Verbindung gesetzt: Wollust, Geiz, Betrug und Machtmißbrauch. Der »Meister dieser Mordspiele«, also der Spielleiter, ist »der leidige Satan«. Diesem kann Harsdörffer selbstverständlich nicht das Feld überlassen. Mit Berufung auf einen seiner beliebtesten Prätexte, die Bibel, sind die »Schauplätze« und »Spielhäuser« auch Orte, wo man den Kampf für die »rechte« Sache lernen kann – also für die Sache Gottes und gegen den Satan respektive gegen die, die von ihm verblendet wurden. Das dominante Wortfeld des Kampfes findet seine Ergänzung in zusammengesetzten Begriffen aus dem Wortfeld ›Spiel‹. Der Begriff »Lustspiel« wird zweimal ausgerechnet im Zusammenhang mit blutigen Gladiatorenkämpfen verwendet. Allerdings dürfte das Wort »Lustspiel« im Barock noch nicht die gattungstypologische Bedeutung gehabt haben, die es im 18. Jahrhundert gewann. Die betont argute Rhetorik der »Zuschrift« weicht in der »Nothwendige[n] Vorrede an den Neugierigen Leser«17 ohnehin einem sachlicheren Ton. Harsdörffer situiert sich mit seinen Geschichten zielsicher im Feld der Historiographie, nutzt zur Betonung der Qualität seiner Texte den historia-Diskurs und betont damit die besondere Dignität der res factae.18 Er wendet sich aber zugleich gegen die Ständeklausel, wenn er

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Glorienschein, der sie umgibt, signalisiert die Präsenz göttlicher Erleuchtung« (Marion Kintzinger: Chronos und Historia. Studien zur Titelblattikonographie historiographischer Werke vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1995, S. 132). Kirchner und Kintzinger beziehen sich auf das Titelbild der Mordgeschichten-Ausgabe von 1649 (leicht greifbar bei Kintzinger, S. 284). Das Titelbild der Ausgabe von 1656 ist etwas abgewandelt. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), Bl. )( iij r–Bl. )( iiijv. Vgl. dazu Pech (wie Anm. 9), S. 113–131 u. ö., sowie ausführlich Stéphan Ferrari: Introduction. In: Jean-Pierre Camus: L’amphithéâtre sanglant. Hg. v. Stéphan Ferrari. Paris 2001, S. 7–162. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), Vorrede, unpag. Vgl. zur poetologischen Debatte über fabula und historia insbesondere Simpliciana 20 (1998), speziell zu Harsdörffer außerdem Rolf Tarot: »Fiktion« bei Harsdörffer. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 105–126, bes. S. 114–126. – Die Forschungsliteratur zur historia als vorzüglichem Legitimierungs- und Ordnungsmodell in der Gelehrsamkeitskultur des 16. und 17. Jahrhunderts erscheint einigermaßen uferlos, daher sei hier nur genannt: Helmut Zedelmaier: Bibliotheca universalis und Bibliotheca selecta. Das Problem der Ordnung des gelehrten Wissens in der frühen Neuzeit. Köln u. a. 1992,

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nicht »der Könige / Fürsten und Herren Kriege / Frieden / Gesandschafften / Handlungen und dergleichen Begebenheiten« verzeichnet, sondern »der privat Personen merkwürdige Geschichte«. Über die Fabel und das Gleichnis gelangt er wieder zum hohen didaktischen Nutzen der dramatischen Gattungen Trauerund Freudenspiel. Nach einem literaturkritischen Rundumschlag, bei dem auch die Mißbilligung des Pikaro-Romans (»Gusmann, Lazarillo, oder die Picara Iustina deß Vbeda«) nicht fehlen darf, erläutert Harsdörffer mit Rückgriff auf das Amphithéâtre sanglant nochmals seinen Titel: »Wir nennen es: Den grossen Schauplatz blutiger oder jämmerlicher Mordgeschichte / welche sich zu unsren Zeiten begeben.« Und nochmals differenzierend: »Von Wort zu Wort könte man sagen: Der blutige Schauplatz / in welchem die traurigen Geschichte unsrer Zeit vorgestellet werden.« Camus’ ursprüngliche Blut-Metaphorik wird hier also nochmals ausdrücklich gewürdigt. Typisch ist Harsdörffers intertextuelles Spiel mit anderen Werken aus seiner Feder. Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte19 erfährt in der Vorrede ebenso gebührende Erwähnung wie die Frauenzimmer Gesprächspiele. Insbesondere der letztere Verweis macht stutzig – und in der Tat: Im sechsten Band der Gesprächspiele findet sich ein 34-seitiges Gesprächspiel zum Thema ›Schauplatz‹.20 Schauplatz ist hier ausdrücklich als Theaterbühne gedacht, die Diskussion dreht sich zunächst um gemalte Bühnenbilder und Kulissen. Die Ständeklausel ist auch für die mit entsprechendem Hintergrund ausgekleideten Schauplätze virulent: »Der Könige / Fürsten und Herren Ehrenstand« bekommt als Hintergrundbild selbstverständlich »stattliche Paläste / und Fürstliche Garten=Gebäue«.21 »Der Burgerliche Haus= und Mehrstand«, also das personelle Umfeld der ›Freudenspiele‹, wird situiert auf einem »Schauplatz von schlechten Gebäuen / Kirchen / Märken / Brunnen und Strassen.«22 Schließlich bleibt für den »Bauer= oder Nehrstand / handlend von Hirten= und Schäfersachen / von dem Akerbau / und Landleben« als passende Umgebung »ein Wald oder Aue / Felder / Flüsse / Trifften / Hölen / Dörffer / Heinen / Weiler / und dergleichen«.23 Am Ende des Gesprächs gibt Vespasian denn auch als ultimative Stützung für seine Argumentation die farbenfrohe Schilderung

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S. 225–308. – Vgl. zu einem konkreten ›Geschichtstheater‹ des späten 17. Jahrhunderts hingegen Ina-Maria Greverus: Die Chronikerzählung. Ein Beitrag zur Erzählforschung am Beispiel von Chr. Lehmanns Historischem Schauplatz (1699). In: Volksüberlieferung. Festschrift Kurt Ranke. Hg. v. Fritz Harkort, Karel C. Peeters u. a. Göttingen 1968, S. 37–80. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1664. Hildesheim u. a. 1978. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. VI, S. 159–193. Vgl. den Hinweis von Breuer (wie Anm. 10), S. 311. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 20), Tl. VI, S. 160. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 20), Tl. VI, S. 161. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 20), Tl. VI, S. 161.

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eines königlichen Schauessens anläßlich einer Hochzeit, bei der sich der Festsaal mithilfe von aufwendigster Theatermechanik in eine Bühne verwandelt.24 So vollzieht sich der Schauplatz-Diskurs im Zusammenspiel von Gesprächspielen und Mordgeschichten von der strengen Behauptung der Ständeklausel und der strikten Auffassung von Schauplatz im Sinne von theatraler Spielstätte (Gesprächspiele) zur Relativierung derselben Ständeklausel unter Beibehaltung der Theater-Metaphorik (Mordgeschichten). Es wird didaktischer Mehrwert für die Mordgeschichten proklamiert, die der historia verpflichtet sind und somit den vorzüglichen Status der res factae beanspruchen. Im Anschluß an die hohe Gattung der Tragödie – man denke nur an den expliziten Hinweis durch das Frontispiz – präsentieren sie zwar gerade nicht die Unglücksfälle der Könige, sondern die Unglücksfälle von Repräsentanten aller Stände zur moralischen Aufrichtung des Lesepublikums. Der besondere Status der hohen dramatischen Gattung und der möglichen Katharsis der Rezipienten wird bei dieser Gelegenheit dann auch gleich gegen die Gattung des niederen Romans, speziell der des Schelmenromans, ausgespielt, die ohnehin vielen zeitgenössischen Dichtungstheoretikern ein Dorn im Auge war. Weitere Belege zum besonderen Stellenwert der dramatischen Gattungen lassen sich in den Harsdörfferschen Textgebirgen mühelos auffinden. Zusätzliche Argumente für einen Theater-Begriff im Sinne einer Spielstätte liefert etwa Harsdörffers Schauspieltheorie, wie sie im Poetischen Trichter entfaltet wird.25 Und so ist es wohl alles andere als ein Zufall, wenn der Jesuit Jacob Balde im Dedikationsteil der Druckfassung seiner überaus repräsentativ angelegten neulateinischen Jephtias Tragoedia (1654), in dem er zu einer rigorosen Nobilitierung der höchsten aller Gattungen ansetzt, dabei die Funktion der allegorischen Figur der tragoedia auf seinem Titelblatt erläutert und ausdrücklich den Bezug zu Harsdörffers Mordgeschichten sucht: Quem in usum creditur in varijs Orbis partibus plures Historicos disponere, qui tristes rerum exitus & incertae Sortis ludibria literis mandent. Quid enim aliud agunt Franciscus Rossetus Parisijs in Gallia; Norinbergae in Germania Georgius Philippus Harsdorfferus, viri clarissimi, dum tam diligenter ac scitè exemplis Tragicis colligendis animum intendunt. Equidem huic Divae a manibus, calamis atque secretioribus consilijs constituti mihi esse videntur, ut in promptu habeat exhibenda Mortalibus mira ostenta. Non me hercule, ut carpat, insultet, exprobret. Neque enim pascitur miserijs aliorum: sed

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 20), Tl. VI, S. 189–193. Vgl. den Beitrag von Dirk Niefanger im vorliegenden Band, außerdem Markus Paul: Reichsstadt und Schauspiel. Theatrale Kunst im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Tübingen 2002, S. 148–157, und ders.: Wider das »Spiel vom Teufel Heer«. Harsdörffer und das christliche Schauspiel bei den Nürnbergern im Kontext zeitgenössischer Theaterfeindlichkeit. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 143–157.

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in propatulo ponit aliena pericula, Calamitates ostro tinctas; Posteris monumentum, viventibus documentum.26

2. Die Mordgeschichten als Wissenstheater So übermächtig die einschlägigen Belege für eine enge Auslegung des Theater- und Schauplatz-Begriffs bei Harsdörffer sind, so interessant erscheint es doch, auch andere zeitgenössische theatrum-Bedeutungen für den Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte einmal durchzuspielen – selbst wenn man damit lediglich eine weitere semantische Facette in der Titelwahl der Anthologie ermittelt. Die terminologische Brücke bildet in diesem Fall der Begriff der Theatralität. Theater oder Schauplatz stellen in diesem Fall ein Gebilde dar, das nicht notwendigerweise mit einer materialen Bühne identisch sein muß. Schauplatz ist im Sinne eines Ortes zu verstehen, auf dem es etwas zu sehen gibt27 – das kann eine Aussichtsplattform, ein Ausstellungsraum oder eben ein Buch sein. Auch die Harsdörffer-Forschung hat sich mit dieser Begriffsmodifizierung befaßt. Bereits 1988 nahmen Waltraud und Matthias Woeller im Hinblick auf die Mordgeschichten von einem engeren performativen Theaterbegriff Abstand.28 26

27

28

Jacob Balde: Opera Poetica Omnia. Bd. VI: Dramatica (1729). Nachdruck hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Hermann Wiegand. Frankfurt/M. 1990, S. 4. Vgl. die Übersetzung von Heidrun Führer: Studien zu Jacob Baldes Jephtias. Ein jesuitisches Meditationsdrama aus der Zeit der Gegenreformation. Lund 2003, S. 112, Anm. 85: »Zu diesem Zweck, so glaubt man, verteilt sie [die Tragoedia] an verschiedene Orte der Welt mehrere Historici, die traurige Ausgänge von Ereignissen oder das Spiel des ungewissen Schicksals niederschreiben sollen. Denn was machen die sehr berühmten Männer François Rosset in Paris in Frankreich und Georg Philipp Harsdörffer in Nürnberg, in Deutschland, anderes, während sie sich anstrengen, so sorgfältig und kundig tragische Beispiele zu sammeln. In der Tat scheinen sie mir für diese Göttin als Helfer, Schreiber und geheime Ratgeber bestellt, damit sie erstaunliche Wunder bereit halten kann, die den Menschen dann gezeigt werden müssen, und nicht, beim Herkules, um zu zerrupfen, beleidigen oder Vorhaltungen zu machen. Denn sie weidet sich nicht am Elend anderer, sondern sie stellt die Gefahren anderer und in Purpur getauchte Unglücksfälle offen vor Augen, für die Nachwelt zum Gedenken, für die Lebenden zur Belehrung.« Vgl. auch den Hinweis von Wilhelm Kühlmann: Balde, Klaj und die Nürnberger Pegnitzschäfer. Zur Interferenz und Rivalität jesuitischer und deutsch-patriotischer Literaturkonzeptionen. In: Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtstags. Hg. v. Thorsten Burkard, Günter Hess u. a. Regensburg 2006, S. 93–113, hier S. 107. Vgl. dazu auch äußerst konzise Christian Horn: Repräsentativität. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch u. a. Stuttgart u. a. 2005, S. 268–271, hier S. 270: »In der Frühen Neuzeit wurden all diejenigen Orte als Theater bzw. theatrum bezeichnet, an denen etwas – nicht nur als Abbild, sondern als dieses selbst – auf exponierte Weise zur Schau gestellt wurde.« Vgl. den entscheidenden Hinweis bei Woeller (wie Anm. 2), S. 10: »So wie die Naturwissenschaftler im 17. Jahrhundert die anatomischen Theater für ihre Lehren und Demonstrationen nutzten, will Harsdörffer auf dem ›Amphithéâtre‹, hier paßt die Be-

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Ein Jahr später bekundete Guillaume van Gemert im Rahmen der Trienter Harsdörffer-Tagung beim Vergleich der Paratexte des Schau=Platzes Lust= und Lehrreicher Geschichte und der Mordgeschichten gravierende Zweifel an der Geschlossenheit von Harsdörffers Schauplatz-Begrifflichkeit: Offene Widersprüche und unübersehbare Inkonsequenzen in Harsdörffers Handhabung der Theatermetapher treten zutage, wenn man das Modell, das sich aus der Anwendung des Freudenspiel-Vergleichs im Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte ergibt, auf den Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte überträgt.29

Der Anschluß an einen Theaterbegriff im engeren performativen Sinn und die in diesem Fall dazugehörige Gattung der Tragödie ist van Gemert zufolge dadurch versperrt, daß Harsdörffer – wie bereits erwähnt – im Handstreich die Ständeklausel auflöst. Daher schlägt van Gemert vor, eine modifizierte Theatermetapher ins Feld zu führen, »wie sie sich im Bereich der geistigen Literatur der Barockzeit findet. Sie verwertet ebenfalls poetologische Elemente, aber ordnet diese einer Sinngebung sub specie aeternitatis unter.«30 Als Beispiel führt er unter anderem das Magnum theatrum vitae humanae (1631) von Laurentius Beyerlinck an. Bereits im Eingangszitat aus dem Zedler nahmen in der langen Liste der theatrum-Bedeutungen Bücher mit entsprechender Titelei einen gewissen Stellenwert ein. Johann Peter von Ludewig wendet sich noch 1732 im ersten Band des Universal-Lexicons polemisch gegen die bisherigen Sammelformen gelehrten Wissens, um die Vorzüge des Universal-Lexicons hinreichend zu betonen: Dann andere Bücher, welche / nach dem Alphabet / jedoch nur eine Art, von so vielerley Artickeln, die alhier beysammen, ausmachen / prangen mit weit mächtigern Nahmen; die man / zu solchem Ende / theils von den Griechen, oder den Lateinern erborgen müssen / um denselben ein besonderes Ansehen in dem Titel zu machen. Sie heissen: Theatra; Thesavr; Poliantheae; Bibliothecae; Musea; Armamentaria; Fora; Archiva; Palatia; Promtvaria; Pandectae; Specvla; Polymathiae; Aristarchi; Critici; Adversaria; und so weiter. Welche also von Schauplätzen; Schaubühnen; Schatzkammern; Rüst- und Bücherkammern; Zeughäusern; Gärten, Märckten; Messen; Archiven; Pallästen; Speisekammern; Alles in

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zeichnung Camus’ besser als ›Schau-Platz‹, rätselvolle, interessante, bewegende Fälle der Öffentlichkeit – ebenfalls zur Lehre – vorführen. Die Schau-Plätze werden zu einer Art Experimentierbühne für literarische und bildende Novitäten.« Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers Schauplätzen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 313–331, zur Theatermetapher bes. S. 319–327, Zitat S. 322. Vgl. dazu auch Siebenpfeiffer (wie Anm. 1), S. 160f., Anm. 19. van Gemert (wie Anm. 29), S. 323.

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allem; Spiegeln; Vielaugen; Säälen u. s. w. genommen / und folglich mehr Aufsehen erwecken / als das schlechte Wörtgen Lexicon oder Wörterbuch.31

In der Tat stößt man auf ausgedehnte Textbestände, wenn man im VD 17 Bücher nur mit theatrum- oder Schauplatz-Titelei eingibt: 587 Titel mit dem Element theatrum werden angezeigt, 369 Titel mit dem Bestandteil ›Schauplatz‹ – von den anderen oben genannten Titelei-Bausteinen ganz zu schweigen. Ein kurzer Blick auf die Titelzeilen europäischer Bücher vor 1650, die nur in der für diesen Beitrag gesichteten Forschungsliteratur erwähnt werden, ergibt in unsystematischer Reihung: das Theatrum Diabolorum / Ein Sehr nützliches verstenndiges Buch / darauß ein jeder Christ / sonnderlich vnnd fleissig zu lernen / wie daß wir in dieser Welt / nicht mit Keysern […] oder andern Potentaten / sondern mit dem aller mechtigsten Fuersten dieser Welt / dem Teuffel zukempffen vnd zustreiten (1569) von Sigmund Feyerabend, das Theatrum orbis terrarum (1570) von Abraham Ortelius, das Theatrum Historicvm Illvstrivm Exemplorvm (1575) von Andreas Hondorf und Philipp Lonicer, das Theatrvm Instrvmentorvm Et Machinarvm (1578) von Jacques Besson, das Theatrum de Veneficis, Das ist: Von Teuffelsgespenst Zauberern vnd Gifftbereitern, Schwartzkünstlern, Hexen vnd Vnholden (1586), das Theatrum Crudelitatum Haereticorum Nostri Temporis (1588) von Richard Verstegan, das Theatrum, oder Schawspiegel: Darinn alle Fuersten der Welt / so Kraeffte vnd Reichthumb halben namhafft seind / vorgestellt werden (1596) von Giovanni Botero, das Illustre theatrum continens: Omnegenus praesidia oppida, arces, et munitiones (1597) von Francesco de Marchi, das dreibändige Theatrum Chemicum (1602), das Theatrum anatomicum (1605) von Caspar Bauhin, das Theatrum Virtutis & Honoris: Oder TugendBüchlein (1606) von Willibald Pirckheimer, das Theatrum Morum: Artliche

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Johann Peter von Ludewig: Vorrede über das Universal-Lexicon. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste (1732–1754). Nachdruck Graz 1962, Bd. 1, S. 1–16, hier S. 1f. Vgl. den Hinweis auf diese Stelle von Zedelmaier (wie Anm. 18), S. 295, Anm. 899. – Brückner hat die Titeleien von Kompendienliteratur aus dem 16. und 17. Jahrhundert untersucht und unterscheidet folgende Funktionstypen: »Sie [die Buchtitel] lassen entweder nüchtern den Sammeloder Auszugscharakter der nach dem Exzerpierprinzip angelegten Werke erkennen, oder sie verweisen auf die Art des Inhalts, oder sie deuten die innere Anordnung an, oder sie bedienen sich der im Verlaufe des 16. Jahrhunderts wieder beliebt werdenden und im 17. Jahrhundert unumgänglich-metaphorischen Figuraltitel, sofern sie nicht – wie Martyrologien, Passionalien, Legendensammlungen, Teufels- und Hexenliteratur und dergleichen Sachtitel literarischer Gattungen (Apophthegma usw.) führen oder einfach Historien heißen« (Brückner [wie Anm. 8], S. 82). Brückner schlägt daraufhin eine vierstufige Typologie vor und ordnet die theatrum-Titel in der letzteren ein: »Thesaurus oder Schatzkammer, Promptuarium (Bereitschafts-, Vorratsbehälter), Speculum (geistiger Spiegel), Theatrum oder Schauplatz, Nucleus oder Kern, Acerra (Weihrauchfaß), Haus, Sylva, Sylvula (Wald, Hain), Viridarium (Lustgarten, Gewächshaus), Garten, Gebüsch, Florilegium (Blütenlesen), Deliciae (Leckerbissen), Recreation oder Erquickung, Zeitvertreiber« (ebd., S. 83).

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gesprach der thier mit wahren historien den menschen zur lehr (1608) von Giles Sadeler, die Piazza Vniversale, das ist Allgemeiner Schawplatz oder Marckt / vnd Zusammenkunft aller Professionen / Künsten / Geschäfften / Händlen / vnd Handwercken / so in der gantzen Welt geübt werden (1619) von Tomaso Garzoni, das Theatrum veterum rhetorum, oratorum, declamatorum, quos in Graecia nominabant sophistas (1620) von Louis de Cressolles, das Theatrum florae (1622), das Theatrum tragicum, Das ist: Newe, Wahrhafftige, traurig, kläglich und wunderliche Geschichten (1624) von Martin Zeiller, das Insectorum sive minimorum animalium theatrum (1634) von Edward Wotton unter anderem und die Chronik Theatrum Europaeum (1633–1738).32 Mit was für Publikationen hat man es hier aber zu tun? Sicherlich auch mit entfernt lexikonähnlichen Sammelpublikationen, wie sie Ludewig abschätzig erwähnt, doch aber auch – vorsichtig geschätzt – mit Kompendien, die Wissensvermittlung, Unterhaltung und Sensationsmache mühelos unter einem Buchdeckel vereinigten. Das weite Feld der Wissenspräsentation und -sammlung führt direkt in eine der prominentesten Domänen der Kulturwissenschaft und bringt bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine uferlos erscheinende Forschungslage mit sich, da sich unterschiedliche Fachwissenschaften intensiv mit der Wissensfluktuation in der Frühen Neuzeit beschäftigt haben. Die daher gebotene Beschränkung auf die ›Wissenstheater‹ mit expliziter Titelei lenkt die Spur auf eine Reihe von Untersuchungen aus der jüngsten Zeit. Nach der Konsultierung von Wolfgang Brückners Pionierarbeiten aus den 1970er Jahren wird man insbesondere in den Studien und Sammelbänden fündig, die unter der Federführung oder Mitwirkung des Berliner Theaterwissenschaftlers Helmar Schramm in den letzten zehn Jahren entstanden sind. Schramm konstatierte bereits 2001 in der Einleitung zu Sektion III – »Wahrnehmung im 17. Jahrhundert« – des DFG-Symposienbands Theatralität und die Krisen der Repräsentation: »Auf höchst unterschiedlichen Bühnen des Wissens werden die ›Schauspiele der Wissenschaft‹ des 17. Jahrhunderts in den Beiträgen der Sektion präsentiert. Der Bogen spannt sich da vom Theatrum anatomicum über diverse Laboratorien und Experimentalräume bis hin zu reich illustrierten Büchern.«33 Sozusagen als Erweiterung der Sektion III des DFG-Symposions entstanden die von Schramm herausgegebenen Sammelbände Kunstkammer – Laboratorium – Bühne und Bühnen des Wissens, die beide 2003 erschienen.34 Im ersten Band äußert sich Schramm zum multifunktionalen 32 33

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Das berühmte Theatrum Europaeum wird auch im Zedler ([wie Anm. 3]), Bd. 43, Sp. 468ff.) ausführlich gewürdigt. Helmar Schramm: Einleitung. In: Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Hg. v. Erika Fischer-Lichte. Stuttgart u. a. 2001, S. 311–315, hier S. 315. Vgl. dazu den ebd. erschienenen einschlägigen Beitrag von Annette Graczyk: Repräsentanz und Performanz in der Bildenzyklopädie des Orbis sensualium pictus von Jan Amos Comenius (S. 355–372), zu Büchern mit theatrum-Titelei S. 357, ferner zum Schauplatz-Begriff S. 369. – Vgl. zu Schauraum, Kunstkammer und Bildersaal auch Breuer (wie Anm. 10), S. 291 u. 301–310. Vgl. den Band Kunstkammer – Laboratorium – Bühne (wie Anm. 7), einführend zur

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Charakter des berühmten Theatrum Europaeum, das Elemente des großzügig bebilderten Historien- und Kriegstheaters mit der Funktion eines Kulturarchivs und eines naturwissenschaftlichen Erkenntnisspeichers verbindet.35 Im zweiten Band distanziert sich der Siegener Medienwissenschaftler Peter Matussek in seinem Beitrag zur frühneuzeitlichen ars memorativa von der Auffassung eines theatrum im Sinne eines Ortes der konkreten theatralen Aufführung und stellt stattdessen die Bedeutungskomponente eines virtuellen Sammlungsorts von unterschiedlichsten Wissensbeständen heraus.36 Ein Jahr später entwirft

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Konzeption des Bandes: Helmar Schramm: Einleitung. Ort und Spur im Theatrum scientiarum (S. XI–XXIX); weitergehend: Bühnen des Wissens (wie Anm. 7), programmatisch insbesondere ders.: Schauraum/Datenraum. Orte der Interferenz von Wissenschaft und Kunst (S. 9–27); außerdem als Ausgangspunkt Schramms Habilitationsschrift: Karneval des Denkens. Theatralität im Spiegel philosophischer Texte des 16. und 17. Jahrhunderts. Berlin 1996. – Ebenfalls in diesem Tenor und zeitgleich mit den Sammelbänden Ursula Quecke: Quod erat demonstrandum – Schauplätze der Wissenschaft des 16.–18. Jahrhunderts. In: Theatrum mundi. Die Welt als Bühne. Hg. v. Ulf Küster. München 2003, S. 17–21. Helmar Schramm: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne im ›Theatrum Europaeum‹. Zum Wandel des performativen Raums im 17. Jahrhundert. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert. Hg. v. dems., Ludger Schwarte u. a. Berlin u. a. 2003, S. 10–34. Die besondere Bedeutung des Theatrum Europaeum wurde von der Forschung partiell gewürdigt; vgl. das Verzeichnis der einschlägigen Studien bei Hans-Joachim Jakob: Topographia Westphaliae. Grimmelshausens Westfalen in Landschaftsdarstellungen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Grimmelshausen und Simplicissimus in Westfalen. Hg. v. Peter Heßelmann. Bern u. a. 2006, S. 75–92, hier S. 87f., Anm. 19, und den Beitrag von Gerhild Scholz Williams: Formen der Aufrichtigkeit. Zeitgeschehen in Wort und Bild im Theatrum Europaeum (1618–1718). In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 343–373, zu den Theatren wiederum S. 344: »Offensichtlich lag Merian mit seinem Theatrum voll im Trend. Zahlreiche enzyklopädische Texte mit dem Titel Theatrum erschienen zwischen 1550 und 1700, um danach relativ schnell und fast spurlos von der verlegerischen Bildfläche zu verschwinden. Die so betitelten Druckerzeugnisse sind äußerst heterogen und disparat. Gemeinsam haben sie, dass sie die Neuordnung von schon Bekanntem und, in vielen Fällen, die Vollständigkeit eines Wissenszweiges anstreben.« Peter Matussek: Die Memoria erschüttern. Zur Aktualität der Gedächtnistheater. In: Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst. Hg. v. Helmar Schramm, Hans-Christian von Herrmann u. a. Berlin 2003, S. 214–224, hier S. 215: »Zwar findet sich Theatrum als Titelwort auf zahlreichen gelehrten Schriften des 16. Jahrhunderts, doch im seltensten Fall hat es die heute damit assoziierte Bedeutung. Ob man nun Quicchebergs Inscriptiones vel tituli theatri amplissimi […] (1565), Zwingers Theatrum vitae humanae (1565), Boaistuaus Theatrum mundi (1581) oder Bodins Universae Naturae Theatrum (1597) aufschlägt – keines dieser Werke verwendete den Begriff in dem heute dominanten performativen Sinn. Theatrum stand in der Regel nicht für eine inszenatorische, sondern repräsentative Form der Darstellung: den enzyklopädischen Überblick über ein Wissensgebiet bzw. das Universum des Wissens schlechthin. Dieser Wortgebrauch setzte sich in den folgenden Jahrhunderten fort – erwähnt seien nur Alsteds Theatrum Scholasticum (1610) oder Leupolds Theatrum Machinarum Generale (1724).« Vgl. zum Gedächtnistheater in der ars memorativa auch Wilhelm Schmidt-Biggemann: Robert Fludds Theatrum memoriae. In: Ars memorativa. Zur kulturgeschichtlichen Be-

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der Frankfurter Historiker Markus Friedrich eine profunde phänomenologische Skizze des theatrum-Buchtitels.37 Seine Arbeit entstand im Umfeld des Sonderforschungsbereichs 573 »Pluralität und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.–17. Jahrhundert)« an der Ludwig-Maximilians-Universität München, situiert im Teilprojekt B 1 mit dem bezeichnenden Namen »›Schauplätze‹ des Wissens und ihre Grenzen in frühneuzeitlicher Geschichtsschreibung, Astrologie und Wissenskompilatorik«. Mit Rückgriff auf die Erkenntnisse von Schramm, Matussek und besonders Friedrich läßt sich zunächst Folgendes festhalten. Harsdörffer ordnet sich mit dem Schauplatz-Titel der Mordgeschichten – ebenso wie es Camus mit dem Amphithéâtre-Titel getan hat – in eine bis ins 18. Jahrhundert reichende

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deutung der Gedächtniskunst 1400–1750. Hg. v. Jörg Jochen Berns u. Wolfgang Neuber. Tübingen 1993, S. 154–169, sowie Jörg Jochen Berns: Inneres Theater und Mnemonik in Antike und Früher Neuzeit. In: Kunst der Bewegung. Kinästhetische Wahrnehmung und Probehandeln in virtuellen Welten. Hg. v. Christina Lechtermann u. Carsten Morsch. Bern u. a. 2004, S. 23–43; generell zum Zusammenhang zwischen theatrum-Begriff und Rhetorik hingegen Heinrich F. Plett: Theatrum Rhetoricum. Schauspiel – Dichtung – Politik. In: Renaissance-Rhetorik = Renaissance-Rhetoric. Hg. v. dems. Berlin u. a. 1993, S. 328–368. Speziell zum im Zitat genannten Pierre Boaistuau vgl. Christian Andrès: La metáfora del theatrum mundi en Pierre Boaistuau y Calderón (en La vida es sueno y El gran teatro del mundo). In: Criticón 91 (2004), S. 67–78. Markus Friedrich: Das Buch als Theater. Überlegungen zu Signifikanz und Dimensionen der ›Theatrum‹-Metapher als frühneuzeitlichem Buchtitel. In: Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien. Hg. v. Theo Stammen u. Wolfgang E. J. Weber. Berlin 2004, S. 205–232, hier S. 205f.: »Es ist bereits häufiger aufgefallen, daß seit dem 16. Jahrhundert das ›Theater‹ in den meisten europäischen Sprachen zu einer zentralen Metapher der Wissensorganisation und -verwaltung aufstieg. Sie besaß dabei keine direkten in das Mittelalter oder die Antike zurückführenden Traditionen, obwohl sie häufig mit den mittelalterlichen Begrifflichkeiten harmonisiert wurde. Den offenkundigsten Niederschlag fand diese wachsende Beliebtheit der Metapher in einer Flut von Büchern, die sich selbst bereits im Titel als ›Theater‹ bezeichneten. […] Von Anfang an nicht zu unterschlagen ist dabei, daß – wie viele andere frühneuzeitliche Buchtitel – auch ›Theatrum‹ zu einer Mode wurde. Schon vergleichsweise früh finden sich einerseits Bücher, die in ihrem Text mit keinem Wort auf die Titelmetapher anspielen. Andererseits sind noch späte Werke in ihren Vorreden umfangreich damit beschäftigt, die Metaphorik zu explizieren und auszubeuten.« – Eine basale Kategorisierung des Wissens, das in den theatrum-Bänden vermittelt wird, ist dringend erforderlich. Vgl. jetzt auch Markus Friedrich: Das Korpus der frühneuzeitlichen Wissenstheater und sein Wissensbegriff. In: Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Hg. v. Frank Grunert u. Annette Syndikus. Berlin 2010 (im Druck). Vgl. ergänzend aus kunst- und architekturgeschichtlicher Perspektive Klaus Minges: Das Sammlungswesen der frühen Neuzeit. Kriterien der Ordnung und Spezialisierung. Münster 1998, bes. S. 77–85, aus bibliotheksgeschichtlicher Sicht Franz Georg Kaltwasser: Die Bibliothek als Museum. Von der Renaissance bis heute, dargestellt am Beispiel der Bayerischen Staatsbibliothek. Wiesbaden 1999, bes. S. 9–109 (»Bücher und Bibliothek als Schauobjekte vom 16. bis 18. Jahrhundert«), und zum französischsprachigen Raum Louis van Delft: »Theatrum Mundi«. L’Encyclopédisme des Moralistes. In: Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Frank Büttner, Markus Friedrich u. a. Münster 2003, S. 245–267.

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Tradition von Publikationen ein, in der ein Wissensgebiet mit dem perpetuierten Anspruch auf Vollständigkeit niedergelegt ist. Das kann man zunächst als Marketing-Trick abtun, obwohl die Titelkombination einer Wissenssammlung mit einem sensationsheischenden Begriff wie ›Mordgeschichte‹ schon für eine sehr geschickte Strategie spricht – vergleichbar für das 21. Jahrhundert erscheint etwa das Lexikon der Serienmörder.38 Lassen sich aber über den Werbeeffekt des Titels hinaus auch Elemente in der Textanordnung und in den Texten selbst entdecken, die auf Funktionskomponenten einer Wissenssammlung hinweisen? Auf den ersten Blick erscheint diese Überlegung ausgesprochen abwegig zu sein. Wenn irgendeine von Harsdörffers Werkgruppen den Begriff der Wissenssammlung verdienen würde, dann ja wohl die Gesprächspiele – und selbst die finden keinen Eingang etwa in den Sammelband Enzyklopädien der Frühen Neuzeit39 – und nicht ausgerechnet die Mordgeschichten. Aber nur Mord und Totschlag enthalten die Mordgeschichten ja keineswegs. Es gibt auch einen umfangreichen Zugabenteil mit den Qualitäten einer Sammlung. Der erste Anhang verzeichnet zweihundert »Hofreden«, »Sprüche« und »Schertzfragen«,40 ein zweiter in der dritten Auflage von 1656 noch hundert »Sinnbilder«. Ein überaus nützliches »Inhalts Register« findet sich zwischen den Anhängen in Form eines Sachund Stoffregisters, das die bunte Mischung der vorangegangenen Erzählungen nachhaltig strukturiert – von »ABC eines Hanreys« bis »Zweyschichter«. Der Nutzung des vorliegenden Textmaterials etwa zur Verwendung als Predigtmärlein steht somit nichts mehr im Wege. Weiterhin ist eine Verbundstruktur zwischen den Gesprächspielen, die einer Wissenssammlung auf den ersten Blick noch am nächsten kommen, zwischen den Mordgeschichten und dem Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte stets greifbar. In der Zuschrift der letzteren Schau=Platz-Anthologie situiert sich Harsdörffer ohnehin auf der sicheren Seite der Wissenschaften. Die schriftlich überlieferte Geschichte der Menschheit hat zur Einrichtung der drei »Haubt=Wissenschafften«41 geführt. Es sind dies die Theologie, die »das Wort Gottes« und »die Lehren eines Christlichen Wandels« vorschreibt, die Rechtswissenschaft, die »auß gleich=begebenden Fällen / gleiche Urtheil und Gesetze« herauszieht, und die Medizin, die »deß Leibes Gesundheit handhaben / und

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Peter u. Julia Murakami: Lexikon der Serienmörder. 450 Fallstudien einer pathologischen Tötungsart. 5. Aufl. München 2001. Vgl. Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. v. Franz M. Eybl, Wolfgang Harms u. a. Tübingen 1995, ergänzend an neueren Forschungen bes. den Band Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung (wie Anm. 3) und schlaglichtartig Ulrich Johannes Schneider u. Helmut Zedelmaier: Wissensapparate. Zur Enzyklopädistik der Frühen Neuzeit. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen u. Sina Rauschenbach. Köln u. a. 2004, S. 349–363. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 724–750. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 19), Tl. I, Bl. a iiijv.

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wann sie verlohren / wider erlangen« lehrt.42 Diesen drei großen Wissenschaften und ihren »Lehren und Gesetzen« ordnet Harsdörffer die »Geschichtschreibung« zu, die mit Exempeln und Beispielen den vorzüglichen Status eines ethischen Korrektivs bekommt, da sie »der Spiegel guter und böser Sitten / das Liecht der Warheit« und sogar »die Richtschnur« für »menschliches Leben« sei.43 In der Tat: historia magistra vitae.

3. Das Exempel als Gattungsmodell der Mordgeschichten. Pro und Contra Das war allerdings ein Einblick in das rhetorische Formular des Schau=Platzes Lust= und Lehrreicher Geschichte. In den Mordgeschichten finden sich derartig deutliche, in den Paratexten formulierte Statusaufwertungen und Brückenschläge zu anderen Wissenssystemen nicht.44 Man sollte sich jedoch ständig vergegenwärtigen, daß Harsdörffers Zugriff auf die barocken Wissenschaften sich nicht darin erschöpft, Wissensakkumulation zum intellektuellen Selbstzweck zu betreiben. Es geht stets um die Vermittlung der gesammelten Kenntnisse für eine interessierte Leserschaft, die nicht notwendigerweise aus Fachleuten bestehen muß und für die gleichzeitig eine Handhabe geschaffen wird, das präsentierte Wissen produktiv weiterverarbeiten zu können.45 Der anspruchsvollen und zugleich anschaulichen Form der diskursiven Vermittlung kompliziertester Materien und Fragen im Gesprächspiel steht in den Schau=Platz-Anthologien die hocheffiziente Prosaform des Exempels zur Seite,46 in dem idealiter nichts

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Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 19), Tl. I, Bl. a iiijv–Bl. a vr. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 19), Tl. I, Bl. a vr. Zu Analysezwecken ist eine strikte Trennung beider Schau=Platz-Anthologien – trotz ihrer Vernetzungsstruktur – ohnehin sehr zu empfehlen. Vgl. Siebenpfeiffer (wie Anm. 1), S. 160. Vgl. zu Harsdörffers Wissensbegriff auch Peter Hess: Neoplatonismus und Bacon-Rezeption: Naturphilosophie bei Harsdörffer. In: Morgen-Glantz 13 (2003), S. 321–349, hier S. 342: »Wissen ist prinzipiell Buchwissen und wird durch rhetorische Mittel vermittelt und vermehrt. Die Methodik ist deduktiv: es geht hier primär um Sammeln und Organisieren von Wissensmaterial in topischen Katalogen, die oft zu polyhistorischen Sammlungen ausgeweitet werden, die wiederum nach einem vorbestimmten enzyklopädischen System angelegt werden. Topische Kataloge, das heißt Inhaltskataloge, Sammlungen von poetischen Phrasen und verbale Versatzstücke, haben die Macht, den Prozeß der Erkenntnis der Natur zu strukturieren.« Vgl. zur Textsorte des Exempels und zu den Exempelsammlungen Wolfgang Brückner u. Michael Chesnutt: Exempelsammlungen. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke, Hermann Bausinger u. a. Berlin u. a. 1984, Bd. 4, Sp. 592–626; Christoph Daxelmüller: Exemplum. In: Ebd., Sp. 627–650; ders.: Narratio, Illustratio, Argumentatio. Exemplum und Bildungstechnik in der frühen Neuzeit. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 77–94; ders.: Exempelsamm-

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dem Zufall überlassen ist. Die moralisierenden Einleitungs- und Schlußteile perspektivieren nicht selten mit Berufung auf die Bibel das Geschehen zwischen den beiden Rahmenelementen und machen es durch Sentenzen, Merksätze oder Gedichte leichter faßbar. Die Falldarlegung ist dem rhetorischen Ideal der brevitas verpflichtet, verzichtet auf narrative Schnörkel etwa in Form von verwikkelten Nebenhandlungen und vermeidet sonstige Störungen für die didaktische Nutzanwendung. Von der barocken Fabulierungsfreude etwa eines Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen ist man hier noch weit entfernt.47 So reiht sich Fall an Fall. Thematische Schwerpunkte kann man als Leser selbst setzen, indem man sich mit Hilfe des Registers ein Sample von Geschichten etwa zu den negativen Auswirkungen des Geizes48 zusammenstellt. Soweit die einsinnige Idealform des Exempels. Auf dem Harsdörffer-Kongreß 1989 wies Dieter Breuer bereits nachdrücklich darauf hin, daß eine allzu simple didaktische Nutzanwendung wohl kaum im Sinne des Verfassers gewesen

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lungen. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 1996, Bd. 3, Sp. 55–60; Josef Klein: Exemplum. In: Ebd., Sp. 60–70; außerdem die Beiträge der Sammelbände: Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion exemplarischen Erzählens. Hg. v. Bernd Engler u. Kurt Müller. Berlin 1995, hier bes. Bernd Engler u. Kurt Müller: Einleitung (S. 9–20); sowie: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. v. Jens Ruchatz, Stefan Willer u. a. Berlin 2007, hier bes. Stefan Willer, Jens Ruchatz u. a.: Zur Systematik des Beispiels (S. 7–59). – Zu Exempelsammlungen mit theatrumTitelei vgl. wiederum Friedrich (wie Anm. 37), S. 212–216. Zum Exempelcharakter der in den Schau=Plätzen versammelten Erzählungen vgl. zunächst Volker Meid: Barocknovellen? Zu Harsdörffers moralischen Geschichten. In: Euphorion 62 (1968), S. 72–76; Winfried Theiß: »Nur die Narren und Halßstarrigen die Rechtsgelehrte ernehren...«. Zur Soziologie der Figuren und Normen in G. Ph. Harsdörffers Schauplatz-Anthologien von 1650. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. a. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 899–916; zum narrativen Verfahren vorzüglich Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989, S. 262–271; Hans Gerd Rötzer: Die Rezeption der Novelas ejemplares bei Harsdörffer. In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. Alberto Martino. Amsterdam u. a. 1990, S. 365–383; van Gemert (wie Anm. 29); Oliver Pfefferkorn: Sind Georg Philipp Harsdörffers Schauplatzanthologien erbaulich? In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995, Bd. 2, S. 663–672, und Zeller (wie Anm. 9). Vgl. zu ersten Ansätzen der Entgrenzung des Erzählens aus dem didaktischen Korsett zunächst Rötzer (wie Anm. 46), S. 366, hier zum Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte: »Oft liegt aber das Erzählinteresse vor dem moralischen Anspruch, und Harsdörffer kann die Erzählung nur in dem Sinne exemplarisch rechtfertigen, daß das Leben eben nicht immer in den Bahnen von Belohnung und Bestrafung ablaufe. Oder er gibt unumwunden zu, daß er nur zum Ergötzen erzähle«; dann prononciert Alan Menhennet: But is it Art? Polarities in Harsdörffer’s Storytelling. In: Daphnis 24 (1995), S. 623–644, und Siebenpfeiffer (wie Anm. 1). Grundsätzliche Ausführungen zum Problem bei Burkhard Dohm: Emanzipation aus der Didaxe. Studien zur Autonomisierung des Erzählens in Romanen der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. u. a. 1989. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), Register, Bl. Bbb iiijr.

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sein dürfte: »Es genügt demnach nicht, den Exempelcharakter der Harsdörfferschen Erzählungen, also das Ergebnis, einfach festzustellen, und diese in die Tradition des Exempelschrifttums abzuschieben.«49 In der Folge erläutert Breuer ein mehrstufiges Modell allegorischen Verstehens, das er vorzüglich anhand der Gesprächspiele (zumal es ein Gesprächspiel mit dem Titel Die Erzehlung gibt50) konkretisiert. Über Breuer hinausgehend haben in jüngster Zeit Hania Siebenpfeiffer und Maximilian Bergengruen zumindest signifikante Relativierungen sowohl einsinniger als auch allegorischer Exempelverwendungen bei Harsdörffer postuliert. Siebenpfeiffer sieht die didaktisch ergebnissichere Nutzanwendung des Exempels bereits von der »Lust am Erzählen« überlagert, Bergengruen entdeckt in einer Geschichte Harsdörffers sogar eine Parodie auf den naiven Glauben an die unbegrenzte Erklärbarkeit der Welt durch einen Text.51 Wie läßt sich das Wissen aber genau beschreiben, das durch den Konverter des Exempels an den Leser weitergegeben wird und wie läßt sich der Charakter eines Wissenstheaters genauer fassen, wenn wir es bei den Mordgeschichten mit einem solchen zu tun haben sollten? Den Erzählungen mit ihrer Bezeichnung als Mordgeschichten sind naturgemäß die Elemente von Regelverstoß und Bestrafung eingeschrieben. In den Lust= und Lehrreichen Geschichten wird dezidiert auf die »Rechte« hingewiesen.52 An dieser Stelle bietet sich ein kurzer Blick auf die frühneuzeitliche Strafpraxis zumindest im deutschsprachigen Raum an. Die Forschungen der Historiker Richard van Dülmen und Jürgen Martschukat53 – für Frankreich sei nur die Studie Überwachen und Strafen von

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Dieter Breuer: Einübung ins allegorische Verfahren. Zur Funktion des Erzählens in Harsdörffers Gesprächspielen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 127–142, hier S. 131. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 20), Tl. VIII, S. 261–296. Vgl. Siebenpfeiffer (wie Anm. 1), bes. S. 168–173, und Maximilian Bergengruen: Exempel, Exempel-Sammlung und Exempel-Literatur – am Beispiel von Harsdörffers teuflischer Mord-Geschichte Die bestraffte Hexen. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. v. Jens Ruchatz, Stefan Willer u. a. Berlin 2007, S. 122–142, für den die Parodie darin besteht, daß Harsdörffer »den narrativen Eigen- und argumentativen Widersinn der Exempla gegenüber der ursprünglichen Argumentation performativ deutlich werden lässt« (S. 140). – Eine genaue Analyse der Erzählverfahren in den Mordgeschichten und eine dadurch denkbare Revision des Exempel-Begriffs kündigt Stefan Manns an. Auf seinen Beitrag im vorliegenden Band sei daher nachdrücklich verwiesen. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 19), Tl. I, Bl. a vr. Vgl. Richard van Dülmen: Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der Frühen Neuzeit. München 1985. Zur Kritik daran vgl. Jürgen Martschukat: Die öffentliche Hinrichtung – ein »Theater des Schreckens«? In: Kriminologisches Journal 27 (1995), H. 3, S. 186–208; vgl. außerdem ders.: Inszeniertes Töten. Eine Geschichte der Todesstrafe vom 17. bis zum 19. Jahrhundert. Köln u. a. 2000, bes. S. 12–53 u. 251–264 (»Das ›Theatrum poenarum‹ vom 16. bis zum 18. Jahrhundert«). Harsdörffers Mordgeschichten werden mehrmals erwähnt (S. 39, 252 u. 260). Auch die Harsdörffer-Forschung hat sich produktiv mit den juristischen Dimensionen der Mordgeschichten befaßt, vgl. dazu Theiß (wie Anm. 46), S. 902–906 (»Zur Soziologie der Normen: Recht«) und die

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Michel Foucault genannt54 – entwerfen das Bild eines fest gefügten Handlungsablaufs. Dieser beginnt mit der Verhaftung des Delinquenten, regelt minutiös das Verhör, die Folter und die unterschiedlichen Techniken der Hinrichtung und endet mit dem Umgang mit der verstümmelten Leiche. Ein zentrales Element in dieser Abfolge ist der offensive Ausdruck der Reue des Delinquenten. Van Dülmen und Martschukat nutzen bei der Beschreibung dieses Handlungsablaufs die Theatermetapher insbesondere im Hinblick auf den Vollzug der Hinrichtung auf der Hinrichtungsstätte55 und verorten ihren Theaterbegriff wiederum im engeren performativen Feld.56 Aufschlußreich ist Martschukats Begriff theatrum poenarum, zumal Ende des 17. Jahrhunderts ein mehrbändiges Kompendium mit diesem Titel erschien.57 Hier schließt sich der Kreis abermals, die realen ›Theater des Schreckens‹ erhalten ihr medial-virtuelles Gegenstück in dickleibigen Folianten mit Theater-Titelei. Viel ist bei der Anwendung von Martschukats theatrum poenarum-Begriff und seiner Abwandlung im nicht-performativen medialen Sinn auf die Mordgeschichten aber noch nicht gewonnen. Die Erwähnung von Verhör und Bestrafung fällt in den Geschichten zumeist äußerst knapp und beiläufig aus. Erst die Hinzuziehung der Begriffe »Theater der Laster«, »Theater der Rechtsprechung« und »Theater der göttlichen Vorsehung«58 kommt einer Auslotung der Harsdörffer-

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kenntnisreiche quellenkundliche Untersuchung von Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift Wolfgang Brückner. Hg. v. Dieter Harmening u. Erich Wimmer. Würzburg 1990, S. 530–551. Einen konkreten Rechtsbruch in den Mordgeschichten – die Vergewaltigung – untersucht Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, S. 175–185, vgl. dazu auch ihren Beitrag im vorliegenden Band. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/M. 1994. – Eine Lektüre der histoires tragiques vor dem Hintergrund Foucaults leistet Pech (wie Anm. 9), bes. S. 379–423 (»Le théâtre des supplices«). Auch Camus (wie Anm. 15), S. 180, zieht Parallelen zwischen der beabsichtigten Wirkung seiner Erzählungen auf den Leser und der Wirkung einer Hinrichtung auf die Zuschauer. Vgl. den Hinweis auf diese Stelle von Rieger (wie Anm. 9), S. 413. Gegen einen allzu engen Gebrauch der Theatermetapher in diesem Zusammenhang wendet sich Dietmar Peil: Strafe und Ritual. Zur Darstellung von Straftaten und Bestrafungen im illustrierten Flugblatt. In: Wahrnehmungsgeschichte und Wissensdiskurs im illustrierten Flugblatt der Frühen Neuzeit (1450–1700). Hg. v. Wolfgang Harms u. Alfred Messerli. Basel 2002, S. 465–486, hier S. 478. – Zu den weit verbreiteten Flugblättern mit entsprechender Thematik vgl. außerdem Harriet Rudolph: »Wahrhafftige Abcontrafactur«? Die Evidenz des Verbrechens und die Effizienz der Strafjustiz in illustrierten Einblattdrucken (1550–1650). In: Evidentia. Reichweiten visueller Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gabriele Wimböck, Karin Leonhard u. a. Berlin 2007, S. 163– 187. Jacob Döbler: Theatrum poenarum suppliciorum et executionum criminalium. Sondershausen u. a. 1693–1697. Vgl. dazu van Gemert (wie Anm. 29), S. 330: »Aus dem Spannungsfeld von göttlichem ordo und menschlicher inordinatio, von ausgleichender Gerechtigkeit Gottes und freiem Willen des Menschen heraus leben die beiden Schauplätze Harsdörffers.«

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schen Exempel im Sinne eines Wissenstheaters näher. Als Beispielfeld für diese These sollen die ersten und die letzten zehn Erzählungen des Schau=Platzes dienen.

4. Die ersten zehn Mordgeschichten (Nr. 1 bis 10) Gleich in der ersten Erzählung Der unglückselige Geitzhalß59 wird die Todsünde60 avaritia verhandelt, zu der sich auch noch die Todsünde ira gesellt.61 Ausgerechnet unter einem Galgen spitzt sich die Handlung zu, der erste Tote ist zu beklagen. Bösewicht Bergold findet den gerechten Tod, seine Frau und sein Sohn versterben, das zuvor verfolgte Liebespaar wird vom König rehabilitiert und erhält Bergolds Besitz. In der zweiten Erzählung Bestraffung der Untreue62 wird das Straftheater schon im Titel angekündigt. Quasi-Ehebrecher Famosus – ein Verstoß gegen das Sechste Gebot63 – gerät in politische Ränke, kann seinen Kopf durch die Fürsprache seiner im Stich gelassenen Frau fast retten, weiß diese selbstlose Geste aber nicht zu würdigen und wird doch hingerichtet. In dem Text Die verwundte Keuschheit64 entzieht sich Märtyrer Cadrat den perfiden Quälereien seines Vaters durch Selbstverstümmelung und stirbt an den Verletzungen. Den Vater ereilt weder ein göttliches noch ein weltliches Strafgericht, weil er in ein Kloster geht, um »seine begangene Sünde hertzlich zu bereuen«.65 Anders ergeht es den Titelfiguren der Geschichte Die

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Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 4–8. Vgl. zu den Sieben Todsünden nur die äußerst bündigen Ausführungen von Alfred Bellebaum u. Detlef Herbers: Die sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modernen Gesellschaft. Zur Begründung des Themas. In: Die sieben Todsünden. Über Laster und Tugenden in der modernen Gesellschaft. Hg. v. dens. Münster 2007, S. 7–12. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 5. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 8–11. Ein weiteres immer wiederkehrendes biblisches Modell in den Mordgeschichten sind die Zehn Gebote. Es ist hier nicht der Ort, in theologische Debatten über die Gewichtung und Reihenfolge der Gebote in der frühen Neuzeit einzusteigen. Daher wird die Reihenfolge gewählt, die Martin Luther in seinem Kleinen Katechismus aufgestellt hat (vgl. zur Problematik etwa Veronika Thum: Die Zehn Gebote für die ungelehrten Leut’. Der Dekalog in der Graphik des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. München u. a. 2006, S. 17–37 u. 182–186). – Der Verstoß gegen das Fünfte Gebot (Du sollst nicht töten) ist den Geschichten so häufig eingeschrieben, daß er nicht jedes Mal explizit aufgeführt wird. Zu den Zehn Geboten als Textstrukturierungsmodell vgl. Burghart Wachinger: Der Dekalog als Ordnungsschema für Exempelsammlungen. Der Große Seelentrost, das Promptuarium exemplorum des Andreas Hondorff und die Locorum communium collectanea des Johannes Manlius. In: Exempel und Exempelsammlungen. Hg. v. Walter Haug u. Burghart Wachinger. Tübingen 1991, S. 239–263. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 11–14. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 13.

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unbedachtsamen Eltern.66 Mit allen Mitteln versuchen sie ihren frommen Sohn vom Eintritt ins Kloster abzuhalten. Sohn Theophorus warnt seinen Vater, daß er »bey Beharrung solcher Sünde Gottes Straff«67 auf sich ziehen werde – und so geschieht es: der Vater stirbt bei einem Kutschenunfall, die Mutter verscheidet durch »ein hitziges Fieber«.68 In der Erzählung Das elende End69 verfällt Abbt Parmeno den Todsünden luxuria und gula, wird seines Amtes enthoben, mißhandelt seine Frau und wird daraufhin von seinem Schwager gezüchtigt, den er kurz darauf erschießt. Parmeno stirbt den unehrenhaften Tod am Strang. Besonders fintenreich ist die Sündhaftigkeit fehlender Reue in der Geschichte Die unschuldige Zügeinerin70 inszeniert. Leon schiebt Olivia, der Ziehtochter seiner Mutter, aus unerwiderter Liebe den Diebstahl von hundert Kronen in die Schuhe und nimmt das Geld an sich. Olivia wird vom Mob gesteinigt. Leon wird von einer schwerwiegenden Krankheit heimgesucht und beichtet die Verfehlung. Seine Mutter nimmt ihm das Versprechen ab, für das Geld Messen für Olivia lesen zu lassen. Nach dem Tod der Mutter bricht Leon sein Versprechen und wird im Zusammenhang mit einem Ehebruch ermordet. »Diese wahre und merckwürdige Geschichte lehret daß Gott keine Sünd unbestrafft lässet / es stehe gleich kurtz oder lang an: wie wir an Leon sehen / der sich durch seine Kranckheit nicht wollen bekehren lassen«,71 vermerkt die moralisatio. Nahezu umgekehrt ist die Situation in dem Text Die eröffnete Beicht.72 Der Wirt Nabor gerät mit einem Kunden namens Adrian in Streit und erschlägt ihn in Notwehr. Nabor vergräbt die Leiche, beichtet aber von Gewissensbissen geplagt dem Geistlichen Celsus. Celsus macht eine Andeutung gegenüber Adrians Frau und wird von ihrem Sohn bestochen, einen Hinweis auf den Täter zu geben. Der Sohn entlarvt Nabor, muß aber unter Androhung der Folter seinen Informanten preisgeben. Celsus wird festgesetzt und unehrenhaft gehängt, seine Leiche verbrannt. Nabor wird freigesprochen. »Nabor ist der Mord von Hertzen leid«,73 heißt es direkt nach der Tat – er empfindet also bereits zu diesem Zeitpunkt Reue. Ausgerechnet zur »österliche[n] Zeit«, dem höchsten christlichen Fest, sucht er geistlichen Beistand. Nach seinem Freispruch wird allerdings die »fernere Bestraffung verborgener Fehler dem Allwissenden Gott überlassen«.74 In der Geschichte Der falsche Freund75 verwandeln die Todsünde invidia und die Mißachtung des Zehnten Gebots das ursprünglich freundschaftliche Verhältnis zwischen Cratis

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Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche

Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte

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Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

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S. S. S. S. S. S. S. S. S. S.

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und Politian in Rivalität und Haß, als sich beide in die gleiche Frau namens Phebe verlieben. In einem symmetrischen Eskalationsmodell führt eine Kette von Betrugsmanövern, an denen alle beteiligt sind, zum Ehebruch und zum Mord an Cratis. Politian und Phebe sterben »eines schmählichen Todes«.76 So kündigt bereits das Promythion an: »Aber Gott du wirst sie hinunter stossen in die tieffe Gruben / die Blutgierigen und Falschen werden ihr Leben nicht zur helffte bringen.«77 Durchaus vertrackt erscheint die Zuordnung des Guten und des Bösen in dem Text Der ungefähre Vatermörder.78 Die Rivalität zwischen Vater Honorius und Sohn Dioscorius entzündet sich an Honorius’ schöner Ziehtochter Urbania, die zwar von ihrem Vater Fidele Dioscorius versprochen wurde, nun aber von Honorius als Ehefrau begehrt wird. Die beiden Patriarchen einigen sich gütlich, nur Dioscorius ist verständlicherweise irritiert und tötet seinen wutentbrannten Vater in Notwehr im Degenkampf. Die Todsünde ira wird ausdrücklich dem Vater zugeordnet: »Honorius wird hierüber gantz rasend / und laufft aus blindem unbedacht in seines Gegners Spitzen.«79 Dioscorius zeigt denn auch sofortige Reue, wird aber von Urbania abgewiesen. Fidele verweigert dem Vatermörder die Hand seiner Tochter. Dioscorius’ späteres Schicksal ist unbekannt, alles Weitere »ist Gott wissend«.80 In der Geschichte Der stinckende Hurenhengst81 kommt es zwar zu keiner strafbaren Handlung im weltliche Sinne, die Ausmalung der Laster des Epaphroditus, der sich der Todsünden luxuria und auch gula schuldig macht, ist aber überaus drastisch. Noch auf dem Sterbebett bricht Epaphroditus das heilige Sakrament der vorangegangenen Buße, indem er mit seiner Dirne ein letztes Mal den Akt vollzieht und dabei verstirbt. Der Leichnam entwickelt sich innerhalb kürzester Zeit zur nicht aushaltbaren olfaktorischen Belastung für seine Umwelt. Noch nicht einmal Vergraben »sechs Schuhe tief in die Erden«82 hilft, schließlich wirft man die Leiche in den Fluß. Die Dirne verscheidet an Schwindsucht.83

76 77 78 79 80 81 82 83

Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 30. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 28. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 31–34. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 33. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 34. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 34–37. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 37. Vgl. auch die von Doms (wie Anm. 9), S. 56f., für die Camus-Erzählungen formulierte Typologie von Klosterleben, Konversion, Privatbeichte und Seelmessengelübde.

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5. Die letzten zehn Mordgeschichten (Nr. 191 bis 200) Die Erzählung Der vorbewuste Todesfall84 gibt die finale dramaturgische Struktur der bislang erwähnten Texte weitgehend auf und setzt ein mit der allegorischen Figur des Todes, die verständlicherweise beträchtliche Mühe hat, Menschen für ihren Totentanz zu finden. Es folgen sechs quellenmäßig belegte Beispiele für angekündigte Todesfälle aus italienischen Städten. Das letzte Beispiel bedient sich einer besonders perfiden Pointe: Hexenmeister Bartholomeus Cocles prophezeit dem Franzosen Cupon, daß er jemanden ermorden wird. Cupon erschlägt als Erfüllung der Prophezeiung Cocles mit einer Axt. Die gereimte moralisatio vermerkt, daß die Frommen den Tod nicht zu fürchten haben, nur die Bösen. Die Geschichte Die ermordten Mörder85 ist nach einem drastischen Präludium über den eklatanten Mangel an christlicher Nächstenliebe quer durch alle Stände in vier Fälle gegliedert. Auf Verbrechen wie Kindesmißbrauch, Mord und Zerstückelung in der Nähe von Mainz, wie Massenmord in der Nähe von Leipzig, wie Folter und Mord in Antwerpen und wie massenhafte Hinrichtungen auf der »Insel Floridam«86 folgen mit unerbittlicher Konsequenz durch die Obrigkeit oder Privatleute ausgeführte drakonische Strafen an den Tätern wie Rädern, Verbrennen oder Erhängen. Die Historie Der Mohren listige Untreue87 beginnt wie Der vorbewuste Todesfall mit einer allegorischen Darstellung. Ein heiratsfähiger Mann soll nacheinander zwischen den Jungfern des Frühlings, des Sommers, des Herbstes und des Winters auswählen. Sein zögerliches, von der diffusen Erwartung auf eine jeweils bessere Auswahlmöglichkeit geprägtes Verhalten beschert ihm die Jungfer des Winters als Ehefrau, »ein altes Weib / grau angekleidet / gienge krum gebucket«.88 Ebenso verfällt der portugiesische Statthalter in Westindien, Immanuel de Sousa, der diffusen Vorstellung, mit seinen angehäuften Reichtümern in seinem Heimatland einen noch höheren sozialen Status erlangen zu können als in Westindien und bricht mit seiner Familie, seiner Dienerschaft und seinem gesamten Besitz zu einer Schiffsreise auf. Die unbeständige Macht der Fortuna raubt ihm alles: Das Schiff kentert im Sturm, mit Mühe und Not erreicht man eine Insel, der Marsch in bewohnte Gebiete fordert unzählige Opfer, die einheimische Ethnie der ›Mohren‹ raubt de Sousa aus, seine Kinder verhungern, seine Frau bringt sich um, Sousa wird von Raubtieren gefressen. Im gereimten Epimythion wird ausdrücklich die Todsünde »Geitz«89 für die Vorgänge verantwortlich gemacht.

84 85 86 87 88 89

Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer:

Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche

Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte

(wie (wie (wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

1), 1), 1), 1), 1), 1),

S. S. S. S. S. S.

684–688. 688–692. 691. 692–696. 692. 696.

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Die Erzählung Die Unglücks Wünsche90 bringt im Promythion in kurioser Abwandlung des Bibeltextes die Figur des Hiob, der den Tag seiner Geburt verflucht und sich den Tod wünscht, mit der allegorischen Jungfer der Geduld in Verbindung und läßt Hiob so zu seiner alten Gelassenheit zurückfinden: »Der Herr hat es gegeben / der Herr hat es genommen.«91 Derartige Schicksalsergebenheit vermißt man bei denjenigen Zeitgenossen, die bei jeder Gelegenheit Flüche ausstoßen und sich damit der Mißachtung des Zweiten Gebots schuldig machen. So folgen sechs Beispiele aus der Mark Brandenburg, Peru, Frankreich und Mailand. Die Gotteslästerer sterben entweder indirekt durch eine Naturkatastrophe oder direkt nach der verbalen Realisierung ihrer Verwünschung, einer wird nach der Artikulation stumm. Zwei Mütter liefern durch eine als Erziehungsmaßnahme intendierte Verfluchung ihre Kinder dem sicheren Tod aus. Im ersten Beispiel wird ein betrügerischer Gastwirt, der leichtsinnigerweise den Satz »und alle Teufel solten ihn holen«92 von sich gibt, vom Satan persönlich geholt. Die Geschichte Die freywillige Unsinnigkeit93 setzt ein mit der spitzfindig geführten Debatte zweier Freunde, von denen einer zuviel trinkt und vom anderen mit der verklausulierten Form eines Rätsels zur Vernunft gebracht werden soll. Der »Weinschlauch«94 spottet über die Bemühungen seines Freundes, muß im Alter für den fortgesetzten Abusus jedoch büßen. Noch weitaus schlechter ergeht es den tatkräftigen Zechern, die in neun Beispielen aus aller Herren Länder aufgrund von massivem Alkoholmißbrauch einen verheerenden Brand auslösen, sich in blutigen Schlachten aufreiben lassen, in Zorn ausbrechen und bei anschließenden Händeln tödliche Verletzungen davontragen, von ihrer rachgierigen Frau massakriert und zerstückelt werden, von ihrem Pferd totgetreten werden, direkt an Alkoholvergiftung verscheiden, sich großflächige Brandverletzungen zuziehen und ihnen erliegen oder aufgrund von Trunkenheit eine irreversible Gewaltspirale auslösen. In diesem Fall ist es die Todsünde gula, die jedes Mal drakonische Ahndung nach sich zieht. Die Historie Das vorsetzliche Unglück95 nimmt hingegen das Strukturmodell der ersten zehn Erzählungen der Mordgeschichten wieder auf, setzt aber genau so wie Die Unglücks Wünsche auf ein biblisches Promythion mit zusätzlicher allegorischer Unterfütterung. Ein frommer Mann sieht in einer Vision, wie die Engel Lazarus – begleitet von den allegorischen Figuren der Geduld, des Glaubens und der Beständigkeit – in Abrahams Schoß tragen.96 Den Grabeszug des reichen Mannes begleiten im Kontrast dazu die Figuren des Geizes, des Wuchers, der Unbarmherzigkeit

90 91 92 93 94 95 96

Harsdörffer: Jämmerliche Harsdörffer: Jämmerliche Harsdörffer: Jämmerliche Harsdörffer: Jämmerliche Harsdörffer: Jämmerliche Harsdörffer: Jämmerliche Vgl. Lukas 16,19–22.

Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte

(wie (wie (wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

1), 1), 1), 1), 1), 1),

S. S. S. S. S. S.

696–699. 696; vgl. Hiob 1,21. 698. 699–703. 700. 703–706.

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und des Stolzes. Eine Stimme von oben kommentiert: »Seine Werke folgen ihme nach.«97 Ebenso muß eine Ehebrecherin aus Siena, die ausgerechnet den Vornamen Pia hat, erfahren, daß ihre Affäre mit dem Jüngling Ambrosius nicht unentdeckt bleiben kann. Ihr Mann Nolo läßt nach einem Anfangsverdacht Pias Mitwisserin, ihre Kammerzofe, foltern und sie nach Preisgabe der Vorgänge erstechen. Auch seine Frau läßt er umbringen und muß sein Leben in »elender Einsamkeit«98 fristen. Zu den Todsünden luxuria und ira (Nolo) gesellt sich hier noch der Verstoß gegen das Sechste Gebot. Der Text Der blinde Zorn99 hat einen ähnlichen Plot wie die vorangegangene Erzählung, ist aber insgesamt ambivalenter. Einem Diebstahl an materiellen Gegenständen im Promythion, bei denen einer der Diebe in einer höllenartigen Szenerie sein Leben verliert, wird der metaphorische Diebstahl im Zusammenhang mit einem Ehebruch gegenübergestellt. Im bewährten symmetrischen Eskalationsmodell begeht Nicola, Sproß eines italienischen Adelsgeschlechts, Ehebruch mit der Frau seines »Schloß Haubtmanns«. Der Hauptmann wird mißtrauisch und beobachtet die beiden beim Vollzug. Mithilfe seiner Soldaten stellt er Nicola zur Rede, kastriert ihn, schneidet ihm das Herz heraus, köpft und zerstückelt ihn. Kurze Zeit später ermordet der Hauptmann auch Nicolas Bruder Cesar. Nicolas und Cesars Bruder Conrad wird über die Bluttaten auf dem Schloß informiert, rückt seinerseits mit Unterstützung der Obrigkeit gegen das Schloß vor, wird des Hauptmanns, der zuvor seine gefesselte Frau über die Schloßmauer geworfen hat, habhaft und läßt ihn zerstückeln. – In der Eingangspassage werden die codifizierten Möglichkeiten des betrogenen Ehemanns ausdrücklich festgehalten: »Uber solche Untreue zörnet er mit Recht / und haben ihn auch die Gesätze zugelassen / daß er sich selbsten / auff handhaffter That an solchen Ehren=Dieben gleicher weiß als in andren einbrechenden Raubern / rächen darff.«100 Nur die Todsünde ira diskreditiert die Racheaktionen des Hauptmanns. Über Conrad hingegen heißt es, als er den Wüterich zur Strecke bringt, er habe ihn »aus blindem Zorn / oder vielmehr aus gerechter Rache«101 getötet. Vergleichsweise simpel ist hingegen die Geschichte Der frevle Buler102 strukturiert. Nach dem Promythion, das die Möglichkeit eines harmonischen Zusammenlebens der allegorischen Schwestern des Glaubens, der Liebe und der Demut mit den allegorischen Brüdern des Unglaubens, des Hasses und der Ungeduld bestreitet, widersteht die verheiratete Genueserin Claudia den unstatthaften Avancen des Edelmannes Johann de la Tour. La Tour schleicht sich in Claudias Schlafgemach, wird entdeckt und flüchtet unverrichteter Dinge. Claudia informiert ihre Brüder, ihren Mann und die

97 98 99 100 101 102

Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer:

Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche

Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte

(wie (wie (wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

1), 1), 1), 1), 1), 1),

S. S. S. S. S. S.

702. 706. 707–710. 707. 710. 711–714.

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Genueser Obrigkeit. Ihr Mann spürt mit der Unterstützung des Genueser Justizapparates La Tour auf und bringt ihn um. Das Epimythion vermerkt, daß bereits der böse Wille und nicht erst die ausgeführte Tat schwerwiegende Bestrafung nach sich zieht. Die Erzählung Der betraurte Irrthum103 setzt mit der theologisch-allegorischen Auslegung der Jahreszeiten ein, die den Aspekt der Vergänglichkeit akzentuiert. Wer sich an die unterschiedliche christliche Normen anmahnende geistliche interpretatio der Natur hält, kann sich vor Vorfällen wie dem nun folgenden schützen. Die schöne Goldschmiedstochter Margaret aus Mantua erliegt den Schmeicheleien des Fürsten von Gonzaga, der ihr zuvor Gedichte (!) geschickt hatte. Ihr Vater verheiratet sie zur Vermeidung weiteren Ungemachs mit einem »Schwertfeger«,104 die Affäre geht aber noch längere Zeit weiter, zumal Margaret inzwischen schon eine Tochter hat – wieder einmal ein Verstoß gegen das Sechste Gebot. Der Schwertfeger kommt hinter die ganze Angelegenheit und stellt der Ehebrecherin eine Falle. Prompt findet er seine Frau und den Fürsten in flagranti vor. Im Zuge der tumultuarischen Flucht des Fürsten, die in völliger Finsternis stattfindet, meint der Schwertfeger in der dunklen Kammer seiner Frau habhaft zu werden, erwürgt aber an ihrer Stelle seine Tochter – hier wieder einmal ein Folgeschaden der Todsünde ira. Der Fürst verliert das Interesse an Margaret, sie kehrt zu ihrem Mann zurück, der Fürst begnadigt den Schwertfeger. Im Epimythion wird die (vergängliche) Schönheit und damit die Todsünde superbia gegeißelt. In der letzten Historie Der Vater Mörder105 entrollt sich nach dem Dialog zwischen einem Schulmeister und seinem theologischen »Lehrling«106 eine im Bamberger Raum angesiedelte Familientragödie, in der einleitend explizit auf das Vierte Gebot verwiesen wird. Familientyrann Bossecker wird von seiner Frau Margaret und seinem ältesten Sohn Samuel erschlagen. Die Tat fliegt auf. Margaret zeigt Samuel als Vatermörder an. Nach einer Kette wechselseitiger Beschuldigungen geraten beide in die Fänge der Folter, gestehen und werden hingerichtet. Samuel wird nach der Tat »von seinem bösen Gewissen geplaget«:107 Nach seinem Geständnis hat er »sich Christlich zum Tod bereitet«.108 Margaret hingegen hat sich als »sehr unbußfertig erwiesen« und »nicht betten wollen«.109 Der Erzähler äußert sich ungewöhnlich ausführlich über die an ihr vollzogene Strafe: Der Henker hackt ihr die rechte Hand und den Kopf ab, die Leiche verbrennt auf dem Scheiterhaufen.

103 104 105 106 107 108 109

Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer:

Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche Jämmerliche

Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte Mordgeschichte

(wie (wie (wie (wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

1), 1), 1), 1), 1), 1), 1),

S. S. S. S. S. S. S.

715–719. 718. 719–723. 719. 721. 722. 722.

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6. Schlußfolgerungen Diese zwanzig Geschichten stellen nur eine kleine Auswahl aus dem erratischen narrativen Theater der zweihundert Historien dar. Dennoch lassen sich gewisse Tendenzen skizzieren, die sich mit dem theatrum-Begriff in Zusammenhang bringen lassen. Dabei gilt es stets zu berücksichtigen, daß ›Wissen‹ in der Frühen Neuzeit noch nicht im Sinne von ›Wissen‹ als digitalisierter Datengewinnung im säkularisierten 21. Jahrhundert zu verstehen ist: »Im frühneuzeitlichen Umgang mit dem vorhandenen Wissen kamen so scheinbar unvereinbare Dinge wie humanistische Lese- und Exzerpierpraxis, Weltdeutung gemäß spekulativer Prinzipien, natürliche Gotteserkenntnis und moralische Anleitung zwanglos zusammen.«110 Die funktionale Wissenssammlung der Mordgeschichten enthält ein komplettistisches Pandämonium menschlicher Laster in unmittelbarer Verbindung mit den aus ihnen entspringenden phantasievollen und variantenreichen Schandtaten. Diese Textpassagen sind denn auch relativ ausführlich. Als mögliches Ordnungsmodell der Laster lassen sich etwa die Zehn Gebote oder die Sieben Todsünden erkennen. Keine der Taten bleibt unentdeckt, die negative Anthropologie des Theaters der Laster und Verbrechen fordert zwingend eine Vergeltung der Sünden und Untaten. Um das Theater der Strafen in Gang setzen zu können, kommen die weltliche und die göttliche Gerichtsbarkeit in Frage.111 Die zumeist reibungslose und ergebnissichere Arbeit der ermittelnden Behörden schildert der Jurist Harsdörffer so knapp, wie es eben geht. Er läßt es sich allerdings nicht nehmen, in einer Erzählung massive Kritik z. B. an der Folter zu üben.112 Das materiale Straftheater in Form der Hinrichtungsstätte und die Strafrituale, die etwa in den zeitgenössischen Flugblättern detailliert ausgemalt werden, sind in den Mordgeschichten dem Blick weitgehend entzogen (eine Ausnahme ist etwa die Erzählung Der Vater Mörder). Umso mehr Raum bleibt für explizite Bekräftigung der Allgegenwärtigkeit der göttlichen Vorsehung, sowohl im strukturell besonders exponierten Pro- und Epimythion als auch in den Geschichten selber. Nicht die anschauliche Schilderung der Strafe steht im Vordergrund, sondern ihre absolute Unentrinnbarkeit. Der reuevolle

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Friedrich (wie Anm. 37), S. 232. Vgl. dazu insbesondere Siebenpfeiffer (wie Anm. 1), S. 173: »Keiner der in der MordGeschichte erzählten Kriminalfälle bleibt unaufgeklärt, sondern sie enden verlässlich mit der Bestrafung des Täters durch eine weltliche oder göttliche Gerichtsbarkeit. Die Geschichten zielen damit, der Gattung konform, auf die Restitution der durch den Rechtsbruch gestörten Ordnung, in dem sie das rechtliche und moralische Gleichgewicht erzählend wieder herstellen.« Vgl. den wichtigen Hinweis auf das Epimythion der 155. Geschichte (Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 1], S. 552f.) von Alexander Košenina: Recht – gefällig. Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 15 (2005), S. 28–47, hier S. 40f. Vgl. dazu auch Woeller (wie Anm. 2), S. 18f., und Siebenpfeiffer (wie Anm. 1), S. 173f., Anm. 68.

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und bußfertige Mensch ist ebenfalls im Straftheater Gottes – wie im weltlichen Straftheater – das Idealbild. Reue bekunden denn auch Cadrats Vater, der Wirt Nabor und die Vatermörder Dioscorius und Samuel. Nabor wird daraufhin sogar freigesprochen. Für die Uneinsichtigen gibt es immer noch das Korrektiv der Krankheit, die einen Sinneswandel auslösen kann – die beim betrügerischen Leon aber nichts ausrichtet. Auch die anderen letztlich Uneinsichtigen sterben durch Krankheit, Unfall oder die Gewalttätigkeiten ihrer Feinde. Explizite und zeitnahe Sanktionierung erfahren ohnehin die Verstöße, die sich etwa gegen die Sakramente richten. Vergehen wie Ehebruch, die Nichteinhaltung von Versprechen, die bei der Beichte gegeben wurden, die Verletzung des Beichtgeheimnisses oder die demonstrative Mißachtung des Sterbesakraments ziehen drakonische Ahndung auf sich. Diese allgegenwärtigen Strukturmuster spitzen sich in verblüffender Weise zu, wenn man die ersten zehn mit den letzten zehn Historien vergleicht. Der typische Aufbau der ersten zehn Camus-Geschichten findet sich am Ende des Kompendiums in gut der Hälfte der Historien durchaus wieder, etwa in Der Mohren listige Untreue, Das vorsetzliche Unglück, Der blinde Zorn, Der frevle Buler, Der betraurte Irrthum und Der Vater Mörder. Hier ist eine genuin narrative Tendenz mit einer dazugehörigen Dramaturgie noch greifbar. Dazu gesellen sich aber Texte, die im Sinne einer kumulativen Falldarlegung angeordnet sind.113 Es geht nicht mehr nur um einen Fall, sondern es gibt gleich vier bis neun Einzelfälle zu einem übergreifenden Thema (angekündigte Todesfälle in Der vorbewuste Todesfall, die absolute Folgerichtigkeit der Strafe in Die ermordten Mörder, Gotteslästerung und ihre desaströsen Konsequenzen in Die Unglücks Wünsche und Alkoholmißbrauch inklusive Folgeschäden in Die freywillige Unsinnigkeit). Trotz aller erzählerischen Komprimierung werden doch immer sorgsam die (teilweise weit auseinander liegenden) Orte der

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Vgl. dazu die scharfsinnigen Beobachtungen von Zeller (wie Anm. 9), S. 185, die sich insbesondere auf den siebten und achten Teil der Jämmerlichen Mordgeschichte bezieht: »Der Exempelcharakter, der Harsdörffers Bearbeitung generell auszeichnet, wird in diesen Teilen viel ausgeprägter. Die Quellen, die er für diese beiden Teile auswertet, sind auch nicht mehr primär literarische, sondern es sind Fall-Erzählungen, welche im Rahmen der Medizin, der Rechtswissenschaft oder auch von Lebensbeschreibungen als illustrative Beispiele dienen. In diesen beiden Teilen haben viele Erzählungen gar nicht mehr einen eigentlichen Erzählcharakter, sondern es werden jeweils unter einer Nummer mehrere Beispiele zu bestimmten Themen angeführt, solche sind z. B. Leute, die seltsame Sachen verschlungen haben (CLXIV), Besessene (CLXVII), seltsame Verwundungen (CLXXII), seltsame Träume (CLXXXIV), merkwürdige Todesarten (CLXXXIII) oder gar ›schröckliche Ungewitter‹ (CLXII), ganz so, wie man es in Wunderbüchern, Büchern über Hexen, Büchern über Rechtsfragen oder in medizinischen Abhandlungen findet.« Vgl. zu ähnlichen Tendenzen in Harsdörffers Geschichtspiegel (1654) Jean-Daniel Krebs: Deutsche Barocknovelle zwischen Morallehre und Information. Georg Philipp Harsdörffer und Théophraste Renaudot. In: Modern Language Notes 103 (1988), S. 478–503, hier S. 501.

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jeweiligen Handlung vermerkt und stellenweise sogar die zu Rate gezogenen Quellen – so entsteht der Eindruck der Ubiquität sowohl der geschilderten Ereignisse als auch der allgemeinen Gültigkeit der angehängten moralisatio. Die ungewöhnlichen Ereignisse und das lasterhafte Treiben erfahren gerade keine narrative Verfeinerung mehr, sondern werden nochmals bis zur bloßen Nennung des Tatbestands verknappt und so gleichsam empirisiert. Erneut schließt sich der Kreis zur historia, wie sie etwa in Theodor Zwingers Theatrum vitae humanae aufgefaßt wird: »Indem sich also die Historie als systematische Datensammlung reorganisiert, nähert sie sich dem Bild, das eine andernfalls zu kurz greifende Begriffsbestimmung von ihr entwirft.«114 Der vergleichsweise trockenen und wenig anschaulichen Darbietungsweise der Einzelfälle steht die Ausweitung des quantitativen Anteils der Promythion-Segmente (auch in den konventionell erzählten Geschichten) zur Seite, sicherlich einer der gravierendsten Unterschiede im Vergleich zu den ersten zehn Texten. Die textlichen Präludien scheinen gegenüber den eigentlichen Historien Eigenwert zu gewinnen, sind aber mit ihnen untrennbar verbunden. Ihre allegorischen und teilweise biblisch-allegorischen Darstellungen haben vielmehr den Charakter einer explikativen Vorab-Auslegung, die die folgenden äußerst kurzen Fallbeispiele mit einer geistlichen Dimension ausstattet.115 Wieder ist die Präsentation von in diesem Falle empirisch anmutendem Wissen verschweißt mit der ständigen Bekräftigung eines übergeordneten Sinns an textlich exponierter Stelle. Was an die erste Stelle bei empirischen und nicht-empirischen Erkenntnisprozessen zu setzen ist, illustriert mit unumstößlicher Gewissheit bereits Degenwert im 202. Gesprächspiel, Die Lehrart: Etliche setzen zum Grund aller Wissenschaften I. Das Wort Gottes. II. Die Vernunft und derselben Ursachen  / wie solche von Menschen Sinne mögen erdacht werden. III. Die Erfahrung und Handanlegung / in Chimischen / und anderer Arbeit.116

So festigt das vermittelte Wissen der Mordgeschichten den Glauben in die Allmacht, die Allgegenwärtigkeit und die Gerechtigkeit des göttlichen Willens. Egal wie verschlagen, skrupellos und grausam sich die Übeltäter auch gerie-

114

115 116

Arno Seifert: Cognitio historica. Die Geschichte als Namengeberin der frühneuzeitlichen Empirie. Berlin 1976, S. 87. Seifert steuert ein komplettes Kapitel zu Zwinger bei (S. 79–88: »›Sensata cognitio‹. Historie als Sinneserkenntnis und Datensystem bei Theodor Zwinger«) und äußert sich auch ausführlich zu Francis Bacon, der von Harsdörffer hoch geschätzt wurde (S. 116–138: »›Experientia‹. Der Historiabegriff Francis Bacons«). In der »Nothwendige[n] Vorrede« (Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 1], unpag.) zu den Mordgeschichten beruft Harsdörffer sich zudem explizit auf Bacons Schrift De dignitate et augmentis scientiarum (1623). Vgl. zu dieser Konstellation Breuer (wie Anm. 49), S. 128, Anm. 2, und insbesondere Hess (wie Anm. 45), zum Diskurs über empirische Erkenntnis. Vgl. dazu eindringlich Breuer (wie Anm. 49). Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 20), Tl. V, S. 123.

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ren, egal welche Katastrophen und Mißgeschicke über die Menschen hereinbrechen – Gottes gerechter Strafe entgeht niemand. Das läßt sich etwa in den letzten zehn Exempeln sogar mit empirisch anmutendem Datenmaterial belegen. Mithin sollte man die erbaulichen Anteile der Mordgeschichten aber nicht als einzige Rezeptionsmöglichkeit verabsolutieren. In seinem Konversationsratgeber Allmodische Sitten=Schule empfiehlt Tobias Schrödter 1660 Harsdörffers Anthologie neben Werken unter anderem von Julius Wilhelm Zincgref und Johann Michael Moscherosch als ideale Vorlage für Gespräche unter Männern im Rahmen von Hochzeitsgesellschaften.117 So darf der Unterhaltungsaspekt118 der Mordgeschichten, der ihnen durch die stellenweise durchaus spannungsreiche narratio criminis (Siebenpfeiffer) eingeschrieben ist, nicht zu gering veranschlagt werden. Die Erzählungen bieten vielmehr ein multifunktionales Ensemble von Nutzungsmöglichkeiten für den Rezipienten.119 Die Funktion eines qua Titel nobilitierten Wissenstheaters, in dem ein überbordender Fundus an menschlichem Fehlverhalten versammelt ist, stellt dabei einen Aspekt der Nutzungsgratifikationen für den ›curiösen‹ Leser dar. Eine weitergehende Analyse der restlichen 180 Erzählungen und der in ihnen transportierten Wissensbestände würde die vorliegende Ergebnisskizze selbstverständlich noch weitaus genauer differenzieren können. Allerdings ist zu 117

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Tobias Schrödter: Allmodische Sitten=Schule. Magdeburg 1660, S. 379f.: »Anlangende die Gespräche / so da bey solcher Versammlunge unter denen Manns=Persohnen am meisten beliebet werden / seynd vornemblich kluge Apophthegmata / davon Zinckgreff / Lycosthenes / Pegeus / und etliche andere mehr / solche beliebende Arthen auffgesetzet haben / deßgleichen des Philanders von Sittewald seine Satyrische Gesichter: Die Hundts Tägigen Erquickstunden / Kreckewitzen Politische unnd Historische Lustwälder / und dergleichen lustige Sachen mehr / Wie nicht weniger Harßdörffers Lust und Lehrreiche / sowohl auch Traurige Mord=Geschichte / und andere mehr; Exempel anzuführen / wolte die Zeit zu lange werden / zumahl / weil ich umb geliebter Kürtze willen allgemach zum Ende eile.« – Brückner hingegen bezieht sich auf Schrödters New-Allmodische Sitten-Schule (1662) und schreibt: »Tobias Schrödters New-Allmodische Sittenschule (Magdeburg 1662), ›jenes Handbuch des nach oben strebenden Bürgers, der sich auf die modische Unterhaltung vorbereiten will‹, empfiehlt vor allen Dingen Harsdörffers Werke als Bildungslektüre; sie gehören zu den politischen Büchern. Wichtig zum Gespräch an großer Potentaten Tafel sind die Lustigen Schauplätze wegen der dort zu findenden klugen Hoffsprüche; die Jämmerlichen Mordgeschichten aber bilden neben den glaubwürdigsten wöchentlichen Novellen, also den Zeitungsmeldungen, geeignete Themen in der Unterhaltung mit Priestern, Schullehrern und Schuldienern« (Brückner [wie Anm. 8], S. 109f.). Vgl. dazu auch Theiß (wie Anm. 46), S. 911. Vgl. zu diesem wichtigen Aspekt frühneuzeitlicher Wissensvermittlung die instruktiven Ausführungen von Markus Fauser: Wissen als Unterhaltung. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen, Sina Rauschenbach u. a. Köln u. a. 2004, S. 491–514. Vgl. sehr bündig Pfefferkorn (wie Anm. 46), S. 667: »Es überlagern sich vielmehr verschiedene Funktionen, die den Aspekt der Erbauung teilweise in den Hintergrund treten lassen, ihn manchmal sogar fast völlig verdrängen. Außer auf Erbauung zielen diese Texte auch noch auf Information bzw. Belehrung, Anregung zur Konversation und auf reine Unterhaltung.«

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konstatieren, daß allein auf der positivistisch anmutenden Ebene der Stofferfassung der Historien, die mithin den Ausgangspunkt für weitergehende Studien zu den Erzählverfahren bilden sollte, noch wenig getan ist. Das letzte wissenschaftliche Großunternehmen in dieser Hinsicht dürfte Günther Weydts materialreiche Untersuchung zu Grimmelhausens Quellenaneignung und Quellenverarbeitung gewesen sein – und das liegt vierzig Jahre zurück.120 Dabei bilden die zweihundert Mordgeschichten lediglich ein Segment eines ausufernden Desiderats. Im Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte finden sich weitere zweihundert Erzähltexte, über die Gesprächspiele verteilt 300. Bislang noch nicht einmal ansatzweise gesichtet sind die zweihundert Historien aus Heracljtus und Democrjtus (1652) und die hundert Texte aus dem Geschichtspiegel (1654).121 Und so schwierig es bereits erscheint, die jeweils zweihundert Einzeltexte der Schau=Platz-Anthologien in den Griff zu bekommen, so anspruchsvoll gerät die Aufgabe, ein Textkorpus von mehr als tausend Einzelsegmenten auch nur deskriptiv zu erfassen.122 Methodologische Hilfestellung für diese herkulische Arbeit ist noch am ehesten von der europäischen Ethnologie zu erwarten, die sich schon seit langer Zeit mit den Tradierungswegen von Erzählstoffen beschäftigt und dabei auch immer wieder auf Harsdörffers Anthologien zurückgreift.123 Zu bewundern ist abschließend auch gut 360 Jahre nach der Erstpublikation der Mordgeschichten noch die Souveränität, mit der Harsdörffer seine Historien allein durch das kleine Wort ›Schauplatz‹ in den prestigeträchtigen Wissenslandschaften des Barockzeitalters trickreich installiert.

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Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern u. a. 1968, bes. S. 47–187. Weydt geht sogar noch von viel größeren quantitativen Dimensionen aus, wenn er die Einzeltexte noch weiter segmentiert: Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte 268, Gesprächspiele 485 (!), Heracljtus und Democrjtus 235, Geschichtspiegel 137 (Gesamtzahl 1374), räumt aber auch Schwierigkeiten bei der Zumessung von Textgrenzen ein (vgl. Weydt [wie Anm. 120], S. 60). In diesem Sinne wäre ein Kompendium nützlich, wie es etwa Rainer Hillenbrand (Heyses Novellen. Ein literarischer Führer. Frankfurt/M. u. a. 1998) für das vergleichbar unüberschaubare Erzählwerk von Paul Heyse vorgelegt hat. Vgl. zu diesem Untersuchungsfeld neben dem genannten Aufsatz von Schenda (wie Anm. 53) bes. Winfried Theiß: Georg Philipp Harsdörffer. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke, Hermann Bausinger u. a. Berlin u. a. 1990, Bd. 6, Sp. 516–521, und nochmals Rudolf Schenda: Mordgeschichten. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke, Hermann Bausinger u. a. Berlin u. a. 1999, Bd. 9, Sp. 879–894.

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Thesen zum Zusammenhang von Quellenverwertung und Kompilationsstrategie in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen1

1. Problemaufriß Im vorliegenden Beitrag möchte ich Aspekte der Kompilations- und Redaktionskriterien von Georg Philipp Harsdörffers Schau=Platz-Sammlungen – dem Grossen Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte2 und dem Grossen Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte3 – problematisieren. Dabei handelt es sich um ein heterogenes Quellenkorpus, von dem ich in erster Linie die französischen Quellen – mit besonderer Berücksichtigung der Erzählsammlungen des katholischen Bischofs Jean-Pierre Camus und seiner Quellen sowie das Werk Thrésor d’histoires admirables et mémorables des Genfer Kompilators Simon Goulart – in das Zentrum der Überlegungen stellen möchte. Dabei stütze ich mich einerseits auf die in diesem Gebiet bislang eher dürftigen Erträge der Forschungsliteratur, andererseits auf meine jüngsten Investigationen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Die skizzierten Erträge der bisherigen Recherchen sind notwendigerweise vorläufig. Um Harsdörffers besonderem stofflichen Interesse als Jurist bei der Zusammenstellung der Sammlungen Rechnung zu tragen, sollte man nicht nur seine Auswahl an Quellen, sondern auch die damalige Rechtswirklichkeit sowie die Bedingungen zur Ausdifferenzierung verschiedener Normensysteme und zur Konstruktion von Norm und Devianz berücksichtigen.4 Der Befund, daß Hars-

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Der folgende Beitrag versteht sich als komprimierte Version von Arbeitshypothesen und exemplarischen Fallstudien, die ich ausführlich in meiner Dissertation darlegen werde. Für die anregenden Diskussionen über Barockliteratur und die tatkräftige Unterstützung beim Schreiben über ebendiese danke ich Hans-Joachim Jakob (Siegen). Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten (1649–1650). Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1664. Hildesheim u. a. 1978. Zu weiteren Aspekten hinsichtlich von Norm und Devianz sowie zum kriminalitätshistorischen Hintergrund vgl. etwa Gerd Schwerhoff: Devianz in der alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung. In: Zeitschrift für historische Forschung 19 (1992), S 385–414; ders.: Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung. Tübingen 1999; ders.: Kriminalitätsgeschichte

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dörffers Werk zu seiner jahrzehntelang währenden Gerichtstätigkeit nicht abbildend, sondern bewußt komplementär zu sehen ist (wie Böttcher annimmt),5 mag nur auf den ersten Blick überraschen. In der Tat erweisen sich fast alle Stücke trotz deutscher Ortsangaben und trotz des oft vom Autor selbst suggerierten Wahrheits-Topos (»als ich zu Rom war«,6 »schwebt mir noch für Augen«7) als tradierte Literatur. Auch wenn Harsdörffer als praktizierender Jurist sein umfangreiches literarisches Œuvre in Mußestunden verfaßt hat, reagiert er genauso wie seine Quellen und Vorlagen auf die Ungerechtigkeiten und Defizite des irdischen Rechtssystems empfindlich. Dies zeigt sich in der Stoffwahl, in den impliziten Kommentaren, in den Querverweisen und in der Art, wie er die Quellen für seine Zwecke transformiert. Durch die Heterogenität seiner Quellen und durch die frühneuzeitliche Informationsflut, aber auch durch seine geradezu unbändige Lust am Erzählen kippt die ursprünglich von Jean-Pierre Camus, einem seiner vorzüglichen Gewährsmänner, importierte Struktur: Auf der formalen Ebene macht sich dieses Phänomen durch die zunehmende Auflösung der EmblemStruktur der Erzählungen bemerkbar,8 auf einer Meta-Ebene verselbständigen sich die Geschichten und sind schließlich in ihrer Makro-Struktur als Schnittfeld oder gar Konfliktzone zwischen ästhetisch-rhetorischer, kirchlich-religiöser, weltlich-juristischer und sozial-alltäglicher Normativität zu rekonstruieren. Im Rahmen dieses Beitrags will ich – nach der Schilderung der Quellenlage – einige Aspekte der Tradierung aufzeigen. An konkreten Textbeispielen soll dann veranschaulicht werden, was mit den ursprünglich zum Genre histoires tragiques gehörenden Texten und auch mit anderen Vorlagen durch Harsdörffers Bearbeitung geschieht. Die Betrachtung der Transformationsprozesse richtet sich nach folgenden forschungsleitenden Fragen: (1.) Was beeinflußt die Kompilations- und Selektionsstrategie, welche Geschichten werden jeweils von einem Autor in die Sammlungen aufgenommen und welche nicht? Welche Rolle spielen inhaltliche Aspekte oder konfessionelle Spannungen bei der Zusammenstellung der Sammlungen? (2.) Ist dem Kompilator beizupflichten, wenn er etwa im Grossen Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte schreibt, daß die Geschich-

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im deutschen Sprachraum. Zum Profil eines ›verspäteten‹ Forschungszweiges. In: Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Hg. v. Andreas Blauert u. Gerd Schwerhoff. Konstanz 2000, S. 21–67. Vgl. Irmgard Böttcher: Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 289–346, hier S. 298. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 133. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 354. Zum emblematischen Erzählen in den Mordgeschichten vgl. bes. Hania Siebenpfeiffer: Narratio crimen – Georg Philipp Harsdörffers Der grosse Schau-Platz jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 157–176.

Quellenverwertung und Kompilationsstrategie

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ten aufeinander folgen »ohne Ordnung / wie sie uns beyfallen / und etwan in frölicher Gesellschaft erzehlet werden möchten«9 oder verbirgt sich eine innere Logik oder ein nachvollziehbares anordnungstechnisches Kalkül dahinter? (3.) Welche Veränderungen erfahren die Texte oder Stücke durch die unterschiedlichen Arrangements und die Transformation Harsdörffers, wie wirken die Geschichten, aber auch ganze Erzählsammlungen aufeinander, wie ist die intertextuelle Dimension zu fassen?10 (4.) Was betonen jeweils die Autoren der Vorlagentexte einerseits (vor allem Harsdörffers Hauptquelle Camus), welche Schwerpunkte setzt Harsdörffer andererseits? Welche Funktionen haben die Texte in Frankreich und in Deutschland? Welche Themen werden von Harsdörffer präferiert und was läßt er weg? Harsdörffers Mordgeschichten können insofern als histoires bezeichnet werden, als daß sie zeitlich und örtlich situiert sind und auf meist französische Geschichten derselben Gattung zurückgehen. Da die Tradierungslinie von Giovanni Boccaccio und Matteo Bandello über Pierre Boaistuau und François de Belleforest bis hin zu François de Rosset, Camus und schließlich Harsdörffer reicht, ist die Untersuchung der Überlieferung dieser Geschichten – wie auch Rosmarie Zeller forderte und in einer Studie beispielhaft erarbeitete11 – im deutschen Sprachgebiet unabdingbar. Als Entdeckung auf diesem Gebiet hat sich das von der Forschung bisher als mögliche Hauptquelle nicht in Betracht gezogene Werk Thrésor d’histoires admirables et mémorables12 aus der Feder des Genfer Kompilators Simon Goulart erwiesen, das noch auf seine Verbindung mit den oben erwähnten Vertretern der histoires tragiques hin näher untersucht werden muß. Die Rolle des Thrésor ist in den Schau=Plätzen insofern nicht zu unterschätzen, als daß er wie eine Zwischenquelle funktioniert und Stücke verschiedenen Inhalts und verschiedener Provenienz, und zwar nicht nur aus der Tradition der histoires tragiques, vereint. Immerhin sind es mehr als 36 Stücke aus dieser Sammlung, die in den Schau=Plätzen erwiesenermaßen Aufnahme gefunden haben (15 in den Jämmerlichen Mordgeschichten und 21 in den Lust= und Lehrreichen Geschichten), ganz zu schweigen von den Fällen der Quellen-

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Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 357. Vgl. zur gesamten Problematik etwa den Band: Intertextualität in der Frühen Neuzeit. Studien zu ihren theoretischen und praktischen Perspektiven. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. Wolfgang Neuber. Frankfurt/M. u. a. 1994. Vgl. Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires tragiques. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 177– 194. Simon Goulart: Thrésor d’histoires admirables et mémorables de nostre temps: recueillies de plusieurs autheurs, mémoires avis de divers endroits mises en lumière par Simon Goulart. Paris 1610 (zahlreiche weitere Ausgaben). Konsultierte Ausgabe: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign. M: Ge 282.

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konkurrenz, in der sie bei der Tradierung der Stoffe eine Vermittlerrolle spielten oder als Zwischenquelle fungierten. Bereits Rudolf Schenda hat in einem Beitrag zu den Jämmerlichen Mordgeschichten dezidiert darauf hingewiesen, daß für ein besseres Verständnis der Schau=Plätze die Überschreitung der nationalen Philologie erforderlich ist.13 Wie Zeller weiterführend betonte, laboriert die Forschung daran, daß Harsdörffer Texte zugeschrieben werden, die er nicht verfaßt hat.14 In diesem Sinne kann man den internationalen Charakter einzelner Stücke der Sammlungen nicht genug betonen. Es handelt sich in der Tat um europäische Geschichten, um »Diebesbeute aus fremden Beutel«15, um internationales Kulturgut, dessen Spuren oft zu einer mündlichen Bezugsperson zurückzuführen wären. Durch die Mehrfachverwertung der Texte im historischen Tradierungsprozeß, aber auch in Harsdörffers Œuvre selbst werden sie in verschiedene Kontexte eingebettet und erfüllen durchaus unterschiedliche Funktionen. Nicht selten erhalten sie infolge der anderen Akzentsetzung und Transformation des Autors eine poetologisch abweichende Form und können hierdurch Vorformen solcher Gattungen werden, die sich teilweise erst im 18. Jahrhundert ganz ausdifferenzieren (wie Novelle,16 Zeitungsbericht,17 naturwissenschaftliche Erörterung, Drama, Predigt,18 Brief usw.). Die Perspektive für die Variationsmöglichkeiten der Stoffe ist durch das auf Kombination beruhende Kompilationsverfahren, durch die unbändige Erzähllust des Autors (die sich nicht zuletzt in der bunten Mischung von Informationen manifestiert, die aus verschiedenen Wissensgebieten genommen werden) und durch die bewußt eingesetzte Wissensökonomie nahezu unendlich. Die neu übernommenen Geschichten verselbständigen sich in ihrer Makrostruktur, gewinnen zunehmend an Eigendynamik, bilden eine Art ›Wirkungsnetz‹ und verhalten sich anders als vorher. Auf einer Meta-Ebene widersprechen sie sich und den

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Vgl. Rudolf Schenda: Jämmerliche Mordgeschichte. Harsdörffer, Huber, Zeiller und französische Tragica des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Volkskultur – Geschichte – Region. Festschrift Wolfgang Brückner. Hg. v. Dieter Harmening u. Erich Wimmer. Würzburg 1990, S. 530–551, in durchaus polemischer Zuspitzung bes. S. 549. Zeller (wie Anm. 11), S. 179. Schenda (wie Anm. 13), S. 540. Vgl. dazu instruktiv Ingo Breuer: Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. v. Hartmut Böhme. Stuttgart u. a. 2005, S. 291–312; aus jüngster Zeit ders.: Erzählung, Novelle, Anekdote. In: KleistHandbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. dems. Stuttgart u. a. 2008, S. 90–97, und ders.: Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg Philipp Harsdörffers. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 19 (2009), S. 288–300. Vgl. Jean-Daniel Krebs: Journalismus und Novelle. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 14 (1987), S. 6–8. Wofür insbesondere die zumindest potentielle Eignung der Harsdörfferschen Geschichten als Predigtmärlein spricht.

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niedergelegten Normen, die sie ursprünglich getragen und generiert haben, und widerlegen so die Prämissen, die der Autor in den programmatischen Vorreden formuliert.

2. Forschungsstand und Quellenlage Trotz der in den letzten Jahren beobachtbaren Konjunktur in der HarsdörfferForschung, die auch und gerade die Schau=Plätze betrifft,19 überwiegt nach wie vor die gattungstypologische Einordnung der Geschichten zwischen den Extremen ›bestätigendes Exempel‹20 und ›Frühform der Kriminalgeschichte‹,21 allerdings mit nur bestenfalls partieller Verankerung der Mordgeschichten im Kontext der Rechts- und Kriminalitätsgeschichte der Frühen Neuzeit. Die meisten Beiträge argumentieren – aus naheliegenden forschungsökonomischen Gründen – extrem kleinteilig, aufgrund herausgegriffener Erzählungen werden Analysebefunde auf die ganzen Schau=Plätze verallgemeinernd übertragen, wie dies etwa bei Hania Siebenpfeiffer der Fall ist. Ihre These, daß die Schau=Platz-Erzählungen als Kriminalerzählungen avant la lettre wegen der attestierten ›verselbständigten‹ und ›spannungsvollen‹ Narration ideale Beispiele für eine didaktische Vorgaben überwindende ›Lust am Erzählen‹ seien, wird durch die Kenntnisse anderer Geschichten sowie deren Quellen relativiert. Man muß sich vergegenwärtigen, daß die viel gelobte ›Lust am Erzählen‹ schon Harsdörffers Gewährsmänner (im Falle der Geschichte Das falsche Zeugnis22 also Rosset bzw. dessen deutscher Bearbeiter Martin Zeiller) durchaus verspürten. Gegen eine unhistorische und Gattungsentwicklungen verknappt darstellende Genese von Novelle und Kriminalgeschichte wendet sich zudem explizit Zeller, wenn sie kritisch anmerkt, daß frühneuzeitliche Erzählungen, auch wenn sie

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Vgl. Hans-Joachim Jakob: Bibliografie der Forschungsliteratur zu Georg Philipp Harsdörffer von 1847 bis 2005. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 13–35, hier S. 32–33. Zur Entwicklung der Forschung seit 2005 vgl. ders.: Nachträge zur Harsdörffer-Bibliografie. In: Simpliciana 30 (2008), S. 235–260, hier S. 254: »Die Schauplatz-Anthologien, insbesondere der Schau-Platz jaemmerlicher Mord-Geschichte, dürften in den letzten Jahren die Gesprächspiele als beliebtestes Untersuchungsthema fast auf den zweiten Platz verdrängt haben.« Vgl. exemplarisch Winfried Theiß: »Nur die Narren und Halßstarrigen die Rechtsgelehrte ernehren...«. Zur Soziologie der Figuren und Normen in G. Ph. Harsdörffers Schauplatz-Anthologien von 1650. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. a. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 899–916. Vgl. pointiert Siebenpfeiffer (wie Anm. 8). Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 103, S. 356–361. Vgl. zu dieser Historie speziell Siebenpfeiffer (wie Anm. 8), S. 169–173.

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über Kriminalfälle berichten (und das tun sie ja nicht immer), dieses unter dem Vorzeichen einer anderen Intention unternehmen, als die im 19. Jahrhundert reüssierende Gattung der Kriminalnovelle.23 Einen anderen Weg der genaueren gattungstypologischen Eingrenzung von Harsdörffers Erzählungen gehen die Untersuchungen, die die europaweite Tradierung und Umsetzung von Prosatexten, für die Nürnberg als Handels- und Kommunikationszentrum einen günstigen Standort bot, in den Blick nehmen. So formuliert Italo Michele Battafarano in mehreren Beiträgen die These, daß durch die Übernahme des Erzählguts aus der Romania zugleich die deutsche Kultur aufgewertet wurde und somit zum Zivilisationsprozeß und zur Europäisierung beitragen konnte.24 Ähnliches konstatiert auch Jean-Daniel Krebs, wenn er über die Übernahme des honnêteté-Ideals durch Harsdörffer spricht.25 Seine Untersuchungen sind für eine diskursgeschichtliche Analyse der Schau=Plätze von grundlegender Bedeutung. Krebs weist nach, daß in Harsdörffers Schau=PlatzKompilationen eine stetige Zunahme des reinen Informationscharakters auf Kosten der poetischen Form zu verzeichnen ist, »eine Überflutung der Novellenpartie durch die nicht mehr eingedämmte Information« vor allem aus den Renaudotschen Conférences.26 Einzelne Aspekte der Tradierung wurden in notwendigerweise punktuell bleibenden Beiträgen behandelt,27 ohne dabei auf Harsdörffers besondere Kombinations- und Kompilationsstrategie einzugehen.

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Zeller (wie Anm. 11), S. 177. Vgl. außerdem weitergehend zur ›Siebenpfeiffer-ZellerKontroverse‹ Jakob: Nachträge zur Harsdörffer-Bibliographie (wie Anm. 19), S. 255f. Vgl. Italo Michele Battafarano: Harsdörffers Beitrag zur Entprovinzialisierung deutscher Kultur. In: Nürnberg und Italien. Begegnungen, Einflüsse und Ideen. Hg. v. Volker Kapp u. Frank-Rutger Hausmann. Tübingen 1991, S. 213–226; Italo Michele Battafarano: Literatur versus Krieg. Harsdörffers Beitrag zur Europäisierung deutscher Kultur. In: Ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u. a. 1994, S. 85–100; ders.: Vom Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung. Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer – ein Sohn Europas. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 196–212. Jean-Daniel Krebs: Harsdörffer als Vermittler des ›honnêteté‹-Ideals. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 287–311. Jean-Daniel Krebs: Deutsche Barocknovelle zwischen Morallehre und Information. Georg Philipp Harsdörffer und Théophraste Renaudot. In: Modern Language Notes 103 (1988), S. 478–503, hier S. 501. Vgl. aus jüngster Zeit Misia Sophia Doms: »Wann ein Frantzos […] ein teutsches Kleid anziehet.« Die Behandlung konfessioneller Fragen bei der Übersetzung von Jean-Pierre Camus’ L’Amphithéâtre sanglant und in Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mord-Geschichte. In: Deutsch-französische Literaturbeziehungen. Stationen und Aspekte dichterischer Nachbarschaft vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Marcel Krings u. Roman Luckscheiter. Würzburg 2007, S. 51–69, sowie Maximilian Bergengruen: Exempel, Exempel-Sammlung und Exempel-Literatur – am Beispiel von Harsdörffers teuflischer Mord-geschichte Die bestraffte Hexen. In: Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen. Hg. v. Jens Ruchatz, Stefan Willer u. a. Berlin 2007, S. 122–142.

Quellenverwertung und Kompilationsstrategie

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Insbesondere im Hinblick auf die Fluktuation von Bildmaterial in Harsdörffers Großtexten konnte in letzter Zeit Jörg Jochen Berns verblüffende Erkenntnisse vorlegen. Berns präzisiert Harsdörffers Rolle als Redakteur für Wissensbestände aus unterschiedlichsten Gebieten: Harsdörffer war ein compilator, der die Partikel seines aufgehäuften Wissens als combinator in immer neue energetische Zusammenhänge brachte. Kompilation ist Voraussetzung seiner Kombinatorik. Dies gilt auch für die Makrostrukturen seines Gesamtwerks.28

Hinzuzufügen wäre nun die Überlegung, daß die beschriebene Kompilationsstrategie weiterhin auf das intra- und intertextuelle Referenzsystem der Großtexte Harsdörffers, also auch auf die Schau=Plätze, angewendet werden kann. Es fluktuieren nicht nur Embleme in den Großtexten, sondern auch Geschichten. So zeigen sich die Schau=Plätze eng verwoben etwa mit den Frauenzimmer Gesprächspielen.29 Als Auswahlkriterien für das stoffliche Interesse Harsdörffers lassen sich vorläufig Singularität, varietas und brevitas benennen, die als steuernde Faktoren für die Serienbildung und somit für die endlosen Kombinationsmöglichkeiten in Harsdörffers Werk verantwortlich sind. Dabei ermöglicht und begrenzt die Heterogenität der Quellen das Spiel des Kompilators mit Themen, Motiven und Normen. Eine weitere überaus instruktive Auseinandersetzung mit den spezifischen Kategorisierungsproblemen der Mordgeschichten bietet der bereits mehrfach erwähnte Beitrag von Zeller,30 in dem sie auch die Besonderheiten der Übernahme einiger Stücke aus der Sammlung L’amphithéâtre sanglant (1630) von Camus durch Harsdörffer genau dokumentiert. Wie sie zutreffend bemerkt, vermeidet Harsdörffer sowohl die Schilderung von verhängnisvollen und allzu heftigen Leidenschaften als auch die Auseinandersetzung mit Camus’ dogmatischem Ka-

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Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. HansJoachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 55–83, hier S. 69. Die folgenden Schau=Platz-Erzählungen werden, wenngleich mit kleineren Modifikationen in Umfang, Funktion, Titel oder Namen, bereits (bis auf eine Ausnahme) samt Quellenhinweisen in den Gesprächspielen abgedruckt; vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969 (jeweils nach neuer Paginierung): Die Geblütsregung von Cervantes (Tl. II, S. 132–137), Der tyrannische Bruder von Belleforest (Tl. VII, S. 356–376), Die bestraffte Nachahmung von Camus aus den Evenemens singuliers (Tl. VII, S. 391–395) und Die süsse Bestraffung (Tl. VIII, S. 91–93), jedoch ohne Quellenangabe. Vgl. zu den quantitativen Dimensionen der Geschichten in den Großtexten nach wie vor Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern u. a. 1968, S. 60. Zeller (wie Anm. 11).

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tholizismus und den konfessionellen Spannungen der Zeit.31 Harsdörffers Methode der Textverwertung und seine Sehweise erscheinen insofern ›moderner‹, wenn man sich die Komplexität seiner Kompilationsstrategie bewußt macht. Natürlich stellt die Bearbeitung der Stücke durch Harsdörffer im Vergleich zu der Camusschen Literarizität einen Rückschritt dar, wie Zeller zu Recht anmerkt.32 Vergleicht man aber nicht nur Geschichte mit Geschichte, sondern Sammlung mit Sammlung, erweisen sich Harsdörffers Kompilationsstrategien schon aufgrund ihrer reichen Quellenbasis von verschiedenen Gattungen und Medien unvergleichlich vielfältiger und ›moderner‹.33 So gilt es weiterhin zu bedenken, daß der Verzicht auf die literarische Ausschmückung zugunsten der Informationsvielfalt durchaus gezielt und zum Vorteil der Vielseitigkeit und Pluralisierung geschah. Die eingesetzten Kompilationsparameter wie varietas oder brevitas dienen dem Prinzip der Serienbildung.34 Zeller skizziert in ihrer programmatischen Untersuchung zudem die sehr komplexe quellenphilologische und gattungstheoretische Problematik,35 nennt

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Vgl. speziell dazu auch Doms (wie Anm. 27). Zeller (wie Anm. 11), S. 194. Wie René Godenne im Vorwort zur kritischen Edition der Spectacles d’horreur. Avec une introduction de Monsieur le Professeur René Godenne (1630) (Nachdruck Genf 1973) treffend anmerkt, glaubt Camus unerschütterlich an die Macht der Repetition für seine didaktisch-frommen Zwecke. In der Vorrede der Succez différens (1630) schickt der Bischof selber voraus: »Les Succez différens que je te présente, mon cher Lecteur, n’ ont rien de différent des Evénements singuliers, des Occurences remarquables, des Lecons exemplaires, de la Tour des miroirs, des Relations morales que je t’ay desjà données, si ce n’est leur titre« (Jean-Pierre Camus: Les Succez différens. Paris 1630, unpag.). In diesem Tenor äußert sich auch Harsdörffer in den Lust= und Lehrreichen Geschichten und betont ausdrücklich den Aspekt der Nutzenmaximierung, wenn man seine Großtexte intertextuell konsultiert: »allermassen auff einen Lehrsatz unterschiedliche Geschichte gebracht werden können / wie in den Gesprächspielen angeführet / zu lesen« (Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte [wie Anm. 3], Tl. I, S. 30); an späterer Stelle: »Etliche Erzählungen können unter einem Titel stehen / gleich wie alle Tugenden gleichsam an einer Ketten hangen / deren jede ein absonderliches Glied machet / und im Gegensatz auch ein Laster an dem andern hanget / massen hiervon Meldung zu finden / in dem CCLXXXI. Gesprächspiele / da ein jedes in der Gesellschaft einen absonderlichen Titel über die Geschichte vorschlägt / und in dem CCLXXII. Spiele / sechs Erzehlungen unter dem Titel Gespenster beygebracht worden. Wie aber ein Unterschied an der Zahl und dem Inhalt; also bemühen wir uns auch die Titel zu ändern / dass keiner zweymahl in dem gantzen Werck vorkommen soll / massen auß erstbesagter und folgender Begebenheit zu ersehen seyn wird« (Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte [wie Anm. 3], Tl. I, S. 64). Camus bedient sich einer ähnlichen Argumentation im Vorwort seiner Evenemens singuliers: »et comme des squelettes, ou ne restent que les os de l’Evenement, descharnez et despoüillez des ornemens qui eussent pu faire paroistre leur corps en plus belle forme« (Jean-Pierre Camus: Les évenemens singuliers. Rouen 1637, unpag.; konsultierte Ausgabe: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: A: 51. 19 Eth.). Zur Gattungsproblematik und zum Bedingungsgefüge von Fiktionalität und Faktizität vgl. außerdem Rosmarie Zeller: Fabula und Historia im Kontext der Gattungspoetik. In: Simpliciana 20 (1998), S. 49–62; explizit anhand des Beispiels Grimmelshausen dies.:

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gleich drei Forschungsdesiderata36 und macht genauso wie Schenda auf die Notwendigkeit der Überschreitung der nationalen Philologie aufmerksam. Um der Redaktionsstrategie, Motivation und Erzählhaltung des frommen Protestanten und Juristen Harsdörffer auf die Spur zu kommen, muß man natürlich seine Auswahl an Quellen kennen – vor allem die bereits erwähnten französischen, ebenso aber die spanischen und italienischen. Als Hauptquelle gelten nach wie vor die Erzählsammlungen von Jean-Pierre Camus (von denen bislang ausführlich nur das Amphithéâtre sanglant behandelt wurde) und das Werk Thrésor d’histoires admirables et mémorables von Simon Goulart neben den bereits erwähnten Vertretern der histoires tragiques (Bandello, Boaistuau, Belleforest, Rosset) oder dem Juristen Etienne Pasquier. Als gut erforscht darf der Einfluß von Miguel de Cervantes37 und von Théophraste Renaudot gelten.38 Die Überlieferung der Stoffe erfolgt nicht immer linear (wie in den meisten Fällen der Verwendung von Camus-Geschichten), sondern oft synchronisch, d. h. es lassen sich mehrere mögliche Tradierungslinien nachweisen – ohne eindeutig beweisen zu können, woher Harsdörffer jeweils die Geschichte tatsächlich gekannt hat. So können wir auch von konkurrierenden Quellen sprechen wie etwa im Falle von Deß blinden Zeugschafft.39 In diesem Fall kommen Pasquier, Goulart, Rosset oder Camus als Quelle in Frage. Nicht selten bringt Harsdörffer zwei Quellenvariationen einer gemeinsamen Ursprungsgeschichte, wie es etwa bei der Adaptation einiger Bandello-Novellen der Fall ist. In verschiedenen Unterkapiteln (Teilen) bringt er jeweils die verschiedenen Variationen unter, die sich infolge der abweichenden Tradierung stark unterscheiden. So fällt es kaum noch auf, daß es sich um dieselbe Geschichte handelt; etwa im Falle von Die

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Grimmelshausens Keuscher Joseph, Dietwalt und Amelinde und Proximus und Lympida im Kontext zeitgenössischer Romantheorie. In: Simpliciana 15 (1993), S. 173–192. Zeller (wie Anm. 11), S. 176–177: »Es fehlt insbesondere, wie Rudolf Schenda 1990 bemerkte, eine Untersuchung der französischen Quellen und ihrer Bearbeitungen durch Harsdörffer. Es fehlt aber auch generell eine Untersuchung der von Harsdörffer angewendeten literarischen Techniken, und es fehlt eine Untersuchung zum Verhältnis von Histoire tragique, Novelle und Exempel.« Vgl. etwa Hans Gerd Rötzer: Variationen der Pikareske. Cervantes und Harsdörffer. In: Il picaro nella cultura Europea. Hg. v. Italo Michele Battafarano u. Pietro Taravacci. Trento 1989, S. 223–242; ders.: Die Rezeption der Novelas ejemplares bei Harsdörffer. In: Beiträge zur Aufnahme der italienischen und spanischen Literatur in Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Hg. v. Alberto Martino. Amsterdam u. a. 1990, S. 365–383. Vgl. Krebs: Deutsche Barocknovelle (wie Anm. 26). Die Provenienz der Erzählung Deß blinden Zeugschafft (Nr. 175 der Jämmerlichen Mordgeschichte) gibt ebenfalls Rätsel auf. Zwar stammt dieser zweifellos sensationelle Rechtsfall aus der Praxis des Juristen Étienne Pasquier, der ihn auch in seine Les Recherches de la France (1560) aufnimmt; doch wird die Geschichte gleichzeitig bzw. etwas später von verschiedenen anderen Kompilatoren rezipiert, so von Simon Goulart (Thrésor), François Rosset (Histoires tragiques) und von dessen deutschen Bearbeiter Martin Zeiller (Theatrum Tragicum) und Jean-Pierre Camus (Spectacles d’horreur). Camus wird hier abermals als Wiederverwerter des Erzählguts der histoires tragiques erkennbar.

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verzweifelte Liebe (Nr. 111), Ehbruchsrug (Nr. 112) und Die verzweifelte Rach (Nr. 185).40 Die Bedeutung von Goularts Thrésor ist in seiner Funktion als Materialvorrat für die Schau=Plätze insofern nicht zu unterschätzen, als daß dieses Werk (ebenfalls eine Kompilation) ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Themen und Informationen bietet. Es sind nur ganz wenige Stücke der Schau=PlatzSammlungen – außer den Erzählungen von Camus natürlich –, die hier nicht vorzufinden wären. Selbst die Geschichten (meistens der Gattung histoires tragiques zugehörig), die Camus für seine Erzählsammlungen kompiliert und nicht selten stark umschreibt und aktualisiert, finden sich in verkürzter Form auch hier. Der Schlüssel zu Harsdörffers Redaktionsstrategie französischsprachiger Vorlagen läßt sich auf die Formel bringen: ›Goulart und Camus‹. Trennscharfe Unterscheidungen sind teilweise nicht möglich und auch nicht notwendig, wenn man Kenntnis beider Sammlungen hat. An entsprechend exponierter Stelle baut Harsdörffer seine moralisatio in den Text ein, der Wortlaut wird Camus angepaßt, das Stück schließlich auf das Schema eines dreiständigen Emblems zugeschnitten. Um trotzdem eine gewisse Ordnung aufrecht zu erhalten, werden die Stücke in unterschiedlichen Teilen der Schau=Plätze untergebracht, die sich auch durch andere Charakteristika auszeichnen. Neben unterschiedlicher Thematik und unterschiedlichen poetologischen Mitteln (manche fangen mit Rätseln,41 Sprichwörtern42 oder Spiegel-Metaphern an) umfassen diese Teile meist auch Geschichten aus vorwiegend einer einzigen Quelle. Bemerkenswert 40

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Harsdörffer kompiliert alle drei Geschichten aus dem Thrésor von Goulart. Die Camussche Quellenvariation, die sich vom Bandelloschen Original stärker unterscheidet, verwendet er auch unter den Titeln Der erdichte Todsfall (Nr. 16 der Lust= und Lehrreichen Geschichte), Der grausame Maxentius (Nr. 87 der Jämmerlichen Mordgeschichte) und Der mörderische Diener (Nr. 88 der Jämmerlichen Mordgeschichte). Dieser empirische Befund, daß Camus Geschichten aus dem Erzählgut der histoires tragiques mit kleineren Modifikationen übernimmt bzw. diese Erzählungen aktualisiert, korrespondiert nicht mit seiner Beteuerung im Vorwort des Amphithéâtre sanglant: »En cet Amphithéâtre Sanglant, où sont représentées plusieurs Actions Tragiques de notre siècle, vous ne verrez autre chose, Lecteur, qu’ un ramas de quelques Occurrences funestes, que j’ ai tirées dans la masse de plusieurs autres que j’ai remarquées dans mes Mémoires. En cela je marche après les pas de Francois de Belleforest et de Francois de Rosset, qui ont auparavant moi écrit des Histoires tragiques avec un succès assez heureux. Mais si j’imite leur forme, je ne touche nullement à leur matiere; car je ne mets point le ciseau sur des étoffes que d’autres ont déjà taillées, les Evénements que je décris étant presque tous nouveaux et qui n’ont point encore été divulgués« (Jean-Pierre Camus: L’amphithéâtre sanglant. Hg. v. Stéphan Ferrari. Paris 2001, unpag.). Vgl. speziell zu Harsdörffers Interesse an enigmatischen Formen Hans-Joachim Jakob: »Damit der Rähtselliebende Leser sich so viel leichter darein finden könne«. Harsdörffers Rätseltheorie in den Paratexten von Nathan und Jotham. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 213–226. Vgl. zu Harsdörffers Sprichworttheorie etwa Wolfgang Mieder: Das Schauspiel Teut-

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ist zudem die thematische Ausgewogenheit der verschiedenen Unterkapitel: in einem Unterteil werden fast alle wesentliche Themen angesprochen, die sich sonst in diversen Variationen in den Schau=Plätzen finden. So entstehen folgende Quellenblöcke: (1.) Mordgeschichte Teil I–II: L’amphithéâtre sanglant von Camus; (2.) Mordgeschichte Teil IV wurde mit einer Ausnahme (Nr. 96) aus dem Evenemens singuliers von Camus kompiliert; (3.) Mordgeschichte Teil VII kann insofern auch als ein Mischfall betrachtet werden, als daß Harsdörffer fast in gleichem Maße zwei Quellen auswertet: La Tour des miroires43 von Camus (neun Geschichten) 44 und Thrésor d’histoires admirables et mémorables von Goulart (weitere neun Geschichten). Die Tradierung von Goularts Thrésor in den Schau=Plätzen vollzieht sich statistisch folgendermaßen: (1.) In den Teilen VII und VIII der Mordgeschichte (acht bzw. sieben Stücke),45 im Teil III, IV und V (drei Stücke bzw. je ein Stück) 46 und im Teil VI und VII der Lust= und Lehrreichen Geschichten – in denen Harsdörffer vorwiegend naturwissenschaftliche Themen behandelt – entpuppen sich die Kompilationen des Genfers Simon Goulart als neue Hauptquelle (neun bzw. sieben Entlehnungen).47 (2.) Die Entlehnungen aus den Renaudotschen Conférences konzentieren sich auf Teil III (zwei Stücke), VI (sieben Stücke) und VII (vier Stücke) der Lust= und Lehrreichen Geschichten,48 wo die naturwissenschaftliche Thematik

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scher Sprichwörter oder Georg Philipp Harsdörffers Einstellung zum Sprichwort. In: Daphnis 3 (1974), S. 178–195. Jean-Pierre Camus: La Tour des miroires, ouvrage historique. Paris 1631. Von insgesamt 26 Stücken übernimmt Harsdörffer 16 (acht in Jämmerliche Mordgeschichte und acht in Lust= und Lehrreiche Geschichte). Nr. 151–154, 156–158 u. 161 (Teil VII der Jämmerlichen Mordgeschichte). Entlehnungen von dem Genfer Kompilator Simon Goulart werden den Camusschen Stücke im Unterteil VII formal so angepaßt, daß die Einführung samt Spiegel-Metapher beibehalten wird, auch wenn sich diese Stücke eher naturwissenschaftlichen Themen zuwenden (wie im Falle von Nr. 164: Die Verschlinger, Nr. 167: Die Besessenen oder Nr. 173: Die tödlich Verwundten) und nicht immer moralisieren. Nr. 155, 164, 166, 167, 168, 171, 173 u. 175 (Teil VII der Jämmerlichen Mordgeschichte) sowie Nr. 184–188, 191 u. 192 (Teil VIII der Jämmerlichen Mordgeschichte). Nr. 67, 70, 75 (Teil III der Lust= und Lehrreichen Geschichte) und Nr. 78 (Teil IV der Lust= und Lehrreichen Geschichte) sowie Nr. 114 (Teil V der Lust= und Lehrreichen Geschichte). Es handelt sich hierbei unter anderem um Nr. 130–134, 137, 141, 144 u. 147 (Teil VI der Lust= und Lehrreichen Geschichte) sowie Nr. 155, 156, 160, 162, 164, 168 u. 170 (Teil VII der Lust= und Lehrreichen Geschichte). Vgl. die Forschungsergebnisse von Krebs: Deutsche Barocknovelle (wie Anm. 26).

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überwiegt. In den letzteren zwei Unterteilen treffen Goulartsche und Renaudotsche Quellendominanz aufeinander. (3.) Das Werk Divertissement historique49 von Camus wird ebenfalls sehr kalkuliert ausgewertet. Im Teil VIII der Lust= und Lehrreichen Geschichten placiert Harsdörffer fünfzehn Camus-Adaptationen50 aus diesem Werk; weitere Stücke aus dieser Erzählsammlung des Bischofs werden hingegen nicht verwendet. (4.) Die Erzählsammlungen Les Relations morales51 (sieben Erzählungen),52 Varietez historiques53 (sechs Erzählungen),54 Les Spectacles d’horreur (insgesamt fünf rezipierte Erzählungen in beiden Sammlungen, die wegen der konkurrierenden bzw. undurchsichtigen Tradierungswege nicht in jedem Falle als direkte Quellen zu identifizieren sind),55 und Les Recits historiques56 werden eher verstreut, in verschiedenen Teilen beider Schau=Platz-Sammlungen ausgewertet.57 (5.) Das Werk Histoires tragiques58 von Boaistuau und Belleforest, das auf die Novellen von Bandello zurückgeht, wurde ebenfalls nicht in Blöcken, sondern in kleineren Sequenzen – meistens durch die Vermittlung des Genfer Kompilators Simon Goulart – Stück für Stück eingebracht: im Teil V der Mordgeschichten drei Geschichten in direkter Folge (Nr. 111: Die verzweifelte Liebe, Nr. 112: Ehbruchsrug und Nr. 113: Die tyrannische Stief-Mutter) sowie Nr. 121 (Der gerohne Ehbruch); acht weitere Geschichten im Teil VI der Mordgeschichten (Nr. 128: Die betrübten Verliebten, Nr. 132: Der doppelte Ehebruch, Nr. 137: Zweyer Weiber Mann,59 Nr. 139: Die gerette Unschuld, Nr. 49 50 51 52 53 54 55

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Vgl. die kritische Ausgabe Jean-Pierre Camus: Divertissement historique (1632). Hg. v. Constant Venesoen. Tübingen 2002. Es handelt sich um Nr. 177, 178, 181–185, 187–189, 191 u. 193–195 der Lust= und Lehrreichen Geschichte. Jean-Pierre Camus: Les Relations morales. Paris 1631. Nr. 1 der Lust= und Lehrreichen Geschichte sowie Nr. 42-44, 58, 66 u. 118 der Jämmerlichen Mordgeschichte. Jean-Pierre Camus: Varietez historiques. Paris 1631. Nr. 30 u. 40 der Jämmerlichen Mordgeschichte sowie Nr. 19, 36, 43 u. 50 der Lust= und Lehrreichen Geschichte. Les faux Soupcons, L’Amour de mere, Le Tesmoin aveugle, La tardive Iustice, L’aveugle Fureur. Die Sammlung Les Spectacles d’Horreur ist nicht nur wegen ihres horriblen Charakters interessant: Seltsamerweise läßt der Bischof Camus die brutalsten Geschichten in Deutschland spielen, was zu der falschen Annahme führen könnte, daß diese Erzählungen etwa deutsche Provenienz hätten. Es handelt sich hier abermals um tradierte Literatur, meistens aus dem unerschöpflichen Reservoir der histoires tragiques und canards sanglants. Jean-Pierre Camus: Les Recits historiques, ou histoires divertissantes entremeslées de plusieurs agreables rencontres et belles reparties pour servir d’un honneste entretien aux bonnes compagnies. Douay 1635. Nr. 103 der Lust= und Lehrreichen Geschichte. Pierre Boaistuau: Histoires tragiques (1559). Hg. v. Richard A. Carr. Paris 1977. Es ist die einzige Geschichte aus dem Bandelloschen Erzählgut, in der sich Harsdörffer

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140: Der unerhörte Kinder=Mord, Nr. 142: Die bestraffte Blutschuld, Nr. 143: Die schändliche Verleumdung, Nr. 147: Der Rachbrand) und im Teil VIII fünf Geschichten (Nr. 185: Die verzweifelte Rach, Nr. 187: Bestraffung der Winckel Ehe, Nr. 188: Die betrübten Hochzeitere, Nr. 196: Das vorsetzliche Unglück, Nr. 197: Der blinde Zorn). (6.) Das Werk Histoires tragiques60 von François de Rosset wird ebenfalls zerstreut an mehreren Stellen der Mordgeschichten verwertet.61

3. Einzelbeobachtungen zur Tradierung Manchmal übernimmt der Nürnberger nur eine Metapher wie z. B. in der Geschichte Die angenehme Bestrafung,62 wenn ein die Strafphilosophie repräsentierendes Salat-Bild von Camus zwar zitiert wird, um dann anstelle der dazugehörenden Camus-Geschichte Le cruel capitaine (Nr. 16 aus dem Varietez historique) doch eine andere (und möglicherweise angenehmere) Geschichte zu bringen. Die erzählte Historie vermittelt besser eine milde Strafphilosophie und wird gemäß ihrem glücklichen Ende in den Lust= und Lehrreichen Geschichten untergebracht. Allein die Soldaten und das Kriegsmilieu bleiben unverändert. Dieses Kompilationsdetail illustriert perfekt die Vorgehensweise Harsdörffers: einmal sucht er eine Moral zu einer gegebenen Geschichte, ein anderes Mal tauscht er die Geschichte aus, bleibt aber beim Thema. Im Teil VII und VIII der Mordgeschichten – so merkt auch Zeller an63 – ändert sich die Struktur der Geschichten zugunsten der Information sogar dergestalt, daß die eigentliche Story durch zusätzliche Informationen »fast verschwindet«64. Unter einem Titel finden wir verschiedene Fallbeispiele samt wesentlich älterer Quellenangaben. Der Eindruck, daß hier der belesene Harsdörffer mit seinem ›Karteikasten‹ arbeitet und endlich seine Quellen preisgibt,

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direkt auf ihn bezieht; vgl. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 477. François de Rosset: Les Histoires memorables et tragiques de ce temps, ou sont contenues les morts funestes et lamentables de plusieurs personnes arrivees par leurs ambitions, amours desreiglees, sortileges, vols, rapines et par autres accident divers. Paris 1619. Zwischen 1614 und 1758 wurde das Werk etwa 40 Mal aufgelegt und in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Ausgabe von 1619 erschien als kritische Edition; vgl. François de Rosset: Histoires tragiques. Hg. v. Anne de Vaucher Gravili. Paris 1994. Etwa Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 103–105 und Nr. 175 (wo allerdings Goulart, Pasquier, Camus und Zeiller ebenfalls als Quelle in Frage kommen). Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 155–157. Zeller (wie Anm. 11), S. 185. Vgl. dazu zuletzt Breuer: Barocke Fallgeschichten? (wie Anm. 16), S. 294. Zeller (wie Anm. 11), S. 194.

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hält dem zweiten Blick nicht Stand. Es finden sich dieselben Fälle unter demselben Gesamttitel sogar in der gleichen Reihenfolge in Goularts Thrésor wieder und erweisen sich somit wiederum als Entlehnungen. Goulart war aber mehr als nur eine Quelle. Wie sich herausstellte, war es die Quelle der Quellen, Treffpunkt aller Quellen, eine Quintessenz des Wissens und der Information. Und weil die Sammlung verschiedene Textsorten und Medien in ihrem Charakter als Kompilation, als Thrésor vereinte, wurden hier sowohl sehr viele Geschichten von den Vertretern des Genres histoires tragiques neben den – dem Journalismus näher stehenden – Texten aus der Flugblatt- und Zeitungsliteratur präsentiert, als auch Canards, naturwissenschaftliche Werke und Auszüge aus anderen Kompilationen verwendet. So wird die Annahme, daß Harsdörffer die Bandello- bzw. Belleforest-Geschichten direkt von den Vertretern der Gattung respektive durch ihre deutschen Bearbeiter kennt, im Grunde erschüttert. Eine direkte Übernahme aus Goulart vereinfacht den kompilatorischen Arbeitsvorgang beträchtlich. Im besten Fall kann man also von einer konkurrierenden Quellenlage sprechen. In diesem Fall ist es zumeist nicht gewiß oder bestenfalls erahnbar, von wem Harsdörffer letztendlich seine Geschichten hatte: von Bandello, Boaistuau, Belleforest, Goulart (bzw. dessen deutschem Bearbeiter) oder Camus, oder gar von dem deutschen Bearbeiter Aegidius Albertinus (im Falle von Belleforest)? Oder im Falle der Rosset-Adaptationen: von Pasquier, Camus oder aus der deutschen Bearbeitung von Rosset (von Martin Zeiller)? Die Geschichten, die auf deutschem Territorium spielen, erwecken abermals Hoffnungen, daß man – vor allem im Hinblick auf die Nürnberger Historien – etwas Authentisches von Harsdörffer zu lesen bekomme. Die vorwiegend deutsche Thematik der Camusschen Sammlung Spectacles d‹ horreur brachte später eine adäquate Erklärung und somit die Enttäuschung der Authentizitäts-Hoffnung mit sich. Besonders frappierend erscheint der Umstand, daß ausgerechnet der deutschsprachige Raum Camus als idealer Nährboden für Brutalität, Barbarei und für viele Mordtaten besonders im Rahmen der Familie erschien. Solange Camus’ Intention die littérature du combat ist, also die Bekämpfung schlechter Romane, die Rettung der Seelen durch die Literatur, die Abwendung von der Sünde und von den Leidenschaften (gerade und paradoxerweise durch Geschichten voller Leidenschaft) 65 und er das drakonische Disziplinierungsmit65

Vgl. Camus: Les évenemens singuliers (wie Anm. 34), Vorrede, unpag.: »L’ entreprise que j’ ai faite de contrelutter, ou plutôt contrebutter ces livres ou frivoles ou dangereux, qui s’enveloppent tous sous ce nom de Romans, demanderait ou les mains que les fables attribuent à Briarée, ou les forces que les poètes donnent à Hercule. Les mains de ce géant pour manier autant de plumes; et la vigeur de ce héros pour soutenir un travail si pénible. Mais que ne peut un courage animé du zèle de servir le prochain, et poussé du désir d’ avancer le règne de la Vertu, et d’ amoindrir celui du Vice, principalement s’il est soutenu d’ une grande confiance en Dieu, qui en de semblables desseins n’ inspire jamais le vouloir, qu’ il ne donne le pouvoir de les parfaire?«

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tel der Angst (»la sainte horreur du crime«) favorisiert, kann Harsdörffer diesen ›edlen‹ Kampf weder goutieren noch ernstnehmen. Des öfteren verrät sich seine ironische Haltung zwischen den Zeilen. Etwa ab der Mitte der Mordgeschichten vernachlässigt er Struktur und Moral zugunsten der Information,66 die sich als der größte organisierende Faktor entpuppen wird. Es ist daher ganz selbstverständlich, daß moralische Schlüsse an manchen Stellen der Sammlungen aufgezwungen, ja nachgeworfen wirken. Aus der Heterogenität der Quellen resultiert weiterhin das Phänomen, daß unterschiedliche Normen einander teilweise diametral gegenüberstehen. Die Einbeziehung verschiedener Wissensfelder macht die Lage insofern komplizierter, als dieser Umstand die Säkularisierung der Normen fördert. Weil Harsdörffer jedoch beides will, nämlich belehren und unterhalten, auf keinen Fall aber auf die Vermittlung irgendwelcher Informationen verzichten, wird das Urteilsvermögen des Lesers durch die unvermeidlichen Widersprüchlichkeiten, die naturgemäß Zweifel provozieren, abermals auf die Probe gestellt.67 Bereits die vorangegangenen Einzelbeobachtungen dokumentieren die Schwierigkeiten, die in der Harsdörffer-Grundlagenforschung auf der Ebene der Material- und Quellenerfassung – weit vor einer weitergehenden Kontextualisierung – auftreten. So kann selbst Zeller ihr Untersuchungsfeld nur rigoros eingrenzen: »Es kann im Rahmen dieser kleinen Arbeit nicht darum gehen, diese Forschungsdefizite aufzuarbeiten, es sollen jedoch einige Aspekte der Sammlungen untersucht werden, die bisher nicht ins Blickfeld der Forschung gerieten.«68 Der vorliegende Beitrag kann die Lücken auch nicht schließen, nur auf konkurrierende Quellen und auf den zunehmenden Informationsanspruch des Autors verweisen, wodurch Normenkonflikte aller Art sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der formalen Ebene verursacht werden.

4. Camus und Harsdörffer, Norm und Devianz Wie bei Camus, so finden sich bei Harsdörffer zahlreiche Fragmente zu einer Theorie des Verhältnisses von Recht, Gerechtigkeit und Literatur als Instanz der Regulierung eines kollektiven Imaginären des Rechts. Diese Fragmente wären vor dem Hintergrund der anthropologischen Annahmen der Zeit zu rekonstruieren. In jedem Falle aber ist zu betonen, daß beide Sammlungen weit mehr sind

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Vgl. Krebs: Deutsche Barocknovelle (wie Anm. 26). Vgl. etwa die Stelle Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. II, S. 42: Es sei »dem Leser auch in diesem / wie allen andern zu beurtheilen heim geben / ob recht und verantwortlich gehandelt oder nicht. Wer urtheilt / setzet seinen Verstand auff die Prob / und muß erwarten / daß man auch von seinem Urtheil urtheile.« Zeller (wie Anm. 11), S. 178.

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als bloße Ermahnungen an die Gebote und Gesetze der Heiligen Schrift. Zwar ließen sich die oft nur minimal variierten Titel der beiden Schau=Plätze ohne weiteres auf ein knappes Sündenregister reduzieren, insofern »allermassen auff einen Lehrsatz unterschiedliche Geschichte gebracht werden können«.69 Doch greift es zu kurz, wenn etwa Theiß hierzu bemerkt: »Diese Anordnungsform verleiht den Geschichten den Charakter von bestätigenden Exempla.«70 Es sind gerade die Uneindeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten, der jede abstrakte Norm vor der Vielfalt des Lebens ausgesetzt ist, die durch die Beispielreihen vor Augen geführt werden sollen. Nicht der bloßen Einübung normativer Vorschriften, sondern der Problematisierung von Normenauslegung und -anwendung dienen die Sammlungen, wenn man sie als Makrostruktur in der Vielfalt ihrer Elemente liest.71 Wo also die regulären Diskurse ihre Grenzen finden und bei Ambivalenzen keine Erklärungen bereitstellen, da setzt Literatur an: »Diese Geschichten, wie die Juristen wollen, fangen dort an, wo das Gesetz aufhöret«, schreibt Harsdörffer im Vorwort einer früheren Ausgabe der Mordgeschichten.72 In der Tat hat Literatur die Möglichkeit, mehrere Verlaufsformen der gleichen Historie durchzuspielen. So wird die ästhetische Form als Medium für das Durchspielen und die Bewältigung von Normenkonflikten funktionalisiert. Wenn man bedenkt, daß die Schau=Plätze gerade zu der Zeit der Nürnberger Friedensverhandlungen nach dreißig Jahren der Anarchie und des Mordens erscheinen, so klingt die nicht explizit geäußerte Intention des Autors plausibel, seiner Leserschaft praktische Hilfe für die Einübung der diskursiven Kompetenz und für die Optimierung des Scharfsinns durch Fallbeispiele liefern zu wollen.73 So reagiert Harsdörffer gleich zweifach auf die normative Unsicherheit seiner Zeit. Auf der inhaltlichen Ebene mit der Aufstellung eindeutiger Schreckbilder und Warnungstafeln, auf der pragmatischen Ebene mit dem Angebot der Einübung einer diskursiven Kompetenz im Umgang mit Norm und Devianz. Nicht zufällig hat man Harsdörffers Sammlungen den Status einer zur Mündlichkeit hinstrebenden Schriftlichkeit attestiert.74 Insbesondere in den

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Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 30. Theiß (wie Anm. 20), S. 900. So etwa in Nr. 4 und Nr. 19 der Jämmerlichen Mordgeschichte, in denen einmal der Wille der Kinder und einmal der Wille der Eltern als maßgeblich für die Lebensentscheidung der jüngeren Generation gesetzt wird; vgl. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 14–17 u. 62–65. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse SchauPlatz Jämerlicher Mordgeschichte. Hamburg 1649–1650. Konsultierte Ausgabe: Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Sign.: M: Lo 2624. Vgl. zum Aspekt der kulturellen Verfeinerung und Angleichung an andere europäische Länder die bereits erwähnten Arbeiten von Battafarano (wie Anm. 24). Vgl. dazu insbesondere Herbert Jaumann: Die Kommunikation findet in den Büchern statt. Zu Harsdörffers Literaturprogramm in den Gesprächspielen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 163–179.

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Gesprächspielen, aber auch in den ihnen beigestellten Schau=Plätzen soll die Form des physischen Konfliktes durch ein Vielzahl von Sprachspielen (Dialog, Streitgespräch, Informationsaustausch usw.) ersetzt werden. Nicht nur nationale und konfessionelle Unterschiede, sondern auch die Geschlechterdifferenz soll durch Harsdörffers Sammlungen überbrückt werden: zum einen thematisch durch die Verhandlung der »Frauenfrage«, zum anderen auch praktisch durch die Herstellung einer neuen »elementaren Soziokultur«.75 An die Stelle der »weitgehend getrennten Lebensbereiche der Geschlechter in der Freizeit« sollte ein die Grenze überbrückender »geist-, witz- und sinnreicher Gedankenaustausch« nach französischem Vorbild treten.76 Diese Beobachtung Battafaranos läßt sich ohne weiteres auf die Schau=Plätze und die Problematik der zeitgenössischen Normativität übertragen. Anhand von Analysen ausgewählter Erzählungen kann man das Spannungsverhältnis zwischen Wissenspoetik und Ästhetik aufzeigen und in seiner Begründungsfunktion für ein variables Spiel juristischer und moralischer Normen nachzeichnen. Die verschiedenen Wissensfelder wie z. B. Theologie, Recht, Naturwissenschaften, Literatur, Geschichte und Linguistik fungieren zugleich als normative Geltungsbereiche, die nicht nur von den vorherrschenden Diskursen, sondern auch von historischen Begebenheiten und nicht zuletzt von jeweils anderen Normenbereichen abhängig sind. Durch die Pluralisierung der Sehweisen werden Variationen einer Normenvorstellung und häufig genug auch Normenkonflikte generiert. Als praktizierender Jurist läßt Harsdörffer viel Empirisches, beispielsweise juristische Erfahrungswerte und naturwissenschaftliche Reflexionen, in seine von Camus entlehnten Geschichten einfließen.77 Da bei Camus durchgehend die theologische Normativität über die praktisch-juristische bzw. alltägliche dominiert, gerät sein Konstrukt der ›göttlichen Gerechtigkeit‹ öfter in Konflikt mit Harsdörffers impliziten (praxisnahen) Kommentaren. Auf diese Weise entsteht ein Parodie-Effekt, der sich etwa in den Geschichten Die beraubten Räuber, Das Zeugnis des Geblüts und Der Liebsbissen gut beobachten läßt.78 Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man die unterschiedliche Motivation beider Autoren betrachtet: Camus benutzt die Literatur als Mittel zum Zweck der Bekehrung schwacher Seelen,79 Harsdörffer verwendet die Geschichten, weil er dem deutschen Publikum unterschiedliche Kulturen

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Vgl. Jürgen Link u. Ursula Link-Heer: Literatursoziologisches Propädeutikum. München 1980, S. 142ff. Battafarano: Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung (wie Anm. 24), S. 203. Zu Harsdörffers Überlegungen zum empirischen Wissensbegriff vgl. auch Peter Hess: Neoplatonismus und Bacon-Rezeption. Naturphilosophie bei Harsdörffer. In: MorgenGlantz 13 (2003), S. 321–349. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 15: S. 49–52, Nr. 24: S. 76– 79 u. Nr. 31: S. 103–106. »Et comme le monde est composé de plus de méchants que de bons, il est besoin de donner de la crainte et de la terreur à ceux-là par la vue des peines que les lois ordonnent

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und Sitten vermitteln möchte, unterhalten und belehren will. Im Gegensatz zu den programmatischen Vorreden, in denen das Ziel prodesse et delectare in Anlehnung an die Tradition (Camus) deutlich formuliert wird, entpuppen sich Harsdörffers Stücke in ihrer Gesamtheit und Vernetzung eher als Informationsmaterial, als Anregungen zur Sinnschärfung bzw. als Diskussionsgrundlage für weitergehende Gespräche. Sie dienen öfter »als Spielvorrath«80 oder Illustration zu den in den Gesprächspielen angesprochenen Themen und Streitfragen. Auch die Wirkung etwa der Conférences von Théophraste Renaudot81 ist weitestgehend präsent, obwohl nicht mehr auf der formalen Ebene, wie etwa im Falle der Gesprächspiele, sondern auf der diskursiven. Zwar nimmt sich Harsdörffer vor, Geschichten zu »verdolmetschen und zu vermehren«82, jedoch kann er der Versuchung, aus anderen Wissensbereichen Informationen mitzuteilen, nicht widerstehen. Er läßt verschiedene Meinungen nebeneinander gelten, ohne den Leser etwa durch einen parteiischen Kommentar zu bevormunden. Auf der formalen Ebene zeigt sich das in der zunehmenden Auflösung der von Camus entlehnten Emblem-Struktur. Auf der normativen bzw. thematischen Ebene wird es dadurch ersichtlich, daß die Norm kontingent und spielerisch wird.83 Auf einer Meta-Ebene verselbständigen sich nämlich die Geschichten und treten miteinander auch unwillkürlich in Interaktion. Dies resultiert nicht nur aus der formalen Anordnung der Texte, die der Textform der Kompilation durchaus eigen ist, sondern auch aus den Mechanismen der Intertextualität sowie aus den nicht immer kalkulierten Kommentaren und Verweisen des Autors. Diesen Effekt der Pluralisierung hätte Harsdörffer nicht erreichen können, hätte er ausschließlich Geschichten aus seiner juristischen Praxis zu Nürnberg in seine

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et font souffrir à ceux qui s’écartent de leur devoir« (Camus: L’amphithéâtre sanglant [wie Anm. 40], S. 180). Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, Vorrede (unpag.). Théophraste Renaudot: Première [Quatriesme] Centurie des questions traitées ez Conférences du Bureau d’Adresse (1634–1641). Vgl. Krebs: Deutsche Barocknovelle (wie Anm. 26), S. 481. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Zuschrift, unpag.: »Solches Spielhauß unglückseliger Geschichte / hat der Spielende / theils aus dem Frantzösischen / zu übertragen unternommen / theils aus eigner Erfahrung beygefügt / welche so hohe Beliebung wider verhoffen gefunden / daß sie nun zum drittenmahl der Presse untergeben worden.« Es ist kein Zufall, daß Harsdörffer in der Fruchtbringenden Gesellschaft den Namen ›Der Spielende‹ trug. Der Leser wird Teil dieses Spieles, weil er durch die Widersprüche zum Denken angeregt wird. Vgl. dazu bes. Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers Schauplätzen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 313–331, hier S. 331: »Das Spiel, das ›der Spielende‹ in seinen Schauplätzen mit Geschichte und Geschichten treibt, erhält in seiner transzendenten Sinngebung Dimensionen, die die des autonomen, im Rahmen irdischer Geselligkeit ablaufenden Spiels in den Gesprächspielen bei all deren Subtilität des Spielens trotz des unleugbaren Zusammenhangs beider Sammlungen durchaus übersteigen.«

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Erzählsammlungen aufgenommen. Die Entscheidung für die Erzählstoffe der Romania, unter anderem für die Gattung der histoires tragiques, bot deutlich mehr Möglichkeiten und nebenbei noch die Option, Geschichten deutscher und auch Nürnberger Provenienz in den Sammlungen unterzubringen.

5. Die Historie Das Zeugnis des Geblüts in ihrem intertextuellen Verweissystem Für das oben skizzierte Phänomen liefert die Geschichte Das Zeugnis des Geblüts (Mordgeschichten Nr. 24) ein markantes Beispiel. Durch eine vergleichende Analyse der deutschen Version mit deren französischer Quelle kann gezeigt werden, was für grundverschiedene Effekte scheinbar identische Erzählungen in den beiden Sammlungen (L’amphithéâtre sanglant, Mordgeschichten) hervorrufen können; oder anders formuliert: wie sich der protestantische JuristenDichter aus Nürnberg der Erzählstoffe eines katholischen Bischofs bedient, indem er diese für seine Zwecke transformiert. Dabei werden freilich nicht nur das französische Original und die deutsche Version betrachtet, sondern auch weitere quellenphilologische Besonderheiten, sammlungs- und werkbedingte Zusammenhänge, Gegen- und Parallelgeschichten und implizite Kommentare des Autors zu Rate gezogen. Das Zeugnis des Geblüts ist Teil des Zyklus des Amphithéâtre sanglant und trägt in der Sammlung des Bischofs den Titel Le témoignage du sang.84 Erzählt wird die Geschichte einer Kindsmörderin, die von einem Studenten mit falschen Eheversprechungen getäuscht und verführt wurde und schließlich von ihm schwanger wird.85 Die Familienmitglieder werden mit dem Hinweis getäuscht, daß der Vater des Kindes das Kleine auf dem Lande erziehen lasse, stattdessen »hatte Amee und Caride die Abrede genommen / daß Kind zu erstecken / und in dem Garten / unter einen Baum ein zu graben / wie dann auch geschehen«. Der treulose Vater Apion »war in Teutschland verreiset«.86 Im Mittelpunkt der Historie steht jedoch nicht der Kindsmord, sondern das seltene Phänomen, das Harsdörffer selber in seinen Gesprächspielen anspricht und worauf er auch in der Erzählung explizit Bezug nimmt: warum nämlich »auß den Wunden eines Leichnams / in Anwesenheit seines Mörders / Blut triefet?«87

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Camus: L’amphithéâtre sanglant (wie Anm. 40), S. 307. Die vorliegende Erzählung ist nicht die einzige Geschichte mit dem Anfang einer mariage clandestin oder ›Winckel-Ehe‹. Naturgemäß zieht dies sowohl bei Camus als auch bei Harsdörffer verheerende Konsequenzen nach sich. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 77. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 137.

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Es kommt in den Geschichten allgemein sehr selten vor, daß die schon oft erwähnte göttliche Gerechtigkeit sich quasi durch Wunder manifestiert, bzw. daß Gott durch derartige übernatürliche Ereignisse bei der Aufdeckung eines Verbrechens und bei der Überführung der Täter behilflich ist. Das Bluten des Dahingeschiedenen in Anwesenheit seines Mörders wird bei Camus ausdrücklich als ein Eingreifen der göttlichen Gerechtigkeit in die irdische Rechtsfindung, als Zeichen für die Präsenz Gottes interpretiert.88 Harsdörffers Transformation der Historie zeigt im Hinblick auf seine moralisatio keine wesentliche Abweichung von der französischen Vorlage.89 Der praktizierende Jurist zeigt darüber hinaus aber offensichtlich großes Interesse an diesem ebenso seltenen wie umstrittenen Phänomen, weil er das Thema – er verweist selbst am Anfang des Stückes darauf – bereits in seinen Gesprächspielen behandelte: Was von baarrecht zuhalten / haben wir in unsren CCXXVI. Gesprächspiel par. 44. umständig angeführet. Hier folget ein Exempel / zu welchem wir uns sonder Eingang wenden wollen / weil wir die kurze lieben / und Geschichte schreiben / nachdenkliche Fragen in unsren Trauerspiegel erörtert / und noch ferners zu behandlen gedenken.90

In der Tat fungieren viele Erzählungen beider Sammlungen (Mordgeschichte und Lust= und Lehrreiche Geschichte) als Illustration oder ›Spielvorrat‹ zu den in den Gesprächspielen umrissenen Streitfragen, wie es der Autor selber im Vorwort zu den Lust= und Lehrreichen Geschichten formuliert: An meinem geringsten Ort ist der gute Vorsatz jüngst in Druck gegebener Gesprächspiele gewesen / die liebe Jugend von bösen Geschwetz / welche gute Sitten verder-

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»Les écrivains en rendent diverses raisons que je pourrais rapporter ici, mais pour me ranger parmi les événements particuliers des discours de Philosophie Naturelle ou Morale, je me contenterai de représenter en ce lieu un manifeste jugement du ciel sur un semblable témoignage, d’oú nous apprendrons que la peine n’est pas moins inséparable de la coulpe que l’ombre du corps, et que le criminel ne peut jamais être à l’abri de la Justice divine, ni même de l’humaine, ni par l’éloignement des lieux, ni par la durée des temps« (Camus: L’amphithéâtre sanglant [wie Anm. 40], S. 307f.). »Es ist nichts so klein gesponnen / es kommet doch endlich an die Sonnen. Wer ist der Frevler der die Göttliche Gerechtigkeit zu betriegen verhofft? Die Sünde und die Straffe / sind wie der Schatten und der Leib: der in der Sonne stehet. Fliehestu die Straffe / so folgt sie dir nach / und kan solche der Ort und die Zeit verzögern / aber nicht aufheben etc.« (Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 2], S. 78). Das sehr beliebte Motiv kommt auch schon bei Rosset vor. Die 25. Geschichte seiner Histoires tragiques hat folgenden Prolog: »En marge des phénomènes de sexualité et de violence, voici un épisode sanglant qui assume les apparences du prodige: le sang d’une victime peut rejaillir sur son meurtrier. Sylvestre a tué son père mais personne ne le sait. Le miracle est un levier d’ une force exceptionelle sur les croyants et les incroyants, il est spectacle mais surtout signe et présance de Dieu« (Rosset: Histoires tragiques [wie Anm. 60], S. 338). Zu dem Motiv des Blutes vgl. auch Camus: L’amphithéâtre sanglant (wie Anm. 40), S. 307. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 76.

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ben / ab und zu nutzlicher Zeitvertreibung anzuführen. Nach dem aber besagte Spiele in VIII. Theilen zu Ende gebracht / hab ich diesen grossen Schauplatz / oder (wie H. Lutherus die Theatra genennet) das Spielhaus Lust= und Lehrreicher Geschichte / eines= und dann jämmerlicher Mordgeschichte anders Theils / zu Nachfolge der Tugenden / und Fliehung der Laster / zu eröffnen beginnen / unnd also einen mehrern Spielvorrath / so wol frölicher als trauriger Erzehlungen / beyschaffen wollen.91

Harsdörffer hält es nun für selbstverständlich, daß sein avisiertes Zielpublikum (der niedrige Adel und das Bürgertum) über die Baarrecht-Problematik bereits informiert ist. Er hatte ja nie einen Hehl daraus gemacht, daß er die Sammlung der Mordgeschichten und der Lust= und Lehrreichen Geschichten als direkte Fortsetzung zu den Gesprächspielen gedacht hatte. Um die Bedeutung des zitierten Verweises Harsdörffers besser veranschaulichen zu können, soll hier der Inhalt der angegebenen Stelle kurz skizziert werden. Im VI. Teil der Gesprächspiele, in dem sich auch das 226. Gesprächspiel, Talisman, findet, werden in erster Linie übernatürliche Themen wie z. B. Wundersalben, magische Bilder und Waffen angesprochen. Degenwert, ein gelehrter Soldat, stellt in der gewohnten Diskussionsrunde nun folgende Frage: Wann man ja alles / was man nicht mit Augen sehen / und mit Händen fühlen kann / verwerffen will / so frage ich: Warum auß den Wunden eines Leichnams / in Anwesenheit seines Mörders / Blut triefet? Daher entstanden der löbliche Gebrauch über dergleichen Baarrecht zu halten.92

Julia, eine kluge Matrone, erkundigt sich daraufhin nach dem genauen Verlauf dieser Praxis. Degenwert liefert eine ausführliche, ›fachmännische‹ Antwort: Man trägt den Entleibten unter den freyen Himmel / lässet die verdächtigen Personen die Hand auf desselben Mund / und die Wunden legen / erinnert sie ihres Gewissens / und wann es von dem Richter erkant ist / müssen solche Personen mit einem leiblichen Eid beteuren / dass sie unschuldig an solchen Todschlag. In solchen Fällen so findet sich gewisslich / dass die Wunde zu bluten beginnet / wann sie der Thäter berühret / oder dass der Mund mit Blut schaumet / wann ihn der Anfänger des Streits betastet. Die Exempel sind hin und wieder in grosser Anzahl zu lesen.93

Es werden in der Folge verschiedene natürliche Ursachen für eine solche Wirkung erörtert, wie die Bewegung der Leiche, die angefangene »Fäulung« oder die Berührung der Wunde.94 Was aber auf dieser Seite sofort ins Auge springt, 91 92 93 94

Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, Vorrede, unpag. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 136f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 137. Harsdörffer listet einige Quellen am Rande auf, wie Andreas Libavius oder Besold. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 138: »Es können aber unterschiedliche Ursachen seyn / warum aus eines solchen Abgeleibten Wunden Blut triefet: als da ist die Bewegung / wann man ihn unter den freyen Himmel träget / und auf den Kutten leget: Wann das erstarrte Geblüt durch die angefangene Fäulung

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ist das Fettgedruckte, und zwar die einzige auf diese Weise typographisch hervorgehobene Stelle, in der es darum geht, dass die verständigen Alten kein Mittel unterlassen haben, um die Wahrheit in dergleichen Fällen zu erkundigen und den Verbrechern eine Furcht einzujagen […]. Deswegen macht man sie glauben / der tode Leichnam werde sie mit einem Blutszeichen / überzeugen: und w e i l i n d e r g l e i c h g r o s s e n Ve r s a m l u n g e n d i e erste Bewegung nicht allezeit in unser n M ä c h t e n i st / v e r r a t h e n si e sich vielmals mit Worten / oder Geber d e n . 95

Durch diese Hervorhebung wäre die Meinung des Juristen Harsdörffer als eine durchaus praxisbezogene zu rekonstruieren, die an das Gewissen des mutmaßlichen Mörders appelliert, und die mit Ammenmärchen über Offenbarung der Wahrheit durch ein Wunderzeichen Gottes wenig zu tun hat. Nichtsdestoweniger bringt er zusätzliche Argumente vor und umkreist weiter die Problematik, um schließlich das Urteil dem Leser zu überlassen. Seine Strategie besteht darin einerseits zu zeigen, daß er sehr wohl informiert ist, aber andererseits auch diese zum Teil sehr verschiedenen und nicht selten widersprüchlichen Informationen möglichst unparteiisch zu vermitteln. Das erklärt, warum er mit der Auflistung anderer Meinungen weiter fortfährt, er schreibt z. B. über verborgene Feindschaften nach dem Motto: »Es wirket aber Gott durch natürliche Mittel / welche wir für übernatürlich halten.«96 Das bedeutet in diesem Fall eine große Feindschaft, die nach dem Tode noch nachwirkt und verursachen kann, daß der tote Körper zu bluten anfängt und aus dem Munde Blut schäumt.97 Die Theorie über das Phänomen der verborgenen Feindschaft wird noch an verschiedenen Tier-Beispielen veranschaulicht und weiterdiskutiert. Unter all diesen möglichen Ursachen nimmt das Gottesurteil, »Wann Gott auf solche Weise den Thäter offenbaren und zu verdienter Straffe will ziehen lassen«,98 einen eher bescheidenen Platz ein. Wie wir sehen, steht bei Harsdörffer nicht das göttliche Wunder im Vordergrund, sondern dessen Einbeziehung in die juristische Praxis. Die Möglichkeit des himmlischen Wunders, die bei seiner Hauptquelle Camus die einzig vertretbare Erklärung ausmacht,

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erhitzet / keine andere Oeffnung als durch die Wunden finden kann: Wann durch das Berühren der Wunden das Häutlein über den erstokkten Blut eröffnet wird.« Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 138. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 139. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 139: »Dieses gestehet man gerne / dass die Gerechtigkeit Gottes der Obrigkeit Gerechtigkeit vielmals zu Hülffe kommet: Es wirket aber Gott durch natürliche Weise / welche wir für übernatürlich halten. Daß ein toder Mensch / in welchem keine Empfindigkeit und Wärme ist / das Geblüt zu bewegen / Blut schaumen sol / ist meines Erachtens / für kein Wunder zu halten / dann man die gantze Verfassung der Natur / und die verborgene Eigenschaften / welche sie andern Thieren eingegeben / betrachtet.« Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 138.

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findet bei dem Nürnberger keine besondere Gewichtung. Es werden im weiteren sogar witzig-provokative Gegenargumente aufgezählt, wie: Die Nachrichter nehmen die Leichname der Ubelthäter von den Gerichten / und man hat nie gehöret / das sie bluten. Man sihet nicht / dass ein Verwunder / in Gegenwart dessen / der ihn verwundet / zu bluten beginnet: Kann ich also nicht sehen / warum ein solcher mehr Empfindlichkeit in dem Tod / als in dem Leben haben sollte?99

Während die Überführung der Kindsmörderin bei Camus noch »une manifeste jugement du ciel«100 darstellt, vermittelt Harsdörffer durch werkinterne Querverweise und implizite Kommentare (wie etwa auf die Gesprächspiele) und Parallelgeschichten (Das Baarrecht) nicht nur seine vielfältige Bildung und sein reiches Wissen, sondern gerade hierdurch auch seine Skepsis und Zurückhaltung. Durch die Einbeziehung verschiedener Wissensbereiche, wie etwa der Theologie, Jurisprudenz, Geschichte und Naturwissenschaften sowie durch die besondere Akzentuierung praxisnaher juristischer Erfahrungswerte – man denke an die fettgedruckte Passage in den Gesprächspielen, in der die Meinung suggeriert wird, daß die Rechtsgelehrten dem mutmaßlichen Mörder nur g laub e n m a ch e n , daß die Leiche ein Blutzeichen von sich gibt – gewinnt die Harsdörffersche Transformation der Originalgeschichte an Komplexität und zeigt große Unterschiede, was die mögliche Wirkung auf die Leserschaft angeht. Das Lesepublikum von Camus darf in Anbetracht des göttlichen Wunders und der erfolgten grausamen Bestrafung ruhig Angst haben und die These von der göttlichen Gerechtigkeit als erneut bestätigt verbuchen, während die Leserschaft des Nürnberger Juristen nicht zuletzt aufgrund ihres Hintergrundwissens (aufgerufen durch Harsdörffers implizite Kommentare) die Geschichte zunächst einmal genießen und unter den angebotenen Erklärungen je nach Belieben auswählen darf. Solange aber Camus auf die moralische Lehre fokussiert und weitestgehend im theologischen bzw. historischen Diskurs bleibt, benutzt Harsdörffer die Geschichten eher als ›Aufhänger‹, um dadurch möglichst viele verschiedene Wissensbereiche miteinander zu verbinden oder gegebenenfalls durch diverse literarische Mittel parallel oder miteinander konkurrierend auftreten zu lassen. Diesem Umstand ist der typische Harsdörffersche Effekt zu verdanken, daß seine moralische Lehre (die er umstandslos von dem Bischof abschreibt) hier – und auch an manchen anderen Stellen der Sammlung – ein wenig nachgeworfen wirkt.101 Von Harsdörffers besonderem, juristisch-praxisnahem Interesse zeugt die Tatsache, daß er in derselben Sammlung rund 370 Seiten später unter dem Titel

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 139. Camus: L’amphithéâtre sanglant (wie Anm. 40), S. 308. Die Wundergeschichte Enfant miraculeusment conservé in dem Goulartschen Thrésor (wie Anm. 12), S. 208, sollte in diesem Zusammenhang noch auf ihre Bezüge zu der Camusschen Variation hin genauer untersucht werden.

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Das Baarrecht102 dieselbe Problematik noch einmal aufgreift. Diesmal betrachtet er das Thema ausschließlich aus einer juristisch-empirischen Perspektive: Er liefert beispielsweise eine exakte Begriffserklärung und zahlreiche interessante Fallbeispiele. So findet die in der Forschung – aber auch durch Harsdörffer selbst – schon mehrmals aufgestellte Behauptung, die Schau=Platz-Sammlungen fungierten eigentlich als Illustrationen, Beispiele oder Ergänzung zu den Gesprächspielen, in diesem konkreten Fall ihre Bestätigung.103 Während Harsdörffer aber die Geschichte Das Zeugnis des Geblüts als Teil des Amphithéâtre sanglant von Camus übernimmt und an ihrem Grundgerüst so gut wie nichts verändert, scheint das Stück Das Baarrecht zu den wenigen Ausnahmen dieser Sammlung zu gehören, in denen der Leser unter einem Titel gleich mehrere Fälle findet. Dieses Stück hat er wahrscheinlich selbst kreiert und mit Hilfe seines ›Karteikastens‹ zusammengestellt.104 Zugunsten des Informationsmaterials kippt die Struktur: ein Phänomen, daß im Keim vereinzelt schon in den Mordgeschichten zu beobachten ist, in den Lust= und Lehrreichen Geschichten aber vollends zur Geltung gelangt. Jetzt meldet sich auch der Jurist Harsdörffer zu Wort. Vorerst erläutert er die Etymologie des Ausdrucks, dann folgt eine Begriffserklärung mit vielen Quellen.105 Über ein »spontanes Baarrecht« lesen wir noch in der Geschichte Das verletzte Gewissen,106 in der unter einem Gesamttitel mehrere Fälle von den Wirkungen eines schlechten Gewissens versammelt sind. Als Vorlage fungiert hier, wie auch später in diesem Unterteil, Goularts Thrésor, in dem man unter dem Gesamttitel »Conscience« ebenfalls mehrere Fälle vorfindet.107 So lautet der Nucleus der Historie in den Jämmerlichen Mordgeschichten:

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Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 129, S. 443. Vgl. zu diesem wichtigen Vernetzungsaspekt Dieter Breuer: Einübung ins allegorische Verfahren. Zur Funktion des Erzählens in Harsdörffers Gesprächspielen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 127–142, hier S. 131, und van Gemert (wie Anm. 83), S. 331. Eine Tradierung durch Goulart kann ebenfalls nicht ausgeschlossen werden, da die unmittelbar vorhergehende und die darauf folgende Geschichte (Jämmerliche Mordgeschichte Nr. 128 u. 130) erwiesenermaßen aus dem Thrésor stammen. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 443: »Durch das Baarrecht aber wird verstanden / wann über einem Ableib die vermuteten und zweiffelhafften Thäter geführet / dass desselben Bluttriefen den Mörder zu erkennen geben soll. Hierüber ist nun unter den Juristen ein grosser Streit / ob solches Bluttriefen allein eine genugsame Ursach / dass man einen solchen verdächtigen Ablaugner sol an die peinliche Frage strecken.« Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 166, S. 591–595. Goulart: Thrésor (wie Anm. 12), S. 119–122. Die Geschichten in der Rubrik »Conscience« werden sowohl im Teil IV der Mordgeschichten (Nr. 95: Der Cainische Bruder, und Nr. 98: Des Gewissens Zwang) als auch im Teil VII und VIII (Nr. 166: Das verletzte Gewissen, und Nr. 192: Die ermordten Mörder) rezipiert. Wo Goulart also unter einem Gesamttitel verschiedene Fälle über die Macht des Gewissens bringt, zergliedert Harsdörffer diesen Bestand für seine Zwecke.

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Zu Jtzeho in Holstein wurde einer auf der Strassen ermordet / und weil man den Thäter nicht mochte handfest machen / hat man den Leichnam begraben / und eine Hand darvon / als das Freischzeichen / in der Gefängnis an einen Schnur aufgehengt. Nach zehen Jahren / ist der Mörder besagten Wandermanns die Gefengnis zu besehen / in eben diesen Ort / wo die Hand gehangen / gekommen / und hat solche / ob sie wol gantz verdorrt und eingeschrunden gewesen / zu bluten angefangen.108

Danach geht alles ganz schnell. Der Kerkermeister denunziert »den unbekannten Mörder« bei der Obrigkeit. Ihm wird eindringlich zugesprochen und an sein Gewissen appelliert. Der Mörder leugnet anfangs die Tat, »muste aber doch Gott die Ehre geben / und ohne fernere Zeugschaft bekennen / daß er einen vor zehen Jahren erschossen / welches Hand / allen Umständen nach / in dem Gefängnis aufgehangen war«.109 Nach einem so überzeugenden Gottesurteil kommen gar keine Zweifel auf. Der Mörder wird nach diesem Bekenntnis gerädert. Im Zusammenhang mit dem Baarrecht erwähnt Harsdörffer auch die Möglichkeit der Folter, jedoch mit einer nicht zu übersehenden Skepsis. Mehr zu der Folterproblematik findet sich in der Geschichte Die peinliche Frage.110 Es gibt insgesamt sehr wenige Textstellen in den beiden Schau=Platz-Sammlungen, in denen Harsdörffer von seiner Überzeugung als Jurist überhaupt etwas durchblicken läßt. Diese zwei Geschichten gehören, was ihre Thematik anbelangt, unbedingt dazu. Zurückkehrend zu der Erzählung Das Zeugnis des Geblüts ist weiterhin anzumerken, daß es sich hier überhaupt um die einzige Geschichte handelt, in der Baarrecht und Kindsmord in Zusammenhang gebracht werden. Beide Themen werden sonst in verschiedenen Variationen präsentiert.111 Selbstverständlich können wir zu dieser Geschichte auch eine entsprechende ›Gegengeschichte‹ in den Lust= und Lehrreichen Geschichten vorfinden. Die Historie liest sich Zeile für Zeile wie eine Parodie der Camusschen Erzählung. Die unverhoffte

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Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 166, S. 592. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 166, S. 592. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), Nr. 155, S. 552–553: »Diese Geschichte sollen die Richter lehren behutsam zu verfahren / und nach fürgeschriebenen Rechten niemand an die peinliche Frage werffen lassen: er sey dann deß Verbrechens überwiesen / und wolle es doch nicht bekennen / zu deme ist ein Unterscheid in den Personen zu halten / ihr Leben und Wandel zu erkundigen / und auf eines Verleumders / oder den gefassten Wahn deß gemeinen Mannes nicht zu gehen. Viel sicherer ist zehen schuldige arme Sünder loß zu lassen / als einen Unschuldigen verdammen.« Vgl. dazu auch Siebenpfeiffer (wie Anm. 8), S. 173f., und Alexander Košenina: Recht – gefällig. Frühneuzeitliche Verbrechensdarstellung zwischen Dokumentation und Unterhaltung. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 15 (2005), S. 28–47, hier S. 40f. Das Motiv des Kindsmords findet sich abgesehen von Das Zeugnis des Geblüts in Der unerhörte Kinder=Mord (Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 2], S. 487–492) und Die unverhoffte Rettung (Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte [wie Anm. 3], Tl. I, S. 354–357).

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Rettung112 berichtet nicht vordergründig über das Vergehen des Kindsmordes, sondern über die Hinrichtung der ›armen Sünderin‹. Es handelt sich dabei weit eher um einen interessanten Rechtsfall als um ein abschreckendes Exempel, obwohl Harsdörffers Bemühungen, beides zu verbinden, auch hier nicht nachlassen. Die Geschichte hat der Nürnberger sicher nicht wegen ihrer Eignung zum allgemeingültigen Exemplum, sondern wegen ihrer Singularität ausgewählt. Gleich zu Beginn der Geschichte wird sichergestellt, daß es sich um ein aktuelles Ereignis handelt: »diesem nach schwebt mir noch für Augen / was ich in meiner Zeit / zu Dyon 1625. gesehen und nachgehends erzehlen will.«113 Neben Ort und Zeit wird sogar ›die arme Sünderin‹ exakt benannt, was in den Sammlungen selten der Fall ist. Diesen geschickt inszenierten Erlebnisbericht entlarvt Krebs wiederum als Entlehnung aus einer zeitgenössischen Zeitung, dem Mercure François.114 Die Parodie auf Camus vollzieht sich als Abfolge burlesker Effekte. Die Umstände der Hinrichtung sind denkbar ungünstig. Der Henker ist gesundheitlich hochgradig angeschlagen und zeichnet sich weder durch Tatkraft noch Professionalität aus. Daher läßt er verlauten, dass er sich auff diesen Streich förchte / weil er drey Monat das Fieber gehabt / und sehr schwach in den Armen seye [...] bittet auch die arme Sünderin umb Verzeihung und hättet fast wollen an ihrer Stelle seyn. Er bittet auch das Volck/ daß wann ihme der Streich mißlingen sollte / daß man nit Hand an ihn legen wolle / und stellet sich sehr verzagt zu dem Handel daß jme die Geistlichen auch zusprechen müssen.115

Diese captatio benevolentiae erscheint bitter nötig. Die Hiebe des Henkers treffen nicht, einmal wird die rechte Schulter, einmal der Kopf der bedauernswerten Täterin Helena verletzt, »so die arme Sünderin abermals zu Boden sincket«.116 Das Volk gerät in Aufruhr, Steine fliegen, die Frau des Henkers versucht noch, Helena durch Stiche in den Hals umzubringen. Die Schere der Henkersfrau ist möglicherweise für dieses Vorhaben nicht scharf genug. Um ihr Leben zu retten, fliehen der Henker und seine Frau in eine Kapelle, die »arme und halbtote Sünderin« wird durch die Kapuziner mitgeschleift und letztendlich gerettet.

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Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 354–357. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 354. Vgl. dazu insbesondere die Studie von Krebs: Journalismus und Novelle (wie Anm. 17), in der eindrucksvoll belegt wird, daß Harsdörffer des öfteren Berichte aus der zeitgenössischen Tagespublizistik verwendet. Zwei sich im Nachhinein als fingiert entpuppende Erlebnisberichte des Nürnbergers sind Die unverhoffte Rettung und Die Plage der Pestilentz (Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 2], S. 478–482) sowie das Stück Joh. Arndts Paradißgärtlein (Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte [wie Anm. 3], Tl. II, S. 6–10). Sie gehen auf den Mercure François zurück. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 355. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 355.

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Später wird sie vom König begnadigt, auch deswegen, »weil Gott sie so wundersam erhalten«. Die Erzählung enthält auffällig viele identische Strukturelemente aus dem Zeugnis des Geblüts. Nach dem Kindsmord wird der kleine Leichnam ebenfalls im Garten begraben, außerdem trägt das Kind ein Hemdchen mit den Initialen des Namens der Mutter. Zu dieser bereits erdrückenden Beweislage kommen die Aussagen der Hebammen hinzu, die einstimmig zu Protokoll geben, daß »diese Helena eine Kindbetterin, die vor 14. Tagen der Geburt erlediget worden. Sie aber wil nichts anders gestehen / als das geronnen Geblüt von ihr gegangen.«117 Im Gegensatz zu der Geschichte Das Zeugnis des Geblüts, in der das Blutzeichen der Leiche in Anwesenheit des Mörders als göttliche Gerechtigkeit – die »der Obrigkeit Gerechtigkeit vielmals zu Hülffe kommet«118 – interpretiert wird, manifestiert sich in der Unverhofften Rettung der göttliche Wille durch die schlichte Unfähigkeit des Henkers, also durch die imperfectio der weltlichen Umstände. Da Harsdörffer noch eine moralische Lehre schuldig bleibt, schreibt er über den Trost der Unschuldigen und darüber, daß Gott sie auch in dem Tod vor dem Tod retten kann.119 Abgesehen davon, daß Barmherzigkeit seine Strafphilosophie prägt (prägnant allegorisiert im Salat-Bild, »wo doppelt so viel Öl wie Essig nötig ist«),120 erscheint diese Moral ausnehmend abwegig und illustriert perfekt den parodistisch anmutenden Impetus der gesamten Geschichte. Das Dilemma, daß eventuell Schuldige der irdischen Justiz entkommen und daß Unschuldige hingerichtet werden, löst Harsdörffer geschickt an einer anderen Stelle der Mordgeschichten mit dem Hinweis auf eine mögliche Bestrafung im Jenseits: »Hingegen straffe Gott auch nicht alles / damit die Frommen nicht vermeinen / es sey kein ewige Belohnung in jener Welt.«121 Dieselbe Thematik, nämlich Verdacht auf Kindsmord und versuchte Hinrichtung, variiert noch einmal die Geschichte Die erwünschte Rettung122, die ebenfalls glücklich ausgeht.123

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Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 354. Das Blut hat abermals eine zentrale Rolle bei der Aufdeckung des Verbrechens. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 29), Tl. VI, S. 139. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 357: »Dieses Exempel solte allen Unschuldigen zu einem Trost dienen / daß sie Gott auch in dem Todt / von dem Todt erretten könne. Hüt dich vor der That / der Lügen wird wohl Rath.« Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 155. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 2), S. 24. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. I, S. 258–261. Eine stark verkürzte Version der Historie Das Zeugnis des Geblüts findet in Justus Georg Schottelius: De Singularibus quibusdam & antiquis In Germania Juribus & Observatis. Wolfenbüttel 1671, S. 69, mit einem expliziten Verweis auf Harsdörffer Verwendung: »Judicia divina (Baar Recht): Die kurtz hernach folgende Geschichte und exempla werden vor Augen stellen / das Gottes Hand und Gottes Gericht klärlicher bey der alten Baar Recht / als dem Kampff Recht zuspüren; daher auch / ob schon die andern also genanten judicia divina endlich abgeschaffet / dieses Baar Recht dennoch hin und wieder bey Christlichen Obrigkeiten behalten / und manchen heimtückischen Buben durch

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Weitere Vernetzungsperspektiven ergeben sich, wenn man den thematischen Rahmen etwas weiter faßt. In diesem Sinne kann als zweites Gegenstück zu Das Zeugnis des Geblüts die Erzählung Die Regung des Geblüts (Lust= und Lehrreiche Geschichte) betrachtet werden. Für dieselbe Problematik, für »die jungfrauliche Wassersucht« (Schwangerschaft vor der Ehe), wird dort ein anderer, obwohl nicht ganz alltäglicher, geschweige denn ethisch akzeptabler Lösungsversuch angeboten. Für die nicht ganz konsequente Lösung ist jedoch nicht der Bischof, sondern dessen Hauptquelle Cervantes verantwortlich zu machen. Die Geschichte La Fuerza de la Sangre aus den Novelas exemplares hat Harsdörffer möglicherweise ohne die Vermittlung von Camus verwendet.124 Eine mögliche Tradierung durch den Goulartschen Thrésor soll noch weiter untersucht werden.125 Die Ausgangssituation ist ähnlich, mit dem Unterschied, daß jetzt keine ›Winkelehe‹, sondern Jungfrauenraub und Vergewaltigung126 die Geschehnisse ins Rollen bringen: Zu Toledo spazierte auff den Abend an den Fluß ein alter aber sehr armer Edelmann mit seinem Weib / einer Magd / und seiner Tochter / welche kaum das sechszehende Jahr an ertretten hatte. Die Nacht war hell / der Lufft heiter / der Weg in einer so grossen Statt sicher / aber doch / wie wir hören wollen / nicht versichert / und hat ihn solche Spatzierlust viel Jahr grossen Unlust verursachet.127

Rudolf nämlich, »ein vornehmer reicher und deßwegen mutiger junger Herr«, und seine Gefährten begegneten diesen »Schafen / und liessen sich gelusten / das zartste von der Heerde zu kosten«.128 Die fünf bewaffneten Edelleute entführen kurzerhand Leocadia, die unglückliche Jungfrau, die Eltern rufen vergeblich um Hilfe, alles ist zu spät, denn »inzwischen hatte Rudolf seinen viehischen Willen mit der ohnmächtigen Leocadia brünstigst vollbracht«.129

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solch Erweisungs-Mittel seine wolverdiente Straffe sey angethan worden.« – Freundlicher Hinweis von Jörg Jochen Berns (Berlin). Camus: Les évenemens singuliers (wie Anm. 34), Tl. III, Nr. 12 (La Chasteté courageuse), überrascht mit einer Geschichte von verblüffend ähnlicher Thematik. Vgl. dazu auch George Hainsworth: Les Novelas exemplares de Cervantes en France au XVIIe siècle. Paris 1933, S. 146. – Harsdörffer bringt die Camussche Version unter dem Titel Die keusche Verzweiflung als Nr. 91 im Teil IV seiner Mordgeschichte, in dem er hauptsächlich aus der Sammlung Les évenemens singuliers kompiliert. Die Erzählung La fuerza de la sangre von Cervantes verwendet Harsdörffer schon in den Frauenzimmer Gesprächspielen (wie Anm. 29), Tl. II, S. 114–119, unter dem Titel Die Geblütsregung. Da Harsdörffer in Teil VI der Lust= und Lehrreichen Geschichte hauptsächlich aus dem Thrésor und aus den Conférences kompiliert, kann eine Tradierung durch den Genfer Kompilator ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Vgl. zum Vergewaltigungsdiskurs in den Mordgeschichten dezidiert Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, S. 175–185, außerdem ihren Beitrag im vorliegenden Band. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. II, S. 124. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. II, S. 124. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. II, S. 125.

Quellenverwertung und Kompilationsstrategie

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In beiden Fällen ist ein Kind das Resultat der aufgetretenen Unkeuschheit, im zweiten Fall sogar einer Vergewaltigung. Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen den Frauen: in der zweiten Geschichte (Die Regung des Geblüts) bleibt die Frau weitestgehend passiv, versucht sich sogar zu rechtfertigen, als sie aus der Ohnmacht wieder erwacht. Sie ist eher eine positive Figur, die trotz dieses ›Unfalls‹ ihre Augen auf Gott richtet, das Kind zur Welt bringt und großzieht. Dieses hochgradig naive, aber keusche Verhalten wird durch die himmlischen Mächte entsprechend belohnt. Scheinbar durch Zufall (durch ein Zusammentreffen mit den Großeltern) bekommt sie Ehre und Ehemann zurück. Zu allem Überfluß wird sie auch noch am Reichtum ihrer neuen Familie teilhaben: Rudolf hat seinen begangenen Fehler ersetzet / die betrübte Leocadiam gefreyet [...] welche ihre Armut mit der Tugend erstattet / und alles außgestandenen Unglücks vergessen; ja erkennet / dass sie sonder solches zu einer so stattlichen Heurat nicht gelangen mögen.130

Die Gegenüberstellung der Geschichten mit ähnlichen Ausgangslastern aus beiden Sammlungen läßt die Unterschiede bezüglich der moralischen Lehre – falls eine solche für Die Regung des Geblüts überhaupt noch reklamiert werden kann – deutlich erkennen: in den Lust= und Lehrreichen Geschichten hat sich das bevorzugte Disziplinierungsmittel von Camus, ›la sainte horreur du crime‹, nicht mehr durchgesetzt. Die Geschichte mag Harsdörffer vielmehr wegen ihrer sensationellen naturwissenschaftlichen Implikationen interessiert haben (wenn nämlich der Großvater beim Anblick des unbekannten, verletzten Enkelkinds von dem Pferd springt, »nimt [er] das schöne Kind in seine Arm / und trägt es selbsten nach Hause / nit ohne sondre Regung des Geblüts / und hertzliches Mitleiden / wegen begebenen Unglückes«).131 Dieser Vermutung entspricht ferner die Tatsache, daß Harsdörffer dieselbe Geschichte schon relativ früh in seine Gesprächspiele aufnimmt. Außerdem plaziert er sie im VI. Teil der Lust= und Lehrreichen Geschichten zwischen Die Außschindling und Die Vollsäufer. Alle 25 Stücke des VI. Teils behandeln verschiedene Themen aus den Wissensbereichen der Naturwissenschaften und der Psychologie, nicht aber aus dem Strafrecht und sind Goulart (Thrésor) bzw. Renaudot (Conférences) entlehnt. Die Informationsvermittlung gewinnt, zumindest gegen das Ende der Lust= und Lehrreichen Geschichten hin, gegenüber Normenkonflikt und moralischer Lehre eindeutig die Oberhand.

130 131

Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. II, S. 127. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 3), Tl. II, S. 126.

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6. Fazit Harsdörffers komplettistische Freude an der Informationssammlung und -präsentation ließe sich abgesehen von der Baarrecht-Thematik noch an vielen anderen Gruppen von Historien konkretisieren. Ein weiteres dankbares Untersuchungsfeld bietet etwa das Textensemble zum Thema Wunder und Wunderzeichen,132 in der sich auch die naturwissenschaftliche Informationsflut in besonderem Maße Bahn bricht und somit eine Untersuchung der Erzählungen »mit kultur- und naturwissenschaftlicher Doppelkompetenz«133 besonders ratsam erscheint. Die Ergebnisse der vorangegangenen Überlegungen können aus den genannten Gründen – wie am Anfang erwähnt – nur vorläufig sein. Dennoch läßt sich zu den eingangs gestellten forschungsleitenden Fragen Folgendes feststellen: (1.) Besonders eindrücklich läßt sich Harsdörffers Kompilationsstrategie am Textcorpus von Camus erörtern. Das offensichtlichste Ergebnis ist noch, daß Harsdörffer als Ireniker Anklänge an konfessionelle Polemik ausblendet. Die Auseinandersetzung mit Camus ist aber weitaus komplexer. Die ständige Berufung auf Gott und die Allmacht und Unfehlbarkeit der göttlichen Vorsehung bei Camus weicht bei Harsdörffer vielschichtigen Modellen der Handlungsoption und -wahrnehmung auf der Figurenebene in den Mordgeschichten und in den Lust= und Lehrreichen Geschichten. Die komplette Übernahme ganzer Reihen von Historien etwa aus Goularts Thrésor – in der teilweise noch nicht einmal die Reihenfolge abgeändert wird – spricht andererseits für arbeitserleichternde pragmatische Gründe in der Kompilationsanordnung. (2.) Die betonte Buntheit der Abfolge der Historien im Sinne des Prinzips variatio delectat sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß es immer wieder Blöcke mit thematisch verwandten Erzählungen gibt, deren vordergründige Ordnung wiederum der Abfolge der Quellen in den jeweiligen fremdsprachlichen Sammlungen geschuldet ist. Je nach zugrundegelegter Sammlung verschieben sich auch die thematischen Schwerpunkte. Makrostrukturell lassen sich etwa die Unterschiede zwischen dem ersten Teil der Mordgeschichten, der die narrativen Besonderheiten der Camusschen Erzählungen transportiert, und den hinteren Teilen der Anthologie aufzeigen, die zu großen Partien aus Fallbeispielen bestehen, die mit naturwissenschaftlichen Informationen gesättigt sind. – Andererseits ist die Orientierung an der chronologischen Abfolge der Texte und eine chronologische Lektüre nur ein mögliches Modell der Rezeption. Mithilfe des Registers kann sich der interessierte Leser auch seinen ganz individuellen ›Schauplatz‹ zu einem bestimmten Thema zusammenkompilieren. 132

133

An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Forschung zur Prodigienliteratur und verwandten kompilatorischen Historien eingegangen werden. Vgl. daher vorläufig Rosmarie Zeller: Wunderbares, Ingeniöses und Historien. Zu Pedro Mexías Geschicht- Natur- und Wunderwald. In: Simpliciana 21 (1999), S. 67–92. Jakob: Nachträge zur Harsdörffer-Bibliographie (wie Anm. 19), S. 247.

Quellenverwertung und Kompilationsstrategie

145

(3.) Das Prinzip der Verkürzung (im Sinne des rhetorischen Ideals der brevitas) und Vereinfachung ist Harsdörffers hervorstechendes redaktionelles Prinzip – zumindest im Hinblick auf Camus. Die Transponierung der Texte aus anderen Kompilationen in das Universum der Schau=Plätze bedeutet aber weitaus mehr. Sie vollzieht sich in einem Spannungsverhältnis: Von der planen Übernahme von Handlung und Moral der Vorlage bis zur sarkastischen Parodie des Ursprungstexts (nicht nur zwischen den Zeilen) sind alle Zwischenstufen zu beobachten. Relativieren schon Harsdörffers Einschübe und Kommentare die moraldidaktische Nutzanwendung der vordergründig erbaulichen Exempla, so schafft vollends das intertextuelle Vernetzungssystem mit anderen Großtexten Harsdörffers immer wieder neue Bedeutungen und die Möglichkeit des Zugriffs auf unterschiedliche Informationsreservoirs. Nimmt man die Historien als bereits mehrfach zitierten ›Spielvorrath‹, so ist der intertextuelle Verzahnungseffekt der Kompilationen mit den Gesprächspielen kaum zu überschätzen. Auch der Spielbegriff ist in diesem Zusammenhang von Nutzen.134 In spielerischer Manier bieten die Großtexte einen multioptionalen mundus combinatus, aus dem sich Leserin und Leser im Sinne einer »Drehscheibe« – wie dem »fünffachen Denckring der Teutschen Sprache« aus den Erquickstunden135 – das ihnen Genehme zusammenstellen können. Harsdörffer neigt dabei keineswegs zur Bevormundung seiner Rezipienten, weder in der Mikrostruktur der Einzeltexte noch in der Makrostruktur der Textanordnung. Er verlangt den Lesern vielmehr ständig die eigene Beurteilung der präsentierten Stücke ab – gerade im Hinblick auf die Problematisierung von Normenauslegung und -anwendung. Damit reizt er zur Vertiefung und Perspektivierung des gewonnenen Wissens anhand weiterer Informationsakkumulation – mithin ein genuin diskursives Verfahren, welches sich in Dialogform mustergültig in den Gesprächspielen inszeniert findet. (4.) Die Transformierung der Texte zum kompilatorisch und kombinatorisch fluktuierenden Spiel- und Diskussionsmaterial ist Bestandteil einer breit angelegten Strategie zur Wiederaufrichtung der kulturellen Standards im deutschsprachigen Raum nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges, die naturgemäß vom kulturgeschichtlichen Umfeld der internationalen (besonders französischen) Vorlagen abweicht. Auch deshalb erscheint jede Form von konfessionell geprägter Streitbarkeit, die Camus nachhaltig prägt, für Harsdörffer als Zeugen jahrzehntelanger, religiös gefärbter und desaströser Auseinandersetzungen obsolet. Diese Wiederaufrichtung vollzieht sich allerdings in einem gesamteuropäischen Kontext und strebt als langfristiges Ziel eine kulturelle Angleichung an. Derartige Praktiken der kulturellen Institutionalisierung und 134 135

Vgl. etwa Stefan Matuschek: Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel. Heidelberg 1998, zu Harsdörffer S. 139–157. Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, S. 517.

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weitergehend der kulturellen Verfeinerung zeichnet auch Harsdörffers »Spracharbeit« aus,136 die ebenfalls in den Gesprächspielen eine gebührende Repräsentanz erhält.

136

Vgl. dazu vorzüglich Markus Hundt: »Spracharbeit« im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin u. a. 2000.

Stefan Manns (Berlin)

»Die wahre und merckwuerdige Geschichte lehret« Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen

1. Die folgenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang von zwei Fassungen einer Geschichte, die sowohl in Georg Philipp Harsdörffers Grossem Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte1 als auch im sechsten Band der Frauenzim-

1

Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte. Nachdruck der Ausgabe 1664. Hildesheim u. a. 1978. Das VD 17 weist im Besitz der Universitäts- und Landesbibliothek Halle einen Erstdruck aus dem Jahr 1648 nach, der nicht in Hamburg, sondern bei Pillenhofer in Nürnberg erschienen ist (VD 17: 3:609301H). In einem dem dritten Teil des Poetischen Trichters beigegebenen Werkverzeichnis Harsdörffers (Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen [1647–1653]. Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. III, Bl. a 8v) fehlt diese Ausgabe ebenso wie in den Werkbibliographien von Heinz Zirnbauer: Bibliographie der Werke G. Ph. Harsdörffers. In: Mitteilungen aus der Stadtbibliothek Nürnberg 7 (1958), H. 3, S. 1–32, hier S. 16ff., und Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Stuttgart 1991, Bd. 3, S. 2003ff. Bereits in dem 1993 veröffentlichten Katalog zur frühneuzeitlichen Erzählliteratur der Universitätsbibliothek Marburg ist ein auf 1648 datiertes Exemplar des Grossen Schau=Platzes jämmerlicher Mordgeschichte unter der Signatur ›XVI C 586 P #‹ verzeichnet. Vgl. Erzählte Welt. Frühneuzeitliche Erzählliteratur aus den Beständen der Universitätsbibliothek Marburg. Redaktion Ina Timmermann, Alexander Halisch u. a. Hg. v. Jörg Jochen Berns. Marburg 1993, S. 157, Nr. 196. Vgl. auch Alexander Halisch: Barocke Kriminalgeschichtensammlungen. In: Simpliciana 21 (1999), S. 105–124, hier S. 120, Endnote 8. Hingegen ist eine bei Dünnhaupt verzeichnete achte Auflage der Mordgeschichte von 1713 nicht verifizierbar. Das einzige existierende Exemplar soll in der Nürnberger Stadtbibliothek liegen, wo es jedoch nicht nachweisbar ist. Es ist davon auszugehen, daß sich beim Katalogisieren ein Fehler eingeschlichen hat, der weitergetragen wurde. Zirnbauer verzeichnet eine siebte Auflage und datiert sie auf das Jahr 1713. Sein Fehler läßt sich durch das auf dem Titelblatt in römischen Ziffern angegebene Druckjahr erklären. Korrigiert man nämlich das bei Zirnbauer angegebene und später von Dünnhaupt übernommene Druckjahr vom MDCCXIII in MDCXCIII, so ergäbe sich exakt das Jahr der siebten Auflage, mit dem auch die weiteren Angaben des Titelblattes übereinstimmen. Das von Dünnhaupt unter der Nr. 49,8 (vgl. Dünnhaupt, Bd. 3, S. 2001) geführte Exemplar muß jedoch als nicht nachweisbar gelten. Ebensowenig läßt sich die bei Dünnhaupt verzeichnete erste Ausgabe der Lust= und Lehrreichen Geschichte von 1650 in den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek belegen.

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Stefan Manns

mer Gesprächspiele2 erzählt wird. Da die Geschichte3 in jeweils unterschiedlichen Kontexten aktualisiert wird, mag zunächst der Eindruck entstehen, es handele sich lediglich um verschiedene Erzählungen eines einzigen Stoffes. Im folgenden wird hingegen dargelegt, daß beiden Fassungen ein einheitliches Erzählmuster zugrunde liegt, das ebenfalls für alle übrigen Erzählungen der Schau=Plätze verbindlich ist. Entwickelt, diskutiert und erprobt werden verschiedene Muster für das Erzählen bei Harsdörffer sukzessive in den Frauenzimmer Gesprächspielen. Aus zahlreichen Erzählspielen wird im folgenden das Verfahren rekonstruiert, das dem Erzählen bei Harsdörffer zugrunde liegt und das in einer Kombination von Textsorte, Erzählerkommentar und Diegese in Hinblick auf eine auf christliche Tugendlehre ausgerichtete Didaxe besteht.4 Abschließend sind dann Schlüsse für die Textpragmatik zu ziehen. Die für Harsdörffer konstitutiven Momente der Kombination und der Kompilation aufgreifend, wird für eine aktive und pragmatische Verwendung der Erzählungen plädiert. Georg Philipp Harsdörffer ist für die historische Erzählforschung ein Glücksfall, weil sich an seinen Texten Verfahrensweisen des Erzählens und Nutzbarmachens von Erzähltexten studieren lassen. Ich gehe von einer konzeptionell engen Verbindung beider Erzählsammlungen aus,5 die erst in jüngerer Zeit von der Forschung in Frage gestellt wurde, obgleich sie schon auf den Titelblättern markiert wird. Beide weisen den ›Schauplatz‹ und die ›Geschichte‹ als zentrale Begriffe aus. Beide weisen darauf hin, daß die »vielen merckwuerdigen Erzehlungen« mit »klugen Spruechen / scharff2

3

4

5

Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969. Erste Fassung unter dem Titel: Frawen=Zimmer Gespräch=Spiel. Nürnberg 1641–1642. In den folgenden Ausführungen werden die Begriffe ›Geschichte‹, ›Erzählung‹ und ›Narration‹ im Sinne Gérard Genettes verwendet. Unter ›Geschichte‹ (die Genette auch als ›Diegese‹ bezeichnet) ist der Inhalt einer Erzählung gemeint, also das, was eine Person erzählt. ›Erzählung‹ meint die einmalige Art und Weise, wie eine Geschichte durch Erzähler- und Figurenrede im Erzähltext präsentiert wird. Schließlich meint ›Narration‹ die Erzählhandlung selbst, also den bestimmten Akt der Präsentation von ›Geschichte‹ und ›Erzählung‹ durch einen Erzähler; vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Übers. v. Andreas Knop, hg. v. Jochen Vogt. 2. Aufl. München 1998, S. 15. Vgl. bereits Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers Schauplätzen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 313–331, und Dieter Breuer: Einübung ins allegorische Verstehen. Zur Funktion des Erzählens in Harsdörffers Gesprächspielen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 127–142, die beide das didaktische Erzählen bei Harsdörffer betonen. So auch schon unter anderem van Gemert: Geschichte und Geschichten (wie Anm. 4), der die Historie im Sinne einer historia privatorum als das beide Erzählsammlungen verbindende Muster untersucht. Er findet in den Gesprächspielen eine Grundlegung für die konzeptionelle Verbindung der Schau=Plätze. Allerdings gerät bei van Gemert nicht das Erzählverfahren in den Blick.

Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen

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sinnigen Hofreden / Neuen Fabeln / verborgenen Raethseln / artigen Schertzfragen und Antworten« und »neu ueblichen Gedichten« kombiniert werden. Schließlich weist der Verfasser im achten Band der Gesprächspiele daraufhin, mit den beiden Schau=Plätzen weiteren Spielvorrat für Erzählspiele geliefert zu haben: »Weil auch die CCC. Spiele hiemit geendet / und zu derselben Vorrath L. froeliche und L. traurige Geschichte in unsren grossen Schauplaetzen beschrieben / legen wir die Feder nieder.«6 Die Forschung zu den Schauplätzen oszilliert seit Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts, als mit dem Interesse an Barock-Poetiken auch Harsdörffers Texte in den Blick gerieten,7 zwischen zwei Polen. Entweder werden die Schau=Plätze als Einheit wahrgenommen oder als konzeptionell getrennte Texte nebeneinander stehend bewertet. Meist erfolgt die Trennung beider Erzählsammlungen aus heuristischen Gründen, wie bei genrespezifischen Forschungsarbeiten, die die Jämmerliche Mordgeschichte als einen Ursprung der Kriminalerzählung diskutieren.8 Hingegen betrachten diejenigen Forschungsbeiträge beide Erzählsammlungen als eher konzeptionell zusammengehörig, die die Frage betonen, ob sie in der Novellen- oder Exempeltradition zu verorten sind. Flankiert wurde diese gattungsspezifische Diskussion durch die wichtigen Forschungen von Günther Weydt und seinen Schülern, die den Einfluß von Harsdörffers Texten auf Zeitgenossen wie beispielsweise Grimmelshausen oder

6

7

8

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VIII, Vorrede, S. 39. Ebenso wird dieser Bezug in der Vorrede zum ersten Teil der Lust= und Lehrreichen Geschichte wiederholt: »Nach dem aber besagte Spiele [gemeint sind die Gesprächspiele; St. M.] in VIII. Theilen zu Ende gebracht / hab ich diesen grossen Schauplatz […] Lust= und Lehrreicher Geschichte / eines= vnd dann jaemmerlicher Mordgeschichte anders Theils / zu Nachfolge der Tugenden / und Fliehung der Laster / zu eroeffnen beginnen / unnd also einen mehrern Spielvorrath / so wol froelicher als trauriger Erzehlungen / beyschaffen wollen« (Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte [wie Anm. 1], Tl. I, Bl. a 8v). Das hatte zur Folge, daß mehr und mehr Texte Harsdörffers in Nachdrucken zugänglich gemacht wurden, was wiederum das wissenschaftliche Interesse an dem Nürnberger beförderte. Die wiedererlangte wissenschaftliche Reputation Harsdörffers darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, daß er einem breiten Publikum noch immer nahezu unbekannt ist. Beispielhaft hierfür ist das weitgehende Vergessen, dem der Gerichtsassessor und das ehemalige Ratsmitglied in seiner Heimatstadt anheim gefallen ist, wo er die noch heute einzig durchgängig bestehende deutschsprachige Literaturgesellschaft, den Pegnesischen Blumenorden, gründete. Mit keiner offiziellen Würdigung wurde am 1. November 2007 dem ehemals berühmten Kulturfunktionär, Literat und Polyhistor gedacht, der mit den einflußreichsten Geistesgrößen seiner Zeit korrespondierte und für den das heute modische Attribut ›Literaturpapst‹ möglicherweise nicht zu hoch gegriffen ist. Vgl. stellvertretend für diese Forschungsposition Alexander Halisch: Barocke Kriminalgeschichtensammlungen (wie Anm. 1), und Hania Siebenpfeiffer: Narratio crimen. Georg Philipp Harsdörffers Der grosse Schau-Platz jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 157–176.

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Francisci untersuchten. Die Schau=Platz-Sammlungen wurden von ihnen in erster Linie als Fundgruben für Stoffe und Motive wahrgenommen, die Harsdörffer zu einer großen Zahl aus französischen, italienischen oder spanischen Novellen- und Erzählsammlungen gespeist hat.9 Damit rückte fast zwangsläufig die Novellenfrage in den Vordergrund. Einen (bisher erfolglosen) Abschluß dieser Diskussion suchte vor allem Volker Meid, der auf eine Auswahlpublikation der Mordgeschichte mit dem Urteil reagierte, daß in Harsdörffer Erzählen kein novellistisches, sondern ein am Exempel orientiertes vorliege, das die didaktische Ausrichtung dieser Erzählungen legitimiere.10 Jüngst läßt sich wieder eine verstärkte Aufmerksamkeit für die Erzählsammlungen feststellen, die diese als Phänomene frühneuzeitlicher Erzählkultur sieht und die Erzählweisen dieser

9

10

Vgl. Günther Weydt: Zur Entstehung barocker Erzählkunst. Harsdörffer und Grimmelshausen. In: Wirkendes Wort. Sammelband 3: Neuere deutsche Literatur. Düsseldorf 1963, S. 150–160; wieder in: Der Simplicissimusdichter und sein Werk. Hg. v. dems. Darmstadt 1969, S. 351–369. Weydts Schülerin Evamarie Kappes legte zu diesem Thema die erste Dissertation vor: Novellistische Struktur bei Harsdörffer und Grimmelshausen unter besonderer Berücksichtigung des Grossen Schauplatzes Lust- und Lehrreicher Geschichte und des Wunderbarlichen Vogelnestes I und II. Diss. masch. Bonn 1954. Sie macht in ihrer Arbeit zur novellistischen Struktur bei Harsdörffer und Grimmelshausen darauf aufmerksam (S. 19), daß es kaum möglich sei, die Gattungsbegriffe der Schau=PlatzErzählungen mit modernen Gattungsdefinitionen in Einklang zu bringen. Breuer macht ebenfalls deutlich, wie sehr das zeitgenössische Verständnis des Wortes ›Novelle‹ von heutigen Gattungszuschreibungen differiert. Ähnlich wie Kappes kommt auch er zu dem Schluß, daß »der ›Ort‹ der ›Novelle‹ in der Frühen Neuzeit im Sinne heutiger Gattungskategorien nicht präzise bestimmt ist«: Ingo Breuer: Tragische Topographien. Zur deutschen Novellistik des 17. Jahrhunderts im europäischen Kontext (Camus, Harsdörffer, Rosset, Zeiller). In: Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Hg. v. Hartmut Böhme. Stuttgart u. a. 2005, S. 291–312, hier S. 310. In der Folge von Weydts Einflußgeschichte hat sich die Forschung auch verstärkt auf den Aspekt des europäischen Kulturtransfers konzentriert, was Harsdörffer das schmeichelhafte Attribut eingebracht hat, ein »europäischer Dichter deutscher Zunge« zu sein (Italo Michele Battafarano: Vorwort. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. dems. Bern u. a. 1991, S. 5f., hier S. 5). »Das Didaktische«, so Meid, »verwirklicht sich am Überzeugendsten am Exempel« (Volker Meid: Barocknovellen? Zu Harsdörffers moralischen Geschichten. In: Euphorion 62 [1968], S. 72–76). Meid reagiert vor allem auf die Aussage Hubert Gerschs, dem Herausgeber einer Auswahl der Jämmerlichen Mordgeschichte, daß sich an den Schau=Plätzen »Harsdörffers bemühen um eine deutsche Novellistik« zeige (Hubert Gersch: Nachwort. In: Georg Philipp Harsdörffer: Jämmerliche Mord-Geschichten. Ausgewählte novellistische Prosa. Hg. v. Hubert Gersch. Neuwied u. a. 1964, S. 111–114, hier S. 112). Daß es bereits eine Tradition der ›novelle‹ in der deutschen Literatur vor Harsdörffer gab und daß Harsdörffer nicht der ›früheste Novellist der deutschen Literatur‹ war, zeigt Ursula Kocher in einer Untersuchung der Übernahme von Formen der italienischen ›novelle‹ in die deutsche Erzählpraxis des 15. und 16. Jahrhunderts; vgl. Ursula Kocher: Boccaccio und die deutsche Novellistik. Formen der Transposition italienischer ›novelle‹ im 15. und 16. Jahrhundert. Amsterdam u. a. 2005. Vgl. auch die Einordnung dieser Debatte bei Ingo Breuer: Barocke Fallgeschichten? Zum Status der Trauer- und Mordgeschichten Georg Philipp Harsdörffers. In: Zeitschrift für Germanistik N. F. 21 (2009), S. 287–300, hier S. 289f.

Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen

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Texte untersucht.11 Ein solches Interesse liegt auch den folgenden Überlegungen zu Harsdörffers Erzählverfahren zugrunde. 2. Ein junger Edelmann namens Rudolf entführt Leocadia, eine toledanische Jungfrau aus verarmtem Adel, in sein im Elternhaus gelegenes Zimmer, wo er die ohnmächtig Gewordene vergewaltigt. Nach der Tat bekommt Rudolf Angst vor möglichen Konsequenzen, sperrt die Vergewaltigte in seiner Kammer ein und eilt zu seinen Freunden, um Rat einzuholen. In der Zwischenzeit erwacht Leocadia und wird sich ihrer Situation bewußt. Als sie merkt, daß sie eingesperrt ist, memoriert sie einige Dinge in Rudolfs Zimmer, wie die Tapeten an den Wänden, ein Fenster, das zu einem Garten hinausgeht, das prachtvolle Bett, auf dem sie ihrer Ehre beraubt wurde, und ein Kruzifix auf einem elfenbeinernen Schreibtisch, das sie als »Merkzeichen« an sich nimmt. Nachdem Rudolf zu Leocadia zurückgekehrt ist, versucht er sie zu verführen, kann ihren Widerstand jedoch nicht brechen und willigt schließlich darin ein, sie mit verbundenen Augen aus dem Haus zu führen und vor einer Kirche auszusetzen, von wo sie den Weg zu ihrem Elternhaus selbst finden kann. Rudolf begibt sich einige Tage später auf eine mehrjährige Bildungsreise nach Italien, wo er die Tat und Leocadia rasch vergißt. Leocadia hingegen muß feststellen, daß Rudolf sie geschwängert hat und gibt ihren ursprünglichen Plan auf, mit Hilfe des entwendeten Kruzifix’ nach ihrem Peiniger zu suchen. Statt dessen verläßt sie die Stadt während ihrer Schwangerschaft und bringt auf dem Land einen Knaben zur Welt. Ludwig, so heißt das Kind, wächst unter der Behauptung heran, er sei ein Pflegekind, dessen sich Leocadias Familie angenommen habe. Sieben Jahre nach seiner Geburt wird er während eines Pferderennens von einem Pferd aus dem Besitz seines ihm unbekannten Großvaters Maximin, Rudolfs Vater, niedergerannt. Dieser läßt das verletzte Kind in sein Haus bringen und in Rudolfs Kammer gesund pflegen. Er und seine Frau Stefania entdecken in dem verletzten Jungen eine große Ähnlichkeit mit ihrem eigenen sich noch immer im Ausland aufhaltenden Sohn. In den ahnungslosen Großeltern entbrennen elterliche Regungen für ihren Enkel. Als die herbeigerufene Leocadia Ludwigs Krankenzimmer betritt, erkennt sie es anhand der memorierten Merkzeichen als den Ort wieder, an dem sie von Rudolf vergewaltigt wurde. Nachdem sie sich vergewissert hat, informiert sie Rudolfs Eltern über das Verbrechen, das ihr Sohn an ihr begangen hat, und liefert als Beweis für ihre Anschuldigungen das in jener Nacht

11

Vgl. zum Beispiel Rosmarie Zeller: Harsdörffers Mordgeschichten in der Tradition der Histoires tragiques. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 177–194, und Ingo Breuer: Tragische Topographien (wie Anm. 9), sowie ders.: Barocke Fallgeschichten? (wie Anm. 10).

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von dem Schreibtisch entwendete Kruzifix. Mit diesem Zeichen überzeugt sie Maximin und Stefania schließlich. Letztere ruft ihren Sohn aus Italien zurück. Nach Hause zurückgekehrt, erkennt Ludwig auf Anhieb in Rudolf seinen Vater und dieser in Ludwig seinen Sohn. Rudolf heiratet daraufhin Leocadia mit Einwilligung beider Eltern. Diese Geschichte findet sich als Nummer 135 unter dem Titel Die Regung des Gebluets im zweiten Teil der Lust= und Lehrreichen Geschichte, der erstmals 1648 und 1649 in zwei Bänden veröffentlichten erfolgreichen Sammlung von 200 Tugendexempla.12 Berühmt geworden ist diese Geschichte jedoch durch Miguel de Cervantes’ erstmals 1613 in Madrid erschienenen Novelas ejemplares. Unter dem Titel La fuerza de la sangre wird dort von Leocadias Erlebnissen berichtet. Der Erzähler der Schau=Platz-Fassung markiert diesen Prätext implizit, wenn er den Leser darauf hinweist, Rudolfs Namen »(oder Rodolfo wie ihn der Spanische Scribent nennet)«13 in enger Übereinstimmung mit der spanischen Textvorlage eingedeutscht zu haben. Wenngleich sich der Erzähler hier als ein gegenüber seinem Prätext verantwortungsvoller Übersetzer inszeniert, so fällt bei einem ersten Vergleich zwischen der Schau=Platz-Fassung und der Fassung aus den Novelas ejemplares eine signifikante Modifikation unmittelbar auf: die eklatante Kürzung, die Cervantes’ Text in Harsdörffers Bearbeitung Die Regung des Gebluets widerfährt.14 Während sich der Erzähler bei Cervantes für die Präsentation seiner Geschichte zwanzig Seiten Zeit nimmt,15 so benötigt er bei Harsdörffer dafür gerade einmal gut vier Oktavseiten. Das Eingreifen in Prätexte zugunsten der brevitas ist nicht nur in diesem Fall zu beobachten. Harsdörffer fordert sie in den Paratexten seiner Schau=Platz-Sammlungen programmatisch. In der Vorrede zum Grossen Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte weist er beispielsweise darauf hin, nur solche Elemente eines Ausgangstextes in die Erzählung übernommen zu haben, die direkt mit dem Fortgang der Geschichte verbunden sind: »Also haben wir auch zu Zeiten ueberfluessige uembstaende in den Erzehlungen untergelassen / den Leser / welcher deß Außgangs begierig ist / nicht verdrueßlich aufzuhalten.«16 12 13 14

15

16

Vgl. Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 124–128. Vgl. Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 124. Hervorhebung im Original. Das Verfahren der Kürzung von Prätexten fiel schon van Gemert in der »Art [auf], wie Harsdörffer im Schauplatz Lust- und Lehrreicher Geschichte z. B. mit Cervantes’ Licenciado Vidriera verfährt, den er rücksichtslos aufs elementarste Handlungsgerüst zusammenstreicht« (Gemert: Geschichte und Geschichten [wie Anm. 4], S. 329). Vgl. die von Harry Sieber besorgte Lesefassung: Miguel des Cervantes: Novela de La fuerza de la sangre. In: Ders.: Novelas ejemplares II. Hg. v. Harry Sieber. 24. Aufl. Madrid 2007, S. 75–95. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten (1649–1650). Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975, Vorrede, Bl. )( 8r.

Zum Erzählen in Georg Philipp Harsdörffers Schau=Plätzen

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Roland Barthes bezeichnet eine solche auf notwendige Handlungselemente einer Erzählung konzentrierte Narration als distributionell. Die Funktionen der distributionellen Klasse zeichnen sich dadurch aus, eine Geschichte ›am Laufen‹ zu halten. Barthes bezeichnet sie als Kardinalfunktionen (oder Kerne) und Katalysen. Kardinalfunktionen sind die Entscheidungsmomente einer Geschichte, an denen sie einen völlig anderen Verlauf nehmen könnte.17 In Die Regung des Gebluets wird nun auf all diejenigen Elemente verzichtet, die man mit Barthes indiziell nennen würde, die sich also aus Indizien und Informanten zusammensetzende sogenannte integrative Klasse. Sie versammelt solche Funktionen, die »Hinweise auf den Charakter der Protagonisten, Informationen über ihre Identität, Anmerkungen zur ›Atmosphäre‹ usw.«18 geben. Harsdörffers Erzähler spart nun an diesen Informationen, die zur Erzeugung der Atmosphäre einer Episode oder zur Charakterzeichnung der Figuren notwendig wären. Die Erzählung beginnt mit der Information, daß »ein alter und sehr armer Edelmann mit seinem Weib / einer Magd / und seiner Tochter / welche kaum das sechszehende Jahr an etretten [sic] hatte«19, eines Abends an einem Fluß in Toledo entlang spazierten. Im Gegensatz zur Textvorlage erfährt der Leser bei ihm nichts über die Uhrzeit, die Art und Weise des Spazierengehens oder über die Befindlichkeit der Familie, die sich bei Cervantes beispielsweise ausdrücklich auf die ordnungsstiftende Autorität der Polizei verläßt. Die interne Fokalisierung der Vorlage wurde gelöscht. Der Erzähler vermittelt lediglich von außen beobachtbare Ereignisse, ohne diese zu bewerten. Trotzdem ist die Perspektive nicht extern, sondern nullfokalisiert. Zum Schluß des zweiten Absatzes der Erzählung weist die Erzählinstanz auf das kommende Unglück hin, von dem die Figuren zu diesem Zeitpunkt noch nichts wissen können: »Die Nacht war hell / der Lufft heiter / der Weg in einer so grossen Stadt sicher / aber doch / wie wir hoeren wollen / nicht versichert / und hat jhn solche Spatzierlust viel Jahr grossen Unlust verursachet.«20 Mit dem Schluß des zweiten Absatzes breitet der nullfokalisierte Erzähler die Handlung mit einer Vorausschau den folgenden dritten Paragraphen narrativ vor. Aufgrund der dominierenden nullfokalisierten Erzählperspektive fallen interne Fokalisierungswechsel im Verlauf der Erzählung besonders auf. Solche Wechsel sind selten und finden sich meist dort, wo der Erzähler die Handlungen aus der Perspektive einer Figur motivieren und legitimieren muß. Ein Beispiel hierfür ist Leocadias Erwachen aus der Ohnmacht. Bei Cervantes folgt darauf eine lange sich über zwei Seiten erstreckende Klage der Gepeinigten.21 Harsdörffers Erzähler übernimmt die

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Vgl. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Übers. v. Dieter Horning. Frankfurt/M. 1988, S. 102–143, hier bes. S. 109–121. Barthes: Strukturale Analyse (wie Anm. 17), S. 111. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 124. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 124. Vgl. Cervantes: La fuerza de la sangre (wie Anm. 15), S. 79–81.

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interne Fokalisierung der Vorlage, löscht aber jegliche direkte Rede und damit Leocadias gesamtes Lamento. Statt dessen vermittelt er die Vergegenwärtigung ihrer Situation unter Rückgriff auf transponierte Rede: Sie »bedachte«, teilt der Erzähler mit, »was ihr wider jhren Willen unwissend geschehen«.22 Er fährt mit dieser internen Fokalisierung fort: [M]it hertzlichem Wunsche / daß selbe Nacht die letzte jhrer Tage / und das Bett / auf welchem sie sich entbloeset befunden (dann Rudolf hatte sie verschlossen / und wollte sich bey seinen Gesellen Raths erholen / was ferners zu thun) jhr zu einer Grabstette werden moechte.23

Der Dialog zwischen Leocadia und Rodolfo, der bei Cervantes die Klagerede dominiert, wurde zwar gelöscht, er wird aber dennoch auf virtuose Weise durch die Verschränkung einer doppelten internen Fokalisierung angedeutet. Denn die auf Leocadia ausgerichtete interne Fokalisierung wird durch eine Parenthese in Klammern unterbrochen, in der aus Rudolfs Perspektive erzählt wird. Harsdörffers Erzähler scheint Leocadias Klage ebenso zu den in der Vorrede der Jämmerlichen Mordgeschichte erwähnten »ueberfluessigen uembstaenden«24 zu rechnen, wie der von Rodolfos Eltern klug eingefädelte Plan, ihren Sohn aus Italien zurück nach Hause zu locken, um ihn mit Leocadia zu verheiraten. Neben der narrativen Reduktion zeigt ein Vergleich beider Fassungen ebenfalls, daß die Abfolge der Sequenzen bei der Schau=Platz-Fassung beibehalten wurde. Harsdörffer erweckt den Eindruck, sehr genau gewußt zu haben, an welchen Stellen er seine Textvorlage nach den eigenen programmatischen Vorgaben kürzen konnte und an welchen er den Ablauf der Handlungen und der Ereignisse beachten mußte. Die Kardinalfunktionen behält er bei, so daß sich für Die Regung des Gebluets folgende Makrosequenzierung der Geschichte ergibt, die mit Cervantes’ Ausgangstext übereinstimmt: Sequenz 1: Leocadia wird von Rudolf/Rodolfo entführt, vergewaltigt und schließlich vor einer Kirche ausgesetzt. Sequenz 2: Rudolf/Rodolfo reist nach Italien, während Leocadia einen Sohn zur Welt bringt und ihn aufzieht. Sequenz 3: Leocadias Kind Ludwig wird verletzt und von seinem ihm unbekannten Großvater Maximin gesund gepflegt. Leocadia erkennt den Ort wieder, an dem sie vergewaltigt wurde, und offenbart sich Rudolfs/Rodolfos Eltern. Sequenz 4: Rudolf/Rodolfo wird von seiner Mutter nach Hause zurück gerufen, erkennt in Ludwig seinen Sohn und heiratet Leocadia. 22 23 24

Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 125. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 125. Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 16), Vorrede, Bl. )( 8r. Vgl. dort auch das ausführliche Zitat.

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Wenngleich in Harsdörffers Fassung, wie gezeigt, die Geschichte um Informanten, Indizien und auch Katalysen reduziert wird, so legt diese Konzentration auf Kardinalfunktionen eine programmatische Grundsatzentscheidung des Erzählens bei Harsdörffer nahe, die seine Erzählungen zu Meisterstücken narrativer Sparsamkeit macht. Nachdem mit der Reduktion eines Prätextes ein wichtiges Strukturmoment der Erzählweise in den Schau=Platz-Sammlungen behandelt wurde, wird der Fokus nun auf die Erzählerrede und damit auf die Ebene der Erzählung und der Narration gelenkt. Wie angekündigt, interessieren hierbei vor allem die extradiegetische pro- und epimythische Ebene der expliziten Erzählerrede. Harsdörffers Erzähler unterbricht die Diegese immer wieder durch eingeschobene kurze Kommentare. Diese Erzählerkommentare können sich auf metanarrative Leserappelle beziehen. Sie können aber auch auf Ereignisse der Diegese und Handlungen der Figuren bezogen sein, wie im Moment von Rudolfs Reue, der Leocadia nach begangener Tat an einen anderen Ort wünscht, »massen dergleichen Suende mit der Reue und dem Abscheuen verbunden ist«.25 Während solche Kommentare in Form von narrativen Pausen die Diegese immer wieder anhalten und teilweise reflektieren, sind die pro- und epimythischen Erzählerkommentare anderer Art. In ihnen werden die Diegesen mit Lehren verbunden, die sie zu aktualisieren haben. Die Geschichte wird in der Regung des Geblüts promythisch mit einem Sprichwort eingeleitet: »Die Liebe steigt untersich / und nicht uebersich.«26 Aus diesem werden nun Argumente deduziert, die das Thema beziehungsweise die Hauptlehre dieser Erzählung absichern sollen: Kein Gebot heisst die Eltern ihre Kinder lieben / weil solches ohne Gebot beschihet / zum andern trachtet der Mensch in diesem Leben nach nichts eiferiger / als nach der Unsterblichkeit / welche er gleichsam in seinen Kindern vorsihet / und ihme selbsten verheissen kan. Drittens ist die Ursache an den Kindern / welche wie fast alle Menschen gegen Gott dem himmlischen Vatter / undanckbar gesinnet sind gegen ihre Eltern / welche alles was von jhnen kommet / solt es auch das unvollkommenste Ding in der Welt seyn / mit blinder Liebe behertzigen. Ja es findet sich in jhrem Gemuet eine solche Regung des Gebluets / wann sie die lieben jhrigen / auch unbekanter Weise ansehen / daß jhnen das Hertz saget / was sie nicht wissen wie auß nachgesetzter Erzehlung zu ersehen seyn wird.27

Die Diegese soll demnach die bedingungslose Elternliebe exemplarisch darstellen. Doch ist dies nur eine (mögliche) Lehre, die der Erzähler aus der Geschichte schließt. Zum Ende der Erzählung greift er den extradiegetischen Rahmen wieder auf, nun nicht mehr aus einem Sprichwort, sondern aus der Geschichte selbst eine weitere Lehre deduzierend. Die Heirat von Leocadia und Rudolf veranlaßt

25 26 27

Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 125. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 124. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 124.

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die Erzählinstanz zu der Vermutung, »daß also wahr scheinet / daß der die Erste Blum der Jungfernschafft abbricht / bey der verunehrten Person leichtlich wider zu Gnaden kommet / und sie ihme die Zeit ihres Lebens nicht abhold seyn koenne«.28 In diesem Epimythion wird nun nicht mehr die Geblütsregung bewiesen, sondern ein nach der Carolina geltendes Recht. Stellt die Diegese in Bezug zum Promythion ein dieses deduktiv beweisendes Exempel dar, so nähert sie sich nun in Bezug auf das Epimythion dem Kasus an.29 Die Grenzen zwischen Exempel und Kasus sind nicht trennscharf zu ziehen. Diese pro- und epimythische Rahmung der Diegese wird ebenfalls in den Vorreden zu den Schauplätzen als programmatisch ausgewiesen. Denn: »[W]as aus einer jeden Erzehlung zu ersehen und zu lernen ist theils Anfangs / theils zu Ende derselben bemeldet«.30 Diese konzeptionelle Grundbedingung gilt für alle Schau=Platz-Erzählungen gleichermaßen. Wie eingangs bemerkt, wurde von der Forschung immer wieder der Versuch unternommen, in beiden Erzählsammlungen voneinander unabhängige Werke zu sehen. Beachtet man jedoch allein die beiden im bisherigen Rahmen besprochenen Erzählstrategien, läßt sich eine konzeptionelle Trennung der Erzählsammlungen kaum mehr rechtfertigen. Vielmehr sollte danach gefragt werden, woher die gemeinsamen Grundlagen dieser beiden Momente (die funktionale Reduktion eines Prätextes und die Kombination der Diegese mit extradiegetischen Erzählerkommentaren) einer Erzählstrategie kommen. Das Muster für diese Erzählweise wird in den Frauenzimmer Gesprächspielen sukzessive entwickelt. Im folgenden Kapitel soll das dort diskutierte Erzählverfahren rekonstruiert werden, welches für die 400 Schau=Platz-Erzählungen gilt. 3. Das Erzählen von Geschichten wird immer wieder zum Diskussionsgegenstand zahlreicher Gesprächspiele gemacht. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen

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Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), Tl. II, Nr. 135, S. 128. Zu dem Status der Vergewaltigung als Ehrenraub in der Carolina vgl. Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, S. 63–96, bes. S. 69–71. Da Vergewaltigung in der Frühen Neuzeit als Ehrenraub bewertet wurde, war die Heirat mit dem Peiniger daher oft die einzige Möglichkeit für eine Frau, ihre Ehre wiederherzustellen. André Jolles sieht in der kleinen Form des Kasus eine aus Rechtsfällen entwickelte Gattung, in der vor allem Widersprüche und Gegensätze zwischen Rechtsnorm und moralischem Rechtsempfinden thematisiert werden. Vgl. André Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz. 8. Aufl. Tübingen 2006, S. 171–199, sowie Hermann Bausinger: Kasus. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke, Hermann Bausinger u. a. Berlin u. a. 1993, Bd. 7, Sp. 1025–1027. Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte (wie Anm. 16), Vorrede, Bl. )( 8r.

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taucht auch Cervantes Novelle La fuerza de la sangre, wie eingangs angekündigt, auf. Zunächst sind die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen der Gesprächspiele-Fassung und der der Lust= und Lehrreichen Geschichte zu benennen. Der Gesprächspieler Degenwert von Ruhmeck erzählt Cervantes’ Geschichte unter dem Titel Die Gebluetsregung im Rahmen des 65. Gesprächspiels Die Tapezereien. Degenwert, der verständige und gelehrte Soldat, als der er im Figurenverzeichnis vorgestellt wird, versucht damit auf die gestellte Aufgabe zu antworten: Erzählungen respektive Historien zur Grundlage von Wandteppichen oder Tapeten zu machen. Hierfür werden merkwürdige und wahre Geschichten gefordert, »welche sonderlich in wuercklichen Handlungen / (und nicht etwan in zierlichen Worten bestehen /)«.31 Das Gesprächspiel thematisiert nicht mehr die Exemplarizität der Geschichte in Bezug zur Sittenlehre, sondern ihre Zeichenhaftigkeit und Interpretierbarkeit im Rahmen semiotischer Transformation: Im Zentrum des Spiels steht die Frage danach, wie sich Historien vom sprachlichen ins graphische Zeichensystem übertragen lassen. Entsprechend dieses Interesses wird die Möglichkeit der auf Zeichenbedeutungen gründenden Lesbarkeit der Welt innerhalb der Diegese von Degenwert stärker pointiert. Das Medium ›Teppich‹ fungiert nicht nur im Gesprächspiel, sondern auch in der Erzählung als ein räumliches Memorialzeichen.32 Degenwerts Erzählung inszeniert das Medium ›Wandteppich‹ selbst als Merkzeichen, mit dessen Hilfe Leocadia das Zimmer, in welchem sie vergewaltigt wurde, als Tatort identifizieren kann. In Bezug auf die Kontextualisierung der Geschichte im Rahmen des Gesprächspiels wird von Degenwert gefordert, daß bei der Transformation eines Erzählstoffes in ein Wandbild drei Bedingungen zu beachten sind: Daß (1.) die Geschichten kein »Fabelwerck« sind, »sondern von waaren / neulich beschehenen Historien handeln«, daß sie (2.) eine »Tugendlehr« enthalten und daß (3.) »ein guter Mahler seinen Verstand darinn erwiesen / und mit geschickter Hand / das Werck meisterlich (nach kluger Anweisung deß Erzehlers) verfertigen koenne«.33 Die erste Forderung löst die von Degenwert erzählte Geschichte ein, weil sie »nichts anders [ist] / als eine Erzehlung einer Maehr / mit welcher Art Gespraechen sich die Spanier / Jtalianer und Frantzosen so sehr belustigen«.34 In einer Marginalie wird diese Erzählweise als »[i]l novellare« bezeichnet.35 Und wie in den Novellensammlungen, auf die hier Bezug genommen wird, üblich, hat auch Die Ge31 32

33 34 35

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 109. Zur Rolle der memoria in Harsdörffers 65. Gesprächspiel vgl. Elmar Locher: Hypotypose und memoria in der Ästhetik Harsdörffers. In: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechnik vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Hg. v. Jörg Jochen Berns u. Wolfgang Neuber. Wien u. a. 2000, S. 67–88, bes. S. 79–81. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 116. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 117. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 117.

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bluetsregung eine merkwürdige und wahre Geschichte zu sein. Im Verlauf des Gesprächspiels trägt jeder Mitspieler im geselligen Kreis eine andere Geschichte vor, so daß zwischen einzelnen Erzählungen Überleitungen notwendig werden. Diese Überleitungen enthalten Lehren und Kommentare, die mit einer dargebotenen oder folgenden Erzählung verbunden werden. Degenwerts Erzählung soll beispielsweise – analog zur Fassung der Lust= und Lehrreichen Geschichte – die anerkannte Meinung belegen, daß »das Gebluet [nicht] treugt«. Zum Ende der Erzählung wird die mit der Diegese zu verbindende Lehre, »daß Eingangs erwaehntes Sprichwort waar und gewiß ist: Das Gebluet treugt nicht / oder wie man sonsten sagt: Das Gebluet trinnt allezeit zusammen«,36 erneut bestätigt. Damit wird der zweiten oben erwähnten Forderung Rechnung getragen, daß die Geschichte als Exempel einer Tugendlehre zu dienen hat. Die dritte Bedingung wird am Beispiel einer anderen im Kreise des Gesprächspiels dargebotenen Erzählung diskutiert, so daß in bezug auf Die Gebluetsregung nur spekuliert werden kann, welche Elemente der Erzählung auf den Teppich übertragen werden könnten: Betrachtet man aber die beispielhaft in Teppichbilder umgesetzte Erzählung Eines wachenden Traum37, so fällt auf, daß jeweils signifikante mit Kardinalfunktionen verbundene Ereignisse ausgewählt wurden, die als Indizes für eine ganze Sequenz fungieren. Es gibt kleinere und größere Modifikationen zur Schau=Platz-Fassung etwa in bezug auf die Namen der Figuren. Rudolf trägt in Degenwerts Fassung den Namen Maximilian, sein Vater bleibt namenlos. Ebenso ohne Namen bleibt Leocadias Sohn. Das Kind wird nicht auf der Pferderennbahn, sondern beim Spielen auf der Straße von einem durchgegangenen Pferd seines ihm unbekannten Großvaters verletzt. Auch Stefania wird in der Diegese nicht namentlich erwähnt. Degenwerts Fassung trägt dem Primat der brevitas noch größere Rechnung als die Schau=Platz-Fassung. Cervantes’ Einleitung in die Geschichte wird von Degenwert auf wenige Zeilen reduziert: Ein armer Edelmann zu Toledo in Hispanien / ist Abends mit seinem Weib und erwachsenen Tochter / an den Wasser gespatziret / den kuehlen Lufft zu suchen. Jn dem komt ihm entgegen ein fuernemer Herr / genannt Maximilian / […].38

In dieser Fassung bleiben lediglich noch die von Informanten oder Katalysen entkleideten Kerne zurück. Auch werden keine metaphorischen Anklänge an den Prätext gemacht, wie dies in der Schau=Platz-Fassung mit der Wolfs-Analogie noch der Fall ist. Diese Forcierung der Reduktion der Barthschen Funktionen eines Prätextes mag man dadurch erklären, daß der Kontext des Gesprächspiels von einer Erzählung den ephemeren Charakter von Spontaneität und Oralität

36 37 38

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 136. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 130–132. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 65, S. 132f.

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erfordert. Die Gebluetsregung mag daher wie eine aus dem Stegreif erzählte Geschichte wirken. Doch führt dies nicht an der Tatsache vorbei, daß auch er die im Prätext vorhandenen Makrosequenzen penibel einhält. Selbst seine sehr kurze Erzählung wird durch die oben genannten vier Sequenzen strukturiert. Trotz solcher Transformationen und einer unterschiedlichen Kontextualisierung der Erzählsituation, die möglicherweise die Ansicht nahe legen, in beiden Fassungen unterschiedliche Erzählungen zu sehen, greifen beide Narrationen auf dasselbe Verfahren zurück, das im folgenden beschrieben werden soll. Zunächst ist der Blick auf solche Spiele zu richten, die ihrerseits Erzählungen zum Zwecke einer Tugendlehre thematisieren. Dann wird diskutiert, wie diese Geschichten mit Kommentaren verbunden werden können, um die Diegese direkt mit einer Didaxe im Erzählprozeß zu koppeln. Die oben geäußerte zweite Bedingung der inventio eines Wandteppichs, daß die Historie in einen Bezug zur Tugendlehre zu setzen ist, wird auch im 47. Gesprächspiel Vom Verlangen aktualisiert. Dieses Spiel ist ein Argumentationsspiel. Von den Spielern wird gefordert, zu einem vorgegebenen Thema Stellung zu beziehen. Der alte Hofmann Vespasian gibt die Spielregel vor: Man gibt einer jeden Person einen gewissen Namen einer Tugend oder eines Lasters / ja auch wol alles beides / als wann ich gebe Frauen Julia / die Bestaendigkeit: Herrn Reymund die Kuenheit / Jungfrauen Angelica den Geitz / oder Reichthum / Gesparsamkeit / H. Degenwert die Tapferkeit / Jungf. C.[assandra] die Maessigkeit / und dergleichen. Nun sage ich / daß mein groestes Verlangen sey / gute und neue Buecher zu lesen / und gedenke darbey / daß darzu vonnoethen eine sonderliche Bestaendigkeit / und beharrlicher Fleiß.39

Die Stellungnahmen müssen nicht die Meinungen der jeweiligen Spieler wiedergeben, sondern werden durch zuvor festgelegte Eigenschaften bedingt, die die Sprecher zu berücksichtigen haben. Der erste Argumentationslauf ist schnell beendet, woraufhin Reymund das Wort ergreift und fordert, daß man das Spiel nicht nur auf Argumente, sondern auch auf Geschichten münzen könne, die so zu wählen sind, daß sie zu den genannten Tugenden und Lastern passen: Daher gehoeret auch / daß man nach Austheilung der Tugenden und Laster einem jeden auferlegt / eine Geschicht oder Liebsgedicht zu erzehlen: Da dann / wann dieser oder jener Tugend gedacht wird / dasselbe so bald sagen muß: Das muesse ich mir zu / oder dergleichen. Vnd daher gehoeren viel Buecher / so auß fremden Sprachen / von Schaefereyen / Liebsgedichten / Heldengeschichten / u. d. g. in unsere Teutsche Sprache uebersetzet worden.40

Im letzten Band der Gesprächspiele erinnert Angelica dann noch einmal daran, daß es »[d]ie gemeinste Art der Erzehlung ist / daß man von einer Tugend 39 40

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. I, Nr. 47, S. 253. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 47, S. 254.

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oder eines Lasters Eigenschaft unterschiedliche Geschichte hoeren laesst«.41 Die Lehren können nun mit der Diegese unterschiedlich kombiniert werden: Sie können einerseits direkt auf die Handlungen der Figuren Bezug nehmen, wie dies unter anderem im obigen Gesprächspiel der Fall ist, oder sich auf mehrere hintereinander geschaltete Diegesen beziehen, wie dies von den sogenannten Reyen-Erzählungen erwartet wird. Sie können aber auch in ein Gleichnis überführt werden, beispielsweise in ein Sprichwort oder in ein Rätsel, als dessen tertium comparationis die Diegese dann fungiert. Vespasian erinnert sich: Neulich ist bey einer Erzehlung von den Sprichwoertern gefraget worden / auf welches sonderlich das Absehen sey gerichtet worden. Fast dergleichen / will ich von Raethslen [sic] dergestalt aufgeben / daß jedes in der Gesellschaft / aus meinem Worten eine Raethsel / oder verborgene Frage zu ersinnen schuldig seyn sol.42

Nicht die Diegese steht im Zentrum dieses erzählerischen Verfahrens, sondern ihre geistreiche Kommentierung unter Berücksichtigung verschiedener Textsorten. ›Erzählen‹ wird somit auch zur Demonstration einer ingeniösen Textsortenkombinatorik. Daß nicht mehr die Geschichte selbst im Mittelpunkt des Erzählens steht, wird im Fall der Reihen-Erzählung evident. Hier gibt es gar keine festgelegte Diegese mehr. Sie wird vielmehr, wie im 230. Gesprächspiel, im Verlauf des Erzählens aus den zu suchenden Lehren entwickelt. Jch will aber eine Reyen=Erzehlung dergestalt anfangen / daß iedesmals das Folgende eine Frage daraus aufgeben / und in dem von selber geredt wird / sich auf die Fortsetzung der Erzehlung bedenken sol: und also die gantze Gesellschaft das von mir angefangene zu vollenden erbitten.43

Dieses komplexe Erzählverfahren soll an Cassandras Beitrag kurz erläutert werden. Sie fordert ihre Mitspieler auf, aus einer von ihr begonnenen Geschichte Kommentare und Lehren zu deduzieren, die dann die weitere Diegese beeinflussen sollen und beginnt ihre Geschichte: Ein Soldat / welchen ich Leon nennen will / hatte sich in einer Statt / so man Streitburg nennen koente / wohnlich niedergelassen / willens sein im Krieg erworbenes Gutlein mit Ruhe zu geniessen. Einsmals / als er sich mit dem Trunk beladen / hat

41 42

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VIII, Nr. 288, S. 262. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, Nr. 135, S. 271. Zu Harsdörffers Theorie des Rätsels vgl. die Anhänge Sjmson I und II von Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (1650– 1651). Nachdruck der Ausgabe 1659 hg. v. Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, S. 369–374 u. Tl. II, S. 395–398 (jeweils nach neuer Paginierung), sowie Hans-Joachim Jakob: »Damit der Rähtselliebende Leser sich so viel leichter darein finden könne«. Harsdörffers Rätseltheorie in den Paratexten von Nathan und Jotham. In: HarsdörfferStudien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a 2006, S. 213–226. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, Nr. 234, S. 247.

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er mit etlichen von Adel / sich in einen Streit eingelassen / und nachdem es von den Worten zu Streichen kommen / zween von den vornemsten / Balthasar und Armin genenet / verwundet / daß er aus Furcht der Gefaengniß / sich von dar hinweg begeben / und fluechtig gehen muessen / wiewol er auch nicht wenig beschaediget worden / und wie er ihm eingebildet / zu seiner gerechten Sache / die besten Stoesse darvongetragen hatte.44

Cassandras Geschichte wird an dieser Stelle von Frau Julias Frage unterbrochen, »[w]aruem ein jeder uber seinen Wahn / und seiner Meinung eifere?« Die Mitspieler antworten abwechselnd auf diese Frage, bis die Reihe wieder an Julia ist, die nun ihrerseits mit der Geschichte fortfährt. Im Laufe dieses Gesprächspiels übertrifft die Exegese die Diegese deutlich. Schließlich fordert Julia ihre Mitspieler noch zu einer Wechsel-Erzählung auf, in der die soeben erprobten Textsorten miteinander kombiniert werden. »Meine Erzehlung sol dergestalt behandelt werden / daß H. Vespasian daraus ein Sinnbild / Jungfrau Cassandra eine Lehre / H. Degenwert einen Letterwechsel / Jungfrau Angelica ein Spruechwort / und H. Raymund eine Bemerkung beybringen sol.«45 Im Verlauf der Gesprächspiele, die Erzählweisen thematisieren, ist eine zunehmende Komplexität festzustellen. Zunächst wird von jedem Spieler gefordert, zu einer Geschichte nach vorher festgelegten Standpunkten Stellung zu beziehen. Doch die Kommentierungsweisen werden, wie gesehen, von Spiel zu Spiel komplexer. Die zunächst nur einer Tugend oder einem Laster zugeordnete Meinung, wird durch Textsorten wie Lehren, Sentenzen, Sprichwörter u. ä. ersetzt, die schließlich dazu verwendet werden, eine Diegese spontan weiterzuentwickeln. An Komplexität wird dieses in den sogenannten Wechsel-Erzählungen erprobte poetische Verfahren nur noch im 288. Gesprächspiel übertroffen. Vespasian kündigt dort an, eine Erzählung zu geben, die mit unterschiedlichen Textsorten kommentiert werden soll – und zwar ausdrücklich während des Erzählaktes. Diegese und Didaxe sollen einander abwechseln: 13. V. Aus folgender meiner Erzehlung sol Fr. Julia bemerken die Lehren. H. Degenwert die Sinnbilder. Jungf. Cassandra die Sprichwoerter. H. Reymund die Raehtsel. Jungf. Angelica sol die Redarten / welche ihr etwan gefallen / bemerken / oder eine Gleichniß anfuegen. 14. J. Nun wir wissen / was wir thun sollen / erwarten nur Bericht / ob solches alles nach vollendter Geschicht / oder zwischen derselben Erzehlungen beygetragen werden muß. 15. V. Damit ich nicht zu einer beharrlichen Rede verbunden seye / bitte ich erstbesagte ihre Anmerkungen einzuschalten.46 44 45 46

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, Nr. 234, S. 247f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, Nr. 248, S. 430. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VIII, Nr. 288, S. 263f.

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Diegese und Exegese fallen im Erzählakt zusammen. Die bislang in den einzelnen Gesprächspielen diskutierten poetischen Verfahrensweisen werden von Vespasian nun in einer einzigen Narration integriert. Dabei greift er auf die Momente zurück, die schon in den Schau=Plätzen zu beobachten waren: eine Reduktion der Diegese auf Kardinalfunktionen, die Einhaltung der Chronologie der Geschichte sowie die Vermeidung von internen Fokalisierungen und direkter Rede. Die Kommentare der Mitspieler unterbrechen die Narration immer wieder wie gefordert. Diese Stellungnahmen substituieren die möglichen Katalysen und Informanten, indem sie die Abstände der Kerne erweitern. Sie korrespondieren mit den Erzählerkommentaren, die die Diegesen der Schau=Platz-Erzählungen unterbrechen. Beide Fassungen von Cervantes’ La fuerza de la sangre mögen auf den ersten Blick wie unterschiedliche Erzählungen in unterschiedlichen Kontexten erscheinen. Beiden liegt jedoch dasselbe Verfahren zugrunde, das in den Gesprächspielen schrittweise entwickelt wird und das als ein erzählerischkombinatorisches Verfahren von Diegese und Didaxe bezeichnet werden kann. Abschließend ist nun der Frage nachzugehen, welche Implikationen aus diesem poetischen Verfahren gezogen werden können. Im Rahmen der Gesprächspiele trägt es zweifelsohne zur Schulung des Kommunikationsvermögens der Mitspieler bei. Dort werden mit den Aufforderungen zum Kommentieren der Diegese die Mitspieler direkt angesprochen. In den Schau=Platz-Erzählungen ist diese dialogisch-szenische Erzählsituation nicht gegeben. Es wird daher im folgenden vor allem nach der Beziehung zwischen dem fiktiven Erzähler und dem fiktiven Adressaten zu stellen sein. 4. An zahlreichen Stellen appelliert die Erzählinstanz der Schau=Plätze an die Urteilsfähigkeit des fiktiven Adressaten, die Geschichte selbst zu kommentieren: »Was nun hiervon zu halten / stellen wir dem Leser zu fernern Nachdencken / welchen wir in diesem / wie allen unsern Sachen zu einem Richter machen / uns seines guten und verstaendigen Urtheils versicherend.«47 Der fiktive Leser soll in diesem Fall die epimythische Lehre selbst erbringen. Diese Leserappelle der Erzählinstanz, die pro- oder epimythische Kommentierung der Geschichte zu übernehmen, lassen sich in beiden Schau=Platz-Sammlungen beobachten.48 Der Leser wird zu einer ethisch-moralischen Stellungnahme gegenüber der erzählten Geschichte ausdrücklich aufgefordert und rückt damit in gewisser Weise an die Stelle eines der Gesprächspieler. 47 48

Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 2), Tl. II, Nr. 105, S. 22. Zum Beispiel in der 50., 129. und 154. Erzählung der Jämmerlichen Mordgeschichte und der 8., 20., 37., 48., 51., 59., 81., 102., 109., 111., 168., 183. und 198. Erzählung der Lust= und Lehrreichen Geschichte.

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Zur Beurteilung einer Geschichte stehen dem Leser unterschiedliche Möglichkeiten zur Verfügung. Auf eine wird er vom Erzähler hingewiesen: »Es haben die Spanier und Frantzosen im Gebrauch / daß sie wunderseltzame Titel ueber ihre Erzehlungen setzen / den Leser darzu aufzumuntern / und zu fleissiger Bemerckung anzureitzen.«49 Der Titel einer Erzählung legt den semantischen Spielraum für ihre Kommentierung fest und fungiert damit als Lemma. In beiden besprochenen Fassungen von Cervantes’ La fuerza de la sangre, sowohl in der Regung des Gebluets als auch in der Geblütsregung, fungieren die Titel zumindest teilweise als Lemmata. Mit weiteren Lemmata sind die Register beider Erzählsammlungen angefüllt. Der Leser kann über diese Register ein entsprechendes Lemma suchen und in Sekundenschnelle zur seiner Aktualisierung in der jeweiligen Erzählungen navigieren. Die auf Die Regung des Gebluets im Register verweisenden Lemmata sind: »Jungfrauschaft Rauber«, »Keuschheit […] gleich dem verschlossenen Brief«, »Der Kinder Liebe gegen die Eltern«, »Lavinia Geschichte«, »Luegen […] gleich dem Glas«, »Menschen […] ihr Leben ist ein Spiel« und »Schande ist zwar zu dulden«. Die Anordnung dieser in den Registern enthaltenen Lemmata ist nur auf den ersten Blick eine alphabetische. Dahinter eröffnet sich eine topische Ordnung, die durch die Auslassungszeichen hier nur angedeutet werden kann. Das Lemma »Menschen« beispielsweise besitzt neben dem erwähnten »ihr Leben ist ein Spiel« noch weitere Topoi: »Menschen den Schweinen gleich CXXV. 9. koennen ihn nicht lassen wol seyn CLXIII. 12. ihr Verstand CLXVII. 7.«50 Nicht die Titel der 400 Erzählungen strukturieren die Register, sondern die aus ihnen deduzierten Topoi. Dank der Abschnittszählung einer jeden Erzählungen lassen sich die Topoi rasch unter den 400 Erzählungen auffinden. Harsdörffer ist nicht der einzige Literat, der seine Erzählungen über solche Register erschließbar macht. Ähnlich verfährt auch Martin Zeiller in seiner Übersetzung von François Rossets Theatrum tragicum (1628). Diese Erzählsammlung wird ebenfalls mit einem umfangreichen Register beschlossen, das zugleich alphabetisch und topisch strukturiert ist. Zeiller verzichtet bei seinen Erzählungen jedoch auf eine Absatzzählung, so daß die im Register gesammelten Lemmata lediglich auf die Druckseiten verweisen. Ganz in der rhetorischen vir bonus-Tradition exzerpiert und verschlagwortet Harsdörffer nicht nur seine Prätexte, sondern auch seine Erzählungen konsequent nach den loci a persona und den loci a re.51 Die Erzählungen, die im Rah49 50 51

Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 2), Tl. I, Nr. 48, S. 167. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 2), Tl. II, Inhaltsregister, Bl. Dd iv. Man kann sich vorstellen, wie die verschlagworteten Exzerpte in ›Karteikästen‹ wanderten. Den Nutzen dieser Archivierungstechnik beschreibt Harsdörffer im dritten Teil der Erquickstunden; vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Philosophicae et Mathematicae Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil (1653). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, S. 57–59 (»Wie die Register in die Buecher / ohne große Muehe / machen?«). Berns hat ihre Bedeutung hinsichtlich der

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Stefan Manns

men der Erzählsammlungen zunächst mehr oder weniger willkürlich angeordnet zu sein scheinen, erfahren durch ihre Verfügbarmachung mit Hilfe der Register eine nachträgliche Strukturierung. Die Nachbarschaften der Topoi haben zur Folge, daß begriffliche Paradigmen nebeneinander überblickt und rezipiert werden können. Sie bieten dem Benutzer der Erzählsammlungen die Möglichkeit, die Listen nach eigenen argumentativen Notwendigkeiten im ursprünglichen Wortsinn zu ›plündern‹ und für die eigene Argumentation fruchtbar zu machen. * Zusammenfassung: Georg Philipp Harsdörffer stellt ein Glücksfall für die historische Erzählforschung dar, weil bei ihm die Produktionsweise seiner Texte gut zu studieren ist. Seine Frauenzimmer Gesprächspiele erweisen sich auch für die Schau=Plätze als der zentrale Text, in dem für das Erzählen bei Harsdörffer mustergültige Erzählverfahren entwickelt und erprobt werden. Element dieser Verfahren ist eine Kombinatorik von textsortengebundenem (Erzähler-)Kommentar und Geschichte, die eine enge Verbindung von Diegese und Didaxe anstrebt. Textsorten wie Sprichwörter, Sentenzen, Lehren u. ä., die bereits auf den Titelblättern beider Erzählsammlungen als für das Erzählen programmatisch markiert werden, binden spezielle Argumente, die aus der Diegese deduziert werden. Nicht selten wird der Leser zu dieser Schlußfindung vom Erzähler explizit aufgefordert. Gleichzeitig stellen ihm die Register bereits aus der Narration deduzierte Argumente bereit, die der Rezipient über ein spezifisch topisches Verweissystem in den entsprechenden Erzählungen auffinden kann. Erzählen impliziert bei Harsdörffer somit zwei grundlegende Momente: Zum ersten macht es ein Arsenal von Argumenten und Lehren verfügbar, das für andere Textproduktionen nutzbar gemacht werden kann. Der Rezipient findet über die Register diejenigen Topoi, die er für neue Argumentationszusammenhänge braucht. Damit kann das Erzählen in den Dienst einer christlichen Tugendlehre gestellt werden. Es zeichnet sich durch eine spezifische Struktur aus, die als Ökonomie narrativer Sparsamkeit bezeichnet werden kann. Dazu gehören eine distributionelle Präsentation der Geschichte, die Tendenz zur Reduktion auf Kardinalfunktionen, die Einhaltung der Chronologie der Erzählung, ein nullfokalisierter Erzähler, der in einen direkten Dialog mit dem fiktiven Adressaten unterhält sowie weitgehend der Verzicht auf interne Fokalisierungen und direkte Rede. Zum zweiten erweisen sich Erzählerkommentare und Register der Erzählsammlungen als zwei Pole ein und desselben Verfahrens, auf das entweder mit produktions-

kombinatorischen Verfahrensweise bei Harsdörffer an verschiedenen Orten beschrieben; vgl. zuletzt: Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 55–83.

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oder rezeptionsästhetischem Interesse zurückgegriffen werden kann. Diese in den Erzählsammlungen angelegte Textpragmatik steht im Zusammenhang mit einer sozialen Schlüsselkompetenz des 17. Jahrhunderts, die auszubilden die Erzählsammlungen half: Der angemessenen, galanten Selbstpräsentation innerhalb der sozialen Kommunikation einer Gruppe, deren Zugehörigkeit man sich auf diese Weise sichern konnte.

Gesa Dane

Rechtsgefühl, poetische Gerechtigkeit und Wahrscheinlichkeit Georg Philipp Harsdörffers Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte

Georg Philipp Harsdörffers Anthologien Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte1 und Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte2 richten sich an ein breites Publikum, wie »privat Personen« und »gemeine Leute«, einen Personenkreis, der »zu einem ehrlichen Wandel […] Tugendexempel [...] von nöthen« hat.3 Folglich finden sich auch Erzählungen, in denen Standespersonen als Privatpersonen eine Rolle spielen, sind doch Laster und Tugenden in allen Ständen gleichermaßen vertreten. Die große Zahl der Nachdrucke belegt das Interesse der Zeitgenossen an diesen Anthologien, ein Interesse an den Mißgeschicken und Übeltaten, die dort narrativ ausgebreitet werden, aber auch daran, wie diese Konflikte erzählt und gedeutet werden.4 Harsdörffer gehört zu den zahlreichen Dichterjuristen in der deutschen Literatur, wie beispielsweise auch Andreas Gryphius, Daniel Casper von Lohenstein und Heinrich Leopold Wagner, Gottfried August Bürger, Johann Wolfgang von Goethe und Heinrich von Kleist. Als Jurist war Harsdörffer in verschiedenen Funktionen innerhalb der Nürnberger Gerichtsbarkeit tätig, zunächst als Assessor, dann als Mitglied im Inneren Rat des Patriziats.5 Wenn er Rechtsfälle oder Fälle moralischen Verfehlens in seinen Erzählungen exponiert und behauptet, diese hätten »so sich theils zu unsrer Väter theils zu unsern Zeiten begeben«6, so

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Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten (1649–1650). Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1664. Hildesheim u. a. 1978. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 8. Die Schau=Plätze erfuhren mindestens sechs Neudrucke. Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele und der Poetische Trichter wurden nur ein- bzw. zweimal neu gedruckt; vgl. Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers Schauplätzen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 313–331, hier S. 313f. Vgl. Adalbert Wichert: Literatur, Rhetorik und Jurisprudenz im 17. Jahrhundert. Daniel Casper von Lohenstein und sein Werk. Eine exemplarische Studie. Tübingen 1991, S. 240ff. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 3.

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stellt sich nicht nur die Frage, unter welchen poetologischen, sondern auch unter welchen juristisch-anthropologischen Prämissen er diese Fälle erzählt. Harsdörffer behauptet, die von ihm erzählten Verbrechen und lasterhaften Taten hätten sich tatsächlich zugetragen, er habe sie lediglich übersetzt.7 Er arrangiert und erzählt seine Geschichten stets so, als habe sich das Geschehen vor nicht allzu langer Zeit zugetragen und könne sich jederzeit wiederholen. Die Handlungen spielen an wiedererkennbaren Orten in Europa, vornehmlich in Italien, Spanien oder Frankreich. Auf diese Weise authentifiziert er das Erzählte, um ihm größere Wirksamkeit beim Leser zu geben. Was als wirklich erscheint, hat für ihn eine stärkere Wirkung als das, was lediglich erfunden ist. Belehrung, so Harsdörffer, sollte nicht ausschließlich durch Fabeln oder »ferne Gleichnisse«8 erfolgen, man könne auch aus den Schicksalen anderer Menschen, wie er sie in seinen Erzählungen aufbereite, seine Lehren ziehen. Der Mensch sei nun einmal so »beschaffen / daß er durch Bestraffung der Bösen mehr beweget wird / als durch Belohnung der Frommen«9, so formuliert Harsdörffer es programmatisch in der Vorrede seiner Sammlung. Wie im höfisch-historischen Roman findet sich auch in den Jämmerlichen Mordgeschichten ein Sachregister, in dem schlechte Eigenschaften, Untaten und Verbrechen aufgelistet werden, mit Verweisen auf die diese Tatbestände thematisierenden Erzählungen. Dieses Register ist ein einziger Katalog von schlechten Eigenschaften, von Lastern und Unglücksfällen, von Verbrechen wie Tötungshandlungen, Diebstahl und Notzucht.10 Alle Übeltaten werden am Ende aufgedeckt, jede hat ihre fatalen Konsequenzen, besonders für die Täter. Wenn ein Täter sich der Gerichtsbarkeit entzieht, wird das narrative Geschehen in einer Weise arrangiert, daß anstelle der juristischen die poetische Gerechtigkeit eingreift. Die Welt, das theatrum mundi, so läßt sich schließen, ist letztlich gerecht eingerichtet. Keine der Untaten wird ausschließlich als Exempel um der Abschreckung oder der Nachahmung willen erzählt, vielmehr demonstrieren alle Erzählungen, auf welch vielfältige Weisen Gerechtigkeit realisiert werden kann. Harsdörffer ist als »deutscher Dichter und europäischer Gelehrter«11 sowie als »enzyklopädischer Kosmopolit«12 bezeichnet worden. In der Tat hat das

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Vgl. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 8. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 7. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 4. Auch das Inhaltsverzeichnis des ersten Teils zeigt, was hier erzählerisch angeprangert wird – Geiz, Raub, sexuelle Ausschweifung: Der unglückselige Geizhals, Die verwundete Keuschheit, Der stinckende Hurenhengst, Der Freyer in allen Gassen, Die beraubten Räuber (vgl. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 1], S. 3). So eine Formulierung von Italo Michele Battafarano: Vorwort. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 5f. Markus Hundt: »Spracharbeit« im 17. Jahrhundert. Studien zu Georg Philipp Harsdörffer, Justus Georg Schottelius und Christian Gueintz. Berlin u. a. 2000, S. 158.

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zeitgenössische Wissen aus ganz unterschiedlichen Bereichen in sein erzählerisches Werk Eingang gefunden. Seine Bedeutung für die Kultur der deutschen Territorien im europäischen Kontext des 17. Jahrhunderts ist sogar mit der Martin Luthers verglichen worden.13 Zu Recht wird in den neueren kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Harsdörffer betont, daß dieser dazu beigetragen hat, neben den verschiedenen Wissensgebieten – von der Mathematik bis zu Astronomie und Geschichte – insbesondere gesellige Verhaltensweisen schichtenübergreifend zu popularisieren, so etwa das Ideal der honnetêté14 oder der courtesy15. Ehrbarkeit und Höflichkeit sind Verhaltenscodes, deren Nichtbeachtung oder grobe Verletzung unweigerlich unterschiedlichste Sanktionen nach sich ziehen. Höflichkeit und Ehre waren bereits zentrale Kategorien in den ständisch geordneten europäischen Gesellschaften vor dem 17. Jahrhundert. Wenn auch Höflichkeit stärker an höfische Verhaltensnormen zurückgebunden ist, so unterhalten die Normen von Ehre und Höflichkeit bei Harsdörffer doch insofern einen Wechselbezug, als unhöfliches Verhalten als ehrverletzend gedeutet werden konnte. Verletzte Ehre aber muß wiederhergestellt werden, da Ehre in allen Ständen von maßgeblicher sozialer Bedeutung für den Einzelnen ist. Ehre kann man für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts generell als »Achtung vor dem gleichgeordneten Rechtsgenossen«16 beschreiben. Zedlers UniversalLexicon führt unter dem Stichwort »Ehre« aus, diese sei die »Meynung andrer Leute, nach der sie einem Menschen einen Vorzug vor den andern beylegen. Diejenigen Mittel, dadurch ehrbegierige Gemüther einen Vorzug vor anderen zu suchen pflegen, sind unterschieden.«17 Diese Semantik des Begriffs ist bereits im 17. Jahrhunderts nachweisbar.18 ›Vernünftige Ehre‹ konnte durch ein tugendhaftes Leben erworben bzw. erhalten werden, was mit unterschiedlicher Gewichtung für alle Stände galt. Die Ehre einer Frau war an ihre sexuelle Integrität gebunden. 13

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»Luther übersetzte Gottes Wort in deutsche Sprache, Harsdörffer verdolmetschte das Novum der europäischen Kultur seiner Zeit für den gemeinen Menschen deutscher Zunge, sowohl femininen als auch maskulinen Geschlechts« (Italo Michele Battafarano: Vom Dolmetschen als Vermittlung und Auslegung. Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer – ein Sohn Europas. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 196–212, hier S. 200). Jean-Daniel Krebs: Harsdörffer als Vermittler des honnêteté-Ideals. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 287–311. Kenneth G. Knight: G. P. Harsdörffer’s Frauenzimmergesprächsspiele. In: German Life and Letters 13 (1960), S. 116–125. Robert Scheyhing: Ehre. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hg. v. Adalbert Erler. Berlin u. a. 1971, Bd. 1, Sp. 846. Ehre. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal Lexicon Aller Wissenschaften und Künste (1732–1754). Nachdruck Graz 1962, Bd. 5, Sp. 415. Vgl. Friedrich Zunkel: Ehre, Reputation. In: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. a. Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 1–63, bes. S. 23ff.

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In Harsdörffers Erzählungen treten alle Figuren als Träger von Ehre auf, selbstverständlich entsprechend ihres Status innerhalb der Ständegesellschaft. Von hier aus eröffnet sich ein weiteres Themenfeld, unter dem die Erzählungen von Harsdörffer zu lesen sind: Sie zielen auf eine Unterweisung in Fragen von Recht und Unrecht und zugleich auf die Modellierung des Rechtsgefühls ihrer Leser. Im Hinblick auf die einzelnen Verbrechen gilt, daß sich der moralischdidaktische Unterweisungscharakter der Erzählungen dann erschließt, wenn man alle thematisch zusammengehörenden Erzählungen als »Beispielreihen«19 miteinander vergleicht. Entsprechendes gilt auch für das Rechtsgefühl. Den Lesern soll das Zusammenwirken von weltlichem Recht und göttlicher Vorsehung immer wieder vor Augen geführt werden, die zuverlässige Macht der Vorsehung soll erkannt sowie das Vertrauen in deren beständiges Wirken und Eingreifen, wie vermittelt auch immer, bestärkt werden. Harsdörffer setzt die unbedingte Gültigkeit und Sinnhaftigkeit der bestehenden Rechtsnormen voraus, seine Erzählungen verfolgen das Ziel, die Leser für diese Rechtsordnung einzunehmen. Eine Rechtsordnung wird ja nur dann akzeptiert, wenn sie auch dem Rechtsgefühl derjenigen nicht grundsätzlich widerspricht, für die sie Geltung hat, was freilich nicht bedeutet, daß Gesetze immer eingehalten werden. Der Begriff ›Rechtsgefühl‹ ist von Heinrich von Kleist geprägt worden.20 Es ist gleichwohl kein Anachronismus, ihn auch für das 17. Jahrhundert zu verwenden. Wie andere Gefühle, ist das Rechtsgefühl keine ahistorische Konstante. Wenn auch das Rechtsgefühl zu Beginn des 21. Jahrhunderts von dem des 17. unterschieden ist, am augenfälligsten etwa hinsichtlich von Menschen- und Frauenrechten, so haben doch Menschen anderer Zeiten ebenfalls ein Rechtsgefühl besessen. In dieser Hinsicht sind Harsdörffers Erzählungen, besonders die im Jämmerlichen Schau=Platz, aufschlußreich, weil sie einen Einblick in die Versuche vermitteln, das Rechtsgefühl gezielt zu prägen. Harsdörffer lenkt seine Leser immer wieder auf das Zusammenwirken von irdischem Recht und ausgleichender Vorsehung in dem Gang der Ereignisse hin. Sie werden darin

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Winfried Theiß hat den Begriff ›Beispielreihe‹ für thematisch miteinander verbundene Erzählungen vorgeschlagen; vgl. Winfried Theiß: »Nur die Narren und Halßstarrigen die Rechtsgelehrte ernehren...«. Zur Soziologie der Figuren und Normen in G. Ph. Harsdörffers Schauplatz-Anthologien von 1650. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. a. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 899–916, hier S. 900. Mit Blick auf Erzählungen, die Vergewaltigung bzw. Notzucht thematisieren, vgl. Gesa Dane: »Zeter und Mordio«. Vergewaltigung in Literatur und Recht. Göttingen 2005, S. 175–185. »Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder« (Heinrich von Kleist: Michael Kohlhaas. In: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hg. v. Helmut Sembdner. 7. Aufl. München 1984, Bd. 2, S. 9). Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff von der Rechtswissenschaft übernommen. Dazu Christoph Meier: Zur Diskussion über das Rechtsgefühl. Themenvielfalt – Ergebnistrends – neue Forschungsperspektiven. Berlin 1986; FranzXaver Kaufmann: Rechtsgefühl, Verrechtlichung und Wandel des Rechts. In: Das sogenannte Rechtsgefühl. Hg. v. Ernst-Joachim Lampe. Opladen 1985, S. 185–199, bes. S. 187f.

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geschult, das Erzählte eben nach dieser Maßgabe zu deuten, was maßgeblich durch die emblematische Struktur der Erzählungen und deren spezifische Verbindung von Deutung und Darstellung unterstützt wird. Harsdörffers Sammlungen enthalten überwiegend Übersetzungen und Bearbeitungen, vornehmlich aus der französischen, italienischen und spanischen Literatur. Für seine Verfahrensweise im Umgang mit den Vorlagen mag ein exemplarischer Vergleich aufschlußreich sein. Die Erzählung Die keusche Märterin ist eine Adaption von La Chaste Martyr des französischen Geistlichen Jean-Pierre Camus (1582–1652), einem katholischen Bischof. Sie ist zunächst als Beweisführung für die unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffes ›Märtyrer‹ exponiert, wie die Eingangssentenz signalisiert,21 konzentriert sich dann aber auf das Thema der Bewährung einer Frau bei drohender Vergewaltigung. Harsdörffer kürzt seine Vorlagen, indem er insbesondere alle Informationen über die verschiedenen Ordensgemeinschaften streicht, mithin das, was dem französischen Katholiken wichtig, was aber für den protestantischen Nürnberger ohne Bedeutung war. Zudem fügt Harsdörffer einige kritische Bemerkungen ein, etwa wenn er das Leben im Kloster als »der Welt abgestorben«22 bezeichnet – entsprechend der protestantischen Kritik am Klosterleben. Grundsätzlich aber will er bei seiner Bearbeitung nach eigenem Bekunden nicht einseitig eine christliche Konfession zum »nachtheil anderer frommen Christen«23 bevorzugen. Seine eigene konfessionspolitische Haltung wird gleichwohl deutlich, wenn er Camus einen »Eifrer«24 nennt, obgleich dieser im Kontext der französischen geistlichen Debatten als ein »prélat réformateur«25 galt. 21

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Harsdörffer legt die Begriffe ›Marter‹ und ›Martyrium‹ weit aus, mit deutlichem Akzent auf den möglichen moralischen Ursachen für körperlichen und seelischen Schmerz: »Das Wort Marter wird nicht nur von denen gebraucht / welche ihr Leben wegen des Evangelii lassen und desselben Warheit mit ihrem Blut bezeugen«, hinzu kommen Schmerzen, die man erleidet, wenn man wegen »einer Tugend / oder in Vermeidung einer Sünde« getötet wird. Schließlich fallen unter ›Marter‹ »alle grosse Schmertzen / welche wir als Menschen / wie jene / als Christen ausstehen und leiden. Einen rechten Märter macht nicht der grosse Schmertzen / sondern desselben besagte Ursach« (Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte [wie Anm. 1], S. 316). Hier knüpft Harsdörffer fast wörtlich an die Vorlagen von Jean-Pierre Camus an: »Le Martyr ne s’entend pas seulement de peines ou de la mort que l’on endure pour le soutien des veritez que la foi nous enseigne; mais il estend encore á toutes les souffrances qui arriuent pour le maintient de quelques vertus que ce soit. Tous ceux que l’Eglise honore pour Matryrs ne sont pas morts pour auoir esté fermes en la creance, sans laquelle il n’est point de salut. Il y en a quelques – uns qu’elle honore de ce titre, qui ont souffert pour l’autre suiets« (Jean-Pierre Camus: Les Evenements Singuliers. Paris 1631, S. 255f.). Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 318. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 10. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 10. Zu Camus’ Haltung gegenüber Nicht-Katholiken und seiner Deutung der Häresie als Strafe für begangene Sünden vgl. Brunhilt Hartmann: Jean Pierre Camus. Erziehung und Erbauung in seinen Unterhaltungsschriften. München 1937, S. 121ff. u. 191ff. Camus, Jean-Pierre. In: Dictionnaire universelle des noms propres. Hg. v. Paul Robert. Paris 1974, Bd. 1, S. 493.

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Die Protagonistin von Die keusche Märterin wird, weil sie in ein Kloster eintreten will, von einem Mann, dem sie von ihrem Vater versprochen war, nach dem Kirchgang entführt. Als er versucht, sie zu vergewaltigen, verletzt sie sein rechtes Auge mit einer Haarnadel und verhindert so, daß es zum erzwungenen Geschlechtsakt kommt. Voller Wut erdolcht er sie daraufhin und flieht nach der Tat: »seinem bösen Gewissen aber hat er nicht entfliehen [mögen] / welches ihn auch ohne allen zweifel in endlichen unfall gestürzt haben wird«,26 so kommentiert der Erzähler. Der Untergang des Übeltäters erscheint unvermeidlich, seine Gewissenspein wird als sicher vorausgesetzt, ja bereits als Teil der Strafe gedeutet. Mit einem kritischen Kommentar bedenkt der Erzähler auch den Vater, der den ursprünglichen Wunsch der Tochter nicht respektiert hat: »Also hat Niso seine Tochter betraurt als er sie verlohren / und hette sie lieber der Welt abgestorben / als natürliches Todes verblichen wissen wollen.«27 In moralischer und juristischer Hinsicht haben Vater und Entführer gefehlt, bewährt hat sich hingegen die Tochter, die Keuschheit und Ehre erfolgreich geschützt hat, freilich unter Preisgabe ihres Lebens. Der Wert von Keuschheit und Ehre kann – nach zeitgenössischer Vorstellung – nicht hoch genug eingeschätzt werden, wie es etwa auch bei Hugo Grotius in Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens zu lesen war, wo die Keuschheit der Frau mit ihrem Leben gleichgesetzt wurde: »Dies ist kaum bestritten, da nicht bloß die allgemeine Stimme, sondern auch das Gesetz Gottes die Keuschheit dem Leben gleichstellt.«28 Der Protestant Harsdörffer teilt mit dem Katholiken Camus die hohe Wertschätzung der weiblichen Keuschheit, zu deren Verteidigung eine Frau sogar als unweiblich geltende Gewalt ausüben darf. Harsdörffer übernimmt aus der Vorlage sogar die weite Auslegung des Begriffs des Märtyrers, wenn er darauf hinweist, daß auch das Leiden um der Tugend und Keuschheit Willen märtyrerhaft sein kann und nicht nur derjenige als Märtyrer zu bezeichnen ist, der wegen seines Glaubens leidet.29 Hier wird erkennbar, daß unterschiedliche religionspolitische Optionen für die Autoren des 17. Jahrhunderts zwar höchst bedeutsam sind, es aber gleichwohl überkonfessionelle Anschauungen bezüglich vieler Normen und Werte gibt. Die Folgen von Ungehorsam und Übeltat sollen den Lesern von Harsdörffers Erzählungen emotional bewegen und eine rationale Einsicht befördern. Voraussetzung dafür ist, daß die erzählten Begebenheiten als wahr ausgegeben werden, mithin der Wahrscheinlichkeit und der Vernunft nicht widersprechen. Harsdörffers Wahrheitsbegriff knüpft an den der Wahrscheinlichkeit in Aristo-

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Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 318. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 318. Hugo Grotius: Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens. Übers. v. Walter Schätzel. Tübingen 1950, S. 139. Vgl. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 316.

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teles’ Poetik (Kap. 9) an. In seinem Poetischen Trichter setzt er sich auch mit anderen zeitgenössischen poetologischen Positionen auseinander: Etliche vermeinen / sie habens wol getroffen / wann sie unziemliche Gedancken verblümen / und Rähtselweis vortragen: sich nachmals mit einer doppelten Auslegung derselben beschönen wollen. Aber weit gefehlet: Man soll nicht nur das Böse / sondern auch den Schein deß Bösen / und die Gelegenheit Böses / zu gedencken vermeiden.30

Das zielt unverkennbar gegen eine Literatur der argutezza bzw. argutia, wie sie etwa in der italienischen Literatur von den sogenannten Marinisten und von Dichtungstheoretikern wie Emanuele Tesauro in seinem Aristotelischen Fernrohr (Il cannocchiale aristotelico, 1656) formuliert worden war und wie sie in Deutschland von schlesischen Autoren wie Daniel Casper von Lohenstein, Christian Hofmann von Hofmannswaldau, Johann Christian Hallmann und Gustav Adolf von Haugwitz vertreten wurden. ›Argut‹, also vielsinnig oder sinnreich war diese Literatur, insofern sie dem Leser zumutete, aus dem Dargestellten selber die angemessenen moralischen Lehren zu ziehen. Das ingegno, also die Einbildungskraft und die Verstandeskräfte des Lesers, wurden geradezu provokatorisch durch ›unflätige Sachen und Wörter‹ herausgefordert, um sie auf diese Weise im Umgang mit dem Bösen zu schulen, um ihnen zugleich einen besonderen intellektuellen Genuß in der Überlegenheit ihrer Geisteskräfte zu gewähren. Ein Beispiel für eine solche argute Poetik gibt der Schlesische Lutheraner Daniel Casper von Lohenstein. Auch für ihn ist das Böse der menschlichen Natur inhärent, doch dienen die Lasterbeschreibungen in seinen Trauerspielen oder in seinem großen Arminius-Roman vor allem dazu, den Lesern und Zuschauern einen Blick in den Abgrund menschlicher Verworfenheit zu ermöglichen, damit diese die Dissimulationskünste des menschlichen Lasters zu entziffern lernen und in die Lage versetzt werden, intellektuelle Abwehrkräfte dagegen zu entwickeln.31 Sozialgeschichtlich konnte dieses anspruchsvolle Literaturprogramm freilich nur von einer Bildungselite erwartet werden, der man ein hohes Maß an intellektueller Durchdringungskraft zugestehen konnte. Harsdörffer rechnet dagegen immer auch mit den weniger gebildeten Leserschichten,32 denen gegenüber man eine andere Sprache führen müsse. Er wendet sich an ein breites Publikum, an alle gesellschaftlichen Stände, an Gebildete wie an weniger Gebildete, an Männer und Frauen, für die allerdings jeweils völlig unterschiedliche Verhaltensregeln gelten, entsprechend der damals

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Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. I, S. 9f. Dazu vgl. Reinhart Meyer-Kalkus: Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von Lohensteins Agrippina. Göttingen 1986, S. 146–152. Vgl. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 1.

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geltenden »Ordnung der Geschlechter«33. Es geht ihm um die Ausbildung von Tugenden und um positive gesellige Verhaltensweisen, die eng an die Sprachkompetenz als Inbegriff eines angemessenen rhetorischen Verhaltens gebunden sind. »Aller unflätigen Sachen und Wörter«34 müsse man sich enthalten, »weil wir von Natur die Augen / und Ohren von solchen unziemlichen / oder gar mißfälligen Händeln abwenden.«35 Nicht argute Lasteranalyse ist sein Ziel, vielmehr die Modellierung des Rechtsgefühls durch die Konfrontation mit Verbrechen und deren Bestrafung – eine Art von narrativer Generalprävention. Dichtungstheoretisch steht Harsdörffer in der Tradition des Horazischen Topos des docere et delectare und movere, wenn er im Poetischen Trichter prägnant formuliert: »Deß Poeten Absehen ist gerichtet auf den Nutzen / und auf die Belustigung zugleich.«36 Gleichzeitig geistig-moralisch und emotional soll die Dichtung den Menschen ansprechen. Harsdörffers Horaz-Rezeption steht allerdings im Zeichen von Martin Luthers Konzeption des homo totus, des ›ganzen Menschen‹37 der intellektuelle und emotionale Kräfte gleichermaßen aufweist. Mit seinen Erzählungen will Harsdörffer – neben der Modellierung des Rechtsgefühls und der Kenntnis von Recht und Unrecht – zur Stärkung des freien Willens beitragen: Dieser freye Wille deß Menschen ist die Hertzwurtzel der Tugenden und der Laster / welche zeitige oder unzeitige / gute oder böse Früchte bringet. Andere Geschöpfe folgen ihrer natürlichen Neigung [...]: Aber dem Menschen allein ist eine unsterbliche Seele gegeben.38

Ob die Seele das »ewige Leben«39 oder den »ewigen Todt«40 erfahren wird, ist zumindest teilweise in die Entscheidung des Menschen selber gestellt. Dieser Grundsatz von Harsdörffers an Luther angelehnter Anthropologie ist von entscheidender Bedeutung auch für sein Dichtungsverständnis. »Wir Menschen«, so

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So eine Formulierung von Claudia Honegger: Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaften vom Menschen und das Weib 1750–1850. 2. Aufl. München 1996; vgl. dazu mit Blick auf die Frauenzimmer Gesprächspiele Cornelia Niekus-Moore: Mädchenlektüre im 17. Jahrhundert. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. v. Wolfgang Brückner, Peter Blickle u. a. Wiesbaden 1985, Bd. 2, S. 489–497; vgl. weiterhin Italo Michele Battafarano: Die Frau als Subjekt der Literatur. Harsdörffer auf den Spuren der Intronati, Incogniti, Osziosi. In: Ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u. a. 1994, S. 117–136. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 30), Tl. I, S. 9. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 30), Tl. I, S. 9. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 30), Tl. I, S. 7. Martin Luther: Disputatio de homine. In: Ders.: Lateinisch-deutsche Studienausgabe. Hg. v. Wilfried Härle, Johannes Schilling u. a. Bd. 1: Der Mensch vor Gott. Leipzig 2006, S. 664–668, hier S. 666f. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), S. 2. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), S. 2. Harsdörffer: Lust= und Lehrreiche Geschichte (wie Anm. 1), S. 2.

Rechtsgefühl, poetische Gerechtigkeit und Wahrscheinlichkeit

175

schreibt Harsdörffer im Poetischen Trichter, »können die Neigung zum Bösen nicht von uns werffen; aber selbe wol im Zaum halten / und beherrschen.«41 Im angemessenen Verhalten gegenüber dem Übel will Harsdörffer seine Leser schulen. Deswegen ist es notwendig, das Böse zu erkennen, in seiner Herkunft wie auch in allen nur möglichen Erscheinungsformen menschlicher Verhaltensweisen. Dieses Bösen muß der Mensch stets gegenwärtig sein. Zuschrift und Vorrede des Jämmerlichen Schau=Platzes geben in dieser Hinsicht einen präzisen Einblick in Harsdörffers christliche Weltdeutung als Grundlage seiner narrativen Verfahren. In beiden Paratexten setzt Harsdörffer in höherem Maße als in den nachfolgenden Erzählungen einen gebildeten Leser voraus, wenn er einen historisch weiten Bogen spannt: Die Römer haben zu ihren öffentlichen Schauspielen besonders große Häuser / mit vielen erhobenen Staffeln erbauet / in welchem viel tausend Personen zugleich auf den mittleren Sandplatz sehen können. Diese haben erstlich die Gestalt einer halben Rundung gehabt / Circi genannt […] und Amphitheatra geheißen worden.

Dort habe es nicht nur Fechter gegeben, sondern auch »Weiber / Zwerge / seltzame Wunderthiere / und was nur dem Volke angenehm zu sehen / kostbarlich vorgewiesen / wie hiervon zu lesen J. Lipsius in Saturnalibus, und in seinem Buch De Amphitheatris.«42 Was zunächst wie eine kulturgeschichtliche Beschreibung der römischen Amphitheater beginnt, versehen mit einem gelehrten Quellenhinweis, gewinnt allmählich eine andere Zielrichtung, wenn Harsdörffer die öffentlichen Zurschaustellung des Abstoßenden und Grausamen in der römischen Antike mit der eigenen christlichen Gegenwart konfrontiert und diese gegenüber der paganen Antike abgrenzt. So unterstreicht er die Überlegenheit des »gegenwertige[n] Schau=Platze[es]« über den der Antike, weil er Einblick in den eigentlichen Grund »dergleichen jämmerliche Lustspiele und Mordfechter (Secutores)«43 gewähre: Der Meister dieser Mordspiele (Editor) ist der Mörder und Lügner von Anfang / der leidige Satan / welcher die Jugend mit Wollüsten / das männliche Alter mit Ehrgeitz / die bejahrten mit der leidigen Geltgeitz auf dem Schauplatz dieser Welt führet / und verführet. Hierzu bedienet er sich so wol Manns- als Weibspersonen / großer und kleiner / reicher und armer mit wunderseltnen Fügnissen / und gebrauchet sich darzu der Sünden=Knechte die er in seinen Fesseln vielmals wider die Frommen die stetig im Streit zu leben pflegen / anreitzet.44

41 42 43 44

Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer:

Poetischer Trichter (wie Anm. 30), Tl. I, S. 8. Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 1. Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 1. Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 1), S. 1.

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Gesa Dane

Der Unterschied gegenüber der Antike liegt in den christlichen Heilsgütern, die der Gegenwart zuteil geworden sind und die Einsichten in den Grund des Bösen in der Welt und in die Sündhaftigkeit des Menschen gewähren, die der Antike verschlossen waren. Zwar hätte man damals gleichfalls gegen Laster gekämpft, etwa wenn Verbrecher öffentlich hingerichtet oder Laster lächerlich gemacht worden wären, um auf diese Weise die Folgen der Untaten in nachdrücklicher Weise vor Augen zu führen. Diesen Strafprozeduren habe aber das Entscheidende gefehlt: nämlich die Deutung menschlicher Verhaltensweisen aus dem Horizont von Sünde und Gnade und die Einsicht, daß das Böse – ›der leidige Satan‹ – von Gott selber eingesetzt worden sei. Damit ist der Kampf gegen das Böse in der Gegenwart in eine andere, in eine religiöse Dimension gerückt, er wird zur Probe und Bewährung darauf, ob sich der Mensch für das Gute oder das Böse in Gottes Ordnung entscheidet. All die Grausamkeits- und Verbrechenserzählungen haben ihren gemeinsamen Fluchtpunkt darin, daß sie auf ihre je eigene Weise dazu beitragen, den Leser in der Erkenntnis zu schulen, daß das Böse einen heilsgeschichtlichen Ort hat. Jeder Mensch kann in die Lage versetzt werden, das Böse zumindest als Gelegenheit der eigenen Bewährung annehmen zu müssen, in diesem Falle soll er – so Harsdörffers Intention – versichert sein, daß entweder irdische Instanzen oder aber die göttliche Vorsehung Gerechtigkeit walten lassen werden. Aus diesem Gesichtspunkt erweisen sich die Verbrecher- und Verbrechensgeschichten auf einer anderen Ebene, der moralisch religiösen oder tropologischen, als Lob Gottes. Denn, so heißt es im Poetischen Trichter: »Ein löblicher Poet schreibet allezeit solche Gedichte / die zu Gottes Ehre zielen.«45 Über die enge konzeptionelle Verschränkung von Recht und Gerechtigkeit mit den christlichen Geboten jenseits aller konfessionellen Streitigkeiten gibt der zweite Teil von Harsdörffers Poetischem Trichter Auskunft. Dieser Abschnitt der Dichtungslehre ist einer Topik, also einer Anweisung zum Auffinden von Argumenten und Beispielen mit der poetischen Umschreibung von insgesamt 536 Begriffen gewidmet. Die Stichworte reichen von ›Aal‹ bis ›Zunge‹. Nicht von ungefähr sind dort auch ›Recht‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Sünde‹ verzeichnet. Es handelt sich bei diesen Artikeln nicht um fachwissenschaftliche Darstellungen, sondern um kurze Informationen für ein allgemeines Leserpublikum, das sich hier argumentativ wappnen kann. Die meisten Artikel sind dreigeteilt, in der Regel beginnen sie mit einer Reihung von Substantiven desselben semantischen Feldes, bei denen es sich um Synonyme, Annäherungen oder Exempla handelt. Dabei dominiert die Tendenz, einen Begriff aus dem engen Bedeutungszusammenhang herauszulösen. Am Beispiel von ›Sünde‹ läßt sich dieses Verfahren gut belegen. Sünde wird mit folgenden Synonymen bzw. Exempla verbunden: »Übertrettung / Missethat / Laster / Unrecht / Mißhandlung / Sündenwandel /

45

Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 30), S. 8.

Rechtsgefühl, poetische Gerechtigkeit und Wahrscheinlichkeit

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Boßheit / Schalckheit.«46 Der nächste Abschnitt ist dann der Aufzählung von einzelnen Eigenschaften gewidmet, wie: das alte Sündengifft würckt offt in uns den Tod / ist ob uns Felsenschwer / beflecket mit der Schand und Schmach / die ärgste Greuel / verletzend das Gewissen / Man schauet auf die Lust und nicht auf Gottes Wort […]. / Sie ist die Wunden der Seelen / welche Gott allein heilet […].47

Es folgen dann häufig noch Hinweise auf die Ikonographie des jeweiligen Begriffs: Die Sünde wird gebildet in Gestalt eines unbekleidten blinden Jünglings / der Mohrenschwartz an seinem gantzen Leib / und über einen schmalen Steg / oder auf einem gefährlichen Weg gehet. Sein Haubt und Hertz / wie auch sein Leib / ist mit vielen Schlangen umgeben.

Beschlossen wird jeder Artikel mit einschlägigen Redewendungen: »Der Sünden Pestilentz. Ein schnöd-unstetes Leben treiben.«48 Insgesamt geben die drei kurzen Artikel zu ›Recht‹, ›Sünde‹ und ›Gerechtigkeit‹ Hinweise darauf, wie Harsdörffer die drei Bereiche zusammen denkt und dabei Rechtsdurchsetzung mit Gerechtigkeit verbindet. Das macht etwa der Eintrag zu ›Gerechtigkeit‹ deutlich, in dem es heißt: »was recht ist und gerecht beliebet einem jeden der nicht der Sünden Knecht von gutem abgeschieden.«49 Die Einsicht in Recht und Gerechtigkeit kann einem jeden Menschen zuteil werden, vorausgesetzt, er hat sich nicht von Gott abgewandt. Eine Entgegensetzung zwischen weltlichem und geistlichem Recht kennt Harsdörffer nicht. Das bestätigt auch der Artikel zu ›Recht‹, in dem das Recht aus der Natur begründet wird, zugleich aber als ›heilig‹ gilt: Das gewisse sichre / auf die Natur gegründete Recht und Billigkeit / das allgemeine Recht schaut nicht auf die Person / verachtet die Geschencke und heischet keinen Lohn. Das Recht hat eine Wäxerne Nasen / gefolgig deß Gelehrten Hand / das heilige alte / durchgehende / beliebte burgerliche in der Natur und deß Menschen Verstand unwandelbare Recht wird durch der Menschen Trug und Klugheit mit Zweiffel unterbrochen.50

Wenn es durch Rechtsanwendung nicht zu Gerechtigkeit kommt, so hat dies seinen Grund nicht im Recht, sondern darin, daß dieses von – fehlbaren – Juristen

46 47 48 49 50

Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer:

Poetischer Poetischer Poetischer Poetischer Poetischer

Trichter Trichter Trichter Trichter Trichter

(wie (wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm. Anm.

30), 30), 30), 30), 30),

S. S. S. S. S.

445. 445. 445. 229. 387.

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Gesa Dane

nicht richtig ausgelegt worden ist, in diesem Sinne muß man wohl die Wendung ›das Recht hat eine Wäxerne Nasen gefolgig der Gelehrten Hand‹ verstehen. Harsdörffers Erläuterungen sind von Anklängen an naturrechtliche Grundannahmen durchzogen. Die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse sowie zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, kommt jedem Menschen zu, unabhängig von Konfession und sozialem Stand. Darin korrespondieren Harsdörffers Ausführungen im Poetischen Trichter mit denen der Schau=Plätze. Wenn etwa die Protagonistin von Die keusche Märterin sich gewaltsam wehrt und damit ihr Leben aufs Spiel setzt, um einer Vergewaltigung zu entgehen, so signalisiert dies, daß eine durchschnittliche junge Frau, selbst wenn sie ihrem Vater einmal gegenüber ungehorsam gewesen ist, ein Gefühl für Ehre, für Recht und Unrecht besitzt und sich selbst im äußersten Notfall einer Entführung und drohenden Vergewaltigung angemessen verhalten kann. Doch hat die Tochter durch ihre Weigerung, dem Vater zu gehorchen und den ihr zugedachten Mann zu heiraten, selber gefehlt und an dem verhängnisvollen Geschehen deshalb eine moralische Mitverantwortung. Sie hat gegen das Vierte Gebot verstoßen, in dem es unter anderem heißt: »Du sollst Vater und Mutter ehren.« Dessen Verheißung, man werde lange auf Erden leben, sofern man diesem Gebot nur befolgt, erfüllt sich an ihr eben nicht. Anders ist die Schuld des Vaters gelagert; dieser hätte den Wunsch seiner Tochter nach einem klösterlichen Leben erfüllen können und müssen. Seine Strafe besteht in dem Verlust der Tochter und seiner Trauer um sie. Anders als in der weltlichen Gerichtsbarkeit, in deren Instanzenwegen durchaus Fehlurteile ergehen können, die an einem engen Konnex zwischen Recht bzw. Gerechtigkeit und Vorsehung immer wieder Zweifel nähren, verläuft die Handlung in Harsdörffers Erzählung in einer Weise, daß jegliches Fehlverhalten innerweltlich geahndet wird. Soziale Verhaltensweisen werden in Harsdörffers Erzählungen auf das engste mit Fragen von Recht und Gerechtigkeit verknüpft, und dies stets mit Blick auf ein Rechtsgefühl, das den Glauben an die göttliche Schöpfungsordnung voraussetzt. Wenn Autoren wie Friedrich Schiller, Johann Gottlob Benjamin Pfeil, Heinrich Leopold Wagner oder Georg Büchner tatsächliche Fälle der Rechtsgeschichte in Erzählung oder Drama später aufgreifen werden, so erfahren ihre Leser etwas über den Menschen, der mit dem Gesetz in Konflikt kommt, über seine Motive und seine Verwicklung in gesellschaftliche, moralische und religiöse Normenkomplexe und nicht zuletzt über die Grenzen und Veränderungsbedürftigkeit der Rechtsordnung. Diese Autoren setzen die Aufklärung in Theologie und Recht voraus. Sie zielen auf eine literarische Rechtskritik, auf eine Kritik an Aspekten des geltenden Rechts wie auch an inhumaner Rechtsauslegung. Die Rechtsordnung soll durch die Veränderung einzelner Gesetze reformiert werden. Anders die Autoren gegen Ende des 17. Jahrhunderts, die sich, wie

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Harsdörffer, an den ›ganzen Menschen‹ richten und zugleich auf dessen Platz in einer festgefügten Schöpfungsordnung hinweisen. Hier ist das Rechtsgefühl, wie es sich aus Harsdörffers Schau=Plätzen heraus rekonstruieren läßt, auf das theatrum mundi bezogen, auf eine Ordnung, die im weitesten Sinne durch Recht und religiöse Weltdeutung legitimiert ist.

Ursula Kocher

»Die maechtige Bildung unserer Gedanken« Zur Emblematiktheorie Georg Philipp Harsdörffers

Das gegenwärtige Interesse an Intermedialität hat, so kann man festhalten, der Emblematik keinen Gewinn gebracht. Nach wie vor gilt sie als hübsches Randphänomen frühneuzeitlicher Kunst, für das sich weder Literaturwissenschaftler noch Kunsthistoriker in letzter Konsequenz zuständig fühlen. Dabei müßte die Häufigkeit, mit der auf die Grundstruktur des Emblems als Kombinationsform zurückgegriffen wird, einen Hinweis darauf bieten, daß in ihr mehr steckt als die beliebige Kombination dreier Elemente. Wenn beispielsweise darauf hingewiesen wird, daß eine Erzählung aus drei Teilen besteht und daß der Mittelteil mit einer pictura vergleichbar sei,1 dann ist das keineswegs falsch, aber doch in der Ableitung nicht folgerichtig: Das Aufeinanderbeziehen von abgrenzbaren Teilen, die in ihrer Verbindung ein dynamisches und spezifisches Ganzes ergeben, ist ein Muster der Wissensspeicherung, auf dem die Emblematik fußt. Sie stellt damit, gerade durch ihre vor Augen gestellten picturae, die mustergültige Methode zur Verankerung von Wissensbestandteilen in topischer Strukturierung bereit. Die Emblematik zeigt, wie frühneuzeitliche Wissensspeicherung funktioniert hat, sie ist Ausweis und Ergebnis der kombinatorischen Bemühungen.2 Belegen läßt sich dies durch die genaue Betrachtung derjenigen Texte, die auf die Konstruktion und die Rezeption der Embleme eingehen. Die Schriften Georg Philipp Harsdörffers erweisen sich auch in dieser Hinsicht als Fundgrube. Seit mit dem Erstdruck von Andreas Alciatus’ Emblematum liber 1531 die Gattung des Emblems begründet wurde,3 ist sie zunehmend mehrteiliger und

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Vgl. Hania Siebenpfeiffer: Narratio crimen – Georg Philipp Harsdörffers Der Grosse Schau-Platz Jaemmerlicher Mord-Geschichte und die frühneuzeitliche Kriminalliteratur. In: Harsdörffer-Studien. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 157–176. Vgl. zur Kombinatorik die Arbeiten von Jörg Jochen Berns, hier vor allem: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdöffer-Studien. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 55–83. Vgl. zu Alciatus vor allem Hessel Miedema: The term ›Emblema‹ in Alciati. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 31 (1968), S. 234–250; Holger Homann: Studien zur Emblematik des 16. Jahrhunderts. Utrecht 1971; Johannes Köhler: Der Emblematum liber von von Andreas Alciatus (1492–1550). Eine Untersuchung zur Entstehung, Formung antiker Quellen und pädagogischer Wirkung im 16. Jahrhundert. Hildesheim 1986;

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Ursula Kocher

komplexer geworden. Beschränkte sich Alciatus in seiner ersten Konzeption auf ein Motto und ein Epigramm, wurden anschließend im Druck picturae hinzugefügt, die aus dem Text durch ihre bloße Anwesenheit und Platzierung eine subscriptio machten. Daß sich alle Teile – egal, wie viele es denn sein mögen – im allgemeinen zu einer Sinneinheit zusammenfügen, ist weitgehend Konsens der Forschung.4 Regelmäßig neu diskutiert wird allerdings der Status von Bild und Text, also die Frage, ob die Bilder wichtiger als die Texte sind oder umgekehrt. Die Prozesse des Entstehens von Bedeutung im Wechselspiel der einzelnen Teile findet dagegen weniger Beachtung. Inzwischen teilt sich die Emblematikforschung auf zwei Untersuchungsfelder auf: das kleinere Feld der Theorie und das deutlich größere der Fallbeschreibung und -untersuchung.5 Die entscheidenden theoretischen Fragen hinsichtlich der Gewichtung von Text und Bild, die immer wieder aufgeworfen werden, scheinen sich nicht für alle zufriedenstellend lösen zu lassen. Die Befürworter eines Primats des Bildes, die betonen, daß Bilder auch jenseits der Worte vermittelnd wirken, stehen den Logozentristen gegenüber, für die Bilder ohne Worte nicht funktionieren. Selten kann dabei die eine Seite die andere überzeugen. Der Ausweg aus dem Dilemma könnte die Feststellung sein, daß Text und Bild nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen, sondern gleichberechtigte Elemente in einem intermediären Spiel darstellen. Bisher fehlt es allerdings noch an detaillierten, theoriegeleiteten Beschreibungen dieses spielerischen Ineinandergreifens bildlicher und textlicher Bestandteile am Material.6 Diese Analysen

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Bernhard F. Scholz: Emblem und Emblempoetik. Historische und systematische Studien. Berlin 2002. Zwar weisen immer wieder Forscher darauf hin, daß dieser Wunsch nach Kohärenz an die Embleme mehr herangetragen, als von diesen erfüllt wird. Derartige Einwände sind jedoch, obgleich vollkommen einleuchtend, selten. So sieht Althaus gerade durch die Sinndifferenz einen Gewinn: »Embleme können also durch das Fehlen eines einheitlichen Sinns die Polyfunktionalität ihrer Zeichen wahren« (Thomas Althaus: Differenzgewinn. Einwände gegen die Theorie von der Emblematik als synthetisierender Kunst. In: Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Multivalence and Multifunctionality of the Emblem. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Hg. v. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Frankfurt/M. u. a. 2002, Bd. 1, S. 91–109, hier S. 107). Ähnlich ders.: »Wie Reym ich das zusam?« Ungleiche Vollzüge in der Emblematik und Methodisches zu einer Entfaltung ihres Begriffs in Kontrasten. In: Das Emblem im Widerspiel von Intermedialität und Synmedialität. Symposium an der Universität Hildesheim (30. April–1. Mai 2004). Hg. v. Johannes Köhler u. Wolfgang Christian Schneider. Hildesheim u. a. 2007, S. 51–75. Ausdrücklich sei bemerkt, daß es selbstverständlich unabdingbar ist, daß Emblembücher beschrieben, archiviert und bearbeitet werden. Weiterhin steht außer Frage, daß die Produzenten und die historischen Bedingungen in den Blick genommen werden müssen. Die folgenden Ausführungen richten sich daher keinesfalls gegen die bestehende Emblematikforschung. Bedauernswert wäre es nur, wenn diese Forschung, die eine Schlüsselrolle in der Problematik um die Verbindung von Text und Bild spielen sollte, sich in diesem theoretischen Bereich nicht erneut prominent ins Zentrum rückte. Abhilfe versuchte hier das Projekt Imagines et Picturae zu schaffen, das sich als Teil der

Zur Emblematiktheorie Georg Philipp Harsdörffers

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sind aus zweierlei Gründen nötig: Einerseits da die theoretischen Texte zwar vorhanden, aber nicht allzu zahlreich sind, andererseits, da die künstlerische Praxis den theoretischen Ausführungen nicht unbedingt entsprechen muß. Angesichts der Komplexität des Gegenstands und der verschiedenen wissenschaftlichen Zugangsformen scheint es unabdingbar, sich genauen Analysen zuzuwenden.7 Gerade im frühneuzeitlichen Deutschland fehlt es, wie die meisten Forschungsbeiträge betonen, an eigenständigen kunst- und emblemtheoretischen Schriften.8 Dennoch setzen sich die meisten Emblematiker in Vor- und Nachreden, in Kommentaren, Anhängen oder innerhalb anderer Schriften mit Tradition und Funktion von Emblemen oder »Sinnbildern«, wie das Emblem etwa ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch genannt wird,9 auseinander. Dabei geht es auch ganz ausdrücklich um die Funktion eines Zusammenwirkens von Text und Bild. Unabhängig von diesen teilweise beiläufigen Reflexionen gehen aber dem Zusammenstellen eines Emblems theoretische Prämissen voraus, die der Emblematiker bewußt oder unbewußt beachtet. Diese können unabhängig von der Existenz theoretischer Erörterungen aus den Emblembüchern durch Analyse ermittelt werden. Denn jenseits der Frage, ob ein Emblematiker sich bewußt Gedanken über die Medien gemacht hat, mit denen er umgeht: Um ein Emblem zu erzeugen, muß er den Horizont der Rezipienten und damit deren Medienkompetenz im Blick haben. Die einzelnen Embleme eines Buches geben auf diese Weise nicht nur über den Wissensstand ihrer Betrachter Auskunft, sondern auch

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DFG-Forschergruppe Topik und Tradition an der Freien Universität Berlin mit Arten der Verbindung von Text und Bild in rund 200 Emblembüchern auseinandergesetzt hat. Die Abschlußmonographie steht kurz vor der Fertigstellung. Auch Rüdiger Zymner, der sich mit unterschiedlichen Zugangsweisen der Emblematikforschung auseinandersetzt, plädiert für eine »Analyse des Emblems als Artefakt«, um die Gattung überhaupt bestimmen zu können (Rüdiger Zymner: Das Emblem als offenes Kunstwerk. In: Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Multivalence and Multifunctionality of the Emblem. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Hg. v. Wolfgang Harms u. Dietmar Peil. Frankfurt/M. u. a. 2002, Bd. 1, S. 9–24, hier S. 13). Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Ut pictura poesis? Zur Harsdörffers Theorie der ›Bildkunst‹. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 9–21, hier S. 10: »Aber Harsdörffer als Theoretiker? Bekanntlich gilt das 17. Jahrhundert in Deutschland als ziemlich theorielos, wenn es um Kunsttheorie geht […].« »Etwa zeitgleich wie Schottelius greift er [Harsdörffer] im ersten Band der Frauenzimmer Gesprächspiele auf Zincgrefs Prägung ›Sinnbild‹ aus dem Jahr 1626 zurück und plädiert wie Schottelius dafür, sie in deutschsprachigen Texten anstelle von ›Emblem‹ zu gebrauchen. Zincgref hatte den Begriff sehr weit gefaßt und für das ›eine Bedeutung tragende Zeichen‹ im heraldischen Bereich verwandt. Er hatte es nicht als Übersetzung des lateinischen ›emblema‹ einführen wollen« (Ingrid Höpel: Harsdörffers Theorie und Praxis des dreiständigen Emblems. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 195–234, hier S. 207). Vgl. auch Ingrid Höpel: Emblem und Sinnbild. Vom Kunstbuch zum Erbauungsbuch. Frankfurt/M. 1987.

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über die Grundregeln ästhetischer Erfahrung und den vermutlichen Verstehensprozeß beim ›Lesen‹ eines Emblems. Die folgenden Ausführungen gehen entsprechend von der Annahme aus, daß das Erzeugen und das Betrachten eines Emblems auf Vorstellungen von Sprache und Verstehen gründen, die für die Frühe Neuzeit spezifisch sind und in der Emblematik ihren adäquaten Aufbewahrungs- und Realisierungsort gefunden haben. Aufgrund von Äußerungen und durch die Analyse von Emblemen sind die als Theorie ableitbaren Regeln, nach denen die Teile eines Emblems verbunden wurden und in ihrer Kombination interagieren, herauszuarbeiten. Dies kann am Beispiel von jedem Emblembuch und Emblematiker geschehen, Georg Philipp Harsdörffer eignet sich dafür aber besonders gut, weil er in seinen Frauenzimmer Gesprächspielen die Emblematik selbst in sprachliche Verstehenszusammenhänge rückt.10 Der ersten Behandlung des Sinnbilds in Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen gehen Erörterungen voraus, die keineswegs zufällig denen zum Emblem vorangestellt sind. Vielmehr laufen die Erörterungen zwangsläufig auf die Emblematik zu. Nachdem das Gesprächspiel als intellektuelle Beschäftigung der Hofgesellschaft eingeführt ist, übt sich der Gesprächskreis in spielerischer Argumentationsfindung. Es geht darum, Dingen Inhalte zuzuordnen, die mit ihnen gemeinhin verbunden werden und demnach um die »Wahl« einzelner Elemente aus einer Vielzahl möglicher Konnotationen. Mit Recht bringt Julia von Freudenstein dieses Vorgehen mit der Erzeugung von Gleichnissen in Verbindung. In diesem Zusammenhang interessiert nun nicht so sehr eine Abgrenzung zwischen Gleichnis, Parabel,11 Metapher, Allegorie und Emblematik, sondern die funktionale Ähnlichkeit ihrer strukturellen Grundbedingungen. In jedem Fall nämlich werden Inhalte miteinander verbunden, um, wie Harsdörffers Figur Vespasian beschreibt, eine Meinung deutlicher auszudrücken: »daß ich auch meine Meinung durch ein Gleichniß sage / so sind selbe Blicke der Wahrheit / welche / als von einem Feuerspiegel erhitzet / mit so viel mehrerer Krafte wider zurucke stralen.«12

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»Für unseren Fragezusammenhang [...] interessanter sind solche Spiele, die das Emblem als Spielobjekt erkennen lassen und somit zeigen, wie die Emblematik auch die Funktion eines Gesellschaftsspiels übernehmen kann.« Dietmar Peil: Das Neue ist das Alte. Antike Traditionen in den Emblembüchern des Joachim Camerarius. In: Die Wahrnehmung des Neuen in Antike und Renaissance. Hg. v. Achatz von Müller u. Jürgen von UngernSternberg. München u. a. 2004, S. 134–166, hier S. 141. Vgl. Rüdiger Zymner: Parable and Emblem. In: Das Emblem im Widerspiel von Intermedialität und Synmedialität. Symposium an der Universität Hildesheim (30. April–1. Mai 2004). Hg. v. Johannes Köhler u. Wolfgang Christian Schneider. Hildesheim u. a. 2007, S. 77–101. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. I, S. 39.

Zur Emblematiktheorie Georg Philipp Harsdörffers

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Im Fall des Gleichnisses kann gerade durch das Verbinden zweier Sachverhalte der entscheidende Aspekt des zugrundeliegenden Objekts besonders hervorgehoben werden. Dabei sind die Möglichkeiten der Korrelation nicht unendlich, sondern durch Konvention begrenzt. Gleichnisse funktionieren in einer Gesellschaft nur dann, wenn der vergleichende Sachverhalt bereits zuvor in gedanklicher Nähe zum Vergleichsobjekt stand. Gott mit dem Licht in Verbindung zu bringen, liegt daher ebenso nahe wie den Krieg mit dem Wolf.13 Die Verbindung ergibt sich in diesen Fällen, indem man die Konnotationen und Interpretanten zu ›Gott‹ oder ›Krieg‹ ermittelt und nach Signifikanten sucht, deren Signifikate ähnliche Inhaltszuschreibungen aufweisen. Während also der Weg zum Ziel – dem vergleichenden Objekt – hier über das tertium comparationis bzw. eine Schnittmenge der »Vereinigung«14 läuft, muß bei dem nachfolgenden Spiel der »gebundnen Gleichnisse« eben diese Verbindung erst gesucht werden: »Nicht anderst verhaelt sich die Sach mit Erfindung erheischter Ubereinstimmung unterschiedlicher Sachen / nemlichen / wann man den Vortheil weiß / und deroselben Gezeug / Gesstalt / Wirck- und Endursach betrachtet.«15 Es handelt sich folglich jeweils um eine Gleichung mit drei Gliedern, bei der ein Element ungenannt, wenngleich nicht unbekannt, ist und doch von einer Gemeinschaft von fünf Personen einvernehmlich ermittelt werden kann, weil die Variablen Konventionen entsprechen. Die Bezeichnung ›gebundne Gleichnisse‹ ist daher höchst treffend, denn die Glieder sind miteinander über gesellschaftlich fest verankerte Vorstellungen verbunden. Aus diesem Grund sind sie als ›Sinn-Bilder‹ zu verstehen und haben viel mit der Gedächtniskunst zu tun, dem nachfolgenden Gesprächsthema des Kreises. Auch bei der Gedächtniskunst geht es um das Verbinden – in diesem Fall von Bekanntem mit Unbekanntem. Jeweils jedoch sollen Inhalte zueinander in Beziehung gesetzt werden, um sie im Sinn zu behalten. Dabei sind nicht nur die konkreten Wissensbestandteile relevant, sondern in erster Linie die Aussage, die all dem zugrunde liegt und die man durch ihre Verankerung in einem Bild ›aussinnt‹: »Dann die Betrachtung / welche wir von sichtbarlichen Sachen herfuehren / ist nicht anders als ein Angedenken dessen / was wir darvon aussinnen koennen.«16 Das Spiel der Verbindungen funktioniert in jedem Medium, das Aussagen speichern kann, allerdings nicht immer auf genau dieselbe Weise. Zum einen gibt es eine Vielzahl von möglichen Arten der Verbindung, zum anderen unterscheiden sich die Medien Bild und Text nicht in ihrer Funktion, aber in ihrer Wirkung.17 Das Bild wirkt direkter, aber undeutlicher. Der Text ist

13 14 15 16 17

Vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 46f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 53. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 52f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 69. »Werden Text- und Bildteil des Emblems gleichermaßen als Argumente verstanden, so sind sie, wenn nicht von unterschiedlicher Qualität, so doch von unterschiedlicher In-

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verständlicher, aber sehr viel weniger eindrücklich.18 Das ideale Medium zur Vermittlung von Gedanken gibt es folglich nicht. Das jedoch ist kein Manko, sondern ein Vorteil, da in jedem Fall der Scharfsinn des Produzenten und die kluge Mitarbeit des Rezipienten gefragt sind. Umso mehr, wenn Bild und Text miteinander verbunden sind, weshalb man dann, so Reymund in den Frauenzimmer Gesprächspielen von Sinnbild spreche, weil »selbe von Bildern / vnd wenig Worten / darinn der Sinn / Meinung und Verstand deß Erfinders begriffen / zusammengesetzet: welche dann mehr weisen / als gemahlet oder geschrieben ist / in dem selbe zu ferneren Nachdencken fuegliche Anlaß geben.«19 Sinn, Meinung und Verstand des Emblemschöpfers gehen somit nach Ansicht Reymunds in die gekonnte Kombination von Wort und Bild ein, die aufgrund ihrer Zusammenfügung nicht nur die Summe der Teile ›Schrift‹ und ›Bild‹ ergibt, sondern durch die Verbindung die Summe der Teile übersteigt. Von dem Sinnbilderzeuger wird sozusagen ein Argument in die Text-Bild-Verbindung hineingegeben, das es beim Rezipieren des Gesehenen zu entschlüsseln gilt.20 Von der beschriebenen oder dargestellten Sachlage gibt es einen direkten Bezug zum gemeinten Inhalt. Dieser kann, so Vespasian, nur durch ›Vergleichung‹ (›Gleichniß‹) ermittelt werden, »weil zwischen dem Sinnbild vnd des Erfinders Meinung [...] eine Vergleichung angestellet werden muß. Diese Gleichniß ist die Seele des Sinnbildes / dessen Dolmetscher die Obschrifft / vnd der Leib ist das Bild oder die Figur an sich selbsten.«21 Es ist also nicht so, daß an dieser Stelle schlicht die in der Tradition immer wieder anzutreffende Unterscheidung zwischen dem Text als Seele des Emblems und dem Bild als Leib vorgenommen wird.22 Vielmehr wird davon ausgegangen, daß es das eigentliche Ziel des Emblems ist, eine Darstellungsform mit einem Inhaltskonzept, das unsichtbar hinter der sichtbaren Text-Bild-Kombination liegt,23

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tensität. Das Bild wirkt schneller und unmittelbarer als das Wort. Aus diesem Grund eignet es sich zu didaktischen Unterweisung Ungebildeter« (Bettina Bannasch: Von der ›Tunckelheit‹ der Bilder. Das Emblem als Gegenstand der Meditation bei Harsdörffer. In: Meditation und Erinnerung in der frühen Neuzeit. Hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000, S. 307–325, hier S. 309). Vgl. Ursula Kocher: ›Der Dämon der hermetischen Semiose‹. Emblematik und Semiotik. In: Bildersprache verstehen. Zur Hermeneutik der Metapher und anderer bildlicher Sprachformen. Hg. v. Ruben Zimmermann. München 2000, S. 151–167. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 73. Maria R. Wade vertritt die plausible Annahme, daß auf diese Weise »höhere[s] Denken« entwickelt werden sollte (Maria R. Wade: ›Das Beste ligt verborgen‹. Georg Philipp Harsdörffer als Theoretiker und Praktiker der Sinnbildkunst. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 188–204, hier S. 189). Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 81. Vgl. Scholz: Emblem und Emblempoetik (wie Anm. 3), vor allem S. 215ff. (mit Nennung der entscheidenden Literatur). »Alles / was sichtbarlich ist / unterfangt die Mahlerey vorzustellen; was aber unsichtbarlich ist / kan mit der Sinnbildkunst / vermittelst der Umschrift / verstanden werden« (Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele [wie Anm. 12], Tl. IV, S. 213).

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zu verbinden. Das Schließen von dem Sichtbaren auf das Unsichtbare, indem mögliche Konzepte imaginiert und mit dem Dargestellten verglichen werden, dieses ›Gleichniß‹ als Ergebnis des Vergleichens ist die Seele des Emblems. Zu einer Gleichung mit drei Unbekannten wird dies deshalb nicht, weil die ›Obschrift‹, die inscriptio also, beim Dolmetschen hilft. Sie ist der Schlüssel für das Unsichtbare. Das Bild jedoch, das ist nun wirklich der Leib, denn es ist der von außen sichtbare Bestandteil. Bild und Schrift sollen in einer Weise verbunden werden, daß sie nur im Verbund verstanden werden können, nicht ein Teil allein.24 Die Konstruktion eines Emblems ist demnach höchst anspruchsvoll und eine Reihe von Regeln ist zu beachten. So darf die inscriptio beispielsweise nicht zu lang sein und sollte Anleihe bei wichtigen Autoren nehmen. Das Spiel zwischen den medialen Bestandteilen sowie der Überschuß durch die Kombination der Elemente ergibt sich dadurch, daß Bild und Text so »miteinander verbunden seyn [sollen] / daß keines ohne das ander koenne verstanden werden«25, wobei sich ›verstehen‹ auf das Konzept, das dem Emblem zugrunde liegt, bezieht. Im allgemeinen wäre nach Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspielen so vorzugehen, daß man zunächst klärt, was man zu verstehen geben will und dann die passenden Worte für die inscriptio sucht. Beginnt man nämlich mit der pictura, ist die Zuordnung der inscriptio höchst beliebig, wie sich im Gesprächsspiel zeigt. Dort berichtet Reymund, daß er ein Bild erdacht hat, das nun die folgende Gestalt annimmt: »Jch mahle ein zugethanes Buch / auf welchem wieder ein flachoffenes / und auf denselbigen ein gleichsam darauf gestürtztes Buch liget.«26

Abb. 1: Qui non addit amittit, Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. I, S. 83. 24 25 26

Vgl. Wade: Das Beste (wie Anm. 20), S. 190. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 81. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 82.

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Möglichkeiten zur inscriptio gibt es hier, wie vorgeführt wird, reichlich, mal sinnvoller, mal lächerlicher. Ein Ganzes ergeben die möglichen inscriptiones mit den picturae in keinem Fall. Der Leib wird mit einem Schlüssel versehen, der eine Deutung ermöglicht, aber auf keine Seele verweist, da es diese nicht gibt. Statt dessen werden beliebige Äußerungen gleichnishaft mit dem Dargestellten verbunden, ohne daß die Bestandteile verzahnt wären. Bild und Text sind an sich und in ihrer Kombination beliebig. Es scheint daher sinnvoller, von der Sprache auszugehen. Vespasian schlägt vor: »Jch setze / wir solten etwas auf den so lang erwuenschten Fried erfinden / und sol die Schrift seyn.«27 Das zugrundeliegende Argument ist also: Der Krieg sollte ein Ende haben. Darauf deutet der Teilsatz »den so lang erwuenschten Fried« hin. Als inscriptio wird vorgeschlagen: »Der Waffen Elend froelich End.«28 Doch welches Bild paßt dazu? Julia von Freudenstein bemerkt: Jch hab jederzeit gehoert / daß der Oelbaum und Oelzweig Frieden bedeute / weil nun desselben in H. Schrift gedacht / daß die Taube / welche dem Noa in die Archa einen Oelzweig zu Bezeugung des Friedens zwischen Gott vnd der damals erneuerten Welt uebergebracht: Als wolte ich darunter zu mahlen vorschlagen eine Taube / mit einem Oelzweig / zu verstehen gebend / daß die Flute des aller Orten wallenden Krieges nunmehr ersessen / und durch Gottes Genade ferners verlauffen und verschiesen wuerden.29

Abb. 2: der Waffen Elend Froehlich Ennd., Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. I, S. 87.

Es lohnt sich, diese komplexe Konstruktion, die durch eine schlichte inscriptio ausgelöst wurde, genauer zu analysieren. Das vom Betrachter des Emblems

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 86. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 88. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 88.

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herauszulösende Argument, daß ein Ende des Krieges herbeigewünscht wird, findet eine bildliche Umsetzung, indem ein passendes Symbol für das Ende eines Krieges, also den Frieden, gesucht wird. Für die Sprecherin ist das erste, was ihr einfällt, der Ölbaum, der ihrer Aussage nach gemeinhin auf ›Frieden‹ verweise. Wenn es nun gelänge ein Bild zu kreieren, in dem der Ölbaum eindeutig als solcher zu erkennen ist, könnte dieses Bildkonzept aufgehen. Gewählt wurde eine für damalige Verhältnisse klare Codierung. Der biblische Ölbaum ist zu jener Zeit noch als naheliegender Interpretant des Signifikats ›Frieden‹ aufzufassen. Allerdings enthält die inscriptio als Schlüsselbegriff nicht das Wort Frieden, sondern Waffen und Elend. Der Gegensatz von ›Krieg‹ ist natürlich ›Frieden‹, so daß man mit ›Kriegsende‹ den ›Frieden‹ problemlos verbinden kann. Da die inscriptio aber mit ›Waffen‹ und ›Elend‹ den Schwerpunkt auf den Kriegsprozeß und seine Umstände legt, muß auch diese Dynamik gespiegelt werden. Aus diesem Grund macht die findungsreiche Bildschöpferin aus dem Ölbaum einen Ölzweig und fügt eine Taube hinzu. Diese bringt, so wird gedeutet, Noah einen Ölzweig, um den Frieden zu bezeugen.30 In der Bibel weist der Ölzweig aber, so Julia von Freudenstein, vermittelt über die Taube, auf die Vergebung Gottes und damit das Ende der Flut hin. Die Flut wiederum könnte als das Land überflutende Kriegsmaschinerie verstanden werden. So gut durchdacht das aber ist, es paßt nicht zum Argument und zur inscriptio. Dies bemerkt auch Reymund. Das Bild nämlich würde in diesem Fall eher zu einer inscriptio wie »Fried ist des Herrn Werck« passen.31 Warum das Emblem scheitert, ist einleuchtend: Sämtliche Codierungen entstammen dem christlichen, alttestamentarischen Bildbereich. Gott müßte also zentraler Bestandteil des Arguments und folglich der inscriptio sein, um eine Verbindung sicherzustellen. Da er das aber nicht ist, verfehlt die Bildinventio ihr Ziel. Zugleich ist der weltliche Kriegsprozeß, der den Hauptteil der inventio ausmacht, überhaupt nicht repräsentiert. Die Schnittmenge an signifikativen Verbindungen ist folglich nicht groß genug, um Überschuß erzeugen zu können. Angelica startet den nächsten Versuch: »Wann ich zu vorbesagten Worten ein Gemaehl erfinden solte / welches ohne das Bild nicht verstanden werden kan / […] vermeinte ich / es solte nicht ausser dem Weg seyn / zu malen etliche Staeudlein verwelktes Eisenkrautes / zwischen denselben aber hervorspriesend das Bluemlein Friedelar genant.«32

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Heutzutage würde der Ölzweig wahrscheinlich bei der Bilderfindung nicht an erster Stelle stehen. Die meisten Bildproduzenten kämen wohl direkt auf die Taube als Symbol für Frieden. Diese hat im 21. Jahrhundert nur noch selten einen Zweig im Schnabel, da sich die Korrelation durch eine Säkularisierung des Bildes verkürzt hat. Daß eine Taube ohne Zweig vor allem mit dem Heiligen Geist in Verbindung zu bringen ist, gehört vermutlich heutzutage nicht mehr zum Allgemeinwissen. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 88. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 88 u. 90.

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Abb. 3: der Waffen Elend. Froehlich end., Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. I, S. 89.

Auch dieser Vorschlag ist gut durchdacht. Das Eisenkraut enthält im Namen den Bestandteil Eisen, der metonymisch Waffen vertritt. Da es verwelkt ist, sind die Waffen wirkungslos oder unnötig geworden. Daß es viel verwelktes Kraut gibt, markiert die Heftigkeit der Kämpfe. Zwischen den unnütz gewordenen Waffen sprießt ein Blümchen hervor, das zu dem vertrockneten alten Kraut in Gegensatz tritt, mit Sicherheit schöner anzusehen ist und dessen Name an das Substantiv Frieden erinnert.33 Diese Bildkonstruktion arbeitet mit Metonymie und Gleichklang und damit anders als die erste. Sie wird aber nicht als reines Bild funktionieren. Denn die Pflanzen müßten mit ihren Namen versehen werden, um eine Entschlüsselung zu ermöglichen, und damit würde von dem gesamten Bildkonzept abgelenkt. Das Argument liegt über die Beschriftung klar auf der Hand, ein dynamischer Austausch zwischen Bild und Text findet kaum mehr statt. Das optimale Bildprogramm wäre dagegen das folgende, das Degenwert präsentiert: »einen blue- und gruenender Oelbaum / ueber welchem eine Kron schwebet / zwischen errosten und verbrochenen Waffen / mit Anfangs gedachter Umschrift.«34 Der Gegensatz zwischen den verrosteten und zerbrochenen Waffen, den Kriegsschiffen und dem Rauch sowie dem blühenden Baum markiert

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»Das ›Blümlein Friedlar‹ dürfte ein sprechender Name sein, den Harsdörffer erfunden hat; der Kupferstich erlaubt keine Identifizierung dieser Blume« (Peil: Das Neue ist das Alte [wie Anm. 10], S. 144). Auch Daly versteht den Namen als Wortspiel: Peter M. Daly: Literature in the Light of the Emblem. Structural Parallels between the Emblem and Literature in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. 2. Aufl. Toronto u. a. 1998, S. 96. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 90 u. 92.

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einen Übergang, die Waffen verweisen auf Krieg wie der Ölbaum auf Frieden. Die Krone zeigt an, daß der Frieden jetzt herrscht.

Abb. 4: Der Waffen Elend. Froelich End., Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. I, S. 89.

Die Bezüge der Bildelemente zueinander, die Codierung der ikonischen Zeichen und der Bezug der inscriptio zur pictura bieten in diesem Fall ein ausgewogenes Verhältnis, das nicht zu leicht zugänglich, aber auch nicht zu schwer zu ermitteln ist. Gleichzeitig böte die Nennung eines Bibelverses (»Sey du unser Koenig«, Richter 935) die Möglichkeit einer Erhöhung der Verknüpfungen und Bedeutungsebenen durch einen intertextuellen Verweis. In Richter 8 wird berichtet, wie die Israeliten, nachdem sie bei Gott in Ungnade gefallen waren, von diesem der Herrschaft der Midianiter ausgesetzt werden, von der sie schließlich Gideon, der Gesandte Gottes, mit kriegerischen Mitteln befreit. Als die Israeliten ihn daraufhin auffordern, ihr Herrscher zu werden, verweist er auf Gott, der allein Herrscher über Israel sein soll. Dieser Hinweis wird von Gideons Sohn Jotam später aufgegriffen, der durch ein Gleichnis auf das Unrecht aufmerksam macht, das ihm und seinen Brüdern widerfahren ist. Der Ölbaum, den die Bäume in dem Gleichnis zu ihrem Herrscher machen wollen (»Sei unser König«, Richter 9, 8), lehnt ab – er möchte sich nicht über die anderen Bäume erheben und seine eigenen Qualitäten dadurch verlieren. Der Dornbusch, der schließlich die Wahl annimmt, droht das Land zu verbrennen. Die Wahl des Ölbaums für die pictura scheint in diesem Fall demnach weniger von der Auslegung des Gleichnisses im

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. I, S. 92. Degenwart selbst schlägt den Bibelvers vor.

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Kontext der Bibelstelle abzuhängen – schließlich lehnt der Ölbaum die Wahl ab – als von der Symbolkraft des Baumes, der immerhin als erster gefragt wird. Der Ölbaum ist ein Sinnbild der Gnade Gottes und verweist auf das Gelobte Land (teilweise auch auf das Paradies). Das Öl des Baumes steht für Freundschaft, Frieden, Versöhnung und Neuanfang. Die konkrete Bibelstelle ist unwichtiger als die Tatsache des Bibelbezugs selbst: Krieg und Frieden scheinen weltliche Angelegenheiten zu sein, da sie von Menschen bewirkt werden. Tatsächlich aber sind es von Gott gegebene Zustände, was in dem Emblem einzig der Ölbaum signalisiert, da Gott in der inscriptio nicht vorkommt. Die Deutung des Krieges als Strafe Gottes liegt in Anbetracht der Bibelstelle auf diese Weise zumindest nahe. Die Vorgehensweise, wie sie eben beschrieben wurde, unterscheidet sich nicht im mindesten von der eines Mnemonikers, der ebenfalls nach klaren Codierungen sucht, die nicht zu einsichtig sind, da sie andernfalls sofort wieder vergessen werden. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß in einer ars memorativa die Codierungen in höchstem Maße klar und einsichtig sein müssen, da der Rezipient keine Entschlüsselungsarbeit leisten soll. Die Leistung des Betrachters besteht nicht darin, sich die imagines selbst zu erklären, sondern sich die Inhalte über die Gedächtnisbilder zu merken. In der Emblematik dagegen wird der Anspruch erhoben, daß der Betrachter und Leser in der Arbeit an dem Emblem dem zugrundeliegenden Gedanken nachsinnt und dadurch etwas lernt. In dem eben besprochenen Fall könnte dies beispielsweise die Rolle Gottes in dem menschlichen Spiel um Krieg und Frieden sein, über die nachzusinnen selbst bei Fehlen des Bibelverses der dargestellte Baum im Zentrum der pictura auffordert. Denn beim ersten Blick auf ein Emblem ist man zunächst blind, wird aber durch genaue Betrachtung sehend. Die Schrift sei dann, so Reymund im vierten Teil der Frauenzimmer Gesprächspiele, in der Lage, einen Lichtstrahl zu erzeugen, der die Finsternis des Bildes beseitige.36 Tatsächlich läßt sich aus dem Wort ›Sinnbild‹ durch »Letternwechsel« das Wort ›Blindnis‹ erzeugen. Der Verweis auf die Schrift ist demnach ein doppelter, der Name ›Sinnbild‹ gleichzeitig Programm: An die Stelle der Blindheit wird durch Zeichenreflexion Sinn gesetzt. Wenn das Sinnbild insgesamt einen Gedanken, ein Argument, aufbewahren soll, dann geht es um das Paradox, etwas Unsichtbares durch Sichtbares darzustellen, wobei das Unsichtbare aufs Engste mit dem Sichtbaren verbunden ist. Das Argument ist kein Palimpsest, zu dem man durch Überschriebenes durchdringen muß, sondern eine Art Folie, die offensichtlich vorhanden und gleichzeitig ein transparenter Teil des Emblems ist. Diese Folie gilt es durch Betrachtung zu erkennen, um die unsichtbaren Dinge hinter allem zu entdecken:

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Vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. IV, S. 227.

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Welches ist die Kunst / so die unbegreiffliche Gedanken des fast Goettlichen Verstandes des Menschen belangen kan? Welches ist die Wundervolle Klugheit / die das Unsichtbare entwerffen / das Unbekante vorstellen / das Unaussprechliche verabfassen kan? Welches ist die hochweißliche Wirkung / so die unvergleichliche Gedaechtnis / das mehr als irdische Gemueht / und die hoechstfahrende Vernunft des Menschen beherrschen / verpflichten / und ausfuendig machen mag? Die Sinnbildkunst ist es. Die Rede ist ( oder solte seyn ) des Hertzens getreue Dolmetscherin / und die edelste Gabe / durch welche wir von den dumen Viehe unterschieden werden: Wie wird aber solche Rede erzeuget? Durch die maechtige Bildung unserer Gedanken Kein Wort kan aus unserem Munde hervorbrechen / welches nicht in dem Sinn zuvor gebildet worden were / und muesse in den leichten Luft dahin wallen / wann es nicht durch die Schrift angehalten / und gleichsam Handfest gemachet wuerde. Kurtz zu sagen: Die Sinnbildkunst ist eine nachdenkliche Ausdruckung sonderlicher Gedanken / vermittelst einer schicklichen Gleichniß / welche von natuerlichen oder kuenstlichen Dingen an und mit wenig nachsinnlichen Worten ausgefuehret ist.37

Der fast göttliche Verstand des Menschen kann die Sinnbilder erzeugen und erfassen, er findet seine Einsicht in die Zusammenhänge in der Kunst, in erster Linie in der Emblematik. Wer also nach einer bloßen Verrechnung der Fähigkeiten von Wort und Bild in Harsdörffers Emblematik sucht, könnte einen sehr viel wesentlicheren Teil übersehen. Das Emblem, so wie es Harsdörffer sich vorstellt, ist unsichtbar, bis der Betrachter sich auf die Suche nach dem in ihm verborgenen Argument macht. Text und Bild sind nicht an sich verbunden, sie ergeben erst ein dynamisches Ganzes durch die Denkarbeit des Betrachters. Hier eine Form der Andacht zu sehen, liegt nicht nur nahe, es trifft den Punkt.38 Auffällig ist allerdings, daß Harsdörffer, wenn er von Schrift spricht, inscriptio und subscriptio kaum unterscheidet bzw. wohl in erster Linie die inscriptio meint. Er geht zwar gelegentlich auf die subscriptio ein und kennt sie als traditionellen Teil des Emblems, duldet sie aber nur als Verdeutlichung derjenigen Sinnbilder, die sonst nicht zu verstehen wären. Für das vorgestellte Prinzip der Suche nach dem zugrundeliegenden Gedanken ist die subscriptio nicht relevant. Um so mehr Bedeutung kommt daher der pictura zu, ohne deshalb gleich die erste Stelle im System einzunehmen, denn, wie gezeigt wurde, ist das, was aus dem Emblem herauszulesen ist, keinem der medialen Bestandteile eindeutig zuzurechnen, sondern ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel. Die vorgestellten Überlegungen machen deutlich, daß der Fall bei einer pictura und einer inscriptio schon mühsam genug ist, da bei einer Analyse zunächst intramediär und dann intermediär vorgegangen werden muß. Harsdörffer hat aber die Komplexität des Emblems noch erhöht, indem er so genannte mehrständige Embleme geschaffen hat, die über mehr Text- bzw. Bildteile verfügen als normalerweise üblich, bevorzugt dreimal so viele. Grundsätzlich

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. IV, S. 220f. Vgl. Bannasch: Von der ›Tunckelheit‹ (wie Anm. 17).

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zieht Harsdörffer aber eine Erhöhung der Zahl bis zu acht in Betracht, um, und das wird als Ziel explizit genannt, den Betrachter zu größerer Anstrengung zu bringen bzw. in einem Emblem zusammen darzustellen, was zusammen gehört. Im vierten Band der Frauenzimmer Gesprächspiele bemerkt Reymund: »Man kan sie zweystaendig / und dreystaendig machen / und dieses ist nunmehr fast gemein. Ich setze hinzu eine Art der vierstaendigen / fuenf- und sechsstaendigen / Sinnbilder.«39 Dabei hängt die Höhe der ›Ständigkeit‹ vom Gegenstand ab. Eine Darstellung der Jahreszeiten beispielsweise benötigt vier Bilder. Was im ersten Band der Frauenzimmer Gesprächspiele durch eine einzige pictura umzusetzen versucht wurde – der Frieden nach langer Kriegszeit – wird im sechsten Band in einem sechsständigen Emblem erfaßt. Die Aussagen, die den einzelnen Bildern zugeordnet werden, ergeben dabei zusammengenommen die subscriptio: 1. Der Friedenstand/ 2. darnieder lieget: 3. Mord / Raub / und Brand 4. Das Land bekrieget: 5. Doch hat Verstand / 6. Nechst Gott / gesieget.40

Die Bildinventio Reymunds rückt in den Bildern 3 bis 5 erneut den Ölbaum in den Mittelpunkt. Er brennt in Bild 3, steckt durch Funkenflug Häuser und Dörfer in Brand (Bild 4), drei seiner Zweige bleiben allerdings erhalten, die von Pallas, der Vertreterin der ratio, im 5. Bild auf den Stamm erneut aufgepfropft werden. Durch die Vermehrung der Teile gewinnt das Emblem an Bewegung und Prozessualität, die sonst aufwendig in der Komposition des einzelnen Bildes verankert werden müßte. Ohne daß dies gesagt würde, gibt es auch zu diesem Emblem eine passende Bibelstelle: In dem Ölbaumgleichnis in Paulus’ Römerbrief (11) veredelt Gott den Ölbaum, indem er die schlechten, ungläubigen Zweige beseitigt und gute, gottfürchtige aufsetzt. Gott bestimmt demnach letztlich in jedem Fall das Schicksal der Menschen, in dem Emblem nimmt ihm jedoch eine antike Göttin die Arbeit ab. Gott ist bei Krieg und Frieden ebenso bestimmend wie der menschliche Verstand. Die Ausweitung der Emblemform bedeutet aber keine Steigerung der Komplexität. Vielmehr droht durch die Transformation des Emblems in die Bildergeschichte in vielen Fällen die Vereinfachung oder sogar Schlimmeres: »Die Expansion der Kunstform Emblem in die Mehrständigkeit führt zu ihrem Zerfall.«41 Warum dem so ist und was da genau ›zerfällt‹, gilt es an anderer Stelle genauer zu klären. 39 40 41

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. VI, S. 478. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 12), Tl. VI, S. 483f. Höpel: Harsdörffers Theorie und Praxis (wie Anm. 9), S. 219.

Zur Emblematiktheorie Georg Philipp Harsdörffers

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Geht man davon aus, daß der zugrundeliegende Gedanke eines Emblems dasjenige ist, was das Sinnbild zusammenhält und beim Betrachten des Emblems erkannt werden soll, wird klar, warum ein 1656 an den Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte angehängter Sinnbild-Traktat nicht wirklich unpassend angeschlossen ist. Abgesehen davon, daß ohnehin der Plan bestand, den Erzählungen Bilder beizugeben, scheint zwar die Struktur der Erzähltexte den Sinnbildern nicht zu gleichen, der Prozeß der Rezeption funktioniert aber sehr ähnlich dem beschriebenen. Die Erzählung rückt so betrachtet in die Nähe der Emblematik – nicht, weil in jedem Fall drei Teile zu erkennen sind (das stimmt ja auch gerade im Fall Harsdöffers nicht), sondern weil es jeweils ein zugrundeliegendes Argument gibt, das den Ausgangspunkt der Produktion bildete und den Endpunkt der Rezeption darstellen sollte. Das Herausarbeiten solcher Argumente und ihrer systematischen Codierung erlaubten genauere Aussagen über Wissensordnungen des 17. Jahrhunderts. Auf diese Weise könnte hinter scheinbarer Fülle eine Ordnung zum Vorschein kommen, die moderne Forscher nicht sehen, weil sie in anders strukturierten Ordnungsschemata denken. Genauere Analysen scheinen daher nicht nur angebracht, sondern dringend erforderlich.

Sven Rune Havsteen

Der musiktheologische Diskurs in der Musikanschauung Georg Philipp Harsdörffers

1. Die Beziehungen zwischen künstlerischen Medien und dem Christentum in der lutherischen Kultur sind in Nürnberg in der Mitte des 17. Jahrhunderts reichhaltig dokumentiert. Hier waren die Anhänger einer kirchlichen Reform und einer Erneuerung des Frömmigkeitslebens sich in vollem Umfang bewußt über den kommunikativen und erkenntnismäßigen Wert der Kunstarten in der öffentlichen und der privaten religiösen Praxis. Dies galt nicht nur für professionelle Theologen wie zum Beispiel Johann Saubert1 und Nürnbergs geistlichen Primas Johann Michael Dilherr,2 sondern auch für Dichter und Komponisten, deren künstlerische Produktion in bedeutendem Maß die religiösen Reformbestrebungen unterstützten, die die damalige kulturelle Landschaft prägten.3 Georg Philipp Harsdörffer war mit seinem umfassenden Werk auch in dieser Beziehung ein wichtiger Akteur. Seine vielfältigen Beiträge zur religiösen Kultur seiner Zeit sind bemerkenswert und in einer kirchengeschichtlichen Perspektive ein interessantes Beispiel für die Offenheit des lutherischen Christentums für die Anwendung der Kunstarten als instrumenta pietatis. Bei Harsdörffer wird diese Haltung in ganz unterschiedliche Genres und neue Medienkombinationen umgesetzt. Dies hängt damit zusammen, daß die Frömmigkeit, die Harsdörffer

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Johann Saubert (1592–1646), lutherischer Theologe und Prediger an St. Sebald in Nürnberg, Anhänger der lutherischen Reformorthodoxie Johann Arndts (1555–1621). Johann Michael Dillherr (1604–1669), lutherischer orthodoxer Theologe, Professor und seit 1646 Pfarrer an St. Sebald in Nürnberg. Außerdem Liederdichter und Verfasser erbaulicher Schriften, die unter dem Einfluß von Johann Arndt dem Reformbedürfnis der damaligen Zeit entgegenzukommen versuchten. Zu der kirchlichen Reformbewegung und ihrem kirchengeschichtlichen Hintergrund vgl. zum Beispiel Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924; Gerhard Schröttel: Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg. Nürnberg 1962; Richard van Dülmen: Orthodoxie und Kirchenreform. Der Nürnberger Prediger Johannes Saubert (1592–1646). In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 33 (1970), S. 636–786; Dieter Wölfel: Geistliche Erquickstunden. Beobachtungen zur Interdependenz von lutherischer Frömmigkeitsbewegung und Nürnberger Sprachgesellschaft am Beispiel populärer Gesangbücher der Pegnitzschäfer. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 364–382.

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mit seinem Werk – wie viele seiner Zeitgenossen – fördern möchte, über die Domäne des Liturgisch-Zeremoniellen hinausweist und als eine allumfassende Lebenspraxis erscheint, bei der sich eine klare Trennung zwischen sakraler und weltlicher Sphäre nicht durchführen läßt. Ein solches Verständnis von Frömmigkeit bedeutet, daß auch andere künstlerische Frömmigkeitskonzepte als die gottesdienstlichen als für die religiöse Kommunikation und Erbauung förderlich angesehen wurden, zum Beispiel intermediale und ›interart‹-Phänomene wie das Andachtsbuch und das Singspiel, die Text, Musik und Bild integrieren. Die Musik erscheint als ein wichtiges Element im religiösen und sozialen Bildungskonzept, das das literarische Werk Harsdörffers kennzeichnet.4 Dies kann man den Teilen seiner literarischen Produktion entnehmen, die auf Musikalisierung angelegt sind und denen man in erster Linie in den Frauenzimmer Gesprächspielen (1643–1649) begegnet. Hier findet man Texte, die in Zusammenarbeit mit dem Nürnberger Komponisten Sigmund Theophil Staden5 vertont wurden, vor allem das opernähnliche Singspiel Das Geistliche Waldgedicht oder Freudenspiel, genannt Seelewig6 (1644) und das tableau vivant der Tugendsterne (1645).7 Im Seelewig, dem ältesten erhaltenen Beispiel für deutsches Musiktheater, kann man Verbindungen sehen sowohl zum jesuitischen Schuldrama, der italienischen Musikdramatik des 17. Jahrhunderts und dem illusionistischen Theater. Die Musik spielt auch eine Rolle in Harsdörffers Beitrag zur theologischen Gebrauchsliteratur der Hertzbeweglichen Sonntagsandachten (1649–1652).8 Hier ist die Musik, freilich ohne Notendruck, den geistlichen Liedern des Werkes zugeordnet. Die Orientierung auf eine Vielfalt künstlerischer Medien prägte jedoch nicht allein die künstlerische Praxis Harsdörffers, sondern gab auch Anlaß zu theoretischen Reflexionen über die Kunstarten. Am bekanntesten sind die poetologischen Überlegungen an vielen Stellen seines Werks, vor allem in seiner Dich4

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Zu Harsdörffer und der Musik vgl. Rolf Hasselbrink: Harsdörffer, Georg Philipp. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Friedrich Blume. Kassel 1956, Bd. 5, Sp. 1735–1737, sowie Volker Meid: Harsdörffer, Georg Philipp. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. neubearb. Aufl. hg. v. Ludwig Finscher. Kassel 2002, Personenteil Bd. 8, Sp. 725. Sigmund Theophil Staden (1607–1655) wirkte als Komponist und Stadtmusikant in Nürnberg, seit 1634 zugleich als Organist an der St. Lorenz Kirche. Text und Musik sind abgedruckt in Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. IV, S. 32–165, Noten S. 489–622. Über das Werk vgl. im übrigen Peter Keller: Die Oper Seelewig von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Bern u. a. 1977; Mara R. Wade: Seelewig. The Earliest Existant German Opera and its Antecedent. In: Daphnis 14 (1985), S. 559–578; dies.: The German Baroque Pastoral »Singspiel«. Bern u. a. 1990, S. 109–190. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. V, S. 633–670. Zu Die Tugendsterne vgl. im übrigen James Haar: The Tugendsterne of Harsdörffer and Staden. An Exercise in Musical Humanism. Rom 1965. Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649–1652). Nachdruck hg. v. Stefan Keppler. Hildesheim u. a. 2007

Der musiktheologische Diskurs

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tungslehre Poetischer Trichter (1650),9 aber auch an vielen anderen Stellen, zum Beispiel in verschiedenen Passagen der Frauenzimmer Gesprächspiele, in den Einleitungen zu Hertzbewegliche Sonntagsandachten und in den enzyklopädisch angelegten Werken. Aber auch die Musik wird – wenngleich in geringerem Maße – Gegenstand von Überlegungen, wo Harsdörffer die Gelegenheit wahrnimmt, sein Verständnis von der Position und Funktion dieser Kunstart zu entfalten.10 Dieser Beitrag möchte den Versuch machen, einige Aspekte dieses Diskurses vorzustellen, der an unterschiedlichen Stellen seines Werkes auftaucht. 2. Im Prolog zu Seelewig trägt die allegorische Figur »Die Musik oder Singkunst« als »Vorrednerin« einen poetischen Text vor, in dem eine Reihe von Gesichtspunkten vorgestellt werden, die den Ursprung und Status der Musik sowie ihre Funktion und Wirkung betreffen. Da das Singspiel, und mit ihm der Prolog, zugleich in einem dialogischen Spiel vorgetragen wird, bei dem die Gesprächspartner es kommentieren,11 werden die Überlegungen zur Musik in der Form der Konversation beleuchtet. Der Prolog erscheint als eine Programmerklärung, die dazu dient, das Werk, das für die Aufführung vorgestellt wir, durch eine Herausstellung von wesentlichen Elementen seiner ideellen Grundlage zu legitimieren. Es handelt sich hier um einen musiktheologischen Diskurs, der von dem loci- oder commonplace-Denken der Epoche abhängig ist und dadurch gekennzeichnet ist, daß er seinen Gegenstand auf dem Hintergrund weithin anerkannter Einstellungen, Gesichtspunkte und Problemstellungen thematisiert.12 In der einleitenden Strophe des Prologs wird der hohe Stellenwert der Musik hervorgehoben, der mit der Annahme zusammenhängt, daß sich die Musik auf eine transzendente Wirklichkeit bezieht. In diesem Zusammenhang heißt es weiter, die Musik müsse einen weltlichen Horizont und Gebrauch überschreiten:

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Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969. Harsdörffers Musikanschauung ist nur in begrenztem Umfang von der Forschung behandelt; vgl. Irmgard Otto: Deutsche Musikanschauung im 17. Jahrhundert. Berlin 1937; Thomas Schlage: Die Vokalmusik Johann Erasmus Kindermanns (1616–1655). Eine sozial- und kompositionsgeschichtliche Untersuchung. Neckargmünd 2000, S. 47–48. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 76–209. Der Prolog wird im Gesprächspiel Nr. 156, S. 85–93, vorgestellt. Zu diesem Thema in bezug auf die Musik vgl. Sven Rune Havsteen: Music as a Topos in the Lutheran Construction of a Confessional Identity in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. In: Commonplace Culture in Western Europe in the Early Modern Period I. Reformation, Counter-Reformation and Revolt. Hg. v. David Cowling u. Mette Birkedal Bruun. Leuven (in Vorbereitung).

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Sven Rune Havsteen

Mein hoher Adelstand läst mich nicht gar verliegen / Ich muß / ich muß hervor und weisen / was ich kan! Mag ich die Frewelwitz des Pövels nicht vergnügen: So wird mein’ Ehre doch gelangen Himmel an.

Die folgenden Strophen des Prologs heben Aspekte hervor, die die einleitende Qualifizierung der Musik untermauern. Es handelt sich um Gesichtspunkte, die im Musikdiskurs des 17. Jahrhunderts bekannt sind: Es hat vor dieser Welt der Engel=Chor erschallet: Darnach in Gottes Volk ward ich mit seinem Wort / Daß der Posaunen Ruf nur durch die Lufte wallet / Und ohne Schwertesstreich obsieget manchem Ort Der Harfen Wunderklang dem bösen Geiste wehret / und ware Trostes voll in Fährlichkeit und Noht; Dem Abenopfer gleich / dardurch man hat geehret Mit süssem Lobgeruch den ewig grossen Gott.13

So begegnet man hier der Vorstellung von der himmlischen Musik (der Musik der Engel), die zugleich den transzendenten Aspekt der Musik, ihren edlen Ursprung und damit ihren hohen Rang als Kunstart hervorhebt. Im Gesprächspiel wird der Gedanke mit einem Zitat aus Hiob 38,714 verbunden, das in der christlichen Tradition zu den Bibelstellen gehört, die unter anderem die Grundlage für die Vorstellung von der Musik der Engel und der kosmischen Musik (musica mundana) darstellten, deren vornehmstes Kennzeichen der ewige Lobpreis ist.15 Die herausragende Position der Musik läßt sich zudem, heißt es weiter, an der zentralen Funktion ablesen, die der Gesang, wahrgenommen durch die levitische Priesterschaft, im jüdischen Kult innehatte. Die Auffassung von der bedeutenden Rolle der Musik in der Lebenswelt des Menschen wird darüber hinaus in bezug auf die günstigen Wirkungen formuliert. So wird – ausgehend von der biblischen Geschichte von den Posaunen, die die Mauern Jerichos einstürzen ließen (Josua 6) – hingewiesen auf die Vorteile der Musik im Krieg, ebenso werden die geistigen Effekte der Musik hervorgehoben, ihre Fähigkeit zu trösten sowie ihre apotropäische oder exorzistische Funktion – wobei als eine weiteres biblisches Beispiel auf die Geschichte vom Harfe spielenden David verwiesen wird, der den bösen Geist Sauls vertreibt (1. Samuel 16). In diesem Zusammenhang ist diese Gabe, negative Gemütszustände zu begrenzen oder zu beseitigen, eng verknüpft mit dem Gebrauch der Musik in einer doxologischen Funktion, d. h. in einem Lobpreis Gottes. 13 14 15

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 86. »Wo warest du / da mich die Morgensterne miteinander lobeten / und jauchzeten alle Kinder Gottes.« In einer Randnote wird zugleich auf Jesaja 6,3 verwiesen, wo das himmlische Trishagion erwähnt wird.

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Der Prolog macht jedoch auch darauf aufmerksam, daß der Gebrauch von Musik durch eine Desorientierung geprägt war, die ihre Verknüpfung mit der geistlichen oder sakralen Domäne schwächte. Hiermit kommt, wie auch aus dem Kommentar des Zusammenspiels hervorgeht, das bekannte Thema des Mißbrauchs von Musik zur Sprache. Ein solcher Mißbrauch tritt ein, wenn der weltliche Gebrauch der Musik einen Vorrang erhält in bezug auf den geistlichen Gebrauch, wie er aus schöpfungs- oder heilstheologischer Sicht verordnet ist: Noch hat sich nach der Zeit die Mißvernunft gefunden / Und von des Tempels Thür mich zogen mit Gewalt. Ich wurd der Knechtin gleich mit Uppigkeit gebunden / daß nach und nach mit mir die Gottes=Lieb erkalt.16

Die theologisch-moralische Kritik der Musik wird ergänzt durch eine ästhetische Kritik, indem darauf hingewiesen wird, daß die Musik in ihrer Geschichte Kunstregeln etabliert hat, die eine geordnete Gestaltung des musikalischen Werkes sichergestellt und die Grundlage für eine Schönheitsnorm gelegt hat – und daß diese Kunstregeln in der zeitgenössischen Musikkultur verletzt werden: Obwohl mein Kunstgeschmuck wurd eine Zeit bereichet / so gar daß ich mit Ziel und Grentzen wurd umschrenkt. Doch hört man leichtlich jetzt / wie ferne darvon weichet der / so nach seinem Kopf mit Grillwerk mich behengt.17

Der Prolog gibt jedoch zu verstehen, daß der kritikable Zustand, in dem sich die Musik befindet, überwunden werden kann. Das vorliegende Werk, das er vorstellt, wird als Beleg dafür angeführt, indem betont wird, daß es sich um ein geistliches Werk handelt. Dadurch ist die Musik in Übereinstimmung gebracht mit der theologischen Konstitution, welche diese Kunstart kennzeichnet. In der Perspektive des Prologs läßt sich die Reetablierung der Musik in einem religiösen Raum als eine notwendige Befreiung von dem weltlichen Erwartungshorizont beschreiben. Somit würde die Freiheit der musikalischen Kunst wiederhergestellt, die ihr aufgegebenen geistlichen Funktionen zu erfüllen: Das schwere Fesselband ist mir jetzt abgefallen. Dein Freiheit leitet mich zu Gottes Lob und Lehr’ / Und zu des Nechsten Lieb’. Ich lasse hier erschallen Ein geistliches Gedicht ohn eitlen Ruhm und Ehr.18

Die letzte Strophe des Prologs verweist auf die enge Verbindung zwischen Dichtung und Musik:

16 17 18

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 87. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 87. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 88.

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Hört nun / so euch beliebt / wie schön mit mir vermählet Die edle Reimenkunst / die so verliebt in mich / Daß sie mein Selbstwort heist / von meinem Geist beseelet Mein Spiel / mein Hertz / mein Lieb’ / ja mein selbst ander ich.19

Es handelt sich um einen Gedanken, der nicht zuletzt in der musiktheoretischen Literatur der Renaissance auftaucht, vor allem in Verbindung mit dem Aufkommen musikalischer Kunstgenres wie zum Beispiel Madrigal, Oper und Oratorium. Eine nähere Bestimmung des Verhältnisses zwischen den beiden Kunstarten bietet der Prolog nicht, es liegt aber nahe, hier eine Weiterführung der Vorstellung von einer Identität zwischen musikalischem und dichterischem Rhythmus zu sehen, die sich – aus der Sicht einiger musikalischer Theoretiker des Humanismus – in der künstlerischen Praxis und den theoretischen Reflexionen der Antike geltend gemacht haben.20 Die künstlerischen Konsequenzen, die daraus zu ziehen wären, sollten sich historisch gesehen in unterschiedliche Richtungen bewegen, aber die Idee von der engen Verwandtschaft der beiden Kunstarten war ein immer wiederkehrendes Thema und wurde unter anderem zur Unterstützung eines Konzeptes verwandt, in dem die Musik dem Text untergeordnet blieb, um den Rhythmus des Textes zu bewahren.21 Man kommt jedoch nicht darum herum, daß die Musik in dem Prolog und in der darauf folgenden Diskussion eine übergeordnete Rolle hinsichtlich der Poesie einnimmt. Diese herausragende Position wird durch eine Reihe von Betrachtungen begründet, die alle im zeitgenössischen musiktheoretischen Diskurs ihren Ort haben. Das Altersargument, das in dem einleitenden Teil des Prologs angesprochen wird mit dem Hinweis darauf, daß die himmlische Musik vor der Schöpfung existiert hat, wird durch den Hinweis auf Jubal (Genesis 4,21) untermauert, der in den Darstellungen des Ursprungs der Musik oft als Gründer der Musikausübung angeführt wird. Ein anderes Argument bezieht sich auf den Nutzen der Musik. Hier wird angeführt, daß die Musik eine Erfahrung von Freude vermittelt, die eine transzendente Wirklichkeitsdimension widerspiegelt, und hiermit eine tröstende Funktion in einer Welt hat, die in der christlichen Lebensanschauung wegen des Sündenfalls von negativen Existenzerfahrungen geprägt ist: Es hat die Music solche Lieblichkeit / daß fast scheinet / als ob vermittelst derselben allein die ewige Freude in diesem Jammerthale ausgebildet würde. Bald sich diese Kunst hören lässet / macht sie schweigen alles / was sonsten in den Menschen auch

19 20

21

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 88. Dies ist zum Beispiel der Fall in Augustins De Musica, wo Metrum und Versfüße als ein Teil der Domäne der Musik dargestellt werden und ein Weg zum Verständnis des musikalischen Rhythmus sind. In den Frauenzimmer Gesprächspielen (wie Anm. 6), Tl. V, S. 102, werden gerade Reime als eine »Art der Music« bezeichnet. Zu dieser Problematik vgl. zum Beispiel Daniel Pickering Walker: Der musikalische Humanismus im 16. und frühen 17. Jahrhundert. Kassel u. a. 1949, bes. S. 45–56.

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stillschweigend reden kann: sie machet alle Sorgen aus dem Hertzen entweichen / linderet die Schmertzen / besänfftiget den Zorn und belustiget mit unsträfflicher Wollust ihre Zuhörer.22

Der Ewigkeitsaspekt der Musik und das damit zusammenhängende Verständnis der Musik als ein wichtiger Aspekt der vollbrachten Erlösung im Eschaton stellt die Basis dar für die Begründung des Vorrangs und des höheren Status der Musik in bezug auf andere Kunstarten, und auch in dieser Perspektive kann man die menschliche Musikausübung als einen Widerklang der Ewigkeit betrachten: »Die Music ist hier auf Erden der Echo oder Widerhall der himmlischen Freuden.«23 Die zentrale Position der Musik wird zudem durch die folgende Replik unterstrichen, die sowohl die kosmische Dimension der Musik als auch ihre Rolle als universelle Macht in der menschlichen Lebenswelt anspricht: »Der Music Mittelpunct ist in dem Himmel / zu welchem alle ihre Ton stralen (wann also zu reden verlaubet ist) durch die Lufte eilen: Sie ist Königin edler Künste, eine Herrscherin unserer Sinne / die alle Kräfte den Ohren zueilen machen.«24 In diesem Zusammenhang wird die ganz besondere Wirkkraft der Musik bezüglich der Seelenkräfte des Menschen hervorgehoben: »Ob zwar die Seele ein Geist ist / welcher durch leibliche Dinge nicht mag erreget werden / so lassen doch alle derselben Kräffte / der Verstand / der Wille / die Gedächtniß / die Bildung / sich durch das Gehör übermeistern und bewegen.«25 Die Gesichtspunkte im Prolog zu Seelewig und das sie begleitende Gesprächspiel stecken die Koordinaten in einer Anschauung ab, die deutlich eine theologische Perspektive an die Musik anlegt. Als Auftakt des Singspiels liefert der Prolog eine Beschreibung der Idee und Absicht des Werkes. Eine Idee der Musik zu entfalten, dient diesem Ziel. Harsdörffer ist in seinen Betrachtungen weithin einig mit den Auffassungen, die die Reflexionen über Musik in der lutherischen Kultur der Epoche kennzeichnen. Dies gilt für die theologische Grundlegung der Musik unter Hinweis auf ihre transzendente und eschatologische Dimension, die ihren hohen Rang in der Hierarchie der Künste begründet. Dies gilt dann auch für die Vorstellung von der Musik als einer grundlegend geistlichen Kunst. Zu erwähnen ist auch die Auffassung von der Wirkkraft der Musik auf das menschliche Gemüt, die diese Kunstart zu einem zentralen religiösen Kommunikations- und Erkenntnismittel macht. Dazu kommen noch die Thematisierung des Mißbrauchs von Musik sowie die Idee von einer engen Verwandtschaft zwischen der Musik und der Poesie – eine Idee, die, wenngleich sie in einer Reihe unterschiedlicher Varianten vorliegt, im Musikdenken der Zeit gegenwärtig ist.

22 23 24 25

Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer: Harsdörffer:

Frauenzimmer Frauenzimmer Frauenzimmer Frauenzimmer

Gesprächspiele Gesprächspiele Gesprächspiele Gesprächspiele

(wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm.

6), 6), 6), 6),

Tl. Tl. Tl. Tl.

IV, IV, IV, IV,

S. S. S. S.

91. 91. 92. 91.

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Die Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Musikanschauung läßt sich sehr gut dokumentieren, auch mit Beispielen aus dem engeren kulturellen Umfeld Harsdörffers in Nürnberg. Die musikalische Veranstaltung in Nürnberg im Jahre 1643, die oft unter den Namen des ›Historischen Konzerts‹ erwähnt wird, ist eines dieser Beispiele.26 Es handelt sich um eine Vorstellung, die von dem Theologen Johann Michael Dilherr und von Sigmund Theophil Staden stammt. Sie wird als eine »Entwerffung deß / Fortgangs / Enderungen / Brauchs vnd Mißbrauchs der Edlen Music«27 bezeichnet und war darauf angelegt, einen Eindruck zu geben von der Geschichte der Musik von ihrer Entstehung bis zur Gegenwart, aufgebaut aus 22 Musikstücken von verschiedenen Komponisten, hierunter Staden selbst. Das Konzertarrangement kann freilich nicht ohne weiteres als eine historische Rekonstruktion musikalischer Erzeugnisse vergangener Epochen beschrieben werden. Zwar werden Beispiele aus der Musikgeschichte verwendet, aber diese stammen vornehmlich aus neuerer und neuester Zeit und dienen dazu, den hohen historischen Entwicklungsstand der Nürnberger Musikkultur herauszustellen. Auch wenn dieser Aspekt augenfällig ist und von lokalpatriotischer Gesinnung und kulturellem Selbstbewußtsein zeugt, muß jedoch sogleich hinzugefügt werden, daß dies in eine theologische Anschauung eingebunden ist, deren bedeutungsgebender Rahmen die Bibel darstellt. Von hier aus wird ganz deutlich eine heilsgeschichtliche Perspektive entworfen. Sie schildert einen Prozeß, der von der Schöpfung über das Christusereignis bis zum Endpunkt der Geschichte am Ende der Zeiten reicht. Der theologische Verständnishorizont für die Musik ist beispielsweise schon durch die einleitenden und abschließenden Stücke (I und XIX, XXII) des ›Historischen Konzerts‹ angezeigt. Dort werden der Anfang und der abschließende Höhepunkt der Musik repräsentiert durch den Lobgesang der Engel – veranstaltet »vor der Schöpfung der Welt« – und durch die musica coelestis, verstanden als die eschatologische Ewigkeitsmusik, für die die irdische Musikpraxis nur ein ›Vorgeschmack‹ ist. Andere Stücke weisen in dieselbe Richtung. Die christlich-mythologische Deutung umrahmt in diesem Zusammenhang die irdische Musikentfaltung mit dem Ziel, ihre Ehrwürdigkeit festzuhalten. Darin ist zugleich auch angezeigt, daß die Musik ein geistlich-religiöses Ziel hat, das eine Grenze zwischen ihrem rechten Gebrauch und Mißbrauch zieht, und eine Erkenntnis- und Kommunikationsfunktion, die sich in ihrer Wirkkraft manifestiert (auch hier – Stück VI – unter Hinweis auf 1. Samuel 16). Dies gilt nicht zuletzt in bezug auf den Gebrauch der Musik 26

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Zu diesem Werk vgl. Conrad Wiedemann: Nachwort. In: Johann Klaj: Friedensdichtungen und kleinere poetische Schriften (1642–1650). Nachdruck hg. v. Conrad Wiedemann. Tübingen 1968, S. 6*–16*; Willi Kahl: Das Nürnberger historische Konzert von 1643 und sein Geschichtsbild. In: Archiv für Musikwissenschaft 14 (1957), S. 281–303; Mara R. Wade: Das »Historische Konzert« im Kontext. Literarische Musikkultur des 17. Jahrhunderts in Nürnberg. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 114–131. Dies ist die Beschreibung in einer zeitgenössischen Programmschrift; vgl. Klaj: Friedensdichtungen (wie Anm. 26), S. 8.

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als Textauslegung, was sowohl unter Hinweis auf Davids Psalmen (Stück VII) als auch auf die musikgeschichtliche Entwicklung einer affektvermittelnden Musik mit dem Nürnberger Hans Leo Hassler als herausragendem Beispiel (Stück XV) hervorgehoben wird. Auch wenn die Darstellungen unterschiedlich sind, so leuchtet es ein, daß Harsdörffers Prolog zu Seelewig und das ›Historische Konzert‹ sich in einem Universum von Vorstellungen bewegen, die einander sehr nahe stehen. Die Einbeziehung von weiterem Quellenmaterial aus dem 17. Jahrhundert innerhalb einer Reihe unterschiedlicher Textgenres (Musiktheater, Vorworte zu Musiksammlungen28, Andachtsliteratur, Liedliteratur, Predigten29, enzyklopädischen Werken, dazu Bildmaterial30) könnte dokumentieren, daß wir hier einen topos vor uns haben – das heißt einen Vorrat an Stoffen, Themen, Gesichtspunkten, die die Reflexionen der Epoche über die Musik strukturieren.31 Die musiktheologische Anschauung, die hier umrissen ist, hat sich immer wieder in der lutherischen Tradition bemerkbar gemacht.32 Hier erscheint sie überwiegend als ein begleitender Diskurs zu musikalischen Praxisformen, die in

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Aus dem Nürnberger Kulturkreis kann man zum Beispiel Johann Erasmus Kindermanns (Komponist, 1616–1655) Vorrede zu Opitianischer Orpheus (1642) und zu Evangelische Schlußreime (1652) nennen, beide Texte sind nachgedruckt in: Schlage: Die Vokalmusik Johann Erasmus Kindermanns (wie Anm. 10), S. 235–236 u. 246–249. Im selben Werk ist außerdem ein Brief von Kindermann an Sigmund von Birken abgedruckt, datiert vom 27. Februar 1653, der – mit seinen Überlegungen und Entwürfen zu einem ›Grablied‹ anläßlich der bevorstehenden Todes des Komponisten – sich ebenfalls zu dem in diesem Artikel thematisierten Musikdenken verhält. Vgl. zum Beispiel Johann Sauberts Musikpredigt Seelenmusic (1623); zu diesem Text Thomas Schlage: SeelenMusic. Eine Predigt des Nürnberger Theologen Johann Saubert (1592–1646). In: Die Quellen Johann Sebastian Bachs. Bachs Musik im Gottesdienst. Hg. v. Renate Steiger. Heidelberg 1998, S. 173–187; S. 188–203 wird die Predigt nachgedruckt. Ein schönes Beispiel aus dem Nürnberger Kontext ist die von Sigmund Theophil Staden entworfene Poetische Vorstellung der irdischen und himmlischen Musik, die neben einem 48 Strophen langen Gedicht die lutherische Musikanschauung mit einem Kupferstich darstellt; vgl. im übrigen Hans Heinrich Eggebrecht: Zwei Nürnberger Orgel-Allegorien des 17. Jahrhunderts. Zum Figur-Begriff der Musica Poetica. In: Musik und Kirche 27 (1957), S. 170–181. Vgl. Rolf Damman: Der Musikbegriff im deutschen Barock. 3. Aufl. Köln 1995, sowie Sven Rune Havsteen: Aspects of Musical Thought in the Seventeenth-Century Lutheran Tradition. In: The Arts and the Cultural Heritage of Martin Luther. Hg. v. Eyolf Østrem, Jens Fleischer u. a. Kopenhagen 2003, S. 151–169. Zu Luthers Musikanschauung vgl. zum Beispiel Walter Blankenburg: Luther und die Musik. (1957). In: Ders.: Kirche und Musik. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der gottesdienstlichen Musik. Hg. v. Erich Hübner u. Renate Steiger. Göttingen 1979, S. 17–30; Oskar Söhngen: Theologie der Musik. Kassel 1967, S. 80–112; Christoph Krummacher: Musik als praxis pietatis. Zum Verständnis evangelischer Kirchenmusik. Göttingen 1994, S. 11–40; Johannes Block: Verstehen durch Musik. Das gesungene Wort in der Theologie. Ein hermeneutischer Beitrag zur Hymnologie am Beispiel Martin Luthers. Tübingen u. a. 2002.

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der Liturgie oder ihrem Umfeld beheimatet sind, und zwar mit dem Ziel, die herausragende Rolle der Musik als religiöses Kommunikationsmittel zu legitimieren. Dies ist ein Bestreben, das man sowohl als eine interne Klärung der lutherischen konfessionellen Identität wie auch als Teil einer kontroverstheologischen Polemik sehen kann, die sich gegen die calvinistische Musikkritik richtet.33 Man sollte aber beachten: Wenn sich Harsdörffer in das Gebiet musiktheologischer Reflexion im Rahmen eines Singspiels wie Seelewig begibt, liegt es nahe, dies als eine programmatische Aussage zu interpretieren, die ein neues Werkkonzept legitimieren soll. Wenn diese Beobachtung zutrifft, erscheint der musiktheologische Bezug als ein Versuch, künstlerische Praxis, die sich außerhalb der liturgischen oder sakralen Sphäre befindet, als einen gültigen Mitspieler in der kulturellen Landschaft einzubeziehen. Diese Operation läßt sich am ehesten als eine theologische Funktionalisierung und Grundlegung der Domäne der Kunst bezeichnen, die auch – wie die Forschung gezeigt hat34 – ihren Niederschlag im poetologischen Denken bei Harsdörffer35 und den Dichterkollegen, namentlich Sigmund von Birken36 und Johann Klaj37, gefunden hat. 3. Außer in den Frauenzimmer Gesprächspielen, die noch mehr Beispiele für Thematisierungen der Musik enthalten als die hier dargestellten, wird dieses Thema auch in den von Daniel Schwenter begründeten Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden38 (1636–1653) aufgenommen, die Harsdörffer mit einem zweiten 33 34

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Zu dieser Problemstellung vgl. Havsteen: Music as a Topos (wie Anm. 12). Vgl. zum Beispiel Jörg-Ulrich Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter als Poetik geistlicher Dichtung. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 143–162; Hans-Georg Kemper: Religion und Poetik. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer in Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino u. a. Wiesbaden 1995, S. 63–92; Conrad Wiedemann: Engel, Geist und Feuer. Zum Dichterselbstverständnis bei Johann Klaj, Catharina von Greiffenberg und Quirinius Kuhlmann. In: Literatur und Geistesgeschichte. Festschrift Heinz Otto Burger. Hg. v. Reinhold Grimm u. Conrad Wiedemann. Berlin 1968, S. 85–109. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 9), Bl. ii r–viiiv. Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind= und Dicht-Kunst (1679). Nachdruck Hildesheim 1973. Johann Klaj: Lobrede der Teutschen Poeterey (1645). In: Ders.: Redeoratorien und Lobrede der Teutschen Poeterey. Nachdruck hg. v. Conrad Wiedemann. Tübingen 1965, S. 377–416. Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990; Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990; ders.: Delitiae Philosophicae et Mathematicae Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil (1653). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990.

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und dritten Teil weiterführte. Schon im ersten Band, verfaßt von Schwenter, ist die Musik Teil eines Wissensprogramms, das nicht nur die klassischen artes liberales umfaßt, sondern auch neuere Entwicklungen innerhalb der naturwissenschaftlichen Gebiete39 widerspiegelt. Harsdörffer stellt denn auch in diesem Zusammenhang die Musik dar. Diese Darstellung ist, wie bei anderen Themen in den Erquickstunden, durch die bemerkenswerte Zusammenführung von theologisch-philosophischen Gedankengängen, symbolisch-allegorischen Denkformen und empirisch-wissenschaftlichen Zugängen zu den ausgewählten Sachbereichen geprägt, oft vermischt mit einem Interesse für eher kuriose Aspekte der abgehandelten Themen. Im folgenden soll das theologisch-philosophische Musikverständnis kurz dargestellt werden, das in dem Werk seinen Ausdruck findet. Schon der erste Teil beleuchtet in der Vorrede zum Musikkapitel40 – mit einer Reihe von Hinweisen vor allem auf die Bibel, antike mythologische Figuren und Autoren – die grundlegenden Fragen, die die Darstellung der Musik in einem topos-orientierten Denken organisieren. Das Augenmerk ist darauf gerichtet, den Ursprung, das Ziel und den Nutzen der Musik aufzudecken. So wird hier die Engelmusik als Ursprungsort der Musik angeführt, zugleich wird auf die kosmische Dimension der Musik verwiesen, die sich Platon und Pythagoras zufolge in der Harmonie der Sphären zu erkennen gibt. Die herausragende Rolle und der Nutzen der Musik, wie weiter betont wird, läßt sich am Alten Testament ablesen. Hier erscheint die Musik grundlegend als Lobpreis Gottes. Im Anschluß an das, was man als eine christliche Rekontextualisierung der klassischen Inspirationslehre bezeichnen muß, stellt sich die Musik als Ergebnis der Anregung dar, die vom Heiligen Geist ausgeht und deshalb als »eine Göttliche Kunst«41 gedeutet wurde. Der Nutzen der Musik in der christlichen Kirche wird unter Hinweis auf Augustin als einem der geschichtlichen Zeugen hervorgehoben, die die religiöse Wirkkraft dieser Kunstart erkannt haben. Augustin wird mit einer Äußerung zitiert, wo es heißt: »Sie sey nicht allein eine liebliche Artzney deß krancken Gemüts / sondern sie vermögen so viel / daß der Thaw Göttlicher Gnade allgemach über vns daher trieffe«42 – ein Gedankengang, der zudem durch eine Reihe von mythischen und historischen Beispielen unterstützt wird, darunter Orpheus, Davids Harfenspiel für Saul, Boethius. Harsdörffers Darstellung der Musik im zweiten und dritten Teil der Erquickstunden ist weithin identisch mit dem, was im Prolog zu Seelewig formuliert wurde. Die Engelmusik wird so in der Behandlung der Frage nach dem

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Über das Wissensprogramm und die Voraussetzungen des Werkes vgl. Jörg Jochen Berns: Einleitung. In: Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae PhysicoMathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, S. V–XLIV. Harsdörffer u. Schwenter: Erquickstunden (wie Anm. 38), Tl. I, S. 229–247. Harsdörffer u. Schwenter: Erquickstunden (wie Anm. 38), Tl. I, S. 230. Harsdörffer u. Schwenter: Erquickstunden (wie Anm. 38), Tl. I, S. 230.

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Ursprung und Rang der Musik thematisiert und dazu verwandt, ihre Transzendenzdimension festzustellen und ihre tröstende Funktion zu begründen: Dieser Englischen Belustigung sind wir Menschen etlicher massen auch theilhafftig und lieben sie / als eine hertzbewegliche Freude in unsrem Leide / als einem durchdringenden Trost in unsrer Traurigkeit / als ein liebliche Erquickung bey unsrer Arbeit und als eine Abbildung deß himmlischen in diesem irdischen Jammer Thal.43

Die Musik als eine universelle Macht wird zudem mit Formulierungen beschrieben, die fast wörtlich Formulierungen aus den Frauenzimmer Gesprächspielen44 wiedergeben. Auch hier wird wie zuvor die Wirkkraft der Musik von historischen Beispielen aus dargestellt. Neben diesen bekannten musiktheologischen Gedanken vertieft Harsdörffer jedoch die metaphysische Perspektive der Musik, wobei die Musik – in Übereinstimmung mit antik-mittelalterlichem Denken – als ein Phänomen entfalten wird, das grundlegend durch Zahlen bestimmt ist.45 Ein solcher Begriff von Musik gehört zu einer Anschauung, nach der die Wirklichkeit im umfassenden Sinne in Zahlen oder Zahlenverhältnissen begründet ist. Zahlen decken somit nicht nur die hörbare klingende Musik, sondern werden als eine Eigenschaft der geschaffenen Welt selbst angesehen. Unter Hinweis auf Trismegistus46 verknüpft Harsdörffer diese Vorstellung vom Zahlencharakter der Wirklichkeit mit dem Gedanken der Weltordnung (›aller Dinge Ordnung‹), die gleichbedeutend ist mit der Auffassung des Seienden als etwas, das von einer umfassenden Harmonie beherrscht ist, die sich sowohl auf der Makro- als auch der Mikroebene manifestiert. Harsdörffer nennt in diesem Zusammenhang vier Zahlenkategorien: Die erste umfaßt die Zahlen, die die Natur in ihren verschiedenen Bewegungen und Prozessen kennzeichnet, die also mit Zunehmen, Abnehmen, Wachstum zu tun haben. Die zweite Zahlenkategorie bezieht sich auf die menschliche Vernunft. Die dritte bilden die mystischen Zahlen, gekennzeichnet durch die Aufteilung in weibliche (gleiche, unvollkommene) und männliche (ungleiche, vollkommene) Zahlen, die die Zeit des Menschen in günstige oder ungünstige Richtung qualifizieren. Und schließlich eine vierte Kategorie, numerus Musicus. Das sind die Zahlentypen, die sich in der Dichtung und der Musik geltend machen. Die Zahl bildet hier die Grundlage für die ›kunstrichtige Zusammenstimmung‹, welche den Kunstarten die bedeutende Wirkkraft verleiht, die Harsdörffer festzustellen versucht.

43 44

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Harsdörffer: Erquickstunden (wie Anm. 38), Tl. III, S. 349. Zum Beispiel kehrt eine Variante des oben zitierten Textes aus Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. IV, S. 91–92, in Harsdörffer: Erquickstunden (wie Anm. 38), Tl. II, S. 131, wieder. Es handelt sich um eine Anschauung, die die Musik als eine quadriviale Wissenschaft kategorisiert. Es handelt sich um Hermes Trismegistus, bekannt als Autor der antiken, religiös-philosophischen Textsammlung, die Hermetica genannt wird.

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Das ordo-Denken, das hier seinen Niederschlag findet, stellt einen charakteristischen Zug des Musikdenkens im 17. Jahrhundert dar. Der bekannte Polyhistor und Jesuit Athanasius Kircher,47 eine der wichtigen Bezugspersonen Harsdörffers, repräsentiert einen Höhepunkt in der harmonikalen Reflexion über Musik in dieser Zeit. Aber auch im lutherischen Zusammenhang gibt es ähnliche Gedankengänge.48 Aus dem Nürnberger Bereich wäre der Komponist Johann Andreas Herbst49 zu nennen, der in Arte Prattica et Poetica (1653) eine Beschreibung der harmonikalen Verfassung der Wirklichkeit vorlegt, deren Formulierungen den Gedankengängen Harsdörffers entsprichen: Die Harmonia ist in allen Dingen das allerschönste und ist wahrzunehmen überall, im Himmel und auf Erden, sowohl in den Dreieinigen Gott, dem Creatori und Ursprung aller Geschöpfe selbsten, als auch in dem Chor der guten Geister und heiligen Engel, in dem Macrocosmo, den himmlischen Körpern, Elementen, Meteoris, Metallen und Edelgesteinen, in den Erdgewächsen und Tieren etc., wie nicht weniger in dem Microcosmo oder Menschen […] Und wie die Anarmonia und Uneinigkeit eine Ursache des Untergangs in allen Dingen ist, also wird dagegen durch die Harmoniam alles erhalten, kraft welcher auch alles bestehet, ja das, was gefallen, wieder aufgerichtet und durch seine Harmoniam und Einigkeit auf festem Fuß bleiben […] und zum Harmonischen Ebenbild Gottes wieder erneuert werden kann.50

Der metaphysische Begriff der Musik dient dazu, die Universalität der Musik festzuhalten. Hiermit wird noch ein Argument zur Idee ihres Vorranges als Kunst hinzugefügt, und es wird zugleich auch eine rationale Norm für ihre Ausübung festgelegt. In der Darstellung Harsdörffers bedeutet diese Erkenntnis jedoch nicht nur eine Stärkung des musiktheologischen Verständnisses von Musikausübung auf breiter Front. Sie bedeutet zugleich eine Aufforderung zu empirischen Untersuchungen, die die vielfältigen Strukturen des musikalischen Phänomens aufdecken und letztlich auf diesem Wege zu einer naturwissenschaftlichen Legitimation der Kunst beitragen können. 47 48

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Athanasius Kircher (1601–1680), Autor unter anderem des musiktheoretischen Werkes Musurgia Universalis (1650), das auf der Idee einer Universalharmonie aufbaut. Vgl. zum Beispiel Johann Lippius: Synopsis Musicae Novae (1612); Johannes Kepler: Harmonices Mundi Libri V (1619); Laurentz Schröder: Ein nützliches Tractätlein Vom Lobe Gottes oder der hertzerfrewende Musica (1639). Über den Begriff musikalischer Ordnung Damman (wie Anm. 31), S. 23–92; Walter Blankenburg: Der Harmoniebegriff in der lutherisch-barocken Musikanschauung. In: Walter Blankenburg: Kirche und Musik. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte der gottesdienstlichen Musik. Hg. v. Erich Hübner u. Renate Steiger. Göttingen 1979, S. 204–217; ein wichtiger Beitrag ist überdies Simeon K. Heninger jr.: Touches of Sweet Harmony. Pythagorean Cosmology and Renaissance Poetics. San Marino/Cal. 1974, auch wenn sich die Untersuchung überwiegend auf den englischen Kulturkontext bezieht. Johann Andreas Herbst (1588–1666), Komponist und Autor musiktheoretischer Werke, 1636–1644 Kapellmeister in Nürnberg. Zitiert nach Hans Heinrich Eggebrecht: Heinrich Schütz. Musica Poetica. Wilhelmshaven 1989, S. 78.

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Sven Rune Havsteen

3. Es handelt sich also in Harsdörffer Werken um eine Musikanschauung, in der sich ganz unterschiedliche Elemente vereinen. Auf dem Hintergrund des hier thematisierten musiktheologischen Diskurses erscheint es abschließend angebracht, die Möglichkeiten zu untersuchen, wie man die Rolle der Musik im Rahmen einer Frömmigkeitstheorie oder -methodik definieren kann. Zwei Beobachtungen sind in diesem Zusammenhang wichtig. Erstens ordnet Harsdörffer bei seinem Versuch, ein System der Kunstarten zu umreißen, die Musik – außer dem Gehör – einem inneren Sinn, dem Gedächtnis zu, und dies bedeutet, daß diese Kunst sich am Vergangenen orientiert.51 Ein ähnlicher Gedankengang findet sich in den Hertzbeweglichen Sonntagsandachten,52 wo die herausragende Rolle der Musik, genauer des Gesanges, im Neuen Testament mit ihrer das Gedächtnis stützenden Funktion verbunden wird: Wie die alten Teutschen ihre Gesetze zu singen pflegten / damit sie dem groben Pövel möchten in dem Gedächtniß verbleiben / daher wir noch einen jeden § oder Absatz ein Gesetz nennen; also pflegen wir unsre geistliche Gesetze und fast alle Stücke der Christlichen Lehre dem Volk / nach uraltem Gebrauch / vorzusingen / und kommet der Lateiner Wort per chorum discere, und der Franzosen apprendere par coeur oder cheur daher / daß die alten Christen (fideles) welche in dem Chor abgesondert gewesen / den Lehrlingen und Cathechismusschulern vorgesungen / daß sie es solchergestalt ohne Mühe zu Gedächtniß gefasset.53

Die Musik erscheint damit als ein wichtiges instrumentum pietatis, da sie wie die Bildmeditation, zu der das vorliegende Andachtsbuch ebenfalls anregt, die christliche Lehre im Bewußtsein des Menschen zu verankern beiträgt. Eine solche Auffassung von der Rolle der Musik in der christlichen Frömmigkeitspraxis stimmt mit einer Reihe musiktheologischer Aussagen im lutherischen Kontext überein, wo eine der vornehmsten Wirkungen der Musik darin besteht, die Botschaft der Verkündigung im Persönlichkeitszentrum, dem Herzen des Gläubigen ›einzubilden‹. Der Effekt eines solchen ›Einbildungsprozesses‹ ist der, daß das hier Vermittelte beständiger erinnert wird als das, was man sich zum Beispiel durch die Predigt oder das Lesen aneignet. Die Botschaft wird durch einen vertonten Text tiefer ›eingepflanzt‹, als dies ein durch die Rede vorgetragener oder gelesener Text vermag. Der Ausdruck ›einbilden‹ versteht sich als ›einprägen‹, das heißt wie ein Bild in ein Material eingeprägt wird. In dieser Verwendung bezieht es sich auf die Fähigkeit der Musik, das Wort so zu vermitteln, daß es sich im Bewußtsein bleibend festsetzt. Indem sie das Wort wie ein Bild einprägt, befördert die Musik die Aufnahme des Wortes in das Gedächtnis. So betrachtet,

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 6), Tl. V, Bl. Avr. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 8). Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 8), Tl. I, Vorrede, Bl. Bv.

Der musiktheologische Diskurs

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scheint ›einbilden‹ zu bedeuten, daß die Musik in Besitz einer Gestaltungskraft ist, die sozusagen bildschöpfend wirkt oder jedenfalls in Besitz einer damit vergleichbaren Fähigkeit ist. Und mit dieser Eigenschaft spielt sie eine zentrale Rolle auch für die praktische Theologie.54 Der Verfasser dankt dem Übersetzer Eberhard Harbsmeier.

54

Zu diesem Aspekt der Musik vgl. Havsteen: Aspects of Musical Thought (wie Anm. 31).

Irmgard Scheitler

Harsdörffer und die Musik Seelewig im Kontext deutschsprachiger Musikdramatik

Es ist allgemein bekannt, wie stark Harsdörffer an einer musikalischen Belebung seiner Dichtung interessiert war. Sein Urteil über Musik geht weit über das hinaus, was man gemeinhin als Topoi kennt. Harsdörffer nennt die Musik eine »der uhralten Künste«; sie habe »ihren Uhrsprung mit den Engeln genommen«.1 Das menschliche Wohlgefallen an ihr liege begründet in der »Gleichstimmung der Music / und deß in den vier Elementen bestehenden Cörpers«.2 Gott habe sie den Menschen geschenkt, »unser mühesames Leben hierdurch zu versüssen / und zu erleuchtern«,3 ja sie sei ein »Vorgeschmack […] deß ewigen Lebens«.4 So bezog der Nürnberger immer wieder musikalische Elemente in sein nach Universalismus strebendes Werk ein. Lieder schrieb er zumeist mit einer Weise im Ohr; die vielen Melodieangaben bezeugen es. Bei Schauspielen konnte er auf Vokal- und Instrumentalmusik nicht verzichten, und selbst jenes Enkomion für Wrangel, das für Harsdörffer ein juristisches Nachspiel hatte, war vertont.5 Sieht man von einzelnen Liedern ab, die der berühmte Zwickauer Andreas Hammerschmidt 1658 in seine Fest=, Buß= und Danklieder aufgenommen hat, so waren es vor allem Nürnberger Landsleute, die Harsdörffer für Vertonungen gewinnen konnte, auch sie Musiker von deutschlandweitem Ruf.

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Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, S. 229. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. II, S. 293. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. V, S. 282; vgl. ebd., Tl. VI, S. 157. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, S. 293f. Georg Philipp Harsdörffer: Lobgesang Dem [...] Herrn Carl Gustav Wrangel (1648). Nachdruck in: John Roger Paas: Poeta incarceratus. Georg Philipp Harsdörffers ZensurProzeß 1648. In: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Aufsätze. Hg. v. Conrad Wiedemann. Heidelberg 1979, S. 155–164. Die auf dem Einblattdruck beigegebene Vertonung stammt von Sigmund Theophil Staden.

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Irmgard Scheitler

Johann Erasmus Kindermann (1616–1655), Schüler von Johann Staden, hatte sich während eines mehr als einjährigen Aufenthaltes in Italien mit der neuen Musik bekannt gemacht. Wahrscheinlich studierte er nicht nur in Venedig, sondern auch in Rom die Werke seiner Kollegen, da er Carissimi und Frescobaldi herausgab. Von ihm stammen die Kompositionen zu den Harsdörffer-Liedern in Michael Dilherrs Göttlicher Liebesflamme (1651 u. ö.). Paul Hainlein (1626–1686), Nachfolger Kindermanns als Ägidienorganist, hatte ebenfalls auf Reisen die italienische Musik studiert. 1657 schrieb er die Melodien zu den Harsdörfferschen Monatsliedern in Dilherrs Christlichen Betrachtungen (1657 u. ö.). Noch intensiver arbeitete Harsdörffer mit dem Sohn Johann Stadens zusammen, Sigmund Theophil Staden. Auch er war nicht nur auf deutsche Musiktradition eingeengt: Nürnberg unterhielt ausgezeichnete Handelsverbindungen mit Venedig, wovon schon Johann Staden, der Vater, profitiert hatte: Er besaß ein Exemplar von Gabrielis Symphoniae Sacrae, komponierte im Stil von Viadana, arbeitete ein Vokalwerk von Monteverdi um und beherrschte den stilo rappresentativo mit liegenden Bässen und einer deklamierenden Oberstimme.6 Sigmund Theophil oder Gottlieb Staden (1607–1655) war als Organist bei St. Sebald und St. Lorenz der angesehenste Musiker der Stadt. Überdies war er als Stadtpfeifer tätig; die einschlägige Ausbildung hatte er in Augsburg und Berlin erhalten. 7 Als hochgebildeter und moderner Komponist arbeitete er mehr noch als Kindermann mit den Mitteln der musikalischen Rhetorik und Affektenlehre.8 Er war der verantwortliche Musiker für das ›Historische Konzert‹ 1643 und das Friedensbankett 1649. Johann Klaj konnte ihn für die musikalische Gestaltung jener akademischen actus gewinnen, die der ehrgeizige Kriegsflüchtling seit 1644 in Rahmen von Dilherrs Veranstaltungsreihe im Ägidiengymnasium abhielt.9 Als Liedkomponist arbeitete Staden der Jüngere für Daniel Wülffer und Johann Rist. Harsdörffer zog ihn für Musikeinlagen in seinen Bühnenwerken heran: dem Sprichwörterdrama (1642), dem Spiel Von der Welt Eitelkeit (1643)

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Vgl. Thomas Röder: Staden. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. 2. neubearb. Aufl. hg. v. Ludwig Finscher. Kassel u. a. 2006, Personenteil Bd. 15, Sp. 1261–1267, hier Sp. 1262. In Berlin lernte Staden von Februar bis August 1627 bei dem englisch-brandenburgischen Gambisten Walter Rowe (Roy) das Viol-Bastarda-Spiel. Vgl. Curt Sachs: Musik und Oper am kurbrandenburgischen Hof. Berlin 1910, S. 47. Seine Behandlung etwa des Schlußliedes Du schnöder Menschen Sinn im Drama Von der Welt Eitelkeit ist hochraffiniert und extrem charakteristisch; vgl. Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004, S. 282. Johann Klaj: Redeoratorien und Lobrede der Teutschen Poeterey (1644–1645). Nachdruck hg. v. Conrad Wiedemann. Tübingen 1965.

Harsdörffer und die Musik

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und den Tugendsternen (1645).10 Besondere Aufmerksamkeit hat die Forschung der sogenannten Oper Seelewig (1644) geschenkt.11 Als die Musikwissenschaft sich gegen Ende des patriotischen 19. Jahrhunderts etablierte, hätte sie gar zu gerne eine sehr frühe deutsche Oper vorzeigen können, die Deutschland in dieser Großgattung mit Italien und Frankreich gleichstellt. Da die Suche nach einer Musik zu Opitzens Dafne nicht weiterführte, stellte bereits 1864 August Reissmann in seiner Geschichte der Musik die Seelewig vor.12 Robert Eitner entdeckte das Werk 1881 quasi neu und zitierte stolz einen Spruch, den angeblich Johann Staden im Munde geführt haben soll: »Italiener nicht alles wissen, Deutsche auch etwas können.«13 Seither haftet der Seelewig die Bezeichnung ›früheste deutsche Oper‹ an. Es war eine Französin, die jüngst mit dieser Gattungszuordnung scharf ins Gericht ging und der ersten deutschen Oper schwer am Lack kratzte: Danielle Brugière-Zeiß in ihrem 630 Seiten dicken Beitrag von 2003.14 Dieses Buch beansprucht so etwas wie einen Denkmalsturz. Es zeiht Harsdörffer darüber hinaus der musikalischen Unbildung. 10

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In Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2) finden sich folgende Vertonungen durch Sigmund Theophil Staden: Vom halben Umbkreis (Tl. II, S. 272–290), Von der Welt Eitelkeit (Tl. III, S. 170–242), Die Tugendsterne (Tl. V, S. 280–310, Noten S. 633–670), Seelewig (Tl. IV, S. 32–165, Noten S. 489–622), Trompeten-Music Des Schauspiels zu Roß (Tl. VII, S. 1–7, Noten S. 430f.); ferner einzelne Lieder. Der Text zu Seelewig findet sich außer in Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 32–165 u. 489–622, auch in den Textbüchern zur Aufführung Wolfenbüttel 1654. Es liegen zweierlei Drucke vor, die aber in Titel und Text identisch sind: Ein Geistliches Wald=Gedicht / Darinnen vorgestellet wird Wie der böse Feind den frommen Seelen auff vielerley Weise nachtrachtet [...] / Dessen Titel heist Selewig / Von der fürnehmesten Person dieses Wald=Gedichts. Wolfenbüttel 1654. – Forschungsliteratur: Joseph Leighton: Die Wolfenbütteler Aufführung von Harsdörffers und Stadens Seelewig im Jahre 1654. In: Wolfenbütteler Beiträge 3 (1978), S. 115–128; Susanne Bauer-Roesch: Gesangspiel und Gesprächspiel – Georg Philipp Harsdörffers Seelewig als erste Operntheorie in deutscher Sprache. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, Bd. 1, S. 645–664; Christiane Caemmerer: Siegender Cupido oder triumphierende Keuschheit. Deutsche Schäferspiele im 17. Jahrhundert, dargestellt in einzelnen Untersuchungen. Stuttgart u. a. 1998, S. 243– 304; Peter Keller: Die Oper Seelewig von Sigmund Theophil Staden und Georg Philipp Harsdörffer. Bern u. a. 1977; Mara R. Wade: The German Baroque Pastoral »Singspiel«. Bern u. a. 1990, S. 109–190; Judith Aikin: Narcissus and Echo. A Mythological Subtext in Harsdörffers Operatic Allegory Seelewig. In: Music and Letters 72 (1991), S. 359–371; Steven R. Huff: The Early German Libretto: Some Reconsiderations Based on Harsdörffer’s Seelewig. In: Music and Letters 69 (1988), S. 345–355; Judith P. Aikin: A Language for German Opera. The Development of Forms and Formulas for Recitative and Aria in Seventeenth-Century German Libretti. Wiesbaden 2002, bes. S. 89–113. August Reissmann: Geschichte der Musik. München 1864, Bd. 2, S. 159. Das älteste bekannte deutsche Singspiel Seelewig. Gedichtet von Georg Philipp Harsdörffer, in Musik gesetzt von Sigmund Gottlieb Staden Nürnberg 1644. Neue Ausgabe mit einem ausgesetzten Generalbaß nebst Klavierauszug versehen von Robert Eitner. In: Monatshefte für Musikgeschichte 13 (1881), S. 53–147, hier S. 56. Danielle Brugière-Zeiß: Seelewig de G. Ph. Harsdörffer et S. Th. Staden: un Opera? Un project pastoral original entre musique et litterature. Bern 2003. Vgl. auch die Rezension von

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Irmgard Scheitler

Quintessenz der Untersuchung ist es, daß Seelewig keinen Anspruch auf die Bezeichnung Oper erheben darf, obwohl es im Titel heißt »Gesangsweis auf Italianische Art«.15 Eine Oper, so wissen wir, setzt sich aus Rezitativen und Arien zusammen. Wenn in der Seelewig keine Rezitative vorkommen, kann sie – nach strenger Gattungsdefinition – keine Oper sein. Harsdörffer vergriff sich, wie Brugière-Zeiß behauptet, weil er keine rechte Ahnung von den musikalischen Entwicklungen in Italien hatte. Eine zutreffende Diskussion aller dieser Fragen ist bislang, so glaube ich, verhindert worden durch einen verengten Blick. Musik im Drama, so stellt man sich gemeinhin vor, sei einzig und allein nach dem Modell von Monteverdi möglich. Das riesige Feld der Verknüpfung von Drama und Gesang im deutschen Sprachraum ist weitgehend unerforscht. Speziell Frau Brugière-Zeiß ist darüber hinaus entgegenzuhalten, daß die Analyse von Seelewig nicht zureicht, um einschätzen zu können, ob Harsdörffer tatsächlich nichts von der der italienischen Musik wußte und deswegen aus Unwissenheit handelte. Der folgende Beitrag möchte daher folgenden Fragen nachgehen: (1.) Wie stand es um Harsdörffers musikalische Bildung? (2.) Was wußte Harsdörffer vom Rezitativ und der italienischen Oper? (3.) Welche Wort-Ton-Verhältnisse finden sich im deutschen Drama der Frühen Neuzeit? (4.) Welcher musikalischen Gestaltung bediente sich Staden? 1. Georg Philipp Harsdörffer muß schon von Kindheit an mit Musik in Berührung gekommen sein, weil bereits sein Vater Mitglied oder doch gelegentlicher Teilnehmer des Nürnberger Musikkränzleins, also ein dilettierender Musiker war.16 Auf seiner langen Bildungsreise hatte der junge Patrizier Gelegenheit, die italienische Musik kennenzulernen. Er selbst berichtet, sein Reisebegleiter Christof Fürer von Haimendorf sei besonders an der Musik interessiert gewesen.17 Als Mathematiker stand Harsdörffer die Musik als System nahe,18 als Dichter betonte er die enge Verwandtschaft zwischen den Künsten.19 Als Protestant war ihm natürlich Luthers Encomion Musices geläufig. Sein eigenes Lob der Musik bleibt, wie wir gesehen

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Philippe Micha: Nouveau regard sur les débuts de l’opéra en Allemagne: Seelewig (1644) de G. Ph. Harsdörffer et S. Th. Staden. In: Etudes germaniques 59 (2004), S. 107–111. Titelblatt zum Notendruck (Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele [wie Anm. 2], Tl. IV, S. 489). Braun (wie Anm. 8), S. 181; vgl. Keller (wie Anm. 11), S. 26. Keller (wie Anm. 11), S. 23. In den Bänden der Deliciae Physico-Mathematicae kommt Harsdörffer wiederholt auf die Musik zu sprechen. Die Verbindung von Astronomie und Musik zeigt die Anlage der Tugendsterne (wie Anm. 10). Die letzte Strophe des Prologs von Seelewig betont die Verbindung von Musik und Dichtung; vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 44.

Harsdörffer und die Musik

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haben, nicht dahinter zurück.20 Als Universalgelehrter verstand er sich auf eine Instrumentencharakteristik,21 eine Tonartensymbolik22 und eine Affektenlehre der Metren, wie sie Athanasius Kircher und andere Musiktheoretiker vertraten.23 Die Bewunderung, die er bestimmten Stellen Stadens Seelewig-Komposition zollt, zeugt davon, daß er deren Qualität durchaus beurteilen konnte.24 Sieht man von Dichterkomponisten und musikalischen Praktikern wie Georg Neumark ab, so dürfte es wenige barocke Schriftsteller geben, die sich so ausführlich zu Musik und Musiktheorie geäußert haben wie Harsdörffer. Warum versagte – wie Brugière-Zeiß meint – dieser Dichter, als er vorgab, ein Singspiel nach italienischer Weise zu schreiben? Hatte er die italienischen und deutschen Vorbilder dieser Gattung nicht wahrgenommen? 2. Bei der Entwicklung eines Schauspiels mit vertonbaren Reden in Italien hatte die Pastorale eine führende Rolle eingenommen. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts erschienen jene Werke der dritten dramatischen Gattung, die durch ihre Unabhängigkeit von der antiken Poetik mehr freie Gestaltungsmöglichkeiten zeigten.25 Guarini, dessen Drama Pastor Fido 1589 für die Entstehung der italienischen Oper wegweisend ist, verwendet weitgehend ungereimte jambische 7- und 11-Silbler. An besonders lyrischen, sanglichen Stellen steigern sich die Verse zu Madrigalen mit entsprechendem Reimstand. Diese Madrigale waren es, die die Komponisten anregten. Guarinis Pastor Fido war zwar noch als Sprechdrama konzipiert, aber seine Versbehandlung zeigte einen Weg der Rezitation. Rinuccini folgt in seiner von Peri vertonten Dafne (1597) dem Vorbild des Pastoraldramas, die Monologe und Dialoge in (nun gereimten) 7- und 11-Silblern zu halten, die nun freilich ganz gesungen wurden. Dazu gab es Chöre, die stro20 21

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Vgl. im Zusammenhang mit Seelewig Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 47. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 162, äußert sich zur charakterisierenden Verwendung der Instrumente in Seelewig. Die Kennzeichnung der Instrumente als dem Weichen oder Groben, der Ober- bzw. Unterwelt zugehörig, war allgemein verbreitet. Sie läßt sich bei Monteverdi ebenso nachweisen (vgl. Keller [wie Anm. 11], S. 39) wie im Jesuitentheater und protestantischen Drama des 17. Jahrhunderts. Vgl. Harsdörffers Ausführungen (Frauenzimmer Gesprächspiele [wie Anm. 2], Tl. V, S. 285ff.) zu den Tonarten anläßlich von Tugendsterne. Hier werden den einzelnen Tugenden Sterne und diesen wiederum Tonarten zugeordnet. Vgl. auch Werner Braun: Deutsche Musiktheorie des 15. bis 17. Jahrhunderts. Darmstadt 1994, Bd. 2. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 101: Lob der musikalischen Realisierung von Personencharakteristik; vgl. dazu Bauer-Roesch (wie Anm. 11), S. 654–657. Vgl. Silke Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert. Laaber 2004, S. 29: Battista Giraldi Cinzio: Egle (1545), Agostino Beccari: Il Sacrificio (1554), Torquato Tasso: Aminta (1573). Aminta wurde zuerst 1630 als Liebeskampf verdeutscht (vgl. Spieltexte der Wanderbühne. Hg. v. Manfred Brauneck. Berlin 1975, Bd. 2, S. 91–210).

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phischen Mustern folgten. Von Soloarien (d. h. Sololiedern) konnte noch keine Rede sein. Sie erscheinen erst 1607 bei Monteverdi. Dessen Orfeo verwendet für die langen Sprechgesangspassagen (ariosi) madrigalische Verse und für die Lieder des Chores und der Protagonisten regelmäßige, aber auch madrigalische Strophenformen.26 Eine klare Trennungslinie zwischen Rezitativ und Arie ist freilich anfangs oft nicht leicht zu ziehen. Häufig finden wir Texte, die von einem seitenlangen arioso bestimmt sind, aus dem sich stellenweise liedhafte Gebilde abheben. Das Neue an der italienischen Vortragsform war die freie Behandlung des Verses, der jambisch, nur spärlich gereimt und 7- und 11-Silben lang war: der italienische madrigalische Vers, der eine natürliche, prosaähnliche und deutliche Deklamation ermöglichte. Er schien sich jedoch gegen eine Überführung ins Deutsche zu sperren. Opitz verwendet in seiner Version der Dafne von Rinuccini 1627 paarig und kreuzgereimte jambische Zeilen unterschiedlicher Länge (zwischen zwei und sechs Hebungen), wobei sich an vielen Stellen trochäische Zeilen einschieben.27 Das gleiche Verfahren, die Freiheit der rezitativischen Verse im Deutschen nachzubilden, wandten das kleine Werk Die Bußfertige Magdalena 163628 und Buchner 1638 im OrpheusBallett an. Der Autor der Magdalena schreibt erläuternd: Der günstige Leser ist zuerinnern / daß die nachgesetzte geringfügige Poesie / so in der Magdalenen Person fürgebracht wird / vermischet aus Trochaischen und Jambischen von 4. 5. 6. 7. 8. 10. 11. 12. biß 13. syllabigen Versen sey / und daß der Reim nicht allewege in dem andern / sondern offtmahls dritten und vierdten Vers erfolge: Der gleichen art Opitius in seiner Daphne sich gebrauchet / und bey den Italienern gemein ist / auch sich am besten der redenden Music bequemet.29

Daß Harsdörffer Opitzens Dafne nicht erwähnt, läßt sich durch den grundlegenden Sujetunterschied erklären – Dafne ist ein mythologisches Spiel; daß er sie nicht kannte, ist aber nicht vorstellbar.30 Weder deren sehr freies Verfahren, noch der häufige Einsatz des Oktenars in Opitzens zweitem, in madrigalischen Versen geschriebenen Drama, der Judith, entspricht der italienischen Verwendung des 7- und 11-Silblers mit freiem Reimstand. Noch als Christian 26 27

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Vgl. den Chor am Ende von Akt II. Zu den metrischen Problemen des Dichters vgl. Elisabeth Rothmund: Dafne und kein Ende. Heinrich Schütz, Martin Opitz und die verfehlte erste deutsche Oper. In: Schütz-Jahrbuch 29 (1998), S. 123–147, und Aikin: A Language for German Opera (wie Anm. 11), S. 44–55. Judith P. Aikin: Heinrich Schütz’s Die Bußfertige Magdalena (1636). In: Schütz-Jahrbuch 14 (1992), S. 9–24. Auf der Rückseite des Titelblattes; Abdruck bei Aikin: Heinrich Schütz’s Die Bußfertige Magdalena (wie Anm. 28), S. 18. Die von Sigmund von Birken »Mit Beystimmung seiner andern Weidgenossen« herausgegebene Fortsetzung der Pegnitz=Schäferey (1645) (Nachdruck hg. v. Klaus Garber. Tübingen 1966), ein Werk, dem Harsdörffer ein »Epigramma« voransetzt, erwähnt S. 13 Opitzens Dafne in einer Anmerkung.

Harsdörffer und die Musik

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Hoffmann von Hoffmannswaldaus zu ihrer Zeit sehr bekannte Übertragung des Pastor Fido von Guarini 1678 in den Druck kam, entsprach der Text nicht dem madrigalischen Vers nach Art der Italiener. Hoffmannswaldau ergänzte überall die Reime seiner weitgehend ungereimten Vorlage und ahmte wie Opitz die Prosaähnlichkeit des Italienischen durch (halbherzige) Vermischung der Metren nach.31 In seiner Vorrede hebt er ausdrücklich hervor, welche Mühe es mache, im Deutschen diese ›ungewohnte‹ Versart zu schreiben.32 In der Tat war die Einführung des rezitativischen Verses ins Deutsche äußerst kompliziert.33 Die Bemühungen um eine stärkere Orientierung am italienischen Vorbild dauerten noch sechzig und mehr Jahre. Noch um 1710 rang man um die Reinheit des Jambus und die Vermeidung der ›langen‹, d. h. alexandrinischen Zeilen. Von einem Rezitativ nach Art der Italiener mit freiem Reimstand und einer Beschränkung auf 7- und 11-silbige, d. h. 3- oder 5-hebige Zeilen konnte keine Rede sein. Einer der ersten, der die neue Versart der Italiener beschrieben und ihren spezifischen Wert für eine deutliche und natürliche Artikulation erkannt hat, war indes Harsdörffer.34 Bereits 1645 empfiehlt er sie seinem Freund Johann Klaj in seinem Begleitwort zum Leidenden Christus. Interessant ist der Argumentationszusammenhang: Harsdörffer geht, wie seine Zeitgenossen, davon aus, daß die verschiedenen Metren verschiedenen Gemütszuständen und Gattungen zuzuordnen sind.

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Vgl. Alba Schwarz: Der teutsch-redende treue Schäfer. Guarinis Pastor Fido und die Übersetzungen von Eilger Mannlich 1619, Statius Ackermann 1636, Hofmann von Hofmannswaldau 1652, Assmann von Abschatz 1672. Frankfurt/M. 1972, S. 39–41. Des Sinnreichen Ritters Baptistae Guarini Pastor Fido, Oder: Trauer= und Lust=Spiel / Der Getreue Schäfer genannt: von Ihme weyland zu Bedienung des Hochfürstlichen Savoyschen Beylagers / In Welscher Sprache auf den Schau=Platz gebracht / Itzo aber Auf vielfältigs Ansinnen guter Freunde / in zerstreueten Reimen / Deutsch übersetzet. Ohne Ort 1678, Bl. )( 3vf.: »so lasse dich es nicht befremden / wann dir diese ungewöhnliche und zerstreuete Art der Reimen in die Ohren lauffet: Zwey Ursachen haben mich bewogen mir lieber diese / als eine andere gefallen zu lassen. Erstlich zwar / weil solches der gemeinen Rede am nechsten kömt / und dann / weil theils Ausländer ihnen diese anmuthige Verwirrung / so wol mit / als ohne Reimschluß in ihren Spielen vor andern gefallen lassen. Meinstu / daß ich solches zur Erleichterung meiner Mühe gethan / so steckestu in einem grossen Irrthum. Und willst du mir disfalls nicht Glauben geben / so versuche nur / was es sey / drey oder vier Syllaben in die freye Luft zu spielen / und solche nachmals wiederum mit ihren gehörigen Reimzeilen zu binden. Damit aber nun ein ieder seine Vergnügung / und die Zunge ihre Kost haben möge: so wirstu einen und den andern Auftritt mit einerley Geschlecht=Reimen beschlossen finden.« Vgl. Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti. Von den Anfängen bis 1730. Paderborn 2005, S. 132–146. Viel später folgt Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind= und Dicht-Kunst (1679). Nachdruck Hildesheim 1973, S. 333: »Die Wälschen wollen gleichsam das Mittel treffen / und schreiben ihre Singspiele durchgehend mängzeilig / mit kurzen Liedchen untermänget: welche Schreib-Art der ungebundenen Rede fast gleich kommet / und doch auch mit den Alten Schauspielen einstimmet.«

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Wie man nun in den Erzehlungen lange / in den freudigen Händelen mittelmässige / in den traurigen kurtze / oder ja mit kurtzen untermengte Reimarten führen sol / haben die Italianer in ihren jüngsten Gedichten meisterliche Proben gethan: und hat diese unterscheidung ihren richtigen / naturmässigen und ungezweiffelten Grund in der Music / aus welcher sie es / meines Erachtens / abgesehen haben. Diesem nach were mein unvergreifflicher Raht / der Herr solte keine gewisse Bindung halten / sondern bald wenig= bald vielsylbige Reimzeilen setzen / dergestalt daß die Reimung gleichsam ohne Zwang / gleich / oder geschrenket / in die Rede gebracht [...] würde. Doch muß man die Trochaischen Verse mit den Jambischen / oder die Jambischen mit Trochaischen nicht mengen.35

Unter den vielen Versmaßen, die Johann Klaj in seinen actus ausprobiert, findet sich tatsächlich auch der rezitativische Vers, allerdings nur einmal, und zwar in Jesu Ölbergsrede in Der Leidende Christus. Die hier verwendeten Verse sind 3-, 5- und 6-hebige Jamben.36 Damit ist Klaj bei seiner Eindeutschung des madrigalischen Verses 1645 weiter als alle anderen Dichter bis in die 70er Jahre hinein. 1650 hat Harsdörffer das Genus in seiner Poetik noch einmal beschrieben, und zwar als Theatervers. Auch ein Beispiel setzte er dazu, »weil dieses noch neu / und von den Italianern / Frantzosen / und Spaniern abgesehen«. Es handelt sich um die Rede Noes an die sündige Welt in 2- bis 6-hebigen Jamben.37 Harsdörffer verwendet den rezitativischen Vers also in einem dramatischen Zusammenhang. Von einer Vermischung der Metren – man vergleiche das Verfahren von Opitz, Buchner oder Hoffmannswaldau – rät auch die Poetik dringend ab.38 Der zweite Teil des Trichters kommt noch einmal auf den rezitativischen Vers zurück: Wann man den Griechen und Römern folgen solte / so müssten alle Trauerspiele / als der Poeten höchste Meisterstücke / in Versen verfasset werden [...] doch scheinet der Italiäner neuste Reimart am thunlichsten in welcher die Reimwort gleichsam ungezwungen in die Rede eingeflochten / und die Verszeile nicht mit gewisser Zahl verbunden werden.39

Harsdörffer ist nicht nur ein sehr früher Theoretiker und Praktiker des rezitativischen Verses, er hat sich wohl auch als der erste deutsche Poetiker zur Oper geäußert. Im Trichter kommt er auf die Pastorale als dritte dramatische

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Klaj (wie Anm. 9), S. 241 (jeweils nach neuer Paginierung). Klaj (wie Anm. 9), S. 211–214. Die Abweichung in den Trochäus (Verse 94–96) nimmt auf die wörtliche Rede Rücksicht und unterstreicht effektvoll diese drei kurzen Zeilen. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. I, S. 78–80, hier S. 78. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 37), Tl. I, S. 78. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 37), Tl. II, S. 85 (mit Rückverweis auf Tl. I, S. 78). S. 100 rühmt Harsdörffer die »gar leichtflüssige[] Reimart« der italienischen Pastorale.

Harsdörffer und die Musik

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Gattung zu sprechen und stellt dabei die italienischen Pastoralopern über das deutsche Modell der Prosapastorale: »Nach der Italiäner Art sollen alle solche Gedichte gantz in Reimen verfasset seyn / und benebens einer Theorbaklang vernemlichst gesungen werden / wie unsre Seelewig / im dem IV. Theil der Gesprächspiele.«40. Bei seinem Lob der gesungenen Schäferspiele beruft sich Harsdörffer auf Graf Maiolino Bisaccioni (1582–1663), genauerhin auf dessen Prefatione zu Dell’ opere Teatrali und behauptet, die »Erfindungen« der Neuzeit stellten Römer und Griechen weit in den Schatten und seien auch an die aristotelischen Vorschriften nicht gebunden. Die wolgesetzten Reimen / von den schöngestalten Personen / nach der lieblichen Music gesungen / bezaubern gleichsam die Zuhörer / und beherrschen alle ihre Gedanken. Hierinnen bestehet gewißlich die grosse Vollkommenheit erstbesagter Spiele. Etliche derselben werden Theils in ungebundener Rede verfasst / oder doch in einer gar leichtflüssigen Reimart / so solcher nicht ungleich ohn andre Music / als bey den Chorliedern.41

Im sechsten Teil der Gesprächspiele, in dem Harsdörffer diese Ausführungen fast wörtlich wiederholt, ergänzt er sie um die Erwähnung der »Heldenspiele«, also der mythologischen Opern.42 Von ihnen dürfte er Monteverdis Orfeo gekannt haben: die Ähnlichkeit der Prologe von Orfeo und Seelewig ist wohl kein Zufall.43 Außerdem hebt er bewundernd den finanziellen Aufwand hervor, der in Italien bei Aufführungen von Opern getrieben werde.44 Das Interesse des Nürnbergers galt vornehmlich der pastoralen Gattung. Ausdrücklich erwähnt er Luigi Grotos La Calisto.45 An Raffaello Borghinis

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Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 37), Tl. II, S. 99. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 37), Tl. II, S. 100. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, S. 43–45. Auch in Monteverdis Orfeo singt die Allegorie der Musik den Prolog. Die 2. und 3. Strophe lautet: Io la Musica son, ch’a i dolci accenti so far tranquillo ogni turbato core, et or di nobil ira et or d’amore posso infiammar le più gelate menti. Io su cetera d’òr cantando soglio mortal orecchia lusingar talora, e in guisa tal de l’armonia sonora de le rote del ciel più l’alme invoglio.

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Vgl. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 47: »Bald sich diese Kunst hören lässet / macht sie schweigen alles / was sonsten in den Menschen auch stillschweigend reden kan: sie machet alle Sorgen aus dem Hertzen entweichen / linderet die Schmertzen / besänfftiget den Zorn und belustiget mit unsträfflicher Wollust ihre Zuhörer.« Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, S. 40. Luigi Groto: La Calisto. Nova Favola pastorale. Nuovamente Stampata. Venedig 1583 (wieder Venedig 1612). La Calisto ist ein Hirtenspiel in ungereimten Alexandrinern.

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Lustspiel La Donna mögen ihn die gesungenen Intermedien interessiert haben.46 Harsdörffer kannte aber auch die deutschen Übertragungsversuche von italienischen Pastoralen. Als Beispiel erwähnt er August Augspurgers Prosaekloge Schäfferey, eine Prosaübersetzung von Antoine de Montchrestiens Bergerie (1601) mit musikalischen Chören. 47 Prosa war im Deutschen die geläufige Art, die als neu empfundenen welschen Pastoralen zu übersetzen. Die Stilsenkung wurde durch reichliche Liedeinlagen wettgemacht. Ein sehr frühes deutsches Beispiel eines Prosaspiels mit sehr vielen Liedern ist Hermann-Heinrich Scheren von Jevers New=erbawte Schäferey (1638). Ein Jahr vor Seelewig erschien Ernst Christoph Homburgs Tragico-Comoedia Von der verliebten Schäfferin Dulcimunda. Diese Prosapastorale enthielt so viele Lieder, daß Homburg diese in seiner Gedichtsammlung Clio (1642) zuerst abdruckte.48 Alle die genannten Werke sind weltlich, während Harsdörffer bewußt etwas Geistliches schreiben wollte. Doch auch sein unmittelbares Vorbild zu Seelewig, das Waldgetichte / genant Die Glückseelige Seele, ein vermutlich von den Jesuiten geschaffenes Schulspiel von 1637, entsprach nicht ganz seinen Anforderungen: Es ist wie andere Pastoraldramen in Prosa geschrieben und enthält Chöre (in Alexandrinern) sowie ein paar wenige Lieder.49 Aus den Frauenzimmer Gesprächspielen im Vorfeld der Seelewig jedoch erfahren wir, daß Harsdörffer die bisherigen Übertragungen und Nachahmungen ausländischer Schäferspiele nicht für glücklich

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Bl. A 5r gibt Auskunft über die Erstaufführung: Sie fand 1561 statt, die Erstaufführung der Überarbeitung war 1582. Zwischen den Akten gibt es jeweils eine gesungene canzona von 14 Zeilen. Die Gesangsteile haben ein eigenes Personal. Groto setzt bei seinen Komödien und Tragödien keine Gesangsintermedien ein, nur bei seinen Pastoralspielen. Raffaello Borghini: La Donna Costante. Commedia. Florenz 1578 (wieder Venedig 1606, 1689). Die Prosakomödie des als Kunsttheoretiker (Il Riposo, 1584) bekannt gewordenen Borghini hat ein historisches Sujet und keine Lieder. Die Intermedien, von denen eines den Anfang des Spiels bildet, sind hingegen rein musikalisch, haben eigene Dekorationen und Bühnenmaschinen und allegorisch-mythologische Handlungen. – Von Harsdörffers Interesse an italienischen Intermedien zeugt seine Darstellung der Florentiner Hochzeitsfeierlichkeiten für Heinrich IV. von Frankreich und Maria de Medici im Jahr 1600 in: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. VI, S. 58–62; er beschreibt das Intermedium, das damals gegeben wurde, S. 61f. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 37), Tl. II, S. 100. Vgl. August Augspurger: Schäfferey. Aus dem Frantzösischen des Antonii Montchrestiens Hoch=Deutsch Übersetzet und mit nothwendigen Anmerckungen und Kupfferstücken / nach Inhalt des Gantzen Werckes / vermehret. Dresden 1644. Ernst Christoph Homburg: Schimpff= und Ernsthaffte Clio. Zum andern mal umb die Helffte vermehret. Jena u. a. 1642. Ein gar Schön Geistliches Waldgetichte / genant Die Glückseelige Seele / Auß Zihrlichem Welnsch in gemeines Deutsch gebracht. Breslau 1637. Auf dieses Werk verweist eine der Disputantinnen in Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. II, S. 304; der Titel findet sich im Skribenten-Verzeichnis S. 491. Zu den Beziehungen zwischen beiden Werken vgl. Mara R. Wade: Seelewig. The Earliest Existant German Opera and its Antecedent. In: Daphnis 14 (1985), S. 559–578, und Christiane Caemmerer: Das Geistliche Waldgetichte: Die glückseelige Seele von 1637 und seine Quelle. In: Daphnis 16 (1987), S. 665–678.

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hielt, weil sie durch die gesprochene Prosa ihre »Anmutigkeit gantz verlihren«.50 Er wollte ausdrücklich die Art der Italiener, die Pastorale ganz zu singen, beibehalten, und es so halten, wie es in dem »Land der Music und Freudenspiele / (wie Balsac Welschland nennet)« üblich geworden war.51 Aber nicht nur deshalb war er berechtigt, in den Titel zu setzen ›auf Italianische Art‹. Italienischer Provenienz ist auch die neue Gattung des Schäferspiels: »Die Personen / welche nach der Italiäner Gebrauch eingeführet werden / sind meistentheils Hirten / so von den Eclogis, oder Feldliedern abgesehen / Spielweis auf den Schauplatz eingeführet worden.«52 Mit der Seelewig also versuchte Harsdörffer ein ganz gesungenes Schäferspiel in Versen zu schaffen, um zu beweisen, daß das Deutsche dazu in der Lage sei. Den Usus, Chöre zwischen den Akten zu singen und die Gespräche mit Liedern anzureichern, behielt er bei. Um die Gespräche singen zu lassen, benützte er nicht den rezitativischen Vers nach italienischem Vorbild. Dieses Modell steckte, wie wir gesehen haben, noch in den Anfängen und wurde auch von seinen Urhebern nicht als einziges angesehen. 3. Harsdörffer nennt zwar in den Gesprächspielen das in genere recitativo-Singen ausdrücklich als Alternative zum Lied, meint damit aber nicht den rezitativischen Vers, sondern das »Erzehlungweiß« Singen, das Durchsingen im Unterschied zu dem strophenweisen Singen der Liedform.53 ›Erzählungsweiß‹ Singen konnte man auch auf andere Art. Zu Harsdörffers Zeit bestand keinerlei Zwang, ein gesungenes Werk aus madrigalischem Rezitativ und Arie bestehen zu lassen. Diese Einrichtung war noch gar nicht verbreitet. Heinrich Schütz schrieb 1633, »eine Comedi von allerhandt Stimmen in redenden Stylo übersetzet undt auf den Schawplatz gebracht und singende agiret werden könne [sei] meines Wissens (auf solche Art, wie ich meine) in Teutschland noch gantz ohnbekandt.«54 Auch kann man keineswegs davon ausgehen, in jedem Fall rezitativische Verse vorzufinden, wenn in genere recitativo angegeben ist. Gemeint ist damit ein sprachähnlich rhythmisierter musikalischer Vortrag mit vielen Notenwiederholungen, der wenig Wert auf Melodie legt. Heinrich Schütz erklärt, seine 50 51

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 31. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV S. 31. Vgl. ebd., Tl. IV, S. 38: »Diese Personen alle singen / und läst sich hinter dem Fürhang darzu hören ein Seitenspiel / (die Stimme so viel lieblicher zu machen /) allermassen bey den Italiänern dergleichen nicht ungewohnet ist.« Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 37), Tl. II, S. 102. Über die Vertonung des Prologs: »Wil man wenig Noten haben / so kan es / als ein Lied / von vier Reimzeilen zu den anderen gesungen werden / oder durch und durch Erzehlungsweiß in die Music gesetzet werden« (Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele [wie Anm. 2], Tl. IV, S. 45). Heinrich Schütz: Gesammelte Briefe und Schriften. Hg. v. Erich H. Müller. Regensburg 1931, S. 125f. (Schütz an Friedrich Lebzelter, 6. Februar 1633).

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Psalmen Davids (1619) »in stylo recitativo« geschrieben zu haben, »welcher biß Dato in Teutschland fast unbekandt«;55 bei Erasmus Kindermann steht die Angabe über dem lateinischen Leichengedicht Dum tot carminibus Te lugent undique cives (1647).56 Capricornus gibt für Raptus Proserpinae, In einem singenden Schaw-Spiel vorgestellet (1662) in der Vorrede an, er habe es »nach der gewöhnlichen Sing=art oder stylo recitativo gesetzet«.57 Das Libretto besteht aber ausschließlich aus Liedern. Wolfgang Carl Briegel vertonte in einem ganz gesungenen Werk 1673 innerhalb eines Strophengedichtes einen Teil als Rezitativ, den zweiten als Arie.58 Ein analoger Fall liegt für die Angabe in genere oratorio vor, die mit in genere recitativo vergleichbar ist. Sie steht nicht nur über der Prosa eines Kleinen Geistlichen Konzerts von Schütz,59 sondern taucht auch in Johann Laurembergs Spielen für die Kopenhagener Hochzeit von 1635 auf, mit deren musikalischer Gestaltung unter anderem Schütz betraut war.60 Hier steht die Angabe einmal über Alexandrinern, einmal über Liedstrophen.61 Noch über die Mitte des 17. Jahrhunderts verwendete man, möglicherweise unter französischem Einfluß, für das »Rezitativ« auch durchgehend den Alexandriner, z. B. Herzog Anton Ulrich in seinen frühen Opern Amelinde (1657) und Regier=Kunst=Schatten (1658).62 Der Alexandriner war im 17. Jahrhundert nicht nur ein Sprech-, sondern auch ein Singvers, verwendbar für Lieder (vgl. 55 56

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Heinrich Schütz: Psalmen Davids 1619. Nr. 1–9. Hg. v. Wilhelm Ehmann. Kassel 1978 (= Neue Ausgabe sämtlicher Werke, Bd. 23), Nachdruck des Vorworts S. XVIII. Für Matthaeus Lunssdörffer. Vgl. Harold E. Samuel: Kindermann, Erasmus. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Hg. v. Friedrich Blume. Kassel u. a. 1958, Bd. 7, Sp. 907–917, hier Sp. 913. Samuel Capricornus: Raptus Proserpinae In einem singenden Schaw=Spiel vorgestellet. Stuttgart 1662, Vorrede, Bl. A 2v. Die titellose Handschrift Staatsarchiv Darmstadt Abt. D8 Konv. 15 Fasc. 2 (Handschrift) Nr. 4, eine Beschreibung der Komposition Wolfgang Carl Briegels zu Die siegende Liebe (1673), gibt z. B. zum Prolog an: »Er singet in Stylo recitativo die 1. Strofe. Die 2. und 3. Str. ist eine Aria, in des noch mitt einem trawrigen Rittornello«. Eile mich Gott zu erretten (Schütz-Werke-Verzeichnis 182). Vgl. Mara R. Wade: Prinz Christian von Dänemark und seine sächsische Braut Magdalena Sibylle als Mäzene von Heinrich Schütz. In: Schütz-Jahrbuch 21 (1999), S. 49–61. Johannes Lauremberg: Zwo Comödien / Darinnen fürgestellet / I. wie Aquilo / der Regent der Mitternächtigen Länder / die Edle Princessin Orithyjam heimführet: II. Wie die Harpyjä von zweyen Septentrionalischen Helden verjagt; und König Phineus entlediget wird. Bey dem HochFürstlichen Beylager Des Durchleuchtigsten Hochgebohrnen Fürsten […] Herrn Christian des V. zu Dennemark […] Und Der Durchleuchtigen / Hochgebohrnen Fürstin […] Frewl: Magdalenen Sibyllen / Gebohrnen Hertzogin zu Sachsen […] präsentiret und gehalten zu Copenhagen / den 7. und 12. Octob. Anno 1634. Kopenhagen 1635, Spiel I: Bl. A 2rf., Spiel II: Prolog, Neptunus. – Bei Johann Sebastiani: Pastorello musicale oder Verliebtes Schäferspiel (1663). Nachdruck hg. v. Michael Maul. Beeskow 2005, V, 2, steht die Angabe »in stylo oratorio« über einem Strophengedicht von 5-hebigen Jamben. Vgl. noch die anonyme Oper: Perseus und Andromeda. Kurtzes Lust=Spiel / Denen Durchleuchtigsten Verlobten Herrn Albrechten / Marggraffen zu Brandenburg etc. Und Princessin Christinae Marggräfin zu Baden und Hochberg etc. Unterthänigst Vorgestellt. Straßburg 1665.

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Martin Rinckarts Nun danket alle Gott um 1636) ebenso wie für Sprechgesang. Harsdörffer läßt im Gespräch über Seelewig Degenwert sagen: »Die Reimen sind jambisch mit 13 und 12 Sylben geschrenket«63 und benützt auch wirklich den Alexandriner als Gesprächsvers an einer Reihe von Stellen (I, 3; II, 3; II, 6 und III, 5). Zwar war ihm bewußt, daß »sich die kurtzen Verse viel besser zu singen schicken als die langen«.64 Von den verpönten langen Versen kann aber bei Stadens Musik keine Rede sein: Er behandelt die Alexandriner stets als zwei dreihebige Zeilen. Neben dem Alexandriner kommen für die Dialoge auch andere Modelle in Frage. Harsdörffer benützt 4-hebige Trochäen, 4- und 2-hebige Trochäen (II, 3), 4-hebige Daktylen, 4- und 2-hebige Daktylen (II, 1), wobei er für einen Dialog bei einer bestimmte Versart verharrt. In sie fügen sich die Reden der Figuren ein. Harsdörffer weist also in Seelewig das Metrum der Situation zu. Dieses Verfahren ist nicht ungewöhnlich. Es gibt in der deutschen Literatur viel mehr ganz durchgesungene Dramen als der Forschung geläufig ist. Keineswegs gebrauchen sie dazu den rezitativischen Vers, vielmehr nützen sie Singart und Metrum für die Charakteristik von Person und Situation. Entweder werden die Figuren durch ein bestimmtes Metrum charakterisiert oder die Szene. Birken schrieb dazu: Es scheinet aber auch nicht unschicklich / wann man sie / wie voruralters geschehen / in allerlei Vers-Arten schreibet / und zwar dieselben nach Beschaffenheit der Reden und Personen erwehlet: und solches ist in der zu Ende angehängten Psyche geschehen.65

Das einzelne Element, das einer Figur zukommt und sie charakterisiert, kann von einer kurzen Formel von zwei Takten bis zu einer ganzen Strophe ausgedehnt werden. Wir wollen dieses Verfahren Formelsingen nennen.66 Die Variante des figurenbezogenen Metrums im Dialog benützt z. B. Andreas Gryphius in seinem Verlibten Gespenste, in Majuma oder im Piast. Harsdörffer, obgleich auch er bisweilen ganz bewußt Figuren über die von ihnen verwendete Strophe charakterisiert (II, 1), verwendet meistens dialog- bzw. szenenbezogene Metren. Beispielsweise singt in I, 5 jede Figur zwei Zeilen; das

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 45. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 114, anläßlich der Diskussion der Seelewig. Birken (wie Anm. 34), S. 332. Den Hinweis auf diese Vortragsweise, die sich exemplarisch in den Singspielen der englischen Wandertruppen beobachten läßt, gab erstmals Johannes Bolte: Die Singspiele der englischen Komödianten und ihrer Nachfolger in Deutschland, Holland und Skandinavien. Stuttgart 1893, vgl. ferner Werner Braun: Praeludia im Liebeskampf. Zu den Autoren der Dramensammlung von 1630. In: Daphnis 22 (1992), S. 329–346. Ders.: Britannia Abundans. Deutsch-englische Musikbeziehungen zur Shakespearezeit. Tutzing 1977, weist S. 113f. auf die Formeln in Seelewig hin.

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Metrum ist für den ganzen Dialog in dieser Szene gleich. Der Dialog läßt sich als eine Art Lied mit verteilten Rollen auffassen. Obwohl nun also eine Versart pro Dialog feststeht, hat Staden die Personen mit musikalischen Mitteln charakterisiert. In einem Dialog bekommt jede Figur ihre Melodie. Diese Personalmelodien sind unterschiedlich lang, je nach Bedürfnis des Dialogs: Sie können aus einer 2-taktigen Phrase bestehen oder länger sein, bis zu zwei Zeilen, also ca. sechs Takten. Hat die Figur eine längere Replik, wird die Melodie wiederholt. Die Personalmelodie kann aber auch eine ganze Strophe ausmachen. Besonders schön läßt sich dieses Verfahren an Szene III, 1 beobachten (vgl. Musikbeispiel).67 Hier ist Trügewald, Künsteling, Ehrelob und Reichimut ihre je eigene Tonfolge, eine 1- bzw. 2-taktige Formel,68 auf den Leib geschrieben. Für Trügewald und Ehrenlob reicht sie aus. Reichimut muß die seine einmal erweitern. Künsteling aber hängt bei seiner ersten Replik an seine 2-taktige Phrase noch etwas an und wiederholt dann seine beiden ersten Takte. Die Befürchtung, daß dieses Verfahren zur Monotonie werde, ist – aus Sicht der Epoche – unbegründet. Man muß bedenken, daß zu Harsdörffers Zeit, ja bis ins 18. Jahrhundert hinein, Schauspiele aufgeführt wurden, die ganz auf ein und dieselbe Weise oder auf nur eine bis sechs Melodien gesungen wurden. Paucimelodische Singspiele wurden zuerst von den englischen Wandertruppen gepflegt und 1620 erstmals als Anhang zu Engelische Comedien und Tragedien gedruckt. In Harsdörffers Heimatstadt Nürnberg erschienen 1610 bis 1618 Ayrers ganz gesungene Spiele. Bei diesen »Singet Spilen« wurde der gesamte Text mit seinen fünfzig bis sechzig Strophen auf eine einzige, zu Beginn angegebene Melodie vorgetragen. Allerdings starb diese Art der Lieddramen nicht etwa mit dem Meistersinger Ayrer aus. Noch Gottsched bezeugt, ein Spiel dieser Art gesehen zu haben.69 Es ist auch leicht möglich, denn nicht nur in den 1670er Jahren,70 sondern noch um 1690 erschienen in Hamburg sogenannte »Singespiele«, die vornehmlich »auf die Melodey des Harlequinischen Singe-Spiels gerichtet« waren: Des Harlequins Hochzeit, Lustige Nacht=Comödia betittult der Verirrete Geist und Des Harlequins Kindbetterin Schmauß. Von der Beliebtheit dieser Singspiele zeugt, daß sie nicht nur gesondert gedruckt erschienen, sondern bis weit ins 18. Jahrhundert hinein den Lustspielen Christian Reuters beigegeben wurden. – Die Formel, die jede Einzelfigur stempelt, ist ein ganz anderes, aber darum nicht schlechteres Modell als das Rezitativ, das allen Figuren eine zwar neukomponierte, aber doch unindividuelle Linie zuweist.

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 570–577. Staden rechnet mit 4/4-, aber auch 8/4-Takten. Johann Christoph Gottsched: Nöthiger Vorrath zur Geschichte der deutschen Dramatischen Dichtkunst. Leipzig 1757, S. 148f. Kunst über alle Künste Ein bös Weib gut zu machen. Vormahls Von einem Italiänischen Cavalier practiciret: Jetzo aber Von einem Teutschen Edelman glücklich nachgeahmet /

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Bei den Seelewig-Dialogen handelt es sich freilich nicht um Lieder. Mögen sie auch rein textlich so aussehen; musikalisch sind sie es nicht. Der Dialog I, 2 besteht zwar aus gleichgebauten Sechszeilern, Trügewald und Künsteling singen aber ihre jeweils eine ›Strophe‹ umfassende Personalmelodie. Auch zeigt Stadens Musikbehandlung in den Gesprächsteilen, daß sie am stilo oratorio, einem auf deutliche Deklamation ausgerichteten Stil ausgerichtet war. Die Generalbaßbegleitung entspricht nicht gerade dem secco, hält sich aber sehr zurück. Harsdörffer betont auch, daß beim Vortrag der Takt nicht genau eingehalten werden muß: Die Sänger sollen sich vielmehr möglichst natürlich und lebhaft ausdrücken.71 All das weist darauf hin, daß Dichter und Komponist das Prinzip der Deutlichkeit und Prosaähnlichkeit, das eigentliche Gesetz des rezitativischen Vortrags, übernommen haben. Es ist freilich nicht abzustreiten, daß sich der Gesang, besonders bei regelmäßigem Wechsel der Repliken, liedhaft und strophenartig ausnimmt. Selbst eine Liederreihe aber würde keinen Normbruch bedeuten. Es war in Deutschland nie ein unumstößliches Gesetz gewesen, daß, wie in der Oper, das Lied oder die Arie keine Handlung trägt. Entgegen der landläufigen Annahme ist das Liederspiel, das Drama aus Liedern, keine Erfindung des um einen Gegenpol zur italienischen Oper bemühten 18. Jahrhunderts und des Komponisten Friedrich Reichardt. Es existierte schon lange. 1644, im Seelewig-Jahr, erschien in Frankfurt am Main Georg Greflingers Ferrando Dorinde. Zweyer hochverliebtgewesenen Personen erbärmliches Ende. Der Autor nennt es ein Trauerspiel. Es besteht aus 16 Liedern. Weitere solche Spiele, die eine Liederserie in einen Handlungszusammenhang bringen, lassen sich für das ganz 17. Jahrhundert benennen. Auch Birkens Sophia gehört dazu, ein ganz gesungenes Drama, das

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und In einem sehr lustigen Possen=vollen Freuden=Spiele fürgestellet. Samt Angehencktem singenden Possen=Spiele Worinn Die unnötige Eyfersucht eines Mannes artig betrogen wird. Rapperswil 1672. – Der pedantische Irrthum Des überwitzigen doch sehr betrogenen Schulfuchses / Durch die Satyram / in einem Nutz und Lustreichen Schauspiele / als in einem Spiegel abgebildet / auch der curiosität / der Neu und kurtzweil begierigen Welt / fürgestellet: Samt Angehencktem singendem Possen=Spiele / die Sutorio Magistrale seltzame Metamorphosis genannt. Rapperswil 1673. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 162. Hier wird von den Darstellern verlangt, daß jeder »mit sonderer Hertzensbewegung / bald sanftmühtig / bald frölich / nach Begebenheit / die Stimme sinken lasse und wiederüm erhebe / wie sie dann so genau nicht an die Mensur oder das Tohnmaaß gebunden; und solches alles [ist] / so wenig als die zierliche und anmuhtige Geberden / fürzuschreiben.« Der Wortlaut dieser Ausführungen ähnelt dem, was Heinrich Albert in der Vorrede zum ersten Teil seiner Arien (1638) ausführt: »Daneben auch dieses zu erinnern / daß der Sänger in denen Liedern welche in genere recitativo gesetzet (so auf die meisten Sylben fusas haben) fast keines Tactes sich gebrauche; Sondern die Worte / wie sie ungefehrlich in einer etwas langsamen und deutlichen Erzehlung außgeredet werden / singe« (Heinrich Albert: Arien. Hg. v. Eduard Bernoulli, in Neuaufl. hg. v. Hans Joachim Moser. Wiesbaden u. a. 1968, S. 4). Albert verstand also unter dem rezitativischen Stil Achtelnoten in der Singstimme bei liegenden Bässen. Die Textgestaltung spielte keine Rolle.

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1662 für das neuvermählte Fürstenpaar Christian Ernst und Sophie Erdmuthe in Bayreuth erstaufgeführt wurde. Nun kann man Harsdörffers Seelewig nicht ein Liederspiel nennen, das hieße die musikalische und poetische Faktur jener Passagen mißverstehen, die als fortlaufender Dialogtext gedacht sind.72 An einem besonderen dramatischen Höhepunkt hat Staden die personencharakterisierenden Formeln zugunsten einer musikalischen Rhetorik in den Hintergrund treten lassen. Es ist dies die Verführungsszene II, 3. Hier beginnt der Dialog zwar noch mit der Floskel, Künsteling aber hält sich nicht daran und geht bald zu mehr oder weniger durchkomponierten Alexandrinern über. 4. Überblickt man also die musikalischen Umsetzungen dramatischer Texte zu Harsdörffers Zeit, so zeigt sich folgendes Ergebnis: Der Vorwurf, Harsdörffer sei musikalisch ungebildet gewesen, weil er den rezitativischen Vers aus offensichtlicher Unkenntnis nicht verwendet habe, kann nicht erhoben werden. Im Gegenteil gehört der Nürnberger zu den frühesten Theoretikern des rezitativischen Verses. In Seelewig hat er ihn nicht verwendet, weil es andere Modelle gab, die ihm und seinem Komponisten offenbar besser zusagten und die in der Art, wie Staden sie in die Musik setzte, ebenso ein gutes Textverständnis garantierten. Die Bezeichnung ›Singspiel‹, die zu einem deutschen Äquivalent für Oper wurde, hat Harsdörffer als Gattungsbezeichnung nicht verwendet: Er spricht von »Hirtenspiel« oder »Wald=Gespräch«.73 Wie wir sahen, hat Harsdörffer zwischen Liedern und Gesprächsteilen unterschieden. In Seelewig ist dieser Unterschied sogar besser zu treffen als in Opitzens Dafne und anderen frühdeutschen Opern, die in der Hauptsache aus langen ariosi bestehen. Die Arien und Chöre in Seelewig sind ganz wie in frühen italienischen Opern Strophenlieder und haben reflektierenden Charakter. In Seelewig gibt es nach Art der Pastoralspiele nach jedem Akt einen Chor, daneben finden wir Lieder in I, 6 (Trügewald), II, 2 (Terzett Ehrelob, Künsteling, Reichimuht), III, 2 (Seelewig), III, 6 (Seelewigs Gebet). Lieder sind außerdem

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Daß sie nicht als Lieder angesehen wurden, zeigen auch die Wolfenbütteler Libretti (wie Anm. 11); in ihnen sind nur die Lieder und Chöre mit Strophennummern versehen. Eine rein praktische Funktion hat es, wenn die Partitur bisweilen die Dialoge ›strophisch‹ druckt, nämlich die Repliken der einzelnen Figuren unter deren Melodiezeile. Die Diskussion bei Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 38f., ist allgemeiner Art und behandelt Wortbildungsprobleme. Sie beansprucht nicht, die Gattung für das nachfolgende Spiel zu benennen. »Ist nun das Spiel von einem Gesange / oder bestehe im singen / mag es solcher Form nach ein Spielgesang benamset werden: bestehet aber das Gesange in dem Spiel / so muß es ein Singspiel heissen. Nach dieser Meinung werden viel von unseren Gesprächspielen gründlicher Spielgespräche heissen können.«

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Prolog74 und Epilog. Alle diese Texte sind in den Wolfenbütteler Drucken, die eigenartigerweise von der Forschung kaum herangezogen werden, durch Strophenbezifferung eindeutig als Lieder gekennzeichnet. Arienhaft sind die Sonette I, 1 (Künsteling), II, 6 (Hertzigild, Seelewigs Klage) und III, 3 (Sinnigunda).75 Staden hat die beiden ersten als Gebilde aus zwei Strophen und einem dritten Teil behandelt, also wie große Kanzonen. Die beiden anderen Sonette hat er aus Gründen der musikalischen Rhetorik durchkomponiert. Damit gibt es in jedem Akt wenigsten ein Lied und ein Sonett und alle Mitwirkenden sind wenigstens einmal daran beteiligt. Dieser Proporz an Arien entspricht durchaus der Verteilung in zeitgenössischen italienischen Opern. Staden schreibt häufig vor dem Gesangseinsatz sogenannte Symphonien vor. Dabei handelt es sich – auch wenn dies terminologisch durchaus möglich wäre – nicht um Ritornelle im eigentlichen Sinn.76 Stadens Symphonien stehen nicht bei den Arien, wo man sie erwarten sollte. Das Ritornell als instrumentale Einleitung und Rahmung eines Liedes oder einer Arie ist zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch Monteverdi bekannt geworden.77 Monteverdi gebraucht Ritornelle auch in der Oper, z. B. in der Krönung der Poppea (1642). Deutsche Komponisten, etwa Stadens Nürnberger Kollege Kindermann, nehmen die Form bei ihren Liedkompositionen auf.78 Demgegenüber handelt es sich bei Stadens Symphonien um harmonische Überleitungen für die Sänger. Sie treten regelmäßig dann auf, wenn ein Stück in einer anderen Tonart anfangen soll als das vorhergehende geendet hat. Die Funktion wird klar, wenn man Harsdörffers Termini beachtet: Er schreibt nämlich »An- oder Gleichstimmung (Symphonia)«.79 Das heißt der

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Daß der Prolog in Alexandrinern geschrieben ist, entspricht einem verbreiteten Usus. Vgl. zwei von dem Nürnberger Johann Löhner vertonte Werke: Johann Löhner (Text von Christian Heuchelin): Die triumphirende Treu. Sing-Spiel (ca. 1670). Nach den Quellen rekonstruiert u. hg. v. Werner Braun. Wiesbaden 1984; ders. (Text von Johann Faber): Abraham Der Gros=glaubige und Jsaac der Wunder=gehorsame Nach Art eines kurtzverfassten Sing=Spiels Zur Fasten=Zeit deß 1675ten Jahrs fürgestellet. Nürnberg 1675. Die Komposition von Sonetten war nicht ungewöhnlich, in Italien sogar gang und gäbe. Als berühmte deutsche Sonettkomposition sei Heinrich Alberts Ich armer Madensack (In: Albert [wie Anm. 71], S. 114f.) erwähnt. Ritornellartig rahmend eingesetzt werden die Symphonien in der Aufnahme: Sigmund Theophil von Staden (Text von Georg Philipp Harsdörffer): Seelewig. Ensemble I Ciarlatani, Dirigent Klaus Winkler. CD 2003. Zuerst in Scherzi musicali (1607); vgl. Braun (wie Anm. 8), S. 18. Die ersten Ritornelle bei Strophenliedern findet man bei Albert (wie Anm. 71). Sehr frühe Beispiele stellen aber auch die Lieder von Kindermanns Opitzianischem Orpheus (1640) dar. Ihre Ritornelle zeigen keine Motivverwandtschaft mit der Liedmelodie; vgl. Braun (wie Anm. 8), S. 188f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 162. Freilich schreibt Harsdörffer an dieser Stelle den Instrumentalstücken auch eine praktische Überbrükkungsfunktion zu: »Es ist aber durch solche Symfonien die Music dergestalt fortzusetzen / daß auch in wärender Verwechselung des Schauplatzes / wann die Fürhänge vorgezogen / stetig etwas zu hören ist.«

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Sänger soll in die Tonart eingestimmt werden. So leitet z. B. die »Symphonia mit 3. Violen« vor dem Engelschor80 das A-Dur des vorhergehenden Stückes in das D-Dur des nachfolgenden um. Stadens Symphonien beschränken sich freilich nicht auf die bloße harmonische Einstimmung. Besonders die ›Symphonia‹ zu Beginn zeichnet sich dadurch aus, daß sie schon das Kopfmotiv des nachfolgenden Liedes einführt. Auch verwenden diese kleinen Stücke Instrumente, die das Nachfolgende charakterisiert: tiefere und härtere Klänge der »Pomparten«, Fagotte oder Schalmeien stimmen in den Gesang der männlichen Schäfer ein, die weichen Flöten und Geigen in den der Hirtinnen, Engel und Allegorien. Darauf wird auch im Text der Gesprächspiele ausdrücklich hingewiesen.81 Es paßt zu Harsdörffers Instrumentencharakteristik und seiner Einteilung in edle und unedele Instrumente,82 wenn nach dem Dialog der Schäferinnen in I, 5 plötzlich ein paar Stöße eines »groben Horns« erklingen und sich auf diese Weise der böse Trügewald ankündigt.83 Ein weiterer Beweis für Harsdörffers ›modernes‹ Schreiben und Stadens ›modernes‹ Komponieren sind die Echoszenen, die sich zweimal in der Seelewig finden. Das Echo als pastorales Element war in italienischen Werken aufgekommen84 und wurde von Opitz im Deutschen bekannt gemacht.85 Eine der frühesten deutschen Echoszenen dürfte die im I. Akt von Opitzens Dafne (1627) sein.86 Auch in Buchners Orpheus und Schottels Friedenssieg (1642, gedruckt 1648) kommt ein Echo vor. Wirklich geläufig werden Echo-Effekte ab den 60er Jahren. In aller Regel übernimmt das Echo die Funktion eines Orakels, einer Himmelsstimme, die Antwort erteilt. So auch im Pegnesischen Schäfergedicht 1644,87 nicht aber in Seelewig. Bedeutet schon das Nymphenchorecho zu Ende von Akt II eine Desillusionierung, so nützt Trügewald (III, 4) das Echo für sein Täuschungsmanöver: »Wer kan dann trösten mich?« fragt Seelewig verzweifelt, und erhält die Antwort »Ich«. Der Böse singt mit weiblich verstellter Fistelstimme und gibt vor, die Nymphe Echo zu sein. Dieser Effekt wäre ohne Stadens

80 81 82 83

84 85 86

87

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 616f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 162. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 451–453. Erforderliche Instrumente: Als Harmonieinstrument die Theorbe, ferner je drei Geigen (wahlweise auch Violen), Flöte und Schalmeien sowie ein »grobes Horn« – neben diesem ist in III, 1 auch genannt: Bombarden (d. i. Pommern) oder Fagotte. Vgl. Silke Leopold: Monteverdi und seine Zeit. Laaber 1982, S. 123. Echoszenen waren in der Pastorale aufgekommen (Guarini: Pastor fido). Vgl. Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Hg. v. Cornelius Sommer. Stuttgart 1977, S. 29. Schon 1628 verwendet der Freiberger Rektor Möller in seinem Drama Aretinus Echoeffekte; vgl. Die Schuldramen des Freiberger Konrektors Andreas Möller. Hg. v. Rainer Hünecke. Stuttgart 1999, S. 257–260. Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht (1644). Nachdruck hg. v. Klaus Garber. Tübingen 1966, S. 9f.

Harsdörffer und die Musik

231

Musik nicht zu erreichen. Für Harsdörffers Dichtung war die Musik, wie es im Prolog heißt: »Mein selbst ander ich«.88 Seelewig ist keine Oper im italienischen Sinne. Sie ist ein Musikdrama, das im deutschen Sprachraum vorhandene Vertonungs- und Singspiel-Modelle benützt und diese in innovativer Weise mit einem neuen Sujet, dem Pastoraldrama, und mit neuen Formen des Musizierens – vor allem dem Prinzip der deutlichen Deklamation und der Differenzierung von Lied und Gespräch – verbindet.89 Wie sehr die Seelewig aufgrund dieser Umstände noch nach vielen Jahren geschätzt wurde, zeigen Aufführungen 165490 und 1665 in Wolfenbüttel91 und 1686 in Stockholm.92

88 89 90

91

92

Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 2), Tl. IV, S. 45. Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 25), S. 252–255, hat gezeigt, wie Staden besonders in II, 6 und II, 3 Anleihen bei Monteverdi macht. Zuwissen: Nachdem allhier eine vornehme und verhoffentlich der Teudschen Sprache Reinligkeit liebende Gesellschafft beyeinander: Als ist man bemühet [...] ein Geistlich Wald=Gedicht=Spiel an- und [...] vorzustellen. Wolfenbüttel 1654. Ankündigung der Aufführung in Wolfenbüttel zum Geburtstag von August dem Jüngeren, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg am 13. April 1654; vgl. die Textdrucke oben Anm. 11. Die Aufführung hat auch musikalische Spuren hinterlassen: Herzog Anton Ulrich hat in sein ChristFürstliches Davids=Harpfen=Spiel (1667), dessen Melodien sonst sämtlich von Sophie Elisabeth stammen, zu Lied Nr. XVI (Mein Gott verlaß mich nicht) die Melodie des Prologs von Seelewig verwendet; vgl. Gudrun Busch: Herzogin Sophie Elisabeth und die Musik der Lieder in den Singspielen Anton Ulrichs zu Braunschweig und Lüneburg. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Gudrun Busch u. Anthony J. Harper. Amsterdam 1992, S. 127–182, hier S. 138. Die Aufführung von 1665 ist belegt bei Gustav Friedrich Schmidt: Chronologisches Verzeichnis der in Wolfenbüttel, Braunschweig, Salzthal, Bevern und Blankenburg aufgeführten Opern, Ballette und Schauspiele (Komödien) mit Musik bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts nach den vorhandenen Textbüchern, Partituren und nach anderen gedruckten und handschriftlichen Quellenurkunden. München 1929, Nr. 36. Gunilla Dahlberg: Opera in Sweden. In: Spectaculum Europaeum. Hg. v. Pierre Béhar u. Helen Watanabe-O’ Kelly. Wiesbaden 1999, S. 471–475, hier S. 472f.; dies.: Die Wanderbühne als Kulturvermittler – die deutschen Komödianten, Hövelen und das Wolfenbütteler Repertoire. In: Kulturelle Beziehungen zwischen Schweden und Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Stade 1990, S. 97–105. Es handelt sich um Aufführungen, die Conrad von Hövelen mit einer Studententruppe organisierte. Man gab laut Hövelen Seelewig, Amelinde, Regier=Kunst=Schatten und Orpheus. Möglicherweise wurde Seelewig auch noch in Augsburg 1698 aufgeführt. So ohne weitere Belege bei Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Eine Geschichte des Musiktheaters. Kassel u. a. 1988, S. 145. Vgl. hierzu Renate Brockpähler: Handbuch zur Geschichte der Barockoper in Deutschland. Emsdetten/Westf. 1964, S. 49f., unter Zitation von Willibald Nagel: Aktenmaterial aus dem städtischen Archiv zu Augsburg. In: Monatshefte für Musikwissenschaft 30 (1898), S. 73f. Hier ist die Rede von der Truppe des Andreas Elenson, die 1698 zur Aufführung anbietet: »eine auß des berühmten Herrn Harrstorfers Hystorien alß eine schäfferey«. Nagel zieht daraus den Schluß, daß dies die Seelewig gewesen sein muß; Brockpähler betont, daß dafür keine Beweise vorlägen. – Nicht zuzustimmen ist der These von Bauer-Roesch (wie Anm. 11), S. 646, die das ganze Werk Seelewig primär für eine Theorie hält (»eine Oper über eine Oper«), an deren Aufführung zunächst gar nicht gedacht worden sei; das Gleiche auch bei Leopold: Die Oper im 17. Jahrhundert (wie Anm. 25), S. 255.

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Anhang: Musikbeispiel

Irmgard Scheitler

Harsdörffer und die Musik

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Irmgard Scheitler

Harsdörffer und die Musik

Notensatz Christoph Beck

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Georg Braungart

Harsdörffers Naturkunde

Harsdörffers ›Naturkunde‹ ist keine Wissenschaft im terminologischen Sinne eines ausdifferenzierten Systems. Naturforschung ist in der Frühen Neuzeit noch eng mit den mechanisch-handwerklichen ›Künsten‹, den artes mechanicae, verknüpft; die Naturkunde der Zeit weist deutlich einen Zug in Richtung ›Show-Effekt‹ auf, wie jüngst der Band Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert1 eindrücklich vorgeführt hat: Experimente dienten meist auch – wie die (mehr oder weniger) öffentlichen Sektionen im theatrum anatomicum (etwa in Ingolstadt oder Bologna) – der Beeindrukkung eines im wesentlichen höfischen oder an der höfischen Kultur orientierten Publikums. Das zeigt für Frankreich sehr überzeugend der Beitrag von Andreas Gipper in dem genannten Band unter dem Titel Experiment und Öffentlichkeit. Cartesianismus und Salonkultur im französischen 17. Jahrhundert.2 Die Situation der Naturkunde im 17. Jahrhundert ist natürlich im Kontext der allgemeinen Entwicklung der Naturwissenschaften zu sehen. Zentral ist hierbei eine große Emphase der neuen methodologischen Fundierung der Naturerforschung. Francis Bacons Instauratio magna (1620) und das Pathos des Experiments als zentralem methodischem Instrument bestimmen das Bild, das von einer durchgreifenden Mathematisierung der Wissenschaften geprägt ist und mit Descartes’ mechanistischem Naturkonzept um die Mitte des Jahrhunderts eine autoritative Fassung erhält. In der Biologie gab es um die Wende zum 17. Jahrhundert großangelegte Versuche, die Pflanzen nach rein biologischen Kriterien zu klassifizieren – und nicht mehr angelehnt an Bedürfnisse der Medizin oder an magisch-hermetische Kriterien, wenngleich sich diese Tradition durchaus noch weiter hält. Die Situation wird von Jörg-Jochen Berns in seiner Einleitung zum Neudruck der Harsdörfferschen Erquickstunden wie folgt charakterisiert:

1 2

Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. Berlin u. a. 2006. Andreas Gipper: Experiment und Öffentlichkeit. Cartesianismus und Salonkultur im französischen 17. Jahrhundert. In: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Hg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. a. Berlin u. a. 2006, S. 242–259.

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Georg Braungart

Die Forderung einer an den Naturdingen orientierten Philosophie impliziert eine ganz neue Aufwertung von Mathematik samt Physik und Chemie als Leitwissenschaften; eine Aufwertung, die gerade deshalb besonders brisant ist, weil ja Mathematik, Physik und Chemie an den damaligen deutschen und europäischen Universitäten noch gar nicht wissenschaftsprogrammatisch und institutionell verankert waren und Technische Hochschulen noch gar nicht in Sicht waren. Zu Schwenters und Harsdörffers Zeiten ging man gerade erst dazu über, der Mathematik, der bislang im Artes-System nur gemeinsam mit der Musik propädeutische Bedeutung im Rahmen des Grundstudiums zugestanden war, eigne [!] Professuren einzurichten (so zuerst 1608 in Gießen, wo kein Geringerer als Joachim Jungius diesen Lehrstuhl innehatte).3

Ausgehend von einer prinzipiellen Trennung zwischen dem »naturwissenschaftlich-technischen Wissen, das bei Kunsthandwerkern, Instrumentenbauern, Baufachleuten der Mühlen und Bergwerke, Metallfachleuten und anderen Facharbeitern vorhanden war, und dem universitär-akademischen Fakultätenwissen«4, betont Berns die Leistung der Schwenter-Harsdörfferschen Erquickstunden, die gerade in der Vermittlung zwischen diesen distinkten Bereichen der Wissenskultur liege. In seiner Charakteristik des ersten, von Schwenter kompilierten Bandes im Vergleich mit den beiden dann 15 bzw. 17 Jahre später von Harsdörffer veröffentlichten Folgebänden zeigt Berns sehr deutlich, daß zwar einerseits die lockere Systematik von Schwenter (die etwa das Schema der artes oder der vier Elemente zwanglos aufnimmt) weitgehend übernommen wird, daß aber auch eine deutliche Umakzentuierung der Gewährsleute stattfindet. Harsdörffer, eine fünfjährige Bildungsreise durch ganz Mitteleuropa im Rücken, bedient sich unter anderem bei Descartes, dann vor allem auch bei Francis Bacon und nicht zuletzt bei Athanasius Kircher, der über alle Konfessionsgrenzen hinweg bei der Gelehrtenwelt Europas in hohem Ansehen stand, schon wegen seines eindruckvollen Museums in Rom. Auch Schwenter hatte schon auf Autoren der hermetisch-magischen Tradition zurückgegriffen, was Harsdörffer ebenfalls tat. In zeittypischer Weise verbindet Harsdörffer, wie die vielen von ihm ausgeschriebenen Jesuiten-Autoren, die Naturkunde mit ethisch-religiösen Zielsetzungen: »In der Propagatio fidei per scientias wirken Naturwissenschaft und christliche Moralphilosophie zusammen, und zwar derart, daß die Einsicht in das göttliche Schöpfungswerk und dessen Konstruktionsgesetze sowohl zum Anreiz als auch zum Ausweis christlicher Tugend wird.«5 Unter Hinweis auf das grundlegende Werk von Ansgar Stöcklein weist Berns darauf hin, daß das Bild von der

3

4 5

Jörg Jochen Berns: Einleitung. In: Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, S. V–XLIV, hier S. XIIIf. Berns (wie Anm. 3), S. XIV. Berns (wie Anm. 3), S. XXIII.

Harsdörffers Naturkunde

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Schöpfung, geordnet ›nach Maß, Zahl und Gewicht‹ (Buch der Weisheit, 11,21) zusammen mit anderen biblischen Allusionen zur Rechtfertigung auch der mathematisierten und empirischen Naturforschung dient.6 Zugleich aber gibt es bei Schwenter und Harsdörffer auch einen spielerischen Umgang mit diesen Fragen, der darauf hinweist, daß diese Art der physiko-theologischen Legitimation von Naturkunde schon vor der Newtonschen Revolution brüchig geworden ist. Und in einer genauen Analyse des auf Bacon rekurrierenden ›Salomon-Programms‹ aus dessen Utopie Nova Atlantis zeigt Berns, wie Harsdörffer – nicht zuletzt durch zahlreiche Embleme und Gedichte in seinen beiden Erquickstunden-Bänden – eine »Poetisierung der Naturwissenschaften«7 versucht – mit einer gegenüber Bacon signifikanten Änderung: Anders als Bacon schreibt Harsdörffer freilich keine Utopie mehr. Insofern ist das literarische Modell der Erquickstunden gegenüber der Wissenschaftsutopie Bacons weniger streng und weniger ernst. Die Utopie entgrenzt sich in Buntschreiberei und Projektemacherei. Anders als Bacon interessiert sich Harsdörffer nicht mehr für das Experiment, sondern für das Spiel; nicht mehr so sehr für die Natur als aufgegebenes Wunder, sondern […] für die Machbarkeit des Wunders, die Erregung von Verwunderung durch Illusion. Harsdörffers ästhetisches Interesse ist weitgehend Interesse an Illusionismus, an der Entstehung von Sinneswahrnehmung zwecks Herstellung von Sinnestäuschungen, die zumal in theatertechnischen und projektionstechnischen Zusammenhängen – zentralperspektivische Kulissenbühne, Camera obscura- und Laterna magica-Projektionen, Echo-Spielereien – aber selbst auch bei Karten- und Magnettricks unverzichtbar sind.8

Diese Charakterisierung der Harsdörfferschen Naturkunde, wie sie sich in den Erquickstunden darstellt, ist sicher zutreffend, aber sie ist noch nicht eigentlich eine Erklärung des Phänomens, zu dem übrigens sehr deutlich auch eine geistlich-erbauliche Zielsetzung gehört, denn das Konzept ›Erquickung‹ ist nicht einfach dem horazischen delectare zuzuordnen, es hat, wie Berns zu Recht betont, vielmehr auch einen »aus der religiösen Tradition übernommene[n] Erbaulichkeitsaspekt«.9 Ich meine – das ist meine These –, daß Harsdörffers Naturkunde genau in einem Spannungsfeld zu lokalisieren ist, das die Besonderheiten seiner einschlägigen Texte, wie sie von Berns so prägnant charakterisiert wurden, präzise erklären würde: das Spannungsfeld zwischen den Polen höfisch-galanter ›Experimental-Wissenschaft‹ einerseits (dazu gleich mehr) und protestantisch-religiöser Bekämpfung des Müßiggangs andererseits. Ich meine also: Man kann zeigen, daß die Vorstellung von Naturwissenschaft, wie sie bei Harsdörffer erscheint,

6 7 8 9

Berns Berns Berns Berns

(wie (wie (wie (wie

Anm. Anm. Anm. Anm.

3), 3), 3), 3),

S. S. S. S.

XXIII. XXX. XXX. XXXI.

240

Georg Braungart

einerseits streng funktional im Kontext der höfisch-patrizisch-bürgerlichen Konversationskultur zu sehen ist und daß andererseits aber auch immer wieder das Argument einer sinnvollen Beschäftigung zur Vermeidung einer moralisch problematischen Müßiggängerei einbezogen wird. Für die Erläuterung des ersten Aspekts – die Einpassung der Harsdörfferschen Naturwissenschaft in den Kontext höfischer Konversationskultur – greife ich auf einen gemeinsam mit meinem Bruder verfaßten Beitrag über die einzige ein ganzes Buch umfassende Wissenschaftsutopie des 17. Jahrhunderts zurück, einen Beitrag über die 1670 zuerst erschienene See=Farth nach der Neuen Welt / Ohne Schiff und Segel des Kieler Medizinprofessors Johann Daniel Major, zugleich Verfasser von kunstkammertheoretischen Schriften.10 Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts bringt den Naturwissenschaften ihre Institutionalisierung. 1657 wird auf Initiative der toskanischen Herzöge in Florenz die Accademia del Cimento, die Akademie des Experiments, gegründet; 1662 privilegiert Karl II. die zwei Jahre vorher gegründete Royal Society von London, 1666 ersteht in Frankreich die Académie des Sciences, deren Mitglieder ein großzügiges staatliches Gehalt beziehen. ›Institutionalisierung der Wissenschaften‹ bedeutet jedoch nicht einfach, daß die Forschung nun Schutz und Hilfe von der Krone erfährt. Gemeint ist damit vielmehr ein komplexer Prozeß, bei dem nach und nach verbindliche Standards fixiert, der Informationsfluß reguliert, Prüfungsmethoden etabliert werden. Und es werden die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft gezogen. Die Entstehung und Entwicklung der Royal Society zeigt auch, welchen Preis dieser Prozeß – über den Ausschluß von Alternativen der Wissenschaft hinaus – forderte. In den Projekten der Baconschen Bewegung während der Revolutionsjahre bildeten Wissenschaftsentwicklung, Reform des Bildungs- und Erziehungswesens und die ›General-Reformation‹ der Gesellschaft eine Einheit. »Hier waren noch keine scharfen Grenzen zwischen Naturerkenntnis und Politik, Moral, Erziehung, Religion gezogen«.11 Der Baconismus der 40er und 50er Jahre präsentierte »nicht nur eine Strategie empirischer Wissenschaft im modernen Sinn, sondern eine Methode und ein Programm sozialer und politischer

10

11

Georg Braungart u. Wolfgang Braungart: Mißlingende Utopie. Die Neuen Wissenschaften auf der Suche nach fürstlicher Patronage. Zu Johann Daniel Majors See=Fahrt nach der Neuen Welt (1670). In: Res Publica Litteraria. Die Institutionen der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit. Hg. v. Sebastian Neumeister u. Conrad Wiedemann. Wiesbaden 1987, Bd. 2, S. 367–386. Vgl. auch Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989. Wolfgang van den Daele: Die soziale Konstruktion der Wissenschaft – Institutionalisierung und Definition der posititiven Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung. Hg. v. Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele u. a. Frankfurt/M. 1977, S. 129–182, hier S. 142.

Harsdörffers Naturkunde

241

Entwicklung«12. Diese Einheit wird nun in der Restauration aufgebrochen. Die unter den Schutz des Königs gestellte Royal Society darf sich mit moralischen, pädagogischen oder politischen Fragen nicht befassen. Ihre Mitglieder lassen beteuern, daß die neue experimentelle Forschung in keiner Weise gefährlich, ordnungsstörend oder gar aufrührerisch sei. Als Preis für ihre Etablierung lassen sich die Neuen Wissenschaften ihre weltanschauliche Enthaltsamkeit abhandeln. Im Verlauf ihrer Institutionalisierung werden sie gleichzeitig freigesetzt von religiös-sozialer Einbindung, freigesetzt jedoch auch für die technisch-wirtschaftliche Instrumentalisierung durch den absolutistischen Staat. Wertfreiheit bedeutet hier also auch Instrumentalisierbarkeit. Die Académie des Sciences zu Paris hatte ihre Vorläufer in den Salons, wo die soziale Elite auch naturwissenschaftlichen Experimenten im Rahmen galanter Geselligkeit nachging. Die Académie selbst sollte sich neben technischer Auftragsforschung und Gutachtertätigkeit vor allem Repräsentationsaufgaben widmen. Ein hierfür charakteristisches Beispiel ist die Anwendung der Hydrostatik für die Konstruktion der Versailler Wasserspiele. Deutschland sieht die Institutionalisierung der Wissenschaften in einer staatlichen Akademie etwas später. Die Kurfürstlich-Brandenburgische Societät der Wissenschaften wird 1700 auf Leibnizens Anregung gegründet; 1711 geht aus ihr die Preußische Akademie der Wissenschaften hervor. Allerdings besteht die erste private naturwissenschaftliche Akademie in Deutschland da schon ein halbes Jahrhundert (seit 1652), wenn auch unter eher kümmerlichen Verhältnissen. Es ist die Academia Naturae Curiosorum, ein Club von Ärzten, der seinen Sitz in Schweinfurt hat. Schon die privaten Sozietäten in Frankreich hatten einsehen müssen, daß effektive naturwissenschaftliche Forschung immensen Aufwand erfordert und – wie 1663 Samuel Sorbière, der Sekretär eines dieser Zirkel, feststellt13 – nur unterstützt von Königen und wohlhabenden Fürsten oder in ganz wenigen reichen Republiken betrieben werden könne. Wieviel mehr mußten da die redlichen Bemühungen der Ärzte in Schweinfurt allein schon aus finanziellen Gründen in hoffnungsvollen Ansätzen steckenbleiben. (Was sie – nebenbei gesagt – aber nicht hinderte, eifrig mit der Royal Society zu korrespondieren.) Da nützte auch die Privilegierung 1687 durch den Kaiser nichts. Man durfte sich zwar jetzt Sacri Romani Imperii Academia Caesaro-Leopoldina Naturae Curiosorum nennen und ein Wappen führen, aber eine finanzielle oder andere praktische Unterstützung – außer der Portofreiheit im Reich – blieb der Akademie mit dem spektakulären Namen versagt.

12 13

Van den Daele (wie Anm. 11), S. 142. Roger Hahn: The Anatomy of a Scientific Institution. The Paris Academy of Sciences, 1666–1803. Berkeley u. a. 1971, S. 8.

242

Georg Braungart

In seinem wissenschaftsutopischen Werk, der bereits erwähnten See=Fahrth nach der Neuen Welt / ohne Schiff und Segel von 1670 entwirft Johann Daniel Major, ab 1664 auch Mitglied der Leopoldina, das Ideal eines barocken ›Wissenschaftskollegs‹, das einen deutlich – man könnte sagen – ›polytechnischen‹ Schwerpunkt hat und dabei interessanterweise einige Wissensbereiche ganz ausklammert: Theologie, Politik, Moral und Recht; sie gehören nicht zu den Disziplinen, die Major in seinem Palast der mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen etabliert sehen möchte. Sie bergen, dessen ist sich Major wie etwa auch die Mitglieder der Royal Society klar bewußt, die Gefahr weltanschaulicher Verwicklungen und Streitigkeiten. Die ›normative Neutralisierung der Naturerkenntnis‹14 ist eine Bedingung ihrer Etablierung und Institutionalisierung im 17. Jahrhundert. Man hat aus dem Fall Galilei gelernt. Und für diese Etablierung ist auf der ganzen Linie fürstliche Patronage nötig. Aus zahlreichen Widmungsvorreden und -gedichten wird deutlich, daß damit auch (gerade angesichts der Herkunft mancher Disziplinen bzw. Teildisziplinen aus den inferioren artes mechanicae) eine soziale Anerkennung und Aufwertung der Neuen Wissenschaften angestrebt wird. In den Räumen des Majorschen Wissenschaftsinstituts findet man immer wieder ›köstliche‹, ›ergötzliche‹, ›philosophischer Belustigung‹ dienende Gegenstände, auch ›Curiositäten‹ – die mit dem bedeutungsschweren Begriff frühneuzeitlicher curiositas wenig zu tun haben, eher schon mit Effekten, wie sie auch in Harsdörffers Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden dargestellt werden. Das künstliche Ausbrüten von Hühnereiern gehört dazu; oder die Möglichkeiten illusionistischer Projektionen durch die camera obscura, die Major in epischer Breite schildert. ›Galant‹ sind seine Studien auch darin, daß sie verschiedene sportlich-ritterliche Disziplinen wie Reiten, Fechten, Wurfspiele einbeziehen, daneben auch Karten- und Schachspiel. Der Kieler Medizinprofessor prägt in seiner Schrift für diese Art von Studien einen Begriff, der präzise auch Georg Philipp Harsdörffers Konzept von ›Naturwissenschaft‹ beschreibt: »Galantes Experimental-Studium«, übrigens in seiner Widmungsvorrede an den Grafen Konrad zu Reventlow, Geheimen Rat des Dänischen Königs. Der Begriff des ›Galanten Experimental-Studii‹ faßt einerseits also Majors Vorstellungen über die soziale Verortung der Wissenschaften im höfisch-geselligen Rahmen. Andererseits – und hier scheinen deutliche Parallelen zum Institutionalisierungsprozeß auf – impliziert dieser Begriff auch inhaltliche Kriterien: Gegenstand galanter Geselligkeit darf nur sein, was nicht zu tiefschürfend oder subtil, gar pedantisch erscheint und was auch vom Thema her keinen Teilnehmer unangenehm berühren könnte. Seit je schon schließen die Konversationslehrbücher beispielsweise heikle religiöse Fragen aus dem Gespräch aus. Galante Wissenschaft grenzt sich ab gegen orthodoxe Schulgelehr-

14

Vgl. van den Daele (wie Anm. 11), S. 133.

Harsdörffers Naturkunde

243

samkeit, sie ist unverbindlich-harmlos, aber sozialkommunikativ interessant. Vor diesem Hintergrund kann nun die Harsdörffersche Naturkunde im Kontext der Konversationskultur genauer charakterisiert werden. Wiederum ist hier zunächst auf eine Studie von Jörg Jochen Berns hinzuweisen, der unter dem Titel Kompilation und Kombinatorik Harsdörffers naturwissenschaftliche (diesen Begriff sollte man aber in diesem Kontext nur in Anführungszeichen benützen) und ästhetische Interessen zusammenführt und zeigt, daß seine Kompilationstätigkeit in gewisser Weise primär als ›Service‹ für seine Leser gesehen werden muß. Der Autor popularisiert die akuten naturwissenschaftlichen Hypothesen oder Erkenntnisse ebenso wie die technischen Innovationen, indem er sie in deutscher Sprache – wie verkürzt auch immer – referiert, kolportiert und diskutiert. […] Die kompilatorischkombinatorische Anlage seiner Bücher, die sich in deren starker Binnengliederung und in reichen Indexdateien erweist, gewährt verschiedene Rezeptionsmöglichkeiten. Sie fordert und fördert unterschiedliche Leseinteressen: die des zerstreuten oder zerstreuungssuchenden Lesers ebenso wie die des zielstrebig informationsheischenden Lesers.15

Ich würde hier noch einen Schritt weitergehen: Die von Berns prägnant beschriebene Anlage dieser Werke entspricht präzise einem bestimmten Bereich der klassischen Schulrhetorik und damit einem bestimmten Stadium der Textproduktion: der Topik. Die Aufbereitung immenser Mengen von Wissen, Geschichten, Beobachtungen, Tricks und Experimenten hat eine dienende Funktion, dienend im Sinne der Unterstützung sprachlicher Aktivitäten ihrer Benutzer, schlicht: Sie dienen der Beförderung interessanter Konversation in der höfisch-patrizischen Gesellschaft und der Herstellung von – schriftlichen oder mündlichen ›Texten‹. Damit liegen sie auf einer Linie mit der großen Sammlung von Apophthegmata, die Harsdörffer 1655/56 unter dem Titel Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und ergötzlicher Hofreden herausgebracht hat. Ich habe im Zusammenhang der Neuausgabe dieses Werks gezeigt, daß nach dem Konzept Harsdörffers das Apophthegma nicht eine Textsorte bzw. ein literarisches Genre ist, sondern als »Ferment der Geselligkeit« bei der Produktion sprachlicher Äußerungen dienen soll16 und damit bei der Textgenese eingespeist wird, statt am Ende eines Textprozesses zu stehen.

15

16

Jörg Jochen Berns: Kompilation und Kombinatorik. Zusammenhänge und Grenzen von Harsdörffers naturwissenschaftlichen und ästhetischen Interessen. In: Harsdörffer-Studien. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 55–83, hier S. 59. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden (1655–1656). Nachdruck hg. v. Georg Braungart. Frankfurt/M. 1990; Georg Braungart: Ein Ferment der Geselligkeit. Zur Poetik des Apophthegmas. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. v. Wolfgang Adam. Wiesbaden 1997, S. 463–472.

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Georg Braungart

Auch die Naturkunde, als unverfänglicher und zugleich – wie die Liebe – interessanter Konversationsstoff, wird von Harsdörffer in diesem gesellschaftlich-kulturellen Funktionszusammenhang gesehen. Das geht bis hin zur Naturkunde im Trincir=Buch, in dem etwa Folgendes zu lesen ist: Die rechte Zeit der Droschel / Kramet= oder GrünmatVogels / also genannt / weil er sich auff dem grünen abgemeiden Felde nehret / wie auch der Anschel und Wachtel ist der Herbst / und wann man sie fangen kann / wie an etlichen Orten zugeschehen pfleget / der Winter. Jhr Fleisch ist trocken und kalt, deßwegen ohne ein gutes Trüncklein Wein nicht wol zu verdäuen.17

Oder, ein weiteres Beispiel: Im vierten Teil der Gesprächspiele von 1644 wird an einer Stelle über einen Blumenbusch Konversation betrieben: Diese Blümlein sind aus der Erden erwachsen: noch sollte man meinen / sie weren von dem Himmel gefallen / oder ja die Sterne der so buntfertigen Erden. Betrachten wir die trefflichen Farben / so werden wir darbey des Geruches vergessen; achten wir den Geruch / so haben wir nicht satsame Augen dieses wunderschöne Farbwesen zu durchsehen. Es ist eine natürliche Bildung aller Schönheiten / die sich in den Fügungen der Elementen befinden.18

Die naturkundlichen Wissensbestände werden nur äußerst sparsam dosiert und zugleich nach der Maßgabe des poetisch stilisierten Gesprächs eingebracht; und den Rahmen dieses Gesprächs konstituiert sinnigerweise die Eröffnungsfrage »von der Jungfer Cassandra Blumenstrausse […]: Ob selber ihren Busen / oder ihn der Busen ziere?«19 Ganz entschieden auf technisch-naturkundliche Fragen orientiert sich Harsdörffer aber erst, wie angedeutet, in den beiden Bänden der Mathematischen und philosophischen Erquickstunden, die er 1651 und 1653 in Anknüpfung an den Band Daniel Schwenters von 1636 herausbrachte. In der Widmungsvorrede an den hessischen Landgrafen Wilhelm macht Harsdörffer sehr deutlich, wie er sich das Verhältnis eines Fürsten zu den Künsten und Wissenschaften vorstellt: Weil nun das Gesicht der übertrefflichste unter allen Sinnen also sind auch die Künste und Wissenschafften / welche davon handeln / vielen andern vorzuziehen / und diese Weiskunst hat E. Fürstl. Gn. von Jugend auf beharrlich geliebet / erfreulich geübet / mit einer neuen Erfindung die Stucke bey Nachts zu richten / rühmlichst gemehret / und dardurch / wie von der Weißheit gerühmet wird / einen unsterblichen Namen bekommen / und ein ewiges Gedächtniß bey den Nachkommen gestifftet […]. Waar machend / was dorten der gelehrte Engeländer Fr. Verulamius [Bacon also – G. B.]

17 18 19

Georg Philipp Harsdörffer: Vollständiges und von neuem vermehrtes Trincir=Buch. Nürnberg 1652, Tl. 2, S. 121. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. IV, S. 384. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 18), S. 384.

Harsdörffers Naturkunde

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schreibet / daß es ein unfehlbares Anzeigen eines Christlöblichen Fürsten seye / wann er seine Freude nicht in den hinfallenden und baldreuigen Eitelkeiten / sondern in nutzlichen Künsten und Wissenschafften suche und finde.20

Neben den Aspekt der höfisch-konversationellen ›Verwertbarkeit‹ tritt, das deutet sich hier an und ist für das Nürnberger Milieu im 17. Jahrhundert charakteristisch, bei Harsdörffer aber ein zweiter funktionaler Gesichtspunkt: der moralische Aspekt. Es geht bei diesen Künsten und Wissenschaften immer um eine moralisch relevant-sinnvolle Art und Weise, sich – als Mitglied einer von Brotarbeit entlasteten Schicht – die Zeit zu vertreiben. Der ›kunstliebende Leser‹ des zweiten Teils wird darauf hingewiesen, daß es weder um strenge Professionalität gehe noch erst recht nicht um kindische Spielerei: Es sei zu wissen […] daß […] so wol die unvollkommenheit dieser Kunstsachen / als die angeborne Begierde mehr und mehr gleichsam spielweiß und ohne Mühe zu erkundigen / anzudeuten / und wird verhoffentlich / sowol der Anfänger / als dem [sic!] Lehrmeister eine nutzliche Belustigung hierinnen finden / wann er von wichtigerer Angelegenheit sich abmüssigend / ihme hier anständige Aufgaben auszusuchen geruhen wird.21

Aus dieser konfessionellen Moral des anständigen – also wohl anstehenden, dem decorum des Standesgemäßen – Zeitvertreibs oder der ›nutzlichen Belustigung‹ (die horazische Formel streng zuspitzend) ergibt sich auch die spezifische Struktur der einzelnen Kapitel: Sie sind auf eine wohlkalkulierte Weise ›interaktiv‹, sie fordern die Eigenaktivität des Benutzers heraus, der mit dem Werk arbeiten muß, der durch die eingestreuten Bilder aufmerksam gemacht und prägnant informiert wird, der schließlich durchgehend Aufgaben gestellt bekommt, die vorzugsweise im geselligen Rahmen gelöst oder zumindest diskutiert werden sollen: »Wann iemand sein Aug in dem Mondschein hette / ist die Frag / ob die Erde grösser schiene / als sie ist?«22 – »Ob die Fische hören.«23 – »Ein Papyr von allerhand Farben machen / dessen aufgedrucktes Bild nicht kan gesehen werden / als in der Sonnen.«24 In den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts scheint die Naturkunde, die in den ersten Bänden der Gesprächspiele noch kaum eine Rolle spielte, für Harsdörffer erheblich stärker ins Blickfeld getreten zu sein. Daß dies kein Zufall ist, ergibt sich aus dem eingangs über die allgemeine Entwicklung Gesagten. Wichtiges Zeugnis hierfür ist bei Harsdörffer – neben der Neuaufnahme der

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Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, unpag. Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae (wie Anm. 20), Leservorrede, unpag. Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae (wie Anm. 20), S. 211. Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae (wie Anm. 20), S. 489. Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae (wie Anm. 20), S. 576.

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Georg Braungart

Schwenterschen Erquickstunden – der Teutsche Secretarius, in dessen zweitem Teil von 1659 – Harsdörffer ist 1658 gestorben – sich ein ganzes Kapitel zum Thema »Streit-Briefe aus der Natur=kündigung« findet.25 Hier gehört die Naturforschung gleichsam zur anthropologischen Ausstattung des Menschen, und sie bedarf darüber hinaus keiner eigentlichen Rechtfertigung mehr, wenngleich sich theologisch-ethische Begleitüberlegungen immer wieder eingestreut finden. Insgesamt jedoch gilt: Daß es ein unfehlbares Kennzeichen der unsterblichen Seele seye / daß der Mensch mit zuwachsenden Jahren seinen Verstand unendlich machen könne: Ja / wie sich das Aug in dem Sehen belustiget / und die Finsterniß hasset / das Ohr sich ob den [sic!] hören erfreuet/ und nicht Taub seyn will; also weidet sich gleichsam der Verstand in Erkündigung aller Wissenschafften / und kan doch die eingeschaffne Begierde zu lernen nicht endlich vergnügen und erfüllen.26

In den darauf folgenden Kapiteln werden Fragen aufgeworfen (etwa nach dem Einhorn, dem Regenbogen, nach der Farbe der Rosen), die dann nach biblischen, humanistisch-gelehrten und aktuell-naturkundlichen Aspekten und den entsprechenden Quellen folgend diskutiert werden. Schließlich folgt eine rollenbezogene Stellungnahme in Form eines Briefes oder eines ›Entscheids‹. – Selbst nach Maßgabe der Topik entworfen und historische, literarische und naturkundliche Reminiszenzen integrierend, sind diese Texte also in einem Formularbuch zugleich selbst wiederum als Vorbilder für neue Texte angelegt, so daß sich auch hier zeigt, wie sehr die Naturkunde in den kulturell-kommunikativen Zusammenhang einer patrizischen Lebensform eingebettet ist. Aus der Rückschau eines entwickelten Wissenschaftssystems mag dies als sehr vorläufig erscheinen; im Kontext einer sich gerade erst – und zwar im Umkreis der Höfe und der außeruniversitären Akademien – institutionalisierenden Wissenschaft ist jedoch die ›galante Wissenschaft‹ eine prägnante Erscheinung von frühneuzeitlichen ›Wissenskulturen‹.

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Georg Philipp Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius. Das ist: Allen Cantzleyen / Studirund Schreibstuben nutzliches / fast nohtwendiges […] Titular- und Formularbuch (1655). Nachdruck der Ausgabe 1656–1659. Hildesheim u. a. 1971, S. 603–713. Harsdörffer: Der Teutsche Secretarius (wie Anm. 25), S. 606.

Berthold Heinecke

Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer

1. Der Dichter und die Naturphilosophie In der Ausgabe letzter Hand von Christian Wolffs (1679–1754) Kurtzem Unterricht von den Vornehmsten Mathematischen Schriften (1750)1 werden im letzten Paragraphen auch Daniel Schwenter (1585–1636) und Georg Philipp Harsdörffer mit ihren Erquickstunden (1636–1653) erwähnt, einem Werk, in dem »Anmuthige Sachen […] aus allen Theilen der Mathematick zusammen getragen und mit kurtzweiligen vermenget« wurden.2 In der Tat beschreibt diese kurze Charakteristik ganz gut, was Harsdörffer beabsichtigte – aufbauend auf einem ersten Band von Schwenter, der bereits 1636 erschien und den er als Anfang der Trilogie 1650 unverändert erneut erscheinen läßt. Die poetische Formel des Horaz, prodesse et delectare, ›nutzen und erfreuen‹, diente ihm bei diesem und bei seinen anderen kompilierenden Werken als Leitstern3 und muß stets vergegenwärtigt werden, um dem Anliegen dieser Werke gerecht zu werden. Es geht – auch im Kontext der Zeit – nicht um ein fachwissenschaftliches Schrifttum, sondern um Populärwissenschaft, die einem weiten Kreis der Gebildeten, jedoch nicht der Gelehrten, vermittelt werden sollte. Die Beschäftigung Harsdörffers mit der Mathematik beschränkt sich dabei nicht nur auf die Erquickstunden, wenngleich diese hierfür den Schwerpunkt bilden. Auch in den Frauenzimmer

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Christian Wolff: Kurtzer Unterricht von den Vornehmsten Mathematischen Schriften. Frankfurt/M. u. a. 1750, S. 178. Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990; Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990; ders.: Delitiae Philosophicae et Mathematicae Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil (1653). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990. Zur Bibliographie vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Stuttgart 1991, Bd. 3, S. 1969–2031; Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. HansJoachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 13–36.

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Berthold Heinecke

Gesprächspielen (1643–1649) 4 und selbst in Werken wie den Sonntagsandachten (1649–1652)5 spielen diese Fragen eine Rolle. Als Herausgeber veröffentlichte er Werke über die Quadratur des Zirkels, Sonnenuhren und ein astronomisches Kartenspiel. Im Mittelpunkt der folgenden Betrachtungen stehen jedoch wegen deren Ausführlichkeit die Erquickstunden. Wolffs Beschreibung – für seine Zeit verständlich – führt heute bei oberflächlicher Auffassung zunächst in die Irre. Denn hier geht es um einen Mathematikbegriff, der zusätzlich zur eigentlichen Mathematik (und Schreibkunst) noch nahezu alle Sachwissenschaften umfaßt, insbesondere aber jene, in denen die Mathematik nach zeitgenössischem Verständnis angewendet werden kann, d. h. also Meßtechnik, Optik, Astronomie, Musik, Maschinenbau, Bautechnik und Chemie. Darüber hinaus gibt es im dritten Band noch einen Abschnitt über die ›Naturkündigung‹, die ›Sittenlehre‹ und ›politische‹ Fragen. Alles in allem behandelt Harsdörffer in den von ihm zusammengetragenen beiden Bänden der Erquickstunden nach eigener Angabe tausend Einzelprobleme. In der Form folgt er dabei dem Beispiel Schwenters, welcher seinerseits auf eine französische Vorlage aufbaut.6 Nach Wolffs Verständnis gehört dieses Werk zur mathematischen Unterhaltungsliteratur, für Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708) ist es insbesondere eine Einführung in Mathematik und Physik für die Jugend.7 Jacob Friedrich Reimmann (1668–1743) sieht in seinem populären Literaturführer Harsdörffer gar als einen der bedeutenden deutschen Mathematiker.8 Offenbar ist die Anlage des Werkes so modern, daß sein Konzept noch bis ins 18. Jahrhundert hinein Akzeptanz findet. Harsdörffer hatte erkannt, daß die Fülle neuer Erkenntnisse und die Vielzahl europaweit neu erscheinender Bücher auch neue Wege der Wissensvermittlung notwendig machen. Dabei hatte er einen Adressatenkreis im Auge, den man als interessierte Laien beschreiben könnte.9 Also eine Personengruppe, die weder über die sprachlichen noch die finanziellen Mittel verfügte, um wissenschaftliche Spezialliteratur rezipieren zu können.10

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Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969. Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649–1652). Nachdruck hg. v. Stefan Keppler. Hildesheim u. a. 2007. Vgl. hierzu Jörg Jochen Berns: Einleitung. In: Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, S. V–XLIV. Ehrenfried Walther von Tschirnhaus: Gründliche Anleitung zu nützlichen Wissenschaften, absonderlich zu der Mathesi und Physica, wie sie anitzo von den Gelehrtesten abgehandelt werden (1700). Nachdruck der Ausgabe 1729 hg. v. Eduard Winter. Stuttgart-Bad Cannstatt 1967, S. XVI–XX. Jacob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Literariam derer Teutschen. Halle 1710, Bd. 3, Tl. 2, S. 119 u. 130–132. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, Vorrede, unpag. Vgl. Sylvia S. Tschopp: Popularisierung gelehrten Wissens im 18. Jahrhundert. In: Macht

Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer

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Gegenüber seinem Vorgänger Schwenter hebt Harsdörffer hervor, daß sein Werk nicht nur eine erweiterte Übersetzung ist, sondern völlig neu aus den aktuellsten Schriftstellern und eigener Erfahrung zusammengetragen wurde. Typologisch können die Erquickstunden im weitesten Sinne – wie dies schon Wolff getan hat und es auch Harsdörffers eigener Auffassung entspricht – der sogenannten mathematischen Unterhaltungsliteratur zugeordnet werden, die bis heute ein eigenes Genre bildet und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Jacques Ozanam (1640–1717?) einen besonders erfolgreichen und populären Vertreter findet.11 Dessen Werk wird mehrfach erweitert und übersetzt und bis ins 19. Jahrhundert immer wieder aufgelegt.12 Auch Ozanam bringt nicht nur mathematische Aufgaben, sondern auch optische, mechanisch, physikalische usw. Probleme und beruft sich dabei immer noch auf Athanasius Kircher (1602–1680) und Caspar Schott (1608–1666). Harsdörffers Werk enthält aber auch Elemente der magia naturalis und der Wunderbuchliteratur.13 So gehört Giovanni Battista Della Portas (1535–1615) Magiae naturalis libri XX (in der Ausgabe von 1648) und Tommaso Campanellas (1568–1639) De sensu rerum et magia (in der Ausgabe von 1620) zu seinen Quellen. Für die Literatur der magia naturalis und die der Wunderbücher ist die Betonung des Wertes der eigenen praktischen Erfahrung und des technischen Wissens zentral. Das Verständnis der für den Unwissenden wunderbaren Phänomene hat nichts mit Magie oder Erleuchtung zu tun, sondern mit der Kenntnis der natürlichen Ursachen, die im Prinzip jedermann zugänglich sind. In einem engeren Sinn bilden die artes mechanicae (nach Harsdörffers Verständnis Teil der angewandten Mathematik) den Schwerpunkt der Erquickstunden. Ihre Anlage enthält in dieser Beziehung durchaus enzyklopädische Elemente. Harsdörffers Auffassung folgt im wesentlichen der üblichen Definition, die ausgehend von Hugo von St. Victor (1096–1141)14 schließlich auf alle städtischen Handwerksberufe übertragen wurde sowie außerdem Militärtechnik, Landwirtschaft und Alchemie umfaßte.15 Dies zeigt sich beispielsweise in Tom-

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des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen u. Sina Rauschenbach. Köln u. a. 2004, S. 469–489. Jacques Ozanam: Recreations Mathematiques et Physiques, qui contiennent Plusieurs Problêms d’Arithmetiques, de Geometrie, d’Optique, de Gnomonique, de Cosmographie, de Mecanique, de Pyrotechnie, & de Physique. Avec un Traité nouveau des Horologes Elementaires. Paris 1694. Maß, Zahl und Gewicht. Mathematik als Schlüssel zu Weltverständnis und Weltbeherrschung. Katalog zur Ausstellung. Hg. v. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. 2. Aufl. Wiesbaden 2001, S. 368–370. Vgl. William Eamon: Science and the Secrets of Nature. Books of Secrets in Medieval and Early Modern Thought. Princeton 1994. Vgl. zu Hugos Wissenschaftseinteilung Kurt Flasch: Das philosophische Denken im Mittelalter. Stuttgart 1986, S. 307. Vgl. Jutta Bacher: Artes Mechanicae. In: Erkenntnis, Erfindung, Konstruktion. Studien zur Bildgeschichte von Naturwissenschaft und Technik. Hg. v. Hans Holländer. Ber-

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Berthold Heinecke

maso Garzonis (1549–1589) Piazza universale von 1585 – einem Werk, das von Harsdörffer sowohl für seine Frauenzimmer Gesprächspiele als auch für die Erquickstunden verwendet wurde.16 Auch Johann Heinrich Alsteds (1588–1638) große Encyclopaedia von 1630 umfaßt nicht mehr nur das klassische Wissen, sondern ebenso die mechanischen Künste und die Alchemie.17 Schwieriger gestaltet sich die Bestimmung des Verhältnisses der Erquickstunden zur Naturphilosophie. Schwenter versieht sein Buch mit dem Titelbestandteil ›physikalisch-mathematisch‹. Harsdörffer folgt ihm hierin, setzt jedoch die Mathematik vor die Physik. Im dritten Band schließlich wählt er die Begriffskombination ›philosophisch-mathematisch‹, was er so erklärt: Den Titel dieses Werckes belangend / ist solcher denen zwey vorhergehenden Theilen gleichständig; ausgenommen / daß hier das Wort Philosophisch / unter welchen die Mathematischen Aufgaben / als ein Theil / unter seinem Haupttitel / begriffen werden / vorgesetzet: weil sonderlich fast der meinste Inhalt Philosophisch / auf welche billich der erste Name abzielet.18

Um den Titel ›philosophische Erquickstunden‹ zu rechtfertigen, sieht es Harsdörffer als erforderlich an, die oben erwähnten Abschnitte über die ›Naturkündigung‹ und die ›Sittenlehre‹ (die es bei Schwenter und im zweiten Band nicht gibt) anzuhängen, also Gebiete, in denen die Mathematik nicht angewendet werden kann. Nach modernem Verständnis handelt es sich dabei in etwa um Fragen der Biologie und Psychologie, umfaßt also all das, was auch die aristotelischscholastische Naturphilosophie bot, häufig unter dem Titel der Physicae oder Physiologiae peripateticae.19 Dabei folgte in der Regel auf die Behandlung des Universums und des Himmels die Behandlung der Elemente und der Erde, während Harsdörffer hiervon mit der Begründung abweicht, nach der Ordnung der Lehre und seiner Fähigkeiten zu verfahren.20 Die Behandlung von Harsdörffers

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lin 2000, S. 35-50; Hans Blumenberg: Nachahmung der Natur. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen. In: Studium Generale 10 (1957), S. 266–283; Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele u. a.: Experimentelle Philosophie. Frankfurt/M. 1977, S. 63ff.; Michael Heidelberger u. Sigrun Thiessen: Natur und Erfahrung. Von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Naturwissenschaft. Hamburg 1981, S. 52ff. Vgl. Tommaso Garzoni: Piazza universale. Frankfurt/M. 1641; vgl. Tommaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der frühen Neuzeit. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991. Vgl. Christel Meier: Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelalters. In: Enzyklopädien der frühen Neuzeit. Hg. v. Franz M. Eybl. Tübingen 1995, S. 19–42. Die Behandlung der Probleme in Frageform erinnert dabei an die mittelalterliche quaestio- bzw. problemataLiteratur. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 1. Vgl. Johannes Stier: Praecepta Physicae. 7. Aufl. London 1671; Johannes Magirius: Physiologiae peripateticae. Wittenberg 1606. Bei dem Kompendium von Stier handelt es sich um einen naturphilosophischen Bestseller auf aristotelisch-scholastischer Grundlage, der im 17. Jahrhundert eine Vielzahl von Auflagen erlebte. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 382.

Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer

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Naturphilosophie hat also weitgehend den Charakter einer Rekonstruktion, da er diese Fragen nahezu ausschließlich unter dem Aspekt ihrer Anwendung in der Technik betrachtet, und dabei kommt ihm alles recht, was im Sinne Francis Bacons (1561–1626) gegen die etablierte, als fruchtlos erkannte Schulwissenschaft gerichtet ist. Daher benutzt er ebenso Quellen der magia naturalis wie der gegen diese gerichteten neuen Philosophie des 17. Jahrhunderts.

2. Auf dem Weg zu einer neuen Naturphilosophie (1.) Die Rezeption Francis Bacons Verulam ist gleich der Sonne dessen Geist mit holder Wonne/ hochbegläntzet widerstrahlt.21

Bei einer intensiveren Beschäftigung mit dem Harsdörfferschen Werk – und dies gilt besonders für die Naturphilosophie – stößt man immer wieder auf den Namen von Francis Bacon. Nun kann zwar Bacon in seiner Bedeutung für die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts kaum überschätzt werden. Die Präsenz im Werk eines deutschen Dichters in der ersten Hälfte des Jahrhunderts verlangt dagegen durchaus nach einer Erklärung. Zumal die Rezeption Bacons im Deutschland der frühen Neuzeit noch immer zu den Desiderata der Forschung gehört.22 Auf welchem Wege Harsdörffer mit dem Werk Bacons in Kontakt gekommen ist, wissen wir nicht. Auf seiner fünfjährigen peregrinatio academica (ab 1627) ist Harsdörffer auch in England gewesen. Es ist durchaus wahrscheinlich, daß er auch vom Aufstieg und Fall des englischen Lordkanzlers gehört hat, der bereits 1626 verstorben war. Außerdem zählt die Vermittlung anderer europäischer Kulturen an den deutschen Sprachraum zu Harsdörffers

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Johann Wilhelm von Stubenberg: Francisci Baconi, Grafens von Verulamio, Fürtrefflicher Staats- Vernunfft- und Sitten-Lehr-Schrifften [...] / Ubersetzet durch Ein Mitglied der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft, den Unglückseligen. Nürnberg 1654, unpag. Harsdörffer hat für diese Ausgabe Stubenbergs (1619–1663) das zitierte Gedicht zur Erklärung des Titelkupfers verfaßt. Bereits Gilbert Waterhouse kommt in seinem Buch über die literarischen Beziehungen Englands zu Deutschland 1914 zu dem Schluß: »That Bacon was held in the highest esteem in Germany during the seventeenth century is clear from the nature of the numerous references to him in almost every branch of literature« (Gilbert Waterhouse: The Literary Relations of England and Germany in the Seventeenth Century. Cambridge 1914, S. 88). Vgl. auch Jürgen Klein: The Reception of Francis Bacon in 17th Century German Philosophy. In: Intellectual News 14 (2004), S. 75–93, hier bes. S. 76ff. Klein gibt hier einen Überblick zur Wirkung Bacons in Deutschland und geht dabei auch auf Harsdörffer ein.

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Berthold Heinecke

zentralen Anliegen.23 Die besondere Bedeutung Bacons ist damit jedoch noch nicht geklärt, denn diese beschränkt sich nicht auf einen bestimmten Bereich von Harsdörffers weit gestreutem Œuvre, sondern ist praktisch in allen Werken – wie sich im Detail nachweisen läßt24 – in unterschiedlichem Umfang präsent. Jörg Jochen Berns ist in vollem Umfang zuzustimmen, wenn er feststellt, daß Francis Bacon in theoretischer und naturwissenschaftlicher Hinsicht für Harsdörffer die wichtigste Identifikationsfigur ist25 und ihm als erkenntnistheoretische und philosophische Autorität schlechthin gilt.26 Die Ursache für Harsdörffers Bacon-Begeisterung sehen wir darin, daß er wie Bacon davon überzeugt ist, die Naturwissenschaft müsse von ihrer praktischen Anwendung her entwickelt werden. Schon im Pegnesischen Schäfergedicht27 kommt diese Hochschätzung der Technik zum Ausdruck. In unserem Zusammenhang können nur einige Schwerpunkte der Rezeption hervorgehoben werden. Durch die Ausführlichkeit des Bezugs nehmen Bacons De Sapientia Veterum (1609) und Nova Atlantis (1626) eine gewisse Sonderstellung ein. Im vierten Band der Gesprächspiele gibt Harsdörffer eine ausführliche Darstellung des Pan-Mythos in der Interpretation Bacons aus De Sapientia Veterum28 und nennt in einer Marginalie Nova Atlantis. Im siebten Band der Gesprächspiele folgt dann eine Schilderung des Hauses Salomo aus Nova Atlantis. Der achte und letzte Band der Gesprächspiele schließt mit einer naturwissenschaftlichen Faktensammlung unter dem Titel Zugabe: XXV. Merkwürdige Fragen aus der Naturkündigung und Sitten- und Tugendlehre / behandelt durch den Spielenden. Ein inhaltlicher Zusammenhang dieser Zugabe

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Vgl. Irmgard Böttcher: Der Nürnberger Georg Philipp Harsdörffer. In: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. v. Harald Steinhagen u. Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 289–346, hier S. 325f. Vgl. Berthold Heinecke: The Poet and the Philosopher. Francis Bacon and Georg Philipp Harsdörffer. In: Intersections. Yearbook for Early Modern Studies 11 (2008), S. 375–410. Harsdörffer u. Schwenter: Erquickstunden, Tl. I, S. XXI. Harsdörffer u. Schwenter: Erquickstunden, Tl. I, S. XXV. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer, Sigmund von Birken u. Johann Klaj: Pegnesisches Schäfergedicht (1644–1645). Nachdruck hg. v. Klaus Garber. Tübingen 1966; Klaus Conermann: Der Poet und die Maschine. Zum Verhältnis von Literatur und Technik in der Renaissance und im Barock. In: Teilnahme und Spiegelung. Festschrift Horst Rüdiger. Hg. v. Beda Allemann. Berlin 1975, S. 173–192; Klaus Garber: Utopia. Zur Naturdichtung der frühen Neuzeit. In: Respublica Guelpherbytana. Wolfenbütteler Beiträge zur Renaissance- und Barockforschung. Festschrift Paul Raabe. Hg. v. August Buck u. Martin Bircher. Amsterdam 1987, S. 435–455; ders.: Pastorale Aufrichtigkeit. Ein Blick in Georg Philipp Harsdörffers und Johann Klajs Pegnesisches Schäfergedicht. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. Claudia Benthien u. Steffen Martus. Tübingen 2006, S. 191–206. Jörg Jochen Berns: Gott und die Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 47–81.

Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer

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mit den vorangegangenen Bänden der Gesprächspiele wird nicht unmittelbar deutlich. Die Anregung zu dieser Sammlung geht hier jedoch offenbar nicht explizit auf Bacon zurück, sondern – wie die Vorbemerkung ausweist – auf Theophraste Rénaudot (1586–1653).29 Die Veröffentlichungen Rénaudots sind gewissermaßen Protokolle der von ihm organisierten Pariser Diskussionsrunden, keine Wiedergabe von Blütenlesen naturkundlicher Schriften der Antike und der Renaissance, wie sonst üblich. Die Ergebnisse dieser Diskussionen will Harsdörffer seinen deutschen Lesern mitteilen und kann dabei dank der gut eingeführten Gesprächspiele auf ein großes Publikum hoffen. Es ist offensichtlich, daß Harsdörffer von Rénaudots Unternehmen fasziniert ist und dies zumindest auf der literarischen Ebene an seine deutschen Leser vermitteln möchte. Ab 1651 erscheinen dann die Erquickstunden, die ebenfalls aus den Veröffentlichungen Rénaudots schöpfen und dieses Programm in einem weiteren Rahmen entwickeln. Wiederum stammen die direkten Bezüge auf Bacons Werk vor allem aus De Augmentis Scientiarum (1623)30 ; darüber hinaus werden je einmal Historia Vitae et Mortis (1623)31 und Historia Ventorum (1622)32 genannt. An dieser Stelle ist zu fragen, warum sich bei Harsdörffer weder im letzten Band der Gesprächspiele noch in den Erquickstunden ein direkter Bezug auf Bacons naturkundliche Faktensammlung Sylva Sylvarum (1626) findet, obwohl diese Schrift im 17. Jahrhundert zusammen mit Nova Atlantis publiziert wurde. Zudem gehört Sylva Sylvarum zu den in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts populären Bacon-Werken; bis 1650 – als Harsdörffer mit der Publikation der Erquickstunden beginnt – erscheinen sechs englische Ausgaben, zwei lateinische und eine französische.33 Es ist also davon auszugehen, daß dieses Werk Harsdörffer durchaus bekannt war. Außerdem steht es als eine Art Vorabversion einer naturwissenschaftlichen Faktensammlung gleichsam paradigmatisch für Bacons 29

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. VIII, S. 517 (jeweils nach neuer Paginierung). Vgl. zum Einfluß Rénaudots auf Harsdörffer mit detaillierten Nachweisen JeanDaniel Krebs: Deutsche Barocknovelle zwischen Morallehre und Information. In: Modern Language Notes 103 (1988), S. 478–503. Zu Rénaudots Unternehmen vgl. Kathleen Wellman: Making Science Social. The Conferences of Théophraste Rénaudot 1633–1642. Norman 2003. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 435; ebd., Tl. III, S. 37 u. 43. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 569. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 480. Dies läßt sich von der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte nicht sagen. Wolfgang Krohn konstatiert: »Der zweitgrößte Erfolg war Sylva Sylvarum, jene Kompilation von Naturbeschreibungen aus späten Jahren, die den modernen Leser am wenigsten unter allen seinen Schriften beeindruckt« (Wolfgang Krohn: Francis Bacon. München 1987, S. 177). Vgl. zu Sylva Sylvarum außerdem Claus Zittel: »Truth is the daughter of time«. Zum Verhältnis von Theorie der Wissenskultur, Wissensideal, Methode und Wissensordnung bei Bacon. In: Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit. Hg. v. Wolfgang Detel. Berlin 2002, S. 213–238; Jan Lazardzig: Theatermaschine und Festungsbau. Paradoxien der Wissensproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin 2007, S. 177– 183.

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Wissenschaftskonzept. Nun gehorchen Harsdörffers Quellenangaben keinesfalls modernen Ansprüchen, so daß er bei dem Bezug auf Neu-Atlantis eine separate Nennung des Titels von Sylva Sylvarum durchaus für entbehrlich halten konnte. Nimmt man Harsdörffers Äußerungen in den Erquickstunden hinzu, so kann hier vielmehr die These gewagt werden, daß ein Aspekt der Erquickstunden, nämlich ihre Konstitution als Faktensammlung, gewissermaßen eine Interpretation dieses Baconschen Konzepts nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft darstellt – angelehnt an die Sammlungen Rénaudots. Dem von Bacon sicher beabsichtigten, jedes vorschnelle Urteil vermeidenden Einteilungsprinzip seines Erfahrungsmaterials folgt Harsdörffer nicht; er orientiert sich an der gängigen Einteilung der artes mechanicae. Zwar ist auch seine Faktensammlung in den Erquickstunden eine Blütenlese und verbindet ihn so mit den gängigen commonplace books,34 aber er baut vor allem auf der ›neuen‹ Naturwissenschaft der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf. Über die Referenzen und Allusionen auf Bacon hinaus ist auffällig, daß Harsdörffer für seine Kompilation in den Erquickstunden und den Gesprächspielen Werke von Autoren benutzt, die mehr oder weniger zu den Anhängern Bacons gezählt werden können, wie etwa Johann Amos Comenius (1592–1670) und Johann Jonston (1603–1675).35 (2.) Das Programm der neuen Naturphilosophie (a.) Naturerkenntnis ist Ursachenforschung Wahre Wissenschaft ist für Aristoteles nicht nur Faktenwissen, sondern ein Wissen über die Ursachen der Naturphänomene. Dabei unterscheidet Aristoteles mindestens vier Ursachen. Die Lehre von den Ursachen bleibt auch in der scholastischen Tradition integraler Teil der Physik.36 Diesem Grundprinzip bleibt Francis Bacon treu,37 auch wenn er nicht in jedem Punkt mit der aristotelischen Ursachenlehre übereinstimmt; und Harsdörffer folgt ihm hierin. Die Kenntnis der Ursachen trennt den Laien vom Experten bzw. das Unwissen vom Wissen,

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Vgl. hierzu Ann Blair: Humanist Methods in Natural Philosophy: the Commonplace Book. In: Journal of the History of Ideas 53 (1992), S. 541–551; dies.: Annotating and Indexing Natural Philosophy. In: Books and the Sciences in History. Hg. v. Marina Frasca-Spada u. Nick Jardine. Cambridge 2000, S. 69–89. Vgl. Siegfried Wollgast: Der Polyhistor Johann Jonston zwischen Schottland, Polen und Schlesien. In: Ders.: Zur Frühen Neuzeit, zu Patriotismus, Toleranz und Utopie. Gesammelte Aufsätze. Berlin 2007, S. 13–88. In der Naturae Constantia (1634), die Harsdörffer im Literaturverzeichnis von Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. II anführt, beruft sich Jonston wiederholt auf Francis Bacon. Vgl. etwa Stier (wie Anm. 19), S. 5. Vgl. Francis Bacon: Novum Organon. In: The Oxford Francis Bacon. Hg. v. Graham Rees u. Lisa Jardine, Oxford 2004, Bd. 11/2, hier S. 201f.; ders.: Das neue Organon. Übers. v. Rudolf Hoffmann, hg. v. Manfred Buhr. 2. Aufl. Berlin 1982, S. 139f.

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aber auch das philosophische vom nur mathematischen Wissen.38 Zunächst einmal ist anzunehmen, daß alle Naturvorgänge eine natürliche Ursache haben. Bei unerklärlichen Phänomenen sprechen Unwissende gern von Wundern göttlichen oder teuflischen Ursprungs bzw. von Zauberei, aber nur, weil sie die Ursachen nicht wissen.39 Unerklärliche Phänomene dieser Art sind jedoch gerade Anlaß, wie bei der Hebung eines verborgenen Schatzes, auf ihre Erforschung besondere Mühe und Sorgfalt zu verwenden.40 Wahres Wissen als ein Wissen um die Ursachen braucht eine sichere Grundlage, und diese kann nur durch die mathematischen Wissenschaften sichergestellt werden: Wissen heisset / die rechten unfehlbaren Ursachen eines Dinges erkundiget haben / welches nicht jedesmals durch die Sinne beschihet / sondern von dem Verstand mit sicherer Gewißheit begriffen wird. Wie uns nun eine gewisse Zeitung angenemer / als eine zweiffelhaffte: Also sollen uns die Wissenschafften die liebsten seyn / welche ihren unwidersprechlichen Grund erhartet haben / daß darwider nichts aufzubringen / wie die Zahl- und Meßkunst hierinnen den Vorzug […].41

Gleichwohl – und diese Baconsche Klage wird von Harsdörffer oft wiederholt – streiten sich die Experten noch immer in fast allen Wissenschaften über die grundlegenden Annahmen, obwohl seit dem antiken Griechenland schon zweitausend Jahre vergangen sind. Es ist nicht zu verneinen / in den Haubtwissenschafften sind wenig unwidersprechliche Beweißgründe / und ist keine Ursache so starck / man kan eine Gegenursach ersinnen / daß wann man das Wörtlein Wissen / für gewiß wissen / und auß allen Ursachen unwidersprechlich erkennen / genommen wird: so sind wenig Ursachen / welche wir so vollständig erlernet und untersuchet haben. Wir wollen nicht sagen von denen Künsten / welche die Alten gehabt / und heut zu Tage nicht mehr gefunden werden […] sondern nur gedencken / daß sehr viel noch zuerfinden / und fast täglich mehr und mehr erfunden wird: Massen auch der böse Geist mehrmals durch natürliche Ursachen würcket / welche uns Menschen gantz unbekant sind.42

Damit ist die Aufgabe aller zukünftigen Naturforschung formuliert. (b.) Die Natur, die Künste und die Wissenschaften Harsdörffers Anliegen ist darauf gerichtet, die praktischen Wissenschaften (d. h. die Künste oder artes mechanicae) als wirkliche Wissenschaften zu nobilitieren, sie gleichberechtigt neben die etablierten Wissenschaften des scholastischen 38 39 40 41 42

Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 293. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 575 u. 629; ebd., Tl. II, S. 350 u. 380; ebd., Tl. III, S. 346. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 630. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 16. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 625.

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Kanons zu stellen. Die Natur als die Gesamtheit der Schöpfung wird von Harsdörffer an vielen Stellen dem Begriff der Kunst gegenübergestellt. Schon bei Aristoteles wird der Begriff der Natur in Korrespondenz zum Begriff der Kunst als menschlichem Artefakt entwickelt.43 Jedoch macht sich bei Harsdörffer eine wichtige Akzentverschiebung bemerkbar. Während Aristoteles die Gegenüberstellung von Natur und Kunst vor allem im Hinblick auf das Entstehungsprinzip durchführt, interessieren Harsdörffer vielmehr die Reichweite und die Möglichkeiten der Kunst, die bei ihm praktisch mit den artes mechanicae identisch ist.44 Der Mensch als bedürftiges und unvollkommenes Wesen ist zum Überleben auf die Künste angewiesen. Gott hat aus dem Nichts alles hervorgebracht, die Natur enthält potentiell alles, was der Mensch benötigt, jedoch muß es durch Kunst hervorgebracht werden.45 Das Verhältnis von Wissen und technischen Möglichkeiten zur Naturbeherrschung, die Konstitution der Wissenschaft als ars inveniendi ist auch eines der zentralen Themen Bacons und konstitutiv für das gesamte Verständnis Bacons und seines Programms sowie der bis heute andauernden Kontroverse um sein Werk. Nicht zuletzt an diesem Punkt entscheidet sich die Aktualität und Bedeutung Harsdörffers für seinen Rezipientenkreis. In den Gesprächspielen reißt er diese Frage zunächst im vierten Band an. Zwar ist die Natur der Lieferant des Rohmaterials, aber die Kunst ist es, die daraus etwas für den Menschen Nützliches entstehen läßt. Schliesse demnach / daß durch die Künste der Natur Eigenschaften eröffnet / untersuchet / durchforschet werden / und in Betrachtung so hoher Wolthaten / der wunderbare Gott zu loben und zu preisen sey / welcher für den Menschen nicht nur so mancherley erschaffen hat / sondern demselben auch den Verstand ertheilet / solches alles sich klüglich zu gebrauchen.46

Im sechsten Band kommt er dann ausführlicher darauf zurück. Er unterscheidet hier eine »Verstandlehre«, eine »Sprachlehre« und »etliche Künste«, die zur Erhaltung des menschlichen Lebens unabdingbar sind und die artes mechanicae umfassen. Der Grund aller Wissenschaften ist zunächst das Wort Gottes, dann die Lehre von der menschlichen Vernunft und drittens (für die auf Natur und Werk gerichteten Wissenschaften) die praktische Ausübung und Erfahrung unter Einschluß der Mathematik, die schon hier als unentbehrlich für eine sichere Wissenschaft bezeichnet wird. Auf diese Weise richtig angewendet, kann die Kunst Wirkungen erzielen, die ebenso unfehlbar eintreten wie die kausalen Abläufe in der Natur.47 Dazu jedoch ist es nötig, die Natur ganz im Baconschen

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Aristoteles: Physik, 192 b, 8ff. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. II, S. 279: »Ob mehr zu verwundern die Werke der Natur / oder der Künste?« Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 158f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. IV, S. 283. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, Vorrede, unpag.

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Sinne genau zu beobachten, um daraus die Handlungsgrundlagen der Technologie zu gewinnen: »Die Natur nämlich läßt sich nur durch Gehorsam bändigen; was bei der Betrachtung als Ursache erfaßt ist, dient bei der Ausführung als Regel.« In den Worten Harsdörffers: »Die Kunst hat zu ihrer Lehrmeisterin die Natur / und merket aus ihren Werken / die Gründe ihrer Lehrsätze.«48 So weit sich jedoch der Mensch auch erheben mag – die Natur bleibt die Lehrmeisterin des Verstandes und verweist wiederum auf Gott als die letztendliche Quelle von Natur und Kunst. »Also ist die Natur so viel höher / als die Kunst / so viel höher Gott ist als der Mensch.«49 Wenn auch die Kunst auf den Schultern der Natur steht, so sind doch ihre Möglichkeiten nahezu unbeschränkt; das, was der Mensch mittels Kunst hervorbringen kann, kann die Natur nicht schaffen. Die Werke der Kunst sind eine wirkliche Neuschöpfung und nicht nur eine Nachahmung der Natur. Der Erkenntnisprozeß ist offen und unendlich. In einer Zeit des Wunderglaubens erscheinen die Werke der Kunst dem Unkundigen als Wunder: »So hoch hat es endlich die holde Kunst gebracht / daß sie ohne Mitwirckung deß Glaubens Wunder thun / und die Leute gleichsam natürlicher weise bezaubern / und das unmögliche möglich machen kan.«50 Der Kundige jedoch kennt die Ursachen und kann sich das scheinbar Wunderbare erklären.51 Besonders nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges ist sich Harsdörffer bewußt, daß viele Greuel des Krieges der Militärtechnik zuzuschreiben sind, daß also in der Erweiterung der technischen Möglichkeiten von Anfang an eine Ambivalenz eingeschlossen ist. Dennoch gilt: Nein / die Kunst bleibt in ihrem werth / ob gleich die Künstler solcher übel / oder zu ihrem schaden gebrauchen. Die Erfindung ist lobenswerth / wann sie nutzen kan: daß sie aber nicht nutzet / sondern schadet / lieget dem / gegen Gott und die Menschen zu verantworten ob / der freventlich darmit verfähret.52

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Bacon: Novum Organon (wie Anm. 37), S. 65; ders.: Das neue Organon (wie Anm. 37), S. 41; Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 59. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. VI, S. 261; vgl. auch Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 383. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 382. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 581. – Im Geschichtspiegel (1654) bezeichnet Harsdörffer mit Hinweis auf Caspar Schott und die von diesem beabsichtigte Publikation seiner Magia universalis naturae et artis (1657–1659) die Physik auch als »magia contemplativa« und die natürliche Magie als »physica practica« (Georg Philipp Harsdörffer: Der Geschichtspiegel: Vorweisend Hundert Denckwürdige Begebenheiten / Mit Seltnen Sinnbildern / nützlichen Lehren / zierlichen Gleichnissen / und nachsinnigen Fragen aus der Sitten-Lehre und der Naturkündigung / Benebens XXV. Aufgaben Von der Spiegelkunst. Nürnberg 1654, S. 399). Dies ist jedoch kein Ausdruck einer irgendwie beabsichtigten okkulten Unterströmung bei Harsdörffer. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 436. Vgl. Francis Bacon: De Sapientia Veterum. In: The Works of Francis Bacon. Hg. v. James Spedding, Robert L. Ellis u. a. London

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(c.) Naturphilosophie als ars inveniendi Harsdörffers Ideal der Forschung orientiert sich am Haus Salomo aus Bacons Utopie Neu-Atlantis.53 Für seine Grundhaltung ist aufschlußreich, daß er Salomos Haus in Gegenüberstellung mit den Schriften der »Chimisten« einführt und hierbei speziell die »Chimische Hochzeit Christian Rosenkreutzers« erwähnt.54 Nach seinem Urteil sind diese Schriften, die vorgeben, sichere Künste und Wissenschaften zu lehren, in Wirklichkeit so dunkel, daß sie nur ein Schattenbild dieser Wissenschaften vermitteln. Viel besser aber hat mir gefallen des übertrefflichen Engelländischen Cantzlers Verulamii Bensalem / oder Salomons Haus / von welchem er dichtet / daß gegen Mittag / in den noch unbekanten Inslen liege / ein heiliges / und mit vielen Gottesfürchtigen Gelehrten angefülltes Land / die erbauet hätten einen Palast / nach den VII. Tagen / der Erschaffung der Welt.55

In diesem Forschungsinstitut sollen auf Kosten des Staates und durch gemeinsame Anstrengung verschiedenster Fachrichtungen die Ursachen aller Naturphänomene ergründet und durch deren Anwendung alle Künste und Wissenschaften auf den höchstmöglichen Entwicklungsstand gebracht werden. Forschung ist für Harsdörffer ein offener, nie abzuschließender Prozeß.56 Ziel ist nicht Naturerkenntnis um ihrer selbst willen, sondern die Verbesserung der menschlichen Lebensbedingungen mit Hilfe der artes mechanicae, deren Kern, die Kunst der mechanischen Bewegung, geradezu »Erfindkunst« heißen müßte. Auf diese Weise können die Folgen des Sündenfalls wenigstens einigermaßen ausgeglichen werden.57 Wie aber ist eine Gewißheit in den Wissenschaften von der Natur zu erlangen? Die natürlichen Hilfsmittel des Menschen, Vernunft und Sinne, sind von sich aus nicht in der Lage, ein zutreffendes Bild der Natur, geschweige denn Ursachenerkenntnis, zu liefern. Sie bedürfen der Leitung, Korrektur und Unterstützung. So kann das Auge durch das Fernrohr verbessert und zur Er-

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1861, Bd. 6, S. 659f.; ders.: Weisheit der Alten. Übers. v. Marina Münkler, hg. v. Philipp Rippel. Frankfurt/M. 1990, S. 48–51. Vgl. hierzu auch das Titelbild des dritten Bandes der Erquickstunden. Hier kann nur summarisch darauf verwiesen werden, daß die Chymische Hochzeit (1616) und die imaginäre Bruderschaft der Rosenkreuzer ebenfalls – durchaus von Francis Bacon beeinflußt – eine Erneuerung der Naturwissenschaften anstrebten. Daß Harsdörffer die Schilderung des Hauses Salomo mit den sieben Tagen der Schöpfung verbindet, ist wohl ein Rekurs auf die Chymische Hochzeit, die ebenfalls in sieben Tage gegliedert ist. Vgl. Siegfried Wollgast: Philosophie in Deutschland zwischen Reformation und Aufklärung. Berlin 1988, S. 300–345; Roland Edighoffer: Die Rosenkreuzer. München 1995, S. 34ff.; Die Bruderschaft der Rosenkreuzer. Esoterische Texte. Hg. v. Gerhard Wehr. München 1984, S. 96–201; sowie Martin Brecht: Johann Valentin Andreae 1586–1654. Eine Biographie. Göttingen 2008, S. 65–72. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. VII, S. 261f. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 533. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 13; Bacon: Novum Organon (wie Anm. 37), S. 446f.; ders.: Das neue Organon (wie Anm. 37), S. 305f.

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kenntnis tauglicher gemacht werden. Als Paradigma für sichere Erkenntnis dienen Harsdörffer die mathematischen Wissenschaften und die Meßkunst. Jedoch sind diese allein auch nicht in der Lage, die Ursachen anzugeben, sondern sie müssen mit Beobachtung und Experiment verbunden werden, dann macht die Mathematik die Natur »zinßbar und dienstbar«58. Methodisches Vorbild dürften hier Nikolaus Cusanus (1404–1464), dessen Versuche mit der Waage im Literaturverzeichnis der Erquickstunden genannt werden,59 und Simon Stevin (1548/49–1620) gewesen sein. Dafür spricht auch, daß Harsdörffer die inhaltliche Erklärung der Mathematik ausgehend von dem niederländischen Wort wisconst entwickelt.60 Die zentrale Stellung der Mathematik ist – unter Bezug auf Weisheit 1,21 – programmatisch zu verstehen. Ihre Anwendung wird für alle artes mechanicae als Schlüssel zu deren Weiterentwicklung aufgefaßt. Wie man am Spinnennetz und der Honigwabe sehen kann, ist die Natur überall geometrisch angelegt61 und muß daher zu ihrem Verständnis mit »mathematischen Augen«62 angesehen werden.

3. Die Natur im Spiegel Harsdörffers (1.) Der Naturbegriff Im Poetischen Trichter gibt Harsdörffer folgende Deutung des Begriffs »Natur«: Dieses Wörtlein hat in der lateinischen Sprache viel Deutungen / wir verstehen hierdurch die Eigenschaft / welche der höchste Gott allen Geschöpfen zu ihren Wesen und Erhaltung mildiglich eingeschaffen. Die Schwester aller Zeiten Zeit / die Zeuge Mutter aller Dinge die besondert jedes Volk / deß Höchsten Meisterrecht und erstgebornes Kind. Es ist ja Kunst und Chur ein unberichtes Kind und Tochter der Natur / das folgt der Mutter Spur. Die Natur wird gemahlet in Gestalt eines Bildes mit vielen Brüsten63 / stehend auf einem Gestell / wie sonsten ein Brustbilde / an welches ihre ausgestreckte Arme mit Ketten gefesselt; bedeutend / daß die Natur mit gründlichen Ursachen verbunden seye.64

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Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, Zuschrift, unpag. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, »Register der Scribenten«, unpag. Es handelt sich hierbei um die Ausgabe Benjamin Bramer: Kurtze Meynung Vom Vacuo, oder lährem Orte, neben andern wunderbaren und subtilen Quaestionen. Deßgleichen Nicolai Cusani Dialogus von Wag und Gewicht. Marburg 1617. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, Widmung, unpag. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 64. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 96. Diese Darstellung ist aus der Antike für die Artemis von Ephesos überliefert. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nach-

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Schon in dieser knappen Definition klingen wesentliche Momente des Harsdörfferschen Naturbildes an: Die Natur ist von Gott dem Menschen zum Nutzen geschaffen, sie folgt feststehenden, gesetzmäßigen Ursachen,65 und der Mensch muß sich mit seiner Kunst danach ausrichten. Gott kann den Verlauf der Natur nur durch – seltene – Wunder ändern.66 Der emblematische Bezug auf die Antike ist kein Zufall. Schon im vierten Band der Frauenzimmer Gesprächspiele gibt Harsdörffer als Einleitung zu seiner Schäferdichtung Seelewig eine Darstellung des Pan-Mythos,67 mit der er sich eng an Francis Bacons De Sapientia Veterum anlehnt.68 Pan wird hierin mit dem Kosmos identifiziert, der aus dem Nichts entweder mit dem göttlichen Wort (das Harsdörffer wie Bacon mit Merkur gleichsetzt69) oder den »kleinen Stäublein« als der ersten Materie und den verschiedenen Formen entstanden ist.70 Die Natur ist »nechst dem Wort Gottes unser bester Prediger«. Das Wort Gottes in der Heiligen Schrift und die Natur sind dem Menschen zum Studium aufgegeben. Harsdörffer folgt hier der Zwei-Bücher-Lehre, wie sie auch von Bacon vertreten wird.71 Auf diese Weltentstehung kommt Harsdörffer im dritten Band der Erquickstunden zurück, wo er das Problem eines allgemeinen Weltgeistes behandelt, in einem Kapitel, das sich eigentlich mit der Luft- und Wasserkunst beschäftigt. »Wie nun ein erster und allgemeiner Stoff (materia prima) geglaubet wird / also muß auch eine all-

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druck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. III, S. 360; vgl. auch Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 382. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, »Von den Bildereyen«, unpag. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 380. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele, Tl. IV, S. 59ff. Vgl. zu dieser Thematik Berns: Gott und die Götter (wie Anm. 28), S. 47–81; Renate Jürgensen: Utile cum dulci. Mit Nutzen erfreulich. Die Blützezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644–1744. Wiesbaden 1994, S. 20–22; Justus Georg Schottel: Fruchtbringender Lustgarte (1647). Nachdruck hg. v. Marianne Burkhard. München 1967; Dieter Blume: Im Reich des Pan. Animistische Naturdeutung in der italienischen Renaissance. In: Die Kunst und das Studium der Natur vom 14. zum 16. Jahrhundert. Hg. v. Wolfram Prinz u. Andreas Beyer. Weinheim 1987, S. 253–275. Bacon: De Sapientia Veterum (wie Anm. 52), S. 635–641; ders.: Weisheit der Alten (wie Anm. 52), S. 20–28. Harsdörffer folgt hier offenbar der ikonographischen Tradition, die Merkur (Hermes) als Schöpfer und Erfinder auffaßt, so auch in der hermetischen Philosophie; vgl. Ralf Liedtke: Die Hermetik. Traditionelle Philosophie der Differenz. Paderborn u. a. 1996. Vgl. auch Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 177. In der lateinischen Erstausgabe steht: »ex confusis rerum seminibus« (Bacon: De Sapientia Veterum [wie Anm. 52], S. 636). Der Ausdruck bei Harsdörffer erinnert an die Sonnenstäubchen bei Lukrez; offenbar denkt Harsdörffer hier an dessen Atomlehre. Dietrich Böhler: Naturverstehen und Sinnverstehen. Traditionskritische Thesen zur Entwicklung und zur konstruktivistisch-szientistischen Umdeutung des Topos vom Buch der Natur. In: Naturverständnis und Naturbeherrschung. Hg. v. Friedrich Rapp. München 1981, S. 70–95. Vgl. Francis Bacon: The Advancement of Learning. In: The Oxford Francis Bacon. Hg. v. Graham Rees u. Lisa Jardine, Oxford 2000, Bd. 4, S. 37; ders.: Über die Würde und die Förderung der Wissenschaften. Übers. v. Jutta Schlösser, hg. v. Hermann Klenner. Freiburg/Br. u. a. 2006, S. 61.

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gemeine Gestaltung behaubtet werden / (forma universalis) welche alle andre in sich begreifft / und dieser sol der Weltgeist seyn.«72 Als Quellen werden Robert Fludd (1574–1637), Comenius und Clovis Hesteau de Nuisement (1555–1623) angegeben. Es wäre jedoch voreilig, an dieser Stelle vordergründig neoplatonischen Einfluß bei Harsdörffer erkennen zu wollen. Denn nachdem er diese Ansichten vorgestellt hat, gelten sie ihm doch nur als eine neue Bezeichnung für eine altbekannte Sache, nämlich die Natur bzw. die natürlichen Eigenschaften, die Gott den Dingen mitgeteilt hat. In bezug auf den Naturbegriff verbleibt Harsdörffer im Bereich der aristotelischen Schultradition. Hinweise auf Klassiker dieser Tradition hinsichtlich der Naturphilosophie sucht man jedoch bei ihm vergeblich. Zieht man hierfür zunächst das den Erquickstunden beigegebene Literaturverzeichnis heran, dann wird deutlich, daß es eher die Aristoteles-kritischen Stimmen sind, wie z. B. Sébastien Basson,73 auf die er sich bezieht. Von den Lehrbüchern der Naturphilosophie bzw. Physik findet sich nur Comenius’ Physicae synopsis von 1633.74 (2.) Optik und Astronomie Zweifellos gehören alle astronomischen Fragen zum Kerngebiet der Auseinandersetzung in der wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts, da sich diese nicht zuletzt durch den Galilei-Prozeß unlösbar mit politischen und religiösen Machtfragen verbanden. Die neue Astronomie beruht dabei wesentlich auf den Fortschritten der Optik. Damit sind zugleich erkenntnistheoretische Fragen hinsichtlich der Bedeutung dieser neuen Beobachtungsmöglichkeiten verknüpft. Es ist daher von besonderem Interesse, wie sich dies im Werk Harsdörffers widerspiegelt. Im zweiten und dritten Band der Erquickstunden wird die Optik jeweils vor der Astronomie (»Von der Sternkunst« bzw. »Von der Sternkundigung / und Uhrkunst«) behandelt, im zweiten Band in zwei Kapiteln (»Von der Sehkunst«

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Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 452. Im Literaturverzeichnis des dritten Bandes der Erquickstunden werden die Philosophiae naturalis adversus Aristotelem libri 12 genannt, die eine Neubegründung der Naturphilosophie mit Hilfe des Atomismus versuchen. Vgl. hierzu Christoph H. Lüthy: Thoughts and Circumstances of Sébastien Basson. Analysis, Micro-History, Questions. In: Early Science and Medicine 2 (1997), S. 1–73; sowie Lauge Olaf Nielsen: A SeventeenthCentury Physician on God and Atoms: Sebastian Basso. In: Meaning and Inference in Medieval Philosophy. Hg. v. Normann Kretzmann. Dordrecht 1988, S. 297–369. Johann Amos Comenius: Physicae ad lumen divinum reformatae Synopsis, Philodidacticorum et Theodidacticorum censurae exposita. […] Entwurf der nach dem göttlichen Lichte umgestalteten Naturkunde, dem Urteile der Unterrichtsfreunde und der Gotteslehrer vorgelegt. Hg. v. Josef Reber. Gießen 1896. Daß Harsdörffer das ansonsten sehr traditionelle Lehrbuch von Comenius anführt, dürfte seine Ursache darin haben, daß auch Comenius Francis Bacon sehr schätzt und eine Reform der Wissenschaften anstrebt; vgl. hierzu Jaromír ýervenka: Die Naturphilosophie des Johann Amos Comenius. Hanau 1970.

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und »Von den Spiegeln«), im dritten Band in einem Kapitel (»Von der Seh- und Spiegelkunst«).75 Für seine Kompilation stützt sich Harsdörffer auf eine Vielzahl von Autoren, unter denen er besonders Mario Bettini (1582–1657)76 und wiederum Athanasius Kircher77 hervorhebt. Darüber hinaus werden antike und arabische Klassiker, aber auch neueste Autoren wie Robert Fludd und – gleich daneben – René Descartes (1596–1650)78 genannt. Im zweiten Band gibt Harsdörffer in seinem Vorbericht zunächst eine Einführung in das Gebiet der Optik und im dritten Band eine erneute Würdigung der besonderen Bedeutung des Gesichtssinns sowohl für die Erkenntnis natürlicher Dinge (hier besonders in der Astronomie) wie auch göttlicher Dinge.79 Die gleichnishafte Rede von der geistlichen Bedeutung des Lichtes bewegt sich ganz im Umkreis der Konvention und hat so auch Eingang in das Kirchenlied gefunden.80 Im zweiten Band der Erquickstunden behandelt Harsdörffer 30 Aufgaben aus dem Gebiet der Astronomie, im dritten Band 34 Aufgaben, wobei hier das Astronomiekapitel mit dem Kapitel über die Uhren (vor allem Sonnenuhren) zusammengefaßt ist. Die Astronomiekapitel nehmen also mit einem Umfang von mehr als vierzig Seiten einen wichtigen Platz ein. Auch hier zeigt sich wieder Harsdörffers Interesse am Konkreten und an der Anwendbarkeit der Astronomie. Im dritten Band wird zunächst die Frage behandelt, was die Zeit ist, und Harsdörffer kommt hier gegen Aristoteles zu der Feststellung, es handle sich um ein kosmisches Phänomen, das auf die Bewegung der Himmelskörper bezogen ist.81 75

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Vgl. Diana Trinkner: »Optica« oder die Kunst des Sehens in Harsdörffers Erquickstunden. Über Harsdörffers erkenntnistheoretisch motivierte Verzerrung naturwissenschaftlicher Lehren. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 175-187. Die Schlußfolgerungen der Autorin in bezug auf Harsdörffers erkenntnistheoretische und naturphilosophische Positionen und Absichten vermag ich nicht zu teilen. Vgl. Mario Bettini: Apiaria Universae Philosophiae Mathematicae. Bologna 1642. Harsdörffer nennt im Literaturverzeichnis des dritten Bandes der Erquickstunden eine Ausgabe Bologna 1646. Bettinis Apiaria ist ein Unternehmen, das durchaus Ähnlichkeiten zur Anlage der Erquickstunden aufweist. Athanasius Kircher: Ars Magna Lucis et Umbrae. Rom 1646. Harsdörffer bezieht sich hier offenbar auf die Ausgabe René Descartes: Discours De La Methode Pour bien conduire sa raison, & chercher la verité dans les sciences. Plus La Dioptriqve. Les Meteores. Et La Geometrie. Leiden 1637 (im Literaturverzeichnis des dritten Bandes der Erquickstunden wird nur die Geometrie in einer Ausgabe von 1645 genannt). Harsdörffer übernimmt – leicht abgewandelt – mehrere Abbildungen aus der Dioptrique, so z. B. in Erquickstunden, Tl. II, S. 195 u. 201f. Vgl. Œuvres de Descartes. Hg. v. Charles Adam u. Paul Tannery. 2. Aufl. Paris 1973, Bd. 6, S. 135 u. 90–92. Vgl. hierzu Jörg Jochen Berns: Harsdörffers Technikandacht. Zum Zusammenhang von Naturwissenschaft, Erbauung und Poesie in den Sonntagsandachten und Erquickstunden. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 22–38. Vgl. Kurt Goldammer: Lichtsymbolik in philosophischer Weltanschauung, Mystik und Theosophie vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. In: Studium Generale 13 (1960), S. 670–682. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 281.

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Als Quelle für die astronomischen Abschnitte dienen ihm unter anderem Galileo Galilei (Systema Cosmicum, 1635), Francis Bacon, Robert Fludd, Johann Amos Comenius, Wilhelm Schickhardt (1592–1635), Johannes Kepler (1571–1630), Daniel Lipstorp (1631–1684) und Athanasius Kircher (Magnes sive de arte magnetica, 1641).82 Es ist auffällig, daß Kepler zwar mit vier Werken im Literaturverzeichnis vertreten ist (allerdings nur bis zum Jahr 1608), jedoch ohne die Astronomia nova (1609), die als sein astronomisches Hauptwerk anzusehen ist. Im Text des zweiten Bandes verweist Harsdörffer auf eine »comp. Astr.« von Kepler. Eine Auflösung dieses Titels ist schwierig. Diese Angabe könnte sich auf die Epitome Astronomiae Copernicanae von 1621 bzw. 1635 beziehen, die dann im dritten Band auch erwähnt wird, ohne jedoch im Literaturverzeichnis zu erscheinen. Wilhelm Schickhardt lehrte ab 1631 Mathematik und Astronomie in Tübingen und beschäftigte sich mit der Theorie des Mondes und der Planetenbewegung.83 Robert Fludd wird zwar in den Erquickstunden mehrfach erwähnt, jedoch ohne Quellenangabe; es muß daher offenbleiben, auf welches Werk sich Harsdörffer bezieht. Fludd war in eine lang anhaltende Auseinandersetzung mit Kepler verwickelt,84 in der Fludd von Kepler wegen seines hermetisch-magischen Ansatzes in Fragen der Astronomie heftig kritisiert wurde. Von solchen Vorstellungen war allerdings auch Kepler keineswegs frei.85 Die Erwähnung von Comenius dürfte sich hier auf dessen Physicae synopsis beziehen, die 1633 in erster Auflage in Leipzig erschienen war und auch astronomisch-kosmologische Abschnitte enthält.86 Kirchers astronomisch-kosmologischen Hauptwerk Iter exstaticum coeleste (1656) konnte Harsdörffer nicht mehr berücksichtigen. Dafür wurden die Ars Magna Lucis et Umbrae (1646, Beobachtung der Sonnenflecken) und sein Magnes sive de arte magnetica herangezogen. In diesem Buch über den Magnetismus faßt er Gott als magnetisches Zentrum des Kosmos auf; alle Dinge sind durch den Magnetismus in universeller Harmonie verbunden. Dies zeigt, daß die Diskussion der rätselhaften Magnetkraft in bezug auf astronomische Vorgänge nach wie vor eine große Rolle spielte.

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Vgl. Athanasius Kircher: Magnes sive de arte magnetica. Rom 1641. Vgl. Wilbur Applebaum: Schickhardt, Wilhelm. In: Dictionary of Scientific Biography. Hg. v. Charles Coulston Gillispie. New York 1975, Bd. 12, S. 162f. Gegen Kepler richteten sich besonders Veritatis proscenium (1621) und Monochordum mundi (1622). Zu Robert Fludd vgl. Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begr. v. Friedrich Ueberweg. Völlig neubearb. Ausg. hg. v. Helmut Holzhey. Abt. 4: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 3: England. Basel 1988, S. 216–222; zur Kepler-Fludd-Debatte vgl. Allen G. Debus: The Chemical Philosophy. Paracelsian Science and Medicine in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. 2. Aufl. Dover 2002, S. 256ff.; Robert S. Westman: Nature, Art and Psyche. Jung, Pauli, and the Kepler-Fludd Polemic. In: Occult and Scientific Mentalities in the Renaissance. Hg. v. Brian Vickers. Cambridge 1984, S. 177–230. Vgl. Comenius (wie Anm. 74); zu Comenius’ Physik: Grundriß der Geschichte der Philosophie (wie Anm. 85), S. 39-43.

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In der besonderen Hochschätzung für diese Wissenschaft kommt ein gewisser Stolz zum Ausdruck über die Fortschritte, die hier seit Kopernikus erzielt wurden: Diese Kunst machet allein hochgelehrt / in dem alle andere auf der Erden bleiben; Sie steiget Himmel an / und machet uns durch den Erfolg glauben / was sie von himlischen Dingen zuvor weissaget und lehret: Ja sie erweiset es so ungezweiffelt / daß es keines Glaubens von nöthen hat / Daß also diese Wissenschafft alle andere so weit / als der Himmel die Erden übertrifft [...].87

Grundlage der Astronomie sind die Wissenschaften, die er auch in seinen Erquickstunden vor den eigentlichen Sachwissenschaften behandelt: Die Leiter nun / auf welcher wir zu so hohen Sachen klimmen / hat vier Staffel oder Sprüssel / I. Die Rechenkunst der himlischen Bewegung / Ordnung / und aller Sterne unterschiedliche Wege auszurechnen und zuzehlen. II. Die Meßkunst / die kuglichte Winkel und Schein der Planeten zu verstehen. III. Die Sehkunst / durch die so genannte Ferngläser die Sterne zu betrachten. IV. Die Spiegelkunst / die Wiederstralung der Sonnen / und andrer Liechter Gegenschein kunstrichtig zu beobachten.88

Von besonderem naturphilosophischem Interesse ist die Frage nach Harsdörffers Stellung zum heliozentrischen Weltsystem.89 Hier ist zunächst festzustellen, daß diese Frage – auch unter Gelehrten – um die Mitte des 17. Jahrhunderts noch keineswegs entschieden war.90 Zur Zeit des Kopernikus reichte die Qualität der vorliegenden Beobachtungsdaten nicht aus, um diese Frage zu entscheiden. Dies war erst seit den besseren Daten von Tycho Brahe (1546–1601) möglich, auf denen Kepler aufbaut. Allerdings sah sich Kepler mit seinem magnetischen Erklärungsversuch der Planetenbewegung heftiger – in der Sache wohlbegründeter – Kritik ausgesetzt. Dasselbe gilt für einige Argumente Galileis, die dieser für den Kopernikanismus vorbrachte. Die führenden Astronomen der Zeit waren Je87 88 89

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Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 270. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 273. Jörg Jochen Berns (Einleitung [wie Anm. 6], S. XXIV) kritisiert, daß Harsdörffer zu dieser Frage keine eindeutige Stellung beziehe; vgl. auch ders.: Harsdörffers Technikandacht (wie Anm. 79), hier S. 34. Bereits Kaspar Rudel (Harsdörffers mathematisch-naturphilosophische Schriften. In: Festschrift zur 250jährigen Jubelfeier des Pegnesischen Blumenordens. Hg. v. Theodor Bischoff u. August Schmidt. Nürnberg 1894, S. 301–403, hier S. 333) kommt jedoch zu einem ausgewogeneren Urteil. Vgl. zu dieser Thematik: Nicolaus Copernicus. Revolutionär wider Willen. Hg. v. Gudrun Wolfschmidt. Stuttgart 1994; vor allem die Beiträge von Fritz Krafft, Felix Schmeidler, Volker Bialas und Eberhard Knobloch. Vgl. hierzu Edward Grant: In Defense of Earth’s Centrality and Immobility. Scholastic Reaction to Copernicanism in the Seventeenth Century. In: Transactions of the American Philosophical Society 74 (1984), H. 4, S. 1–69. Grant faßt zusammen (ebd., S. 66): »Until its repudiation near the end of the seventeenth century, the heliocentric system was contested more on physical and cosmological grounds than on its astronomical merits. Before Newton’s theory of gravitation made physical sense of heliocentrism, no arguments presented in its favor were formidable enough to render traditional geocentrism untenabel.«

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suiten; sie übernahmen das tychonische System, das mit den Beobachtungsdaten und den anderen Beobachtungsphänomenen, deren Natur kaum als entschieden betrachtet werden konnte, konform war. Dies gilt auch für die Rezeption der Keplerschen Planetengesetze, die sich erst mit der physikalischen Interpretation durch Newton durchsetzen konnten.91 Wie lange der Streit um das neue Weltsystem ging, zeigen etwa Christian Wolffs Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften von 1710. Hier sieht sich Wolff veranlaßt, eine umfängliche Begründung und Beweisführung für das kopernikanische System zu liefern. Daher ist es nur folgerichtig, daß für Harsdörffer das Pro und Contra an der Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Berechnungen auf kopernikanischer Grundlage hängt: Zu dem haben sie ihre Rechnungen / welche die Sonn- und Mondfinsternussen so genau erweisen / daß sich darüber zu verwundern / und gewißlich aus der Planeten Lauf Copernicus nicht kan widerleget werden. Die natürlichen Ursachen aber / welche Robert. à Fluctibus, und andere wider ihn anführen / können den Beweiß aus der Gestirne Rechnung nicht hindertreiben.92

Abschließende Sicherheit möchte Harsdörffer im zweiten Band jedoch noch nicht feststellen.93 Im dritten Band der Erquickstunden erwähnt er dann auch Keplers Epitome Astronomiae Copernicanae von 1620, um erneut das Problem des Weltsystems zu behandeln. Dabei bezieht er sich vor allem auf den Lübecker Astronomen Daniel Lipstorp und sein De Systemate Mundi Copernicano (1652): »Erstbesagter Herr Lipstorp hat diesen Streit für den Copernicum in 6. Disput. entschieden / und auf alle die natürlichen Ursachen / welche man darwider anzuführen pfleget / genugsam beantwortet.«94 Von dessen Forschungen überzeugt, bekennt sich Harsdörffer also im dritten Band der Erquickstunden eindeutig zum kopernikanischen System und überwindet damit die indifferente Haltung im zweiten Band. Im Hinblick auf die astrologische Deutung der Gestirne bleibt Harsdörffer skeptisch.95 Ein besonders heiß diskutiertes Thema auch im Zusammenhang mit dem traditionellen Weltbild war die Deutung von Kometenerscheinungen. Das traditionelle Weltbild sah eine Trennung der Sphäre unter dem Mond von einer Sphäre über dem Mond vor. Erstere gehört dem Bereich der Erde an und zeigt alle Arten von Veränderungen, was in der oberen Sphäre nicht der Fall ist. Für

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92 93 94

95

Vgl. Fritz Krafft: Die Keplerschen Gesetze im Urteil des 17. Jahrhunderts. In: Bericht Kepler Symposion. Zu Johann Keplers 350. Todestag. Hg. v. Rudolf Haase. Linz 1981, S. 75–98. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 287. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 286f. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 309. An diesem Beispiel zeigt sich, daß Harsdörffer auch neueste Literatur verarbeitete: Lipstorps Buch ist 1652 erschienen; vgl. Daniel Lipstorp: De Systemate Mundi Copernicano, Discursus Physico Mathematicus: In Illustri Academia Rostochiensi, Sex Disputationibus Publicis, Propositus. Rostock 1652. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 303.

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die klassische Astronomie handelte es sich bei den Kometen um Erscheinungen in der Atmosphäre;96 demgegenüber vertritt Harsdörffer mit der neuen Astronomie die Ansicht, die Kometen müssen in der Entfernung der Planeten stehen, weil sie – so nach Beobachtung eines Kometen von 1652 – an weit voneinander entfernten Orten auf der Erde an derselben Stelle des Himmels zu stehen scheinen, was für den Mond nicht zutrifft.97 Offenbar hat Harsdörffer hier auch eigene Fernrohrbeobachtungen (vielleicht bei Johann Wiesel, s. u.) angestellt98 und verweist auf einen Bericht des Altdorfer Professors Abdias Trew (1597– 1669).99 Dies ist ein weiteres wichtiges Argument für das neue kopernikanische Weltsystem. Dazu ist es kein Gegenargument, daß Harsdörffer im Vorbericht zum Astronomiekapitel im dritten Band der Erquickstunden mit Bezug auf die Bibel drei Himmel unterscheidet, die dem aristotelisch-ptolemäischen Weltbild entsprechen. Harsdörffer geht es stets auch um eine poetisch-erbauliche Weltdeutung, die, nicht zuletzt nach den Erfahrungen des Dreißigjährigen Krieges, auf eine Besserung des Menschen abzielt. Beide Deutungen können daher nebeneinander stehen, ohne daß dies nach zeitgenössischen Maßstäben als Widerspruch empfunden wurde.100 In diesen Umkreis gehört auch das Problem der Natur des Mondes und der Sonnenflecken. Die Feststellung der neuen Astronomie, daß es sich beim Mond um eine Welt wie die Erde handle, indem dort mit Hilfe des Fernrohrs Berge und Täler auszumachen seien, schuf für die klassische, auf Aristoteles und Ptolemäus beruhende Astronomie, für die der Mond eine ideale Kugel war, besondere Probleme. Harsdörffer stimmt der um 1650 noch keineswegs allgemein etablierten Ansicht zu, daß es sich bei dem Mond um eine kleine Welt mit vielen Flüssen und Bergen handle.101 Die Sonnenflecken sind für Harsdörffer eine empirische Tatsache, nicht zuletzt durch die Fernrohrbeobachtungen mit den Instrumenten des berühmten Johann Wiesel (1583–1662) aus Augsburg,102 den Harsdörffer 96

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Vgl. Aristoteles: Meteor, 342b, 25ff. Dazu Edward Grant: Planets, Stars, and Orbs. The Medieval Cosmos 1200–1687. Cambridge 1996, S. 353–356; Roger Ariew: Theory of Comets at Paris during the Seventeenth Century. In: Journal of the History of Ideas 53 (1992), S. 355–372. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 314. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 313. Trew war Professor für Mathematik und Physik in Altdorf. Er war gegen Kopernikus eingestellt. Ab 1657 richtete er in Altdorf eine kleine Sternwarte ein. Vgl. hierzu Kurt Pilz: 600 Jahre Astronomie in Nürnberg. Nürnberg 1977, S. 278–281. Man vergleiche dazu etwa Otto von Guericke: Experimenta nova (ut vocantur) Magdeburgica de vacuo spatio. Amsterdam 1672. Obwohl Guericke weder Theologe noch Dichter war, enthält dieses Werk, das vor allem astronomischen Inhalts ist, auch stets theologische Reflexionen über die dargestellten Sachverhalte. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 289. Vgl. Albert van Helden: The Telescope in the Seventeenth Century. In: Isis 65 (1974), S. 38–58; Inge Keil: Der Blick in den leeren Raum. Das optische Handwerk zur Zeit Guerickes und im Besonderen Johann Wiesels in Augsburg. In: Monumenta Guerickiana 9/10 (2002), S. 131–138; sowie Rolf Willach: Fernrohre in Süddeutschland um 1650. In:

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an anderer Stelle seinen »insonders geehrten Freund[]« nennt, der es in der Fernrohrkunst weiter gebracht habe als Galilei, was auch aus heutiger Sicht zutreffend ist.103 Die Sonnenflecken werden als tatsächliches Sonnenphänomen erkannt, das – so die Vermutung – durch eine unterschiedliche Zusammensetzung der Sonnenmaterie verursacht wird.104 (3.) Die mechanischen Wissenschaften und die Elemente Feuer, Wasser, Luft Die mechanischen Wissenschaften nehmen den umfangreichsten Teil der Erquickstunden ein, da auch die Behandlung der Elemente unter dem Gesichtspunkt der technischen Anwendung erfolgt: Der Mensch hätte den Gewalt / welchen ihm der gütige Gott über alle Geschöpff mildiglich ertheilet / nicht handhaben können / ohne die Mechanischen Künste / in dem er ihm die wilden Thiere unterthänig gemachet und zu seinem Dienst bezwungen / und / wie gedacht / die vier Haubtseulen dieses Weltbaus / die vier Elementa in nutzlichem Gebrauch meisterlich zu Wercke gebracht / dardurch der Mensch nicht nur stärcker / sondern fast neue Hände bekommen.105

Mechanik im engeren Sinne sind für Harsdörffer alle Vorrichtungen, die sich auf bestimmte, schon seit der Antike bekannte und genutzte Grundelemente zurückführen lassen: Es ist sich auch höchlich zu verwundern / daß so weitläufftige Sachen alle auf den Hebel können gezogen werden / welcher der Grund ist der Waage der Scheiben / deß Haspels / deß Keils / der Schrauben / und aus zusammensetzung erstbesagter fünfferley Bewegung entstehen / alle Machinae oder Gerüste sie sind auch beschaffen / wie sie wollen.106

Die Bewegung großer Lasten ist dabei nach wie vor der zentrale Teil der Mechanik. Für diesen Abschnitt, den man heute als Maschinenbau ansprechen könnte, stützt sich Harsdörffer auf Werke wie Guidobaldo del Montes’ (1545–1607) Mechanische Kunst=Kammer (1629)107 und Heinrich Zeisings (gest. 1613) Theatrum machinarum (1621).

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Monumenta Guerickiana 9/10 (2002), S. 123-130. Nach Keil (S. 135) war Wiesel um 1650 der beste Optiker in Europa; Harsdörffer verfügte daher in bezug auf Fernrohre über die bestmöglichen Informationen seiner Zeit. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 203. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 295. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 383. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 381. – Erquickstunden, Tl. III, S. 396, verweist Harsdörffer darauf, daß Bacon 18 Arten von Bewegung unterscheidet. Zu Guidobaldo del Monte vgl. Mary Henninger-Voss: Working Machines and Noble Mechanics. Guidobaldo del Monte and the Translation of Knowledge. In: Isis 91 (2000), S. 233–259.

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In unserem Zusammenhang sind die naturphilosophischen Grundlagen der Maschinenkunst von Interesse und damit insbesondere der Begriff der Bewegung, wie er für die traditionelle aristotelische Physik grundlegend war.108 Diese ging davon aus, daß die Mechanik auf die Analyse künstlicher, d. h. gewaltsamer Bewegungen gegen die natürliche Tendenz aller Körper zum Erdmittelpunkt beschränkt ist, während diese natürliche Bewegung in der Physik behandelt wird. Für die Bewegungslehre der Neuzeit ist daher entscheidend, wie dieses Verhältnis neu bestimmt wird, um so gegebenenfalls eine einheitliche Weltbeschreibung mit Hilfe mathematisch-geometrischer Hilfsmittel zu ermöglichen und die Trennung von künstlich/natürlich und irdisch/himmlisch zu überwinden. Auch hier setzten sich die neuen Erkenntnisse nur langsam durch.109 Für Harsdörffer sind die künstlichen Bewegungen die Grundlage aller mechanischen Künste; von diesen werden die natürlichen Bewegungen unterschieden.110 Harsdörffer konstatiert, daß es auch Bewegungen gibt, die teils künstlich, teils natürlich sind, und leitet direkt über zu der Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kunst, welches ihn offensichtlich viel mehr interessiert als theoretische Reflexionen über die Bewegungsarten.111 Die Beseitigung der Trennung von natürlichen und künstlichen Bewegungen durch Galilei wird von Harsdörffer nicht explizit thematisiert. Grundlegende Annahmen der aristotelischen Physik, wie die Feststellung, daß sich alle schweren Körper in Richtung auf den Erdmittelpunkt bewegen, haben auch für ihn Gültigkeit.112 In diesem Zusammenhang steht das Problem der Schwere der Körper und ihres Verhaltens beim freien Fall. Hierzu hat Harsdörffer einen eigenen Versuch angestellt,113 indem er zwei unterschiedlich große Kugeln aus Stein oder Eisen in den Nürnberger Burgbrunnen hat fallen lassen, um festzustellen, daß beide zu gleicher Zeit unten ankommen. Inwieweit hier Kenntnisse über Galileis Fallversuche anregend gewirkt haben, muß offen bleiben. In der aristotelischen Physik ist die Geschwindigkeit eines fallenden Körpers zu seinem Gewicht proportional, und im luftleeren Raum, den es auch aus diesem Grund nicht geben kann, würden sie unendlich schnell fallen. Schon Johannes Philoponos (ca. 490 – ca. 570) hatte in seinem Kommentar zur Physik des Aristoteles erkannt, daß dies nicht richtig sein konnte, und festgestellt, daß Körper mit erheblichen Gewichtsunterschieden nahezu gleichzeitig unten ankommen. Hierauf und auf die Rezeption dieser Einsicht in der italienischen Naturphilosophie konnte Galilei

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Vgl. hierzu Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik. 3. Aufl. Göttingen 1992, S. 231–254. Vgl. Johann Micraelius: Lexicon Philosophicum. Stettin 1661, S. 841ff. Bei Micraelius ist von Galileis und Descartes’ neuen Erkenntnissen zur Bewegung noch nichts zu spüren. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 381. Man vergleiche hierzu etwa die Ausführungen von Comenius (wie Anm. 74), S. 91ff. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 380. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 388.

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aufbauen, der schließlich zu der Annahme gelangte, daß im Vakuum alle Körper gleich schnell fallen.114 Als Quellen werden in diesem Abschnitt Descartes und Marin Mersenne (1588–1648) angegeben. Zu Descartes werden keine näheren Angaben gemacht, der Hinweis auf Mersenne bezieht sich auf seine Novae Observationes physico-mathematicae (1647), woraus er zudem die Illustrationen übernimmt.115 Entscheidend ist jedoch insgesamt, daß Harsdörffer davon ausgeht, daß auch die künstlichen Bewegungen naturgemäß verlaufen und durch Mathematik und Meßkunst erfaßt werden können. Zu Harsdörffers wesentlichen Quellen gehören die pseudo-aristotelischen Quaestiones mechanicae116 und das Werk des Archimedes, der für ihn der Erfinder der Mechanik ist.117 Damit befindet er sich durchaus in Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Rezeption.118 Die Grundansicht, daß die Geometrie (Mathematik) die Grundlage für die Mechanik darstellt, steht in Einklang mit den Quaestiones mechanicae. Mechanik beruht auf Physik und Mathematik, und der aus der Antike überkommene Gegensatz von Mechanik und Physik als der Gegensatz von Künsten und Philosophie wird bereits hierin überwunden. Dieses Werk stand daher bei den Begründern der neuen Wissenschaft in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in hohem Ansehen und wurde als häufig nachgedrucktes Universitätslehrbuch verwendet. Harsdörffer benutzte die Ausgabe des Henri de Monantheuil (1536–1606), die einen Kommentar enthält, der die Schöpfung mechanisch deutet und Gott als größten Mechaniker ansieht. Auch wenn Natur (die Theorie der natürlichen Objekte ist die Physik) und Kunst bei Monantheuil noch geschieden sind,119 so ist doch für ihn die Mechanik nicht nur

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Vgl. Galileo Galilei: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend: erster bis sechster Tag. Übers. u. hg. v. Arthur von Oettingen. 4. Aufl. Frankfurt/M. 1995, S. 65. Galileis Discorsi wurden von Mersenne ins Französische übersetzt und erschienen 1639. Vgl. Marin Mersenne: Novae Observationes physico-mathematicae. Paris 1647, Tl. III, Vorrede u. S. 133f.; Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 389. Vgl. beispielsweise Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 357, 374 u. 403. Vgl. Aristoteles: Mechanica. In: The Works of Aristotle. Hg. v. William D. Ross. Oxford 1913, Bd. 6. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 383. Vgl. Dennis L. Simms: Archimedes the Mechanikos. In: Physik/Mechanik. Hg. v. Astrid Schürmann. Stuttgart 2005, S. 165–183. Vgl. Heribert M. Nobis: Die wissenschaftstheoretische Bedeutung der Quaestiones Mechanicae. In: Der Wissenschaftsbegriff. Historische und systematische Untersuchungen. Hg. v. Alwin Diemer. Meisenheim/Gl. 1970, S. 47–63. Vgl. Reijer Hooykaas: Das Verhältnis von Physik und Mechanik in historischer Sicht. Wiesbaden 1963; sowie Helen Hattab: From Mechanics to Mechanism. The Quaestiones Mechanicae and Descartes’ Physic. In: The Science of Nature in the Seventeenth Century. Patterns of Change in Early Modern Natural Philosophy. Hg. v. Peter A. Anstey u. John A. Schuster. Dordrecht 2005, S. 99–129, hier S. 116: »However, by placing mechanics and physics side by side, as the two primary subdivisions of philosophy, Monantheuil’s commentary would suggest to those philosophers (like Descartes) who came to reject the violent/natural motion division that the principles of mechanics and physics are one and the same.«

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eine menschliche Kunst, sondern wirkliche Wissenschaft, nämlich eine Theorie der künstlichen Mechanismen. Die in der frühen Neuzeit intensiv diskutierte Möglichkeit eines perpetuum mobile – ein Gedanke, der der antiken Mechanik noch fremd war –, also einer Arbeitsmaschine, deren Bewegung nicht zum Stillstand kommt, wenn der äußere Antrieb aufhört, findet auch Harsdörffers Interesse, so daß drei Aufgaben im zweiten Band der Erquickstunden diesem Thema gewidmet sind. Sollte ein solcher Mechanismus möglich sein, wäre dies ein enormer Fortschritt: »Solte man aber diese Bewegung vor beschriebener massen finden können / ist nicht zu zweiffeln / es würde solche Erfindung alle Mühe und Arbeit vielfältig erleichtern.«120 Es gibt daher unter den Gelehrten der Zeit wie auch unter den Maschinenbauern kaum jemanden, der sich nicht zu diesem Thema äußert und entsprechende Erfindungen vorschlägt. Darunter sind auch so berühmte Namen wie Caspar Schott,121 Athanasius Kircher122 oder Johann Amos Comenius.123 Skepsis schien jedoch angebracht, da bereits Simon Stevin versucht hatte zu zeigen, daß eine ewige Bewegung unmöglich ist. Harsdörffer spricht daher auch vorsichtig von einer »immerwährenden Bewegung« und hält diese wohl für möglich, und zwar angesichts der entsprechenden Bewegung des Himmels. Es wird zunächst eine Erfindung von Cornelis Drebbel (1572–1633), einem holländischen Graveur, Erfinder und Alchemisten genannt.124 Dieser führte seine Maschine – offenbar mit erheblichem Erfolg – 1607 auch dem englischen König James I. vor. In der XIII. und XV. Aufgabe beschreibt Harsdörffer dann zwei der wesentlichen Maschinentypen: die hydraulischen Maschinen, häufig unter Verwendung der archimedischen Schraube, und Maschinen mit Hilfe von Magneten.125 Noch Christian Wolff hält in seinem Mathematischen Lexicon von 1712 ein perpetuum mobile grundsätzlich für möglich, ja er war selbst an der fachkundigen Beurteilung einer vorgeschlagenen Maschine beteiligt.

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Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 398. Vgl. insbesondere die hydraulischen Maschinen in Caspar Schott: Technica curiosa. Würzburg 1664, S. 313ff., und in Andreas Böckler: Theatrum machinarum novum. Köln 1662, ab Mechanismus 53. Mit Böckler war Harsdörffer bekannt und setzte sich gegenüber Kircher für ihn ein. Vgl. Kircher: Magnes (wie Anm. 82). Vgl. Klaus Schaller: Die Maschine als Demonstration des lebendigen Gottes. Johann Amos Comenius im Umgang mit der Technik. Hohengehren 1997, S. 42ff. Cornelis Drebbel: Wonder-vondt van de eeuwighe bewegingh, die den Alckmaersche Philosooph Cornelis Drebbel, door een eeuwigh bewegende gheest, in een Cloot besloten, te weghe ghebrocht heeft. Alkmaar 1607; Nachdruck in: De Alkmaarder Cornelis Drebbel: uitvinder, hermetist, alchemist. Hg. v. Openbare Bibliotheek Alkmaar. Haarlem 2005, S. 46–128. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 401f. u. 403–405. Vgl. hierzu Stanislav Michal: Das Perpetuum mobile gestern und heute. Düsseldorf 1981, S. 43ff. Eine Beschreibung des magnetischen perpetuum mobile findet sich bei John Wilkins: Mathematical Magic. London 1648, S. 257ff.

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(4.) Das Feuer und die Alchemie Wenn auch über die Bedeutung und den Anteil der Alchemie im Hinblick auf die wissenschaftliche Revolution bis heute gestritten wird, so steht jedoch unbezweifelbar fest, daß sie bis hin zu Newton zu den intensiv diskutierten Feldern der frühneuzeitlichen Wissenschaftsentwicklung gehört und dabei gerade in bezug auf naturphilosophische Probleme von großer Bedeutung ist.126 Auch auf diesem Gebiet macht sich Harsdörffers pragmatische – an der Nutzanwendung orientierte, weltoffene – Haltung geltend: Kurtz zu sagen: Die Schmeltz- oder Scheidkunst lehret die Vermischung aller elementarischen Sachen abzusondern / und wieder zu Gebrauch der sichern und heilsamen Artzneyen zu mischen: allermassen solches täglich in der Natur beschihet […]. Die Endursache dieser Kunst ist mit Artzneyen die Gesundheit erhalten / und die verlohrne wieder zu bringen […] welches die gemeine Apothekerey nicht leisten kan.127

Der heute gesehene Konflikt zwischen mechanischer Philosophie und den alchemistischen Ansätzen wird von ihm nicht thematisiert. Wissenschaftstheoretisch schließt er sich auch hier Francis Bacon an. Dieser sieht die Alchemisten als blinde Empiristen, ohne wissenschaftliche Reflexion. Geheimniskrämerei und blinder Empirismus führe zu zweifelhaften Resultaten. An die Möglichkeit der Goldherstellung glaubt Bacon nicht, erkennt aber an, daß durch die Alchemisten manches Nützliche erfunden wurde.128 Harsdörffer erörtert das Thema Alchemie unter dem Titel »Von der Feuerkunst (Pyrabolica)« im zweiten Band der Erquickstunden auf den Seiten 558 bis 583; es handelt sich also um ein vergleichsweise kurzes Kapitel, jedoch mit einer demgegenüber langen Vorrede von acht Seiten. Im dritten Band von 1653 bildet die »Feuer- und Schmeltzkunst« den IX. Teil auf den Seiten 498 bis 525, mit einer Vorrede von gut zwei Seiten. Die eigentlich naturphilosophische Frage nach dem Feuer als Element behandelt Harsdörffer im Zusammenhang mit der technischen Anwendung in der

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Vgl. hierzu William R. Newman: From Alchemy to »Chymistry«. In: Early Modern Science. The Cambridge History of Science. Hg. v. Katherine Park u. Lorraine Daston. Cambridge 2006, Bd. 3, S. 497–518; Alchemy Revisited. Hg. v. Zweder von Martels. Leiden 1990; Alchemy and Chemistry in the 16th and 17th Centuries. Hg. v. Piyo Rattansi u. Antonio Clericuzio. Dordrecht u. a. 1994; Jan V. Golinski: Chemistry in the Scientific Revolution. Problems of Language and Communication. In: Reappraisals of the Scientific Revolution. Hg. v. David C. Lindberg u. Richard S. Westman. Cambridge 1990, S. 367–396; sowie Richard van Dülmen: Das Buch der Natur – die Alchemie. In: Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft. Hg. v. Richard van Dülmen u. Sina Rauschenbach. Köln u. a. 2004, S. 131–150; Paolo Rossi: Die Geburt der modernen Wissenschaft in Europa. München 1997, S. 215–227. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 561. Vgl. zu dieser Thematik Bacon: Novum Organon (wie Anm. 37), S. 92f., 100f. u. 134– 137; ders.: Das neue Organon (wie Anm. 37), S. 61f., 67 u. 91–94.

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Alchemie in der II. Aufgabe des dritten Bandes der Erquickstunden: »Ob ein elementarisches Feuer seye?« Es geht hier um die Frage des Aufbaus der Welt auf aristotelisch-scholastischer Grundlage. Danach bildet das Feuer, als leichtestes, trockenstes und wärmstes Element, einen Bestandteil der gleichsam wie eine Zwiebel aufgebauten Welt, in der Erde, Wasser, Luft und Feuer als Schalen aufeinander folgen und letzteres an die Sphäre des Mondes grenzt.129 Von diesem elementarischen Feuer wird das sogenannte Küchenfeuer unterschieden, das zwar auch einen Anteil des elementarischen Feuers enthält, aber außerdem noch mit vielen anderen Körpern vermischt ist. Diese Unterteilung, so Harsdörffer, wird von vielen – und wie er im folgenden ausführt, auch von ihm – in Frage gestellt. Im dritten Band der Erquickstunden werden zur Bekräftigung der Bedeutung des Feuers eine Reihe von Bibelstellen angeführt und einige Fragen zur Natur des Feuers abgehandelt.130 Gleichwohl fehlen hier bei Harsdörffer die hermetischen Untertöne.131 Harsdörffer unterscheidet die Alchemie von der Chemie: Erstere ist für ihn vor allem die Kunst des Goldmachens, was er als unsinnig ablehnt,132 und daher eine Kunst des Betrügens und der falschen, uneinlösbaren Versprechungen. Auch wenn die Antike die Chemie gekannt hat, so war doch der Entwicklungsstand viel geringer. Von der neuzeitlichen Chemie gilt: Die Chymia oder Schmeltzkunst / hat einen so grossen Nutzen in dem Menschlichen Leben / daß fast nichts treflichers kan erdacht werden. Sie zertheilet die ungleichen Theile / reiniget die unvollkommenen / sammelt das zerstreute / vermehret das dienliche / erhöhet die Geisterlein / und machet das hinfallende und vergängliche gleichsam unvergänglich / in dem alles verweßliche abgesondert / und nur ein Geist davon erhalten wird. Ohne diese Schmeltzkunst oder Scheidkunst […] ist alle Naturkündigung ohne Grund / und sichere Probe [...].133

Grundlage für Harsdörffers Ausführungen ist offenbar Jean Béguins (ca. 1550 – ca. 1620) Elemens de chymie. Dieses seriöse und populäre Werk wird im »Register der Scribenten« im dritten Band der Erquickstunden angeführt.134 Von

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Vgl. Aristoteles: Meteor, II 2, 354b, 24ff.; sowie Stier (wie Anm. 19), S. 16. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 498ff. Vgl. Martin Ruland: Lexicon Alchemiae (1612). Nachdruck Hildesheim 1964, S. 383f. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 583. Dagegen verwendet das allgemeine Lexikon von Hübner beide Begriffe noch Anfang des 18. Jahrhunderts synonym; vgl. Johann Hübner: Curieuses und Reales Natur=Kunst=Berg=Gewerk= und Handlungs=Lexicon. Leipzig 1731, Sp. 54–56. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 558. Vgl. Jean Béguin: Les Élémens de chymie. Genf 1624. Welche der verschiedenen Ausgaben dieses Werkes Harsdörffer als Grundlage diente, ist nicht klar. Auf jeden Fall hat Harsdörffer die französische Ausgabe benutzt, denn das Beispiel mit der sich scheinbar von selbst belebenden Erde (Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 561) ist erst in der französischen Ausgabe (zuerst 1615) enthalten. Vgl. Thomas S. Patterson: Jean Beguin and his Tyrocinium Chymicum. In: Annals of Science 2 (1937), S. 243–298; sowie Anto-

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diesem Lehrbuch sind im 17. Jahrhundert zahlreiche Ausgaben in Frankreich, Deutschland und England erschienen.135 Béguin stützt sich in seiner Darstellung vor allem auf die Alchemia des Andreas Libavius (ca. 1555–1616), die den Wissensstand der Alchemie/Chemie am Ausgang des 16. Jahrhunderts zusammenfaßte.136 Harsdörffer geht es jedoch auch hier nicht um eine systematische oder lehrbuchartige Darstellung, sondern um Fragen, die neben alchemistischen Problemen im engeren Sinne allgemeine Phänomene von Feuer und Wärme betreffen. Die Einteilung der Chemie in ihre Verfahren lehnt sich eng an das Schema von Béguin an.137 Harsdörffers Anliegen entsprechend, die deutsche Sprache auf allen Gebieten zu fördern, gibt er eine Übersetzung der Fachbegriffe, um zu zeigen »daß unsre Sprache auch in dieser Kunst nicht stumm ist«.138 Die Einteilung der chemischen Verfahren in solutio und coagulatio entspricht der damals üblichen Auffassung.139 An die allgemeinen Erwägungen schließen sich in beiden Bänden der Erquickstunden zwanzig bzw. dreißig ›Fragen‹ an, die ganz unterschiedliche mit der Alchemie/Chemie zusammenhängende Probleme behandeln. Besonders oft wird in diesem Kapitel und in den Beispielen Athanasius Kircher mit folgenden Werken angeführt: Musurgia Universalis Sive Ars magna Consoni et Dissoni (1650), Ars Magna Lucis et Umbrae, Magnes sive de arte magnetica. Daneben werden als Quelle mehrere Werke aus der reichhaltigen Literatur sogenannter Wunderbücher angeführt; so die Secreti diversi et miracolosi (1563) des Gabriello Falloppio (1523–1563) und die Secreti (1558) des Alessio Piemontese von Girolamo Ruscelli (1500–1566).140 Diese sehr populären Bücher enthielten Anweisungen für alle möglichen Verfahren

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nio Clericuzio: Teaching Chemistry and Chemical Textbooks in France. From Beguin to Lemery. In: Science & Education 15 (2006), S. 335–355. Allen G. Debus (The French Paracelsians. Cambridge 1991, S. 82) urteilt: »Primarily a practical work, Beguin’s Tyrocinium must have been one of the most successful publications of the century […]. Beguin was thus a notable figure for having developed the first successful course of chemistry in France and for having written a textbook that became the model for the many similar works that were to follow.« Vgl. die Übersicht bei Patterson (wie Anm. 134), S. 250f. Vgl. Die Alchemie des Andreas Libavius. Ein Lehrbuch der Chemie aus dem Jahre 1597. Hg. v. Gmelin-Institut für Anorganische Chemie und Grenzgebiete. Weinheim 1964. Vgl. Béguin (wie Anm. 134), Grafik n. S. 99. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 562. Vgl. Patterson (wie Anm. 134), S. 255; vgl. auch Ruland (wie Anm. 131), S. 149; Hübner (wie Anm. 132), Sp. 54–56; Micraelius (wie Anm. 109), Sp. 263. Vgl. Gabriello Falloppio: Secreti diversi et miracolosi; Ne’ quali si mostra la via facile di risanare tutte le infirmità del corpo humano. Venedig 1563; Girolamo Ruscelli: Secreti del Rev. Donno Alessio Piemontese. Pesaro 1558. William Eamon (The Secreti of Alexis of Piedmont. In: Res publica litterarum 2 [1979], S. 43–55) hat für dieses Werk acht deutsche Ausgaben für das 16. Jahrhundert nachgewiesen. Auch im 17. Jahrhundert wurde das Buch noch nachgedruckt; vgl. Eamon: Science and the Secrets of Nature (wie Anm. 13), S. 147ff.

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Berthold Heinecke

und Stoffe, vornehmlich jedoch medizinische Rezepte. Dabei fehlt auch der ›Stein der Weisen‹ nicht. Wiederum bewahrt Harsdörffer eine gesunde Skepsis: Die Kunst kan der Natur wol nachahmen / selbe aber niemals übertreffen / welches geschehen würde / wann man alle Metalle in Gold verwandeln köndte / da doch solches in den tieffsten Fundgruben nicht befindlich […]. Also ist zu zweifeln / ob der Chymist etwas vollkommeners und werthers / als das unveränderliche Gold ist / erarbeiten kan / und solches würde der Weisen Stein seyn / wann er zu erlangen.141

Entsprechend ihrer Bedeutung hebt Harsdörffer unter den chemischen Verfahren besonders die Destillation hervor, die er wie die Fachliteratur als Trennung des Groben vom Feinen auffaßt.142 Als Hilfsmittel für die Destillation komme dem Feuer die größte Bedeutung zu. Die durch die Chemie künstlich ausgeführte Destillation findet ihre Entsprechung in der Natur, indem sich ein Behälter mit reiner Erde spontan belebt. Harsdörffer führt dies auf die Wirkung des »fetten Salzes« der Erde zurück.143 Auf Paracelsus (1493/94–1541), den großen Protagonisten der Alchemie, kommt Harsdörffer nur gelegentlich zu sprechen,144 obwohl die paracelsischhelmontische Richtung der Alchemie um 1650 relativ einflußreich war.145 Nach dem Textbestand der Erquickstunden ist kaum anzunehmen, daß Harsdörffer direkte Kenntnis von den Schriften des Paracelsus oder van Helmonts (1579– 1644) hatte. Bevor man an die Herstellung von chemischen Mitteln gehen kann, müssen die Ausgangsstoffe zunächst auf ihre Grundbestandteile zurückgeführt werden, die Harsdörffer nach der paracelsischen Lehre von den drei Prinzipien angibt: »Der erste Anfang aber / welcher sich durchgehend in allen Geschöpfen weiset ist / 1. Saltz / 2. Schwefel / 3. Quecksilber; und in diese Theile können sie auch geschieden und abgesondert werden.«146 Aber auch diese Theorie ist umstritten, und es ist daher fraglich, ob man sich – bei so unsicheren Grundlagen – chemischer (d. h. künstlich erzeugter) Arzneimittel bedienen solle. Die Propagierung dieser Mittel war eine der wesentlichen paracelsischen Innovationen und blieb eine der Säulen des Paracelsismus auch im 17. Jahrhundert.147 Harsdörffer spricht sich auf Grund des Erfolgs solcher Mittel eindeutig dafür aus.148

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Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 575. Vgl. Robert Multhauf: The Significance of Distillation in Renaissance Medical Chemistry. In: Bulletin of the History of Medicine 30 (1956), S. 329–346. Vgl. zu dieser Theorie Ruland (wie Anm. 131), S. 410ff. Vgl. beispielsweise Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 27. Vgl. Charles Webster: The Great Instauration. Science, Medicine and Reform 1626–1660. 2. Aufl. Bern u. a. 2002. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 559. Vgl. Ruland (wie Anm. 131), S. 383f. So z. B. bei Johann Baptista van Helmont. Vgl. Walter Pagel: Joan Baptista van Helmont. Reformer of Science and Medicine. Cambridge 1982, S. 199f. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 561.

Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer

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(5.) Luft und Wasser In der traditionellen aristotelisch-scholastischen Naturphilosophie gehören Luft und Wasser zu den Elementen, die sich nicht weiter zerlegen, aber ineinander umwandeln lassen. Der Luft wird dabei ebenso wie dem Feuer die Qualität ›leicht‹ zugeordnet, so daß diese beiden Elemente in Lehrbüchern häufig zusammen abgehandelt werden.149 Auch Harsdörffer geht bei der Betrachtung der Elemente vom Gewicht aus und folgt hinsichtlich der Qualitäten der traditionellen Auffassung.150 Gleichwohl wird die ebenfalls vertretene Ansicht referiert, bei der Luft handele es sich gar nicht um ein Element, weil sich Luft und Wasser ineinander verwandeln ließen.151 Außerdem wird – möglicherweise unter Bezugnahme auf Comenius – die Frage diskutiert, wie sich die Elemente hinsichtlich des Gewichtes zueinander verhalten.152 Harsdörffers Quellen sind in diesem Abschnitt außer Kircher und Valerianus Magni (1586–1661) im zweiten Band der Erquickstunden Aristoteles, Julius Caesar Scaliger (1484–1558), Cardano (1501–1576) und Bacon; im dritten Band kommen weitere Autoren hinzu, außerdem wird hier das Kapitel über die Luft mit dem Wasserkapitel (Hydraulik) zusammengefaßt. Im Kapitel über die Luft im zweiten Band zeigt sich jedoch trotz der traditionellen Auffassung von der Natur der Luft und des Wassers, daß Harsdörffer die aktuelle Diskussion um Luftdruck und Vakuum wahrgenommen hat. Das Vakuum gehört zu den in der aristotelisch-scholastischen Naturphilosophie intensiv diskutierten Phänomenen.153 Schon Aristoteles verneinte die Möglichkeit eines Vakuums, diese Haltung wurde auch von der scholastischen Philosophie übernommen. Die neue Naturwissenschaft des 17. Jahrhunderts hatte dazu keinen eindeutigen Standpunkt; so lehnte beispielsweise auch Descartes das Vakuum ab, Galilei dagegen war vor allem mit dem Bewegungsproblem in einem gedachten Vakuum befaßt und interessierte sich weniger für dessen physikalische Natur; ein kosmisches Vakuum lehnte er ab. Erst die Versuche von Torricelli (1608–1647), Blaise Pascal (1623–1670) und Valerianus Magni sowie vor allem die Anfang der 1650er Jahre ausgeführten Versuche Otto von Guerikkes schienen jedoch nahezulegen, daß ein Vakuum experimentell nachweisbar

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Vgl. Stier (wie Anm. 19), S. 16; ferner zu Luft und Wasser Comenius (wie Anm. 74), S. 152–159. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 462. Vgl. hierzu die Diskussion dieser Frage bei Johann Baptista van Helmont: Aufgang der Artzney-Kunst. Sulzbach 1683, S. 98ff.; dazu Berthold Heinecke: »Daß die Lufft und das Wasser sich nie in einander verwandeln«. Johann Baptista van Helmonts Experimente zum Verhältnis von Luft und Wasser. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Otto von Guericke 36 (1992), S. 103–109. Vgl. Comenius (wie Anm. 74), S. 143. Vgl. hierzu Edward Grant: Much Ado About Nothing. Theories of Space and Vacuum From the Middle Ages to the Scientific Revolution. Cambridge 1981.

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Berthold Heinecke

ist. Harsdörffer kommt in der II. Aufgabe auf Valerianus Magni154 und dessen Vakuumversuche sowie auf die Weiterentwicklung durch Athanasius Kircher zu sprechen155 und fragt sich, ob damit nun die Existenz des Vakuums erwiesen sei: Nun ist die Frage / ob diese Leerheit genugsam erwiesen? Viel vermeinen Ja / in dem man nicht wissen kann / wie der Lufft hinein kommen möge. Etliche behaubten das Nein / und vermeinen / daß der Lufft zwischen der Röhren und dem Quecksilber sich hinein dringe / oder durch die Lufftlöchlein deß Glases / oder es werde durch die Bewegung deß Quecksilbers / oder deß Wassers der Lufft gemachet / die Leerheit zu erfüllen.

Auf Grund des Experiments der im Vakuum angeschlagenen Glocke156 folgt Harsdörffer Kircher und nimmt daher ebenfalls an, daß es kein Vakuum geben kann. Dieser Versuch wurde auf Anregung von Kircher und Niccolo Zucchi (1586–1670) durch Gaspare Berti (1600–1643) in Rom ausgeführt und von Zucchi 1648 zuerst anonym, dann 1649 mit Namensnennung in der zweiten Ausgabe seiner Nova De Machinis Philosophia erwähnt.157 Kircher schildert diesen Versuch in seiner Musurgia Universalis, auf die sich Harsdörffer hier bezieht.158 Im dritten Band der Erquickstunden kommt Harsdörffer unter Bezug auf Marin Mersenne159 noch einmal auf dieses Problem zurück.160 Mersenne schlägt vor, Torricellis Versuch (Quecksilberbarometer) in abgewandelter Version zu wiederholen. Offenbar ist Harsdörffer dieses Werk Mersennes von 1647 erst nach 1651 bekannt gewor-

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Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1659 hg. v. Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, S. 341: Harsdörffer schildert Valerian Magnis Vakuumversuch und kommentiert das Zerbrechen des Vakuumrohrs mit einer gewissen Ironie. Immerhin ist die Erwähnung Magnis hier insofern bedeutsam, als nur ganz wenige historische Personen in Nathan und Jotham genannt werden. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. II, S. 466ff., Zitat S. 467; zu Magni vgl. Stanislav Sousedík: Valerianus Magni 1586–1661. Sankt Augustin 1982; Grundriß der Geschichte der Philosophie. Begr. v. Friedrich Ueberweg. Völlig neubearb. Ausg. hg. v. Helmut Holzhey. Abt. 4: Die Philosophie des 17. Jahrhunderts. Bd. 4: Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, Nord- und Ostmitteleuropa. Basel 2001, S. 381–390 u. 1310f.; sowie Jerzy Cygan: Valerian Magni – Lebensdaten, Werke, Sendung. In: Monumenta Guerickiana 2 (1992), S. 30–38. Auch Kircher wird in Nathan und Jotham gewürdigt; er wird hier als »Der unsterbliche […] Athanasius Kircherus« bezeichnet (Harsdörffer: Nathan und Jotham [wie Anm. 154], Tl. II, S. 236). Dieses Experiment ist in der beschriebenen Form fehlerhaft, denn außer einer Schallfortleitung über die Luft gibt es auch eine über die Aufhängung der Glocke. Dies konnte Harsdörffer freilich nicht wissen. Vgl. Niccolo Zucchi: Nova De Machinis Philosophia. Rom 1649, S. 102f. Vgl. Athanasius Kircher: Musurgia Universalis Sive Ars magna Consoni et Dissoni. Rom 1650. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, »Register der Scribenten«: Marin Mersenne: Novarum Observationum physico mathematicarum F. Marini Mersenni Minimi Tomus III, quibus accessit Aristarchus Samius de Mundi systemate. Paris 1647. Vgl. Harsdörffer: Erquickstunden, Tl. III, S. 465f.

Naturphilosophie bei Georg Philipp Harsdörffer

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den. Im zweiten Band fehlt auch jeder Hinweis auf Torricelli; man kann daher annehmen, daß er zunächst nur die entsprechende Veröffentlichung Magnis kannte.161 Grundsätzlich Neues findet sich hier nicht. Eine Berücksichtigung der Versuche Guerickes zum Vakuum, die europaweit Aufsehen erregten, war in den Erquickstunden nicht mehr möglich, denn die Versuche wurden erst nach 1654 bekannt. Harsdörffer erwähnt sie im Zusammenhang mit den Versuchen auf dem Reichstag in Regensburg von 1654 in einem Brief an Kircher vom 20. September 1654: Aus seinen neuesten pneumatischen Erfindungen hat Dr. Otto Gerke, Konsul in Magdeburg, hier bei seiner Kaiserlichen Majestät und zum allgemeinen Staunen mehrere Meteore in gläsernen Kugeln ausgestellt, das Gewicht der Luft mit einer Waage gemessen, und das sichtbare Vakuum demonstriert.162

Man darf bei Harsdörffers Favorisierung von Beobachtung und Experiment durchaus annehmen, daß ihn diese Versuche von der Realität des Vakuums überzeugten.

4. Eine Naturphilosophie des Übergangs Das 17. Jahrhundert ist in den Wissenschaften von der Natur eine Zeit des grundlegenden Wandels. Vergleicht man den Anfang mit dem Ende des Jahrhunderts, so wurde vieles von dem, was die neue Weltsicht und die Grundlagen der neuen Wissenschaft heraufführen half, am Ende dieses Zeitraums in den Untergrund oder in die Bedeutungslosigkeit abgedrängt; dazu gehören alle Formen von magia naturalis, Alchemie, Astrologie und Hermetismus, aber auch die aristotelisch-scholastische Naturphilosophie. Der Übergang zur Aufklärung, zur rationalistischen Grundhaltung des 18. Jahrhunderts, war dabei ein widersprüchlicher Prozeß, der eindeutige Etikettierungen nahezu unmöglich macht. So finden sich Elemente des Neuen und des Alten in vielen Werken, aber oft auch in einer Person vereint. Einig waren sich alle Richtungen nur über den Vorrang neuer Erfahrungen und Experimente gegenüber alten Autoritäten. Zum »Heerführer der Erfahrungsphilosophen«163 wurde Francis Bacon, von dessen Programm und Vorstellungen Harsdörffer in naturwissenschaftlich-technischen 161 162

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Vgl. Valerian Magni: Demonstratio ocularis Loci sine locato: corporis successive moti in vacuo: Luminis nulli corpori inhaerentis. Krakau 1647. Vgl. John E. Fletcher: Georg Philipp Harsdörffer, Nürnberg und Athanasius Kircher. In: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg 59 (1972), S. 203–210, hier S. 209. Die Versuche werden geschildert in Guericke: Experimenta nova (ut vocantur) Magdeburgica (wie Anm. 100), S. 121–123. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie. 2. Aufl. Leipzig 1982, Bd. 3, S. 150.

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Fragen zutiefst durchdrungen ist. Bacons Geist ist es, den er in den Erquickstunden und in der Schilderung des Hauses Salomo in den Gesprächspielen zum Ausdruck bringt. Dagegen treten andere Einflüsse und Aspekte – wie der, daß Harsdörffer die Erquickstunden auch zur geistlichen Erbauung seiner Leserschaft nützt und eine Poetisierung der Natur und der vorgestellten Künste unternimmt – zurück, auch die mitgeteilten Einzelfakten werden relativiert. Die naturwissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts wurde nicht nur getragen von den Spitzengelehrten an der vordersten Front der Erkenntnis. Um sie in der Breite wirksam werden zu lassen, war es notwendig, ihre Denkweise an ein breiteres gebildetes Publikum zu vermitteln – das gleichwohl Entscheidungsfunktionen innehatte. Das Credo der neuen Naturphilosophie: daß Erkenntnis möglich und ein fortschreitender offener Prozeß ist, daß es dazu der gemeinsamen und koordinierten Anstrengung vieler bedarf, daß ohne Quantifizierung und Mathematisierung kein Fortschritt erzielt werden kann, daß es auf sichere und vergleichbare Beobachtungen ankommt usw. – all dies wurde den Lesern der Erquickstunden explizit und implizit nahegebracht und Begeisterung dafür geweckt. Hierin liegt ihre Bedeutung. Hinsichtlich des Inhalts liegt der Schwerpunkt auf der Anwendung des Wissens in den artes mechanicae. Darüber hinaus sind jedoch viele der ›heißen‹ Fragen der Naturwissenschaft um 1650 präsent. In der Beurteilung der Unzahl genannter und ungenannter Quellen, auf die sich Harsdörffer stützt, bewahrt er stets eine welterfahrene, gesunde Skepsis, die nicht zuletzt von seinem ernsthaften christlichen Glauben geprägt ist. Die Ambivalenz des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts und seine Gefahren sollen durch diesen in Schranken gehalten werden. Harsdörffers naturwissenschaftliches Werk versteht sich als ein Beitrag zur Realisierung des Baconschen Programms. Es ist Wolfgang Krohn zuzustimmen, wenn er feststellt: »[…] in gewissem Sinne sind wir immer noch damit befaßt, Bacons großen Plan zur Erneuerung der Gesellschaft durch Wissenschaft und Technik auszuprobieren, zu modifizieren, seinen kulturellen Sinn zu begreifen und seine Risiken zu kontrollieren.«164 Mithin ist ein »Ende des Baconschen Zeitalters« bislang nicht in Sicht.165

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Wolfgang Krohn: Francis Bacon. Philosophie der Forschung und des Fortschritts. In: Philosophen des 17. Jahrhunderts. Eine Einführung. Hg. v. Lothar Kreimendahl. Darmstadt 1999, S. 23–45, hier S. 24. Vgl. als ein Zeugnis unter vielen die aktuelle feministische Debatte um Bacons Werk in: Journal of the History of Ideas 69 (2008), S. 117ff.; sowie Gernot Böhme: Am Ende des Baconschen Zeitalters. Studien zur Wissenschaftsentwicklung. Frankfurt/M. 1993; Lothar Schäfer: Das Bacon-Projekt. Von der Erkenntnis, Nutzung und Schonung der Natur. Frankfurt/M. 1993.

Guillaume van Gemert

Andächtige Liebesglut und kurioses Welttheater Zu Harsdörffers geistlichem Schrifttum als überkonfessioneller Anleitung zur christlichen Lebenspraxis

1. Einleitung Eines der großen Desiderate der Harsdörffer-Forschung sei, so wurde jüngst noch betont, die Erschließung seiner geistlichen Schriften.1 Wie berechtigt die Forderung auch sein mag, im Grunde spezifiziert sie bloß, was seit der Neuorientierung der Barockgermanistik von den späten 1960er Jahren an unentwegt, gleichsam ritualisiert, in den Perspektivkatalogen beschworen wurde, daß nämlich generell eine umfassende Auswertung und Rehabilitierung barocken geistlichen Schrifttums Not täte, des deutschsprachigen wie des lateinischen wohlverstanden, da eine solche Zweisprachigkeit die selbstverständliche Domäne des frühneuzeitlichen Gebildeten und somit auch des Barockautors war. Begründet wird die Notwendigkeit einer verstärkten Hinwendung zum geistlichen Schrifttum des Barock nicht zuletzt damit, daß es an der damaligen Literaturproduktion einen sehr viel größeren Anteil gehabt habe als die, aus späterer Sicht als solche einzustufende, ›hohe‹ Literatur und daß es als Gebrauchsschrifttum diese an Breitenwirkung in der Alltagspraxis um ein vielfaches übertroffen habe.2 Ein wenig provokativ vielleicht ließe sich das dahin zuspitzen, daß für breite lesekundige Schichten der frühneuzeitlichen Gesellschaft das geistliche Schrifttum, und zwar namentlich die diesem subsumierte Erbauungsliteratur im engeren Sinne, im großen und ganzen den Stellenwert der heutigen Unterhaltungsliteratur innegehabt hätte.3 Die Aufrufe zur verstärkten Fokussierung auf das geistliche Schrifttum des Barock sind in den letzten vier Jahrzehnten gewiß nicht ungehört verhallt. Dieter Breuer moniert 1995 in seiner Vorrede zu den von ihm herausgegebe-

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Stefan Keppler: Menschen am Sonntag. Nachwort. In: Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649–1652). Nachdruck hg. v. Stefan Keppler. Hildesheim u. a. 2007, S. I*–LXXXI*, hier namentlich S. IV*. Dazu unter anderem Wolfgang Brückner: Erbauung, Erbauungsliteratur. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Hg. v. Kurt Ranke, Hermann Bausinger u. a. Berlin u. a. 1984, Bd. 4, Sp. 108–120, vor allem Sp. 109. Vgl. unter anderem Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. Frankfurt/M. 1970, S. 315–321, namentlich S. 315–316.

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nen Akten des siebten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Barockarbeitskreises zum Thema Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock mit Recht noch manchen blinden Fleck der Forschung: Sie würde etwa religiöse Texte der Zeit nicht primär als Ausdruck der Gotteserfahrung wahrnehmen und sie nicht aus deren theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichem Kontext, sondern aus heutiger individualpsychologischer oder soziologischer Perspektive deuten; sie würde zudem – unter Fortschreibung des Verdikts des 18. Jahrhunderts – den süddeutschen katholischen Anteil, zumal die großen Leistungen der Jesuiten in diesem Bereich, vernachlässigen, und der jüdische Beitrag zur geistlichen Literatur der Barockzeit wäre überhaupt noch nicht in ihr Blickfeld gerückt.4 Insgesamt aber belegt gerade der von Breuer edierte Kongreßband eindrucksvoll, gleichsam als eine Art Zwischenbilanz, wie facettenreich und tiefgründig sich die Erforschung der geistlichen Barockliteratur mittlerweile geriert. Seit den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts sind zahlreiche Ausgaben von barocken geistlichen Texten als reprographische Nachdrucke, als Einzelausgaben oder im Rahmen von Gesamtwerkeditionen bzw. in Reihen wie Texte der Frühen Neuzeit oder Geistliche Literatur der Barockzeit erschienen, wurde, nicht zuletzt auch von theologischer Seite, die Pietismusforschung vorangetrieben5 und galt die Aufmerksamkeit heterodoxeren Phänomenen wie Endzeitvorstellungen, chiliastischen Strömungen oder den christlichen Kabbala-Studien, die etwa im Umfeld des Sulzbacher Hofes unter Pfalzgraf Christian August getrieben wurden.6 Von der verstärkten Hinwendung zur geistlichen Literatur des Barock blieb auch die Harsdörffer-Forschung nicht unberührt. Diesbezügliche Schlüsseltexte aus der Feder des Nürnbergers wurden in kommentierten Nachdrucken herausgebracht, und es erschienen, zumeist im Gefolge einzelner Harsdörffer-Tagungen,7 mehrfach Aufsätze,8 die das geistige Umfeld seiner geistlichen Schriften, namentlich der Hertzbeweglichen Sonntagsandachten (1649–1652), absteckten und nicht zuletzt seine Inanspruchnahme von Emblematik und Andachtsliteratur aus

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Dieter Breuer: Vorwort. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer in Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino u. a. Wiesbaden 1995, Bd. 1, S. XI–XXI, hier S. XIII–XIV u. XVI–XVII. Dazu unter anderem Dietrich Blaufuß: Pietismusforschung. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. v. Wolfgang Sommer u. Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, S. 359–386. Vgl. dazu namentlich einzelne Beiträge in den Ausgaben von: Morgen-Glantz. Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft 1 (1991) ff. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991; Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005. Vgl. dazu Hans-Joachim Jakob: Bibliografie der Forschungsliteratur zu Georg Philipp Harsdörffer von 1847–2005. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 13–35.

Andächtige Liebesglut und kurioses Welttheater

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der Gesellschaft Jesu herausstellten,9 etwa die Anleihen bei Friedrich Spee, Guilielmus Hesius, Herman Hugo, Jeremias Drexel, Jacob Balde und Georg Stengel, aber auch solche bei anderen katholischen geistlichen Autoren wie Otto Vaenius, Benedictus van Haeften oder der Karmelitermystik einer Teresa de Avila und eines Juan de la Cruz10 sowie bei Anglikanern wie Joseph Hall.11 Zudem wurden die poetologischen Grundlagen seines geistlichen Schreibens eruiert, wie sie namentlich in Nathan und Jotham (1650–1651) durchscheinen.12 Bei der unleugbaren Notwendigkeit einer weiteren umfassenderen Erschließung von Harsdörffers geistlichem Schrifttum dürfte mittlerweile gerade in diesem Bereich eine erste, zugegebenermaßen vorläufige und im einzelnen noch vielfach zu erhärtende, Bilanz möglich sein. Sie sollte Harsdörffer als geistlichen Autor in dreierlei Hinsicht verorten: einmal von seinem Programm und von seinem Selbstverständnis als solchem her; zum anderen im Hinblick auf das von ihm in diesem Zusammenhang gehandhabte Verfahren und die von ihm bevorzugt in Anspruch genommenen Gattungen, und schließlich, drittens, in Anbetracht des geistigen Umfelds, auf das er zurückgriff, bzw. der Tradition, in der er stand. Im folgenden soll, in einem ersten Schritt, systematisierend und synthetisierend, versucht werden, diese Verortung – in groben Umrissen – zu konturieren. Dabei ergeben sich Fragen und Beobachtungen, die anschließend, in einem zweiten Schritt, einer Antwort nähergebracht bzw. vertieft werden sollen, nicht zuletzt unter besonderer Heranziehung der bislang kaum berücksichtigten Harsdörfferschen Übersetzungen von geistlichen Schriften anderer. Abschließend wäre dann erneut die Frage nach dem geistigen Umfeld von Harsdörffers 9

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Keppler (wie Anm. 1), namentlich S. XXVI*–XXXIV*. Vgl. auch Jean-Daniel Krebs: G. Ph. Harsdörffers geistliche Embleme zwischen katholisch-jesuitischen Einflüssen und protestantischen Reformbestrebungen. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer in Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino u. a. Wiesbaden 1995, Bd. 2, S. 539–552. Dazu auch Guillaume van Gemert: Teresa de Avila und Juan de la Cruz im deutschen Sprachgebiet. Zur Verbreitung ihrer Schriften im 17. und 18. Jahrhundert. In: Frömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. v. Dieter Breuer. Amsterdam 1984, S. 77–107, hier namentlich S. 103– 104. Harsdörffer übersetzte von Teresa de Avila Hundert Geistreiche Sprüche, die im Anhang zum ersten Teil von Nathan und Jotham (1650) abgedruckt sind, und von Juan de la Cruz den geistlichen Gesang ¿Adónde te escondiste?, der mit dem Titel Von der Gottes Liebe in Johann Michael Dilherrs Andachts- und Gebetbuch Göttliche Liebesflamme (1651) aufgenommen wurde. Keppler (wie Anm. 1), bes. S. XXIV*–XXVI*. Peter Heßelmann: »Diese noch der Zeit unbekante Dichtart«. Zur Poetologie des »Lehrgedichts« in Georg Philipp Harsdörffers Nathan und Jotham. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 195–211; Hans-Joachim Jakob: »Damit der Rähtselliebende Leser sich so viel leichter darein finden könne«. Harsdörffers Rätseltheorie in den Paratexten von Nathan und Jotham. In: Harsdörffer-Studien. Mit einer Bibliografie der Forschungsliteratur von 1847 bis 2005. Hg. v. Hans-Joachim Jakob u. Hermann Korte. Frankfurt/M. u. a. 2006, S. 213–226.

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geistlichem Schrifttum, diesmal jedoch zugespitzt auf die Rolle der Überkonfessionalität, zu stellen, da sie im vorliegenden Zusammenhang am meisten erstaunt und sich nicht unbedingt aus persönlichem Irenismus erklären lassen dürfte.13

2. Harsdörffers Programm als geistlicher Autor Im »Vorbericht an den Teutschliebenden Leser«, der die »Zugabe« mit dem Titel XXV. Merkwürdige Fragen aus der Naturkündigung und Sitten- oder Tugendlehre im Anhang zum achten, und somit letzten Band der Gesprächspiele aus dem Jahre 1649 eröffnet, skizziert Harsdörffer sein Literaturprogramm.14 Jetzt, da mittlerweile dreihundert Gesprächspiele vorliegen, wolle er keine weiteren mehr verfassen, deren Bestandteile, »Gedichte«, »Geschichten« und »Fragen oder Aufgaben« aber weiter pflegen und obendrein demnächst »Andachtsgemähle« vorlegen. Für die Kategorie der »Geschichten« verweist er auf den Grossen Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte, der 1649 mit insgesamt zweihundert Erzählungen erschien; ›Andachtsgemähle‹ bezieht sich ganz offensichtlich auf die Hertzbeweglichen Sonntagsandachten, von denen ebenfalls 1649 der erste Teil veröffentlicht wurde:15 Nachdem nun die CCC. Gesprächspiele / mit Verleihung Göttlicher Gnaden / zu Ende gebracht / und iedem Theil derselben eine absonderliche Zugabe beygeleget worden: ist hier kürtzlich zu erinnern / daß solche haubtsächlich auf [sic!] Gedichten Geschichten und Fragen oder Aufgaben bestehen. Ob wir nun wol diese Spiele nicht fortzusetzen gewillet / sind wir doch im Werk begriffen in diesen dreyen noch etliche Proben zu leisten. Die Andachtsgemähle sollen nach den Evangelischen Texten / und Liedern gerichtet und ausgedichtet folgen. An den Geschichten ist so wol der Frölichen als Traurigen / unter dem Titel des grossen Schauplatzes / ein Anfang gemachet / und sind selber bereit CC. drukkfertig. Von den Fragen aber haben wir hie ein Muster beylegen wollen /

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Zur These von Harsdörffers Irenismus vgl. Italo Michele Battafarano: Übersetzen und Vermitteln im Barock im Zeichen der kulturellen Angleichung und Irenik: Opitz, Harsdörffer, Hoffmannswaldau, Knorr von Rosenroth. In: Morgen-Glantz 8 (1998), S. 13–61, namentlich S. 28–42. Harsdörffers Gesprächspiele werden im folgenden zitiert nach Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. VIII, S. 472 [513]–601 [642]. Angegeben wird zu den einzelnen Zitaten jeweils zuerst die Seitenzahl des Originals und dazu in eckigen Klammern die Neunumerierung des Nachdrucks. Zu den einzelnen Werken Harsdörffers und ihren jeweiligen Ausgaben vgl. Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Bibliographischen Handbuches der Barockliteratur. Stuttgart 1991, Bd. 3, S. 1969–2031.

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und gedenken gleichfals solche in unterschiedlichen kleinen Werklein fortzusetzen / und also zu den Gesprächen einen völligen Vorrath zu schaffen.16

Was mit ›Gedichten‹ und ›Geschichten‹ genau gemeint ist, geht hervor aus der Vorrede zum ersten Teil von Nathan und Jotham.17 Hier unterscheidet Harsdörffer die »Lehrgeschichte«, das »Lehrgesicht« und das »Lehrgedicht«, die alle drei im »Gleichnis« – hier wohl als breit ausgeführter Vergleich zu verstehen – verwurzelt seien. ›Lehrgeschichte‹ und ›Lehrgedicht‹ unterscheiden sich darin, daß ersteres historisch oder durch die Autorität antiker Schriftsteller verbürgt ist,18 sich somit als nicht-fiktionale Exempelerzählung im Rahmen vermeintlicher Wahrheit bewegt, während für letzteres als Parabel, Fabel oder Gleichnis im weiteren Sinne die Fiktionalität, bestenfalls mit Wahrscheinlichkeitsanspruch, die Domäne ist.19 Das »Lehrgedicht« sei »eine fortgesetzte lange Gleichniß / zu Vorstellung einer Lehre ausgedacht«, heißt es im 258. Gesprächspiel.20 Hier und im zweiten Teil des Poetischen Trichters (1648)21 sowie in der Vorrede zum ersten Teil der Sonntagsandachten22 wird weiter differenziert. Unter »Lehrgesichten« sind Visionen oder prognostische Träume zu verstehen;23 es sind Bilder ohne Wesen / welche doch jhren Verstand […] weisen / […] und hat sich Gott in solchen seinen Heiligen geoffenbaret / und mit jhnen geredet durch Gesichte und Erscheinungen / welche jhnen ab- und vorgebildet zukünfftige Dinge / wie solches alles auß der gantzen heiligen Schrifft unwidersprechlich erhellet […].24

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VIII, S. 475 [516]–476 [517]. Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1659 hg. v. Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, Bl. A 5v [8]–B 4v [22]. Da das Original keine Seitenzählung aufweist und bloß die einzelnen ›Lehrgedichte‹, die jeweils allerdings nur eine Seite umfassen, durchnumeriert sind, wird in eckigen Klammern die Seitenzählung des Nachdrucks angegeben, für die Paratexte (Vorreden und Anhänge) auch die Bogensignatur. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. II, S. 56: »Hieher gehöret / was von der alten Poeten Gedichten / als geschehen angeführet wird.« Vgl. dazu Guillaume van Gemert: Einleitung. In: Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1659 hg. v. Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, S. V–XXXVII, hier namentlich S. XIX–XXIV. Zum Lehrgedicht auch Jean-Daniel Krebs: Von der Schelde zur Pegnitz oder von den Emblemata sacra zum »Lehr-Gedicht«. In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 185–203. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VII, S. 170 [242]. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 18), Tl. II, S. 49–69 (»Von den Gleichnissen«). Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. I, Bl. B 2v–B 3r. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 17), Tl. I, Bl. A 6r [9]–A 6v [10]. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. II, Vorrede, Bl. )( ) ( 8r–)( )( 8v.

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Was mit den »Fragen oder Aufgaben« gemeint ist, zeigt der bereits erwähnte Anhang zum achten Band der Gesprächspiele,25 vermutlich sind aber auch Teile der Delitiae (1636–1653),26 die Rätsel, die unter dem Titel Simson den beiden Teilen von Nathan und Jotham angehängt sind,27 und einzelne Apophthegmata (1655–1656)28 dieser Kategorie zuzuzählen. ›Andachtsgemähle‹ schließlich werden im Anhang gleichen Namens zum sechsten Band der Gesprächspiele29 als unvollständige geistliche Embleme definiert, bei denen anstelle der inscriptio eine Bibelstelle steht, wodurch der Bezug von inscriptio, icon und subscriptio weniger verrätselt ist: [Die »Andachtsgemähle« haben] nicht alle Eigenschaften […] / welche zu vollständigen Sinnbildern erfordert werden / darvon in den Gesprächspielen ümständig zu lesen ist. Etliche / welche in einer richtigen Gleichniß bestehen / könten mit Fug geistliche Sinnbilder heisen / wann man etwan eine halbe Reimzeil / aus dem Text / darzu setzen wollte: Wir haben es aber / dieses Orts / lieber bey den Sprüchen der Schrift / auf welche sie gerichtet sind / verbleiben lassen.30

Ähnlich heißt es in den Vorreden zu den beiden Teilen der Sonntagsandachten.31 Dort wird, wie implizit auch in den Gesprächspielen, unterstrichen, daß die

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VIII, S. 472 [513]–601 [642]. Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990; Georg Philipp Harsdörffer: Delitiae Mathematicae et Physicae Der Mathematischen und Philosophischen Erquickstunden Zweyter Theil (1651). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990; ders.: Delitiae Philosophicae et Mathematicae Der Philosophischen und Mathematischen Erquickstunden / Dritter Theil (1653). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Simson: Das ist Anhang deß II. Theils vorhergehender Lehrgedichte / bestehend in C. Rähtseln. In: Ders.: Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1659 hg. v. Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991, Tl. I, Bl. Aa 1r [367]–Bb 6v [394], Tl. II, Bl. Bb 6r [393]–Dd 2v [418]. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden (1655–1656). Nachdruck hg. v. Georg Braungart. Frankfurt/M. 1990. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VI, Bl. Cc 1r [495]–Kk 8v [622]. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VI, Anhang, S. 52 [562]– 53 [563]. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. I, Vorrede, Bl. B 3r: »Die Lehrgedichte oder vielmehr Lehrgeschichte / wie gesagt / haben mit den Sinnbildern eine grosse Verwandschafft / indem sie die Mahlerey mit der Poeterey meisterlich verbinden / zu solchem haben wir meistentheils Kindlein erwehlet; zu bedeuten ihre Unschuld / Einfalt / und das Wolgefallen / welches Gott ob ihnen / und allen den Frommen / so ihnen gleichen / zu haben pfleget / und sie als Kindlein zu seinem Himmelreich beruffen hat. Weil nun etliche unter diesen Erfindungen nicht vollständige Sinnbilder sind / wie jetzt gesagt / und auch / zu Folge unsres Vorhabens / mit den Sprüchen H. Schrifft haben

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Wesensverwandtschaft von ›Lehrgedicht‹, ›Lehrgeschichte‹ und ›Andachtsgemähl‹ im gemeinsamen Gleichnischarakter liege. In den Sonntagsandachten und mutatis mutandis auch in Harsdörffers Beiträgen zu Johann Michael Dilherrs Göttlicher Liebesflamme von 165132 ist das ›Andachtsgemähl‹ Kernstück eines komplexeren Gefüges aus Bibelstelle, Bild, Bilderläuterung – zumeist als »Vollführung«, gelegentlich auch als »Lehrgedicht« bezeichnet –, Lied und Gebet, dem als solchem eine spezifische Funktion eignet.33 Bei den ›Andachtsgemählen‹ ist allein schon vom Namen her der geistlicherbauliche Grundzug unverkennbar. Auch das ›Lehrgedicht‹ steht bei Harsdörffer – der Titel seiner diesbezüglichen Sammlung Nathan und Jotham bestätigt das schon und ebenfalls das wiederholte Auftauchen der Bezeichnung ›Lehrgedicht‹ als Zusatz zu oder anstelle von ›Vollführung‹ in den Sonntagsandachten – primär in einem geistlichen, d. h. hier vor allem: moralisch-didaktischen Kontext. Ähnliches gilt für die ›Lehrgeschichte‹: Vielsagend ist in diesem Zusammenhang, daß in der Vorrede zum Grossen Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte ausdrücklich auf christlich-moralische Nutzanwendung am Anfang oder am Schluß jeder einzelnen Exempelgeschichte hingewiesen wird,

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müssen verbunden werden / ist das Wort Gemähl für anständiger als das Wörtlein Bild gehalten worden.« – Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. II, Bl. )( )( 8v–)( )( )( 1r: »Weil nun die Gleichnuß deß Bildes / mit dem Text nicht hat können verbunden werden / daß man keines ohne das andere verstehen mögen; massen die Wort vielmals ohn solcher Bildererklärung deutlich vernemlich / und nur bessern Gemerks wegen beygesetzt / haben wir sie lieber Gemähle / als Sinnbilder nennen wollen / weil jene mehr Freyheit haben als diese. Und wird leichtlich zu bemerken seyn / daß die Episteln / in welchen die nohtwendigen Lehren unsers Christenthums behandelt werden / sich viel leichter außbilden lassen / als die Evangelischen Geschichte / die meisten theils von Christi Leben und Wunderwercken handlen / deßwegen dann in dem ersten Theile Lehrsprüche darzu gesuchet werden müssen / welche wir hier in dem Texte jedesmal gefunden. Ob sie nun den Worten gemäß / wie wir hoffen / wollen wir dem verständigen Leser zu beurtheilen heimgeben.« Johann Michael Dilherr: Göttliche Liebesflamme: Das ist / Christliche Andachten / Gebet / und Seufftzer / über Das Königliche Braut-Lied Salomonis. Nürnberg 1651; vgl. hier namentlich auch Harsdörffers »Vorrede An den Gottliebenden Leser. Von dem Inhalt und Gebrauch dieses Büchleins«, Bl. )( 6v–)( )( 2r, wo es Bl. )( )( 1r–)( )( 1v zum ›Andachtsgemähl‹ und dessen Aufgaben heißt: »Damit nun solche Göttliche Liebesflamme durch die Augen und Ohren so viel leichter verfange / angezündet und aufgefeuret werden möchte / sind hier allen Andachten schickliche Kupferblätlein mit unsern Erklärungen / vorgefüget worden / den nachgehenden Inhalt so viel vernemlicher vorzustellen; Massen das Gemähl / sowol / als das Feuer / die Eigenschafft / daß sie aller Augen zu sich zu wenden / und gleichsam anzuhalten pfleget: wie dann das Gesicht der Sinn der Erfindung und das Gehör / der Sinn der Vnterrichtung genenet wird / und jener mit besagten Abbildungen / dieser aber durch unsre nachgesetzte neue geistliche Lieder nutzlichst belustiget werden mag.« Zum ›Andachtsgemähl‹ vgl. auch Jean-Daniel Krebs: Tradition und Wandel der Allegorese bei Georg Philipp Harsdörffer. Die »zufällige Andacht«. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Wolfgang Harms u. Jean-Marie Valentin. Amsterdam u. a. 1993, S. 219–238, namentlich S. 225–230.

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die aber aufgrund von Jean-Pierre Camus’, des Verfassers einer der wichtigsten Vorlagen,34 fanatisch katholischer Ausdeutung häufig habe abgewandelt werden müssen: Was nun aus einer jeden Erzehlung zu ersehen und zu lernen ist theils Anfangs / theils zu Ende derselben bemeldet; jedoch sind wir hierinnen dem Frantzösischen selten nachgegangen / weil H. Belley an vielen Orten erwiesen / daß er ein Eifrer / der alles gerne auf seine Religion ziehen wollen / mehrmals mit nachtheil anderer frommen Christen.35

Der Grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte bemüht gar die theatrum vitae humanae-Metapher, die auch im Titel der beiden Sammlungen anklingt, wonach die Geschichte einen großen Vorrat an Exempeln bereithält, um den Menschen vom Bösen abzuhalten und zum Guten anzuleiten: Was nun diese Haubt-Wissenschafften mit Lehren und Gesetzen außwürcken / das thut die Geschichtschreibung mit Exemplen und Beyspielen / deßwegen sie auch der Spiegel guter und böser Sitten / das Liecht der Warheit / die Richtschnur menschliches Leben / unnd diese Welt ein Schauplatz genennet wird / darauff nicht nur Könige / Fürsten und Herren / wie in den Trauerspielen / sondern auch Edle / Bürger / Bauren / wie in den Freudenspielen erscheinen / biß solchen offt veränderten Personen / der Todt die Larvenkleider endlich außziehet.36

So bietet Harsdörffer im Zeichen von ›Lehrgedicht‹, ›Lehrgeschichte‹ und ›Andachtsgemähl‹ ein breites Spektrum an Anleitungsliteratur zur christlichen Lebenspraxis an. Dieses Spektrum erschöpft sich aber nicht ohne weiteres in der Zweiheit von erbaulicher Andachtsliteratur, zentriert um das ›Andachtsgemähl‹, einerseits und moralisch-didaktischem Exempelschrifttum mit ›Lehrgeschichte‹ und ›Lehrgedicht‹ als zentraler Mitte andererseits, obwohl diese beiden Kategorien ohne weiteres den Dreh- und Angelpunkt seines Schaffens als geistlicher Autor darstellen. Vielmehr ist Harsdörffers ganzes Œuvre grundsätzlich vom christlich-religiösen Impetus durchsetzt: In den Gesprächspielen etwa ist das religiöse Moment unverkennbar, indem hier ›Der Spielende‹ vor Gottes Angesicht spielt, im Vollgenuß des ihm einerschaffenen Scharfsinns, der ihn zur argutia befähigt; die Delitiae wurden als das protestantische Gegenstück zur

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Zum Anteil von Jean-Pierre Camus’ L’amphithéâtre sanglant am Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte vgl. Dünnhaupt (wie Anm. 15), Bd. 3, S. 1999–2000, sowie den Beitrag von Judit M. Ecsedy in diesem Band. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten (1649–1650). Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975, Bl. )( 8r. Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau-Platz Lust- und Lehrreicher Geschichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1664. Hildesheim u. a. 1978, Tl. I, Zuschrift, Bl. a 5r.

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jesuitischen propagatio fidei per scientias bezeichnet,37 und sogar der Poetische Trichter soll ein religiöses Moment aufweisen, indem die sechs Stunden, die zur Aneignung der Dichtkunst reichten, als Analogie zu den sechs Schöpfungstagen zu verstehen wären.38 Dies alles soll hier jedoch nicht weiter verfolgt werden; die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich vielmehr auf die, bereits umrissene, grundlegende Zweiteilung von Harsdörffers geistlichem Schrifttum im engeren Sinne in moralisch-didaktische Anleitungsliteratur zum einen und erbauliche Andachtsliteratur zum anderen, wie sie sich – vereinfachend gesagt – in den Sonntagsandachten hier und den Schau-Plätzen dort spiegelt.39 Soviel mag einstweilen feststehen, daß Harsdörffer als eminent geistlicher Autor zu gelten hat, dessen gelebte Religiosität und private Frömmigkeit auf Schritt und Tritt in seinen Schriften durchscheinen. Was er im Poetischen Trichter zur Voraussetzung all solcher geistlichen Dichtung macht, die bei anderen eigenständige Frömmigkeit auszulösen vermag, daß nämlich ihr Verfasser aus dem Vollen der privaten Gotteserfahrung schöpfen können soll, scheint er zum Leitfaden eigenen geistlichen Schreibens gemacht zu haben: Diesemnach kan man in Geistlichen Reden und Gedichten keine Hertzbeweglichere Wort und Red-Arten finden / als die jenigen / welche von Gott dem H. Geist / durch die Männer Gottes aufgezeichnet / auf uns geerbet / dieses sind Wort deß Lebens welche die Gnaden durstige Seelen / mit voller Gnüge tränken und überschütten / wie ein jeder gläubiger Christ und Kind Gottes in sich selbst empfindet / und sich derselben in Noht und Tod zugetrösten hat.40

Vielsagend ist in diesem Zusammenhang der Gebrauch des Adjektivs ›hertzbeweglich‹, das das affektive Moment betont, ohne das die Andacht nicht auskommt. Harsdörffer war jedoch kein Theologe; ihm geht es nicht um Dogmen und kirchlich autorisierte Lehrsätze. Als Laie glaubt er sich aber durchaus zur Anleitung anderer zur christlichen Glaubenspraxis und entsprechender Lebensführung berechtigt aufgrund der protestantischen Lehre vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen und weil ein solches Unterfangen – wie unvollkommen es auch sein mag – zur Ehre Gottes gereiche: 37

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Vgl. Jörg Jochen Berns: Einleitung. In: Georg Philipp Harsdörffer u. Daniel Schwenter: Deliciae Physico-Mathematicae. Oder Mathematische und Philosophische Erquickstunden (1636). Nachdruck hg. v. Jörg Jochen Berns. Frankfurt/M. 1990, S. V–XLIV, hier namentlich S. XXI–XXV. Vgl. Jörg-Ulrich Fechner: Harsdörffers Poetischer Trichter als Poetik geistlicher Dichtung. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 143–162, hier bes. S. 151. Zu den Schau-Plätzen vgl. auch Guillaume van Gemert: Geschichte und Geschichten. Zum didaktischen Moment in Harsdörffers Schauplätzen. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 313–331. Harsdörffer: Poetischer Trichter (wie Anm. 18), Tl. II, S. 22–23.

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Etlich nun / welche uns aufrucken möchten / daß weltliche Personen nichts Geistliches schreiben sollen / weil solches ausser ihrem Beruff / geruhen zu betrachten / daß Gott alle Christen zu König und Priestern gemachet / daß sie durch seine Krafft und Gnade über die Sünde herrschen / und die geistliche Opfer ihrer Lippen bringen sollen / die Gott auch angenem sind durch Christum Jesum. Wie dorten die drey Männer in dem Feuerofen unter den grossen Wundergeschöpffen deß Allmächtigen nicht den Himmel und das Meer / sondern auch den Tau und geringe Bächlein zu dem Lob Gottes angemahnet; und für einen strafbaren Undank gehalten wird / sein Pfündlein in die Erden zu vergraben: Also wird auch dieses wolgemeinte Werklein / welches zu der Ehre Gottes / nach unsrer Wenigkeit / gewidmet / von niemand verhoffentlich übel außgedeutet werden können; Massen sich Gott / wie auch alle Frommen / mehrmals mit dem guten Vorsatz / ohne die vollständige Werkleistung / vergnügen.41

Trotzdem sind für ihn als nicht-theologisch Vorgebildeten, der kein kirchliches Amt innehatte, die Grenzen seiner Tätigkeit als geistlicher Autor vorgegeben: Sein Augenmerk kann es nur sein, zur Glaubenspraxis und zur christlichen Lebensführung anzuleiten bzw. aus der eigenen Glaubensfülle heraus private Frömmigkeit zu vermitteln. Diesem Bestreben legt er das altbewährte Modell des christlichen Wegs zur Rechtfertigung zugrunde, das sich aus zwei Phasen aufbaut: aus der Abwendung vom Bösen zum einen und der Hinwendung zu Gott als dem Guten schlechthin in selbstlos liebender und vertrauensvoller Hingabe zum andern, und dabei gleichzeitig über Gott zum Nächsten. Das Böse präzisiert Harsdörffer, durchaus traditionell und ganz im Paulinischen Sinn, als die verhängnisvolle Trias Welt, Fleisch und Teufel, so etwa im Geschichtspiegel von 1654,42 einer Exempelsammlung wie die Schau-Plätze, den er dahin positioniert, »daß dieser Geschicht-Spiegel nichts anders anzuschauen vorweise / als den Betrug deß Satans / deß Fleisches / der Welt / der Eitelkeit / und der vielfältigen bösen Exempel«.43 Im ersten Teil der Ars Apophthegmatica wirft er die Komponenten der Trias als Inbegriff des Bösen kurzerhand in einen Topf: »Die Welt / der Teuffel und das Fleisch sind einander so gleich / daß man mehrmals eines für das andre ansihet.«44 Was den zu erlangenden Stand des vollkomenen Glaubens, der vollendeten selbstlosen und liebevollen Hinwendung zu Gott also, ausmache, tut Harsdörffer in einem Schema in seiner Vorrede »An den Gottliebenden Leser« zu Dilherrs Göttlicher Liebesflamme dar: Wer derart weit im Glauben fortgeschritten sei, ist

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Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. I, Vorrede, Bl. B 5r–B 5v. Georg Philipp Harsdörffer: Der Geschichtspiegel: Vorweisend Hundert Denckwürdige Begebenheiten / Mit Seltnen Sinnbildern / nützlichen Lehren / zierlichen Gleichnissen / und nachsinnigen Fragen aus der Sitten-Lehre und der Naturkündigung / Benebens XXV. Aufgaben Von der Spiegelkunst. Nürnberg 1654. Harsdörffer: Geschichtspiegel (wie Anm. 42), Bl. *5r. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica (wie Anm. 28), Bd. 1, S. 432, Nr. 2007.

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in ein dreifaches Beziehungsgeflecht eingebunden: Er besitze »Ein Hertz gegen Gott gesinnet kindlich, gegen den Nechsten gesinnet mütterlich [und] gegen sich selbsten gesinnet als ein strenger Richter.«45 Vielsagend ist, daß auch hier auf das Herz als den Sitz der Affekte, in casu der Liebe, Bezug genommen und der Leser in der Überschrift der Vorrede, wie übrigens im zweiten Teil der Sonntagsandachten auch,46 als ›gottliebend‹ hingestellt wird. Es unterstreicht einmal mehr, daß für Harsdörffer der zentrale Affekt in der Andachtsliteratur die Liebe ist, als Liebe zu Gott zunächst und darüber vermittelt auch als Nächstenliebe. Im Grossen Schau-Platz jämmerlicher Mordgeschichte dagegen wird der Leser in der Vorrede als »neugierig« angeredet,47 was unterstreicht, daß in der Exempelliteratur die curiositas von Harsdörffer als die Vermittlungsinstanz angesehen wird, die über das iudicium vernunftmäßig die Abwendung vom Bösen und die Hinwendung zu den Tugenden anbahnt. Das zweistufige Modell, das die Voraussetzungen zur Rechtfertigung schaffen soll mit dem Abrücken vom Bösen und der liebevollen Hinwendung zu Gott, bedingt auch die Verteilung von Harsdörffers geistlichen Schriften in zwei, sukzessiv angelegte Großgruppen. Die erste, die pauschal als Exempelliteratur zu bezeichnen wäre, thematisiert die Abwendung vom Lasterhaften und sensibilisiert für die Tugenden. Sie funktioniert nach dem Spiegel- oder theatrum vitae humanae-Prinzip und appelliert über die curiositas, vereinzelt auch über die argutia, an die Vernunft, die letztendlich die Bekehrung bewerkstelligen soll. Ihr, eben dieser ersten Großgruppe, sind namentlich zuzuzählen die beiden Schau-Plätze, der Geschichtspiegel und der zweiteilige Heraclitus und Democritus von 1652–1653,48 aber auch wohl Nathan und Jotham sowie die Apophthegmata. Die zweite Großgruppe, die der Andachtsliteratur, rückt, auf der Prädisposition der ersten aufbauend, viel stärker als diese die Eigentätigkeit des im Glauben Vorankommenden in den Mittelpunkt. Sie umfaßt im wesentlichen die Sonntagsandachten und Harsdörffers Anteil an Dilherrs Liebesflamme. Hier kommt es auf die liebevolle Hinwendung zu und die vertrauensvolle Hingabe an Gott an. Die Liebe stellt dabei die zentrale Potenz dar, so geht schon aus 45 46 47 48

Dilherr: Göttliche Liebesflamme (wie Anm. 32), Bl. )( 10v. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. II, Vorrede, Bl. )( )( 6r–)( )( )( 6v. Harsdörffer: Jämmerliche Mordgeschichte (wie Anm. 35), Vorrede, Bl. )( 6v. Georg Philip Harsdörffer: Heraclitus und Democritus Das ist C. Fröliche und Traurige Geschichte: gedolmetscht Aus den lehrreichen Schrifften H. P. Camus Bisschoffs zu Belley. benebens angefügten X. Geschichtsreden aus Den Griechischen und Römischen Historien / zu übung der Wolredenheit gesamlet. Nürnberg 1652. – Georg Philipp Harsdörffer: Heraclitus und Democritus Das ist Trauriger und Frölicher Geschichte / zweytes C. Aus den lehrreichen Schrifften H. P. Camus / Bischoffs zu Belley Gedolmetschet / mit nachsinnigen Gleichnissen / merkwürdigen Sprüchen / klugen Vermahnungen / und getreuen Warnungen / wie auch etlichen kurtzen Erzehlungen vermehret: und benebens X. Dreyständigen Sinnbildern / von Den Neigungen deß Gemütes / vorgestellet. Nürnberg 1653.

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den Titeln hervor: Das Herz als Sitz der Liebe soll affektiv in Bewegung gesetzt werden, die Liebesglut soll entflammen. Der bloße Appell an die ratio reicht hier nicht – obwohl diese hier bei der Entschlüsselung des Verhältnisses von Wort und Bild in den ›Andachtsgemählen‹ über die argutia durchaus noch zur Geltung kommt; es sollen vielmehr die Affekte mobilisiert werden. Daß Harsdörffer, indem er seine Übersetzung des gefühlvoll-mystischen Gedichts ¿Adonde te ascondiste? des spanischen Karmeliters Juan de la Cruz, der mit Teresa de Avila den Höhepunkt der Karmelitermystik des siglo de oro darstellt, als Lied unter der Überschrift Von der Gottes Liebe an den Anfang von Dilherrs Sammlung rückt und sie damit insgesamt unmißverständlich der Tradition der Hohelied-Dichtung zuordnet,49 ist in der Hinsicht besonders aufschlußreich: Ausgehend vom altbewährten Materialfundus aus Bibelstellen und Gebeten soll eine affektgesteuerte Eigenleistung in die Wege geleitet werden, die zur Gottesliebe befähigt. Dies soll in Harsdörffers Andachtsliteratur die Verbindung von Bibelwort, Bild, Gebet und Musik in Form der eingefügten Lieder bewerkstelligen. Die Vorrede zum zweiten Teil der Sonntagsandachten bestätigt dies, indem sie auf die Uhrenmetapher, und damit auf das Titelbild der beiden Teile, zurückgreift und hervorhebt, daß die Bilder und Lieder zur affektiv besetzten, im Sinne einer ›hertzbeweglichen‹ Andacht antreiben, die – wie das Gewicht der Uhr das Gegengewicht – das Gebet als Gespräch mit Gott zu diesem emporschnellen lasse: Vorbesagte Bilder und jetzt ermeldte Lieder sind dahin gewidmet / daß sie das Gemüt zu hertzbeweglicher Andacht / darvon dieses Büchlein den Namen hat / antreiben sollen / welche gleichsam das Gewicht ist unsers wichtigen Gespräches mit Gott / in dem lieben Gebete / vnd die vornemsten Verrichtung am Sonntag / darzu uns die Anhörung Gottes Worts und die lieblichen Lieder veranlassen; massen hierdurch das Gehör / wie durch die Bilder das Gesicht / von den irdischen Eitelkeiten ab- vnd zu der himmlischen Vnterredung angehalten wird. Zu solchem Ende haben die Christen in der ersten Kirchen / das Bildnuß Christi erstlich in der Gestalt eines Hirten / hernach aber an dem schmertzlichen Creutz hangend / und dann nachgehends der heiligen Männer und Märterer Bildnussen in die Kirchen gesetzet; Wie auch das Gesang und die liebe Musica allezeit bey dem waaren Gottesdienst erhalten worden / durch die zween vortreflichste Sinne / die Augen und Ohren / wie gesagt / die hertzbrünstige Andacht außzuwürcken.50

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Dilherr: Göttliche Liebesflamme (wie Anm. 32), Bl. )( )( 4r–)( )( 10r: »Von der Gottes Liebe. Aus dem hohen Lied Salomonis Gesprächsweiß / nach dem Spanischen Lied: Adonde te ascondiste, &c. Iuan de la Cruz, gesetzet«. Vgl. auch Harsdörffers Vorrede ebd., Bl. )( 8v: »Es haben sich auch zu jederzeit viel Dolmetscher und Außleger dieses Gedichtes gefunden / als Origenes / Gregorius Nyssenus / und Gregorius der Grosse / Bernhardus / Rupertus / Theodoretus / Beda / Lyra / etc. und unter den neuen Scribenten / Joseph Hall ein Engeländer / Teresa und Iuan de la Cruz, ein Carmeliter Mönch / dessen Lied wir auß dem Spanischen geteutscht / hiernach gesetzet.« Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. II, Vorrede, Bl. )( )( )( 4v–)( )( )( 5r.

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3. Mehrfachverwertung als Methode und als Prinzip der wechselseitigen Erhellung Die Uhrenmetaphorik und die Aussage zum Verhältnis von Tradiertem und Eigenleistung bei der Andachtsübung mit ihrer Bezugnahme auf die Titelbilder der Sonntagsandachten lenken den Blick auf zwei Aspekte von Harsdörffers geistlicher Literatur, die bislang in der Forschung kaum Aufmerksamkeit gefunden haben: die Mehrfachverwertung bestimmter Texte innerhalb seines Œuvres und das Verhältnis seiner Übersetzungen fremder Vorlagen zu dem, was eher als seine eigene literarische Leistung zu gelten hat. Beide Aspekte, die Mehrfachverwertung und die thematisch-inhaltlichen Wechselbeziehungen zwischen Übersetztem und Eigenem, verleihen Harsdörffers Werk einen vertieften Zusammenhalt und größere Konsistenz; nach dem Prinzip der wechselseitigen Erhellung eröffnen sie zudem auch neue Möglichkeiten der Interpretation. Für die Sonntagsandachten hat Stefan Keppler neulich das beeindruckende Ausmaß der Mehrfachverwertung herausgearbeitet.51 Für die anderen geistlichen Schriften Harsdörffers wäre es noch zu ermitteln; es dürfte aber auch dort recht groß sein. Erste Indizien deuten jedenfalls darauf hin; so konnte z. B. festgestellt werden, daß Teresa de Avilas Sinnsprüche, die in einem Anhang zur NathanHälfte des ersten Teils von Nathan und Jotham abgedruckt wurden,52 teilweise – in anderer Anordnung und in neuen Sinnzusammenhängen – auch in der Ars Apophthegmatica anzutreffen sind.53 Das Uhrenbild auf dem Titelblatt der Sonntagsandachten ist selber ein Beispiel der Mehrfachverwertung; es wird nicht nur in beiden Teilen mehrfach, insgesamt dreimal, in unterschiedlichen Ausdeutungen eingesetzt;54 es findet

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Keppler (wie Anm. 1), namentlich S. XII*–XVII*. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 17), Tl. I, Bl. M 7r [187]–N7r [203]: »Anhang deß I. Theils / bestehend in Hundert Geistreichen Sprüchen / So gezogen Aus den Schrifften der Hispanischen Nonnen Teresa.« Harsdörffer: Ars Apophthegmatica (wie Anm. 28), Tl. I, S. 449–452 u. 552–535. Auf S. 449 heißt es: »Nachgehende Sprüche sind aus der Teresa geistreichen Schrifften genommen.« Folgende Entsprechungen ließen sich feststellen (die Zahl nach A bezieht sich auf die fortlaufende Numerierung der einzelnen Apophthegmata in der Ars Apophthegmatica, die nach N auf die Numerierung der Hundert Geistreichen Sprüche Teresas in Nathan und Jotham): A2111 = N1; A2112 = N15; A2113 = N16; A2114 = N17; A2115 = N20; A2116 = N21; A2117 = N25; A2118 = N26; A2119 = N27; A2120 = N36; A2121 = N37; A2122 = N54; A 2123 = N55; A2124 = N69; A2125 = N70; A2127 = N74; A2128 = N78; A2129 = N86; A2130 = N96; A2643 = N8; A2644 = N9; A2645 = N10; A2646 = N11; A2647 = N14; A2648 = N18; A2649 = N23; A2651 = N24; A2654 = N28; A2655 = N31; A2656 = N33; A2657 = N46; A2658 = N51; A2661 = N81; A2662 = N84. Auf dem Titelblatt zum ersten Teil der Sonntagsandachten mit einem Motto aus Psalm 38,5, auf dem Titelblatt zum zweiten mit Bezug auf Kolosser 3,2, beide Male dazu mit eigener »Erklärung deß Titelgemähls«. Als »Sinnbild An den Christlichen Leser« mit Verweis auf Römer 13,11, Lukas 12,40, Apokalypse 3,10 und Lukas 12,12 erscheint es schließlich in der »Zugabe« zum ersten Teil: Hugo Groten Einzeilige Fragen und Ant-

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Guillaume van Gemert

sich zudem, wiederum in einem anderen Kontext, auch in den Gesprächspielen.55 Darüber hinaus läßt es sich auf die Struktur sowie auf manch inhaltliches Moment von Harsdörfers Andachtsbuch beziehen; unter anderem auch auf ein Lied, für das dies in der Fassung, in der es in den Sonntagsandachten präsentiert wird, gar nicht offenkundig ist, das aber im folgenden als Beispiel für die Ergiebigkeit der Erforschung der Mehrfachverwertung und des Wechselbezugs von Übersetztem und Eigenem bei Harsdörffer näher zu betrachten wäre. Es betrifft das bekannte Lied Eröffne dich / O schwacher Mund | dem Höchsten Lob zu singen, das das unentwegte Gotteslob im Rhythmus des Pulsschlags thematisiert und auf die Kapitel 21 bis 24 von Friedrich Spees Güldenem Tugend-Buch zurückgeht.56 In den Sonntagsandachten ist es im achten ›Andachtsgemähl‹ des zweiten Teils anzutreffen, das von der Gottesknechtschaft und von der Gefahr, zum Satansdienst verführt zu werden, handelt.57 Es umfaßt hier insgesamt 13 Strophen;58 auf das Uhrenbild des Titelblatts verweist hier nichts, es gibt aber eine ältere 16-strophige Fassung aus dem Jahre 1651,59 deren achte Strophe das gläubige Ich als eine Uhr hinstellt,60 die auf Gott als Schöpfer der Natur ausgerichtet ist, und dessen Herz als den ständig im Pulstakt vorrückenden Zeiger: Ich bin gleich einer justen Vhr / in welcher eine Saiten hangt an dem Schöpfer der Natur Das Zeicher-Hertz zu leiten.

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worten über die Haubtlehren deß Christlichen Glaubens / Für seine Tochter Corneliam gestellt, und zwar auf Bl. Bb 8r. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VIII, Bl. )( )( 8v [28]: »An den Leser. Wer der Kunst nicht ist bericht / | urtheil von den Uhren nicht.« Vgl. Friedrich Spee: Güldenes Tugend-Buch. Hg. v. Theo G. M. van Oorschot. München 1968, S. 435 –449. Dazu Jörg Jochen Berns: »Vergleichung eines Vhrwercks, vnd eines frommen andächtigen Menschen«. Zum Verhältnis von Mystik und Mechanik bei Spee. In: Friedrich von Spee. Dichter, Theologe und Bekämpfer der Hexenprozesse. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Gardolo di Trento 1998, S. 101–206, hier bes. S. 156–161. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. II, S. 36–42. Vgl. bes. S. 36: »Daß die Kinder Gottes ihre anererbte Freyheit / gegen die Eitelkeit der Welt nicht spielen und verspielen sollen / damit sie nicht dardurch in deß Satans Knechtschafft gerathen.« Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 1), Tl. II, S. 38–41. Vgl. Georg Philipp Harsdörffer: Pulsilogium spirituale. Das ist: Geistliche Pulßkundigung Oder Eine sondre art / den Höchsten und allerheiligsten Gott unaufhörlich zu loben und zu preisen. Auß deß WolEhrwürdigen und Geistreichen Pat. Friderici Speei Tugendbuch / am 602. und folgenden Blättern genommen / und verfasset Nach der Stimme: Allein Gott in der Höhe sey Ehr etc. Nürnberg 1651; abgedruckt in: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. v. Wolfgang Harms. Bd. 3: Die Sammlungen der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Tl. 3: Theologica. Quodlibetica. Tübingen 1989, S. 170f. Zum Verhältnis der beiden Fassungen des Liedes vgl. Guillaume van Gemert: Die Nürnberger und Spee. Frühe protestantische Auseinandersetzungen mit seiner Frömmigkeit. In: Morgen-Glantz 4 (1994), S. 119–154, bes. S. 128–130.

Andächtige Liebesglut und kurioses Welttheater

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So vielmals sich mein Hertz bewegt; so offt es Heilig Heilig schlägt / jetzt und zu allen Zeiten.61

In der Forschung wurde das Lied bislang im Kontext einer Tendenz zur Permanenz des Gotteslobs mittels Mechanisierung der Andacht angesehen, wobei »die angestrebte Kontinuität […] nicht vom […] Konzentrationsgrad und willentlicher Gedankenpräsenz des betenden Menschen mehr abhängig sein soll«, wenn sie hier auch gerade »durch die Unruhe – der Uhr und des Herzens – erreicht« wird.62 ›Mechanisierung‹ hieße gewissermaßen aber auch eine Veräußerlichung der Andachtsübung, was nicht recht passen will zu der von Harsdörffer für die Andacht geforderten Affektintensität, die ja die Brücke vom tradierten Andachtsmaterial zur meditativ-emotionalen Eigenleistung sein soll. Das Lied ist allerdings in Harsdörffers Œuvre noch ein drittes Mal überliefert,63 in einer von ihm übersetzten Schrift des französischen Jesuiten Paul de Barry,64 und zwar in einem Verwendungszusammenhang, der den beobachteten Widerspruch auszuräumen scheint. Die Vorlage, Les saintes intentions de Philagie,65 von 1637–1644 wurde von Harsdörffer unter dem Titel Die H. Meinungen oder Verträge / zwischen Gott / und der Ihme ergebenen Seele übersetzt66 und 1653 zusammen mit seiner deutschen Fassung der Deliciae divini amoris des italienischen Theatiners Luigi Novarino67 als Göttliche Liebes-Lust / Das ist: Die verborgenen Wolthaten Gottes / Zu Erweckung himmlischer Liebe entdecket veröffentlicht.68 Barry empfiehlt dem Gläubigen unterschiedliche Pakte mit Gott zu schließen, wobei vereinbart wird, daß ein kurzes Stoßgebet eine Vielfalt an umfassenden Lobpreisungen oder Bitten einschließen soll, so daß wenige Worte »vol seind deß heimblichen Verstands«. Anzuwenden seien die Stoßgebete mit 61 62 63 64

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Harsdörffer: Pulsilogium spirituale (wie Anm. 59). Vgl. Berns (wie Anm. 56), S. 120. Vgl. dazu auch Krebs: G. Ph. Harsdörffers geistliche Embleme (wie Anm. 9), S. 550–551. Zu ihm vgl. Michel Olphe-Galliard: Barry, Paul de. In: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire. Hg. v. Marcel Viller, André Derville u. a. Paris 1937, Bd. 1, Sp. 1252–1255. Dazu Carlos Sommervogel: Bibliothèque de la Compagnie de Jésus. Brüssel u. a. 1890, Bd. 1, Sp. 945–957, bes. Sp. 948. Die H. Meinungen oder Verträge / zwischen Gott / und der Ihme ergebenen Seele: Erkläret in XXXIII. Bedingen oder Handlungen durch H. Paul de Barry. Mit eigener Paginierung, aber ohne eigentliches Titelblatt mit Orts- und Verlagsangabe angebunden an Georg Philipp Harsdörffer: Göttliche Liebes-Lust / Das ist: Die verborgenen Wolthaten Gottes / Zu Erweckung himmlischer Liebe entdecket / Von Aloysio Novarino. Diesem sind angefügt H. Pauli de Barry Heilige Meinungen oder Verträge mit Gott. Zu nützlicher Ergötzlichkeit in die hochteutsche Sprache überbracht Durch Ein Mitglied der hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschafft. Wolfenbüttel 1653. Vgl. Francesco Andreu: Novarino, Luigi. In: Dictionnaire de Spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire. Hg. v. Marcel Viller, André Derville u. a. Paris 1982, Bd. 11, Sp. 473–477. Harsdörffer: Göttliche Liebes-Lust (wie Anm. 66).

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ihrem tieferen Sinngehalt von Vielbeschäftigten, von Reisenden unterwegs oder in Zeiten der Dürre des Gemüts, aber auch um einen gewissen Rhythmus der Andachtsübung herzustellen, so schreibt Barry: Hiermit hast du / geliebter Leser / die aufrichtigste und heiligste Fündt der Seel / welche als eine rechte Liebhaberin der Heiligkeit / nach diesem strebt und verlangt; diese Fündt werden erkläret durch unterschiedliche Pact und Verträg / welche die gesagte Seele mit Gott dem Herrn macht und eingehet: Welche sehr tauglich seind zur auffenthaltung deß Geists / durch deren öfftern Gebrauch: So zwar wenig Wort in sich halten / aber vol seind deß heimblichen Verstands. Diese kanst du dir zu Nutz machen auf vilerley Gelegenheiten: Entweders an stat der Betrachtung durch ein Monat im Jahr / alle Tage einen Pact vorzunemmen / oder aber auff die weiß Gottseeliger Gedancken / einen gewissen Puncten jeglichen Tag zubenamßen. Wird auch nicht unrecht seyn / daß solche von dir gebraucht werden / wann du zur Zeit des vorgenommenen / sonderlich jnnerlichen Gebets dich untauglich befündest / und ein solche Dürre deß Gemüts verhanden ist / daß du entweder mit Gott / wie du wilst / nicht handeln / oder inn der vorgenommenen Materi der Betrachtung nicht fortkommen kanst / so ists ja vernünftiger gehandelt / daß man solche nützliche Gedancken vornehmen / als daß solche Zeit verlohren werde / und in den zerstreuungen und Unlust ohne Nutz verschleiche. Wann auch auff einer Reiß sich jemand in dem Gebet und nützlichen Betrachtungen auff halten / und sein Gemüth zu Gott erheben wolte / und doch wegen so vieler / unter die Augen stossenden Sachen / nicht könte bey sich versamblet bleiben / kan er durch wiederholung nachfolgender Meinung einen behülff haben.69

Harsdörffer deutet Barrys Pakt in einem eigenen »Vorbericht« umständlich im Spannungsfeld von Analogien und Symbolen als »Wahl- oder Bedingzeichen«:70 Deß Autoris Meinung recht zu fassen / muß man vorberichtlich wissen / was er mit seinen Bedingen vermeinet und haben wil? Gleich wie zweyerley Reden. 1. Nach dem Wortverstand / wann man eine Sache / wie sie selber ist heraus saget; und die andre nach dem figurlichen Gleichniß verstand / wann ein anders durch die Wort bedeutet wird: Also sind zweyerley Gemähl und Zeichen / deren die ersten mahlen eine Geschichte / wie sie verloffen / die andren eine Gleichniß der Geschichte welches ein Sinnebild / oder solches Bild heisst / darunter ein Sinn und heimlicher Verstand verborgen ist.

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Harsdörffer: Göttliche Liebes-Lust (wie Anm. 66), Vorrede, Bl. A 1v–A 2v. Vgl. auch Harsdörffer: Göttliche Liebes-Lust (wie Anm. 66), Bl. A 6r–A 6v: »Ein schönes Exempel solcher Wahl- oder Bedingzeichen liset man in dem Tugendbuch D. Friederich Spees / am 598 und folgenden Blättern / da Er mit Gott bedinget / daß wann sein Puls schläget / es so viel seyn sol / als wann er sagte: Heilig / Heilig / Heilig ist unser Gott (Es. 9/3. Apoc. 4/8) besiehe den Lobgesang zu Ende. Es handelt auch von den Zeichen D. Jacob Mosen / in speculo Imaginum, da er weiset / wie die einmahl gewehlte oder von der Natur gegebene Zeichen / von allen und jeden angenommen unnd durchgehend beliebet werden.«

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Diese letzte Art / bestehet nicht allezeit in dem Gemähl / sondern vielmahls in dem Thun / als wann Christus Luc. 11/30. Die Geschicht Jonä auff sich deutet / und der Apostel Paulus die Verstossung Ismaels / auff die Verstossung der Jüden ziehet. Gal. 4/30. Solcher Zeichen sind nun zweyerley: 1. Werden sie von einer Vergleichung hergenommen / wie dorten der König Joas die Erde dreymahl geschlagen / und dardurch unwissend den Sieg wieder die geschlagenen Syrer bedeutet / wie ihm solches Elisa erkläret / sagend: hättest du fünff oder sechsmahl geschlagen / so würdest du die Syrer geschlagen haben / biß sie auffgerieben weren: Nun aber wirst du sie dreymahl schlagen. 2. König 13/18 19. Dieses / und dergleichen Zeichen / werden Signa ex Congruo genennet / weil sie mit ihre Bedeutung eine Vergleichung haben / wie dieses Orts das Schlagen. 2. Werden die Zeichen bedinget / ob sie gleich mit ihrer Deutung gantz keine Vereinbarung haben / und werden genennet Signa ad placitum vel ex Instituto. Solche Zeichen sind gewesen die geelen Läpplein auff der Juden Kleidern / darbey sie der Gebote Gottes eingedenck seyn solten / 4. Mos. 15/38/ ob wol solche Läpplein / mit besagtem Göttlichen Geboten gantz keine Vergleichung haben. Diese auffgesetzete Zeichen bestehen entweder in Werken / als Winken / Deuten / Klopffen / oder in Zeichen und Bildern / wie erst gedacht worden: Beede werden Characteres reales, würckliche Kennezeichen genennet: oder sie beruhen in Worten und Schrifften / und dieses sind die Mittel andern unsre Gedancken zu offenbahren. Von den Wahlzeichen (Signis ex Congruo) so nach belieben zu einem Vorhaben ausgewehlet und erfunden werden / handelt gegenwertiges Büchlein Herrn de Barry / dergestalt / daß Er mit Gott etliche Gedinge auffrichten will / daß wenig und kurtze wort eine weitschweiffige Meinung bedeuten sollen / und solcher massen können sie für Wahl-Zeichen gelten: In dem sie aber zu ausdruckung ihrer Meinung schickliche Wort führen / können sie auch für Gleichnis-Zeichen / die mehr deuten als sie sagen / gehalten werden.71

Solche ›Wahl- und Bedingzeichen‹ passen nahtlos zu der Theorie der ›Andachtsgemähle‹, und das Pulsgedicht, das im Grunde Harsdörffers Verdeutschung von Barrys Traktat einrahmt, da es im ›Vorbericht‹ als ›schönes Exempel‹ der ›Wahloder Bedingzeichen‹ angekündigt und am Schluß dann abgedruckt wird, ist denn auch eher ein Beispiel für die Kosmisierung oder Universalisierung der Andacht aufgrund eines von der analogia entis geprägten Weltverständnisses als von deren Mechanisierung oder Automatisierung.72 Automatisierte Andachtsübungen lehnt Harsdörffer vielmehr ausdrücklich ab: Die Frage ob man im Traum beten könne etwa, verneint er in den Gesprächspielen mit Bestimmtheit, weil in solchen Fällen die »hertzbrünstige Andacht« fehle, wenngleich er einräumt, daß mystisch begnadete Personen möglicherweise auch im Traum weiterhin zu Gott

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Harsdörffer: Göttliche Liebes-Lust (wie Anm. 66), Vorbericht, Bl. A 4v–A 6r. Berns (wie Anm. 56), S. 193, spricht von der »Automatisierung des Gotteslobes in der Automotorik des menschlichen Körpers«.

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Guillaume van Gemert

in Bezug zu stehen in der Lage sind und daß Einschlafen während des Gebets dieses nicht ungültig mache.73 Weitere Beispiele der gegenseitigen Erhellung von Übersetzung und eigenen Schriften ließen sich etwa beibringen aus dem Barry-Traktat als Beleg für den zentralen Stellenwert der Lieder in Harsdörffers Frömmigkeitsauffassung, aus der Novarino-Übersetzung, aus den Exempelsammlungen, da dort die Exempel der Guten und der Bösen als verborgene Wohltaten Gottes dargestellt werden oder aus der Camus-Übersetzung Pentagone Historique […] Historisches Fünffeck von 1653,74 wo die theatrum vitae humanae-Metapher in geistlichem Sinne vertieft wird: Diese Welt ist ein grosser Schauplatz / auf welchem man täglich Trauer- und Freuden-spiele vorstellet. Gott und die Engel sind die Zuschauer / wie auch etliche von den Menschen-Kindern / welche auß auß [sic!] andrer Schaden sich bespieglen und kluger werden. Gott im Himmel schauet zwar andrer Gestalt auff das niedrige / als die Engel / und erkundiget das jnwendige der Hertzen: Die Engel und Menschen sehen nur auff das äusserliche / was für Augen ist / und betrieget der Wahn und beschminckte Schein vielmahls die aller-scharffsichtigsten / daß man nicht mehr sagt: wer nicht heuchlen oder sich nicht verstellen kan / der kan nicht regieren: sondern; wer sich nicht verstellen kan / der kan fast nicht leben. Ein jeder träget eine Larven: die Stirn ist kein gewisses Kenn-zeichen mehr der Gedancken / und die Rede die

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 14), Tl. VIII, Nr. 277, S. 19 [59]– 20 [60]: »14. C. Hierbey fragt sichs: Ob man auch in dem Schlaff beten könne? 15. J. Weil zu dem Beten eine hertzbrünstige Andacht erfordert wird / ist diese Frage / sonder allen Zweiffel mit Nein zu beantworten. 16. D. Wir können im Gebet unsre Gedanken wachend nicht beysammen halten / zu geschweigen / daß wir es in dem Schlaff thun sollten / da wir derselben nicht mächtig. 17. A. So wenig ich traumen kann / was ich will; so wenig kan ich in dem Schlaff reden / oder beten / was ich will. 18. R. Ein Mensch / der seinen Sinn gäntzlich Gott ergeben / und mit demselben mehr / als mit den Menschen zu reden pflegt / kan gar wol auch von solchem heiligen Gespräch traumen / und das / was ihm anligt / so wol schlaffend / als wachend Gott vortragen: allermassen vermutlich / der Höchste habe nicht nur mit den H. Propheten im Traum geredet; sondern sie auch widerüm mit ihm / und üm Erklärung der Gesichte und Abwendung der angedrohten Straffe eiferigst angeflehet. Daher stehet bey dem Propheten Joel / daß die Alten im Newen Testament werden Träume / und die Jünglinge Gesichter haben / welche etwas deutlicher und höher zu achten / als jene. Ein Exempel haben wir an Salomo / der von Gott Weisheit erbetten im Traum. 19. V. Der grundgütige Gott vergnügt sich in unsrer Vnvollkommenheit mit dem Willen / wann wir in dem Gebet einschlaffen / mit dem Vorsatz selbes fortzusetzen / so höret Gott auch die Rede unsrer Gedanken / und nimt solchen Willen / als geschehen auß Gnaden an. Dem heiligen Geist ist dieses leicht / und wie böse Leut von geschehenen Dingen im Schlaff vielmals zu reden pflegen; also können auch wol die Frommen ihre Andachten schlaffend vollführen.« Georg Philipp Harsdörffer: Pentagone Histoirique [sic!] H. von Belley / Historisches Fünffeck / Auf jeder Seiten Mit einer denckwürdigen Begebenheit gezieret: Diesem sind angefüget H. Joseph Halls Kennzeichen der Tugenden und Laster gedolmetscht. Frankfurt/M. 1652. Zu der Vorlage vgl. Dünnhaupt (wie Anm. 15), Bd. 3, S. 2010.

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Dolmetscherin deß verborgnen Willens / massen ein gutes Spiel ein trauriges / und ein böses Spiel ein auffgeheitertes Angesicht weiset.75

Das Pulsschlaggedicht soll hier aber genügen als Beleg für die Ergiebigkeit eines solchen Ansatzes.

4. Fazit: Zweckdienliche Überkonfessionalität statt Irenismus Abschließend wäre noch zu fragen, ob Harsdörffers Überkonfessionalität im Umgang mit seinen Quellen im Bereich der geistlichen Literatur tatsächlich primär Ausdruck eines Irenismus oder eines Unionismus bzw. Synkretismus wäre, wie sie sich damals etwa zur selben Zeit im Religionsgespräch des Ernst von Hessen-Rheinfels oder im von der Braunschweig-Lüneburgischen Universität Helmstedt ausgehenden Synkretismusstreit artikulierten? Fand er nicht vielmehr in der katholischen Andachtsliteratur, namentlich der jesuitischen, sowie in der Karmelitermystik die Anschaulichkeit und die Gefühlsinnigkeit vor, die er für seine ›Andachtsgemähle‹ brauchte? Offensichtlich sind keine expliziten Stellungnahmen Harsdörffers zum Irenismus oder zum Synkretismus überliefert,76 was man schon erwarten sollte, wenn solche gezielt konfessionsübergreifenden Bemühungen ihm Selbstzweck gewesen wären. Ihm dürfte es eher um Methodisch-Praktisches als um Inhaltliches gegangen sein. Das Gebet und die Betrachtung als ›Einbahnstraße‹ zu Gott sind ohnehin nicht der Ort für interkonfessionelle Auseinandersetzungen. Er scheint die Überkonfessionalität gezielt in den Dienst seiner Andachtsbemühungen gestellt zu haben, für die er sich einen möglichst breiten und effektiven Materialfundus im Sinne des Modellund Methodenvorrats sichern wollte.

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Harsdörffer: Pentagone Histoirique (wie Anm. 74), S. 89f. Zu Harsdörffers vermeintlichem Irenismus bzw. Synkretismus vgl. Battafarano: Übersetzen und Vermitteln im Barock (wie Anm. 13), S. 28–42. Dazu auch Keppler (wie Anm. 1), S. XXXVIII*–XLII*.

Stefan Keppler-Tasaki

Himmlische Rhetorik Harsdörffers Poetik des Gebets zwischen lutherischer Orthodoxie und europäischem Manierismus

1. ›testatur experientia‹: Die Allianz mit Dilherr und ihre internationale Absicherung Am 22. September 1658, einem Sonntag, predigt der Nürnberger Hauptpastor Johann Michael Dilherr an der Leiche seines Freundes Georg Philipp Harsdörffer. Hierzu schildert er dem versammelten Magistrat und der Bürgerschaft die letzten Lebenstage ihres prominenten Mitglieds. Als er ihn »in der jüngstverwichenen Wochen / an dem Donnerstag / und Freitage / früe« seiner »Schuldigkeit nach / besuchte«, habe der gelehrte Mann »seine Erquickung« aus dem »etlich mahl« wiederholten Gebetsruf hergenommen »Herr! meine Zeit stehet / in Deinen Händen.« Obgleich der Sterbende bereits geistig umnachtet gewesen sei, habe sich sein »Verstand« doch bei dem lieben Gebeth […] allezeit gantz gesund und unverletzt erwiesen: so gar / daß er nicht allein alle Wort verständig und bedachtsam nachgesprochen; sondern auch sich selbsten auf das herrlichste / wider alle Anfechtungen / getröstet und gestärcket.

Einige Tage später, als ihm in seiner letzten Stunde außer dem Gehör »alle anderen Sinne schon erstorben« waren, habe er »biß an den letzten Odem / alle Gebethe der Umstehenden im Herzen mitsprechen können: welches er denn bei Nennung des H. Nahmens Jesus / mit / wiewohl schwerer / Neigung deß Haupts / bezeugte«.1 In den Details des Todeskampfes und den Funktionen des Gebets verfährt diese Funeralpredigt durchaus gattungstypisch.2 Zugleich aber ist sie das indivi-

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Johann Michael Dilherr: Des Menschen Stand in Gottes Hand: Aus dem 31. Psalm / vers. 16. Bei Volckreicher und Trübseeliger Leichbegängnis Deß Herrn Georg Philipp Harsdörffers / deß Innern Raths / in dieser löblichen deß H. Reichs freien Stadt Nürnberg; An dem 22. Septembr. 1658. in der Gottesackerkirchen zu S. Johanns erkläret. Nürnberg 1658, S. 21. Zu Harsdörffers Lebensende vgl. auch Helge Weingärtner: Harsdörffers Ratsmitgliedschaft und Ende. In: Georg Philipp Harsdörffer zum 350. Todestag. Hg. v. Pegnesischen Blumenorden. Nürnberg 2008, S. 23–26. Vgl. die Darlegung des Musters bei Cornelia Niekus Moore: Patternd Lifes. The Lutheran Funeral Biography in Early Modern Germany. Wiesbaden 2006, bes. S. 77ff.

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duelle Dokument einer ungewöhnlichen Allianz, die von Beginn an im Zeichen der praxis pietatis, der eloquentia sacra und besonders der oratio devota, des Gebets, stand. Von Seiten Dilherrs impliziert Freundschaft eine persönliche pastorale Fürsorge. Regelmäßig versichert er den ihm Nahestehenden seines »inbrünstigen Gebet[s]«3 und empfiehlt sich als »Gebet= und Dienstwilliger«.4 Umgekehrt demonstriert der Schriftsteller wiederholt einen Schulterschluß, der auf einer gemeinsamen Frömmigkeitspraxis gründet. In einem »Sendschreiben« zur zweiten Auflage von Dilherrs Gartenbetrachtungen erklärt er, dieses zuerst 1647 erschienene Predigt-, Gebet- und Liederbuch »nicht nur schriftlich / sondern auch hertzlich« rezipiert zu haben.5 Ebenso wie für seine eigene Produktion geistlicher Texte reklamiert er dafür einen privaten Verwendungszusammenhang. Den ersten Band der Hertzbeweglichen Sonntagsandachten widmet er 1649 Dilherr, nachdem dieser ihm im selben Jahr die Predigt- und Gebetsammlung der Heiligen Sonntagsfeier zugeeignet hatte. Harsdörffer beteuert nicht nur, sein hoher Freund habe ihn »inständig ermahnet«, »diese Sonntagsarbeiten gemein [zu] machen«, sondern dankt ihm ebenso für die Fürsprache beim skeptischen Verleger und selbst dafür, daß er »etliche Gebetlein darzu verfasset« habe.6 Die Tatsache, daß ihm sein einziges ausschließliches Erbauungsbuch zu seinem einzigen ausgesprochenen Mißerfolg beim Publikum geriet, läßt ihn beklagen, bei zu vielen Christen sei »die Andacht und Gottseligkeit gantz erloschen« – eine Einschätzung, die – wie wir noch sehen werden – bei einem Freund und theologischen Adepten Dilherrs nicht von ungefähr kommt.7 In seiner Leichenpredigt auf dem Sankt Johannis-Friedhof reklamiert der Nürnberger Kirchenvorsteher sendungsbewußt, es sei »nicht allein hier / sondern auch anderswo / bekannt«, »in was für aufrichtiger und Christlicher Vertrauligkeit« Harsdörffer und er »nun über sechszehen Jahr […] miteinander unausgesetzt gelebt« hätten.8 Eine Sinnfigur funeralbiographischer Darstellungsmuster vollziehend, spielt er der Existenz des verstorbenen Individuums heilsgeschichtliche Bedeutsamkeit zu. Bereits bei früheren Gelegenheiten stilisieren der Pastor und der Dichter ihr intimes Einvernehmen im Zeichen eines öffentlichen Auftrags. Das Bündnis, das sie eingegangen sind, hat seinen Gegner in der 3

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Johann Michael Dilherr: Der Trostreiche Jeremias: fürgestellet / in Drei Predigen / über die herrliche Wort: Die Güte deß Herrn ists / daß wir nicht gar aus sind. Nürnberg 1648, Bl. )( ii r. Johann Michael Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage: Oder Vier Predigen / Samt beygefügten Gebeten. Nürnberg 1648, Bl. )( ixv. Georg Philipp Harsdörffer: Sendschreiben. In: Johann Michael Dilherr: Christliche Welt= Feld= und Gartenbetrachtungen: darinnen Bewegliche Andachten / Andächtige Gebetlein / Liebliche Historien / und Neue anmutige Lieder zu befinden. 2. Aufl. Nürnberg 1648, Bl. A viv. Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649–1652). Nachdruck hg. v. Stefan Keppler. Hildesheim u. a. 2007, Tl. I, Bl. A iii r–A vv. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. II, S. 459. Dilherr: Des Menschen Stand (wie Anm. 1), S. 4.

Himmlische Rhetorik

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Glaubensträgheit, sein Ziel in der konsequenten, von der Gebetspraxis angeführten Sakralisierung der Lebenswelt. Es handelt sich um die Reaktion auf eine tief empfundene Frömmigkeitskrise, die nicht nur Bestandteil eines politischen oder wirtschaftlichen Problemkomplexes ist und mehr als die topische, jederzeit mögliche Klage über die Tatsache von Säkularität.9 Niemals seit dem Frühchristentum stellte sich in dieser Schärfe die Frage, warum der Advent eines einschneidenden Heilsereignisses die individuellen und sozialen Verhältnisse zwar von Grund auf verändert, aber nicht verbessert hat. Die nachreformatorischen Theologengenerationen warten vergeblich darauf, daß der Glaube neu unter ihnen aufblühen, Glaubensträgheit zur Sache einer überwundenen kirchlichen Fehlentwicklung würde. In der Vorrede zu seinen Gartenbetrachtungen formuliert Dilherr präzise diese Diagnose: »vor hundert und mehr Jahren« habe Gott das »Gold des Glaubens wider geläutert [...]: daß nun nichtsmehr ermangeln könne / als / daß man lebte / wie man gläubte [...]. Aber was geschicht? Sehr viel [...] haben das Liecht; wandeln aber nicht in dem Liecht.«10 Die angeknüpfte Metaphorik fortführend, beklagt er 1646 im Weg zu der Seligkeit – einer praktischen Glaubenslehre mit angefügtem Gebetbuch – die »Finsternisse deß Unglaubens / der mitten in der Kirchen also eingerissen«. Näherhin lokalisiert er das Übel darin, daß die »Wort deß Christlichen Glaubens sich mit den Wercken nicht berühren«.11 Es fehlt ihm bei aller Wortverkündigung, die durch die sonntägliche Predigt erfolgt, die Nachhaltigkeit dieses geistlichen Wirtschaftens, die sich im täglichen und stündlichen Gebet ausdrücken müßte. In den Fast= Buß= und Bethtagen vermerkt er 1648 ausdrücklich den »bisher verspürte[n] vorsätzliche[n] Ungehorsam [...] gegen die angehörte Predigen« und gibt den in diesem Buch versammelten Predigttexten eine Gebetssammlung bei, damit diejenigen, die sich die Kanzelrede zu Herzen gehen lassen, »desto bessere Anleitung […] haben möchten«.12 Beten wird zum Vehikel, die Predigtbotschaft in das Alltagsleben zu tragen. Bei den Mitteln, zu denen Dilherrs Bekehrungskampagne im Einzelnen greift – und dazu gehört das commercium mit Harsdörffer –, stellt er sich in die vorderste Reihe der lutherischen Reformorthodoxie. Die Dogmatik der Lehre soll orthodox bleiben, die Pragmatik der geistlichen Übung zu international erfolgreichen Modellen geöffnet werden.13 Theologisch unterhält dieser Standpunkt Bezüge

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Zur Diskussion um die Frömmigkeitskrise vgl. Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995, S. 9–33; vgl. auch ders.: »Wie bringen wir den Kopff in das Hertz?« Meditation in der Lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. In: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000, S. 11–35. Dilherr: Gartenbetrachtungen (wie Anm. 5), Bl. A iiii r. Johann Michael Dilherr: Weg zu der Seligkeit: So gezeiget wird / in dieses Büchlein Vier Theilen. Nürnberg 1646, Bl. )( iii. Johann Michael Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 141 u. Bl. )( ix r. Zur Erscheinung der Reformorthodoxie anhand Dilherrs vgl. Hans Leube: Die Reform-

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zu einer Irenik, die sich nicht als Entkonfessionalisierung, sondern als Kommunikationsreform versteht.14 Poetologisch kommt er mit Harsdörffers Praxis des intellektuellen und ästhetischen Synkretismus überein, die den europäischen Anschluß der deutschen Kultur bezweckt.15 Seiner akademischen Filiation nach stammt Dilherr (1604–1669) geradewegs aus dem Inneren der Orthodoxie. Nach Anfängen in Leipzig, Wittenberg und Altdorf hat er bei Johann Gerhard in Jena studiert, auf dessen Lehrstuhl er ihm 1640 nachfolgte. In einer Anmerkung zum Weg zu der Seligkeit nennt er diesen bedeutendsten Vertreter der lutherischen Orthodoxie (1582–1637), der den Reformansätzen Johann Arndts (1555–1621) mit Mißtrauen entgegentrat, »Praeceptor meus optime [...] meritus«16. Dilherrs Unternehmen, Gottes Wort vom Hauptstrom der Predigt »durch die Röhrlein des Gebets« zu leiten, findet prinzipiell Rückhalt bei Gerhard, der schreibt: »Das Gebet ist so hoch für Gott angesehen / das der gantze Gottesdienst und alle schuldige Ehre / so wir Gott dem Herrn leisten / durchs Gebet manchmal wird verstanden.«17 Obwohl als Lehrer, Dekan und Rektor der Universität Jena höchst erfolgreich, wechselt Dilherr 1642 nach Nürnberg, das ihm eine Stelle für öffentliche Vorlesungen einrichtet und ihn mit der Kirchenleitung, der Schulaufsicht und der Zensur beauftragt. Seine bald nach dem Weggang von der Universität erschienene Oratio De Theologia recte addiscenda liest sich wie eine Begründung dieses Schritts, wenn er dafür hält: »Theologiam esse disciplinam practicam: quae non in nuda

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ideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924, S. 100–104; sowie Gerhard Schröttel: Johann Michael Dilherr und die vorpietistische Kirchenreform in Nürnberg. Nürnberg 1962. Johannes Wallmann (Pietismus-Studien. Tübingen 2008, S. 8–12) kritisiert die Forschungskonstruktion einer Reformorthodoxie, läßt den Befund aber für den Dilherr-Kreis als einem »begrenzten Bereich des orthodoxen Kirchentums« gelten (ebd., S. 12). Zur Bestimmung von Irenik im Unterschied zu Unionismus vgl. Hans-Joachim Müller: Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645. Göttingen 2004, S. 29–58. Zu Dilherrs irenischer Praxis vgl. Schröttel (wie Anm. 13), bes. S. 26–29. Zu Harsdörffers gewagten Synkretismen vgl. exemplarisch Jörg Jochen Berns: Gott und Götter. Harsdörffers Mythenkritik und der Pan-Theismus der Pegnitzschäfer unter dem Einfluß Francis Bacons. In: Georg Philipp Harsdörffer. Ein deutscher Dichter und europäischer Gelehrter. Hg. v. Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991, S. 23–81; zu seiner Internationalisierungsstrategie Italo Michele Battafarano: Literatur versus Krieg. Harsdörffers Beitrag zur Europäisierung deutscher Kultur. In: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u. a. 1994, S. 85–100. Dilherr: Weg zu der Seligkeit (wie Anm. 11), S. 708. Zu Gerhard vgl. Jörg Baur: Luther und seine klassischen Erben. Tübingen 1993, S. 335–356; sowie zu dessen Gebetsauffassung Johann Anselm Steiger: Johann Gerhard (1582–1637). Studien zur Theologie und Frömmigkeit des Kirchenvaters der lutherischen Orthodoxie. Stuttgart u. a. 1997, S. 134ff. Johann Gerhard: Schola pietatis: Das ist / Christliche und Heilsame Unterrichtung / was für Ursachen einen jeden wahren Christen zur Gottseligkeit bewegen sollen / auch welcher Gestalt er sich an derselben üben soll (1622–1623). Nürnberg 1653, S. 675 u. 691.

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acquiescit speculatione, sed tendit ad operationem.«18 Bis zu diesem Zeitpunkt hat er sich im Unterschied zu Gerhard kaum jemals dogmatisch oder systematisch relevant geäußert. Seine Neigungen galten der Musik und mehr noch der Beredsamkeit und Poetik: Fächer, für die er bereits seit 1631 und 1634 Jenaer Professuren begleitete. Ihnen bleibt er treu als bewegender Prediger und produktiver Erbauungsschriftsteller, der auch die gebundene Rede übt und beherrscht. Dagegen schwächt er ältere aszetische Positionen unter den patrizischen Bedingungen Nürnbergs ab. Der praktische Theologe Dilherr ist ein idealer Partner des Sprachpolitikers und Kulturvermittlers Harsdörffer, der das reichsstädtische Engagement des bekannten Theologen mit Lobversen begrüßt und ihm ein halbes Jahrzehnt später – nun als seinem »Gevatter« – bescheinigt, er habe »absonderlich unsre Teutsche Sprache« und deren »unbefleckte Reinigkeit« »in unsren Gemeinen eingeführt«.19 Die Sprachreform verspricht der Glaubensreform die Flügel des Pegasus zu verleihen. Gemeinsam arbeitet man an der für notwendig gehaltenen »Wideranzündung eines helleuchtenden Glaubens«20, an einer Reform des lutherischen Lebens von innen, wozu man gewisse Hilfsmittel von außen herbeizieht. Bereits dort, wo sich Dilherr und Harsdörffer an Formulierungen Luthers und seiner klassischen Erben anlehnen, erzeugen sie durch das Spiel der Kompilation – dessen Auswahlprozessen, Neuverknüpfungen und Weglassungen – verschobene Bedeutungen. Zum anderen importiert man zwar nicht katholische Glaubenssätze, aber doch Glaubensübungen, die sich in der altgläubigen und gegenreformatorischen Frömmigkeitspraxis bewährt zu haben scheinen. Dilherr legt in seiner Vorrede des Wegs zu der Seligkeit ein grundsätzliches Bekenntnis zu Luther ab, um daraufhin anzukündigen, er sei »bereit [...] / einem jeden / der mich / auß einem Christlichen Gemüt / und auß rechter Begierde Gott und dem Nechsten zu dienen / in einem und dem andern erinnern würde / williglich Raum und Statt zu geben«.21 Harsdörffer rückt ein ›Sendschreiben‹ über geistliche Poesie in die dramatische Dichtung Der leidende Christus (1645) des Nürnberger Theologen Johann Klaj ein, der für seine freundliche Haltung zum Katholizismus notorisch war.22 Das Sendschreiben empfiehlt, »lieber den Saft und Kraft aus 18

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Johann Michael Dilherr: Icarus Academicus. Nürnberg 1643, Bl. E 3r. Daß Theologie eine praktische Wissenschaft wie Medizin sei, vertritt auch Gerhard; vgl. Ernst Koch: Therapeutische Theologie. Die Meditationes sacrae von Johann Gerhard (1606). In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 13 (1987), S. 25–46. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. I, Bl. A vv. Vgl. John Roger Paas: In Praise of Johann Michael Dilherr. Occasional Poems Written in 1644 by Sigmund von Birken, Georg Philipp Harsdörffer, and Johann Klaj. In: Daphnis 21 (1992), S. 601–613, hier S. 604f. u. 612f. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), Bl. )( 4r. Dilherr: Weg zu der Seligkeit (wie Anm. 11), Bl. )( iiii r. Zu Klajs konfessioneller Aufgeschlossenheit vgl. Albin Franz: Johann Klaj. Ein Beitrag zur deutschen Literaturgeschichte des 17. Jahrhunderts. Marburg 1908, bes. S. 244f.

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andern Büchern [zu] ziehen / unsre Sprache zu versüssen / als aus eigenem Vermögen viel undienliches zusammen[zu]weben«.23 Konfessionsgrenzen sind hierbei nicht vorgesehen. Und tatsächlich vollzieht sich unter dem Angebot des Gehörgebens und dem Anspruch der Gelehrsamkeit ein reger Handel mit der katholischen und anglikanischen Glaubenssphäre: ein Transport der Formen und Materialien, in dem Aspekte der spirituellen Tendenz mit unterlaufen. Dilherrs Meditations- und Gebetbuch Göttliche Liebesflamme von 1651, zu dem Harsdörffer die Bildkommentare beiträgt, bezieht seine brautmystischen Anteile aus den Pia desideria (1624) des flandro-belgischen Jesuiten Hermann Hugo.24 1657 hat sich Dilherr nachgerade zum Promotor jesuitischer Andachtsmethoden gemacht, als er eine Nürnberger Ausgabe des anonym verfaßten Güldenen Kleinods der Kinder Gottes mit der Empfehlung seines Vorwortes versah. Diese von dem englischen Jesuiten Robert Parsons stammende, erstmals 1612 ins Deutsche übersetzte Erbauungsschrift nimmt wesentliche Anleihen bei Ignatius von Loyola, weitere bei Luis de Granada (hinsichtlich des Gebets vor allem im dritten Teil).25 Der »Lehre halber«, das heißt unter dem Aspekt der Dogmatik, hält Dilherr die deutsche Ausgabe für evangelisch bereinigt; die originale Pragmatik der geistlichen Übung heißt er hingegen ausdrücklich gut. Über die konfessionellen Gegensätze äußert er sich sehr relativierend: »Es ist nichts neues / […] daß bißweilen / mitten in der Christenheit / die Christen einen Streit wider einander anfangen.«26 Diese pragmatische Liberalität beruht auf Wechselseitigkeit und resultiert aus einer Art spirituellem Empirismus, über den Luis de Granada (1505–1588), einer der einflußreichsten dominikanischen Erbauungsschriftsteller, in seiner Abhandlung De Oratione et Meditatione (1561) undogmatisch erklärt: »Testatur enim experientia ipsa, quod si laudaueris communiter Orationem, et meditationem.«27 Mit solch amtstheologischer Rückendeckung modelliert Harsdörffer das von ihm so getaufte ›Andachtsgemähl‹ nach dem Vorbild der Jesuitenemblematik, vor allem in ihrer Antwerpener Prägung (Willem van Hees, Jakob van Haeften,

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Georg Philipp Harsdörffer: Sendschreiben. In: Johann Klaj: Der leidende Christus. In einem Trauerspiele vorgestellet. Nürnberg 1645, S. 30–34, hier S. 31. Vgl. Johann Michael Dilherr: Göttliche Liebesflamme: Das ist / Christliche Andachten / Gebet / und Seufftzer / über Das Königliche Braut=Lied Salomonis. Nürnberg 1651. Dazu Willard James Wietfeldt: The Emblem Literature of Johann Michael Dilherr (1604–1669). An Important Preacher, Educator and Poet in Nürnberg. Nürnberg 1975, S. 72ff. Vgl. Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, S. 60–76. Johann Michael Dilherr: Bericht / An den Christlichen Leser. In: Robert Parsons: Gülden Kleinod der Kinder Gottes / Das ist: Der waare Weg zum Christenthumb Herrn Emanuel Sonthoms. Nürnberg 1657, Bl. )( ii r–Bl. )( iiiiv, hier Bl. )( ii r. Luis de Granada: De Oratione et Meditatione. In: Ders.: Opera. Köln 1626, Tl. III, S. 154–366, hier S. 238.

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Heinrich Engelgrave).28 Klajs aus 64 ›Andachtsgemählen‹ bestehendes Lehrbuch Das gantze Leben Jesu Christi (1648–1651) führt den Impuls seines Mentors lediglich in das Ursprungsmilieu zurück, wenn er es neben einer ersten Vorrede mit einer »Vorrede an alle Catholischen Christen« versieht.29 Die Idee des ›Andachtsgemähls‹ greift eine von der Gesellschaft Jesu propagierte Form der Bildmeditation mit auf. Wie Harsdörffer in den Sonntagsandachten zu Beginn jeder Andacht einen imaginären Raum eröffnet, den er im weiteren ausschreitet, so beginnen die ignatischen exercitia spiritualia mit der »Stellung deß orths«, eines den sinnlichen Seelenkräften zugänglichen Gegenstandes.30 Nach der Definition des 1645 gedruckten Ignatius-Kommentars, den der Ingolstädter Ethikprofessor und Jesuitenpater Leonhard Lerchenfeldt (1607–1674) verfaßt hat, handelt es sich um »eine Einbildung des Orts / oder der Personen / oder wann solche nit verhanden / wird an dero statt ein gleichnuß [....] kürzlich fürgebildet / durch welche fürbildung das Gemüth besser versamblet bleibe.« Zum Beispiel: »Bilde dir für / einen einsamen Menschen / der mit allem ernst vor Gott dem Herren rathschlaget wegen enderung oder besserung seines Lebens.«31 In dem so errichteten Imaginationsraum sollen anschließend die Motive des Meditationsthemas verteilt werden. Unter dem Namen Bernhards von Clairvaux, den er als einen »frommen Mönichen« einführt, adaptiert Harsdörffer das pseudo-bernhardische »GebetLied« Salve mundi salutare.32 Gegen die Empfehlung Luthers, einzig das Vaterunser zu beten, trägt schon Gerhard für die gewohnheitsmäßige Konsultierung von »rechtgläubigen gottseligen Kirchenlehrern« die theologische Begründung nach, deren Gebete seien »billich anders nicht als für eine Außlegung des Vater unsers zu achten«.33 Auf dieser Argumentationslinie integrierten bereits die Precandi Formulae des Andreas Musculus (lat. 1553, dt. 1559) und deren angehängte Instructio orandi, ex ijsdem Orthodoxis Ecclesiae Patribus collecta die patristischen Gebete in die protestantische Frömmigkeit.34 Endgültig über 28

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Vgl. Jean-Daniel Krebs: G. Ph. Harsdörffers geistliche Embleme zwischen katholischjesuitischen Einflüssen und protestantischen Reformbestrebungen. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer in Verbindung mit Barbara BeckerCantarino u. a. Wiesbaden 1995, Bd. 2, S. 539–552. Vgl. Franz (wie Anm. 22), S. 182–184. Leonhardt Lerchenfeldt: Exercitia Spiritualia. Das ist Geistliche Ubungen Deß Heiligen Ignatii Loiolae […] weitläufiger erkläret. Ingolstadt 1645, S. 167. Zur Funktionsweise des ›Andachtsgemähl‹ vgl. Stefan Keppler: Menschen am Sonntag. Nachwort. In: Georg Philipp Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649–1652). Nachdruck hg. v. Stefan Keppler. Hildesheim u. a. 2007, S. I*–LXXXI*, hier S. LII*–LVIII*. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 10 u. 14. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. II, S. 447. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 337. Zu Luthers Position vgl. Martin Brecht: »und willst das Beten von uns han«. Zum Gebet und seiner Praxis bei Martin Luther. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Hg. v. Bernd Moeller. Gütersloh 1998, S. 268–288. Dazu erschöpfend Angela Baumann-Koch: Frühe lutherische Gebetsliteratur bei An-

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die orthodoxe Absegnung hinausgehend, bezieht sich Harsdörffer in Nathan und Jotham offen auf einen katholischen Autor, der nach der Reformation und gegen sie wirkte: Das geistliche Liebeslied Wo hast du dich hin verborgen übersetzt er aus dem Spanischen des 1591 verstorbenen Karmelitenreformers und Mystikers Juan de la Cruz. Dessen Mitstreiterin Teresa de Avila empfiehlt er zur Lektüre.35 Mit der Markierung einer derartigen Intertextualität greift der Dichter zu einer Lizenz, die sich der Pastor selber verbietet, bei seinem Mitstreiter aber zu billigen oder in Kauf zu nehmen scheint. Diese Lizenz ist die des am europäischen Manierismus ausgerichteten Dichters. Denn Harsdörffer operiert mehr als Dilherr von der Basis des Literatursystems aus, von dessen spezifischen Medien, Kunstregeln und Leistungen. Der »Poet / oder Dichter« verdient seinen Namen (dem Poetischen Trichter zufolge) erstens dadurch, daß er sein Sprachmaterial »kunstzierlich gestaltet«, zweitens dadurch, daß er »aus dem / was nichts ist / etwas machet; oder das / was bereit ist / wie es seyn könnte / kunstzierlich gestaltet.«36 Die erste Bestimmung greift Harsdörffer im Schlußwort der Sonntagsandachten auf: Da die geistlichen Gegenstände größten Kunstfleiß verdienten, will er auch auf sein Andachtsbuch den Satz angewendet wissen: die »höchste Zier aller Sprachen bestehet in der Poeterey«.37 Einerseits gibt es gerade eine protestantische Tradition, dem Beter oder Oranten die sprachliche Materialität des Gebets einzuschärfen. Luther warnt in seiner Auslegung deutsch des Vaterunsers (1519): »Ja es soll niemand sich auff sein hertz vorlassen, das er an wort wolt beten, [...] sunst wurd yn der teuffel gar und gantz vorfuhren [...]. Darumb soll man sich an die worth halten und an den selben auffsteygen.«38 Gerhard akkordiert in seiner Schola pietatis (1622–1623), die seit 1653 in Dilherrs und Harsdörffers Hausverlag, der Offizin Endter, erscheint: Niemand solle sich für so andächtig halten, »daß er deßwegen das eusserliche Wortgebet wollte hindan setzen«. Auch das innere Gebet oder das »im Geist beten« konzipiert Gerhard zwar als stimmlos (»ohne Bewegung der Lippen / und ohne eusserliche Wort«), aber nicht als sprachlos.39

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dreas Musculus und Daniel Cramer. Bern u. a. 2001, S. 21–435. Vgl. auch Guillaume van Gemert: Zur Verwertung mittelalterlichen Literaturguts im geistlichen Schrifttum der Frühen Neuzeit. In: Das Berliner Modell der mittleren deutschen Literatur. Hg. v. Christiane Caemmerer, Walter Delabar u. a. Amsterdam 2000, S. 117–136. Dazu Jean-Daniel Krebs: Georg Philipp Harsdörffer. Poétique et poésie. Bern u. a. 1983, Bd. 1, S. 329–398. Georg Philipp Harsdörffer: Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst / ohne Behuf der lateinischen Sprache / in VI. Stunden einzugiessen (1647–1653). Nachdruck der Ausgabe 1648–1653. Darmstadt 1969, Tl. I, S. 4. Vgl. ebd., Tl. III, Bl. )( iiivr: »die Sachen anderst aus zudichten / als sie nicht sind / und das zu erfinden / was nirgendwo befindlich ist«. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. II, S. 459. Martin Luther: Auslegung deutsch des Vaterunsers für die einfältigen Laien (1519). In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1884, Bd. 2, S. 80–130, hier S. 85. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 337, 700 u. 702.

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Die Theologen entfernen sich aber vom Dichter, sobald die Stilhöhe zur Entscheidung steht. Gerhard rät mit der protestantischen Mehrheitsmeinung zum stilus humilis, denn: »sacra tracto, quae ornatum Rhetoricum non admodum desiderant«.40 Arndt, im Ton seiner wohltemperierten Prosa, mißbilligt nicht allein den sprachlichen Prunk in heiligen Sachen, sondern plädiert auch für die extemporierte Mündlichkeit: »[D]as allerbeste Betbüchlein ist die gleubige erleuchte Seele.«41 Gebet und Predigt gehören mehr der Oralität an, als sie die bürgerliche und höfische Literatur des 17. Jahrhunderts noch vorsieht. Dem Dichter ist die kalkulierte Schriftlichkeit nicht aufgebbar. Wo immer Harsdörffer zum Gebet auffordert, meint er das Schriftgebet, das im religiösen System nicht die einzige und schon gar nicht die anspruchsvollste Option bildet. Die Steigerung innerhalb der künstlerischen Sprachgestaltung geht ihn mehr an als die nächsthöhere Stufe der geistlichen Übung. Die zweite, im Poetischen Trichter berührte Poesieklausel betrifft das Medium der Einbildungskraft und dessen Leistung der autonomen Bildgenerierung. Der Eigengesetzlichkeit der Literatur folgend, wagt Harsdörffer mehr Imagination, als es die Theologen gutheißen. Die jesuitische Andachtstheorie hat (aus eigener Neigung zum Manierismus) besonderen Anlaß, vor einer Stelle des menschlichen Geistes zu warnen, »welche da ist gleichsam ein Saal von allerseltzamsten Bildnussen außgefüllet«, »auß dero Betrachtung sich die Phantasey selbst belustiget«. Dieselbe »verführet den Verstand / dahero dann allerley Sunden entspringen«.42 Harsdörffers ›Andachtsgemähle‹ gefallen sich weithin genau darin, eine Galerie rätselhafter Bilder einzurichten. Während die JesuitenMeditation zur Betrachtung der Höllenstrafen beispielsweise schlicht empfiehlt: »Bilde dir für Augen einen finstern weiten unnd tieffen orth unter der Erden / wie ein großer Brunnen vol deß brinnenden Bechs«,43 fällt Harsdörffers thematisch analoge Bilderfindung im Kombinationsstil des Manierismus aus. Er präsentiert uns eine kugelrunde und verglaste Hölle, für die er den Feuerofen aus dem Buch Daniel heranzieht und das Glas als Zeichen dafür, wie wenig

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Johann Gerhard: Meditationes Sacrae (1606–1607). Hg. v. Johann Anselm Steiger. Stuttgart u. a. 2000, Tl. I, S. 23. Zum frühbarocken Verhältnis von Erbauungsliteratur und Rhetorik vgl. grundsätzlich Hans-Henrik Krummacher: Überlegungen zur literarischen Eigenart und Bedeutung der protestantischen Erbauungsliteratur im frühen 17. Jahrhundert. In: Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch 5 (1986), S. 97–113. Johann Arndt: Paradiß Gärtlein / Voller Christlicher Tugenden: wie dieselbige in die Seele zu pflantzen / Durch Andächtige / lehrhaffte und tröstliche Gebet. Magdeburg 1612, Bl. B 3v. Zum Problem von Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Gebet vgl. Johannes Wallmann: Zwischen Herzensgebet und Gebetbuch. Zur protestantischen deutschen Gebetsliteratur im 17. Jahrhundert. In: Gebetsliteratur der frühen Neuzeit als Hausfrömmigkeit. Funktionen und Formen in Deutschland und den Niederlanden. Hg. v. Ferdinand van Ingen u. Cornelia Nikus Moore. Wiesbaden 2001, S. 13–46. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 166. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 228.

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uns von der Verdammnis trennt.44 Diese Art der Bilderzeugung beruht auf der Kombinationskunst, die der Manierismus als intellektuelle Herausforderung setzt. Auch zeigt sich Harsdörffer selbst beim Thema der Hölle wenig aufgelegt, schonungslose Selbsterforschung zu betreiben und die »Bettage« als »Bußtage« zu verstehen45 oder gar »die Sinn abzutödten«46. Wenn er einmal drastisch wird, dann zum Vorteil drastischer Bilder: So bemüht sich sein Beter, Gottes »Wort mit bittern Gebets=Threnen auch in meine Hände zu ätzen«.47 Mit dem größeren Spielraum der Einbildungskraft hängt Harsdörffers immerfort durchbrechendes Interesse am Aufsehenerregenden, Geistreichen und Aparten zusammen, hinter dem die strenge Ordnungsfunktion der Allegorie und die Belehrungsaufgabe der Erbauung zurückstehen. Das Religiöse als das Erhabene reiht sich in die thematischen Extreme ein, zu denen die manieristische Stilhaltung eine besondere Affinität pflegt.48 Harsdörffer will Staunen lehren und – so eine seiner Lieblingsvokabeln – ›Verwunderung‹ hervorrufen: die meraviglia, deren Theorie er von dem italienischen Concettisten Sforza Pallavicino empfängt und mit der Entlegenheitsmetaphorik des preziösen französischen Schriftstellers Jean-Louis Guez de Balzac verbindet.49 Immer wieder vermischt er Religiöses mit Ingenieurwissenschaftlichem (Uhren, dem Fernrohr, der camera obscura, Brillengläsern etc.) und wendet die Andachtstechnik metaphernreich zur Technikandacht.50 Wie er in Seelewig das Weltliche explizit mit dem Geistlichen hybridisiert (»daß die Weltliche Freudenspiele in Geistliche Gedichte sollen verwechselt werden«51), so hybridisiert er implizit das Geistliche mit dem Weltlichen. Das Kriterium der Zentralität oder Marginalität für den Glauben tritt hinter dieser Stilhäufung zurück. Ob man auch im Schlaf beten

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Vgl. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. I, S. 226–229. Arndt (wie Anm. 41), Bl. B 3v. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 163. Georg Philipp Harsdörffer: Nathan und Jotham: das ist Geistliche und Weltliche Lehrgedichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1659 hg. v. Guillaume van Gemert. Frankfurt/M. 1991, Tl. II, S. 171. Vgl. Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995, S. 150ff. Vgl. Manfred Windfuhr: Die barocke Bildlichkeit und ihre Kritiker. Stilhaltungen in der deutschen Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1966, S. 40ff. Zu Harsdörffers Bezügen auf den internationalen Manierismus vgl. auch Krebs: Georg Philipp Harsdörffer (wie Anm. 35), Bd. 1, S. 610ff., sowie Christoph E. Schweitzer: Harsdörffer, Quevedo, Espinosa und Arcimboldo. In: »der Franken Rom«. Nürnbergs Blütezeit in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Hg. v. John Roger Paas. Wiesbaden 1995, S. 213–223. Grundsätzlich immer noch Gustav René Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. 6. Aufl. Reinbek 1978. Vgl. Jörg Jochen Berns: Harsdörffers Technikandacht. Zum Zusammenhang von Naturwissenschaft, Erbauung und Poesie in den Sonntagsandachten und Erquickstunden. In: Georg Philipp Harsdörffer und die Künste. Hg. v. Doris Gerstl. Nürnberg 2005, S. 22–38. Georg Philipp Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (1643–1649). Nachdruck der Ausgabe 1644–1657 hg. v. Irmgard Böttcher. Tübingen 1968–1969, Tl. IV, S. 44.

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könne, ist eine spitzfindige Frage, in deren schillernden Facetten ›Der Spielende‹ seinen Scharfsinn zur Geltung bringt, die in der allgemeinen Gebetsdiskussion aber keinen maßgeblichen Stellenwert besitzt. Gott im Traum zu begegnen und auf diese Weise das Gespräch mit ihm zu führen, ist eine exklusiv prophetische Erfahrung, die nicht einmal mehr die Reformatoren für sich beanspruchten. Die Kuriosität leitet Harsdörffers beflissene Erörterung der verschiedenen möglichen Körperhaltungen beim Gebet: die Orantenhaltung im Stehen und mit nach links und rechts ausgestreckten Armen, so daß der Körper eine Kreuzesform bildet; gefaltete Hände als Ausdruck dafür, »daß man sich gleichsam für Gott gebunden« gibt.52 Dieses Thema wird zwar in nahezu sämtlichen ausführlicheren Gebetstrakten seit der Patristik berührt, jedoch fast immer mit dem Bescheid, daß es auf diese Äußerlichkeit ebensowenig ankomme wie auf den Ort, an dem man bete. Harsdörffer scheint der Gebärdensprache ihre Bedeutung von Giovanni Bonifacios L’arte dei cenni (1616) zuzumessen, der säkularen Theorie der »Geberde=Kunst«, die er anderweitig in den Gesprächspielen darlegt.53 Die Beglaubigung der oratorischen Praxis aus der Heiligen Schrift verliert sich dagegen in Harsdörffers flächigen und intrikaten Textbildern an den buchstäblichen Rand: in die ununterbrochene Kolonne der Quellenverweise. Ihr Kode demonstriert einen mit Anspielungen gesättigten Stil, der aus seinen biblischen Bezügen ein änigmatisches Spiel macht. Der Bildgenerator der Imagination, einmal in Gang gesetzt, läßt sich nicht mehr leicht bremsen. Die theologischen Entwürfe geistlicher Übungen verweisen es dem Exerzitianden, »allzeit newe unnd newe Materi für sich« zu nehmen, und ordnen an, daß man nach zwei oder drei Themenwechseln »ein oder mehr repetitiones oder widerholungen solle anstellen«.54 Erst die ruminatio, das Wiederkäuen, verwandelt die geistliche Speise in das Fleisch und Blut des Glaubens. Dem entgegenkommend, verlangte die humanistische Rhetorik, man solle bei einem vorgenommenen Bild eine Zeit verweilen. Harsdörffer freilich handelt nach dem manieristisch verschärften Gesetz der variatio. Man solle »die Abwechslung suchen«55, empfiehlt er selbst für ein Sujet wie das von Klajs Leidendem Jesus. Wenn er (wie in den Sonntagsandachten) Bilder wiederholt, dann nur, um ihnen neue, konkurrierende Deutungen abzugewinnen. Zu den theologischen Standards der Andachtspraxis gehören schließlich Vertiefung und Entschleunigung. Bei der Betrachtung des Vaterunsers etwa soll man sich »ein Wort oder Spruch nach dem anderen« vornehmen und der Anweisung folgen: »halte dich in erwegung dersoselben bedeutung so lang auff / ohne begirdt

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 51), Tl. VIII, S. 18. Vgl. Italo Michele Battafarano: Sprachen, Zeichen, Bilder. Harsdörffers barocke Semiotik. In: Ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u. a. 1994, S. 101–116. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 93. Harsdörffer: Sendschreiben (wie Anm. 23), S. 31.

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weitter fortzuschreitten / ob du schon die gantze stundt in aines oder zwayer wörtlein betrachtung verzehren wurdest.«56 Dagegen präsentiert sich Harsdörffers Schreibbewegung als ein strömender Progreß, eine Jagd nach dem immer Neuen. Allein die Ausdruckformen oszillieren unablässig zwischen Bild, Musik und Text, zwischen Vers und Prosa, zwischen Dank-, Lob- und Bittliedern, Brautliedern und Schäferliedern, Lehrgedichten, Klingreimen, Reimreden, Rätseln und so weiter und so fort. Die ›christliche Belustigung‹ beginnt eine Zerstreuung freizusetzen, die mit der Andacht in Konkurrenz tritt. Gewinner der protestantisch-katholischen Konkurrenz um Ideen und Ausdrucksformen ist die Literatur, die zunehmend frei unter ihnen auswählt.

2. ›familiare cum Deo colloquium‹: Die Gaben des Gebets Grundaussagen über das Gebet sind Grundaussagen über das Glaubenssystem. Darüber herrscht Einigkeit von den Kirchenvätern und den großen Ordensheiligen über die Reformations- und Gegenreformationstheologen bis hin zu den lutherischen Reformorthodoxen und den Frühpietisten. Gerhard faßt die Tradition zusammen, wo er schreibt: »Wenn wirs recht bedencken / so findet sich / daß im Gebet […] alles was zur Gottseligkeit gehöret / kürtzlich zusammen gefasset [ist].«57 Unter dem Druck dieses Anspruchs bewährt es sich nun nicht eigentlich darin, Glaubenssätze zu gewinnen und zu bestätigen, vielmehr scheint es für jede Ordnungspolitik des Glaubens ein durchaus widersetzliches Element. Das Gebet existiert als diejenige geistliche Praxis, die am tiefsten in Alltag und Privatleben wurzelt. Charakteristisch dafür erscheinen Johann Habermanns Christliche Gebet (1567), das meistaufgelegte Gebetbuch der Frühen Neuzeit, 1651 bei Endter in einem Band mit Johann Mathesius’ vielgelesener Oeconomia oder bericht wie sich ein Haußvatter halten sol (1561).58 Während die Predigt dem Geistlichen vorbehalten ist und unbeamtete ›Winkelprediger‹ scharf verurteilt werden, kommt das Gebet dem Postulat der allgemeinen Priesterschaft entgegen. Dieser Umstand gibt den Einsatz für den Laien Harsdörffer.

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Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 356. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 328. Zu Form und Funktion des Gebets vgl. grundsätzlich Stefan Keppler-Tasaki: Gebet. In: Literarische Gattungen. Hg. v. Ralf Klausnitzer, Marina Münkler u. a. Berlin u. a. (im Druck). Zu Habermann vgl. Traugott Koch: Johann Habermanns Betbüchlein im Zusammenhang seiner Theologie. Eine Studie zur Gebetsliteratur und zur Theologie des Luthertums im 16. Jahrhundert. Tübingen 2001. Alltagszeugnisse bieten Peter Lahnstein: Das Leben im Barock. Zeugnisse und Berichte 1640–1740. Stuttgart u. a. 1974, S. 47 u. 60–68, sowie Paul Münch: Lebensformen in der Frühen Neuzeit 1500–1800. Frankfurt/M. u. a. 1992, S. 213, 414ff., 453 u. 483.

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Aus der Alltagsverwurzelung heraus entfaltet sich das Gebet – gegen die reformatorische Anstrengung der Verkirchlichung des täglichen Lebens59 – als die vielgestaltigste und individuellste aller Frömmigkeitsübungen. Christus selbst hat es eingesetzt und zur persönlichen Verrichtung aufgetragen, denn, so Harsdörffer: »Kein Gebet ist trefflicher / als das heilige Vater unser / welches der übertrefflichste Lehrmeister / uns blöden Menschen vorgeschrieben / daß wir die Zeit unsres Lebens alle Tage und Stunden daran lernen sollen.«60 ›Alle Tage und Stunden‹ meint hier mehr als eine Redensart. Jede Gelegenheit und Situation des Tages, jeder Stundenschlag (in der jesuitischen Praxis jede Viertelstunde61) erheischt an der kürzeren oder längeren Richtschnur des Paternoster sein eigenes Gebet, differenziert nach Kriterien wie Beruf, Geschlecht, Lebensalter und Art des Dankes, der Bitte und der Anfechtung.62 Dilherrs Morgen= und Abendopfer bieten im ersten Teil Tageszeitengebete, im zweiten Teil berufsund bedarfsspezifische Texte. Für unvorhersehbare Fälle gibt es Stoßgebete. Zu beten ist kurz, aber oft: »täglich / ja stündlich und augenblicklich«, denn – so Gerhard – »keinen Augenblick« kann man »der geistlichen Rüstung des Gebets [...] entrathen«, um vor den »listigen Anläuffen des leidigen Teuffels [...] gesichert« zu sein: 63 vor dem Einschlafen und nach dem Erwachen, wenn man zu Tisch geht und von ihm aufsteht, wenn man das Haus verläßt und betritt, die Arbeit beginnt und beendet. Der undurchdringlich scheinende Wildwuchs der frühneuzeitlichen Gebetbücher und ihrer Komposition – schon rein quantitativ ein beträchtlicher Teil der überlieferten Erbauungsliteratur – vermittelt einen Eindruck davon.64 Kaum ein religiöser Schriftsteller der Zeit, der nicht auch eine Gebetsammlung vorgelegt hätte. Zum kompletten Kursus der theologischen genera scribendi gehört das libellum precationum. So bezeugt es Gerhard in der Vorrede zu seinem eigenen, 1612 erschienenen Gebetbuch Exercitium pietatis.65 Die Gebetslehre Johann Arndts, die dieser 1609 im zweiten Buch Vom wahren 59

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Vgl. Walter Raitz, Werner Röcke u. Dieter Seitz: Konfessionalisierung der Reformation und Verkirchlichung des alltäglichen Lebens. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hg. v. Werner Röcke u. Marina Münkler. München 2004, S. 281–316. Zum Versuch, das Gebet für die Laienkonfessionalisierung einzusetzen, vgl. Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005, S. 268ff. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. I, S. 386. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 22–26. Um aufschlußreiche Übersicht in dieser Auffächerung bemüht sich der lutherische Theologe Martin Behm: Centuriae Tres Precationum Rhytmicarum / Das ist: Drey Hundert Reim=Gebetlein. Breslau 1659, mit je hundert Texten für »alle Sonn- und Feyertägliche Evangelia«, für »allgemeine Noth und Anliegen« sowie für »die drey Haupt-Stände der Christenheit«. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 677. Einen jüngeren Überblick unternimmt Kurt Küppers: Liturgie und Volksfrömmigkeit. Gebetbücher und Gebetbuchliteratur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. In: Archiv für Liturgiewissenschaft 30 (1988), S. 188–225, u. ebd. 47 (2005), S. 108–151. Johann Gerhard: Exercitium Pietatis Quotidianum Quadripartitum. Peccatorum confe-

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Christentum (Kapitel 34 bis 40) entfaltet, hat drei Jahre später ebenfalls die Konsequenz eines solchen ›Büchleins‹, des Paradiß Gärtleins, das systematisch an die entsprechenden Kapitel des theoretischen Hauptwerks zurückgebunden ist (und von Harsdörffer ausführlich besprochen wird66). Dilherrs ausschließliches Gebetbuch unter seinen meist gattungsmischenden Erbauungsschriften sind die Christlichen Morgen= und Abendopfer (1653).67 Aus Erfahrung der theologischen Fliehkräfte des Gebets bemühen sich Gerhard, Arndt und Dilherr gleichermaßen, es auf die zentralen dogmatischen Aussagen zu verpflichten. Der »Myrrhenberg des Creutzes« und der »Weyrauchhügel des Gebets« sollen »nahe beysammen« liegen.68 Die »vornembsten Heuptlehren unser Christlichen Religion« und die »Heuptsprüche der Schrifft« sollen den Gebetstexten »einverleibet« sein.69 Daher stellen die protestantischen Theologen den Wert des Betens auch niemals über den der Bibellektüre, worüber sich Luis de Granada katholischerseits ganz gegenteilig äußert: »melius est orare, quam legere: quia in lectione cognoscimus, quid facere debemus in oratione.«70 In den großen Barockpoetiken, auch im Poetischen Trichter, sucht man das Gebet ebenso vergeblich wie die Predigt. Es ist nicht primär der »Poeterey« unterstellt, nicht deren – nach Harsdörffers Bestimmung – »besondre[n] Art der Wolredenheit / mit neuen Erfindungen / Reimgebenden und schicklichen Kunstworten«,71 sondern gehört in die weiteren Gefilde der Rhetorik und ins Nachbargebiet der Theologie als praktischer Wissenschaft, dort vor allem in den Katechismus, in Traktate und Meditationen über das Gebet sowie in die Vorreden von Gebetbüchern. Obwohl also über die Regeln der oratio devota primär die Theologen zu urteilen haben, schaltet sich Harsdörffer mit mehreren Stellungnahmen ein, die sämtlich unter dem schlichten Titel Das Gebet stehen. Dieses Corpus umfaßt vorderhand das 277. Stück im achten Teil der Gesprächspiele (1649),72 eine allegorische Erzählung im ersten Band von Nathan und Jotham (1650), an die sich je eine Tafel über Die Gebetsstunden deß Tages und Die Gebetsstunden deß Nachts anschließen,73 sowie zwei aufeinanderfolgende Exempel im zweiten Band von Nathan und Jotham (1651)74. Nennenswert sind weiterhin

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ßiones, gratiarum actiones, precationes & observationes complectens. Coburg 1612, Bl. A 7v. Georg Philipp Harsdörffer: Joh. Arndts Paradißgärtlein. In: Ders.: Der Grosse Schau=Platz Lust= und Lehrreicher Geschichte (1650–1651). Nachdruck der Ausgabe 1664. Hildesheim u. a. 1978, Tl. II, S. 6–10. Johann Michael Dilherr: Christliche Morgen= und Abendopfer. Oder / Gebetbuch. Nürnberg 1653. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 673. Arndt (wie Anm. 41), Bl. B 6r. Luis de Granada (wie Anm. 27), S. 239. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. II, S. 459. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 51), Tl. VIII, S. 17–24. Vgl. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. I, S. 74–77. Vgl. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 62f.

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Harsdörffers Lied von dem lieben Gebet, erschienen in der Predigtsammlung Veste Jesus=Burg (1648) des Nürnberger Pastors Justus Daniel Heering,75 zwei Meditationen über das Gebet in den Sonntagsandachten (1649–1652)76 sowie zwei Paternoster-Auslegungen: Das Vater unser im zweiten Band von Nathan und Jotham sowie Geistreiche Betrachtungen nach den Sieben Bitten in dem heiligen Gebete Vater unser am Ende der Sonntagsandachten.77 Zahlreiche Anwendungsbeispiele gibt Harsdörffer außer in Nathan und Jotham und den Sonntagsandachten insbesondere in seinen von der Forschung bislang kaum gesichteten Beiträgen zu den Erbauungsbüchern Dilherrs. Als Handlungsmotiv kehrt das Gebet im Grossen Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte wieder, so in der Erzählung Die unbedachtsamen Eltern (s. u.). Ein eigenes Gattungsprofil erhält das Gebet durch seine spezifische Kombination thematischer und formaler Eigenschaften. Seien es kurze Prosatexte, wie sie die Meditationen der Sonntagsandachten beschließen, seien es die von Harsdörffer so genannten ›Betlieder‹ wie Danielis Betlied in der Löwengruben in Nathan und Jotham,78 die die metrischen Eigenschaften eines Liedes mit den rhetorischen und thematischen Kriterien eines Gebets verbinden. Die oratio devota definiert sich als Gespräch mit Gott. »Est enim pia et ex fide profecta precatio, familiare cum Deo colloquium«, so diktiert nach augustinischem Herkommen noch Gerhard.79 Als konstitutiven Bestandteil schließt dies die Apostrophe einer der drei göttlichen Personen ein. Luther vermerkt: »Denn anrufen ist nichts anders denn beten.«80 Arndt assistiert: »Gott will sich zwar selbst gerne uns mittheylen / aber nicht ohne Gebet: Er wil die Ehre der anruffung von uns haben.«81 Und Luis de Granada benutzt »orare« synonym mit »invocare«.82 In seiner weiteren Disposition zeichnet sich das Gebet zunächst durch einen anamnetisch-gedenkenden und einen epikletisch-bittenden Teil aus. Zusätzlich oder statt im einzelnen Gebet kann diese Komposition auch in einer Gebetsfolge oder einem ganzen Gebetbuch auftreten. Dergestalt besteht Gerhards Exercitium pietatis aus vier Kapiteln in der Abfolge: Bußgebete und Dankgebete (anamnetischer Teil), Bittgebete und Fürbittgebete (epikletisch75

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Georg Philipp Harsdörffer: Lied von dem lieben Gebet. In: Justus Daniel Heering: Die veste Jesus=Burg / das ist / Einfältige / doch schrifftmässige Erklärung deß Sechs und Viertzigsten Psalms Davids. Nürnberg 1648, Bl. )( )( iiiv–)( )( iiii r. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. I, S. 188ff. u. Tl. II, S. 361ff. Georg Philipp Harsdörffer: Geistreiche Betrachtungen nach den Sieben Bitten in dem heiligen Gebete Vater unser. In: Ders.: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (1649–1652). Nachdruck hg. v. Stefan Keppler. Hildesheim u. a. 2007, Tl. II, S. 385–459. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. I, S. 40f. Gerhard: Exercitium Pietatis (wie Anm. 65), Bl. A 2v. Martin Luther: Deudsch Catechismus (Der Große Katechismus). In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1910, Bd. 30/I, S. 123–238, hier S. 193. Arndt (wie Anm. 41), Bl. B 4v. Luis de Granada (wie Anm. 27), S. 158.

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bittender Teil). Insofern das Gebet auf eine Gnadenerlangung zustrebt, heißt es lateinisch auch praecatio oder petitio. Deshalb hält Luis fest: »Vltima pars est Petitio: quae proprie dicitur Oratio.«83 Seiner Definition als Gespräch gemäß erscheint das Gebet ferner als Kommunikationsmuster, das sich Gattungen wie Lied, Predigt oder Traktat passagenweise, vorzugsweise an exklamatorischen Höhepunkten, zu eigen machen können. Den häufigsten Fall bilden bei Harsdörffer geistliche Lieder, die in ihrer zweiten Hälfte oder zum Abschluß oratorischen Charakter annehmen. Diese Wendung der Sprechrichtung verbindet sich vorzugsweise mit semantischen Inversionen, häufig beim Aufschwung von Weltverzweiflung zu Gottesekstase, effektvoller noch bei der Überbietung weltlichen Vergnügens durch das Vergnügen in Gott. Das sehr gelungene Lied Der frohe Frühling kommet an (aus Nathan und Jotham) ergeht sich beispielsweise über fünf Strophen in den exquisitesten Bildern der Frühlingszier, um in der sechsten und letzten Strophe – zugunsten einer Häufung von Stilmitteln (Revokation, Klimax, Hyperbel) – umzuschlagen: Ach Gott / der du mit so viel Gut bekrönst deß Jahres Zeiten / laß uns auch mit erfreutem Mut zum Paradeis bereiten: Da wir dich werden für und für die schönste Schönheit finden / dargegen diese schnöde Zier ist eitler Kot der Sünden.84

Seltener findet die Bewegung vom Gottesgespräch zum Selbstgespräch statt. So in dem »Trost=Lied« Jesu / Quell verlangter Freuden (aus Nathan und Jotham): Die ersten drei Strophen bilden ein Dankgebet, in der vierten und fünften Strophe geht der Orant mit sich selbst zu Rate, der Schluß adressiert wiederum Christus.85 Glaubt man Dilherrs Leichenpredigt, so aktivierte Harsdörffer im abgestuften Prozeß seines kunstgerechten Sterbens die Kräfte des Gebets, die er selber vielfach beschworen hat. Im Beten findet er gegen Anfechtungen aller Art, darunter Glaubensschwäche und Verzweiflung, »die Freude der Traurigkeit« und »die Stärcke der Schwachen«.86 Dilherr nennt in seinem Buch vom Trostreichen Jeremias (1648) drei Maßregeln für die Glaubensfestigkeit unter Leidensbedingungen: Geduld, Hoffnung sowie »ein hertzliches / und in einer andächtigen Seel gegründetes Gebet«.87 Gerhard bemerkt in der Schola pietatis

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Luis de Granada (wie Anm. 27), S. 237. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 60. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 52f. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 51), Tl. VIII, S. 17. Dilherr: Trostreicher Jeremias (wie Anm. 3), S. 58f.

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lutherisch kurz und kernhaft: »Im Gebet stehet der Seelen Stärcke.«88 Es entfaltet aber nicht nur anspannende Wirkung auf den Geschwächten, sondern auch abspannende Wirkung auf den Verrohten: »die Krafft […] / daß es einen zornigen Menschen kann sänfftigen und stillen.«89 Wegen dieser doppelten Richtung kann Gerhard dem Gebet nachrühmen, es sei »salutare in omnibus adversis remedium«.90 Nicht anders Arndt, der die Lehre seines Paradiß Gärtleins in einer »Vorrede« vom »grundt der rechten Betekunst« darlegt: Das Gebet sei »eine Artzney unser teglicher Gebrechen«, womit »auch stets erwecket werden newe Kräffte / neuwe Stercke / newe Andacht«. Es bessert den Menschen physisch, psychisch, aber auch moralisch: »Denn es dencke nur niemand / daß eine warhaffte rechtschaffene Christliche Tugend in sein Hertz kommen werde ohne Gebet.«91 Luis de Granada konkordiert und verspricht, die betende Seele besiege die Versuchungen, befriede das Herz, vertreibe die Traurigkeit und – hier geht er allerdings einen entscheidenden Schritt weiter als die Protestanten – reinige sich von allen Sünden.92 Bei allem, was dem Menschen genommen werden kann, bleibt ihm doch immer das Gebet, das ihm neues Vertrauen in Gott einflößt. In diesem Sinn verkündet ein mit Harsdörffers Initialen »G. P. H.« gezeichnetes Klag= und Trostlied, das sich unter den Gebeten von Dilherrs Weg zu der Seligkeit findet: »Wann Er mich höret / | will ich ihn doch lieben.« Und: »So hat Gott meiner nimmer nicht vergessen / | Ob mich gleich Noht und Tod fast auffgefressen.«93 Das Gebet offeriert der Seele einen geistlichen Panzer oder Schild, mit dem sie sich – der Kriegsmetaphorik in Harsdörffers Lied von dem lieben Gebet zufolge – gegen die Anfechtungen der Welt schützt.94 Danielis Betlied in der Löwengruben exemplifiziert diese Gebetswirkung für den Fall einer außerordentlich brutalen und kreatürlichen Bedrohung. Der lorica- oder Gottesmauer-Gedanke ist bereits im frühen Christentum lebendig und wird von Luther neu bekräftigt: »Denn das sollen wir wissen, das alle unser schirm und schutz allein ynn dem gebete stehet.«95 Gerhard pflichtet bei: »Wer zum Gebet / fleucht in der Nöth / steht hinter dieses Mauren.«96 Und Arndts Paradiß Gärtlein nimmt die Gele-

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Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 692. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 680. Gerhard: Exercitium Pietatis (wie Anm. 65), Bl. A 2v. Arndt (wie Anm. 41), Bl. B 1vf. u. B 4r. Luis de Granada (wie Anm. 27), S. 157 (»vincuntur tentationes«, »pacificatur cor«, »fugatur tristitia«, »purgator anima ab omni peccato«). Georg Philipp Harsdörffer: Klag= und Trostlied. In: Johann Michael Dilherr: Weg zu der Seligkeit: So gezeiget wird / in dieses Büchlein Vier Theilen. Nürnberg 1646, S. 587–589, hier S. 589. Harsdörffer: Lied von dem lieben Gebet (wie Anm. 75), Bl. )( )( iiiv–)( )( iiii r. Luther: Deudsch Catechismus (wie Anm. 80), S. 197. Johann Gerhard: Ein und funffzig Gottselige Andachten und Geistreiche Betrachtungen […] in anmutige Teutsche Reymen gebracht / durch Simon Karg. Jena 1620, S. 325.

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genheit zur militia Christi-Metaphorik schon deshalb reichlich wahr, weil es zwei Berufsoffizieren gewidmet ist. Die göttliche Zuwendung und Antwort, die der Beter erfährt, endet nicht bei der anthropologisch noch begreiflichen Erfahrung einer seelischen Stärkung und sittlichen Ertüchtigung. Darüber hinaus umfaßt sie, worauf Danielis Betlied schon hindeutet, das naturgesetzlich Unmögliche. Sie ist die Stifterin des Wunders. Dilherrs Fast= Buß= und Bethtage geben das Beispiel der Propheten zu bedenken, »die / durch Ihre Gebet / unbegreifliche / unmögliche Dinge / ausgerichtet haben.«97 Harsdörffers Lied von dem lieben Gebet, im selben Jahr wie die Predigtsammlung erschienen, stellt gleich zu Eingang dasselbe Thema als dunkles Rätsel: Wer hat den Sonnenwagen / Gehemmet in dem Lauff? / Wer hat den Brand vertragen? / Wer steiget Himmelauff? / Wer macht / daß Eisen schwimmet? / Wer hält deß Höchsten Hand / Wann selbe schwebt ergrimmet / Zu straffen Leut’ und Land? 98

In dieser manieristischen Form bezieht sich Harsdörffer auf die klassischen Bibelstellen, die in ganz ähnlicher Kombination Dilherr versammelt.99 An erster Position steht nicht zufällig Josuas Bitte, die Sonne möge still stehen. Josua 10,12ff. zeichnet den Fall als privilegiertesten Augenblick in der Geschichte des Betens aus: »Da redete Josua mit dem Herrn […]. Vnd war kein tag diesem gleich weder zuvor noch darnach / da der Herr der stimme eines Mans gehorchet.«100 Die weiteren Punkte in Harsdörffers Rätselgedicht betreffen die Jünglinge im Feuerofen (Daniel 3), die Entrückung des Propheten Elia (2. Könige 2) sowie das Wunder des Elisa (2. Könige 6,6), der eine im Jordan versunkene Axtklinge hebt. Die Vorstellung, daß das Gebet die strafende Hand Gottes aufhalte, bezieht sich auf einen topischen Dreischritt, der die Eröffnungspredigt der Fast= Buß= und Bethtagen gliedert: »Gottes Drohen«, »Des Propheten Flehen«, »Gottes Erbarmen«. Das »flehentliche[] Gebet«, so Dilherr, bietet das Mittel, »Gottes angebrantes zornfeuer auszutilgen«.101 Harsdörffer zeigt ein besonderes Gefallen an der Wunderwirkung des Gebets, weil sie sich vorzüglich in den Dienst der Verwunderungspoetik stellen läßt. Daher die Attraktivität

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Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), Bl. )( xv–xii r. Harsdörffer: Lied von dem lieben Gebet (wie Anm. 75), Bl. )( )( iiiv. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), Bl. )( xv–xii r, S. 160ff. Martin Luther: Biblia. Das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Hg. v. Hans Volz. München 1974, Bd. 1, S. 422f. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 43.

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des Gebets für den Grossen Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Schon dessen vierte Erzählung, Die unbedachtsamen Eltern (nach Jean-Pierre Camus’ L’Amphithéâtre sanglant), beruht darauf: Auf ihr tägliches Gebet hin wird eine Frau jenseits des gebärfähigen Alters nochmals schwanger. Da sie das für die Gebetserhörung abgelegte Gelübde verletzt, ereilt sie ein plötzlicher Tod.102 Als Folge solcher bezeugten Wunderkraft ist die Sicherheit der Gebetserhörung ein seitenfüllendes Thema bei Theologen und Erbauungsschriftstellern. Harsdörffers Klag= und Trostlied aus den Klagliedern Jeremiae, ein Beitrag zu Dilherrs Trostreichem Jeremias, ermutigt Leser und Hörer: »[Gottes] Hülffe steht uns offen. | Wol dem der nach ihm fragt.« Unter Bezug auf die Psalmen Davids, dem Gebetbuch des Alten Testaments, erklärt er weiter: Gott hat uns beten lehren / Durch König Davids Wort: / Er will uns auch erhören / An allem End’ und Ort.103

Wenn Gott den Beter »vielmals eine Fehlbitte thun« läßt, bevor er »endlich aber ihn erhöret«, dann deshalb – so heißt es in Nathan und Jotham –, weil wir »seinem guten Eingeben, Predigten und gnädigem Willen zuvor kein Gehör gegeben«.104 Dilherr stützt diese Auffassung sowohl mit seiner JeremiasAuslegung wie auch mit den Fast= Buß= und Bethtagen, in denen er in seltener Ausführlichkeit aus der Gebetstheologie Luthers zitiert: Das Gebet sei »ein allmächtig groß Ding«; was der Mensch »ernstlich bittet / sonderlich mit dem unaussprechlichen Seufzen seines Hertzens / das ist ein groß unleidlich Geschrey für Gottes Ohren.« Gegen den Einwand, man hätte »doch schon eine lange zeit gebetet / und ist doch das angebrante zornfeuer Gottes noch nicht ausgetilget«, antwortet Dilherr, »daz es das eusserliche Mundgebet nicht ausrichte.«105 Wird das Gebet schon als Medium der Gotteserfahrung entworfen, mit dem man einen verborgenen Gott gesprächsweise sucht und findet, bleibt doch das heikelste Problem der Gebetsfrömmigkeit: Was, wenn Gott dauerhaft schweigt? Es ist dies die Situation Hiobs, die Dilherr als die schärfste Glaubensprobe interpretiert und in der schmalen Sammlung dreier Trostpredigten unter dem Titel Der Starkgläubige Hiob verhandelt. Harsdörffer steuert dazu ein Gedicht

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Georg Philipp Harsdörffer: Der Grosse Schau=Platz jämmerlicher Mordgeschichte. Bestehend in CC. traurigen Begebenheiten (1649–1650). Nachdruck der Ausgabe 1656. Hildesheim u. a. 1975, S. 14–16. Harsdörffer: Klag= und Trostlied (wie Anm. 93), Bl. A xiv–A xiiv. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 63. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), Bl. )( xv–xii r u. S. 43. Die erste Stelle ist ein Zitat aus Martin Luther: Ein Trost den Weibern, welchen es ungerade gegangen ist mit Kindergebären (1542). In: Ders.: Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1920, Bd. 53, S. 202–208, hier S. 206. Für die Identifizierung danke ich Professor Timothy Wengert (Philadelphia).

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bei, das Hiob 19,25 (»Ich weiß / daß mein Erlöser lebt«) paraphrasiert. Bereits in seinem Beitrag zum Weg zu der Seligkeit berührte Dilherrs Intimus die Frage: »Ach Gott! Ach Gott! Ach hastu mein vergessen?«106 Dort ermangelte jedoch nur der Lebensunterhalt und nicht die Antwort Gottes im Gebet. Hiob hingegen sucht zu beten und findet zu seinem Schrecken nur die Stimme des Teufels. Der Schmerz darüber ist so groß, daß das Rollen-Ich ihn in Stein gemeißelt sehen will. Harsdörffers eindrückliches Hiob-Gedicht akzeptiert die Gebetsfreundschaft mit Gott als auf unbestimmte Zeit ausgesetzt, versichert sich aber: Doch weiß ich / in meiner Noth / Daß mir ist befreundet Gott: Der lebt / ob er gleich jetzt schweiget; Der mich rettet / vnd nicht treuget.

Dieses Wissen kommt aus dem Akt der Überzeugung, den das Gebet am Beter leistet: Ich, ich werd / O Gott! dich sehen / mir / als einen Menschen gleich: / [...] Ich Knecht werd dich Herren kennen / und / nicht als ein Fremdling nennen.107

Denn die Wirkungspsychologie des Überzeugens und Bewegens adressiert in der Gebetsrhetorik nicht das Gegenüber, sondern den Redner selbst.

3. ›quomodo orare‹: Die Forderungen des Gebets Die Wirkungsmacht des Gebets, die orationis efficacitas, resultiert grundlegend daraus, daß man sich mit ihm in die Gesellschaft Gottes begibt. Nie steht man seinem Schöpfer näher als hier, wo man ein ›freundschaftliches Gespräch‹ mit ihm führt und eine »sondere Freundschaft«108 bestätigt. Die Oration überwindet praktisch einen theoretisch unüberwindlichen Abstand: Sie ist, wie Harsdörffer als eine scharfsinnige Rede in der Ars Apophthegmatica (1655–1656) vermerkt, die Jakobsleiter, auf der der Transit zwischen Himmel und Erde geschieht,109

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Harsdörffer: Klag= und Trostlied (wie Anm. 93), S. 587. Johann Michael Dilherr: Der Starkgläubige Hiob. Dargestellet in Dreien Predigen / über den herrlichen Spruch: Ich weiß / daß mein Erlöser lebt. Job. 19/25. Nürnberg 1648, Bl. )( xii. Lerchenfeldt (wie Anm. 30), S. 16. Georg Philipp Harsdörffer: Ars Apophthegmatica. Das ist: Kunstquellen Denckwürdiger Lehrsprüche und Ergötzlicher Hofreden (1655–1656). Nachdruck hg. v. Georg Braungart. Frankfurt/M. 1990, Tl. I, S. 325.

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oder – so die Gesprächspiele – »ein Gespräch […], welches als der Pfeil unsrer Zungen durch die Wolken dringt«.110 Das ausgesuchte Bild vom himmelschießenden Zungenpfeil entlehnt der Dichter weder den Schriften Luthers, Gerhards noch Dilherrs, sondern unter ausdrücklichem Hinweis der 1636 erschienenen Rhetorica caelestis des Münchner Jesuitenschriftstellers Jeremias Drexel (1581– 1638), der für die Sprache des Gebets zwar Einfachheit und Klarheit verlangt, für das Sprechen über das Gebet indes kühne Bilder entwirft und sich variantenreich an der Paradoxie der unberedten Beredsamkeit des Gebets erfreut.111 Im Einklang mit der katholischen wie der protestantischen Tradition sieht Harsdörffer die Gebetserhörung nur unter bestimmten Bedingungen gesichert. Vor allem versteht sich der Bogen, von dem Drexels Pfeil abgeschossen wird, als das Herz, das Gott in Liebe zugetan ist. Das Herzensgebet steht im Widerspruch zum kraftlosen Mundgebet, das in der protestantischen Theologie noch mehr gescholten wird als in der katholischen. »[W]ie betet mancher?«, so katechesiert Dilherr: »Warhaftig also / daß die Seele nicht viel davon weiß.« Man müsse seinen Schöpfer aber »mit einem geängsten und zuschlagenen Hertzen« anrufen.112 Harsdörffer gibt diese Empfehlung und Warnung wiederholt an sein Publikum weiter. Im Gebetsspiel der Gesprächspiele bedauert die Figur der Cassandra Schönlebin »die Fahrlässigkeit in dem lieben Gebet / in dem wir wollen / Gott soll uns erhören / und wir hören uns selbsten nicht / wann wir mit dem Munde reden / und zugleich vielen flüchtigen Gedanken Gehör geben.«113 Das Lied von dem lieben Gebet findet sein Ziel in dem Aufruf: So setztet nun zusammen / Und bittet umb den Fried / Last euwer Hertz beflammen / Das schöne Psalmenlied.114

Die Ars Apophthegmatica verzeichnet es als einen Weisheitssatz, daß das Herz die Gebetsworte in den Mund lege.115 Freundschaft mit Gott findet vorbehaltlos, in einem Reservat aufrichtigen Sprechens, statt: »wann man Ihm völlig trauet«, ohne alternativ »bald auf diese / bald auf jene Hülfe« zu hoffen.116 Sie schließt

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 51), Tl. VIII, S. 17. Vgl. Jeremias Drexel: Rhethorica caelestis seu attente precandi scientia. Antwerpen 1641, S. 12. Dazu Barbara Bauer: Jesuitische ›ars rhetorica‹ im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Bern u. a. 1986, S. 556–560; sowie Hanspeter Marti: Der Dialog mit Gott im Gebet. Die ›Rhetorica caelestis‹ des Jesuiten Jeremias Drexel. In: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock. Hg. v. Dieter Breuer in Verbindung mit Barbara Becker-Cantarino u. a. Wiesbaden 1995, Bd. 2, S. 509–521. Dilherr: Trostreicher Jeremias (wie Anm. 3), S. 57; sowie ders.: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 47. Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 51), S. 16. Harsdörffer: Lied von dem lieben Gebet (wie Anm. 75), Bl. )( )( iiii r. Vgl. Harsdörffer: Ars Apophthegmatica (wie Anm. 109), Tl. I, S. 451. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 113.

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absolute Redlichkeit ein und die Regeln der kurialen Rede sowie der politischen Klugheit aus. Wo die Seele vor Gott steht – »anima familiarissime Deo praesentatur«, formuliert Luis de Granada – ist das Welttheater ausgesetzt.117 Den erfolgreichen Beter zeichnet indes nicht nur ein bewegtes, sondern auch ein starkes Herz aus. Er besitzt die Tugend der Glaubensfestigkeit. Im Lied von dem lieben Gebet heißt es im Anschluß an die Mirakelkette: So grosse Wunderwercke / Kan deß Gerechten Bitt / Wann er in Glaubensstärcke / Für Gottes Throne tritt.118

Denn Gott hilft nicht eher, bis daß man sich mit exklusiver Zuversicht auf ihn verläßt und auf keine andere Hilfe mehr hofft, bis wir – so Harsdörffer – »nur glauben / daß unser Gebet in Ihm Ja und Amen seye«119. Der Starkgläubige Hiob, über den Dilherr am Ostermontag 1645 predigt, belehrt genau darüber. Der Nürnberger Primas verleiht solchem Unterricht einen Sitz im Leben, wenn er der Predigt eine Bemerkung zu den aktuellen Kriegsumständen nachstellt: »Betet / betet / liebste Zuhörer; es ist hoch vonnöthen. Betet / betet / und zweiffelt nicht dabey. Das einige Gebet kan uns noch helffen / welches Gott / um Christi willen / nicht verschmehen wird.«120 Gerhard und Arndt gehen darüber hinaus, wenn sie übereinstimmend zu bedenken geben: »das Gebet erfordert und begreifft in sich alle Christliche Tugenden.«121 Eben auf dieser Voraussetzung beruht Harsdörffers allegorische Erzählung im ersten Band von Nathan und Jotham: Die christlichen Tugenden versammeln sich, um zu Ehren ihrer »Vorsteherin«, dem Gebet, ein Fest zu geben. Glaube, Hoffnung, Liebe, Mäßigkeit und Keuschheit nennen reihum »alle Ehren=Namen deß Gebets«. Dasselbe beschließt den Reigen mit der Frage, warum »dann die Menschen so lässig [sind] / daß sie mich nicht erkennen für das / was ich bin.«122 Damit ist zugleich eine weitere Bedingung der Gebetseffizienz angesprochen: »nicht laß [zu] werden im Gebet / und ohne Unterlaß [zu] beten.«123 Harsdörffer will an diesem Postulat des Paulus (2. Thessaloniker 5) keinerlei Abstriche vornehmen. Das in Nathan und Jotham aufgenommene Lied Von der Erleuchtung unserer Herzen variiert die Verhaltensnorm:

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Luis de Granada (wie Anm. 27), S. 158. Zu einem Bedürfnis im 17. Jahrhundert, Reservate aufrichtigen Sprechens zu schaffen, vgl. Claudia Benthien u. Steffen Martus: Aufrichtigkeit – zum historischen Stellenwert einer Verhaltenskategorie. In: Die Kunst der Aufrichtigkeit im 17. Jahrhundert. Hg. v. dens. Tübingen 2006, S. 1–16. Harsdörffer: Lied von dem lieben Gebet (wie Anm. 75), Bl. )( )( iiiiv. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 170. Dilherr: Der Starkgläubige Hiob (wie Anm. 107), S. 164. Arndt (wie Anm. 41), Bl. A vr. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. I, S. 74f. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 63.

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Die Himmel rühmen Gottes Ehr’ / und geben uns auch solche Lehr / daß wir Ihn stets mit unserm Mund / hoch preisen sollen alle Stund.

Der ideale Gebetsort liegt daher nirgendwo anders als in der Ewigkeit: So wollen wir dir allezeit / hier danken in der Christenheit / und dorten mit der Engelschar / dich ewig loben immerdar.124

Das Gebet erheischt damit eine Sakralisierung des Alltags, die Harsdörffer mit ausgeprägtem Ordnungswillen unterstützt. So personifiziert er in Nathan und Jotham die zweimal zwölf Stunden des Tages und der Nacht, die »sich verglichen [haben] / die sündigen Menschen« beständig »ihrer Schuldigkeit gegen Gott zu erinnern«.125 Eine nach der anderen tritt hervor, um eine Gebetslosung vorzubringen. Das Vaterunser legt Harsdörffer als ein Instrument aus, »das Feuer der Andacht auf dem Altar unsers Herzens unausleschlich zu erhalten«. Seine sieben Bitten seien auf die sieben Tage der Woche eingeteilt, »daß wir so Nachts so Tags an denselben gnugsam zu bedenken haben.«126 Dieses Argument korreliert wiederum präzise mit einer Problembeschreibung Dilherrs, der sich bei seinem Leser und Hörer persönlich beklagt, »daß du die sechs Tage über selten [...] recht betest / selten dein Hertz für Gott recht ausschüttest« und an anderer Stelle einschärft: »Wir bedürfen aber […] das Gebet; welches ja aller Christlichen Verrichtungen Eingang und Ausgang seyn solle.«127 Im Versuch, die Lebenswelt lückenlos mit dem Glaubenssystem zu kolonisieren, liegt ein sozialdisziplinierendes Moment, für das im dicht strukturierten Gemeinwesen Nürnbergs sowohl der politische Wille als auch die Möglichkeiten vorhanden waren. Mehrfach während seiner Amtstätigkeit hat Dilherr Ratsentscheidungen beeinflußt oder herbeigeführt, welche die Frömmigkeit zur Bürgerpflicht erklärten. »Komt! laßt uns anbeten / und knien / und niederfallen vor dem Herrn«, diese Worte König Davids (Psalm 95,6) faßt der Prediger als staatsgesetzliche Weisung auf und überträgt sie auf den Stadtstaat: »Ebendieses [...] sagt auch jetzo unsere hochgeehrte werthe Oberkeit zu ihren lieben Burgern.«128

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Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 122f., vgl. ebd. S. 147: »Bis wir nach solchem Elendstand / versetzt in das gelobte Land / dich ewig ewig loben.« Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. I, S. 74. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 168. Johann Michael Dilherr: Heilige Sonntagsfeier / beschrieben auß heiliger Schrifft / alten Kirchen=Vättern / und andern reinen Lehrern. Nürnberg 1649, S. 78f.; ders.: Zeit=Predigten […] Samt beygefügten dazu gehörigen Gebeten. Nürnberg 1657, S. 716. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 89.

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Versteht sich, daß der Hauptpastor Dilherr und der Richter Harsdörffer selber Vertreter dieser Obrigkeit sind. Das Gebet ist eine mächtige Gabe mit proportional großem Verpflichtungscharakter. Gerhard gründet es im Anschluß an Luthers Großen Katechismus auf das Zweite Gebot und damit auf den »ernste[n] Befehl Gottes«. »Wer nicht betet«, so lehrt die Schola pietatis, »der verachtet Gottes Befehl / und [...] begeht eine schwere Sünde.«129 Dilherr leitet hieraus – mit Hinweis auf das Dritte Gebot – sogar die Sonntagseinsetzung und die Sabbatheiligung ab: »O lieber Christ! Es ist ja gnug / daß du die sechs Tage über selten [...] recht betest / selten dein Hertz für Gott recht ausschüttest: ach! thue dasselbe am Sonntage.« »Denn du hast viel zu bitten von Gott«: »sonderlich Vergebung der Sünden«.130 Harsdörffer akkompagniert: Gott »will / daß wir anklopffen / | und ihn ersuchen im Gebet.«131 Dieses Argument bietet eine von mehren Lösungen für eines der heikelsten Probleme der Gebetsreflexion: das der fraglichen Gebetswürdigkeit des Menschen und der daraus folgenden Gebetsscheu. Harsdörffer berührt es gleich zu Beginn des Lieds von dem lieben Gebet. Wer sind die irdischen »Sündenknechte«, daß Gott im Himmel ihr Rufen hören sollte? Woher kommt dem Menschen die Erlaubnis, Gott im Gebet zu bitten, und woher nimmt er in seiner korrupten Natur die Fähigkeit dazu? »Wir sind [...] nicht werth / daß wir dich anreden«,132 lautet Dilherrs Bekenntnis in den Fast= Buß= und Bethtagen, mit dem er Gott gleichwohl anredet. Es liegt für den Protestanten kein Ausweg darin, statt Gottes einen Heiligen oder Engel anzureden, denn aus der Anbindung an das Zweite Gebot soll folgen, »daß die Ehre der Anruffung Gott dem Herrn allein gebühre«.133 Die ignatischen Übungen bieten dem Gläubigen dagegen Vermittlungsinstanzen an, die sich vor dem Hintergrund der Gebetsscheu verstehen. Beten heißt hier die Alternative, »mündlich oder innerlich mit Gott oder seinen Heiligen [zu] reden«.134 Woher nun der Anfang des Guten im Bösen? Das wahre Leben im falschen? Der vollendete Ausdruck dieser Paradoxie ist das Gebet um die Gabe des Gebets. Die Erfordernisse des Gebets stehen nicht im menschlichen Vermögen, »sondern es sind lautere Gaben Gottes / die du ihm auch abbitten must.«135 Gerhard schließt die Orationsüberlegungen seiner Schola pietatis mit einem solchen ab, Dilherr desgleichen den Gebetsanhang seiner Sonntagsfeier, wo er ein »Gebet / um die Gnade recht zu beten«136 formuliert. Harsdörffer greift das Motiv in den Sonntagsandachten auf, wenn er – die Paradoxie auskostend – bereits eifrig genug zum Heiligen Geist betet: »Du bist der Geist deß Gebets / 129 130 131 132 133 134 135 136

Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 671f. u. 699. Dilherr: Heilige Sonntagsfeier (wie Anm. 127), S. 78f. u. 80f. Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. I, S. 190. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 108. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 702. Lerchenfeldt: Exercitia Spiritualia (wie Anm. 30), S. 2f. Arndt (wie Anm. 41), Bl. B 3v. Dilherr: Heilige Sonntagsfeier (wie Anm. 127), S. 210–212.

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rühre unsre Zungen / daß wir im Beten eiferig […] werden.«137 Damit benennt er aber auch den Ermöglichungsgrund seines frommen Tuns. In Nathan und Jotham bestärkt er diese Auffassung, wenn er in einem Betlied innehält und konstatiert: »Aus deß Heilgen Geistes Triebe | lob’ und lieb’ ich Jesum Christ.« Damit schließt er konsequent an das Titelthema des vorangehenden Liedes an: die »Einwohnung Gottes in unseren Hertzen«.138 Es handelt sich hier um die Abbreviaturen lutherischer Glaubenssätze, die Gerhard in der Vorrede seines Gebetbuchs als Lehre von den Säulen des Gebets erläutert. Die zentrale Säule trägt dadurch, daß der Mensch nicht aus eigenem Antrieb zu Gott ruft, sondern aus Wirksamkeit des Heiligen Geistes und dessen inhabitatio im Gläubigen. Wir können »kein Vertrauen auf uns selber setzen«, aber »[Gottes] Heiliger Geist lehret uns selber«.139 Auf diese Weise wird auch allererst sichergestellt, daß wir nicht nach menschlicher Weise um das Falsche und Unzukömmliche bitten: »quomodo orare oporteat nescimus, sed ipse Spiritus postulat pro nobis«140. Diese Argumentation geht letztlich dahin, daß das Gebet ein Gespräch zwischen der dritten und der ersten göttlichen Person ist, Gott mithin durch das Medium des Menschen mit sich selber kommuniziert. In der Schola pietatis zieht Gerhard, indem er ein Argument für die sichere Gebetserhörung sucht, vollends den Schluß: »also kommen die gläubigen Seufftzerlein von Gott und Kommen wieder zu Gott.«141 In der lutherischen Orthodoxie wurzelt ein tiefer Verdacht gegen den Menschen, dem in seinem Sündenstand wenig zu trauen und zuzutrauen ist. Von sich aus scheint er nicht in der Lage zum Gebet, da ihm keine eigenen Vermögen dazu geblieben sind: »nullae super sunt vires«, schreibt Gerhard über die gefallene Krone der Schöpfung. Den Lesern und Hörern seines Exercitium pietatis schenkt er die Erbsündenlehre vollkommen unverdünnt ein. Im Gebet soll der Mensch zuallererst die unverbesserliche Korruption seiner Natur erkennen: die Schwere der Erbsünde (»gravitas peccati originalis«) und der persönlich begangenen Sünden (»peccatorum actualium«). Die daraus resultierenden Gebete klingen, um nur den Eröffnungstext zu zitieren, folgendermaßen: Sancte Deus, juste judex, scio me in peccatis conceptum et natum, scio ex immundo semine in utero matris me esse formatum: venenum illud peccati totam meam Naturam ita corrupit et tabificavit, ut nullae vires animae ab illius contagione sint liberae.142

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Harsdörffer: Hertzbewegliche Sonntagsandachten (wie Anm. 6), Tl. I, S. 209. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 52f. Dilherr: Fast= Buß= und Bethtage (wie Anm. 4), S. 109f. Vgl. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 683f. Gerhard: Exercitium Pietatis (wie Anm. 65), Bl. A 6vf. Gerhard: Schola pietatis (wie Anm. 17), S. 684. Gerhard: Exercitium Pietatis (wie Anm. 65), Bl. B 1vf.

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Der Mensch in Sünde empfangen und unrein geboren, sein ganzes Wesen verdorben und geschwächt, keine Kraft der Seele frei vom Gift der Sünde – dieser Mensch dürfte nicht beten können. Dem Gläubigen nahezulegen, er sei bloßes Objekt des Heilsgeschehens und trage keine aktive Verantwortung dafür, bietet jedoch gewiß nicht den günstigsten Ausgangspunkt für die Bekämpfung einer gefühlten Frömmigkeitskrise. Der Dichter Harsdörffer, der sich mithin für das delectare seiner Leser verantwortlich weiß, sucht daher einen anderen Eindruck zu erwecken. So setzt er die Imperfektibilitätsvoraussetzung bemerkenswert weit in den Hintergrund. In den Sonntagsandachten als seiner einzigen ausschließlich religiösen Publikation, mit der er sich dem Urteil eines amtszuständigen Theologenpublikums aussetzte, gibt er sich vergleichsweise unerbittlich. Auf der Linie der Gesprächspiele aber, deren Gebetsüberlegungen er in Nathan und Jotham wörtlich aufgreift und weiterentwickelt, lastet das Sündengewissen weit weniger schwer. Der menschliche Sündenstand wird zwar gesehen, aber immer schon von der Seite seiner Überwindung: So rühmt Harsdörffer das Gebet als »Threnenquelle der Bußfertigen«, »Versehnung der Sünden« und gar als »die Sicherheit unsers Gewissens«. Durch »ein brünstiges Gebet« werde der Mensch »gleichsam verkläret«, wie Glas geläutert »und den Engeln etlicher maßen gleich.«143 Dieses Bild ist zwar konkordant mit Gerhards Auskunft: »Durchs Gebet [...] werden [...] wir gleich den Engeln Gottes / und verrichten der Engel Ampt.«144 Doch alle wunderbaren Kräfte, die auch Gerhard dem Gebet zuschreibt, stehen unter dem Vorbehalt, daß der nicht wiedergeborene Mensch bis zum nächsten Gebet wieder auf sein Ausgangsniveau zurückfällt. Die geistliche Übung ist ein ständiger Engelssturz, eine Sisyphos-Arbeit, von der nicht eigene Anstrengung, sondern nur göttliche Erlösung befreit. Gerhard macht vor, wie Erbauungsliteratur ohne Zugeständnisse an den gefälligen Gebrauch und ohne schonungsvolle Abstriche an der reinen Lehre geschrieben wird. Anders der Laie Harsdörffer, der sein literarisches Spiel nicht allein durch Kombination, sondern zuallererst durch Selektion betreibt: Seine Empfehlung des Gebets erfolgt – eine Stilnotwendigkeit der Hyperbolik – ohne Gegenanzeigen und Relativierungen. Mit der Hinneigung zu Formen des anthropologischen Optimismus hängt zusammen, daß Harsdörffer und selbst Dilherr nicht eben bemüht sind, die Propagierung des Gebets vom Eindruck der Werkgerechtigkeit fernzuhalten. Dies geschieht offenbar in der Absicht, die Attraktivität der empfohlenen Glaubensübungen nicht zu schmälern. Dilherr bezeichnet das Gebet als ein »nothwendige[s] Stück / zu überkommnung der Güte / Barmherzigkeit / und Gnad Gottes.«145 Die Konkordienformel – die letzte, 1577 entstandene Bekennt-

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Harsdörffer: Frauenzimmer Gesprächspiele (wie Anm. 51), Tl. VIII, S. 17 u. 21. Gerhard: Exercitium Pietatis (wie Anm. 65), Bl. B 2r. Dilherr: Trostreicher Jeremias (wie Anm. 3), S. 58f.

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nisschrift der lutherischen Kirche – hatte in diesem Punkt noch recht deutlich festgeschrieben, die guten Werke seien als nicht ursächlich notwendig für das ewige Leben anzusehen und der Mensch könne an seiner Bekehrung nicht mitwirken.146 Harsdörffer verabreicht die Medizin des Gebets als das »Werkzeug unserer Heiligung« und formuliert an anderer Stelle: Die Threnen waschen in uns ab / den Unflat aller Sünden: / Sie sind deß Himmels Gnaden Gab / durch das Gebet zu finden.147

Arndt verspricht seinem Leser und Hörer zwar in derselben Metaphorik, die Gebete »werden dir die Thränenbrünlein eröffnen«148. Vorstellungen vom Sündenablaß läßt er dabei aber nicht aufkommen. Verwunderungswürdig ist zumal Harsdörffers doppelte Empfehlung der guten Werke, wenn er in Nathan und Jotham ein argutes Wortspiel mit »Gebet« und »gebet« (nämlich »gebet den Armen«) wagt und solchermaßen beider Verwandtschaft beweisen will. Das eine sei in das andere »zu verwandeln«.149 Stilistisch leistet er sich damit nochmals die esoterische Kombinationskunst des Manierismus, thematisch wendet er die himmlische in eine säkulare Kommunikation: in die Zuwendung zum Nebenmenschen. Dilherrs Leichenpredigt, von der unsere Beobachtungen ihren Ausgang nahmen, findet auch für dieses Motiv einen Sitz im Leben Harsdörffers, der »überaus mitleidig und barmhertzig gegen seine nothleidende Nächsten gewesen« sei.150

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Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß. 10. Aufl. Göttingen 1986, S. 891. Anders freilich der auf katholischer Seite kanonische Katechismus des deutschen Jesuitenorganisators Petrus Canisius (Der Große Katechismus. Summa doctrinae christianae [1555]. Hg. v. Hubert Filser u. Stephan Leimgruber. Regensburg 2003, S. 230 u. 238): »Ex operibus iustificatur homo et non ex fide tantum«. Und über das Gebet: »Nullum est bonum opus, quod quidem a pluribus et seapius et diligentius magisque necessario in hac vita christiana sit exercendum.« Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. I, S. 74 u. Tl. II, S. 158. Arndt (wie Anm. 41), Bl. B 5v. Harsdörffer: Nathan und Jotham (wie Anm. 47), Tl. II, S. 62. Dilherr: Des Menschen Stand (wie Anm. 1), S. 19.

Sach- und Personenregister

Académie des Sciences 240f. Academia Naturae Curiosorum 241 Accademia del Cimento 240 Affekte 41, 69, 74, 76, 80f., 176, 205, 214, 217, 287, 289, 290, 293 Albertinus, Aegidius 128 Alchemie 249, 250, 270–274, 277, 308 Alciatus, Andreas 181f. Emblematum liber 181 Alsted, Johann Heinrich 4, 95, 250 Encyclopaedia 250 Anton Ulrich von BraunschweigWolfenbüttel 40, 224, 231 Amelinde 224, 231 Regier=Kunst=Schatten 224, 231 Apophthegma 93, 112, 243 Aretino, Pietro 7 Sonetti lussuriosi 7 Ariosto, Ludovico 8 Orlando Furioso 8 Aristoteles 4, 6, 16, 24, 27, 42–44, 254, 256, 261, 262, 266, 268, 272, 275 De anima 42 Arndt, Johann 140, 197, 302, 307f., 311– 313, 315, 320, 322, 325 Paradiß Gärtlein 307, 312, 315 Vom wahren Christentum 311 Astrologie 96, 265, 277 Augspurger, August 222 Schäfferey 222 Aventin, Johann 18 Avicenna 42, 43 Avila, Teresa de 281, 290f., 306 Ayrer, Jakob 226 Bacon, Francis VIII, IX, 34, 98, 111, 131, 237–240, 244, 251–258, 260–263, 267, 271, 275, 277f., 302 De Augmentis Scientiarium 111, 253 De Sapientia Veterum 252, 257, 260 Historia Ventorum 253 Historia Vitae et Mortis 253 Instauratio magna 237 Nova Atlantis 239, 252, 253 Sylva Sylvarum 253, 254 Balde, Jakob 8, 10, 11, 41, 90, 91, 281 Agathyrsus Teutsch 11 Jephtias vanitate mundi 10, 11, 90

Balzac, Jean-Louis Guez de 308 Bandello, Matteo 117, 123, 124, 126, 128 Barclay, John 8 Argenis 8 Barlaeus, Caspar 17 Geschichtreden 17 Barry, Paul de 293, 294f., 296 Bartas, Guillaume du 8 Semaine 8 Basson, Sébastien 261 Bauhin, Caspar 93 Theatrum Anatomicum 93 Theatrum Chemicum 93 Beccadelli, Antonio 7 Hermaphroditus 7 Béguin, Jean 272, 273 Elemens de chymie 272, 273 Belleforest, François de 86, 117, 121, 123, 124, 126, 128 Berti, Gaspare 276 Besson, Jacques 93 Theatrum Instrumentorum Et Machinarum 93 Bettini, Mario 262 Beyerlinck, Laurentius 92 Magnum theatrum vitae humanae 92 Birken, Sigmund von 10, 21, 26, 205, 206, 218, 219, 225, 227, 230, 252, 303 Sophia 227 Bisaccioni, Maiolino 221 Boaistuau, Pierre 86, 95, 96, 117, 123, 126, 128 Boccaccio, Giovanni 117, 150 Bonifacio, Giovanni 309 L’arte die cenni 309 Borghini, Raffaello 221f. La Donna 222 Botero, Giovanni 93 Bourdieu, Pierre 77 Brahe, Tycho 264 Briegel, Wolfgang Carl 224 Buchner, August 9, 218, 220, 230 Orpheus 218, 230f. Büchner, Georg 178 Bürger, Gottfried August 167 Bulwer, John 77 Chirologia 77

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Sach- und Personenregister

Campanella, Tommaso 249 De sensu rerum et magia 249 Camus, Jean-Pierre 12, 86–89, 92, 96, 101, 104, 110, 115–118, 120–129, 131–134, 136–140, 142–144, 145, 150, 171f., 286, 289, 296, 317 L‘Amphithéâtre sanglant 86–89, 120f., 123–126, 132–134, 137f., 286, 317 Spectacles d’ horreur 122, 123, 126, 128 Capricornus, Samuel 224 Raptus Proserpinae 224 Cardano, Gerolamo 275 Catullus, Gaius Valerius 7 Celtis, Konrad 7 Cervantes, Miguel de 121, 123, 142, 152– 154, 157f., 162f. Novelas ejemplares 99, 123, 142, 152 Cicero, Marcus Tullius 14, 17 Ciceronianismus 18 Clairvaux, Bernhard von 305 Comenius, Johann Amos 42, 94, 254, 261, 263, 268, 270, 275 Physicae synopsis 261, 263 Cressolles, Louis de 94 Theatrum veterum 94 Cruz, Juan de la 281, 290, 306 Cusanus, Nikolaus 259 Descartes, René 237, 238, 262, 268, 269, 275 Dilherr, Johann Michael 204, 214, 281, 285, 288–290, 299–304, 306, 311–325 Christliche Betrachtungen 214, 300 Christliche Morgen= und Abendopfer 311, 312 Gartenbetrachtungen 300, 301 Göttliche Liebesflamme 214, 285, 288–290, 304 Trostreicher Jeremias 300, 314, 317, 319, 324 Dornau, Caspar 1 Dousa, Janus 5 Drama 38, 65–82, 85–91, 105, 110, 118, 173, 178, 198, 213, 214, 216, 217, 220, 226, 227, 228, 230, 231, 303 Drebbel, Cornelis 270 Drexel, Jeremias 281, 319 Emblematik 20, 72, 73, 116, 171, 181–195, 260, 280, 283, 304 Endter, Wolfgang 58, 60 Engelgrave, Heinrich 305

Enzyklopädik IX, 18, 19, 20, 22, 32, 94–98, 113, 156, 168, 199, 205, 249, 250, 279 Erbauung 20, 24, 31, 41, 61, 99, 112, 145, 171, 183, 198, 239, 262, 266, 278, 279, 285, 286, 287, 300, 303, 304, 307, 308, 311, 312, 313, 317, 324 Exemplum 3, 5, 15, 28, 30, 38,40, 44, 45, 50, 58, 61, 63, 83, 93, 98, 99, 100, 102, 115, 119, 120, 130, 140, 141, 145, 147, 152, 155, 157, 167, 171, 176, 214, 285, 286, 302, 315 Falloppio, Gabriello 273 Secreti diversi et miracolosi 273 Feyerabend, Sigmund 93 Theatrum Diabolorum 93 Fleming, Paul 9, 18 Fludd, Robert 42, 95, 261–263 Foucault, Michel 25, 26, 29, 37, 100f Les mots et les choses (Die Ordnung der Dinge) 25, 29, 37 Surveiller et punir (Überwachen und Strafen) 100f. Freyberg, Wilhelm Heinrich von 52, 53, 63 Fruchtbringende Gesellschaft 30, 42, 47, 50–54, 56, 57, 58, 60, 61, 63, 83, 132, 251, 293 Gabrieli, Giovanni 214 Symphoniae Sacrae 214 Galilei, Galileo 242, 261, 263, 264, 267– 269, 275 Systema Cosmicum 263 Garzoni, Tomaso 94, 250 Piazza universale 94, 250 Gattungspoetik 3, 4, 122 Gebet 52, 228, 281, 285, 290, 293, 294, 296, 297, 299–325 Gerhard, Johann 302–307, 310–315, 319–324 Exercitium pietatis 311, 313, 315, 323 Schola pietatis 302, 305f., 310–315, 322, 323 Gesner, Conrad 19 Gipper, Andreas 237 Gleichnis 15, 16, 19, 21, 22, 26, 27, 28, 34, 36, 37, 69, 89, 160, 168, 184, 185, 188, 191, 194, 257, 262, 283, 285, 288, 289, 295 Goethe, Johann Wolfgang von 10, 167 Hermann und Dorothea 10 Goldast, Melchior 2, 18 Gottsched, Johann Christoph 226 Goulart, Simon 115, 117, 123–128, 137, 138, 142, 143, 144

Sach- und Personenregister Thrésor d’histoires admirables et mémorables 115, 117, 123–128, 137, 138, 142, 143, 144 Granada, Luis de 304, 312, 313, 314, 315, 320 De Oratione et Meditatione 304 Greflinger, Georg 227 Ferrando Dorinde 227 Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 95, 99, 113, 122, 123, 149, 150 Grotius, Hugo 172 Drei Bücher vom Recht des Krieges und des Friedens 172 Groto, Luigi 221, 222 La Calisto 221 Gryphius, Andreas IX, 8, 9, 18, 68, 70, 87, 167, 225 Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus 8 Herodis Furia 8 Majuma 225 Olivetum Libri tres 8 Piast 225 Sonn= und Feiertagssonette IX Verlibtes Gespenst 225 Gualdo, Galeazzo 16 Historia della vita d’Alberto Valstein 16 Guarini, Giovanni Battista 217, 219, 230 Pastor Fido 217, 219, 230 Guericke, Otto von 266, 275, 277 Günther, Christian 9 Habermann, Johann 310 Christliche Gebete 310 Haeften, Benedictus van 281 Hainlein, Paul 214 Hall, Joseph 281, 290, 296, 304 Hallmann, Johann Christian 173 Hammerschmidt, Andreas 213 Harsdörffer, Georg-Philipp Ars Apophthegmatica VII, 33, 35, 37, 243, 284, 288, 291, 318, 319 Erquickstunden 13, 20, 33, 46, 47, 51, 58, 61, 112, 145, 163, 206, 207, 208, 213, 237, 238, 239, 242, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 252, 253, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 284, 308 Fortpflanzung der Hochlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft 42, 45, 46, 47, 49, 50, 51, 53, 54, 57, 58, 60, 63

329

Frauenzimmer Gesprächsspiele VIII, 10, 11, 12, 13, 18, 19, 28, 34, 36, 65, 70, 73, 76, 77, 79, 89f., 100, 111, 121, 133, 135–137, 141f., 148, 149, 156–161, 164, 167, 169, 174, 184–194, 198–203, 206, 208, 210, 213, 215, 216, 217, 221–231, 244, 247, 248, 250, 253–258, 260, 282, 283, 284, 292, 296, 308, 309, 312, 314, 319, 324 Geschichtspiegel 69, 75, 79, 80, 110, 113, 257, 288, 289 Heraclitus und Demokritus 289 Hertzbewegliche Sonntagsandachten VII, 198, 199, 210, 248, 280, 282–285, 288, 289, 290, 292, 300, 303, 305, 306, 308, 311–313, 322, 323 Jämmerliche Mordgeschichte 12, 13, 83, 84, 85, 86, 88, 91, 92, 97, 99, 101, 102, 103, 104, 105, 106, 107, 108, 110, 111, 112, 115–145, 147–165, 167–179, 195, 282, 285, 286, 289, 313, 317 Kunstverständiger Discurs von der edlen Mahlerey VII Lobrede des Geschmackes 39, 41, 43, 47, 53, 54, 55, 60, 61 Lust= und Lehrreiche Geschichte 83, 89, 92, 97, 98, 99, 100, 113, 115– 145, 147–165, 167, 286, 312 Nathan und Jotham VII, 12, 14, 17, 124, 160, 276, 281, 283–285, 289, 291, 306, 308, 312–314, 317, 320, 321, 323, 324, 325 Pegnesisches Schäfergedicht 230, 252 Poetischer Trichter 11, 13, 14, 15 Schutzschrift für die teutsche Spracharbeit 19 Seelewig 198, 199, 203, 205–207, 213– 235, 260, 308 Specimen Philologiae Germanicae 11 Teutscher Secretarius 76, 77, 246 Trincierbuch 54f., 57, 61, 63, 244 Hassler, Hans Leo 205 Haugwitz, Gustav Adolf 173 Heering, Justus Daniel 313 Hees, Wilhelm van 304 Heinsius, Daniel 3, 8 Nederduytsche Poemata 3 Hipponax ad Thaumantidem 8 Herbst, Johann Andreas 209 Arte Prattica et Poetica 209 Herder, Johann Gottfried 10

330

Sach- und Personenregister

Hermes Trismegistus 208 Hermetismus 186, 237, 238, 260, 263, 270, 272, 277 Hesius, Guilielmus 281 Hieronymus 41 Hille, Carl Gustav von 60 Der Teutsche Palmbaum 60 Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann von 37, 219, 220, 282 Homburg, Ernst Christoph 18, 222 Tragico-Comoedia Von der verliebten Schäfferin Dulcimunda 222 Homer 5, 10, 17 Hondorf, Andreas 93, 102 Theatrum Historicum Illustrium Exemplorum 93 Horaz, Quintus Horatius Flaccus 6, 7, 73, 75, 174, 239, 245, 247 De arte poetica 73 Huarte, Juan 32 Examen de ingenios para les sciencias 32 Hugo, Hermann 281, 304 Pia desideria 304 Hugo von St. Victor 249 Humanismus 3, 6, 7, 8, 9, 11, 13, 32, 34, 35, 36, 109, 198, 202, 240, 246, 254, 309

Kleist, Heinrich von 118, 167, 170 Klotz, Christian Adolph 10 Carmina 10 Opuscula poetica 10 Knoch, Christian Ernst 52, 53, 63 Kombinatorik 20, 23–38, 61, 62, 121, 145, 160, 162, 164, 181, 243 Kopernikus, Nikolaus IX, 33f., 264–266

Jonston, Johann 254 Juvenal, Decimus Iunius 6 Satiren 6

Lang, Franciscus 81 Dissertatio de actione scenica 81 Leibniz, Gottfried Wilhelm 241 Lemnius, Simon 7 Lerchenfeldt, Leonhard 305, 307–309, 311, 318, 322 Libavius, Andreas 135, 273 Lingelsheim, Georg Michael 3 Lipstorp, Daniel 263, 265 De Systemate Mundi Copernicano 265 Lohenstein, Daniel Casper von 36, 78, 87, 167, 173 Sophonisbe 78 Lonicer, Philipp 93 Theatrum Historicum Illustrium Exemplorum 93 Lotichius, Johannes Petrus 5 Lotichius Secundus, Petrus 5 Loyola, Ignatius von 304 Luder, Peter 7 Luther, Martin 12, 18, 45, 102, 135, 169, 174, 205, 217, 302, 303, 305, 306, 313, 315, 316, 317, 319, 322 Auslegung deutsch des Vaterunsers 306

Kepler, Johannes 209, 263–265 Astronomia nova 263 Epitome Astronomiae Copernicanae 263, 265 Kindermann, Johann Erasmus 199, 205, 214, 224, 229 Kircher, Athanasius 209, 217, 238, 249, 262f., 270, 273, 275, 276, 277 Ars Magna Lucis et Umbrae 262f., 273 Iter exstaticum coeleste 263 Magnes sive de arte magnetica 263, 273 Musurgia Universalis Sive Ars magna Consoni et Dissoni 273, 276 Klaj, Johann VIII, 10, 11, 91, 204, 206, 214, 219f., 230, 252, 303, 304, 305, 309 Das gantze Leben Jesu Christi 305 Der leidende Christus 219f., 303f. Die Ziegeunerische Kunstgöttinnen 10

Macrobius, Ambrosius Theodosius 5 Poetices libri septem 5 magia naturalis 249, 251, 277 Magni, Valerianus 275, 276, 277 Major, Johann Daniel 240, 242 See=Farth nach der Neuen Welt / Ohne Schiff und Segel 240, 242 Malvezzi, Virgilio 14 Manierismus VIII, X, 2, 8, 299, 306–309, 316, 325 Marchi, Francesco de 93 Illustre theatrum continens 93 Masen, Jakob 29 Speculum imaginum 29 Mathesius, Johann 310 Oeconomia oder bericht wie sich ein Haußvatter halten sol 310 Mechanik 27, 33, 48, 90, 132, 237, 242, 249, 250, 254, 255, 256, 258, 259, 267, 268, 269, 270, 271, 278, 292, 293, 295

imitatio 1–22, 24, 38, 222

Sach- und Personenregister Melanchthon, Philipp 23, 32 Liber de anima 32 memoria 32, 95, 157 Merian, Matthäus 95 Theatrum Europaeum 94, 95 Mersenne, Marin 269, 276 Novae Observationes physicomathematicae 269, 276 Mimesis 15, 24, 30, 66, 67, 73, 76, 82, 257, 274 Monantheuil, Henri de 269 Montaigne, Michel de 42 Montchrestien, Antoine de 222 Bergerie 222 Montemayor, Jorge de 12, 14 Diana 12, 14 Montes, Guidobaldo del 267 Mechanische Kunst=Kammer 267 Monteverdi, Claudio 214, 216, 217, 218, 221, 229, 230, 231 L’incorazione di Poppea 229 Moscherosch, Johann Michael 9, 112 Murner, Thomas 8 Musculus, Andreas 305, 306 Instructio orandi 305 Precandi Formulae 305 Musik IX, 9, 50, 67, 74, 197–211, 213–235, 238, 248, 290, 303, 310 Naturkunde 41, 43, 237, 238, 239, 243, 244, 245, 246, 261 Neoplatonismus 98, 131 Neostoizismus 6 Neumark, Georg 30, 54, 58, 60, 217 Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung zur Teutschen Verskunst 30 Newton, Isaac 239, 264, 265, 271 Novarino, Luigi 293, 296 Deliciae divini amoris 293 Nuisement, Clovis Hesteau de 261 Opitz, Martin 1–9, 14, 17, 18, 23, 28, 215, 218, 219, 220, 228, 230, 282, 308 Buch von der Deutschen Poeterey 1–9, 13, 23, 230 Aristarchus sive de contemptu linguae Teutonicae 1–4, 7 Ortelius, Abraham 93 Theatrum orbis terrarum 93 Ovid, Publius Naso 10 Ozanam, Jacques 249 Pallavicino, Pietro Sforza 308 Paracelsus 274

331

Parson, Robert 304 Pascal, Blaise 275 Peckham, John 32 Speculum animae 32 Persius, Aulus Flaccus 6 Pfeil, Johann Gottlieb Benjamin 178 Philoponos, Johannes 268 Piemontese, Alessio 273 pictura 15, 26, 73, 181, 182, 183, 188, 191, 192, 193, 194 Pietismus 197, 280, 302, 310 Pirckheimer, Willibald 93 Theatrum Virtutis & Honoris 93 Porta, Giovanni Battista Della 249 Magiae naturalis libri XX 249 Predigt 4, 57, 97, 118, 197, 205, 210, 260, 299–303, 307, 310, 312, 313, 314, 316, 317, 318, 320, 321, 325 Preußische Akademie der Wissenschaften 241 Properz, Sextus Aurelius 6 Ptolemäus, Claudius 34, 266 Quintilian, Marcus Fabius 21, 27, 28 Institutio oratoria 27, 28 Reichardt, Friedrich 227 Reimmann, Jacob Friedrich 248 Renaudot, Théophraste 110, 120, 123, 125, 126, 132, 143 Reuter, Christian 226 Rhetorik 14, 15, 24, 26, 44, 49, 54, 66, 68, 69, 78, 81, 87, 88, 96, 99, 167, 214, 228, 229, 243, 299, 307, 309, 312, 318 Rinckart, Martin 225 Rinuccini, Ottavio 217, 218 Dafne 217, 218 Ripa, Cesare 29, 40 Iconologia 29 Rist, Johann 214 Robortello, Francesco 27 Ronsard, Pierre de 4, 17 Abbregé de l’art Poëtique François 4 Roselli, Cosimo 32 Thesaurus Artificiosa Memoriae 32 Rosenkreutz, Christian 258 Chymische Hochzeit 258 Rosset, François de 86, 90, 91, 117, 118, 119, 123, 124, 127, 128, 134, 150, 163 Royal Society 240–242 Ruscelli, Girolamo 273 Secreti 273

332

Sach- und Personenregister

Sachs, Hans 7, 86 Sadeler, Giles 94 Theatrum Morum 93, 94 Saubert, Johann 197, 205 Scalichius, Paulus 32 Encyclopaedia 32 Scaliger, Julius Caesar 3, 4, 5, 15, 16, 23, 42, 75, 275 Poetices libri VII. 5, 15, 23 Scheren von Jever, Hermann Heinrich 222 New=erbawte Schäferey 222 Schickhardt, Wilhelm 263 Schiller, Friedrich 10, 83, 178, 308 Schott, Caspar 249, 257, 270 Schottelius, Justus Georg 10, 11, 21, 42, 141, 146, 168, 183, 230, 260 Friedenssieg 230 Schrödter, Tobias 112 Allmodische Sitten=Schule 112 Schütz, Heinrich 209, 218, 223, 224 Psalmen Davids 224 Schwechhausen, Heinrich von 53, 58 Schwenter, Daniel 33, 206, 207, 238, 239, 244, 246, 247, 248, 249 Erquickstunden 13, 20, 33, 46, 47, 51, 58, 61, 112, 145, 163, 206, 207, 208, 213, 237, 238, 239, 242, 244, 245, 246, 247, 249, 250, 252, 253, 254, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 269, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 276, 277, 278, 284, 308 Seneca, Lucius Annaeus 6, 19 Sinne IX, 32, 34, 37, 39–47, 54, 57, 63, 110, 111, 182, 203, 239, 244, 255, 258, 290, 294, 299 Sonett 4, 8, 47, 48, 54, 56, 229 Sophokles 6 Sorbière, Samuel 241 Spee, Friedrich 281, 292, 294 Staden, Johann 214, 215 Staden, Sigmund Theophil 198, 204, 205, 213, 214–217, 225–231 Stevin, Simon 259, 270 Stengel, Georg 281 Stigliani, Tomaso 16 Stubenberg, Johann Wilhelm von 59, 88, 251

Sturm, Johannes 9, 105 subscriptio 193, 194, 284 theatrum mundi X, 78, 87, 95, 96, 168, 179, 280, 320 Tesauro, Emanuele 173 Das aristotelische Fernrohr 173 Topik 25, 176, 183, 243, 246 Torricelli, Evangelista 275, 276, 277 Tossa, Torquato 8, 217 Gerusalemme liberata 8 Trew, Abdias 266 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther 248 Übersetzung 1–22, 39, 45, 86, 91, 120, 163, 171, 183, 219, 222, 249, 273, 281, 290, 291, 296 Vaenius, Otto 281 Vergil, Publius Maro 5, 8, 10, 15, 17 Aeneis 6, 15 Die Eklogen 6 Verstegan, Richard 93 Theatrum de Veneficis 93 Voß, Johann Heinrich 10 Vossius, Gerhard Johannes 9 Wagner, Heinrich Leopold 167, 178 Weise, Christian 70 Wiesel, Johann 266, 267 Wolff, Christian 247, 248, 249, 265, 270 Anfangsgründe aller mathematischen Wissenschaften 265 Kurtzer Unterricht von den Vornehmsten Mathematischen Schriften 247 Wotton, Edward 94 Insectorum sive minimorum animalium theatrum 94 Wülffer, Daniel 214 Zeiller, Martin 86, 94, 101, 118, 119, 123, 127, 128, 150, 163 Theatrum florae 94 Theatrum tragicum 94, 123, 163 Zeising, Heinrich 267 Theatrum machinarum 267 Zincgref, Julius Wilhelm 1, 3, 112, 183 Zucchi, Niccolo 276