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German Pages [1240] Year 1970
CONSTANTIN FLOROS
UNIVERSALE NEUMENKUNDE ENTZIFFERUNG DER ÄLTESTEN BYZANTINISCHEN NEUMENSCHRIFTEN UND DER ALTSLAVISCHEN SEMATISCHEN NOTATION DAS MODALE SYSTEM DER BYZANTINISCHEN KIRCHENMUSIK BEITRÄGE ZUR GESCHICHTE DER BYZANTINISCHEN KIRCHENDICHTUNG
ERSTER BAND
KASSEL 1970 AUSLIEFERUNG BÄRENREITER-ANTIQUARIAT KASSEL-WILHELMSHÖHE
DEM ANDENKEN MEINES VATERS
©
Con1tantin Aoro1 Hamburg 1970
A1leRechte, auch die de1 aunugsweisen Nachdrudcs und der fotomedianis; µfl).lno>vfol. 102 und 123 sowie Mtll,vou(zum 29. August, s. D fol. 180V); fol. 179v das Karsamstagdoxastikon El xal. Alllo n: zählen, sind in P (Vorlage O fol. 132 116, in L fol. 166 96, in E fol. S2v 89 neumenlos, mithin 28,5 1/o, 23,60/o, 21.80/o. 280 Silben zählen dann gleidtfalls adtt Heinnen der „sina• E(JlClVl) h oaexl13; davon tragen in P (Vorlage O fol. 129 itischen· Akolouthie 0EO
Im mittelbyzantinisdten System ist diese Neume bekanntlich das Hauptzeidten für die absteigende Bewegung. Sofern er allein steht, zeigt der Apostroph hier stets eine Sekunde abwärts an. Tritt er in Verbindung mit den Pneumata auf, so vennag er, je nadt der Kombination, alle lntervaUsprünge abwärts, von der Terz bis :zur Oktave
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hin, exakt anzuzeigen. In den paläobyzantinischen Neumenschriften fungiert der Apostroph - wenn man zunädtst von den archaisdten Notationsstadien absieht in den meisten Fällen ebenfalls als absteigendes Zeidten, weshalb er in diesem Absatz behandelt werden muß. Unter bestimmten Voraussetzungen, die es zu klären gilt. dient er jedoch zuweilen, wie sdton angedeutet, audt als T onwiederholungszeidten und sogar als aufsteigendes Zeichen. Die eingehende Erörterung der verwickelten Frage. wie es zur Mehrdeutigkeit des paläobyzantinischen Apostrophs gekommen ist, muß einem späteren Kapitel vor• behalten bleiben (s. S. 31 S). Hier soll vor allem die Anwendung des alleinstehenden Apostrophs in den „mittleren• Chartres•Stadien ins Auge gefaßt werden. Es sind drei Kategorien von Fällen zu untersdteiden. a) Apostrophus descendens
Als absteigendes Zeichen zeigt der alleinstehende paläobyzantinische Apostroph meist die Sekunde an, seltener die Terz oder die Quarte, ganz selten die Quinte (im letzteren Fall wird er nämlich in der Regel der Chamele vorgesetzt, s. S. 180). Sein diastematischer Wert hängt von der Position ab, die er innerhalb der verschiedenen stereotypen Neumenfolgen (Tonformeln) einnimmt. Sind die einzelnen Neumenfolgen systematisch erfaßt und analysiert, so ist die Ermittlung des präzisen diastematisdten Wertes in den meisten Fällen möglich. Häufig wird dieser sogar allein schon von dem Zeh:hen verraten, das dem Apostroph unmittelbar vorangeht. So läßt sich generell sagen, daß von zwei aufeinanderfolgenden alleinstehenden Apostrophoi der zweite in der Regel die Sekunde bezeichnet. Geht einem Apostroph die Kombination von Oxeia und Dyo Kentemata oder von Petaste und Dyo Kente• mata oder das dreitönige Anastama (s. S. 202) voran, so drüdct der Apostroph häufig die Terz aus (Bsp. 29, 66-67). Die Bedeutung der fallenden Sekunde besitzt sdtließ• lieh der Apostroph meist, wenn er mit einem Oligon•Episem versehen auftritt (s. S. 172).
b) Apostrophus repeteHs Die Bedeutung eines Tonwiederholungszeichens hat der Apostroph, wie ausgeführt, häufiger in den ältesten Notationsstadien, doch weitaus seltener in Chartres II und III. denn hier wurde er durch das gerade Ison ersetzt. Nicht zuletzt anhand der besprodte· nen Chartres-Kombination -, (U) lassen sich die Spuren des Obergangs von Chartres I zu Chartres II zurückverfolgen. Sofern in Chartres II und Chartres III der alleinstehende Apostroph als Tonrepetitionszeichen auftritt, ließen sich die betreffenden Fälle mit der Vennutung erklären, daß diese Apostrophoi in gewissem Sinne der Modernisierung standhielten. Daß in (33) der Apostroph über 'tCO in Ls an Stelle des geraden Ison steht, zeigt der Vergleich mit Lt, dessen Neumenbild bis auf die kleine Abweichung bei -n mit La übereinstimmt. In (S9) fungiert der Apostroph über •a in La,auch abgesehen von dem lson-Zeidien in den Coislin-Versionen, ohnehin als Tonwiederholungszeichen, denn er folgt unmittelbar auf die Kombination Dyo (s. S. 200), die in dieser Position regelmäßig die Töne ga anzeigt und meist mit dem einen dritten Ton (a) besdilossen wird.
"' Auc:h in (69) bezeidmen die Apostrophoi über holung.
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und E'll.(1-in Ga die Tonwieder-
c) Apostrophus ascendens
Sofern der Apostroph in den ardiaisdien Notationsstadien das fehlende Oligon vertritt, zeigt er die aufsteigende Sekunde an (s. in Bsp. SS L über o, in Bsp. 61 L und S über rwv). In dieser Bedeutung tritt der alleinstehende Apostroph in Chartres II und IIl seltener auf (s. in Bsp. 29 die Silbe l:r1-, in Bsp. 60 Ls über -Alv-); häufiger ersdteint er jedoch in Kombination mit den Dyo Kentemata oder mit der Oxeia (s. S. 140). Es ist noch zu vermerken, daB in unseren Chartres-Sticherarien, zumal in Ls, der Apostroph gelegentlich in der stilisierten Gestalt ~ begegnet (s. Taf. X/Z. 3, Taf. XIX/Z. 14, außerdem u fol. 38/Z. 9, 12sv/s, 129117, 131v/11, 161/12, 161v/4 und 10, 162).
ZAPJATAJA> und CEl.JUSTKA 2. In den russisc:hen Neumentabellen wird unter ersterem Namen der Apostroph bezeichnet. während der zweite Name die Kombination von Stopica mit daneben oder darüber liegendem Apostroph meint. Es wurde bereits ausgeführt und auch veranschaulicht, daß in der sematischen Notation der alleinstehende Apostroph in der Regel durch die Stopica angezeigt wird. Daneben lassen sich freilich audi jene Fälle, in denen der sematisdie Apostroph begegnet, nicht übersehen. Diese Fälle sind als Anomalien zu betrachten, die gedeutet werden wollen. Dabei sind vor allem drei Erscheinungen zu untersdteiden. Die Zap/ata/a steht in mehreren Fällen stellvertretend für die Kombination von Apostroph und Chamele und bezeichnet dann einen tiefen Ton sdtlechthin, den anzudeuten die Stopica nicht imstande ist. Man betrachte daraufhin die Beispiele (7)-(8). (38H39) und (366). In allen notiert Laan den korresponierenden Stellen die Kombination von Apostroph und Chamele. Eine zweite Gruppe konstituieren jene Fälle, die durch Epenthese gekennzeichnet sind. Hier werden „ übenähligeu Silben des kirdienslavisdien Textes mit der Zapjataja versehen, weil die vorangehende Silbe mit den Dve Zapjatye (Dyo Apostrophoi) oder mit dem Kryt (der sematisdien Kombination von Apostroph und Chamele) neumiert wurde (Bsp. 18, 2S, 309). Die Zapjataja „repetiert" also die Neume der vorangehenden Silbe und fungiert hier als T onwiederholungszeidien. Zu einer dritten Gruppe können die dann nodi übrig bleibenden Fälle zusammengefaßt werden. Hier indiziert die Zapjataja Intervalle, die größer sind als die fallende Sekunde, daß heißt also, meist eine Terz oder Quinte (Bsp. 23, 47, 366). Diese Beobaditungen ermöglidien eine Ergänzung unserer Ausführungen über die als Apostroph dienende Stopica: Sie zeigt in dieser Funktion meist die fallende Sekunde, seltener größere Intervalle.
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Nadi der Osoka und der Stopica so otkom bietet die CelJustka(,.Kinnlade·) den dritten Beweis für die Mehrdeutigkeit der Stopica. Die Beispiele (30-37) und (46) veranschaulidten, daß die Stopica der sematischen Notation auch den Apostroph vertritt und daß die Zapjataja der Celjustka die Stopica in dieser ihrer Bedeutung, als absteigendes Zeichen nämlidt, präzisiert. Da nidit alle Stopicy descendentes mit Zapjatye überschrieben sind, hat es den Ansdtein, als wären die sematischen Apostrophoi über bzw. neben solchen Stopicy nur an bestimmten sdlwierigen Stellen der Neumierungen angebradtt. Ob diese Präzisierung der Stopicy bereits bei der Adaptierung der kirchenslavisdten Texte oder erst später vorgenommen wurde (im letzteren Fall stellte die Celjustka eine jüngere sematische Kombination dar), läßt sich kaum entscheiden. Festzuhalten ist nodt, daß die Kombination von Ison und darüber liegendem Apostroph der Coislin-Notation unbekannt ist. Sie wäre auch ein Nonsens, da sich die beiden Zeidten ihrer Bedeutung nadt widerspredten. In der mittelbyzantinisdten Notation kommt freilich diese Kombination in einem bestimmten Hypotaxis-Fall vor. Um Mißverständnisse zu vermeiden, wäre hier sdtließlich zu erwähnen, daß die Kombination von hakenförmigem Ison und darunter liegendem Apostroph in einigen älteren Coislin-Neumierungen begegnet (s. S. n 8). Mit der Celjustka ist aber dieser Fall nicht zu verwediseln. Einmal steht nämlidt bei der Coislin-Kombination das Ison über dem Apostroph. zum anderen wurden die betreffenden Ison-Neumen in diesen CoislinAufzeichnungen eingetragen, um die archaischen Apostrophoi repetentes als solche zu kennzeichnen. APOSTROPH mit DYO KENTEMATA (GOLUBEC)
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APOSTROPH mit OXEIA
Erstere Kombination ist in den paläobyzantinischen Neumensdiriften und in der sematischen Notation insofern doppeldeutig, als der Apostroph zwar häufig descendens, in bestimmten Fällen aber auch ascendens ist. Tritt der erste Falt ein, so zeigt der Apostroph meist eine Terz abwärts an (Bsp. 6 und 14), seltener eine Quarte oder Sekunde (Bsp. 19). Ist der Apostroph ascendens, so vertritt er das Oligon und gibt die aufsteigende Sekunde an: >•• steht also dann für .:.:. (Bsp. 37, 44, 413). Für die Bestimmung des Apostrophs als descendens oder ascendens ist seine Position innerhalb der jeweiligen Tonformel entscheidend. Es läßt sich beobachten. daß in der sematischen Notation der Apostroph eines Golubec, wie die Kombination mit Dyo Kentemata heißt, meist ascendens ist, wenn das Golubec auf die Zapjataja folgt (Bsp. 7, 8, 2 S, 3 3, 38, 39 und 18; in dem zuletzt genannten Beispiel hat auch Va >•• statt .:.:.). Die „Regel" wird freilich von wenigen Ausnahmen durchbrochen (s. Bsp. 14). Dem Golubec wird in der sematischen Notation, weitaus häufiger als in den jüngeren Coislin-Stadien, die Aufgabe zuerteilt, eine Folge zweier aufsteigender Sekunden anzuzeigen, da ein sematisches Oligon-Zeichen fehlt. So geben sematische Neumierungen die Coislin- und Chartres-Kombination .:.:. entweder mit~ oder mit >: wieder. Beispiel (68) vermag dies am besten zu veranschaulidien, da Ch beide Fas-
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Zwei- und H1eJirtl:inlgeZeidten
sungen des Stidteron HMZWEMZ T4. überliefert, die zwar minimal voneinander abweichen,aber gerade deshalb durdt gelegentliche unterschiedliche „Schreibweisen" reid:ienAufschluß bieten (s. noch Bsp. 29, 33, 259, 380). Sehr wichtig erscheint es, daß in einigen der ältesten Handschriften, nämlich in 1, Lg, E und P, die Kombination von Apostroph und Dyo Kentemata unbekannt ist, während Kombinationen von Oxeia oder Petaste und Dyo Kentemata häufiger vorkommen. Es sei vorweggenommen, daß aus dem Fehlen bzw. Auftreten unserer Kombination sowie aus dem Häufigkeitsgrad, den sie erreicht, ein zuverlässiges Kriterium für die Untersdteidung der Notationsstadien gewonnen werden kann (s. S. 311). Wenden wir uns nunmehr der Kombination von Apostroph und Oxeia zu, so ist zunächst zu beobachten, daßsie in P und Lg anstelle der Kombination von Apostroph und Dyo Kentemata auftritt. Sie begegnet noch in mehreren Stichera des Codex L:i, wobei der Apostroph sowohl descendens als audt ascendens sein kann (Bsp. 22, 37-39, 88, 91. 366, 414, 418). Es fällt auf, daß einige der betreffenden Stichera sidi auch durcb sonstige notationstechnische Besonderheiten auszeicbnen, eine Beobaditung, auf die später zurückzugreifen ist (s. S. 338). Verhältnismäßig selten und auch mit dem Kentema bereichert erscheint die Kombination von Apostroph und Oxeia auch in sematischen Neumierungen, wo sie ebenso einen aufsteigenden Sekundschritt (Bsp. 155, 167) wie einen größeren Schritt (Bsp. 168) bezeichnen kann. Im letzteren Fall substituiert sie die StrCla gromnaja (s. S. 21 S). In Bsp. (120) und (15 5) ist noch die Synärese besonders bemerkenswert.
4. Zwei- und mehrtönige Zeidien ßAJlEIA (PALKA)
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Auf hervorragende Weise läßt sich der geradezu polare Gegensatz zwischen der hagiopolitanisdten und spätbyzantinischen Klassifizierung am Exempel der Bareia verdeutlidten. Während von den Traktaten des Typs C das Zeichen gemäß dem Status der mittel- und spätbyzantinischen Notation als Aphonon apostrophiert wird, teilt es diehagiopolitanische Klassifizierung, entsprechend dem Stand der paläobyzantinisch.en Neumensdiriften, den Tonoi haploi zu. Ihrer ursprünglichen Bedeutung nach gehört denn auch die Bareia durchaus zu den Intervallzeidien. So steht einem Vergleich.mit der lateinischen Clivls oder Flexa nichts entgegen. Beide Zeich.en geben zweitönige Figuren wieder, bei beiden ist der zweite Ton tiefer als der erste, und auch im Hinblidc auf ihre graphischen Fonnen wird ihr Zusammenhang offenbar. Wird die Clivis mit dem Zirkumflex gezeichnet, so genügt das bloße Gravis-Zeichen, um die Neume Bareia zu versinnbildlichen. Wie bei der Oivis kann das lntervallverhältnis zwischen den beiden Tönen der Bareia variieren. In der Regel ist es ein Sekund-, ein Terz- oder ein Quartfall. Häufiger liegt der erste Ton der Bareia höher als der vorangehende Ton.
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Die Bestimmung des genauen diastematischen Wertes bereitet in den meisten Fällen keine Schwierigkeiten. da die Bareia Bestandteil stereotyper Kadenzformen ist. Sie begegnet fast aussdiließlich am Sdtluß einzelner Kola, und zwar bei den „gewich-
tigen" Kadenzen. wo sie in der Regel an viert- oder drittletzter Stelle steht. Die Beispiele (23), (32), (62-63) und (373-376) veransdtaulidien ihre regulären Positionen in den „gewichtigen" e-, f- und g-Kadenzen. sofern sie an viertletzter Stelle auftritt. (13) und (31) zeigen weniger „gewidttige" Kadenzen mit der Bareia an drittletzter Stelle. In (36) findet sich eine seltenere Kadenzfonn mit der Bareia an dritt-
letzter Stelle. (SS) zeigt die Transposition dieser Kadenz in die Oberquinte. Eine „schwache" g- bzw. d'-Kadenz mit der Bareia an vorletzter Stelle bieten die Exempel (22), (81) und (247). Betrachtet man vorsidttig die genannten Kadenzformen, so dürfte kaum entgehen, daß das „Gewidtt" einer Kadenz von der Position der Bareia abhängt. Je ferner vom Schluß die Bareia auftritt, desto „gewichtiger" die Kadenz. Die Bareia erweist sich also als ein vorzügliches Mittel, emphatisdte Wirkungen zu erzielen, und diese Erkenntnis ermöglicht audt ein besseres Verständnis der späteren redlt vagen Erläuterung des Zeichens im Codex Lavra 610u.: 'H 6E ßaQEia,MO toü ßaQE~ 'KillµETOtOvou npoqiQEWtl}v q>olVT\v, womit offenbar die Forderung nach einer Betonung beim Vortrag des Zeichens ausgesprodlen wird. Absdtließend ist nodt zu erwähnen, daß die Bareia in unseren Chartres-Stirovi}evtill"Exat acpwva xat de; 't0 toov· Evöa yctQEiiQE-Di\, livre etc;~46n,Ta liVTE etc;xaµT\Ä.bn,Ta,lx.et XEt(?Ovoµehm 1tctvTo-ce· xal füll TOÜTO l.iyeTm i}µ(cprovov, ticprovetv i\µEll.t: Tflv &;etav Ö>amQTOt11nq, ö na.QaMÄWV µnll tivElµlVfli;xalx.exl.aaµlVfli;:rtotEiTm TI)v aiT)O'lV l"Tji;cprovfic;, oürro xal 6 TT)vna.Qaxl.T)TUt'r)v Kal TOnaeax">
Zusammen mit den mega Kratema werden die beiden Kombinationen in der Neumentabelle des Codex Launter dem Terminus KrateHtataverzeidmet. Damit wird offensichtlich auf die besondere rhythmisd::teBedeutung der Kombinationen hingewiesen. Keineswegs sollte jedodt deshalb der Eindrudc hervorgerufen werden, als hätten die Zeichen nur einen rhythmischen, keinen diastematisd::tenWert. Zu dieser Vorstellung könnte vor allem die Erfahrung verleiten, daß im mittelbyzantinisd::ten System die Diple nur als rhythmisches Zeichen fungiert, da sie ja bekanntlich niemals allein, sondern stets in Verbindung mit Intervallzeichen auftritt. Diese Erscheinung repräsentiert jedoch ein spätes Stadium der Entwidclung. In den paläobyzantinischen Neumierungen besitzen hingegen die Diple und die Dyo Apostrophoi außer ihrer speziellen rhythmischen Eigenschaft noch einen bestimmten lntervallwert, und zwar ursprünglid::tden lntervallwert ihres Grundzeichens, nämlidi der Oxeia bzw. des Apostrophs. Nidit zuletzt darin ist die Logik und Konsequenz des Systems zu erblidcen, daß gerade der Oxeia und dem Apostroph, den beiden konträren Hauptzeid::ten der Bewegung, auch zusätzliche rhythmische Funktionen anver-
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traut werden. Durdt die Verdoppelung der beiden Zeic:hen wird es wenigstens in der Theorie möglich, jeden beliebigen steigenden oder fallenden Ton als metrisdi lang zu kennzeidmen. Dient die Verdoppelung aber vomehmlic:h als metrisdte Indikation, so bleibt der lntervallwert des Grundzeichens unangetastet. Das bedeutet, daß, sofern es den Inter~ vallwert der Diple und der Dyo Apostropboi betrifft, für die verdoppelten Zeichen wenigstens im Gnmdsättlidten dieselben Regeln gelten, die wir für die Oxeia und den Apostroph haben aufstellen können. Im Falle der Diple müssen allerdings die Regeln etwas erweitert werden. In den paläobyzantinischen Neumierungen bezeichnet die Diple - der Oxeia ent~ sprediend - in erster Linie ein aufsteigendes Intervall, und zwar meist die Sekunde oder die T en:. In einigen Fällen wird sie jedoch noch zur Bezeidtnung der T onwiederholung oder gar eines fallenden Intervalls eingesetzt. Erstere Verwendungsart (s. Bsp. 1S2) leudttet ein, da auch die Oxeia mitunter als Tonwiederholungszeidten fungiert und außerdem der ältesten Notation ein eigenes Tonwiederholungszeichen, das hätte verdoppelt werden können, nid:it zur Verfügung stand. Die Verwendung der Dipie als absteigendes Zeidten mag indessen zu Recht als Widerspruch aufgefaßt werden, denn es wäre zu erwarten, daß diese Aufgabe den Dyo Apostrophoi zufällt. Zur Klärung des Sachverhalts tragen bis zu einem gewissen Grade jene Fälle bei, wo paläobyzantinische Quellen die Diple und die Dyo Apostrophoi untereinander „vertausdten". Es läßt sich überaus häufig beobachten, daß Coislin-Handsduiften die Diple auch an Stellen notieren, wo Chartres-Codices einen fallenden Tonschritt „korrekt• mit den Dyo Apostrophoi wiedergeben (Bsp. 1S0, 214, 21S-219). In dieser Hinsidtt weisen sich die Chartres-Neumierungen zweifellos durch korrekte Orthographie aus. Die sd:ieinbare Nadtlässigkeit in der Redttsd:ireibung späterer Coislin-Quellen deutet aber darauf hin, daß im laufe der Entwicklung die Diple audt Aufgaben übernahm, die ursprünglich den Dyo Apostrophoi zukamen. Damit lassen sich freilich alle irregulären Fälle nicht erklären, denn selbst in den älteren Chartres-Quellen begegnet die Diple häufiger als absteigendes Zeid:ien (Bsp. 24, 32, 147. 169, 229). Daß in diesen letzteren Fällen die Diple descendens des öfteren die Quinte des jeweiligen Echos oder den „Reperkussionston" bezeidmet, ist in diesem Zusammenhang wiederum bemerkenswert und könnte als Aufhebung des Widerspruchs gedeutet werden, insofern nämlich. als mit der Diple - gemessen an dem Grundton- ja ein „hoher" Ton angezeigt wird. Es verdient hervorgehoben zu werden. daß die Diple nidtt erst in mitteibyzantinischen Neumierungen mit lntervallzeichen versehen wird, sondern bereits in den späteren Coislin-Neumierungen. Verhältnismäßig früh macht sidt die Tendenz bemerkbar, den lntervallwert des Zeichens durch den Zusatz des Ison, Oligon, des Apostrophs oder des Elaphron gewissermaßen zu präzisieren. So bildet die diastematisd:i „präzisierte" Diple im Codex Petropolitanus graecus 7S9, dem bereits erwähnten 1106 geschriebenen Stidterarion in Coislin-Notation, durchaus die Regel. Gute Beispiele für die „präzisierte" Diple bietet nodt der Codex C2, im Jahre 1137 gesdtrieben (s. Bsp. 172, 174). Unnötig zu sagen, daß damit ein wichtiger Anhaltspunkt für die Datierung
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der mittleren und späteren Coislin-Quellen gefunden ist. Daß durch den Zusatz der genannten Intervallzeichen die Diple ihren ursprünglidien diastematischen Wert einbüßt und somit zu einem rein rhythmisdten Sema wird, sei der Vollständigkeit halber angemerkt. Bereits an dieser Stelle müssen wir nodt festhalten, daß die Diple in den ältesten byzantinischen und sematischen Neumierungen mitunter zur Bezeichnung fallender Sekundschritte eingesetzt wird, namentlich bei Kadenzformeln des Deuteros, seltener des plagios Tetartos. Diese Fälle sollen im Zusammenhang mit der Zakrytaja besprochen werden (s. S. 206). Verglichen mit der Diple erweist sich die Verwendung der Dyo Apostrophoi in paläobyzantinisdien Neumierungen als weniger differenziert. Wie der Apostroph meist descendens ist, so bezeichnen audt die Dyo Apostrophoi in erster Linie ein fallendes Intervall, das heißt die Sekunde oder die Terz, und zwar vorwiegend den Grundton eines Echos, einen noch tieferen Ton oder audt den tiefsten Ton einer Formel Sie fungieren allerdings audt als Tonwiederholungszeichen. Ihre Bestimmung als descendentes oder repetentes bereitet indessen kaum Schwierigkeiten. Die Bedeutung eines Tonwiederholungszeichens besitzen nämlich die Dyo Apostrophoi fast aussdiließlich nur, wenn ihnen gleichfalls Dyo Apostrophoi vorangehen. Kommt also ein Dyo Apostrophoi-Paar vor, so ist die erste Kombination regelmäßig descendens, die zweite hingegen repetens (Bsp. 13, 171, 194, 210). Audi hier lassen die späteren CoisJinQuellen das Bemühen um diastematische Präzision insofern erkennen, als sie die zweite Kombination mit einem Ison überschreiben. (So verfahren unter anderen die Codices L, und Leningrad 789.) Bei den Dyo Apostrophoi-Paaren ist übrigens zu beachten, daß die beiden Apostrophoi der ersten Kombination in den älteren paläobyzantinischen Quellen des öfteren nebeneinander notiert werden, selbst wenn sie zwei absteigende Töne angeben. Das ist beispielsweise in den Schlußkadenzen des Tritos der Fall. Die Beispiele (142) und (168) zeigen, daß jüngere Coislin-Codices der Gefahr von Mißverständnissen begegnen, indem sie die beiden Apostrophoi untereinander schreiben. An jedem beliebigen Vergleidt korrespondierender paläobyzantinisdter und sematisdter Neumierungen fällt besonders auf, daß letztere in der Regel anstelle der Dyo Apostrophoi die Diple aufweisen. Es ist festzuhalten, daß in der sematisdten Notation die Dyo Apostrophoi eine redtt eigenartige Behandlung erfahren, die sich in Parallele zur Sonderbehandlung des Apostrophs setzen läßt. Wie der Apostroph, so treten nämlich auch die Dyo Apostrophoi in Kombination mit anderen lntervallzeidien, nämlich mit der Oxeia oder der Bareia, häufiger auf; demgegenüber begegnen die alleinstehenden Dyo Apostrophoi selten (Bsp. 11. 18, 30). Offensichtlich sind sie bei der Adaptierung bis auf wenige Ausnahmen durch die Diple substituiert worden, und es mag als sidier gelten, daß diese Ersdteinung in engem Zusammenhang mit der Ersetzung des Apostrophs durch die Stopica oder durch andere Zeichen steht. Die sematische Notation zeichnet sich jedenfalls geradezu durch eine Sdteu vor dem alleinstehenden Apostroph und den alleinstehenden Dyo Apostrophoi aus, die als Längenzeichen selten Verwendung finden. Nicht unerwähnt bleibe, daß die allein-
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stehenden Dyo Apostrophoi in den ältesten russischen Neumentabellen - offenbar ihrer Seltenheit wegen - nidtt verzeidtnet werden, dies im Gegensatz zur Diple, die unter dem Namen Statlfa angeführt wird. Der Terminus Dve Zapjatye als Bezeidtnung der sematischen Dyo Apostrophoi freilich ist im russisdten Sdirifttum gebräuch· lieh. Er leistet bei der Besprechung sematisdter Neum.ierungen gute Dienste, weshalb wir ihn im folgenden verwenden. Absdtließend müssen wir hinzufügen, daß die Dyo Apostrophoi in der spätbyzantinischen Klassifizierung, so in der Papadike von Messina, im Codex Chrysander und im Codex Barberinus, audi Dyo SyHdesmotoder einfach SyndesHtotgenannt werden - offenbar ein später hinzugekommener Terminus, den wir daher, ungeachtet des Vorzuges seiner Kürze, hier nicht übernehmen mödtten.
PIASMA
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In den meisten byzantinisdten Traktaten wird übereinstimmend das Piasma als ein aus zwei Bareiai zusammengesetztes Zeichen definiert. In mittelbyzantinisdien Neumierungen tritt das Zeichen meist zusammen mit zwei, seltener audi mit mehreren lntervallzeichen auf, und aus dem Vergleich der paläobyzantinischen Neumierungen mit den mittelbyzantinischen ergibt sich eindeutig, daß das paläobyzantinisdie Piasma in der Regel eine zweitönige Figur anzeigt, deren zweiter Ton tiefer liegt als der erste. In melodisdler Hinsicht besitzt also das Piasma genau dieselbe Bedeutung wie die Bareia; die über den lntervallwert der paläobyzantinischenBareia aufgestellten Regeln lassen sich ausnahmslos auf das Piasma übertragen, so daß sidt die Frage nach dem Sinn der Verdoppelung geradezu aufdrängt. Die spätbyzantinischen Traktate, die zuerst zu Rate gezogen werden mögen, erläutern das Piasma als Vortragszeidten, indem sie von ihm meinen, daß es seinem Namen nach eine „Quetsdtung" der Stimme andeute. So heißt es im Vatikanischen Traktat 3: TO11:taoµay(VE'tmcinOtoü ,nitro, 't0 ovvDUßro·mltuv yft{)xal ovvDA(ßnvn\v q,roVflv a1::i,lvOa toirro n:{)fi. Diese Interpretation ist indessen in einer späteren Zeit aufgekommen und trifft den Kern der Sache nidtt. Vergegenwärtigt man sidt, daß die Verdoppelung im Falle der Oxeia und des Apostrophs einen rhythmischen Sinn hat, so liegt es nahe, audt für die Verdoppelung der Bareia eine ähnlidie Bedeutung anzu• nehmen - eine Vennutung, die sich als zutreffend erweist, sobald die Positionen des Piasma in mittelbyzantinischen Neumierungen genauer untersudit werden. Es zeigt sidt nämlidt, daß hier das Piasma nidit bloß zusammen mit Intervallzeidten ersdteint, sondern daß dabei das jeweils erste Intervallzeichen der Konjunktur des öfteren mit einem Klasma ausgestattet ist (Bsp. 139-142). Der erste Ton der Piasma-Figur ist demnadt länger vorzutragen als der zweite, und gerade zur Bezeichnung dieser rhythmisdten Dehnung muß die Bareia verdoppelt werden. Dieser Erkenntnis darf deshalb eine gewisse Bedeutung nidit abgesprodien werden, weil sie, wie sdion angedeutet, die Logik des Systems offenbar werden läßt. 1 Tardo,
Melurgla, 19S.
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An der Schreibweise der Piasma-Figur ]äßt sidt übrigens die notationstedmische Entwicklung zur mittelbyzantinisdien Schrift hin in besonders eindrucksvoller Weise demonstrieren. Ganz deutlich lassen die herangezogenen Handsduiften drei Entwicklungsstadien erkennen. Im ersten, das durdt die Chartres-Quellen und die slavischen Codices vertreten ist, wird das bloße Piasma-Zeichen gesduieben. Im zweiten Stadium dann wird das Piasma-Zeidten, wie unsere Coislin-Quellen Va und Vi veransdtaulichen, mit einigen Intervallzeichen versehen. Im Sdtlußstadium aber erfahren die lntervallzeichen letztmöglidte diastematisd:ie Präzisierung, außerdem wird noch das Klasma hinzugefügt. Die mittelbyzantinische Schreibweise verrät, daß das PiasmaZeichen, seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt, nunmehr eigentlich lediglich den ,.Zusammenhalt" der Konjunktur gewährleistet. Es ist noch festzuhalten. daß die zweitönige Piasma-Figur mitunter durch Heranziehung eines dritten Tones ausgeschmüdct wird. So wird die Figur hg in ahg verwandelt. Jüngere Coislin-Codices notieren diese Variante derart, daß sie das PiasmaZeidten mit der Konjunktur von Apostroph (oder Oligon) und Dyo Kentemata überschreiben und darunter nodt einen Apostroph hinzusetzen (Bsp. 113, 141, Taf. XIX/ Z. 7 und 13). Das Chartres-Äquivalent dieser Graphie ist die Konjunktur von Apostroph und Dyo Kentemata mit darunter liegendem Apostroph (s. außer den zuletzt genannten Beispielen nodi Bsp. 349-3 50) oder die Konjunktur von Kondeuma und Dyo Kentemata.
3. Zusammensetzungenmit der Diple als .Kopfneume"
MEGA l>,
(Dyo Apostrophoi
Die vorhin angeführten Beispiele veransc:haulic:hen,daß die slavisc:he Version in mehreren Fällen in völliger Obereinstimmung mit den paläoby:zantinisdten Versionen die sematisc:he Kombination für Apeso exo notieren, die in russisc:henNeumenlisten unter dem Namen Strela gromnaja (der „laute Pfeil") verzeichnet wird. Daneben lassen jedoc:h die sematischen Neumierungen an den korrespondierenden Stellen audt weitere Konjunkturen beobachten, die nunmehr ins Auge gefaßt werden sollen. Die sematisdte Zusammensetzung von Apostroph und Oxeia mit Kentema, die in (167-168) entgegentritt, unterscheidet sidt von der Strela gromnaja nur in rhythmisdter Hinsidlt, da sie zwei kurze Töne anzeigt. Dementsprechend sind in (168) die sematischen Neumen über -NH- mit zwei Adttelnoten zu übertragen, während in (167) die paläobyzantinische Apeso exo-Konjunktur entgegen der mittelby:zantinischen Version mit einer Viertel- und einer Achtelnote zu transkribieren ist. Interessant ist in (299) die Korrespondenz zwisc:hen dem sematischen Golubec und dem paläoby:zantinisdten Apeso exo. In melodischer Hinsicht sind die beiden Konjunkturen äquivalent, nicht aber in rhythmischer. Der Golubec zeigt zwei kurze Töne an. Wenden wir uns jetzt der Derbica zu. (Der Terminus ist unübersetzbar.) Sie findet sidJ in sematischen Aufzeichnungen häufiger dort. wo korrespondierende paläoby:zantinische Versionen die Konjunktur Apeso exo aufweisen. Für zahlreiche Fälle mag es als sicher gelten, daß die Derbica irrtümlich für die StrCla gromnaja steht (s. die erste Silbe in Bsp. 55, s. dann Bsp. 164, 169, 170, 371). Darauf weist nidit zuletzt die Beobachtung bin, daS die Derbica häufiger auf die alleinstehende Palka folgt. Die Annahme von Sdueibverseben (Automatismus/) ist also wahrscheinlich, um so mehr, als die gleiche Erscheinung auch in paläobyzantinischen Neumierungen gelegentlich begegnet (s. in Bsp. 194 die Konjunktur von Dyo Apostrophoi und Bareia an Stelle von Apeso exo in U). Es ist indessen festzuhalten, daß sieb die Derhica nicht immer als „mißglückte· Strcla gromnaja erklären läßt. In etlichen Fällen (so vor allem, wenn paläobyzan~ tinische Versionen an korrespondierenden Stellen die Konjunktur Apeso exo entbehren) besitzt sie anscheinend eine eigene Bedeutung. Ihrer Zusammensetzung gemäß bezeichnet sie dann einen langen Hauptton (Dyo Apostrophoi) und zwei kurze Nebentöne (Bareia) und ließe sich der dreistufigen Zakrytaja als Pendant zur Seite stellen. Das scheint in Beispiel (171) der Fall zu sein. wo die Derbica wohl die Figur g af anzeigt. Komplizierter liegt der Sachverhalt in Beispiel (5 5) bei der vorletzten Silbe. Hier läßt sich nämlich kaum entscheiden, ob die Derbica eine „verunglückte" StrCla grom~
Dlt ToMoi sy,irhetol
216
naja oder eine eigenständige Konjunktur ist. Faßt man sie als dreistufiges Zeichen auf,
so wäre sie mitgeh
zu übertragen, und zwar in der .daktylischen" Rhythmisierung
lang-kurz-kurz. Wie dem aud:i sei, das sematische Kratema zeigt c' als langen Ton an.
ANATRIClflSMA
Ila (Dyo Apostrophoi
+ Oxeia + Dyo
Kentemata)
Diese Konjunktur ist bereits im Zusammenhang mit dem Anatrichisma la behandelt worden. Anatrichisma Ia und Anatridtisma Ila unterscheiden sich nur hinsichtlidt der .Kopfneume". Für die Bestimmung ihres gegenseitigen Verhältnisses gelten uneingesduänkt die Ausführungen über das Verhältnis von Diple und Dyo Apostrophoi. desgleichen von Dyo und Apeso exo. Es sei nochmals festgehalten, daß sich Anatridtisma Ila in sematisdten Neumierungen nicht nadiweisen läßt. Meist wird es durch die Strela mrafuaja wiedergegeben.
KoNJUNXTUR VON DYo APOSTROrHOI
UND ZWEI OxEIAI
,. Bsp. 203 (Va), 313, Tal. XXIV/Z. s.
ANATRICHISMA
llb (Dyo Apostrophoi
+ Oxeia + Oxeia
mit Dyo Kentemata)
Auch diese Konjunktur wird im Pariser Traktat als Anatrichisma bezeichnet: :n6:1.i.v o{ lhio OJ'tOOtQO>V
.,>U
Diese Konjunktur ist, wie sidt sdlon an ihrer Zusammensetzung ablesen läßt, mit dem Xeron Klasma eng verwandt und verhält sich zu ihm etwa wie die Dyo Apostrophoi zur Diple, Apeso exo zur Kombination Dyo oder Anatrichisrna II zu Anatridiisma I. Maßgeblidi ist das Intervallverhältnis des ersten Tones der jeweiligen Zusammensetzung zum vorangehenden Ton. Liegt er tiefer, so erfordert die Orthographie (als Ausdrudc der Logik des Systems), daß das Xeron Klasma gesdirieben wird. Liegt er höher, so müßte folgeridttig die Konjunktur Dyo Apostropboi mit Klasma notiert werden. In der Praxis gilt diese Regel jedoch nur mit bestimmten Einsdiränkungen. Im Falle des Xeron Klasma wird sie nämlich gelegentlich durdtbrodten, während sie im Falle der Konjunktur Dyo Apostrophoi mit Klasma, soweit wir sehen, kaum verletzt wird. Der erste Ton dieser Konjunktur liegt fast immer tiefer als der vorangehende Ton (Bsp. 151, 221, 360), und zur Bezeichnung dessen erscheint die Konjunktur in Coislin-Neumierungen zuweilen mit der Chamele versehen. Zwischen unserer Konjunktur und dem Xeron Klasma bestehen indessen einige Untersdliede, die beadttet werden wollen. Im Gegensatz zum Xeron Klasma tritt sie nämlich fast aussdtließlich am Kolonende auf, und zwar bezeidmet sie. wie aus dem Vergleidt mit den mittelbyzantinisdten Neumierungen hervorgeht, stets eine stereotype zwei- bzw. dreitönige Figur, nämlidt einen fallenden Sekundsdtritt bzw. einen steigenden Sekundsdiritt mit fallender Terz. Demnach ist die dreitönige Figur nur
ll7
eine Variante der zweitönigen. Der mittlere Ton fungiert nämlich- wenn der moderne Terminus einmal gestattet ist - als „Wechselnote".
In Gesängen des Deuteros. plagios Deuteros wie plagios Tetartos ersdteint die Figur meist an die Stufen ed bzw. efd gebunden, in Gesängen des Protos und plagios Protos begegnet sie dagegen meist auf den Stufen de bzw. dec und wird nodi gelegent· lieh zur Wendung efc modifiziert. Audi Transpositionen dieser Figuren in die Ober• quinte lassen sich nachweisen (Bsp. 351, Taf. XIX/Z. 11). Die tiefen Lagen werden jedoch ganz eindeutig bevorzugt, und so nimmt es nkht wunder, daß die Konjunktur in den ältesten russisdlen Neumentabellen mit dem aus dem Griedtisdten entlehnten Terminus ChaHflla(die „Niedrige") verzeichnet wird. Zur mittelbyzantinischen Aufzeichnung unserer Figur wäre zu bemerken, daß die einzelnen Töne mit distinkten Intervallzeichen angezeigt werden. Als große Hypostase fungiert meist das Piasma: in diesem Fall wird das Klasma nicht beibehalten (Bsp. 151, 238, 360).
Einen besonderen Hinweis verdient Beispiel (221), weil es den Austausch verwandter Klasma-Figuren veranschaulidit. Unsere paläobyzantinische Konjunktur von Dyo Apostrophoi und Klasma tritt hier in U sowie in Va und Och auf und ist wohl mit efd zu transkribieren. Dalassenos und Patmos 218 sdueiben dagegen die Figur des vierstufigen Xeron Klasma (efed) aus. Diese Figur zeigt C1 durdl die Coislin-Konjunktur von Dyo Apostrophoi, Klasma und Katabasma an. Daß die paläobyzantinischen Konjunkturen "v festgehalten. lEli;:,und wiederum schreiben unsere Chartres-Quellen die Ligatur. Sie wäre vielleidit hier ebenfalls mit fga HgHagzu übertragen. Fassen wir die angeführten Beobachtungen zusammen, so ließe sich sagen, daß das Anatrichisma die Thematismos-Figur stets mit einem Durchgangston ausschmüdct, wodurdt der Terzsprung ausgefüllt wird, ferner, daß es sie in der Mehrzahl der Fälle um zwei weitere Töne bereichert. Es verdient Beachtung, daß das Anatrichisma als Bestandteil der Ligatur stets vierkurvig ist. Auch diese Beobadttung deutet entsdiieden darauf hin, daß seine primäre Funktion darin besteht, das „Haupt• der Thematismos-Figur in einen diatonischen Viertongang zu verwandeln. Unsere achttönige Thematismos-Figur kehrt nodt in der mittelbyzantinisdten Version der Beispiele (243-245) wieder, hier allerdings etwas mehr ausgesdun:üdct und vor allem etwas anders nuanciert. In der mittelbyzantinisdten Version tritt nämlidt hier die Xeron Klasma-Gruppe hervor. Fassen wir die paläobyzantinisdten Versionen ins Auge, so werden bestimmte Abweidtungen sidttbar, die wert sind. festgehalten zu werden. Mit der mittelbyzantinisdlen Version stimmt U überein. Den Tongang fga gibt er mit dem Parakalesma wieder, das hier offenbar dreistufig ist. Die Strangismata I zeigen, wie schon ausgeführt, das „Gerüst" hag hag des nun folgenden riebentönigen Melismas an. Das Xeron Klasma bezeidtnet die Gruppe Hhag, die Ligatur von Theta und Petaste sdtließlich die Töne Hag.Daß audt die Coislin-Version des Codex Va in (243-244) mit der mittelbyzantiniscben Version konform geht, braudit nidtt erläutert zu werden. Die Chartres-Neumierungen der Codices Lt und U,
Die Thetas oda dte TheMata
268
das Xeron Klasma entbehrend, weisen dagegen lediglidt die Ligatur von Anatridrisma und Ouranisma auf und sind mit fga hg hag zu übertragen. Es bleibt noch zu erwähnen, daß die besprochene Anatrichisma-Figur (fga hag bzw. fga hg hag) im Lehrgesang des Kukuzeles mit dem Namen Gorthmos überliefert ist
(Bsp. 292), einem Terminus, der gelegentlidi audt in nadtbyzantinisdien Traktaten begegnet. LIGATUR VON KATABA-TR.OMIXON, ANATRICHISMA
III UND
ÜURANISMA
~
In den Neumierungen des Codex U, wo sie etliche Male nachweisbar ist, wird diese Ligatur zwei Silben zugewiesen; das Kataba-Tromikon steht über der einen, Anatridtlsma und Ouranisma stehen über der anderen. In der Regel geht der Ligatur das dreistufige Anastama voran. Mit ihm zusammen bezeichnet sie eine stereotype, drei· gliedrige Formel, die in der mittelbp;antinisdten Version der Beispiele (311-312) ausgesdtrieben und im Lehrgesang des Kukuzeles mit dem recht merkwürdigen Namen BythogronthlsHfa(,.Faustsdtlag in der Tiefe") überliefert ist (Bsp. 293). Betrachten wir zuerst die Chartres•Neumen des Codex La in (311-312). Das Kataba-Tromikon besitzt hier nicht bloß die Bedeutung der rnittelbyzantinischen Gruppe Kratemohyporrhoon-Oxeia, sondern zeigt noch den Abstieg bis zum tiefen d an. Durdt das Anatrichisma wird dann, wie in der mittelbp;antinisdten Version. der dtarakteristiscbe „Kopf" des Thematismos fg (hag) zum diatonisd:ten Gang fga (hag) erweitert. Lt läßt in (312) auf das Anastama das Kataba-Tromikon und das Ouranisma folgen, verzidttet also auf das Anatrichisma und somit auf die Aus• sdun.ückung der Thematismos-Figur. Fassen wir sodann die Coislin-Neumen des Vatopedensis ins Auge. Die Konjunktur von Dyo Apostrophoi, Klasma und Katabasma gibt, wie die entsprechenden mittel· byzantinisd:ten Zeichen, den Tongang gfefed wieder. (Das Klasma steht auch in D.) Die Coislin-Theta-Gruppe über --ra in (311) zeigt, entgegen der Chartres- und der mittelbyzantinisdten Version, die (nid:tt ausgeschmückte) Thematismos-Figur an. Ein Wort nod:t zur sematischen Konjunktur über -6.'\I- in (311). Die Slolitija bezeidmet die Töne ge, die Caika polnaja die Töne fd. GRONTHJSMATA UND THES KAl APOTHES
t)
#
cj' #
(Neumentabelle des Codex !.,)
(L,, L,)
(.i
00- (L,)
Diese Zeidlen, von denen die beiden ersten in der Neumenliste des Codex U mit dem Namen Gronthismata (,.Faustsdlläge") angeführt werden, begegnen weder in Coislin- noch in sematischen, sondern ausschließlich in Chartres-Neumierungen. Die beiden mit einem oder zwei Querstrichen verbundenen Ovale figurieren aber auch in spätbyzantiniscben Neumentabellen. wo sie Thes kai apothes (.,Setz auf und leg nieder") genannt werden. Die Beispiele (212) und (243-246) illustrieren. daß die
Gruppe 11- St01"JK{lgur; ThtJKatl5tHos
"'
Gronthismata dort stehen, wo korrespondierende Coislin- und mittelbyzantinisdte Aufzeidmungen meist eine Xeron Klasma-, eine Bareia- oder eine Piasma-Gruppe aufweisen. Fassen wir zunädtst die Fonnen der Neumen ins Auge, so besteht kein Zweifel darüber, daß in der zweiten Form zwei Majuskel-Thetas mit einem oder zwei Querstridten verbunden sind. Offensidttlich liegt hier die Urform des spätbyzantinisdten Thes kai apothes-Zeidtens vor, von dem es im Codex Lavra 610 11 heißt: 'Oµolco(,;'l«Xl TO-6E(,; 1«1tWt:b-Ot(,;, 'l«XtTaiha &uo-3ijTlld.ow äx6µtva moµui(,;yQaµµ'rl(,;xat fü(l TOÜl"O -cO-6€(,; xat lm:0'6t(,;· fuiAOi: yCJ.e 'tT)Vatcnv Touiv6t 1tottiv. Sdtwieriger läßt skil die Fonn der ersten Neume deuten. Möglicherweise stellt sie nur eine Variante der zweiten Form dar. Trifft das zu, so ließe sie sich wohl als Ligatur eines Minuskel-Thetas und zweier Stridte erklären, Fragen wir nunmehr nach der Bedeutung der beiden Zeichen, so sei zunächst auf die beiden Formeln Thes kai apothes 12 und Bythogronthisma (s. Bsp. 293) hingewiesen, die der Lehrgesang des Kukuzeles überliefert. Macht der Tongang g c' a c' bzw. c fd f (Quinttransposition) den Kern von Thes kai apothes aus, so findet sich innerhalb der Bythogronthisma-Formel die ähnliche Figur fd f. Der Terzfall fd ist beiden gemein, und in beiden Fällen wird er, in der Version des Codex Vaticanus graecus 791, mit Intervallzeidten ausgesdtrieben, denen das Klasma und das Piasma beigegeben sind. Von diesen Beobadttungen ausgehend, können wir jetzt die Bedeutung unserer beiden Chartres-Neumen präzisieren. Das Zeichen Thes kai apothes, wie nunmehr die Form mit den beiden Ovalen genannt werden mag (obwohl der Terminus in der Neumenliste des Codex Lanidit tradiert wird), zeigt in allen untersuchten Fällen einen T erzsprung abwärts, auf den eine Terz aufwärts folgt. Differenzierter wird hingegen in den Neumierungen das erste Zeidten eingesetzt, für das die Bezeidinung Gronthismata beibehalten sei. In etlidten Beispielen indiziert es wie Thes kai apothes einen T erzsprung abwärts. In anderen Fällen wieder vertreten aber die Gronthismata das vierstufige Xeron Klasma. Die Beispiele (243-24S) veransdtaulidien, daß L, die Gronthismata (zusammen mit dem Laimos) audi dort aufweist, wo unsere beiden anderen Chartres-Stidierarien Lt und LI das vierstufige Xeron Klasma notieren. Eine Hier steht das weitere Position der Gronthismata zeigen die Beispiele (189-190). Zeichen offenbar an Stelle der Gruppe Diple + Seisma II. Festzuhalten ist noch, daß in (243) jede unserer drei Chartres-Neumierungen über -cov ein anderes Zeidten erblicken läßt: Li hat die Konjunktur von Laimos und Klasma, 12 die Gronthismata, La das Thes kai apothes. Oh die Gronthismata hier lediglidt den Terzfall fd anzeigen (wie Va und Ch) oder ob sie in Obereinstimmung mit der mittelbyzantinisdten Xeron Klasma-Gruppe eine Ausschmückung des Terzfalles mit einem „Durdtgangston" vorschreiben, bleibe dahingestellt. 11 Tardo, Mtlu,gfa,
195.
11 S. MdO Ill, 57 und Taf. XVIII.
270
THEMATISMOS
(Theta
+ Dip]e) mit XEaoN
KuSMA
UND APODERMA
(Coislin-Notation)
FrrA SvfnAJA mit CA!KAPoLNAJA ¾ EcHADIN
:U
i..,/ oder ->r/ (Chartres-Notation)
SpätbyzantinisdtesCHoREUMA (Diple mit Syrma) 4/"t(Codex Chrysander) Mit der ersten der mitgeteilten Konjunkturen bezeichnen Coislin-Neumierungen, wie die Beispiele (316-319) veranschaulichen, zwei miteinander verwandte sechstönige Figuren, nämlidt g hcag a und a hcht1h. Die erste, vor allem in Gesängen des plagios T etartos begegnend. ist strukturell geradezu als Variante der ThematismosFigur anzusprechen; die zweite, im Stid:ierarion in Gesängen des plagios Deuteros vorzugsweise wiederkehrend, wird ebenso im Lehrgesang des Kukuzeles wie in der Neumentabelle des Codex Parisinus ancien fonds grec 261 als Choreuma (Bsp. 31-t) ausgegeben, gehört zu den häufigsten Figuren des Asmatikon und wird in kondakarischen Neumierungen mit dem Syrma als „großem Zeidten" und mit „kleinen Zeidten" gesdtrieben u_ Gemessen an der analytisdlen mittelbyzantinischen Aufzeichnungsweise der beiden Figuren ist unsere Coislin-Theta-Konjunktur als stenographisdie oder richtiger als halbstenographisdie Schreibweise anzusprechen, insofern, als das Xeron Klasma, von der Diple und dem Apodenna umrahmt, hier einen vierstu.figen Tongang anzeigt. In sematischen Neumierungen wird die erste Figur, wie Beispiel (316) :zeigt, mit der Fita svCtlaja und der Ca~ka polnaja wiedergegeben, die dem Xeron Klasma der CoislinVersion äquivalent ist. Hier steht die „gefüllte" Schale offenbar :zur Be:zeidmung dessen, daß der erste Ton der Xeron Klasma-Gruppe „hell", das heißt, hodt ist. (Das Kentema findet sich ja auch in der mittelby:zantinischen Version.) Wenn die Anzahl der Elemente einer Konjunktur als Kriterium für ihre Altersbestimmung ausgewertet werden darf, so wäre :zu sagen, daß die Coislin-Konjunktur jünger als die sematisdie sei, da diese nämlidi unter anderem auf das Apodenna verzichtet. Nur der Vollständigkeit halber sei nodi angemerkt, daß in allen Fällen, wo die CaJka polnaja in der sematisdien Version fehlt, die Fita sv!tlaja die bloße Thematismos-Figur anzeigt und hier mit ga cha :zu übertragen ist.
Die besprodienen :zwei Figuren werden in unseren Chartres-Neumierungen nicht mit einer Theta-Gruppe wiedergegeben, sondern mit der Konjunktur von Diple und dem oben notierten dreikurvigen Zeichen (oder nur mit diesem allein), das in der Neumentabelle des Codex U als Echadin angeführt wird. Dieses Zeichen, dessen Name von Echos ab:zuleiten ist und das aud>.:zum Neumenbestand der KondakarienNotation gehört, tritt :zwarin den spätbyzantinischen Neumentabellen - im Gegenu S. MdO III, -47f., Taf. IV-VI.
GruppoTau(.)q):lt(H)O'fl;i.cooav xaQavoµOl, steht im Deuteros, beginnt und schließt mit der Quinte lt, bewegt sich aber stellenweise im Tetartos, wie die häufigen Thematismos-Figuren auf dem hohen d und - nicht zuletzt - eine
Delta-Medialmartyrie verraten. Das Phthora-Zeichen findet sich am Schluß des Kolons EßOOc; :rtQOc; a1JT6v,und zwar bei der :zweitönigen Apeso exo-Figur a-d' (Bsp. 368). Bemerkenswert ist, daß das Modell „On: "t at'a\JQlE
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Tfy;:ohwvoµLar;:o:ou'fTlväxof\v
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Darauswird ersichtlich,daß in S etwa nur halb so viele Silben unneumiert bleiben wie in den beiden anderen Quellen. Beläuft sidt die Anzahl unneumierter Silben in L und P etwa auf¼ bis 1/s, so in S etwa auf 1/io bis 1/1. Die Betrachtung der Neumierung veranlaßt dann :zueiner Reihe instruktiver Beobachtungen: Als Schlußneume der Heinnen setzen die Handschriften verschiedene Zeidtenein, L den bloßen Punkt, P den Stavros, S das hakenfönnige Ison. S verwendet das Ison audt als Schlußneumeeiniger Binnenkola (Taf. V, Z. 2 und Z. 3; Taf. VI, Z. 2; s. ferner fol. 112v und fol. 184). Einmal (Taf. V. Z. 1) kommt das hakenförmige Ison audt als Anfangsneume vor. Silben, die sowohl in L als auch in P unneumiert gebliebensind, versieht S meist mit dem Apostroph (Taf. IV, Z. 1, -bE-, -ÖE-, -n, -µl; Z. 4, -aE6.vt1 im Cryf'tensis ö.. a. XV fol. 73r/v (SNA 56-57) sind alle Silben mit Tonzeidien ausgestattet. Wenige Silben bleiben hingegen in der Aufzeidmung des Hypapante-Stidieron Ai.wvttu ,; xTUJ'li; l:n:lTfi afi1taQo,,a[qim Cryptensis A. a. XVI fol. 8 (SNA 58) unneumiert. Zu erwähnen sind dann die fünf Chartres-Neumierungen, die Lavra A. 28 auf fol. 199v bis 201 überliefert. Es handelt sich um die Osterstidiera "Q qn',Aaxti;'IoOOCltoov, "Ayytlol O"XlQtt}aate(s. Tabelle VII Nr. 101-10:2), IxiQt6.no näoa ,; KTloti;, TO TI6.axa 'tOÜ'toTOµEya (s. 12 fol. 56v, 1s fol. 74v) und naaxa 't0 µEya 'tÖ Tili;tvl>O~ou xal ßdai; &vaa-r&:aeooi; (s. L! fol. 55v). Bis auf das zweite gehören sie dem Randrepertoire an. Die ersten beiden sind audt in Coislin-Notation überliefert, fehlten jedodi offenbar in der Coislin-Vorlage des Sdtreibers. Alle fünf Stichera tragen Kennzeidten des Notationsstadiums Chartres IV. Die Anzahl unneumierter Silben ist sehr niedrig. &vlO'TTJ So bleiben in der Aufzeichnung des" Ayyd.oLaxte'tTjaa'tE(vom Refrain XQtOTOi; abgesehen) nur :2Silben unneumiert (10 in 12, 1 3 in U, 3 in Va). Vom Oligon-Episem wird jedodt - gemessen an Va - ein weitaus sparsamerer Gebraudt gemacht. In "AyytÄot OXlQTT]aan tritt es in U 4mal. in 12 2mal. in La4mal. in Va 13mal auf. Recht bemerkenswert sind schließlich die Neumierungen der vier Osterstid:iera "Ayye'wl O'XLQtt}aatt,'Ev &QXfi~v ö A6yoi;,"Q qnJÄaxti;'Io\lOOWlvund Ht,yaoE TO 1
Auf diese drei Neumierungen hat bereits Strunk (The Notation of tlte Cltartres frag,,m,t. hingewiesen.
36)
"' in Wien 136 fol. 23-4v/23S. Das Coislin-System bildet zwar ihre Grundlage, sie weisen jedodt das Chartres-Oligon und das gerade Ison auf, das häufiger anstelle des hakenförmigen lson steht.
qifui;
Fassen wir nunmehr die in Coislin-Neumierungen hin und wieder begegnenden typisdien Chartres-Zeichen ins Auge, so empfiehlt skh, drei Kategorien von Fällen zu
untersd:ieiden. In eine erste Kategorie gehören Chartres-Neumen, die in Coislin-Aufzeidmungen
später eingetragen wurden, offenbar in der Absidlt, bestimmte Coislin-Semata in ihrer Bedeutung zu präzisieren. Das gilt vor allem für die Budtstabenneumen in Patmos S"S(S. 168). Da sich unter diesen Neumen der Budtstabe Kappa (Kouphisma). der T onbudistabe Delta und die Abbreviatur Bathy finden, drei Zeidien, die vor Chartres III nkilt nachweisbar sind, darf wohl angenommen werden, daß die Eintragungen frühestens in einer Zeit vorgenommen wurden, als die Chartres-Notation bereits ihr drittes Stadium erreicht hatte. Mehrere Fälle, die zu einer zweiten Kategorie zusammengefaßt werden sollen, lassen sich dann mit der Annahme erklären, daß sich die betreffenden Chartres-Zeichen. aus welchem Grunde auch immer. in die Coislin-Neumierungen „eingeschlichen" haben. Es handelt sich um hier sporadisdi auftretende Zeidien, die ansdleinend dem archaischen Coislin-System fremd waren und die aud:t später im Coislin-Bereidl nicht heimisdl wurden. Zu diesen Zeichen gehören das Chartres-Oligon (S.136), derStavros apo dexeias (S. 261), die Ligatur von Tromikon, Lygisma und Seximata (S. 273), die Ligatur von Epegerma und Lygisma (S. 274). Daß etlidte Chartres-Zeidien häufiger in Paris, Coislin 220 vorkommen, legt freilich die Vermutung nahe. daß diese Handsdirift möglidierweise aus einem Ort stammt, in dem das Chartres-System noch nidit in Vergessenheit geraten war. Recht eigenartig ist es auch, daß in Ochrid ; 3 und Patmos 218 zwei Chartres-Symbole, das Parakalesma und die Ligatur von Epegerma, Tromikon und lygisma, fast ausschließlidt in Neumierungen der Stidiera basilikia begegnen (s. S. 2S7 und S. 274). Eine eigene Deutung erfordern die Fälle der dritten Kategorie. Da die ChartresZeichen Synagma, Echadin und Enarxis in einigen ardtaisdlen Coislin-Neumierungen häufiger erscheinen, möchte man annehmen, daß sie möglicherweise auch dem ardiaischen Coislin-System von Haus aus angehörten oder daß sie zu einer frühen Zeit vom Chartres-Bereich „entliehen• wurden. Trifft das zu. so müssen sie im laufe der Entwicklung zur analytischen Aufzeichnungsweise hin als stenographische Symbole eliminiert worden sein. In den jüngeren Coislin-Quellen Jassen sie sh:h nämlidi nidit nachweisen. Etliche Male kommen das Ed:iadin und das Synagma in den kalabrisd:ien Menäen, meist in Stichera des plagiosDeuteros und desEchosNenano, vor. Man betrad:ite die kalabrischenNeumierungen in Taf. VIII/Z, S und in Taf. XVII/Z. 7. Verwiesen sei sodann auf die Aufzeichnung des Sticheron 'Al;i.ros-toO övbµows- (23. April, hl. Georg) im Cryptensis &. a. XVII fol. 203v, wo am linken Rand das erste Kolon auch in Chartres~Umschrift eingetragen ist (Echadin - Synagma - Thema haploun mit Xeron Klasma). Eine seltsame Ligatur von tinagma-
Das Ve,ht11lt11ls der pa/ao&yzantlnlsche11Notatio11n1
'"
ähnlichem Echadin und Synagma 6ndet sidt im Cryptensis fl. a. XV fol. 18Jv/Z. 22 und fol. 184/Z. 2. Das Echadin begegnet audt im Cryptensis A. a. XVII fol. 90 (Varianten am rechten Rand). Synagma•artige Zeichen ersdteinen noch im Cryptensis fl. a. XVII fol. 89v/Z. 19-20. Zweimal läßt sidi das Chartres-Synagma audt in Patmos H registrieren (fol. Illv/9, 138/10, vgl. auch fol. 162/4).
2.
ArchaischeNeumierungenund Mischnotationim Codex Lavra f. 67
DIE „ANOMALEN"
AUFZEICHNUNGEN IM 0BERBLICK
Der vorliegende Abschnitt nimmt innerhalb der Ardritektonik des Kapitels nicht die Stellung eines Exkurses ein, wie man angesichts der Obersduift vielleicht vermuten könnte. Wenn wir hier auf besondere notationstedtnische Phänomene in diesem hochbedeutenden Codex eingehen, so nidtt etwa nur, um die Ausführungen über die Notationsstadien in einigen Punkten zu ergänzen oder zu veranschaulichen, sondern vor allem, weil aus der Untersudrnng dieser Phänomene sich sdiwerwiegende Induktionen über das Verhältnis der Neumensch.liften und die Parallelität ihrer Stadien gewinnen lassen. Dies als notwendige Vorbemerkung. Beginnen wir mit der Beschreibung der Phänomene. In einer jüngsten Publikation äußert Oliver Strunk' die Meinung, daß der Schreiber unseres Codex U zwei Vorlagen benutzt haben müsse, da nämlich einige Stichera durch notarionstechnisdte Besonderheiten von der regulären Neumarion der Handschrift abweidten. Die betreffenden Stüdce fänden sich im Oktoedtos-Teil, und zwar innerhalb des Zyklus der 24 Stichera anatolika anastasima zur Vesper an Sonntagen. Es handle sich ausschließlidt um 11 Kontrafakta, die „an lntermedfate or transitionalstage of the Chartresnotatlon, half archalc, half developed" aufwiesen. Strunk spricht die Vermutung aus, daß der Sdueiber eine zweite Vorlage herangezogen hätte, weil diese Kontrafakta in seiner Hauptvorlage möglicherweise unneumiert geblieben waren. Dieser Darstellung vermag sich der Verfasser nicht anzuschließen. Seine Untersudtungen haben nämlich zu abweidtenden &gebnissen und zu einer grundsätzlich anderen Deutung der Phänomene geführt. Es läßt sich zeigen, daß der Sachverhalt weitaus verwickelter ist als Strunk annimmt: gerade diese Komplexität gibt aber Anlaß zu äußerst aufsdtlußreichen Beobachtungen. Es ist zunächst zu konstatieren, daß sich durch notationstechnische Besonderheiten nicht nur die 11 Kontrafakta, sondern - bis auf eins - alle 24 Anatolika anastasima zur Vesper an Sonntagen auszeichnen, darüber hinaus etliche Theotokia im Oktoechos-Teil, schließlich der erste Zyklus der Srichera heothina sowie mehrere Sticbera im Triodion und Pentekostarion. Nicht weniger als rund SO Stüdce stechen von ihrer Umgebung durch erhebliche notationstechnische Anomalien ab. Dabei ließe sich von diesen Stüdcen keineswegs sagen, daß ihnen allen die gleiche „anomale" Neumation 1
SNA, Pars Suppletoria, 17f.
Ardialsdit- Nt'N1tdffl'Hgt'1t..-ndMlsdcnotatlon I'" Codex Lana
r.
67
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gemein ist. Es lassen sidl nämlich zwischen ihnen bestimmte Untersdliede beobachten, deren vorsichtiges Studium eine Scheidung der „irregulären" Neumierungen in drei Gruppen gestattet. Die Stüdce der ersten Gruppe, sed:is Theotokia des Oktoed:ios. gehören eindeutig den Notationsstadien Chartres I und Coislin I an. Die Aufzeidmungen der zweiten Gruppe, die sidt aus 24 (23) Anatolika anastasima zusammensetzt, lassen dann eine Art Misdtnotation erkennen. Ihre Grundlage ist die Coislin•Notation. und zwar im dritten Stadium, daneben bestehen jedodt manche Chartres•Elemente. Unter den Stidlera dieser Gruppe finden sidt einige mit fast reiner Coislin•Aufzeichnung. Audi die Stidlera der dritten Gruppe, die außer den Heothina (erster Zyklus) etlidle Idiomela aus dem Triodion und Pentekostarion umfaßt, sind in Misdtnotation aufge.zeidtnet. Von den Anatolika untersdteiden sie sidt jedodt in mandlen Einzelheiten, weshalb die Zusammenfassung in eine eigene Gruppe als notwendig erscheint. Urteilt man nadt notationstedmisdten Besonderheiten, so ließe sich schon an diese Obersicht die Vermutung anknüpfen, daß der Schreiber des Codex U (oder der Sdtreiber seines Ardtetypus) nidtt bloß zwei, sondern vier Vorlagen benutzt hat, nämlidt außer der HauptvorlageA eine für die sedts Theotokia (VorlageB), eine für die 24 (23) Anatolika (VorlageC) und eine für die Stidtera der dritten Gruppe (Vorlage D). Für eine soldte Vermutung ließen sidt mandte Argumente aus der folgenden Darstellung gewinnen. DIE THEOTOKIA IN CHARTRES I UND COJSUN
I
Alle sed:i.sAufzeid:i.nungen finden sidt im Oktoedios•Teil, und zwar stehen sie im Anschluß an Stidtera anatolika, die jeweils an Samstagen zur Vesper gesungen werden sollen. Drei Theotokia sind in Chartres I aufgezeidinet, zwei in Coislin I. ein einziges weist eine ard:i.aisdte.,.neutrale" Neumierung auf. Allen ist die große Anzahl der unneumierten Silben gemeinsam (in der Regel ein Drittel), und in keinem findet sidt irgendein Oligon•Zeichen. In den Coislin•Stüdcen kommt audt das lson-Zeichen nicht vor, während das gerade Ison in den Chartres-Stüdcen jeweils ein- oder höchstens zweimal begegnet. Es mag als sidler gelten, daß diese wenigen lson-Zeidlen in Vorlage B gefehlt haben und vielleicht vom Schreiber des Codex 1s über unneumierten Silben eingetragen wurden. Von der Neumation der Coislin-Theotokia untersdteidet sid:i.die Notierungsweise der Chartres-Theotokia nur durdl das Auftreten „großer Zeidten", die dort fehlen. Im folgenden seien die einzelnen Stüdce mit Angabe der Anzahl unneumierter Silben und hervortretender Zeichen angeführt. Die beiden Coislin-Theotokia sind Tiv (fix·u')
(s. Tafel XXVUI) Das vorliegende Himmelfahrtsstidteron ist in Lafol. 91v und in Va fol. 156v überliefert. Die Version des Codex Va wurde nidtt mitgeteilt, weil sie von der wiedergegebenen Version des Codex Laso gut wie gar nicht abweicht. (In Zeile 2, 4, 6, S und 12 fügt Va zu dem jeweiligen Schlußzeidien einen Punkt hi0%U;geringfügig sind auch die weiteren Varianten; sie sollen hier berücksichtigt werden.) Unser Stidteron ist in Notation und Stil mit den Osterstidiera des Protos und plagios Protos (l.3 fol. 71v-75) engstem verwandt. Nicht nur längere Neumenfolgcn teilt es mit ihnen, sondern geradezu die Neumation ganzer Kola. überdies kehrt die Neumation der Zeilen 7-14. von minimalen Abweichungen abgesehen, teils in anderer Reihenfolge und bis auf Zeile 13-14 mit anderem Text im Doxastikon des plagios Protos Et xal Al~o, ßaQu, µ< auyxa).um" (L, fol. 131v) wieder. Z e i l e 1: Die lnitialmartyrie indiziert, da sie unneum.iert ist, lediglidi den Edios des Gesanges, nicht aber den lnitialton. Dennodt läßt sich dieser unschwer bestimmen. In der Regel beginnen nämlich die Stidiera des Protos entweder mit dem Grundton (d) oder mit der Quinte (a). In paläobyzantinisdten, zumal in Chartres-Neumierungen wird der Grundton meist mit der Kombination von Apostroph und Chamele angezeigt, die Quinte hingegen entweder mit dem (geraden) Ison oder mit der Petaste (Bsp. 14, 74, 102, 197, 199). Unser Stidieron beginnt also mit der Quinte. Als „Wegweiser" für die Transkription der ersten Zeilenhälhe mag die Konjunktur Apeso exo dienen. In Stichera des Protos bezeichnet rie meist entweder den Sekundsd:uitt ef oder den Quintsc:hritt da. Maßgeblidt für die Unterscheidung der Fälle ist die näd11tfolgende Neume. Je nadldem, ob die Dyo Apostrophoi oder die Diple auf die Konjunktur Apeso exo folgen, zeigt diete einen Sekund- oder einen Quintsdlritt an (s. Bsp. 6, 102, 166). Eine Parallelstelle für die Transkription der zweiten Zeilenhälfte bieten die Beispiele 197-199. In der vorliegenden Konstellation ist das Klasma einstufig und descendens, der Apostroph (Konjunktur mit den Dyo Kentemata) gibt eine Terz abwärts an. Im Protos bezeichnet das Ouranisma in der Regel den Tongang ga cha (Bsp. 296) oder cd fed (frans-position in die Unterquinte). Daß es sidt hier um die erstere Position handelt, ist augenscheinlidt. Lassen sidi. auf diese Weise die lntervallverhältnisse zwischen den .charakteriJtisd::i.en• Neumen der Zeile festlegen, so wird auch deutlidt, daß die Petaste über to und das Kratema über twv hier als Tonwiederholungszeichen fungieren. Zeile 2: Die in Bsp. 386 wiedergegebene Parallelstelle vermag die Transkription bestens zu veransdiaulic:hen.• Charakteristische" Neumen sind das Seisma II und die Konjunktur Dyo. Der Apostroph der Konjunktur über -vtA- bezeichnet hier eine Quarte abwärts. Z e i 1 e 3: Zum Vergleidt ziehe man die Parallelstelle in Bsp. 387 heran, wo der Tonhuchstabe Delta (s. S. 292) und die Konjunkturen von Apostroph und Oxeia besonders bemerkenswert sind. In der Neumation unserer Zeile zeigt die Oxeia über -xet.-- eine Quarte aufwärts
an.
Exe1ttpliftzlnw11gdn T11a11sk1tptlo11stedudk
l71
Z e i I e 4: Auch hier empfiehlt es sich, von den .charakteristischen• Neumen auszugehen, deren Positionen sich nadt dem Kontext leidtt bestimmen lassen. Die Konjunktur Apeso exo fixiert hier, da ihr die Dyo Apostrophoi folgen (s. Erläuterungen zu Zeile 1), den Sekundschritt ef; aud:i das Apothema (Epegerma), das hier zweistufig ist, bezeichnet den gleichen Sekundschritt (s. Bsp. 67 und 57); schließlich.zeigen die Dyo Apostrophoi mit Klasma in Gesängen des Protos und plagios Protos am Kolonende regelmäßig die Figur ef~ an (Bsp. 238, 360). Liegt das fest, so bereitet die Transkription der übrigen Neumen keine Schwierigkeiten mehr. Das gerade Ison über -a besitzt hier die Bedeutung des Oligon. Z e i I e 5 und 6: Zunächst seien die Parallelstellen in Bsp. 388-389 angeführt. Als ,Wegweiser' für die Transkription dienen hier, da „charakteristische" Neumen fehlen, die Neumenfolgen am Sdtluß der Kola. Mit den Zeichen Apostropb-Klasma-Apostropb wird in Zeile 5 die Krousma-Formel wiedergegeben (s. S. H8), die hier den Tongange fe d bezeidmet. Die vielgliedrige Neumenfolge am Sdi.luß der Zeile 6, aus Bareia, Kratema und einem Diple-Paar bestehend, fixiert dann im Protos eine „gewichtige" sechstönige Kadenz auf f (vgl aud:i Bsp. 374-37S). Die Kombination von Apostroph und Cbamele über 'tW indiziert einen tieferen Ton als der unmittelbar voraufgehende alleinstehende Apostroph. Die Oxeia über Tfl; besitzt den diastematischen Wert der aufsteigenden Quinte. Gerade mit diesem Quintsprung c-g vollzieht sich übrigens zu Beginn der Zeile 6 die Modulation vom Protos :um Barys. Zeile 7: Eine fast neumengleiche Para11elstelle ist in Beispiel 390 mitgeteilt, das dem entnommen ist. Ostersticheron 'AvaatUOE), das soviel wie Wiedererwecken, Wiederaufric:hten bedeutet. (Als notationstec:hnisc:her Terminus besitzt das Wort offenbar die letztere Bedeutung.) Zwarwird das Verb porrigo meist in der Bedeutung von ausstrecken, niederstrecken, ausdehnen, verlängern, darreic:hen, gebrauc:ht; mitunter begegnet es jedoch auc:h im Sinne von richten, weshalb es legitim erscheint, die Termini Porrectus und Epegerma ihrem Wortsinn nac:h in Beziehung zueinander zu setzen. Der Zusammenhang der Termini wird offensichtlich, wenn man bedenkt, daß Arrectus (von arrigo) und Erectus(von erigo) die exakten lateinisc:hen Obersetzungen von • Beillufig sei angemerkt, daß die Tabelle des Codex Wolfenbüttel zu dem Namen Porrectus irrtilm•
lieh eine episemierte Virga verzeichnet. • So Dom Potbier in Pal Mus II, 28; Dom Mocquereau in NMG, 146; Fleischer in
Die gerfflaHlsÖleH
Neint,en, 62; Suiiol, lHtroductloH, 2; u. v. a. u Origine byzaHtiHe, 7S. a Siehe darüber Kap. XXV. u Thibauts Fehlordnung hat übrigens Wagner (EGM II, 41) zu der irrigen Annahme verleitet, daß die Parakletike in Analogie zu dem Porrectus vielleicht eine dreitönlge Figur andeutet, .dereH ffllttlerer Ton IH der Tiefe liegt•. " Musik In ByzaHz, ilff pilpstltÖleH
Ro"' 11Hd'"' FraHkeHrelÖI, Heidelberg 1962, S. 18 (Abhandlungen der Hddelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl.).
Die Neu1tcae co1tcposltaeund die Tonoi synthetoi
Sl
Epegenna wären. Sodann läßt eine vergleidiende Untersudiung der Neumen Porrectus und Epegerma (genauer gesagt: ihrer Figuren) erkennen, daß die zwisdien ihnen bestehenden semasiologisdien Beziehungen sehr eng sind. Zunädist müssen wir hervorheben, daß der Porrectus und das Coislin-Epegenna, das in der Neumenliste des Codex Lavra r. 67 Apothema und in slavisdien Verzeidinissen Dva v celnu genannt wird, semeiographisdi in keiner Weise miteinander verwandt sind. Demgegenüber hat sidi die paläobyzantinisdie .Konjunktur von Bareia und Oxeia semeiographisdi als Analogon und semasiologisdi als Äquivalent des Porrectus erwiesen. Besonders widitig für unsere Untersudiung ist, daß mit der Konjunktur von Bareia und Oxeia in Coislin-Neumierungen häufiger die Epegerma-Figur A (fgef oder cdhc) bezeidinet wird. In den Beispielen 51, 138, 313, 339, 340 und 381 steht sie in Va, Vi, bzw. Odi, Sinai 1242 und Grottaferrata E. a. 7 dort, wo die Chartres-Quellen das Apothema aufweisen. Audi in (184) korrespondiert die CoislinKonjunktur des Vatopedensis mit dem Ova v celnu der slavisdien Version. Die genannten Substituierungen des Epegerma durdi die Konjunktur von Bareia und Oxeia bereditigen zu dem Sdiluß, daß diese Konjunktur, für die keine spezielle griediisdie Bezeidinung überliefert ist (in slavisdien Neumentabellen trägt sie den Namen Mecik), sofern sie als Wiedergabe der Epegenna-Figur Verwendung fand, ebenfalls Epegenna genannt wurde. Bereits in diesem Zusammenhang müssen wir anmerken, daß die Benennung zweier Zeidien mit demselben Namen im byzantinisdien Bereidi nidit ungewöhnlidi ist. Es wird nämlidi nodi zu zeigen sein, daß es zahlreidie synonyme Zeidien gibt und daß die Synonymien keineswegs auf Verwedislung beruhen. Vielfadi wurden Namen nidit auf die Neumen bezogen, sondern auf die Figuren, die sie bezeidinen, und da häufiger die gleidie Figur durdi versdiiedene Zeidien wiedergegeben wurde, ergab sidi, daß heterogene Semata denselben Namen erhielten (s. Kap. XXIII). Darf somit als hödistwahrsdieinlidi gelten, daß die Konjunktur von Bareia und Oxeia Epegerma genannt wurde, so liegt zugleidi der Zusammenhang der Termini Porrectus und Epegenna auf der Hand.
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Sdilingenfönniger ToR.cmus und umgekehrtes
8
TINAGMA
~
Thetaförmiger ToR.cutus (Novalesa) Der sdilingenförmig gezeidinete T orculus bildet das Korrelat zum tinagma-ähnlidien Porrectus und tritt - wie dieser - vorwiegend in mozarabisdien Neumierungen auf 45 • Gelegentlidi läßt er sidi aber audi in französisdien Handsdiriften registrieren, so im Codex Montpellier (s. pag. 44/8). Nidit nur graphisdi, sondern audi semasiologisdi erweist sidi dieser T orculus als dem umgekehrten Tinagma der Kondakarien-Notation 46 eng verwandt. Beide Semata bezeidinen dreitönige Figuren mit dem Intervallverhältnis ,tief-hodi-tief'. " Vgl. Suiiol.Introduction, S. 3l0 f., 338. 41 Siehe MdO III, S. 59, Taf. X, 3-5, Taf. XXII.
Ligati,ro,
53
Der theta-ähnliche T orculus gehört zu den charakteristischen Zeichen der Notation von Novalesa. Er begegnet sowohl im Bodleianus, Douce 222 und im Missale Vercelli 124 wie in den von Suiiol ' 7 entdeckten Fragmenten in Barcelona, Bibliotheque de la Generalite Nr. 895. Die Beispiele (448-451) zeigen, daß der thetaförmige Torculus und das kondakarische umgekehrte Tinagma mitunter genau die gleichen Figuren (cdc bzw. gag) bezeichnen und sich zudem innerhalb melodisch ähnlicher gregorianischer und byzantinisdt-slavisdter Phrasen an korrespondierenden Stellen finden.
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To1.CULus~ und STREPTON
Die bisl«erigeH etyHfologisdteH AbleituHgeH des TerHliHus Torculus
Mit dem Namen Torculus wird das erste der vorstehenden Semata in beiden Fassungen der Tabula brevis verzeidmet. Die Tabula prolixior überliefert es hingegen mit dem Namen Pes flexus.
Der Name Torculus wird in der modernen Forschung allgemein von dem Zeitwort torqueo {drehen, winden, wenden) oder von dem Substantiv torculum (Weinpresse, Kelter) abgeleitet und mit der Ähnlichkeit des Zeichens mit einem PreSgerät erklärt 48. Von dieser Auffassung weicht die Ansicht Thibauts 49 ab, der den Namen für eine Obersetzung des griechischen Terminus Syrmattke oder SynHa hält und seine Ableitung auch mit der • vollkommenen graphischen Ähnlichkeit• der Zeichen begründet. Thibauts Behauptung entbehrt indessen, wie so oft, jeglicher Grundlage. Das Wort Syrma bedeutet nämlich Draht und weist keine Beziehung zu dem Wortsinn von Torculus auf. Zudem erweisen sich die Zeichen semasiologisch nidit einmal als verwandt. Der Torculus ist ein dreitöniges Zeidien, während das Syrma, wie dargelegt, sinuskurvenartige Figuren festhält. Die graphische Ähnlichkeit der Figuren ist also rein zufällig. Zu erwähnen bleibt noch, daS Jammers 50 den Torculus als „ZeidteHder ,Dreltbewegimg•• apostrophiert. Damit wird der Name nicht auf die Form, sondern auf die Figur des Zeichens bezogen. Die Beziel«uHgenzu1HStreptoH
Eine neue etymologische Ableitung des Namens Torculus ergibt sidl aus der Berücksidltigung des byzantinisdlen notationstedlnisdlen Ausdrucks Strepton. Bedenkt man, daß StreptoH (von O"t()EQO°ttoo sein. Aber ein Substantivum, von dem die Diminutivform Ö>Qlaxo;abzuleiten wäre, gibt es nicht. Den Ausdruck Ö>Qlaxo;hat Thibaut selbst konstruiert; er läßt sidi im Spradigebrauch der byzantinisdien Zeit nidit belegen. Allenfalls ließe er sich als Gräzismus auffassen; aber nadi weldiem Vorbild? Auch (versdiönern, zieren, wäre zu beaditen, daß das vermeintliche Stammwort Ö>Qa°ttoo sdimücken) im mittelgriediisdien musiktheoretisdien Sdirifttum nidit nadiweisbar ist. Als Terminus technicus zur Bezeidinung des kalophonisdien Verfahrens, Melodien durdi ornamentale Zutaten zu „versdiönern", gebraudit man den Ausdruck xai..82. Aoon:ltoo Nodi zweierlei wäre zu bedenken: Deutet man den Namen Oriscus als Gräzismus ab, so wäre wohl die Lesart und leitet ihn von ÖQ~ (Grenze) oder von Ö>QO°ttoo Horiscus zu erwarten, die jedodi in den Neumentabellen, wie es sdieint, nirgends nadiweisbar ist 83 • Zudem müssen wir beaditen, daß im byzantinisdien Bereich keine Neume überliefert ist, deren Namen in irgendeiner Beziehung zu ÖQo;, ÖQo; oder Ö>Qa°ttw stünde. Unsere komparativen Untersudiungen lateinisdier und byzantinisdier Neumen haben zu dem Ergebnis geführt, daß der Oriscus mit der byzantinisdien Hyporrhoe sowohl der Form als audi der Bedeutung nadi identisdi ist Damit liegt aber eine neue etymologisdie Erklärung auf der Hand. Die Wortbildung Oriscus stellt offenbar eine Latinisierung des griediisdien Terminus Hyporrhoe dar, •1
Pal Mus XIII. 66/3.
n Der Terminus findet sich zum Beispiel im Sinaiticus graecus 1262, einem Im Jahre 1437 im Kloster Esphigmenu gesdtriebenen Kontakarion (Beschreibung der Handschrift in der Habilitationsschrift des Verfassers). ea Der Oriscus figuriert in beiden Fusungen der Tabula brevis, jedoch nicht in der Tabula prolixior. Singulir sind die Lesarten Orescus und Arlsco. Erstere findet sich in der Toulouser Tabelle, letztere kommt bei Johannes Hothby (t 1487), La Calllopea legale (s. Coussemaker, Hlstotre de l'ltaTHCOHleau Hf0YeH.tge, S. 321 f .• 324), vor. Die Lesart Horlscus soll dann in einer Vatikanschrift vorkommen, die Giovanni Battista Don! (1594-1647) in seiner Schrift ProgyHtHastlca Muslcae herangezogen hat (s. Fleischer, Die gerH1aHlsdteHNeuHleH, S. 49). Ob zwischen dem Oriscus und dem in der erweiterten Fusung der Tabula brevis verzeichneten Orlx Beziehungen bestehen, sei dahingestellt. In Wolfenbüttel wird mit dem Namen Orix das Zeichen des Torculu1 resupinus wiedergegeben, in St. Blasien ein Trigon cum Virga.
OriscNSNHd Hyporrltoe
85
eines Wortes, das in byzantinischer Zeit - wie heute - als lporoi ausgesprochen wurde. Zur Erklärung der Umbildung mag die Bemerkung beitragen, daß in den byzantinischen Kompendien und Neumentabellen neben der Lesart 'UltOQQOlJ(eigentlich: .Fluß von unten") audi der Ausdruck wtOQQOlJ (.Abfluß", .,Ausfluß") vorkommt 84. Der erste Bestandteil des Compositum variiert also und ist deshalb vielleicht als unwesentlich angesehen worden. Korrumpierungen und Latinisierungen griechischer musikalischer Termini sind übrigens in mittellateinischen Traktaten und Neumentabellen recht häufig. Erinnert sei zum Beispiel an die Texte der byzantinischen Intonationsformeln 65 oder an die Bezeidinungen der Tonarten (T etra,dus für T etartos, plagis für plagios) und so fort. Stellen wir noch die Frage nach dem Zeitpunkt, zu dem der Terminus Oriscus geprägt wurde, so müssen wir nochmals auf die beiden Fassungen der Tabula brevis verweisen, die das Sema unter diesem Namen verzeichnen. Da die älteste Quelle, weldie die Tabula brevis überliefert, aus dem beginnenden 12. Jahrhundert stammt, hält es Dom Huglo 66 für möglich, daß dieses Neumenverzeidmis vielleicht schon im laufe des 9. Jahrhunderts entstanden ist. Wir müssen allerdings hinzufügen, daß ein Zeichen namens Oriscus im mittellateinischen Schrifttum des 9. bis 11. Jahrhunderts, wie es scheint, weder erläutert noch angeführt wird. Verfolgen wir jetzt den Terminus Hyporrhoe bzw. Aporrhoe, so wäre als erstes zu konstatieren, daß er in der Neumenliste des Codex Lavra r. 67 nicht erscheint. Audi die Traktate der hagiopolitanischen Klassifizierung zählen unter den Tonoi keine Neume dieses Namens auf. Das läßt sich auf mehrere Gründe zurückführen. Vergegenwärtigen wir uns, daß der Pariser Traktat unter den Tonoi das Syrma an Stelle der Hyporrhoe anführt, während die drei anderen Traktate unter den Tonoi das Seisma nennen. Die Hyporrhoe konnte hier nicht aufgenommen werden, einmal um die Anzahl der 1 ; T onoi nicht erhöhen zu müssen, zum anderen weil man die (richtige) Auffassung vertrat, daß dieses Zeichen nicht allein, sondern stets in Konjunkturen auftritt, wie beispielsweise eben im Seisma67 •
„ Aponhoe
heißt das Zeidten zum Beispiel im Lehrgesang des Kukuzeles, im Codex Barberinus 300 (Tardo, Melurgla, 153), in Lavra 610 (ebenda, S. 189 und 191). Paris Suppl. grec 815 1dtwankt zwisdten den Lesarten Hyporrhoe und Aporrhoe. 11 Siehe die Zusammenstellung der Lesarten nadt Pseudo-Hucbald, Regino, Aurelian, Odo und Bemo bei 0. Fleisdter, Die spatgriedtlsdte ToHsdtrlft, Berlin 1904, S. 42. Näheres darüber in Kap. XXVIII. 11 &udes gregoriennes I (1954), S. 58. 11 Hier müssen wir vermerken, daß die Wörter 1'.11toQ()O'J und WW()()OLUim Pariser Traktat (1. J.-B. Thibaut, Mo111CH1eHts de la HOtatioHekphoHetlque et haglopollte de l' igllse grecque, St. Petersburg 1913, S. 58 f.) wohl vorkommen, jedodt, soweit wir sehen, nidtt als notationstedmisdte Termini, sondern in dem allgemeinen Sinne von Herleitung oder Folge. Im gleidten Sinn verwendet audt der (s. Tardo, Melurgla, 167). DemTraktat des Codex Vaticanus graecus 872 den Ausdruck 1'.in:o()()O'J gegenüber enthält der Leningrader Traktat eine Erläuterung des Semas Aporrhoe als !x!JA.TJµa-ioil yoveyoi){lou (s. Thibaut, MoHu1HeHts, 89). Diese Auslegung findet tidt jedodt nidtt in den Absätzen über die Tonzeidten, sondern an späterer Stelle, nämlidt im Zusammenhang mit der Parallage. Die Ausdrücke Anarrhoai und Hyporrhoai begegnen schließlid, im Traktat des Codex Barberinus 300 (s. Tardo, Melurgta, 160). Hier dienen sie als musiktedtnisdte Termini und bedeuten du stufenweise Auf- und Absteigen.
Die latelnisdten Zierncumen und ihre byzantinisdten Parallelen
86
Die Traktate der mittelbyzantinischen Klassifizierung. die auf einen Numerus clausus der Zeidlen keine Rücksidlt zu nehmen braudlten, zählen dagegen die Hyporrhoe regelmäßig unter den Emphona auf. Die ältestenHandsdlriften, die diese Traktate enthalten, stammen aus dem beginnenden 15. Jahrhundert. Außerhalb der Traktate erscheint der Terminus Aporrhoe im Lehrgesang des Kukuzeles. Die älteste Quelle, die diesen überliefert, der Codex Athen 2458, wurde im Jahre 1336 gesdlrieben. Audl in der Neumentabelle des Parisinus gr. 261, des auf 1289 datierten Stidlerarions, figurieren die Zeidlen Hyporrhoe und Syrma, allerdings ohne ihre Namen. Unsere Obersidlt erweckt den Anschein, als ließe sidl der Neumenname Hyporrhoe bzw. Aporrhoe in den griechisdlen Denkmälern des 12. und 13. Jahrhunderts nidlt belegen. Dennodl muß er in Gebraudl gewesen sein. Nidlt zuletzt der Nachweis des analogen lateinisdlen Terminus Oriscus bezeugt es. Alle Anzeidlen spredlen dafür, daß die Ausdrücke Iporoi und Oriscus spätestens in der byzantinisdlen und lateinisdlen semeiographischen Onomatologie des 11. Jahrhunderts geläufig gewesen sind.
p ALÄOGRAPHISCHE
ANALYSE
GLEICHHEIT DER FORMEN VON ÜRISCUS UND HYPORRHOE BZW. SYRMA
Es wurde bereits dargelegt, daß der Oriscus nidlt nur etymologisdl und semasiologisch, sondern audl paläographisdl auf verschiedene Weise gedeutet wurde. Fassen wir hier die einzelnen Meinungen zusammen: Mocquereau, Suiiol und Wagner leiten das Zeichen vom Apostroph ab, Thibaut von der ekphonetisdlen Hypokrisis, Jammers vom Spiritus asper; Houdard interpretiert es als Zusammensetzung von „Epiphonus" und Apostropha, Dechevrens als Zusammensetzung von Häkdlen, Virga jacens und Komma; Ferretti deutet es als Wurzelzeichen. Vergleicht man jedoch die Hauptformen des Oriscus mit den Symbolen der Hyporrhoe und des Syrma, wie sie in altbyzantinischen und paläoslavischen Neumierungen entgegentreten, so ist eine verblüffende Ähnlichkeit augensdleinlich: Das gemeinsame Symbol dieser Neumen zeigt eine S-ähnlidle Form, die in verschiedenen Umstellungen begegnet. Den Beweis, daß die graphische Ähnlichkeit nicht zufällig ist, wird die semasiologische Analyse erbringen. Hier wollen wir vorerst nur die Formen der Zeichen im Auge behalten. In Tabelle XVI haben wir die häufigsten Formen der Hyporrhoe, des Syrma und des Oriscus zusammengestellt. Betrachten wir zunächst die byzantinischen und slavischen Symbole, so läßt sich die S-ähnlidle Grundform trotz der zuweilen stark ausgeprägten Stilisierungen und der versdliedenen Umstellungen nirgends verkennen. Als Hyporrhoe wird das S-artige Zeichen meist klein und in aufredlter Stellung gezeichnet, als Syrma erscheint es hingegen in der Regel in liegender, linksgeneigter, rechtsgeneigter Stellung, in spiegelbildlidler Umkehrung und außerdem noch meist in größerem Format.
OriscusuHd Hyporrhoe
87
Starke Stilisierungen zeigen die kondakarischen rechtsgeneigten S-artigen Formen. Ihre Identifizierung als Hyporrhoai bzw. Syrmata ist nur durch detaillierte paläographischeund semasiologische Analysen möglich geworden, über die der Verfasser an anderer Stelle berichtet hat 88. Durch Stilisierung und größeres Format zeichnen sich sodann vor allem die ChartresKombinationen von Syrma und Synagma und die kondakarischen Choreuma ( = Syrma)-Symboleaus. Daß letztere Zeichen als Syrmata identifiziert werden konnten, ist gleichfalls der semasiologischen Analyse zu verdanken (s. Kap. X). Ohne sie würde mander Gefahr unterliegen, die Zeichen als Minuskel-Thetas zu deuten. Aufgenommen wurden in die Tabelle noch die häufigsten kondakarischen Ligaturen desChoreuma ( = Syrma) mit anderen ngroßen Zeichen", dem Lygisma, dem Epegerma (Apothema) und dem Kataba-Tromikon. Wenden wir uns jetzt den Oriscus-Formen zu, so müssen wir zuerst darauf hinweisen, daß Dom P. Ferretti in seiner gründlichen Studie über die aquitanische Notation 36 der häufigsten Oriscus-Formen registriert und sie in zwei Kategorien gruppiert hat. Als Einteilungskriterium diente ihm dabei die Ähnlichkeit der Formen mit einem umgekehrten N (bzw. einer bestimmten Torculus-Form) oder einem aufrediten N (bzw. dem Porrectus). In beiden Kategorien sind sowohl eckige wie runde Fonnen vertreten. Unserer Zusammenstellung in Tabelle XVI haben wir Ferrettis Material zugrunde gelegt,es jedoch in Anbetracht der erwiesenen Gleichheit des Oriscus mit der Hyporrhoe und dem Syrma neugeordnet 69 • Unser Einteilungskriterium ergibt sich aus der Unterscheidung der Formen in runde und eckige. Es steht über jedem Zweifel, daß dierunden, S-ähnlichen Oriscus-Formen die ursprünglichen, die eckigen hingegen die sekundären sind. Aus der Tabelle wird ersichtlich, daß der Oriscus - wie die Hyporrhoe und das Syrma- sowohl in aufrechter als auch in rechtsgeneigter, linksgeneigter, liegender und spiegelbildlich umgekehrter Stellung erscheint. Die S-artige Urform des Zeichens ist zwar nicht überall erkennbar, die Abweichungen stellen jedoch Deformierungen oder Stilisierungen dar. So ist A 7 als eine Deformierung von A 6 zu deuten, A 10 und 11 gehen auf A 9 zurück, die M-ähnlichen Formen A 20--24 haben sich wohl aus A 1-5 und A 12 entwickelt. Es ist besonders hervorzuheben, daß die nrunden" Formen vor allem der deutschalemannischen (besonders der St. Gallener), der bretonischen, der Metzer und der von ihr abhängigen Corno-Schrift eigen sind. Sie lassen sich bereits in einigen der ältesten Handschriften und Neumierungen des 9. und 10. Jahrhunderts nachweisen, 18
Siehe MdO IV, 12-14, Taf. XLIII-XLIV. • Die Bezeichnungen der Formen (Buchstaben und Ziffern) beziehen sidi auf Pal Mus XIII, 177. In die Tabelle haben wir lediglidi die Form B 10 nidit aufgenommen, das Mittelzeichen der häufigsten St. Gallener Salicus-Graphie, ein clivis- oder apostropha-ähnliches Zeichen, das sich unseres Erachtens nichtunbedingt als Simplifizierung einer bestimmten Oriscus-Form deuten läßt, wie Ferretti meint (s. weiter unten).
Die latelHlsdteH ZierHeulffeH und ihre byzaHtinisdten Parallele11
88
und zwar nicht nur in Laon 239 (B 4-5) und in St. Gallen 359 (A 19), sondern audi im Reginensis 215 (datiert: 877), in den Sakramentaren von Novare und Corbie sowie im Leipziger Codex 70 •
DIE SEMASIOLOGISCHE ÄQUIVALENZ
DES ORISCUS MIT DER HYPORRHOE UND DEM
SYllMA
NACHWEIS DER ZEICHEN IN KORRESPONDIERENDEN LATEINISCHEN, BYZANTINISCHEN UND SLAVISCHEN FIGUREN
Es wurde bereits erwähnt, daß der Oriscus sowohl als Bestandteil mehrtöniger Neumenfolgen als auch über einzelnen Silben alleinstehend begegnet. Der „eingespannte" oder „angeschlossene" Oriscus findet sich häufig sowohl im Graduale wie im Antiphonale, der alleinstehende Oriscus läßt sich dagegen häufiger nur im Antiphonale registrieren. Da unseren Untersuchungen die Gesänge des Graduale zugrunde liegen, stellen wir den „eingespannten" Oriscus in den Mittelpunkt unserer Betrachtungen. Wir beginnen mit der Konstatierung, daß in einer großen Anzahl von Fällen die Neumenfolgen, in die der Oriscus „eingespannt" wird, sinuskurvenartige Figuren bezeichnen. Ein Hauptton wird nach Art eines Doppelschlages von oben und von unten umspielt. Oder: Die Figur steigt von einem Hauptton stufen- oder sprungweise zur Sekunde und Terz bzw. zur Terz und Quarte ab, um wieder die Sekunde bzw. Terz zu erreichen. Ähnliche Figuren lassen sich auch in byzantinischen und slavisdien Neumierungen nachweisen. Dabei stellt man nicht ohne Überraschung fest, daß sie in erster Linie mit der Hyporrhoe oder mit dem Syrma festgehalten werden. Im folgenden fassen wir die Positionen des „aHgesdilossenen"Oriscus ins Auge (sie sind in Tabelle XVII zusammen mit Nachweisen der Fälle übersichtlich zusammengestellt) und vergleichen die korrespondierenden lateinischen, byzantinischen und slavischen Graphien und Figuren miteinander.
Climacuscum orisco oder Pes subbipunctis cum orisco - Seisma II uHdIII Die lateinischen Graphien bezeichnen vier- oder fünftönige Figuren wie cba b, fed e, cdch c, dech c, adch c und ähnliche. Je nach Modus kommen die Figuren in versdtiedenen Lagen vor. In allen Fällen bezeichnet der Oriscus den letzten Ton. Die Graphie Pes subbipunctis cum orisco zeigt in Bsp. (493) die Figur cdch c. Auf die vier letzten Töne reduziert, kehrt dieser Tongang sehr häufig in byzantinisdten und slavischen Neumierungen, und zwar als Seisma-Figur wieder. Bsp. (494), einer asmatischen bzw. kondakarisdten Hypakoe entnommen, weist in der mittelbyzantinisdten Version die Graphie Seisma III mit der Hyporrhoe als dtarakteristisdtes Zeichen auf. Die korrespondierende kondakarisdte Graphie setzt sich aus gestütztem Kreuz, Hyporrhoe und Parakalesma zusammen. In Bsp. (495) tritt unsere Figur in 70
Siehe Pal Mus XIII, 69 ff., 74 ff., 114.
OrlscwsMMd Hyporrltot
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einer sticherarischen Aufzeichnung auf. In der mittelbyzantinischen Version wird sie mit dem Kratemohyporrhoon und der Kombination von Oligon und Diple notiert, die Coislin-Version des Vatopedensis läßt das Kratemokatabasma erblicken. In der Chartres- Version des Codex Lz erscheint die Konjunktur Seisma II. Sieht man von den beiden letzten Graphien ab, so lassen die anderen als gemeinsames notationstechnisches Symbol das gleiche S-ähnliche Zeichen erkennen: den Oriscus bzw. die Hyporrhoe. Ein Unterschied in der Verwendung des Zeichens ist allerdings festzuhalten: Der Oriscus zeigt den letzten Ton der Figur an, die Hyporrhoe hingegen die beiden mittleren Töne. Hier sind noch drei Bemerkungen anzuschließen. 1. Der Oriscus wird in der Version des Codex Montpellier mit der Virga substituiert. 2. In der .äqualistischen" Transkription der Editio Vaticana sind alle Töne als gleic:hlang wiedergegeben. Demgegenüber läßt die rhythmisch differenzierende mittelbyzantinische Version in den Beispielen (494-495) vermuten, daß die beiden lateinischen Puncta vor dem Oriscus schneller ausgeführt wurden. 3. In unseren Beispielen korrespondieren nicht bloß die Oriscus- bzw. HyporrhoeFiguren miteinander, sondern auch die jeweils nac:hfolgenden Figuren ähneln sich. Alle Phrasen kadenzieren auf a.
Pes subbipunctis cum orisco - kondakartsche Ligatur von Sym1a (Hyporrhoe) und Kataba-T romikon Betrachten wir jetzt Beispiel (496). Hier zeigt die St. Gallener Graphie Pes subbipunctis cum orisco die Figur cedcd an. Mit einem „Durchgangston" ausgeschmückt, kehrt diese Figur häufiger in Gesängen des byzantinischen und altslavisc:hen Asmatikon wieder. Die Beispiele (497-498) veranschaulichen, daß sie in mittelbyzantinischen Neumierungen mit einer Hyporrhoe-Gruppe, in den kondakarischen Notierungen mit .kleinen Zeichen" und mit der Ligatur von Syrma (liegendes S) und Kataba-Tromikon aufgezeichnet wird. Die lateinischen, byzantinischen und altslavisc:hen Graphien der Figur weisen mithin ein gemeinsames Zeichen, den Oriscus bzw. die Hyporrhoe (Syrma) auf.
T orculus cum ortsco - Seisma II und III Die lateinisc:he Graphie begegnet vor allem in St. Gallener Neumierungen. Liniierte Aufzeichnungen transkribieren sie in der Regel mit Tongängen wie fgff, gagg, acaa, cdcc, dedd (s. Bsp. 500--501, 504-509, 589). Danach scheint der Oriscus den letzten T orculus-T on zu repetieren. Von sinuskurvenähnlichen oder doppelschlagartigen Figuren kann also angesichts solcher Wendungen nicht die Rede sein. Es darf indessen nicht verschwiegen werden, daß unsere Wendungen auch in „Varianten" überliefert sind, die sinuslcurvenähnliche Züge tragen.
Die lateinischen ZierneuHten und Ihre byzantinischen Parallele11
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Besonders bemerkenswert sind in dieser Hinsidit vor allem die Aufzeidinungen des Codex Montpellier. An Stelle der Graphie Torculus cum orisco weisen sie nämlidi häufig den Torculus resupinus auf. So in unseren Beispielen (500--501). Dabei weidit der Codex mitunter von der Transkription der Editio Vaticana ab. Während sie in (501) die Graphie Torculus cum orisco mit fgff wiedergibt, überträgt MP den Torculus resupinus mit den Tonbudistaben fgef. Nidit minder interessant sind in den Aufzeidinungen von MP häufigere Abweidiungen zwisdien der neumatisdien und alphabetisdien Notation. In (500) zum Beispiel gibt die Editio Vaticana, liniierten diastematisdien Versionen folgend, den St. Gallener Torculus cum orisco mit cdcc wieder. Montpellier notiert den Torculus resupinus und transkribiert ihn mit den Tonbudistaben klkk (= cdcc), nidit mit klik (= cdhc), wie man in Anbetradit des regulären Tonganges des Torculus resupinus (tief-hodi-tief-hodi) und wegen der Analogie zu Bsp. (501) erwartet hätte. Diese widersprüdilidien notationstedinisdien Angaben im Codex Montpellier sind bereits Dom Mocquereau 71 aufgefallen und von ihm als Varianten gedeutet, die durdi schwankende Tonverhältnisse entstanden sind. Der letzte Torculus-Ton (in Bsp. 500 der Ton c) sei dieser Ansidit nadi ein kritisdier Ton. Seine Höhe sei sdiwankend gewesen und entsprädie innerhalb der diatonisdien Skala keiner festen Stufe, weder dem c nodi dem h. Die Sdireiber hätten aber den Ton bald als c, bald als h wahrgenommen und entsprediend notiert. Die Sdiwankungen berühren den Oriscus-T on in keiner Weise. Ähnlidi lautet die Interpretation P. Wagners 72 : "Offe11barsang man hier weder h noch c, so11derneinen zwische11beide11liegenden Ton, der sich aber auf dem Liniensystem 11urdurch die 11ächsteobere oder untere diato11ischeStufe darstellen lie/1.Die Buchstabe1111otieru11g überliefert die gewoh11teSchreibweise,die Neumieru11gHähert sich der Ausführu11g." Es läßt sidi zeigen, daß Mocquereaus und Wagners Deutungen zwar der Wahrheit näher kommen, sie aber nidit erreidien. Ein Blick in die Beispiele (500--503) und (508-511) genügt, um zu erkennen, daß die mitgeteilten lateinisdien, byzantinischen und slavisdien Figuren, sofern sie den Oriscus bzw. die Hyporrhoe aufweisen, einander sehr ähnlidi sind. Der Graphie Torculus cum orisco in (500--501) entsprechen das asmatisdie und kondakarisdie Seisma in (502) und die stidierarisdie mittelbyzantinisdie Gruppe Xeron Klasma mit Hyporrhoe sowie das sematisdie Seisma II in (503); dem Torculus cum orisco in (508-509) entspredien sodann die kondakarischen Hyporrhoe-Gruppen in (510--511). Behält man die Korrespondenz der Figuren im Auge unter Berücksiditigung der besprodienen „Varianten" in der lateinisdien Oberlieferung, so liegt die Bedeutung des Oriscus auf der Hand. Das Zeidien, dessen Äquivalenz mit der Hyporrhoe unsere Dokumentation beweist, zeigt an, daß der letzte Bestandteil des T orculus, nämlich der Gravis, zweistufig zu singen ist. Die Graphie Torculus cum orisco bezeichnet 71
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NMG, 391 f. EGM II, 142-144.
Oriscus""dHyporrhoe
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demnadi in (500-501) und (508-509) die Figuren edeh e, fgfe f bzw. aeag a. Auf diese Weise lassen sidi die sonderbaren Varianten in der Oberlieferung restlos erklären.
DEUTUNG UND TRANSKRIPTION DES 0RISCUS
Unsere Untersuchungen haben den Nachweis erbracht, daß Oriscus und Hyporrhoe nidit nur graphisch gleich und semasiologisdi äquivalent sind, sondern daß sie darüber hinaus in lateinischen, byzantinischen und slavischen Neumierungen zur Bezeichnung gleicher Figuren eingesetzt werden. Von diesem Ergebnis ist es bis zur absdiließenden semasiologischen Bestimmung des Oriscus nur noch ein kleiner Schritt. Der Oriscus nimmt - so können wir folgern - innerhalb des Bestandes lateinisdier Neumen insofern eine Sonderstellung ein, als er, als sui generis Zeichen, zwei Funktionen erfüllt. Einmal indiziert er, wie alle anderen Neumen auch, einen bestimmten Ton ( ,.iHterHe" FuHktioH). Zum anderen fungiert er aber als stenographisdies Symbol. indem er in bestimmter Weise die Angaben der vorangehenden Nota composita präzisiert ( ,.exterHe" FuHktioH). In bestimmten Fällen werden dadurch nur die rhythmisdien Verhältnisse beeinträditigt, in anderen Fällen wieder erstredct sich der Wirkungskreis des Oriscus audi auf das Gebiet der melodischen Indikationen. So ist in (493) die externe Funktion des Oriscus lediglich rhythmischer Natur. Da die sinuskurvenartige Figur hier durch die Intervallzeichen ausgeschrieben ist, erschöpft sidi die Aufgabe des Oriscus in der Indikation, daß die ihm vorangegangenen beiden Puncta sdinell auszuführen sind. Zur Verdeutlichung dessen hat der Schreiber des Codex Einsiedeln den davorstehenden Pes zusätzlich mit einem e (eeleriter) versehen. In (500-501) und (504-509) dagegen besteht die externe Funktion des Oriscus sowohl in rhythmischen wie in melodischen Indikationen. Hier sdireiben nämlich die lntervallzeidien die typische Oriscus-Figur nicht aus. Der Oriscus aber verdeutlicht, daß die Gravis des T orculus zweistufig ist. Daß die beiden Töne schnell vorzutragen sind, vermerkt in (501) übrigens der Schreiber des Cantatoriums zusätzlich, indem er über dem Torculus das celeriter notiert.
WEITERE PosITIONEN
DES 0RISCUS
Nadi den vorstehenden Erörterungen bereitet die Interpretation des Oriscus in weiteren Positionen keine Sdiwierigkeiten mehr. Ouilisma praepuHcte uHd Clivis cum orisco - AHatrichtsma uHd Seisma (11uHd 111)
Die lateinisdien Graphien in (512-513) bezeidmen genau dieselben Figuren wie die asmatisdien und kondakarischen in ( 514). Das Quilisma praepuncte entspricht dem mittelbyzantinischen Anatrichisma (a hc), die Clivis cum orisco dem Seisma III (d ehe). Beispiel (515), einem Sticheron entnommen, weist in der mittelbyzantinischen
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Die lateiHlsdleH ZlerHeuH1eHuHd ihre byzaHtlHlsdleH ParalleleH
Version die Ligatur von Kratemohyporrhoon und Oxeia und in der sematisdten die Konjunktur Seisma II auf. Der Oriscus zeigt in (512-513) an, daß die Gravis der Clivis zweistufig ist. Die Graphie Clivis cum orisco 73 ist also hier mit d ehe zu transkribieren; die beiden Mitteltöne sind sdtnell auszuführen. Zum Zeidten dessen notiert Einsiedeln in (512) über der Clivis das celeriter.
Quilisma praepuHcte cum orisco uHd JaceHs - KorrespoHdiereHde Syrma-Figuren
Die Beispiele (516-517) und (519) veransdtaulidten zunädtst, daß die Konjunktur von Quilisma praepuncte (d. h. Tractulus, Quilisma + Pes) und Oriscus eine typisdte St. Gallener Graphie ist. Die korrespondierende Metzer und bretonisdte Graphie setzt sidt aus dreiteiligem Scandicus und Oriscus zusammen. Die analoge Graphie im Codex Montpellier ist die Virga praetripunctis. Der Codex Montpellier verzidttet also hier auf den Oriscus, zeigt jedodt auf besondere Weise das Quilisma an, und zwar indem er den zweiten der korrespondierenden Tonbudtstaben mit einem quilismatisdten Zusatzzeidten versieht. Die genannten lateinisdten Graphien finden sidt nidtt innerhalb vielgliedriger Neumenfolgen, sondern stehen über einzelnen Silben. Die jeweils nädtste Silbe wird in St. Gallen und in der bretonisdten Sdtrift meist mit der Jacens neumiert, in Metz mit dem fliegenfußähnlidten Punctum, in Montpellier meist mit der Virga recta. Die so auf zwei Silben verteilten lateinisdten Graphien bezeidtnen fünftönige Figuren, die vom Ausgangston stufenweise bis zur Quarte aufsteigen und dann zur Terz zurüdcfallen, zum Beispiel efga g. Die Figuren lassen sidt, wie die Exempel (516 bis 517), (519), (535), (571) und (648) illustrieren, auf mehreren Stufen nadtweisen. Ausgangston kann das e, f, g, h oder das c sein. Der Oriscus zeigt den hödtsten Ton der Figur an. 71
Hier müssen wir anmerken, daß die Graphien Clivis cum orisco und T orculus cum orisco in der Tabula prolixior des Codex Wolfenbüttel mit den Namen Flexa strophlca und Pes fiexus strophlcllS verzeichnet sind. Die beiden Termini kommen auch in der Ottobeurener Tabelle vor; die Graphien scheinen (nach der unzulänglichen Reproduktion bei Lambillotte, AHtlphoHalre, S. 233) mit den kor• respondierenden Wolfenbüttelem identisch :zu sein. Eine Flexa apostrophls findet sich sodann in der Trierer und in der Leipziger Tabelle (Faksimile der enten in unserer Dokumentation; Reproduktion der letzteren bei H. Riemann, StudleH zur Gesd,fd,te der Notensdtrlft, Leipzig 1878, Taf. Xll). Als Graphie verzeichnet auch die Trierer Tabelle die Konjunktur von Clivis und Oriscus. (Die Leipziger Graphie ist in Riemanns Reproduktion nicht genau auszumachen.) Sdleint die Oberlieferung der Tabulae bezüglich der Flexa strophica und des Pes Bexus strophicus mithin einheitlich :zu sein, so müssen wir doch festhalten, daß diese Nomina neumarum den Graphien nicht adäquat sind. Das Adjektiv strophlcus bezeichnet nämlich, genaugenommen, die Apostropha. Die Namen sind daher auf die Konjunkturen Clivis cum apostropha und Torculus cum apostropha :z:u beziehen (s. Tabelle XV). In den Neumierungen der Handschriften entspricht die Flexa strophica meist dem Porrectus (s. Bsp. 4S0, 472, 573, 607, 611), während der Pes Bexus strophicus entweder mit dem Torculus resupinus (Bsp. 450, 555', 617, 622) oder mit dem Torculus cum orisco (Bsp. 507, 638) kor· respondiert. Letztere .Substituierung• bietet eine Erklärung für die nicht ganz korrekten Bezeichnungen der T abulae.
ÜTiscus
101d
Hyporrltoe
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Der korrespondierende sticherarische Tongang fgah a (Bsp. 518) bildet den ersten Bestandteil der neuntönigen Figur Syrma B. Erscheint sie in der mittelbyzantinischen Version mit mehreren Intervallzeichen ausgeschrieben, so wird sie in den ältesten Coislin-Aufzeichnungen stenographisch mit der Konjunktur von Diple und Syrma festgehalten. Die analoge sematische Graphie setzt sich aus der Slo!itija, dem Pelaston und dem Syrma zusammen, die Chartres-Graphie kombiniert das Synagma mit zwei Hyporrhoai, die die beiden das Syrma konstituierenden Wendungen andeuten (vgl. auch die Beispiele 278, 280, 281). Die korrespondierende asmatische Figur efggag in (520) notieren kondakarische Neumierungen gleichfalls mit einer Syrma-Graphie. Ist die Ähnlichkeit der zusammengestellten Graphien augenscheinlich, so muß doch ein Unterschied in der Anwendung der Symbole beachtet werden. Das paläobyzantinische und sematische Syrma fungiert in ( 518) als stenographisches Symbol, das mehrere Töne anzeigt. Dagegen sind die lateinischen Graphien analytisch. Jeder Ton wird mit distinkten Zeichen indiziert. Auch der Oriscus gibt in den vorstehenden Graphien einen Ton an. Es bleibt zu erwähnen, daß unsere Figur, mit dem Ton g beginnend, häufiger im Tractus des achten Modus wiederkehrt. In diesen Fällen gibt sie die Editio Vaticana nicht mit gahc h, sondern meist mit gahc c wieder. Die Quarte wird also repetiert, wodurchder doppelschlagähnlicheCharakter der Wendung verlorengeht. Diese Erscheinung hängt mit der n Verschiebung" des Rezitationstones im achten Modus zusammen. Nadi der Editio Vaticana, die jüngeren Quellen folgt, ist c Rezitationston. Aus dem Studium der adiastematischen Aufzeichnungen geht jedoch mit Sicherheit hervor, daß h der ursprüngliche Rezitationston gewesen istN. Ursprünglich lautete unsere Figur also audi in den Tractus gahc h. Zu vermerken ist noch, daß der Oriscus gelegentlich noch hinter dem T orculus resupinus (s. Bsp. 650) und hinter dem Trigon (s. Bsp. 646 und SG pag. 81/12) begegnet, ferner daß der alleinstehende Oriscus in Neumierungen des Graduale zuweilen mit der Virga repetens substituiert wird (vgl. EN 89/7 mit SG 62/2, desgleichen SG 91/2 mit MP 301/3). Oiuscus uQUESCENs
Maßgeblidi für Wagners 75 und Dechevrens' 76 Oriscus-Interpretationen ist die Beobachtung gewesen, daß die ältesten St. Gallener Denkmäler des 10./11. Jahrhunderts den Oriscus auch dort aufweisen, wo in späteren Aufzeichnungen und in der Editio Vaticana der Cephalicus steht. Aus diesen „Substitutionen" glaubten beide 74
Vgl. Rassegna Gregoriana III (1904). Sp. 2Sl; Pal Mus X, 186; Revue gregorienne XII (1927), Wiesli, a. a. 0., 224.
76-78; 71 71
EGMII, 140. SIMGXIV, 297-299.
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Die lateinischen ZterneuH1enund ihre byzantinisdteH Parallele11
Gelehrte den schwerwiegenden Schluß ziehen zu können, daß der Oriscus eine Neume mit liqueszierender Funktion sei. Diese Folgerung ist indessen irrig. Wagner und Dechevrens dürfte nämlich entgangen sein, daß in fast allen Fällen, die sie heranzogen, mit dem Oriscus Silben neumiert sind, welche die Liqueszierung erfordern. Fast ausschließlich nur in solchen Fällen wird der Oriscus durch den Cephalicus substituiert, sonst nicht. Der Oriscus erfüllt somit eine liqueszierende Funktion nur, wenn die phonetischen Voraussetzungen dazu gegeben sind. Wagners und Dechevrens' Deduktionen sind an der Tücke eines pars-pro-toto-Denkens gescheitert. Zur Veranschaulichung des Oriscus liquescens lassen sich aus dem Graduale- außer den von Dechevrens bereits kommentierten Exempeln - mehrere Fälle heranziehen. Die in (521-524) zusammengesteJlten illustrieren, daß die Editio Vaticana den Cephalicus dort andeutet, wo die St. Gallener Quellen sowie der Codex Laon den Oriscus aufweisen. In allen Fällen ist die Liqueszierung durch phonetische Gegebenheiten bedingt. Als besonders lehrreich sei Bsp. (521) ausführlicher besprochen. Die Editio Vaticana, deren Cephalicus hier den Terz fall fd wiedergibt, folgt offenbar dem Codex Montpellier, der, an der korrespondierenden Stelle, eine Clivis, die Tonbuchstaben fd und über ihnen das besondere Zeichen der Liqueszenz, den kleinen, nach unten geöffneten Bogen, notiert. St. Gallen 339 pag. 65/t 1 und Bamberg lit. 6 fol. 35v/t6 bezeichnen den Terzfall mit dem bloßen Oriscus; Einsiedeln fügt links neben den Oriscus ein st (statim) und rechts unten neben ihn ein i (iusum) hinzu; Laon schreibt eine Sonderform des liegenden Oriscus und rechts daneben ein h (humiliter). Aus dem Vergleich mehrerer Fälle ergibt sich, daß die St. Gallener Quellen und der Codex Laon durch den Zusatz der Buchstaben i bzw. h den Oriscus als liquescens, das heißt zweitönig, präzisieren. Die Buchstaben i bzw. h beziehen sich offenbar auf den zweiten, tieferen Oriscus-T on. Diese zusätzliche Indikation ist aber nicht obligatorisch, sondern fakultativ. Ziehen wir jetzt die Beispiele (522-524) und (551) in unsere Betrachtung, so veranschaulichen sie, daß der Cephalicus nicht bloß eintn Sekundfall, sondern audi einen Terz- und sogar einen Quartfall bezeichnet. Dieselbe Mehrdeutigkeit ist offenbar auch dem Oriscus liquescens eigen 77 • Einige Bemerkungen noch zu den einzelnen Graphien: In den St. Gallener Neumierungen geht dem Oriscus liquescens die Virga, die Clivis oder der Torculus voran. Montpellier schreibt die Clivis oder den Torculus und den Oriscus, dazu über den Tonbuchstaben die Spezialzeichen für die Liqueszenz (Cephalicus) und für den Oriscus, dem kein eigener Tonbuchstabe zugeordnet ist (darüber s. weiter unten). Laon verfügt für den Oriscus liquescens über ein eigenes Zeichen, das eine Abwandlung der regulären Oriscus-Form darstellt (s. Bsp. 521 und 524). Dieses Spezialzeichen erscheint in (522), (523) und (551) mit der Clivis und in (524) mit dem eckigen TorWagners Ansidtt, der Oriscus bezeidtne, im Gegensatz zum Cephalicus, nur den Sekundfall, erweist sidt somit als unzutreffend. •7
0riscus 1U1dHyporrJcoe
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culus ligiert. Beadttenswert ist bei der Metzer Ligatur von Clivis und Oriscus liquescens die Krümmung des Aufstridts der Clivis 78 • Ein eigenes Zeidten für den liqueszierenden Oriscus verwendet gleidtfalls das Graduale von Saint-Yrieix. Es tritt häufiger als zweiter Bestandteil der Gutturalis (.Franculus") auf 711•
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Mit der Behandlung des Oriscus liquescens sind unsere etymologischen, paläographisdten und semasiologischen Untersuchungen über den Oriscus und die Hyporrhoe am Ende angelangt. Es obliegt noch, etliche Schlußfolgerungen darzulegen, die sich aus den gewonnenen Einsichten konsequent ergeben. 1. Es ist zu konstatieren, daß keine der zahlreichen bisher vorgeschlagenen Inter-
pretationen des Oriscus die wirkliche Bedeutung des Zeichens zu erfassen vermocht hat. Der Oriscus ist weder eine Neume mit liqueszierender Funktion noch ein „zierlidter Nachsdilag", eine „winzige gewundene Verzierung", eine „leichte Durchgangsnote"', weder ein Triller noch ein Mordent. Der Oriscus darf vielmehr als eine Zierneume sui generis apostrophiert werden. Die dtarakteristische Eigenschaft des Zeichens besteht in seiner „externen" stenographischen Funktion, in der Fähigkeit, die Angaben der vorangehenden Neuma composita in bestimmter Weise rhythmisch und melodisch zu präzisieren. Eine Zierneume ist der Oriscus deshalb, weil er in bestimmten Fällen das Melos durch ornamentale Töne bereichert. Liqueszierend ist der Oriscus nicht „von Haus aus", sondern nur, wenn die nötigen phonetischen Voraussetzungen gegeben sind. Insofern unterscheidet er sich von den anderen lateinischen Zeichen nicht. Sieht man vom Punctum und vom Tractulus ab, so ist jede lateinische Neume der Liqueszierung fähig. 2. Oriscus und Hyporrhoe (Syrma) erweisen sich als graphisch gleiche und semasio-
logisdt äquivalente Zeichen. In ihrer Anwendung besteht allerdings ein Unterschied: Während die Hyporrhoe stets zweitönig und das Syrma mehrtönig ist, kann der Oriscus von Fall zu Fall eintönig oder zweitönig sein. Sind die Töne der Figur, deren Ende der Oriscus markiert, durch Einzelzeichen ausgeschrieben, so ist der Oriscus eintönig. Ist die Figur nicht restlos ausgeschrieben, so indiziert der Oriscus auch die eigens nicht notierten Töne. 3. Die paläobyzantinischen und altslavischen Graphien mit der Hyporrhoe und dem
Syrma gehören durchweg einem älteren semeiographisdien Entwicklungsstadium als die korrespondierenden lateinischen Oriscus-Graphien an. Die Konjunkturen mit der Hyporrhoe und dem Syrma sind nämlich stenographisch, die Neumenfolgen mit dem Im Aper~u sur la HotatloH du 1t1anuscrlt 239 de LaoH (Pa! Mus X, 179 f.) fehlen sowohl der liques• zierende Oriscus als auch dessen Ligaturen mit der Oivis und mit dem Torculus. lt Siehe Pal Mus XIII, S. 158 und S. 180. dazu pag. 87/2, 147/7-8, 164/9-11, 169/3.
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Die lattlHisdteHZierNeumtHuHdiltre byzaNtlHlsdteHParalleleH
Oriscus dagegen teils stenographisch und teils analytisch. Die bestehenden Korrespondenzen gestatten aber den Schluß, daß auch der Oriscus in den ältesten Stadien lateinischer Semeiographie als ein stenographisches Symbol eingesetzt wurde. Es ist also wahrscheinlich, daß ursprünglich ganze Figuren mit dem bloßen Oriscus-Zeichen stenographisch aufgezeichnet wurden und daß man später dazu überging, die einzelnen Töne mit distinkten Zeichen zu fixieren. 4. Unsere Deutung des Oriscus beleuchtet einige sonderbare paläographische
Erscheinungen, die sich bisher überzeugend bzw. restlos nicht erklären ließen. Merkwürdig ist zum Beispiel, daß der angeschlossene Oriscus in den St. Gallener Denkmälern äußerst selten mit rhythmischen litterae significativae überschrieben wird. Pater Smits van Waesberghe 80 , der zuerst darauf hingewiesen hat, meint, der Oriscus werde, wie andere Neumen auch, deshalb mit der Littera c nicht versehen, weil er meist ungedehnt gesungen wurde. Die Ergebnisse unserer Untersuchungen bestätigen die Richtigkeit dieser Aussage und bieten zugleich eine einleuchtende Erklärung der Erscheinung: Der angeschlossene Oriscus erhält deshalb keine rhythmischen Zusatzbuchstaben, weil er eine stenographische Funktion erfüllt und eine flüssige Bewegung andeutet. Ein zusätzliches celeriter wäre ein Pleonasmus, ein te11e aber ein Widerspruch 81 • Sodann ist der Notierung des Oriscus im Codex Montpellier zu gedenken. Der Codex weist dem Oriscus bekanntlich keinen entsprechenden Tonbuchstaben zu, sondern gibt ihn in der alphabetischen Notation mit einem nach oben geöffneten Bogen wieder, der in der Mitte über zwei Buchstaben geschrieben wird. Die Paleographie musicale82 deutet diesen Bogen als Zeichen der Tonwiederholung. Demnach stünde er anstelle des vorangehenden Buchstabens, der somit zweimal gelesen werden müsse. Diese Erklärung befriedigt indessen nicht. Ihre Oberzeugungskraft schwindet, sobald man sich der Tatsache bewußt wird, daß der Schreiber des Codex bei der Bivirga, Trivirga und beim Trigon, bei Neumen also, welche die Tonwiederholung anzeigen, die entsprechenden Tonbuchstaben jeweils zwei- oder dreimal notiert bzw. die Wiederholung durch Punkte markiert (z.B. k .. = kkk). Warum sollte er im Falle des Oriscus nicht auf die gleiche Weise verfahren? Warum mußte zur Verdeutlichung des Oriscus ein eigenes Zeichen eingeführt werden? Der Grund liegt offenbar im Wesen des Oriscus, der sich als stenographisches Symbol und Ziemeume sui generis nicht umschreiben ließ. 80 MuzlekgesdtledeHlsder middeleeuweH,Tweede Deel, Tilburg 1939-1942, S. 667. Von den drei Fällen, die Smits van Waesberghe hier als Amnabmen anführt, beziehen sieb in zwei die rhythmischen Litterae vermutlieb niebt auf den Oriscus, sondern auf die vorangehende Clivis (vgl. EN pag. 120/5 mit SG pag. 72/7, desgleichen SG pag. 54/1 mit EN pag. 353/1). Smits van Waesberghes dritte Angabe (EN pag. 390/2) ist offenbar dureb einen Drudcfehler entstellt. Auf pag. 390 steht in der Handsebrift kein Oriscus. 81 Bereits in diesem Zusammenhang sei festgehalten, daß der Oriscus als Element zusammengesetzter Neumen mit rhytbmiseben Litterae wohl ausgestattet wird. Diese Fälle liegen aber anders und lassen sieb auf andere Weise erklären (s. weiter unten). 81 Note sur l'aHtlpltoHalretoHale dlgrapte Codex H. 159 de MoHtpel/ler, Band VII, 18.
OrisCKS NNd Hyporrlcoe
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5. Gerade wegen dieser seiner Eigensdiaften konnte aber der Oriscus audi in das
System der liniierten Notierungsweise nidit aufgenommen werden. Als stenographisdies Sigel und eigenartiges Verzierungszeidien war er mit dem Liniensystem, das eben um der exakten, analytisdien Aufzeidinung willen erfunden wurde, unvereinbar. Wäre der Oriscus bloß ein stenographisdies Sema, so hätte man ihn vielleidit mit Einzelnoten „aussdireiben" können. Dem widerstrebt jedodi offenbar die Natur des Zeidiens als Ziemeume. Das Oriscus-Omament muß mit den damaligen notationstechnischen Mitteln nidit zu transkribieren gewesen sein, ohne verfälsdit zu werden. Diese Folgerung bestätigt ein analoger Fall aus der mittelbyzantinisdien Notation. Unsere Untersudiungen zeigten, daß sie im Ansdiluß an die Coislin-Notation die alten stenographisdien Symbole analytisdi aufgelöst hat - alle bis auf eines: die Hyporrhoe. Sie ist das einzige stenographisdie Element der mittelbyzantinisdien Notation. Dieser Parallelfall erlaubt einen weiteren Rücksdiluß: Die paläobyzantinisdie zweitönige Hyporrhoe konnte im mittelbyzantinisdien System erhalten bleiben, weil dieses an die liniierte Aufzeidinungsweise nidit gebunden war. Im Westen aber mußte der Oriscus mit dem Aufkommen des Liniensystems aufgegeben werden. Man hat ihn umgeschrieben, so gut man es vermodite. Seiner „internen" Funktion ist man geredit geworden, indem man ihn als gewöhnlidie Note wiedergab. Seiner „externen", stenographisdien Funktion konnte dagegen nidit Redinung getragen werden. Die Ziertöne, die der Oriscus in bestimmten Fällen angab, konnten offenbar nidit mehr fixiert werden. 6. Dom Ferretti 83 hat, soweit wir sehen, als erster die Hypothese aufgestellt, daß
das Quilisma-Zeidien möglidierweise vom Oriscus abgeleitet sei und daß beide Neumen in der Praxis, zumindest in bestimmten Sdiulen, auf ähnlidie Weise ausgeführt worden sein dürften. Die Veranlassung zu dieser Hypothese gaben drei Beobaditungen: Erstens, daß die Metzer und bretonisdie Notation sidi des Oriscus-Zeidiens bedienen, um das Quilisma anzuzeigen; zweitens, daß in der Notation von Nonantola der Oriscus einem griediisdien Omega oder zwei miteinander verbundenen Zacken oder Sdilingen ähnelt (somit dem Quilisma oder Pes quassus anderer Notationen); drittens, daß im Codex Rom, Angelica 123, das Quilisma-Sema dem Oriscus-Zeidien ähnlidi sieht. In der Zwisdienzeit avancierte Ferrettis Hypothese in den Rang einer vielfadi akzeptierten These 84 • Sie darf jedodi nadi den vorliegenden Ergebnissen als widerlegt gelten. Das Quilisma und der Oriscus sind ihrem Ursprung nadi vollkommen versdiiedene Zeidien. Das beweisen ihre byzantinisdien Äquivalente: das Anatridiisma und die Hyporrhoe. Damit soll aber nidit bestritten werden, daß in semasiologisdier Hinsidit zwisdien dem Quilisma und dem Oriscus mandie Berührungspunkte bestehen. Will man die Frage zu klären versudien, warum die bretonisdie Notation das Oriscusn Pal Mus XIII, 89/ Anm. 3. M
Vgl. hierzu Wiesli, a. a. 0., 299/Anm. und Jammers, TafelH zur NeumeHsdtrift, S. 40.
98
Die latelHlsdceHZlerHeMHCtHuHd Ihre byu1HtlHISdctHParalleleH
Sema audt zur Bezeidtnung des Quilisma einsetzt, so wird man von diesen Berührungspunkten ausgehen müssen 86 • 7. Erkennt man der These, daß die byzantinisdte Neumensdtrift sidt aus den Zeidten der elcphonetisdten Notation entwidcelt hat, einen hohen Wahrsdteinlidtkeitswert zu, so muß man folgeridttig die elcphonetisdte Syrmatike semeiographisdt für das Mutterzeidten der Hyporrhoe, des Syrma und des Oriscus erklären. 8. Der Ursprung des modernen Doppelsdtlagsigels (Gruppetto) liegt bisher im
Dunkel. Woher das Zeidten stammt, seit wann es sidt in Aufzeidtnungen von Instrumentalmusik des Barode eingebürgert hat und wer es eingeführt hat, sind bislang ungeklärte Fragen 88 • Bedenken wir jedodt, daß das Sigel semeiographisdt dem byzantinisdten Syrma und dem Oriscus gleidt ist und semasiologisdt genau die gleiche Bedeutung hat wie das Syrma, das Choreuma und der Oriscus als Bestandteil des Pes quassus und Salicus, so sind wir doch berechtigt, einen Zusammenhang zwischen dem Oriscus-Zeidten und dem Gruppetto-Sigel anzunehmen.
4. Pes quassusund SeismaI Pes quassus dictus, qula voce treHCula et 1Hultu1HIHOta forHCatur. QuassuHCeHiHC violeHtus HCotusest.
Walter Odington De speculatioHe 1Husicae,pars V
ForHteH
Pes quassus:
SeismaI:
c./ ~-
(St. Gallen)
(ChN, CoN, SeN)
~
✓
(Metz)
\,l
'7/
(Bretagne)
(KonN)
DER PES QUASSUS IN DER BISHERIGEN FORSCHUNG
Von allen den Zierneumen ist der Pes quassus bisher am wenigsten untersudtt. Während über das Quilisma, den Oriscus, den Salicus, die Gutturalis und den Pressus eingehendere Studien vorliegen, wurde der Pes quassus allenfalls im Zusammenhang mit dem Podatus oder dem Salicus behandelt. Die prominentesten Forscher teilen die 81 Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, sei audi an dieser Stelle vermerkt, daß nur in der bretonisdien Notation das gleidie Zeidien als Oriscus- und Quilisma-Symbol Verwendung findet. Die differenzierende Metzer Notation des Codex Laon 239 verfügt dagegen über mehrere OriscusGraphien. Die zur Bezeidmung des Quilisma dienende Ligatur von Oriscus und Virga läßt sidi mit den eigentlidien Oriscus-Graphien nidit verwediseln. 8fl Vgl. dazu J. Wolf, HaHdbudc der Notatl0Hsku11de II, 147-157, 26~262, 279-291; G. von Dadelsen, Art. Verzleru11ge11in MGG XIII, besonders Sp. 1529ff.
Pts'fNOSSNS IUfdSeisHCa 1
99
Ansicht, daß die Bedeutung des Pes quassus völlig ungeklärt sei. Was sich an gesichertem Wissen über das Zeichen zusammentragen läßt, möge hier folgen. 1. Dom A. Menager 87 erbrachte als erster den Nachweis, daß die St. Gallener Form des Pes quassus eine Ligatur von Oriscus und Virga darstellt. Mit der Konjunktur dieser beiden Neumen wird nämlich der Pes quassus in den Codices Laon 239 und Chartres 47 (Metzer und bretonische Notation) bezeichnet. 2. In den ältesten Quellen wird der Pes quassus mitunter mit dem eddgen Podatus oder dem zweitönigen Salicus substituiert. Die jüngeren diastematischen Aufzeichnungen geben den Quassus mit dem Podatus wieder; dabei wird häufig der erste Ton als Doppelnote auf gleicher Tonhöhe dargestellt. 3. Dom Menager hat wohl als erster beobachtet, daß St. Gallener Denkmäler den Pes quassus häufiger mit der Littera f (nach Notkers Auslegung: ut cum frago,e vel frendore ferlatur efflagitat) ausstatten. Sodann stellte Smits van Waesberghe 88 fest, daß der Pes quassus in St. Gallen außer mit dem f mit der Littera p (pressionemvel prensioHempredicat)versehen wird. Die beiden Litterae kommen außer beim Pes quassus nur noch beim Salicus und Pressus vor, bei „Ziemeumen" also, die allgemein als vom Oriscus abgeleitet angesehen werden. Im Falle des Salicus beziehen sich die Zusatzbuchstaben f, p oder g (ut iH gutture garruletur gradatim genuine gratulatur) auf die Mittelnote des Zeichens, die als Oriscus gedeutet wird. Pater Smits van Waesberghe vertritt die Meinung, daß die Sigel f, p und g als verwandte Vortragsanweisungen zu verstehen sind. Cum fragore bedeute etwa „mit Krachen", In gutture „in der Kehle", cum pressione, pressim „mit Nachdruck". Die Sigel besagen demnach, daß der „Zierton" des Pes quassus oder Salicus akzentuiert werden müsse. 4. Dom Mocquereau 811vermerkte, daß Pedes quassi, die in den Aufzeichnungen der Alleluia-Jubili auftreten, bei der Adaptierung der Prosen durch Aufteilung ihrer Elemente häufiger jeweils drei distinkten Silben zugewiesen werden. s. Im musiktheoretischen Schrifttum findet sich eine einzige Erläuterung des Pes quassus, die von Walter Odington 90 : Pes quassusdictus, quia voce tremula et multum Hfotaformatu,. Quassum enim violentus motus est. (,,Er wird Pes quassus genannt, weil er mit bebender und sehr bewegter Stimme gesungen wird. Das Schütteln ist nämlich eine heftige Bewegung" 111.) Wenden wir uns jetzt den bisher über die Bedeutung des Pes quassus ausgesprochenen Hypothesen zu. Sie gehen weit auseinander. Pal Mus XI. 69 f. MdM II. SH-546. 91 NMG.112. '° CoussS I, l14a. 11 Im Neumenverzeidmis des Walter Odington (CoussS I, 213) wird der Pes qunssus irrig mit dem Porrectus-Zeidien veransdiaulidit. Wir müssen indessen vermerken, daß dieses Verzeidinis, von diesem Fehler abgesehen, korrekte .Illustrationen• der Neumen bietet. Audi ist hervorzuheben, daß die auf das Verzeidinis folgenden Erläuterungen Odingtons wesentlidi zur semasiologisdien Aufhellung etlicher Neumen beitragen können (s. weiter unten die Ausführungen über die Gutturalis und die Notae semivocales). 97
18
100
Die lateinisdten Zterne11H1eH und ihre byzantinisdten ParaileleH
P. Wagner 91 erklärt den Pes quassus als „eiHezweitiJHigesteigeHtJeFigur, dereH erster ToH zweimal aHgeschlageH wird oder aber portameHtoartigzum zweiteH lilHgereHToHe Ubergleitet". A. Dedievrens 113meint in den St. Gallener Neumierungen zwei Formen des Pes quassus (er nennt ihn Pes volubilis) untersdieiden zu müssen: den Pes volubilis commuHund den Pes volubilis loHg.Die erste Form haben wir in SG, EN und BG nidit nadiweisen können. An. ihrer Statt sdireiben die Quellen den gewöhnlidien edcigen Podatus. Dedievrens' Pes volubilis commuH sdieint nidits anderes als eine graphisdie Variante des Pes quadratus zu sein. Dedievrens' Pes volubilis loHg ist der vorstehende St. Gallener Pes quassus. Er wird als fünftönige Figur transkribiert, die aus zwei Haupttönen und einem diese verbindenden dreitönigen Ornament besteht. zum Beispiel g afg a. Den ersten Hauptton überträgt Dedievrens mit einer halben Note, den zweiten mit einer Viertelnote. 0. Fleisdier vermutet in dem Pes quassus ein „hochtöHigsteigeHdes"Zeidien, .,uHdzwar macht maHauf dem HochtoHeiHeArt Triller""· Die Transkriptionsformel, die Fleisdier vorsdilägt, lautet ahah und ist insofern konsequent, als er den Oriscus mordentartig etwa mit aha überträgt. Dom Mocquereau meint, die erste Note des Pes quassus sei länger als die des Pes quadratus. L. Agustoni 95 sdiließlidi erläutert die Ausführungsweise des Pes quassus so: .,Die erste Note wird mit leichtem NachdruckhervorgehobeH,zieht aber die NeumeHartikulatioHHidct aH sich, soHderHstrebt zur zweiteH Note hiH, der auf GruHdder Struktur der Melodie die gröf]ereBedeutuHgzukomJHt".
DIE BEDEUTUNG DES PES QUASSUS
Eine systematisdie semasiologisdie Untersudiung des Pes quassus setzt naturgemäß die Erfassung aller Positionen des Zeichens voraus. Als erstes halten wir fest, daß der Pes quassus - wie der Oriscus - sowohl innerhalb melismatischer Neumenfolgen als audi alleinstehend über einzelnen Silben begegnet. Somit ist der „angeschlossene" von dem alleinstehenden Pes quassus zu unterscheiden. In Tabelle XVII haben wir sämtlidie Positionen des angeschlossenen Pes quassus mit Nachweisen der Fälle übersichtlich zusammengestellt. Aus der Tabelle wird ersichtlidi, daß der angeschlossene Pes quassus in acht Positionen vorkommt, nämlidi hinter dem Climacus, dem Pes subbipunctis, der Clivis, dem Torculus, dem Quilisma praepuncte, dem Trigon, der Distropha und dem Podatus 118• Dabei fällt auf, daß es sidi bei diesen Zeidien - bis auf die beiden letztgenannten - um Neumae compositae handelt, auf die in der Regel auch der angeschlossenne Oriscus folgt. Ein Vergleidi der korrespondierenden Konjunkturen mit dem Oriscus und dem Pes quassus führt zu dem interessanten Ergebnis, daß sie erstaunlidi ähnliche Figuren bezeichnen. Die Pes-quas11 11
EGMII, 40. SIMGXIV, 311-313.
" Die germanlsdten Neumen, S. 64. Unserem Zeidten verleiht Fleisc:herden Namen Pes semivocalis. Unter dem Terminus Pes quassus versteht er eine Sonderform der Gutturalis (s. ebenda, S. 66). • Gregorlanlsdter Choral, Freiburg 1963, S. 145 f. N Eine weitere Position des Pes quassus ist die hinter der Virga. Die Konjunktur von Virga und Pes quassus ist aber als Salicus zu kluslfizieren und soll hier noc:haußer Betrac:ht bleiben (s. weiter unten).
Pts qx4"NS NHdSeisJHaI
101
sus-Figuren erweisen sich als Oriscus-Figuren, die „aparte post" um einen steigenden Ton erweitert sind. Die Virga, das zweite Glied des Pes quassus, dient der Bezeichnung dieses zusätzlichen Tones. Seinetwegen wird der Pes quassus anstatt des Oriscus geschrieben (s. die in Tabelle XVII genannten Beispiele). Für den angeschlossenen Pes quassus gelten somit - mutatis mutandis - die semasiologischen Regeln, die wir für den angeschlossenen Oriscus haben aufstellen können. Von dem angesdilossenen Pes quassus unterscheidet sich semasiologisch der allelHsteheHdePes quassus nicht, sofern er auf eine Silbe folgt, deren letzte Neume eine der erwähnten Notae compositae ist. Das läßt sich anhand der Beispiele (526-527) verdeutlidien. In (526) steht die Graphie Climacus cum pede quasso, in (527) erscheinen ein Climacus und ein Pes quassus. Beide Graphien bezeidinen genau den gleidien Tongang: agf ga. Der Unterschied besteht lediglich darin, daß erstere Graphie einer Silbe zugewiesen ist, während die zweite auf zwei Silben verteilt ist. Da in beiden Fällen die sinuskurvenartige Figur mit mehreren Zeichen .ausgeschrieben" ist, zeigt der Oriscus (der erste Bestandteil des Pes quassus) einen einzigen Ton an. Die ,,externe• Funktion des Oriscus ersdiöpft sich hier also in rhythmischen Indikationen. Besondere Beachtung verdient in (527) übrigens die Graphie des St. Gallener Cantatoriums. Während im Bamberger Codex auf den Climacus der edcige Podatus und im Einsiedelner Codex der Pes quassus folgen, notiert SG den edcigen Podatus und fügt darüber den Oriscus hinzu. Das S-artige Sema wird also hier als stenographisches Zusatzzeidien eingesetzt, um den Pes quadratus als Pes quassus näher zu bestimmen. Läßt sidi somit konstatieren, daß zwischen dem angeschlossenen und dem alleinstehenden Pes quassus in den aufgezeigten Fällen kein semasiologischer Unterschied besteht, so müssen wir doch hinzufügen, daß der alleinstehende Pes quassus in bestimmten Positionen, und zwar vornehmlich am Anfang eines Kolons, sich durch einen Status sui generis ausweist. An mehreren Beobachtungen wird erkennbar, daß das Zeidien in diesen Stellungen eine besondere Bedeutung besitzt. 1. Zu vermerken ist zunächst, daß der Pes quassus in St. Gallener Neumierungen weitaus häufiger begegnet als in Metzer, bretonisdien oder aquitanischen Aufzeichnungen. Diese setzen des öfteren an Stelle des Pes quassus den einfachen Podatus oder die Virga praepunctis ein (s. Tabelle XXI unter B). Von Belang ist nun, daß die genannten Aufzeichnungen über je zwei verschiedene Pes-quassus-Graphien verfügen: Den .gewöhnlidien• Pes quassus geben sie mit den eingangs mitgeteilten zweigliedrigen Konjunkturen an: den „außergewöhnlichen" Pes quassus (mit diesem Terminus meinen wir den Pes quassus am Anfang eines Kolons und in bestimmten anderen Fällen) fixieren sie hingegen mit der dreigliedrigen Konjunktur von Punctum bzw. Tractulus, Oriscus und Virga. Der „außergewöhnliche" Pes quassus wird also in Metzer, bretonischen und aquitanischen Aufzeichnungen als zweistufiger Salicus notiert (s. Bsp. 541, 543, 544, 633). 2. In den Neumierungen des Codex Montpellier treten an Stelle des .gewöhnlichen• Pes quassus in der Regel der edcige Podatus oder die Virga praepunctis auf (s. Bsp. 456, 536, 654-656). Auch der „außergewöhnliche• Pes quassus wird hier mit demedcigen Podatus wiedergegeben. Die alphabetisdien Notierungen des Codex zeidi-
102
Dte lattlntsdctn ZitrntNHCtn und ihre byzanttntsdcen Parallelen
nen indessen diesen als Pes quassus dadurdt aus, daß sie neben den ihm zugeordneten Tonbudtstaben nodt einen Oriscus-Bogen aufweisen (s. Bsp. 543, 544). 3. Liniierte Aufzeidtnungen und die Editio Vaticana geben den .gewöhnlichen" Pes quassus mit zwei Noten, den .außergewöhnlidten" Pes quassus hingegen mit drei Noten wieder, von denen die beiden ersten im Einklang stehen.
VERWANDTSCHAFT DES PES QUASSUS MIT DEM SEISMA
1
Für die weitere semasiologisdte Untersudtung des Pes quassus am Anfang eines Kolons erweist sidt als widttig die Beobadttung, daß das Zeidten in dieser Position meist in Gesängen des dritten Modus ( = Deuteros) vorkommt und stereotype, häufiger auf h kadenzierende melodisdte Phrasen einleitet. Nidtt ohne Oberrasdtung stellen wir fest, daß sehr ähnlidte, ja mitunter genau die gleidten Phrasen audt zahlreidte byzantinisdte und slavisdte Gesänge des Deuteros eröffnen (s. Bsp. 541-546). Diastematisdte Aufzeidtnungen bezeugen, daß die Initien der korrespondierenden Phrasen gleidt sind: efdg. Betradtten wir zunädtst die Symbole, mit denen die lnitialfigur ef fixiert wird. Die lateinisdten Neumierungen bezeidtnen sie entweder mit dem Pes quassus oder mit dem zweistufigen Salicus. Die paläobyzantinisdten und sematisdten stidterarisdten und heirmologisdten Versionen geben sie mit der bloßen Bareia oder mit der Kombination von Bareia und Dyo Kentemata (Palka vzdemutaja) wieder. Die kondakarisdten Aufzeidtnungen weisen die dreigliedrige Graphie Palka, Zapjataja und spiegelbildlidte Hyporrhoe auf. Ein Vergleidt mit der mittelbyzantinisdten Version lehrt jedodt, daß zur Bezeidtnung des asmatisdten lnitiums nur zwei Elemente dienen: die Palka und die spiegelbildlidte Hyporrhoe. Die Zapjataja indiziert den nadtfolgenden Ton d. Auf den ersten Blidc hat es den Ansdtein, als s~i der identische Tongang das einzige Moment, das die Verwandtsdtaft zwisdten den zusammengestellten lateinisdten, byzantinisdten und slavischen Initien stiftet. Eine genauere Prüfung dedct jedodt zwei weitere Berührungspunkte auf. 1. Im Pariser Traktat wird die Kombination von Bareia und Dyo Kentemata, somit unsere Figur ef, wie dargelegt, SeisHtagenannt. Der Ausdrudc bedeutet Sdtütteln, Erschüttern. Die gleidte Bedeutung besitzt aber audt das Wort quassus (von quatio, sdtütteln, ersdtüttem). Pes quassus ist der „geschüttelte• Pes. Unsere korrespondierenden byzantinisdten und lateinisdten Figuren wurden also mit synonymen Ausdrüdcen benannt. 2. Zwischen den Symbolen Pes quassus bzw. Salicus und Bareia mit Dyo Kentemata bestehen semeiographisch keine Gemeinsamkeiten, es sei denn, man mödtte das Punctum des Salicus mit den Dyo Kentemata in Beziehung setzen. Der Pes quassus und die kondakarisdte Seisma-Graphie sind dagegen insofern verwandt, als sie ein gemeinsames Element aufweisen, nämlidt den Oriscus bzw. die spiegelbildlidte Hyporrhoe. Bedeutsam für unsere Untersudtung ist nodt d1e Konstatierung, daß die SeismaFigur in der mittelbyzantinisdten Version der asmatisdten Paradigmata in zwei For-
S4llcus""d Clto,e1C1Ha
103
menentgegentritt: in (545)
als schlichter Sekundschritt ef;in (546) hingegen in melis-
matischer Aussdimüdcung, nämlich e fgfef. Wird erstere Form mit der diastematisch präzisierten Kombination von Bareia und Dyo Kentemata angezeigt, so bedarf es zur Bezeidmung der ausgesdimüdcten Figur mehrerer lntervallzeichen sowie der Heranziehung der Hyporrhoe. Eine komparative Analyse der mittelbyzantinischen asmatischen und der kondakarischen Graphien läßt deutlich erkennen, daß letztere, die ebenfalls die Hyporrhoe enthalten, nicht die schlichte, sondern die ausgesdimüdcte Fassung der Seisma-Figur bezeidinen. In diesem Zusammenhang müssen wir nochmals darauf hinweisen, daß die Kombination von Bareia und Dyo Kentemata, für die der Pariser Traktat den Namen Seisma verbürgt, in der Neumentabelle des Codex Leningrad 497 unter dem Terminus SyrJHa angeführt wird (s. Bsp. 384). Erwedct die Doppelbezeichnung den Verdacht, einer terminologischen Verwirrung entsprungen zu sein, so belehren doch die zusammengetragenen Materialien, daß sie zu Recht besteht: Mit dem Ausdrudc Syrma hat man offenbar ursprünglich die ausgesdtmüdcte Fassung der Figur Seisma I benannt. Aus den dargelegten Prämissen lassen sich diese Sdtlußfolgerungen ziehen: Der St. Gallener Pes quassus, der Metzer, bretonisdte und aquitanische zweistufige Salicusund der edcige Podatus mit Oriscus-Bogen im Codex Montpellier sind, sofern sie am Anfang eines Kolons stehen, mit der kondakarisdten Konjunktur von Palka (Bareia)und Hyporrhoe graphisdt verwandt und semasiologisdt äquivalent. Bezeichnet letztere Graphie die ausgesdtmüdcte Seisma-Figur e fgfef, so beredttigen die bestehenden Zusammenhänge, auch die lateinisdten Graphien mit diesem Tongang zu transkribieren. Der Oriscus des Pes quassus und des Salicus in der genannten Position zeigt also dasselbe mehrtönige Ornament wie die Hyporrhoe der kondakarischen Graphie an. Alle Anzeichen spredten dafür, daß der griedtisdte figurtedtnische Terminus SeisJHa inslateinisdte mit dem Ausdrudc Quassus übersetzt wurde. Pes quassus ist das lateinischeKorrelat zum byzantinischen Seisma I.
5. Salicusund Choreuma
Graphien
+ Bogen + Virga) :'1/ oder Virga + Oriscus + Virga)
SALJcus I (= Punctum oder Tractulus oder Virga
_..,/
SAucusII(=
:'1'
Punctum oder Tractulus
CHollEUMA (= Diple
DJE Swcus-GRAPHIEN
+
Hyporrhoe
[+ Oxeia])
//'-,
...( 11
,#J
DER HANDSCHRIFTEN
Zu Beginn einer systematisdten Untersuchung des Salicus muß naturgemäß die Erfassungsämtlicher, in den Handschriften nachweisbaren Graphien stehen. Unsere
104
Dte latelHtsdteHZlerHeUHWf uHdtltre byzaHtiHtsdteHParallelen
Zusammenstellung in Tabelle XVIII erhebt einen Anspruch auf Vollständigkeit. (Die vorstehende Obersicht stellt einen Auszug aus der Tabelle dar.) Aus der Zusammenstellung wird zunächst ersichtlich, daß der Salicus sich regulär aus drei Elementen zusammensetzt. ,,Charakteristisches" Zeichen der mitgeteilten Konjunkturen ist das mittlere Element, die sogenannte Salicus-Note. Sie verleiht den Graphien das eigentümliche Gepräge und dient als Unterscheidungsmerkmal für die Abgrenzung des Salicus gegen den Scandicus. Charakteristische Salicus-Note ist in den meisten Graphien der Oriscus. Dieser Sachverhalt wurde bereits von Dom Menager 87 erahnt, jedoch zuerst von Jeannin und Ferretti festgestellt. Ein Blidc auf die in unserer Obersicht unter der Bezeichnung Salicus II erfaßten Konjunkturen genügt, um den Oriscus als ihnen allen gemeinsames mittleres Glied zu erkennen, obwohl das Zeichen in verschiedenen Formen und Stellungen auftritt. Anders verhält es sich mit dem mittleren Sema der oben unter Salicus I verzeichneten, vorwiegend in St. Gallen beheimateten „singulären• Graphien 118• Es sieht nicht dem Oriscus, sondern eher der Apostropha oder Clivis ähnlich. Zwar hat Dom Ferretti 911 auch dieses Zeichen als „u11ereductio11et u11esimplificatio11"bestimmter Oriscus-Formen paläographisch zu deuten gesucht (s. in Tabelle XVI die OriscusFormen B 4, 6, 7 und 8). Manche Gründe lassen es jedoch ratsam erscheinen, diese ,,singulären" St. Gallener Graphien (unseren Salicus 1) gegen den Salicus II abzugrenzen. Für Ferrettis These spricht die Tatsache, daß Metzer, bretonische und aquitanische Neumierungen den Salicus II auch dort aufweisen, wo St. Gallener Aufzeichnungen den Salicus I notieren. Gegen Ferrettis These könnte man aber einwenden, daß in St. Gallener Quellen, auch innerhalb einer und derselben Handschrift, beide Salici vorkommen, und zwar der erste weitaus häufiger als der zweite. Auch werden die beiden Graphien in korrespondierenden St. Gallener Notierungen, soweit wir sehen, nicht gerade wahllos ausgetauscht. Wenn also die Handschriften selbst die Salici auseinanderhalten, so sollte uns billig sein, was ihnen recht ist. Legitim ist jedenfalls der Schluß, daß Salicus I und Salicus II in St. Gallener Denkmälern zwar eng verwandte, aber nicht unbedingt genau die gleichen Figuren bezeichnen. Oberblidcen wir wieder die mitgeteilten Graphien insgesamt, so wäre zu konstatieren, daß von den drei Elementen des Salicus das erste variabel ist. Es kann ein Punctum, eine Virga oder ein Tractulus sein. Als charakteristische Salicus-Note der Metzer, bretonischen und aquitanischen Graphien tritt sodann stets der Oriscus auf, während in St. Gallen auch der Bogen als mittleres Element erscheint. Die Virga bildet aber in allen Graphien das konstant bleibende dritte Glied. Pal Mus XI, 92 f. Daß diese Graphien audt in Monza Capitolare C. 12/75 (s. Pal Mus II, S. 15 und Taf. 4 sowie das Spezimen in MGG 1, Taf. XX) und in Turin G. V. 20 vorkommen, darf nidtt überrasdten. Diese Handsdtriften stammen nämlich aus Monza und Bobbio, den norditalienischen Enklaven der St. Gallener Schrift. 11 Pal Mus XIII, S. 179 und 185.
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Salicus und Cltoreu1Ha
DIE
SALicus-GRAPHIEN DEil TABULAE
NEUMAB.UM
Vergleidtt man die überlieferten Versionen der Tabula brevis und Tabula prolixior jeweils untereinander, so läßt sidt konstatieren, daß sie hinsidttlidt der Neumennamen, von kleineren Differenzen und verderbten Lesarten abgesehen, miteinander übereinstimmen. Um so mehr fäIIt es dagegen auf, daß sie bezüglidt der aufgeführten Zeidten häufiger stärkstens voneinander abweidten. Besonders gut läßt sidt das an den Salicus-Graphien veransdtaulidten. Nur wenige Tabulae bezeidtnen unter dem Namen Salicus die eine oder andere der besprodienen St. GaIIener Graphien. In den meisten Tabulae wird der Salicus mit anderen Zeidten .illustriert", und zwar mit dem Pes quassus, dem Quilisma oder dem Pes praepunctis. Das ist im einzelnen aufzuzeigen. (Zum Folgenden ziehe man die Obersidtt in T abeIIe XIX heran.) Die von Gerbert veröffentlidtte Tabelle von St. Blasien verzeidtnet unseren Salicus I (Graphie Nr. 2); die Wolfenbütteler TabeIIe (erweiterte Fassung der Tabula brevis) notiert unseren Salicus II (Graphie Nr. 8). Die Trierer Tabelle 100 führt unter dem Namen „ Virga semitoHis" unseren Salicus II (Graphie Nr. 8) an. Mit demselben Namen figuriert in der Leipziger Tabe11e101 die singuläre und in den Neumierungen der Handsdtriften nidtt nadtweisbare Konjunktur von Bogen und Virga 102 • Mehrere Tabellen „erläutern" sodann den Salicus mit einer Pes quassus- oder einer Quilisma-Graphie. Die Brüsseler 103 , die Colmarer und die T oulouser T abeIIe 104 sowie die Tabelle des Codex Vaticanus Pal. lat. 78 fol. 137 105 illustrieren den Salicus mit Pes quassus-Graphien, während die Tabelle des Codex Vaticanus Pal. lat. 1346 fol. lv 108 ein drei-, ein vier- und ein zweikurviges Quilisma aufweist. (Letzteres untersdteidet sidi semeiographisdt vom Pes quassus kaum.) In zwei Tabellen, nämlidt in Karlsruhe, Badisdte Landesbibliothek 505, fol. 47v 107 und in Wien, Österreidtisdte Nationalbibliothek 1595, fol. 86v 108 , wird sdtließlidt der Salicus mit der Graphie Pes praepunctis veransdtaulidtt. 111
Codex Nr. 6 der Dombibliothek in Trier, fol. 95v/96. Faksimile in unserer Dokumentation. Codex Nr. 1492 der Universitätsbibliothek Leipzig, fol. 98v. Mangelhafte .Reproduktion• bei H. Riemann, Studien zur Gesddo,te der Notenso,rfft, Leipzig 1878, Taf. XII. 1 • Außer der • Vfrga se1Hlton1s• führt die Leipziger Tabelle zwei Erweiterungen dieser Konjunktur an, nämlich die Vfrga se1Hlt0Hls subpunctls bzw. subblpunctls. 1°' Brüssel, Bibliotheque Royale II 4141, fol. 32. Faksimilia bei C. Vivell, Frwtolfl BrevlarlulH de Htuslca et Tonarius, Sitzungsberidite der Akademie der Wissensdiaften in Wien, Phil.-hist. Klasse, Band 188, l. Abb., Wien 1919, S. 103; und bei J. Smits van Waesberghe, MdM II, afb. 12, bibliographisdie Angaben zur Handsdirift ebenda S. 25 f. 111 Codex 445 der Bibliotheque municipale in Colmar, fol. Ulv; der Aufbewahrungsort des Codex, der die Toulouser Tabelle enthält, ist heute unbekannt. Mangelhafte .Reproduktionen• beider Tabellen bei: Lambillotte, AHtlpkoHalre, S. 234; Fetis, Hlstolre genbale de la 1Huslque, IV, 199 f.,; Thibaut, OrtglHe, S. 70; Wagner, EGM II. 106 f. - Faksimile der Colmarer Tabelle in unserer Dokumentation. 1• Faksimile bei Bannister, MoHuHtentt vatlcaHI dt paleog,afla JHuslcale latlHa, Leipzig 1913, tav. 1b. 111 Faksimile bei Bannister, ebenda, tav. lc. 117 Faksimile in unserer Dokumentation. Hier sei angemerkt, daß sidi im Karlsruher Codex audi auf fol. 46 am unteren Rand der Text der Tabula brevis findet (ohne Tonzeidien). 181
106
Die 1,uebdsdteHZierHe10NeH uHdiltre byzaHtlHisdteHParalleleH
Nidit aufgezählt wird der Salicus in der Wolfenbütteler und Ottobeurener 109 Fassung der Tabula prolixior. Sie verzeichnen einzig und allein den Pes quassus. Hinzugefügt sei, daß zwei Tabellen, Wolfenbüttel (erweiterte Fassung der Tabula brevis) und Vaticanus Pal. lat. 78, den Scandicus offenbar irrtümlich mit der SalicusGraphie Nr. 8 anführen. Unsere Obersidit könnte auf den ersten Blidc hin zur Meinung verleiten, daß die meisten Tabellen wegen zahlreicher Irrtümer unzuverlässig seien 110 • Man wäre geneigt, die salicus-fremden Graphien auf Verwechslungen zurüdczuführen. Indessen, es läßt sich zeigen, daß die Tabellen gar nidit so willkürlich verfahren, wie es zunädist den Anschein hat. Die Zeichen, mit denen sie das Salicus-Sema substituieren, sind mit ihm semasiologisch verwandt. 1. Der Pes quassus ist das dem Salicus nädistverwandte Zeidien. Semeiographisdi läßt sich der Salicus als ein „Pes quassus praepunctis" apostrophieren. Die .Substituierungen" in den Tabellen lassen erkennen, daß man unter dem Namen Salicus häufiger den Pes quassus verstand. So läßt sich auch erklären, warum die drei überlieferten Tabulae entweder den Salicus oder den Pes quassus verzeichnen. In der Tabula brevis findet sich nur der Salicus, in der Tabula prolixior hingegen nur der Pes quassus. Offenbar genügte es, das eine der beiden Zeichen anzuführen. 2. Eine enge Beziehung besteht sodann auch zwischen dem Salicus und dem Quilisma. Im Cantatorium werden gleiche Figuren teils mit einer Salicus- und teils mit einer Quilisma-Graphie festgehalten. Bretonische und Metzer Neumierungen weisen darüber hinaus des öfteren Salicus-Graphien auch dort auf, wo in St. Gallener Versionen Quilisma-Graphien stehen 111 • Die Substituierung des Salicus durch das Quilisma ist also eine Erscheinung, die sich nicht nur an den Neumentabellen, sondern auch an den Handschriften selbst beobachten läßt. 3. Das gleiche gilt noch für das Verhältnis des Salicus zum Pes praepunctis (= Scandicus). Salicus und Scandicus werden bereits in den ältesten Quellen häufiger ausgetauscht. Daraus darf nicht gefolgert werden, daß die Zeichen genau die gleiche Bedeutung besitzen. Die Substituierungen verraten vielmehr, daß bestimmte ScandicusFiguren mit Ornamenten ausgeschmüdct und somit zu Salicus-Figuren umgewandelt wurden. Soviel sei unseren Ausführungen vorweggenommen: Der Salicus ist ein Scandicus mit einem bestimmten Ornament (s. weiter unten). 108
Faksimile in unserer Dokumentation. Den Text der Tabula brevis überliefert eine weitere Wiener Handsdirift, der Codex 2502 der Österreidiisdien Nationalbibliothek, fol. 39v (ohne Tonzeidien). 1°' Donauesdiingen, Fürstl. Fürstenbergisdie Bibliothek 653, fol. 26v. Mangelhafte .Reproduktionen• bei: Lambillotte, AHtlphoHalre,S. 23 3; Fetis, Histolre gtHeralede la muslque, IV, 204; Tbibaut, OrlglHe byzaHtlHe,90; die wohl früheste Erwähnung der Tabelle findet sidi in einem Artikel, der unter dem Titel BerldttlguHg elHes IH den GesdtidtteH der Musik fortgepflaHzteHIrrthumes, die ToHsdtrlft des Papstes Gregors des GrosseH betreffeHd in der Allgemeinen Musikalisdien Zeitung, Jg. 1828, Sp. 401-406, 417-423, 433-440 (s. besonders Sp. 421) veröffentlidit wurde. 11 Klagen über die Unzuverlässigkeit der Neumentabellen führen Riemann (Studien zur Gesdtldtte der NoteHsdtrlft, S. 125), Fleisdier (Die germanlsdteHNeumen, S. 50), Smits van Waesberghe (MdM II, 53 7 f./Anm. 40) u. a. 111 Vgl. Wiesli, a. a. 0., 308-315.
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SalicMS ""d ClcoreulfCa
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Unser Diskurs wird sicherlich dazu beitragen, die schlechte Reputation, in der die Neumentabellen stehen, um ein geringes aufzubessern.
DIEBISHEllIGE SAucus-FoascHUNG In den überlieferten mittellateinischen Traktaten wird der Salicus nicht erläutert. In ihrem Bemühen, zu einer Deutung des Zeichens zu gelangen, hat die bisherige Forschung daher vor allem aus der Etymologie des Namens, der Form der charakteristischen Note und aus den Substituierungen des Salicus durch andere Neumen manche Anhaltspunkte zu gewinnen gesucht. Seit Raillard leiten die meisten Forscher den Namen von salire (springen, hüpfen) ab. Das Wort Salicus wird folgerichtig mit „Hüpfer, Springer" übersetzt, und es wird angenommen, der Name charakterisiere eine bestimmte Eigenschaft der Tonfigur. Diese Auffassung teilen Mocquereau, Wagner, Fleischer, Suiiol, Jammers, Huglo und andere. Bestritten wurde diese Etymologie einzig und allein von Pere Thibaut 111, der den Namen entweder von acv.euoooder „unmittelbarer" (plus directement) von salix (Weide) herleiten zu können meinte. (Das griechische Verbum aaAeuooübersetzt Thibaut mit ,,~tre mouille eH rade, ~tre a l'aHcre",also „Anker werfen".) Der Name Salicus beziehe sich demnach auf die Form des Zeichens (gemeint ist unser Salicus 1), das einem Anker oder einer Weide bzw. der Weidenfrucht ähnele. P. Dechevrens 113 hielt die Thibautsche Etymologie von salix für wahrscheinlicher als die von salire. Ist sich die Forschung bezüglich der etymologischen Frage-wenn man von Thibauts .singulärer" Meinung absieht - einig, so gehen die Ansichten über die Bedeutung und Ausführungsweise des Salicus stark auseinander. Dom Mocquereau iu hält den Ursprung der charakteristischen Note im Salicus I für ungeklärt, vermutet aber einen Zusammenhang mit der Apostropha. Diese Vermutung sowie ein Studium der „Äquivalenzen" haben ihn zu der Folgerung geführt, daß die charakteristische zweite Note des dreitönigen Salicus den Ictus 115 erhalten müsse und gedehnt auszuführen sei, etwa in der Art des Pressus, jedoch leichter und delikater. Die charakteristische Note des Salicus wird auch von Wagner 118 als „HakeH"(also letzten Endes als Apostroph) gedeutet. Für Wagners Salicus-Interpretation ist indessen die Beobachtung maßgeblich gewesen, daß die Trierer Neumentabelle das SalicusZeichen unter dem Namen Virga semitonis anführt. Dieser Ausdruck beweise nach Wagners Ansicht, daß der Salicus ein Halbtonintervall impliziere, das der Haken 111 OrigiNe
byuHtlHe de la H0tatl0H HeuH1atlque de l' lgltse latlHe,
S. 78.
SIMG IV, 335-339. m NMG, 164 f., 401-411. 111
111 C. Vivell (Muslktemdnologlsdtes,
Gregorius-Blatt, Jg. 38 (1913), S. 82-84) weist darauf hin, daß der Terminu, .Ictus• in den mittellateinisdten Traktaten nirgends in der Bedeutung von .Melodie.Akzent. BetoHuHg, ToHverstilrkuHg• begegnet. 111 Rassegna gregoriana III (1904), Sp. 249f.: EGM II, 144-148.
108
Die latelHlsdceHZlerHeUIHeHuHd ihre byzaHtiHisdceHParalleleH
anzeige. Aus dem Namen des Zeichens und der Gestalt des Hakens ließe sich zudem schließen, daß der Halbtonschritt fallend sei und schnell ausgeführt werden müsse. Demnach sei der dreitönige Salicus eigentlich als viertönige Figur vorgetragen worden. Transkribieren diastematische Aufzeichnungen den Salicus beispielsweise mit efg oder f ga, so hätte man ursprünglich e fe g bzw. f g fis a gesungen. Entsprechend müsse man sich die Ausführung des zweistufigen Salicus vorstellen. Geben diastematische Versionen den Salicus mit ef oder gar mit einer bloßen Distropha oder Tristropha wieder, so schlägt Wagner eine Übertragung mit dem Tongang efef vor. Die „Erklärung" des Salicus als Virga seHfitonisin der Trierer Tabelle dient als Ausgangspunkt auch der Deutung von C. Vivell 117 • Wie Wagner, so interpretiert auch Vivell die Salicus-Note als Doppelnote, und zwar gleichfalls als Halbtonschritt. In der angenommenen Richtung des Schrittes scheiden sich aber die Auslegungen. Aus der Beziehung des Salicus zum Quilisma glaubt Vivell schließen zu dürfen, daß die Richtung steigend, nicht fallend sei. Die Salicus-Note zeige somit einen Halbtonschritt an, wenn der nächsthöhere, durch die Virga bezeichnete Ton, eine kleine Terz oder einen Ganzton höher liegt. Diastematische Salicus-Aufzeichnungen wie f a c oder f g a müssen demnach mit f abc bzw. f g gis a transkribiert werden. Betrüge hingegen der Abstand zwischen der Salicus-Note und der Virga nur einen Halbton, so hätte man ,.die beiden Noten des Salicus" (gemeint sind die Töne der charakteristischen Note) ,,auf einer und derselben Stufe zusamHfengezogen"und tremolierend ausgeführt. Diese Folgerungen ergeben sich konsequent aus Vivells oben besprochener Theorie über „Die enharmonischenund chromatischenZierforHfeHder a11tikenu11dgregoria-
nischenMelodie". Mit Wagners Interpretation berührt sich noch die Theorie Dechevrens' 118 • Zwar nimmt sie auf die Virga semitonis der Trierer Tabelle nicht Bezug. Dechevrens faßt jedoch die charakteristische Note des Salicus I als Clivis auf, wodurch sich wiederum eine Transkription der Note als fallender Sekundschritt ergibt. Allerdings ist der Sekundschritt nicht immer an den Halbton gebunden. Dechevrens überträgt den clivisähnlichen Bogen, je nach der Position des Salicus, auch als Ganzton. Von dem Salicus I unterscheidet Dechevrens streng die Formen unseres St. Gallener Salicus II, den er „Scandicusvolubilis" nennt. Er vertritt die Meinung, daß das Sartige Zeichen dieser Konjunktur (Dechevrens hat es als Oriscus erkannt) gerade wegen seiner Ähnlichkeit mit dem modernen Doppelschlag-Sigel die Transkription als doppelschlagähnliche Figur nahelegt. 0. Fleischers119 Transkriptionsformel des Salicus I stimmt mit der Dechevrens' völlig überein. Die Definition, ,,Der Salicus ist ei11u11tertieftö11iges Zeiche11Hfit der zum Hochto11hi11auf",bedeutet nämlich, in T 011bewegu11g 1 2 1 3 vom U11tertiefto11 die Normalsprache übertragen, daß der Salicus Figuren wie f gfa anzeigt. Die charakteristische Note des Salicus I faßt aber Fleischer als Apostropha auf. Die Saltcus-Neu1HeVOHMetz und St. GalleH eine DoppelHote, Gregoriu1-Blatt, Jg. 38 (1913), 40f .• 53-56. 111 SIMGXIV, 335-339. 11• Die ger1HaHlsdcen Neu1Htn, S. 67. 117
S.
SalicNS""d ClcoreuJHa
109
Grundsätzlich weicht von den besprochenen Auslegungen die Salicus-Theorie Jeannins izo ab. Von den Voraussetzungen ausgehend, erstens, daß die charakteristisdte Note des bretonisdten Salicus ein Oriscus ist und zweitens, daß der Oriscus die Vox treHCula der mittellateinischen Theoretiker ist, erklärt sie die dtarakteristisdte SalicusNote für eine kurze Bebung, genauer für einen Mordent mit oberer Nebennote:
.balaHCeHfeHtlegereH1eHt ecourte coH1preHant la note superieure et de nouveau la note reelle, avec renforceHfeHtde la voix sur la re note". Auen dem Pes quassus schreibt Jeannin den Mordent-Effekt zu. Dom Ferretti 121 besdtränkt sidt auf die Konstatierung, daß die aquitanisdte Notation des Graduale von Saint-Yrieix zwei Salicus-Formen verwendet, die eine für den zweistufigen, die andere für den dreistufigen Salicus. Dom Suiiol 111 ist der Ansicht, daß der Unterschied zwischen dem Salicus und dem Scandicus lediglich in einer Nuance bestanden haben muß. Während beim Scandicus die erste Note den Ictus trüge, liege dieser im Salicus auf der zweiten, gedehnten Note, die Suiiol als Apostropha deutet. Vertritt somit Suiiol nodt den offiziellen Standpunkt der älteren Solesmer Sdtule, so lassen jüngste Publikationen erkennen, daß sich die Solesmer Salicus-Deutung inzwischen erheblidt gewandelt hat. Nach der jüngsten Interpretation liegt nämlich der Sdtwerpunkt im Salicus nidtt auf der dtarakteristisdten mittleren Note, sondern auf der nadtfolgenden. Auf diese Konstatierung legt L. Agustoni us zum Beispiel besonderen Wert: .Die charakteristische Note des Salicus, die durch das senkrechte Episem bezeichnet ist, sollte eher mit einem leichten lntensitätmachdrudc als mit einer disproportionierten und ungeredttfertigten Dehnung ausgeführt werden. Die Arteigenheit des Salicus besteht gewöhnlidt darin. daß er die Melodie einem Gipfelpunkt zuführt, den man in der Ausführung nidtt übersehen darf. Jene Note also, die der dtarakteristisdten, episemierten Salicusnote folgt, muß mit einer gewissen weiten Fülle interpretiert werden, dem melodisdten Kontext entsprechend.•
Auch Pater Wiesli 11' erkennt dem Oriscus als dtarakteristisdter Salicus-Note nidtt mehr als eine „ausgesprocheneStrebefunktton" zu, wogegen er die auf den Oriscus folgende Virga als Träger der musikalisdten Bedeutung ansieht: ,,Es ist dem Saltcus
eigen, die HtelodischeBewegungzu jener Note ,emporzuwerfen',welche dem Oriscus UHHfittelbarnachfolgt." Von Bedeutung ist diese Salicus-Auffassung für die Wieslisdte Quilisma-Interpretation. Da nämlidt die Codices Laon 239 und Chartres 47 in etlichen Fällen das St. Gallener Quilisma mit Salicus-Graphien wiedergeben, hält es Pater Wiesli für 1• 111 19
111
Mllodies liturglques syrltHHeset chaldleHHes,S. 213. Pal Mus XIII, 185 f. l"troductloH, 497-500. GregorlaHfsdter Choral, a. a. 0., S. 147-154, Zitat S. 148.
Wiesli, a. a. 0., 295-299. Sowohl Agustoni als auch Wiesli stützen sich auf die mir unzugängliche Dissertation von R. Ponchelet, Le sallcus du cod. 359 de la Bibi. de St. Gall daHs la perspectlve des tlHlolg"agesdu cod. 239 de LaoHet du cod. 47 de Chartres, Rom 1959.
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Die latelHlsdceHZlerHeuHteHuHd Ihre byuaHtlHlsdce,cParallele,c
110
möglich, mittels des Analogieschlusses von den Eigenschaften des Salicus (Oriscus) auf Besonderheiten des Quilisma schließen zu können. Auf diesem Wege gelangt Wiesli zu zwei Folgerungen: 1. Der Oriscus sei im allgemeinen, wie auch je im Salicus, eine leichte Note. Also sei auch das entsprechende Quilisma eine leichte Note. 2. Der Oriscus des Salicus habe eine spezifische Strebefunktion auf die nachfolgende Virga hin. Eine solche Strebefunktion habe also offenbar auch die QuilismaNote.
DIE NEUE SALICUS-DEUTUNG -
DIE BEZIEHUNGEN ZUM CHOREUMA
Nach dem vorstehenden Bericht über die bisherige Salkus-Forschung wäre es wohl Verwegenheit zu behaupten, daß das ursprüngliche Wesen des Zeichens erhellt sei. So interessante Aspekte einzelne der angeführten Meinungen auch bieten, allein schon die Gegensätzlichkeit der Positionen und der Wandel der Auffassungen lassen die Oberdie Klagen darüber, daß „fur eiHeHbeträchtlicheHTeil der SpezialHeuHten 125 sei, lieferung der ursprünglicheHInterpretation uHaufßndbarverloreHgegangeH" als nicht unbegründet erscheinen. Indessen, es sei gestattet hinzuzufügen, daß die Berüdcsichtigung des im zweiten Buche erschlossenen byzantinischen Materials neue, bislang ungeahnte Perspektiven auch für die Interpretation des Salicus eröffnet. Unsere vergleichenden neumenkundlichen Untersuchungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß der Salicus II, dessen 18 wichtigste Formen in Tabelle XVIII mitgeteilt sind, das lateinische Analogon des byzantinischen Choreuma ist. Die zwischen den beiden Zeichen bestehenden Beziehungen sind sowohl onomatologischer und semeiographischer wie semasiologischer Art.
Die oHoHtatologische BeziehuHg 1. Der Name Salicus wird etymologisch allgemein von salire abgeleitet. Allem
Anschein nach ist diese Ableitung richtig. Salire bedeutet jedoch nicht nur springen und hüpfen, sondern auch tanzen. Die Bedeutung von Tanz und Tanzfigur besitzt aber auch der griechische Terminus Choreuma, der bereits in der Neumenliste des Codex Lavra r. 67 nachweisbar ist. Salicus und ChoreuHtasind somit „synonyme• Ausdrüdce. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß der Name Salicus die lateinische Obersetzung des griechischen figurtechnischen Terminus Choreuma ist. Daß in der bisherigen Forschung eine immerhin mögliche Bedeutung von Salicus nicht erwogen wurde, darf nicht überraschen. Denkt man in überals „ T aHzHeuHte" kommenen musikalischen Vorstellungen, so liegt es zweifellos näher, den Salkus als „Springer" oder „Hüpfer" denn als „ Tanzneume" zu erklären. Erst wenn man von 111
Agustoni, GregorlaHisdter Choral, a. a. 0., 168 f.
""dChoreulHO
s.JicKS
111
der Existenz des parallelen griechischen Ausdrudcs Choreuma weiß, rüdct auch die letztereBedeutung des Salicus in den Vordergrund. Zu Thibauts Ableitung des Salicus von aaüvro müssen wir hier anmerken, daß er dem griediisdien Zeitwort eine Bedeutung unterlegt hat, die es nidit besitzt. :Iaüvro bedeutet nämlichunseres Wissens niemals „Anker werfen•, sondern „in Bewegung setzen, ins Wanken bringen,erschüttern, sdtütteln, hin und her bewegen•. In diesem Sinne wäre eine Ableitung von aw.euc.oimmerhin erwägenswert, da nämlidi die Ausdrücke aaMvro und oaJ..wµa im nadibyzantinisdien musiktheoretisdien Sdirifttum mehrfadt vorkommen. So heißt es im Traktat Nr. 811 der konstantinopolitanisdien Patriarchatsbibliothek, pag. 15o: "'O,:e 3e(-fi'UM(.)QO'JI) ,:(itnaL µe,:a 'tOÜ1tLUOµa1:os 3Lci'tO o 6;Äeu µ a, a,mf:}alleL xai. -ro lSvoµa xal 1:as EwtOQQOt}V µ~n: oooµa 111
Dom Davids Interpretation dürfte von Gedanken Dedtevrens' und Fleischers entscheidende Anregungen empfangen haben. Der Versuch, die Gutturalis von der (scheinbar) dreiteiligen St. Gallener Form her zu deuten, verrät die Orientierung an der Methode von Dedtevrens. Die Interpretation der Neume als mordentartige Figur geht aber zweifellos auf Fleischer zurück. 117 CoussS I, 214a. 118 Mittellateinisdte Glossare führen das Verb cllleo als Synonym für moveo an; vgl. Smits van Waesberghe, MdM II, 541/Anm. Sl.
Gictturalis
119
139: .Idl habe klargedvm dxov, cilla TOÜ qiaeuyyo~(JUVTOµov xl'VT)CJlv stellt, daß die Aporrhoe weder ein Soma nodl ein Pneuma ist, sondern eine sdlnelle Bewegung der Kehle•. Sieht man von dem ersten Satzglied ab, das auf das seltsame .Zwitterwesen" der Hyporrhoe hindeutet, so stimmt das zweite Satzglied der griedlisdlen Definition mit der Aussage des Walter Odington Wort für Wort überein, in einem soldlen Maße. daß die Annahme, die Obereinstimmung sei zufällig, ad absurdum führt. µ~TE XVE'ܵa
Fünf Folgerungen lassen sidl an die dargelegten Gegebenheiten anknüpfen: 1. Den Namen Gutturalis verdankt unsere lateinisdle Neume ihrer dlarakteristi-
schen Note, dem Oriscus ( = Iporoi). 2. Das Zeidlen Gutturalis erfordert in stimmtedlnisdler Hinsidlt eine „keldige" Vortragsweise. 3. Die „kehlige" Vortragsweise dürfte nur Neumen vorbehalten sein, die den Oriscus als Bestandteil aufweisen. 4. Es liegt im Rahmen des Wahrsdleinlidlen, daß die Gutturalis-Definition Odingtons auf eine ältere Erläuterung zurückgeht, die aus dem Griedlisdlen übersetzt wurde. 5. Die Littera significativa g, sofern sie beim Salicus und Pressus vorkommt, bezieht sichauf den Oriscus als die dlarakteristische Note dieser Graphien, bedeutet IH gutture und weist auf eine gutturale Vortragsweise der Salicus (= Choreuma)-Figur hin. Gegen die beiden ersten Folgerungen ließe sich vielleicht einwenden, daß im mittelalterlidien musiktheoretischen Schrifttum das Wort guttur in der Bedeutung von „Kehle• und von ,,Stimme" begegnet, infolgedessen daß es in der Erläuterung des Odington möglicherweise die zweite Bedeutung haben könnte. Einern solchen Einwand wäre entgegenzuhalten, daß in den meisten Fällen aus dem Kontext klar hervorgeht, in weldlem Sinn das Wort gemeint ist. Im Falle der Odingtonsdlen Erläuterung kann es nur die Bedeutung von Kehle besitzen. Das wird durch die Aporrhoe-Definition des Gabriel nadldrücklich bestätigt. In der Bedeutung von „Stimme• verwendet dagegen Bemo das Wort guttur, wenn er im Tonarius sagt, daß „die Quilismata, die wir heute gradatae neumae nennen, eher mit der Kehle als mit Instrumenten hervorgebracht werden können" (s. oben S. 75) 140 • Mit dieser Aussage will Bemo den dem Quilisma eigenen vokalen Effekt gegen den instrumentalen Klang abgrenzen. Auf keinen Fall läßt sich aus dieser Äußerung auf den gutturalen Vortrag als Charakteristikum des Quilisma sdlließen. Für die dritte Folgerung spricht nicht zuletzt die Beobadltung, daß die griechischen Traktate die gutturale Eigensdlaft, soweit wir sehen, ausschließlich der Hyporrhoe zuschreiben. •• Tardo, Melurgia, 189. Der Codex 811 der konstantinopolitanischen Patriarchatsbibliothek bat die Lesart: all« 'fOil Aaeuyyo; auv-roµov xl'V1)CJLV. 1 • Das wurde bereits von Smits van Waesberghe (MdM II, 539) zu Recht bemerkt. Mit .Stimme• iibmetzt van Waesberghe (ebenda, 541) das Wort guttur auch in der Odingtonsdien Erläuterung. Umere Ausführungen dürften jedoch gezeigt haben, daß es hier die Bedeutung von .Kehle• hat.
120
Die latelHlsdceHZierHe,.,tceHwHdIhre byzatlHlsdceH ParalleleH
Gegen die vierte Folgerung wären vielleidit dironologisdie Einwände zu erwarten. Walter Odington ai, der berühmte Theoretiker und Astronom, hat im frühen 14. Jahrhundert gelebt, der Hieromonadios Gabriel (aus dem Kloster der Xanthopouloi) vielleidit etwas später. (Er wird als Autor in einem 1440 im Vatopedi gesdiriebenen Codex der Patriardiatsbibliothek in Jerusalem genannt 1U.) Derartige dironologisdie Erwägungen sind jedodi im Zusammenhang mit unserer Fragestellung nidit gerade angebradit. Es mag nämlidi als sidier gelten, daß beide Definitionen nodi ältere Lehren wiedergeben; und für die Priorität der griediisdien Lehre sprädie vor allem die erwiesene Abhängigkeit des Oriscus von der Hyporrhoe. Die fünfte Folgerung soll in Kap. XXII begründet werden. DIE NEUE SEMASIOLOGISCHE DEUTUNG -
DIE BEZIEHUNGEN ZUM XERON KLASMA
Audi für die Gutturalis gilt der Grundsatz, daß die systematisdie Untersudiung einer Neume vor allem die Erfassung aller ihrer Positionen voraussetzt. Als erstes ist zu konstatieren, daß die Gutturalis - wie die meisten Zeidien der Oriscus-Familie sidi sowohl als Bestandteil mehrgliedriger Neumenfolgen wie alleinstehend über einzelnen Silben findet. Wir müssen daher die „angesdilossene" von der alleinstehenden Gutturalis untersdieiden. Als auffällige Besonderheit der angeschlossenenGutturalis ließe sidi zunädist anführen, daß sie im Gegensatz zum Oriscus, Pes quassus und Salicus, soweit wir sehen, innerhalb der Neumengruppen niemals „eingespannt" wird. Sie ersdieint stets als letztes Zeidien einer mehrgliedrigen Gruppe, somit den Sdiluß des Melismas bildend. Zwei weitere Besonderheiten wollen beaditet werden: Die angesdilossene Gutturalis zeigt, soweit wir sehen, stets einen Sekundsdiritt an, und zwar sowohl einen großen wie einen kleinen. Uns ist kein Fall begegnet, wo die Editio Vaticana das ,,angesdilossene" Zeidien mit einer unisonen Doppelnote wiedergegeben hätte. Sodann ist es bemerkenswert, daß die angesdilossene Gutturalis zusammen mit den sie umgebenden Noten stets doppelsdilagähnlidie Figuren bezeidinet, wie die folgende Zusammenstellung veransdiaulidien mag (s. Bsp. 658-669): Gutturalis praebipunctis: Climacus und Gutturalis: Clivis und Gutturalis: Torculus und Gutturalis: Quilisma/Torculus und Gutturalis: Quilisma/Pes subbipunctis und Gutturalis:
acde/d oder dfga/g chagah(b)la,agfga/g agab/a gagabla,dedefle,adcdeld,gcahc/h fgfga/g
abagab/a
Die Bedeutung der angesdilossenen Gutturalis liegt mithin auf der Hand: Ihre Bestandteile, Virga bzw. Punctum und Oriscus, indizieren je einen Ton; der Oriscus steht hier, um auf den doppelsdilagartigen Verlauf bestimmter Figuren hinzuweisen. 141
141
Vgl. G. Reaney, Art. OdlHgtoH in MGG IX, Sp. 1849 f. Vgl. Tardo, Melurgla, 183/Anm. 3.
G11rruralls
121
Die semasiologisdien Regeln, die wir für den angesdilossenen Oriscus und Pes quassus aufstellten, gelten audi für die angesdilossene Gutturalis. Widitige Anhaltspunkte für die semasiologisdie Bestimmung der alleiHsteheHdeH Gutturalis bieten uns zunädist die dargelegten Ergebnisse über die Bedeutung des alleinstehenden Pes quassus. Diese Ergebnisse müssen wir hier unbedingt im Auge behalten, da nämlidi die Gutturalis semeiographisdi nidits anderes als das Gegenbild des Pes quassus ist. Beide setzen sidi aus der Virga (bzw. dem Punctum) und dem Oriscus zusammen. Beim Pes quassus bildet der Oriscus den ersten Bestandteil der Neume, bei der Gutturalis den zweiten. Aberaudi semasiologisdi bestehen zwisdien den beiden Neumen Beziehungen. Man vergegenwärtige sidi nur, daß diastematisdie Aufzeidinungen nidit bloß immer den Pes quassus, sondern - im Graduale - sehr häufig auch die Gutturalis als steigenden Sekundschritt wiedergeben. Dabei fällt besonders auf, daß beide Neumen in den meisten Fällen auf den Halbtonpositionen ef und hc anzutreffen sind. Geht man von der Erwartung aus, daß das System der lateinisdien Choralnotation auf streng logisdien Prinzipien aufgebaut ist (und es gibt keinerlei Gründe, daran zu zweifeln), so ersdieint es in Anbetradit der zwisdien den beiden Neumen bestehenden Analogien legitim, die aus dem Studium des Pes quassus gewonnenen Einsiditen mutatis mutandis - auf die Gutturalis zu übertragen. Unsere Untersuchung des Pes quassus erbradite den Nadiweis, daß sein erstes Glied, der Oriscus, eine fünftönige doppelschlagähnlidie ornamentale Figur bezeidinet, die einen Hauptton zuerst von oben und dann von unten her umspielt. Auf diese Figur folgt ein zweiter Hauptton, den die Virga anzeigt. Von den beiden Haupttönen des Pes quassus trägt also der erste ein Ornament, der zweite nidit. Das umgekehrte Verhältnis gilt allem Ansdiein nadi für die Gutturalis. Hier dürfte der erste Hauptton sdimudclos, der zweite aber ornamentträditig sein. Damit ist nidit gesagt, daß der verzierte Hauptton der Gutturalis unbedingt genau mit dem gleichen Ornament ausgestattet wurde wie der ausgesdimüdcte Pes quassus-Ton. Möglidierweise waren die beiden Ornamente einander nur ähnlidi. Wie dem audi gewesen ist: Als sidier darf gelten, daß der zweite Hauptton der Gutturalis gerade wegen seines Ornaments in metrisdier Hinsidit lang gewesen ist, und zwar vermutlich länger als der erste Hauptton. Liegt beim Pes quassus das Gewidit auf dem ersten Haupton, so bei der Gutturalis auf dem zweiten. Für diese Deutung sprädien audi einige Beobaditungen an der Besdiaffenheit von Figuren, die das byzantinisdie Analogon der Gutturalis bezeidinet. Als soldies ließe sich nämlich das Xeron Klasma anspredien, und zwar das zweistufige, aber dreitönige Xeron Klasma ascendens. In semeiographisdier Beziehung ist das Verhältnis beider Zeichen natürlich redit lodcer. (Das Xeron Klasma setzt sidi aus Diple und Klasma zusammen.) In semasiologisdier Beziehung bestehen dagegen Berührungspunkte: Das zweistufige, aber dreitönige Xeron Klasma ascendens findet sidi - wie die Gutturalis - bei Silben, die einen Haupt- oder einen Nebenakzent tragen, und zwar vorzugsweise auf den Halbtonpositionen hcund ef. Besonders merkwürdig ist aber, daß beide Zeidien
122
Die latelHlscheHZierHeumeHuHd lltre byzaHti11ischcHParalleleH
häufiger innerhalb auffallend ähnlidter lateinisdter, byzantinisdter und slavisdter melodisdter Phrasen auftreten, wie die Beispiele ( 5 59-5 66) verdeutlidten. Hierbei lassen die mittelbyzantinisdten Versionen der griedtisdten Beispiele erkennen, daß bei unseren Xeron-Klasma-Figuren das Gewidtt auf dem zweiten Ton liegt, der repetiert und dabei sogar ausgehalten wird ua.
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Absdtließend können wir die Ergebnisse unserer Untersudtungen in den folgenden Punkten zusammenfassen: 1. Wie die angeschlossene Gutturalis, so bezeidtnet audt die alleinstehende in der Regel einen Sekundsdtritt. Ein Untersdtied zwisdten den beiden Positionen besteht darin, daß bei der alleinstehenden Gutturalis der Sekundsdtritt verziert ist, bei der angesdtlossenen Gutturalis dagegen nidtt. 2. St. Gallener Aufzeidtnungen weisen die Gutturalis weitaus häufiger als Metzer, bretonisdte und aquitanisdte Neumierungen auf. Anstelle der Gutturalis sdtreiben diese öfter den Podatus und verzidtten somit auf das Ornament (s. die in Tabelle XXI unter D genannten Beispiele). 3. In den ersten liniierten Aufzeidtnungen wurde das Ornament der alleinstehenden Gutturalis nidtt umgeschrieben. Die Gutturalis wird im Graduale meist mit dem Podatus und im Antiphonale meist mit einer unisonen Doppelnote wiedergegeben. Letztere Umsdtrift bestätigt, daß der zweite Hauptton der Figur gewidttiger gewesen ist als der erste. 4. Ober die Gutturalis wird in St. Gallener Quellen häufiger die Littera c (celeriter) gesdtrieben. Sie bezieht sidt auf den zweiten Hauptton, der jedodt nidtt als kurz gekennzeidtnet wird. Vielmehr zeigt die Littera an, daß das Ornament sdtnell auszuführen ist. 5. Die alleinstehende Gutturalis amKolonende bezeidtnet zwei Töne gleidterStufe; der zweite Ton ist verziert.
141 Hier sei noch vermerkt, daß die paläobyzantinische Version in Bsp. (564) eine noch größere Ähnlichkeit mit der lateinischen in (563) aufweist als die korrespondierende mittellateinische Neumierung. Während nämlich diese über al)• eine den Ton d indizierende Petaste bat, zeigt die paläobyzantinische Bareia den Tongang de an.
XXI
DIE NOTAE SEMIVOCALES UND DIE HEMIPHONA SeHdvocalesautem suHt appellatae, quae pleHaJH vocem HOHhabeHt.
Priscianus 1 Institutionum grammaticarum lib. I. 9-10 Kat füci 't'OÜ'tollye'tm
{'t'O 'ttci,uaµa)
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qx.ovov,ftyouv !xeLµuri1vqx.oviJv. Codex Atheniensis 968, fol. 44
1.
Vorbemerkungen
Die Untersuchungen des zweiten Buches (Kap. VII) erbrachten erstmals den Nadtweis, daß die byzantinisdten und altslavisdten Semeiographien eine Klasse von Tonzeichen umfassen, die unmittelbar in Parallele zu den Notae semivocales der lateinischen Choralnotation gesetzt werden können und müssen. Die drei Hemitona der hagiopolitanischen Klassifizierung, Klasma, Parakletike (oder Rheuma) und Kouphisma, haben sich als Analoga der lateinisdten liqueszierenden Neumen erwiesen. Die semasiologisdten Untersuchungen führten zu dem Ergebnis, daß den drei Hemitona, die in den Traktaten häufiger audt Hemiphona genannt werden 2, ein bestimmter stimmtedmisdter Effekt eigen ist und daß die hemiphonisdte Vortragsweise eine Dehnung der betreffenden Töne impliziert. Alsbesonders relevant audt für die Deutung der Notae semivocales sei ein weiteres Ergebnis der Untersudtungen angeführt, die Schlußfolgerung nämlich, daß die musikalische Liqueszierung nicht immer an die phonetisdte Liqueszierung gebunden ist, sondern daß sie sidt redtt häufig von dieser loslöst und als Spezialität des musikalischen Vortrags des öfteren audt dann vorgesdtrieben wird, wenn entspredtende phonetische Voraussetzungen fehlen. Unsere kritisdte Auseinandersetzung mit den Theorien Dom A. Mocquereaus und H. Freistedts dürfte verdeutlicht haben, daß diese Auslegung auf plausible Weise audt Fälle erklärt, die sich sonst kaum interpretieren lassen. Nadt den Ausführungen des zweiten Buches auf den engen Zusammenhang zwisdten den Klassen der byzantinischen Hemiphona und der Notae semivocales nadtdrüddich zu verweisen, erscheint überflüssig. Zu klären bleibt dagegen die Frage, wieweit die Beziehungen zwisdten den einzelnen paläobyzantinischen und lateinisdten „hemiphonischen• Semata reichen. 1
Prisclaxl Gralfflffatlcl Caesarlexsls Instltutloxulff Gralfflffatlcarulff llbrl XVIII hrsg. von M. Hertz, Band I. Leipzig USS S. 9 (= Grammatici latini, hrsg. von H. Keil, Bd. IO. 1 Der Terminus Hemlplcona ist der Grammatik entlehnt. Der Ausdrudc Helffltona dilrfte in Analogie zu ihmund wegen der Abgrenzung gegen den Begriff Tonol geprägt worden sein. Wir fiigen hinzu, daß die Termini i;l,vo~ und cpcovla und brtaqicovla in spät- und nadibyzantinisdien Traktaten redit häufig wiederkehren, so zum Beispiel im Codex Lavra 610 (s. Tardo, Melurgla, 197 f., lOl). Sie dienen der Bezeidinung des Tonsystems. So meint der Ausdrudc brtaqicovla du oktatonisdie System; b:'taq>covla ist gewissermaßen die Oktave oder besser die Diapason (vgl. damit Johannes Affligemensis, De Musica, Cap. IX, CSM 1, 72-75). (Die Bezeidinung ut'taq>covla anstatt des korrekteren Terminus ox'taq>covlaergibt sidi dadurdi, daß µla cpVfl bereits die Sekunde bedeutet.) TQLq>covla bezeidinet entsprediend ein tetratonisdies oder tetradiordes System, 'tE'tQaq>wvlaein pentadiordes System usf. Dagegen meint der Terminus ~LJtAOden Gesang in der höheren Oktave. Die Lehre von der Diplophonie wird u. a. im Leningrader q>O>Vla Traktat (s. Thibaut, MoHMlffeHts, 89) und im Traktat des Codex Lavra 16!i6 (s. Tardo, Melurgla, 227 f.) abgehandelt. • Hier sei festgehalten, daß das .Epiphonus• -Zeidien in der erweiterten Fusung der Tabula brevis audi in Konjunkturen vorkommt, und zwar unter den Namen CentoH und Astus. Centon wird in der Wolfenbütteler Tabelle die Konjunktur von Virga und .Epiphonu1• genannt, Astus die Konjunktur von zwei Puncta und .Epiphonus•. Letztere Konjunktur trägt in der Tabula prolixior den Namen Sodvocolls ,,aeblpunctls.
Die Notae
126
seHfivocales u11ddie HeHtlphoHa
Zu dem Wort Gnomo müssen wir anmerken, daß es unbestritten griedrlsch ist; yvcoµrovbedeutet Winkelmaß, Zeiger, Lineal. Umstritten waren und sind immer noch dagegen die etymologische Ableitung und die Bedeutung des Wortes Franculus. Raillards 7 Herleitung von frangere (brechen) wurde von mehreren Forschem adoptiert und scheint sich allgemein durchgesetzt zu haben. Thibaut 8 leitet dagegen den Namen bzw. ßagellum (Peitsche, Geißel) her und begründet diese Ansicht von cpQayyEÄ.Lov mit einem Hinweis auf die Gestalt der Gutturalis 9 , die angeblich einer Peitsche ähnele. Fleischer 10 wiederum übersetzt den Namen mit „derkleine frankisdie (Akzent") und leitet ihn somit von Francus ab. Bücken wir jetzt auf das byzantinische Sema Klasma zurück. In Kap. VII haben wir dargelegt, daß es in den Neumentabellen und in den Traktaten unter vier Onomata angeführt wird: Klasma (Bruch), Hemitonion (das Halbtönige), Hemiphonon (das Halbstimmige) und Tzakisma (Bruch)11• Der Name Klasma kommt bereits in der Neumenliste des Codex Lavra I'. 67 vor und mehrfach in den Traktaten. Der Ausdruck Hemitonion findet sich nur im Pariser Traktat. Hemiphonon wird das Klasma in den Traktaten der Codices Paris Suppl. grec 815, fol. 63v, und Athen 968, fol. 44, genannt. Die Bezeichnung Tzakisma kehrt schließlich häufiger in den Kompendien der nachbyzantinischen Zeit wieder und dürfte in einer späteren Zeit aufgekommen sein als die drei anderen. Wir können nunmehr die lateinische Nomenklatur des „Epiphonus• mit der mittelgriedrlschen Onomatologie des Klasma vergleichen. Die Termini Eptaphonus, Pentaphonus und Tzakisma sind nicht ursprünglich und können ausgeklammert werden. Fassen wir die übrigen Ausdrücke ins Auge, so zeichnen sich erstaunliche Korrespondenzen ab. Es entsprechen sich die Termini:
Hemivocalis und Hemiphonon (der, das Halbstimmige) Semitonus und HeJHitonion (der, das Halbtönige) Franculus und Klasma (Bruch) Daß die lateinischen Ausdrücke Lehnübersetzungen aus dem Griechischen darstellen, ist wohl augenscheinlich. Zu den übrigbleibenden drei Termini der lateinischen Nomenklatur, Gnomo, Substringens und „Epiphonus", müssen wir anmerken, daß im byzantinischen musiktheoretischen Schrifttum ein Terminus yvcoµwv,soweit wir sehen, nicht begegnet. Ebenso7 8
ExpllcatloH des HtUHfes, Paris 1859, S. 53: s. auch Wagner, EGM II, 156. OrlgfHe byzaHtlHe de la Hotatlon HeuHtatlque de l'lgllse latlHe, S. 85.
• Nicht nur Thibaut, sondern die meisten Forscher weisen den Namen Franculus irrtümlich dem Gutturalis-Zeichen ru (s. Kap. XX). 10
Die gerHtaHlsdteH
11
Siehe in Kap. VII unsere Zusammenstellung der Erläuterungen der Traktate.
NewHfeH,
S. 52.
Hnt1lvocalis ( .EplphoH1cs") uHd HeHllphoHOH
127
wenig läßt sich ein griechischer Ausdrudc anführen, den man in Beziehung zum .singulären„ Namen Substringens setzen könnte. Was sodann den Terminus „Epiphonus" anbelangt, so müssen wir nochmals hervorheben, daß er sich in den Tabulae neumarum nirgends findet. Ebensowenig kommt er, soweit wir sehen, in den mittellateinischen Breviarien und Traktaten vor. In das wissensdiaftliche Schrifttum scheint er zuerst von Dom Louis Lambillotte eingeführt worden zu sein, der in seiner Publikation AHtlphoHairede Saint Gregoire12 als erster die Colmarer Tabelle in einer mangelhaften „Reproduktion" wiedergab und dabei die korrupte Lesart Epihophinus (an Stelle von Eptaphonus) stillschweigend in „Epiphonus• korrigierte. Die erste Auflage des AntiphoHaireerschien 1851 in Brüssel. E. de Coussemaker gebraucht in seiner Histoire de l'harHfOHie au H1oyenäge (Paris 1852) den Terminus „Epiphonus" nicht. Er verwendet die Begriffe Gnomo und Franculus, die er als „plique longue ascendante" bzw. ,,plique breve ascendante" expliziert 13. Dom A.SchubigerH verleiht dagegen der Hemivocalis-wohl imAnschluß anLambillotteden Namen „Epiphonus". Seit den 1860er Jahren findet sich dann der Terminus .Epiphonus• als .offizielle" Bezeichnung der Hemivocalis in fast allen neumenkundlil:hen Publikationen. Daß ihm bislang die Berechtigung niemals streitig gemacht wurde, grenzt an ein Wunder 15• Aus unseren Darlegungen sind zwei Konsequenzen zu ziehen: 1. Der Terminus „Epiphonus", dessen Existenz auf einem Irrtum beruht, ist aus demwissenschaftlichen Schrifttum zu verbannen. 2. Die geläufigen etymologischen Ableitungen des Terminus .Epiphonus" von tiwpoovo~, sei es im Sinne von „Ausruf" 16, sei es im Sinne von „Beiton" 17, sind hinfällig. Wir fügen hinzu, daß ein Terminus btlqx.ovo~im mittelgriechischen Schrifttum unbekannt ist.
D11 SEMEIOGRAPHISCHEBEZIEHUNG
Die Frage nach der paläographischen Deutung der Hemivocalis (,.Epiphonus") gehört zu den umstrittensten Problemen der neumenkundlichen Disziplin. Oberblidct man das Schrifttum, so stellt man - nicht ohne Überraschung - fest, daß darüber mindestens fünf Theorien aufgestellt wurden. Sie orientieren sich alle an der St. Gallener Form des Zeichens. 1 • 11
Brüssel1/1867, S. 202-204, A. a. 0 .. S. 180.
234.
u Die Sibtgersd«ule St. Galle,cs, Einsiedeln 1858, S. 9. 11 Die einzigen halbwegs kritischen Äußerungen zu unserem Thema stammen von Abbe Raillard (ExplicarloHdes HeUH1es,S. 35) und von Dom Mocquereau (Pal Mus II, 59), welche meinten, .Epi• phon111•könnte vielleicht fiir 'Y)µlcp(l)'YOV stehen. Selbst diese Forscher nehmen jedoch den Terminus .Epipbonus• fiir gegeben hin. 11 Thibaut, OrlglHe byzaHtlHe, S. 74 f.; Aeischer, Die gerH1aHlsd«eHNeuffleH, S. 58. 11 D.Johner, Neue Sd«ule des gregorlaHlsd«eH ChoralgesaHges, Regensburg 1 /1921, S. 23.
128
Die Notae semivocales,md die Hemtpho,sa
Die erste Theorie, von der Solesmer Schule vertreten 18, leitet die liqueszierenden Neumen ausnahmslos von den primären Akzentneumen ab. Die Notae semivocales entstehen demnach entweder durch Modifikation des letzten Striches irgendeiner Neumengruppe oder durch den Zusatz bzw. die Epenthese eines neuen Striches. So wird der „Epiphonus" als liqueszierender Podatus (d. h. als Podatus mit verkürzter Virga) expliziert 19• Ähnlich werden der Cephalicus als liqueszierende Clivis und der Ancus als liqueszierender Climacus definiert. Die zweite Theorie, von P. Wagner 20 aufgestellt, deutet die Notae semivocales als „Hakenneumen" und leitet sie konsequent vom Apostroph ab. ,,Das ZeicheHfür deH
kurzeHltquesziereHdeH ToHwird gewonnen entweder durchZusatz des' aHeiHanderes Zeichen, oder durch Verkürzung des letzteH Acutus oder Gravis der Akzentneume." Wagners zweite paläographische Erklärung dedct sich also mit der Dom Mocquereaus. Auch Wagner interpretiert den „Epiphonus" als einen Podatus mit verkürztem zweiten Ton. Die dritte Theorie, von Dechevrens21 formuliert, erklärt sowohl den Cephalicus wie den „Epiphonus" als Virgae liquescentes. Demnach sind der Cephalicus eine liqueszierende Virga recta und der „Epiphonus" eine liqueszierende Virga jacens. Mit anderen Worten: Der „Epiphonus" wird vom Tractulus hergeleitet. Die vierte Theorie, von Fleischer12 ausgesprochen, führt den „Epiphonus• auf die altgriechische Prosodeia daseia, d. h. den Spiritus asper zurüdc. Von diesem Zeichen sagt Fleischer: ,.Es ist ein sogenanntes Pneuma (Spiritus)- oder HauchzeicheHuHd
bedeutet eine ausgiebigereTonbewegung als die drei Hauptprosodiender Tovo~(toHi, Töne) angaben, die sich nur in stufenweiser FortschreitungbewegeHkonHten... Die fünfte Theorie schließlich, von Jammers 23 vorgetragen, führt die Liqueszenten auf das antike Hyphen zurüdc. ,,Das Hyphen bedeutet in der Antike das AnbiHde,i
eiHes Nebentones an deH Hauptton auf KosteH dieses Tones, da die Dauer beider TöHe durch das Metrum, d. h. die gerade vorliegeHdeSilbenlänge, festliegt. SeiHe Form ist ein Bogen." Folgerichtig deutet Jammers den Cephalicus „als unmittelbare Verbindung des Liqueszensbogensmit der Virga, die an ihrem Kopf erfolgt", und den „Epiphonus" als Verbindung des Liqueszensbogens „mit dem Punkt, der dabei oft verdeckt wird". Der „Epiphonus• stellt demnach eine Art Ligatur des Punktes mit dem Hyphen dar. Zu den angeführten fünf Theorien müssen wir vermerken, daß keine als bewiesen gelten darf. Selbst die Solesmer Theorie, die wohl am plausibelsten anmutet, entbehrt 18
Pal Mus II. 58-86: Pal Mus XIII. 189-194. Diese Deutung des .Epiphonus• deckt sidi im wesentlidien mit der Interpretation Dom L. Lambillottes. Im A,stipho,saire (S. 203) behauptet er: .C' est [l'epiphonus) e,s r~altt~ u,se espece de Podatus, et II doit produire le mlJHeeffet, avec cette diff~reHcecepe,sdaHt,que daHs l'EpiphoHus,la Hote sup~rteure ou la secoHdeest breve, taHdisque daHs le Podatus les deux Hotes soHt ~gales.• • EGM II, nof. 11 SIMG XIV, 284 f. 11 Die germaHlsdteH NeuJHeH,S. 58. 11 TafelH zur NeuHCeHsdtrtft, S. 37 f. 11
He.,,.ivocalis ( .EpipltoHus·) uHd HtWlipltoHOH
129
(was den .Epiphonus• betrifft) der Stütze durch eindeutige paläographische Befunde. Im Gegenteil: Einige Beobachtungen lassen auch diese Ableitung zumindest &agwürdig erscheinen. Denn es läßt sich zwar nicht bestreiten, daß die St. Gallener Formen des Podatus und „Epiphonus" eine gewisse entfernte Ähnlichkeit miteinander aufweisen. Der St. Gallener „Epiphonus" kann jedoch nicht kurzweg als modifizierter (genauer verlcürzter) Podatus angesprochen werden. Fassen wir nämlich den runden Podatus ins Auge, der hier in Frage kommt, so läßt er allenfalls die Andeutung einer Rundung erblicken, während beim „Epiphonus" die Rundung so stark ausgeprägt ist, daß das Zeichen einem runden Ypsilon oder einer Schale ähnlich sieht. Selbst ein Blick auf die Neumierungen unserer ältesten St. Gallener Denkmäler genügt, um den Unterschied der Formen wahrzunehmen H. Augenscheinlich ist hingegen die große graphische Ähnlichkeit des „Epiphonus" mit dem paläobyzantinisd:ien Klasma, das in den Handschriften sowohl in eckiger (v-ähnlicher) wie in runder (l!-ähnlicher) Gestalt vorkommt. Diese semeiographische Beziehung zwischen den beiden Zeichen deutet auf einen engen Zusammenhang hin. Man wird vielleicht einwenden, daß das Klasma - unseren eigenen Ausführungen nach - in den ältesten byzantinischen Quellen die eckige Form zeigt, während der gleichzeitige St. Gallener ,.,Epiphonus" rund gezeichnet wird. Einern solchen Einwand wäre entgegenzuhalten, daß graphische Varianten bestimmter Standardformen durchaus geläufig sind, vor allem wenn sie in geographisch voneinander entfernten Gebieten auftreten. Auch wäre zu berücksichtigen, daß der „Epiphonus" in einigen Handschriften eckig geschrieben wird. Das ist in erster Linie in den Denkmälern der ältesten „nordfranzösischen" Neumenschrift der Fall, wie die Aufzeichnungen des Codex Mont Renaud 25 oder des Vaticanus Reginensis lat. 1709 28 veranschaulichen. Andererseits müssen wir vermerken, daß der „Epiphonus" in Metzer und bretonischen Neumierungen, aber auch in den Codices Montpellier und Leipzig Rep. I 93, wie ein St. Gallener runder Podatus gezeichnet wird 27 • Bedenkt man jedoch, daß mehrere Metzer und bretonische Neumen auffallend stilisierte Formen zeigen, so darf wohl kaum angenommen werden, daß gerade diese „Epiphonus" -Form die ursprüngliche sei oder ihr am nächsten käme. Gegen eine solche Annahme spräche nicht zuletzt die Beobachtung, daß die Neumation des Codex Laon 239 gerade für die liqueszierenden Zeichen mehrere Sonderformen aufbietet. Nicht nur die Apostropha liquescens (s. Bsp. 589, 617) und der Oriscus liquescens (s. Kap. XX) zeigen hier eigenwillig stilisierte Formen, sondern selbst der „Epiphonus" erscheint als Bestandteil mancher Notae compositae in einer besonderen Gestalt. Man betrachte daraufhin die Beispiele ,. Siebe Bsp. 411, 465, 490, 504, 505, 507, 536, 538, 547, 572, 579, 589, 596, 598, 601, 603, 609, 612, 613, 616, 650, 660, 661, 665. 11
Faksimile-Ausgabe: Pal Mus XVI. Zur Handschrift •· G. M. Beyssac, Le graduel-aHtlpltoHalre de
.Mont Renaud, Revue de Musicologie, Jg. 39/40 (1957), 131-150. 11 Spezimen bei Suiiol, lntroductloH, S. 237 (pi. 51).
n Sowohl die Metzer als audi die bretonisdie Neumensdi.ift weisen den runden Podatus nidit auf.
Die Notae seHCivocalesuHd die HeHCiphoHa
130
(603) und (612). Während die St. Gallener Codices hier die Ligatur von rundem oder eckigem Podatus und „Epiphonus" notieren, läßt der Laoner Codex an den korrespondierenden Stellen eine Ligatur erblicken, die sich aus eckigem T orculus und einem Haken zusammensetzt.
DIE SEMASIOLOGISCHE
BEZIEHUNG
Unsere bisherigen Ausführungen dürften gezeigt haben, daß zwischen dem .Epiphonus" (recte: Hemivocalis oder Franculus) und dem Klasma in onomatologischer und semeiographischer Hinsicht so enge Beziehungen bestehen, daß man geradezu von einer Identität der Zeichen sprechen kann. An diesen Beziehungen gemessen erweist sich das semasiologische Verhältnis als weniger bindend. Etliche Berührungspunkte sind zwar gegeben; daneben dürfen jedoch auch manche Unterschiede nicht übersehen werden. An drei Punkten ist das Verhältnis der Zeichen zu verdeutlichen. 1. Der „Epiphonus" ist stets zweitönig, während das alleinstehende Klasma sowohl einstufig wie zweistufig sein kann. 2. Der liqueszierende zweite Ton des „Epiphonus" liegt immer höher als der erste. Das Intervallverhältnis der Töne kann eine Sekunde, eine Terz, eine Quarte oder gar eine Quinte betragen. Beim zweistufigen Klasma liegt dagegen der zweite Ton eine Stufe tiefer als der erste. 3. Nach der herrschenden Auffassung bedeutet die Liqueszierung eines Tones nur eine Veränderung der Aussprache, nicht aber eine Kürzung der Tondauer 28 • Demnach sind die beiden Töne des „Epiphonus• gleich lang. Beim zweistufigen Klasma dagegen ist der erste Ton um die Hälfte länger als der zweite. Dieser dritte Unterschied gilt natürlich nur unter der Voraussetzung, daß die .,metrische" Interpretation des „Epiphonus" richtig ist. Indessen, es bestehen Gründe, ihre Richtigkeit anzuzweifeln (s. weiter unten).
3. Der Cephalicusund seine byzantinischenParallelen Formen
Cephalicus: /'
J (Metz)
(St. Gallen)
Klasma und Kombinationen:
V
\V
/'\ (nordfranzösische Notation) V/
In semasiologischer Hinsicht bildet der Cephalicus bekanntlich das Korrelat zum „Epiphonus". Beide Zeichen sind zweitönig, und beide zeigen einen Hauptton und einen liqueszierenden zweiten Ton an. Dieser liegt beim „Epiphonus" höher als der erste, beim Cephalicus dagegen tiefer 29 • 18 Vgl. Jammers, Der gregoriaHlsclfe RhythH1us, S. 66 111 Die
f.; Agustoni, Gregorlanlsclfer Choral, S. 170. Graphien und Positionen des Cepbalicus veransdtaulidten die Beispiele 445, 531, SH. 577, 579,
603, 605, 614, 615, 630, 631, 659, 669.
Der Cepltalicus&eMd sdMe byzantlMisdrenParalleltM
131
Allgemein wird der Name Cephalicus (von XEq>aÄ.T), Kopf, bzw. von der Adjektiv30 form XEuoonyµai) (zwei Punkte) TQayLx6v(das Tragisdie) von füatvro (benetzen) von l; (sec:hs) u:n:6füxo;(der Angeklagte) chnx6; (der Attische)
188
Die NalfleH der lateiHisdteHNeu1MeH E. NOMINA MIT PROBLEMATISCHER ETYMOLOGIE
AHCUS Vorgeschlagene Ableitungen: von «YXm,zusammenschnüren, drücken, würgen, quälen Krümmung, Biegung, (Raillard, ExplicatioH des Heu1Hes,Paris 1859, S. 50); von ay,crov, Ellenbogen (Dom Mocquereau, Pal Mus 11, 59; H. Freistedt, Die liquesziere,rdeH NoteH des gregoriaHisdteH Chorals, Freiburg 1929, S. 33); von ayxos,Schlucht, Tal (Thibaut, Origi,re, 79); vom althochdeutschen aHcha bzw. dem mittellateinischen aHca, der Hinterkopf (Fleischer, Die ger1HaHisdteHNeu1Hen, 51 f.). Erwägenswert wäre noch eine Ableitung vom lateinischen a,rguis, Schlange. Man könnte eine solche Etymologie vor allem in Anbetracht des griechischen Terminus Afl; (Wurm) und des slavischen Neumennamens Zlffijca (die kleine Schlange) für möglich halten. Die Namen Ancus, Skolex und Zlffi/ca bezeichnen indessen nicht dasselbe Sema. Der Ancus ist eine dreitönige liqueszierende Neume ( = Sinuosa oder Climacus liquescens); Skolex ist ein Zweitname für die (zweitönige) Hyporrhoe; Zmijca nennen die altrussischen Neumentabellen die Konjunktur von Statija und Katabasma oder das bloße Katabasma. Andererseits müssen wir hervorheben, daß die drei Semata miteinander verwandt sind. Astus
(Wolfenbüttel)
In der Gerbertschen Tabelle (St. Blasien) ist der letzte Buchstabe des entsprechenden Wortes nicht eindeutig lesbar. (Es erweckt den Anschein eines verunglückten s; also gleichfalls Astus.) Thibaut (OrigiHe, 89) liest Astul und leitet das Wort von astula (= ,.copeau", Hobelspan) ab. CeHix (Wolfenbüttel) - ,,Cenir" (St. Blasien) Richtig ist die Lesart Cenix (s. weiter unten). Thibaut (OrigiHe, 86), der nur die Gerbertsche Tabelle kannte, leitet die verderbte Lesart Cenir von XEVIJQLOV( = Cenotaphium) ab. CeHtOH
Vorgeschlagene Ableitungen: von XEVTl')µa (Fleischer, Neu1HeHstudteHl, 113); von ce,rto, onis bzw. von xiv't()WV, geflicktes Kleid, Flickwerk (Thibaut, OrtgiHe, 89). Wahrscheinlich ist wohl die Ableitung von ce,rto. PiHHosa
Vorgeschlagene Ableitungen: von ,i;wviJ,Steck-, Seidenmuschel (Thibaut, Origi,re, 85); vom lateinischen pt,rna, Flügel, Feder (Fleischer, Die ger1HaHisdteHNeufffeH, 51); von viHHosa (Freistedt, a. a. 0., 33 f .). TraHfea
Vorgeschlagene Ableitungen: vom lateinischen tra1Ha, Gewebe, Weberkännchen (Thibaut, OrigtHe, 86); vom althochdeutschen trd1He, der Balken (Fleischer, Die gerHCaHisdteH Neu1HeH,51).
Die eHtlelsHteH 1"lttelgrtedtlsdteH
101d
die ortglHallatelHlsdteH Nomt11a
189
3. Die entlehnten mittelgriechischen und die originallateinischen Nomina An die vorstehende Typologie der Nomina neumarum sind mehrere Bemerkungen und Folgerungen anzuknüpfen. Zunädtst müssen wir hervorheben, daß die Nomina der ersten Klasse weder aus der griedtisdten nodt aus der lateinisdten Antike stammen, sondern direkt aus der notationstedtnisdten Onomatologie der Byzantiner. Wir erinnern daran, daß die korrespondierenden Namen in Byzanz und im Abendland jeweils den gleidten Zeidten oder den gleidten Figuren zugewiesen sind. Letzteres ist bei der Korrespondenz Qui• lisma/Kylisma der Fall. Die beiden Namen beziehen sidt zwar nidtt auf das gleidte Zeidien, wohl aber auf die gleidte Figur (s. Kap. XX). Die in der zweiten Klasse zusammengefaßten korrespondierenden lateinisdten und mittelgriedtisdten Termini dann sind ihrem Wortsinn nadt gleidt und bezeidtnen die gleidien Neumen bzw. Budtstabenneumen. Die lateinisdten Ausdrücke stellen Lehn• übersetzungen aus dem Mittelgriedtisdten dar. Die Annahme, daß die Obereinstirn• mung zufällig sein könnte, ist absurd. Man beadtte, daß diese Klasse sowohl Ton• zeidten wie Budtstabenneumen umfaßt. Signifikant ist des weiteren, daß von den Nomina der ersten beiden Klassen die meisten - nadt den Tabulae und den Traktaten zu urteilen - im Verbreitungsgebiet der lateinisdten Choralnotation, zumal im deutsdten Raum allgemein gebräudtlidt waren. Die meisten Nomina, die sidt als Lehnwörter oder Lehnübersetzungen aus dem Mittelgriedtisdten erweisen, gehören mithin zur „offiziellen" Nomenklatur. Die erstaunlidt zahlreidten Nomina der zweiten Klasse madten ihren größten Bestandteil aus. Daran gemessen, mutet die dritte Klasse unserer Typologie, die Klasse der origi• nallateinisdten Nomina, redtt besdteiden an: Sie enthält eine weitaus geringere Anzahl von Nomina. Nodt sdtwerwiegender ist aber, daß nidtt alle diese Nomina das Siegel des Offiziellen tragen: Mandte treten nur vereinzelt auf oder stellen gelehrte Bildungen dar. Von den originallateinisdten Nomina sind nur fünf als „offiziell" anzuspredten: die Virga (Virgula), die Bivirga, der Pes (Podatus), die Sinuosa und die Gutturalis. Die meisten der übrigen Nomina sind dagegen gewissermaßen singulär. So begegnet der Terminus Triangulata, soweit wir sehen, nur im Tractatulus des Anonymus Vaticanus: desgleidten sind die Ausdrücke Pandula und Gradicus außerhalb der interpolierten Fassung der Tabula brevis nidtt belegbar. Mehrfadt verbürgt ist hingegen der Ter• minus Gradatus (s. Kap. XX).
4. Die gräzisierenden, insbesondere die altgriechischen Nomina Die vierte Klasse unserer Typologie umfaßt, wie dargelegt, gräzisierende Neumen• namen. Sie sind allesamt in der notationstedtnisdten Onomatologie der Byzantiner unbekannt. Merkwürdigerweise gehören sie - bis auf drei Ausnahmen - ebensowenig
190
Die NafffeH der latdHtsdteH Neulffnt
zum Bestand der .offiziellen" lateinischen Nomenklatur. Nur drei dieser Nomina, Cephalicus, Clivis und Climacus, finden sich in der durch mehrere Abschriften verbreiteten ursprünglichen Fassung der Tabula brevis. Die restlichen Nomina sind dagegen nur in der erweiterten Fassung der Tabula überliefert 8. Alle Anzeichen deuten darauf hin, daß die gräzisierenden Termini gelehrte Bildungen sind, die in der Praxis niemals eine Bedeutung gewannen. Ober die sprachliche und musikalische Bedeutung der gräzisierenden Termini haben vor allem F.-J. Fetis• und Thibaut 10 Vermutungen angestellt, die jedoch großenteils wenig einleuchten. Eine eingehendere Untersuchung führt zu dem überraschenden Ergebnis, daß die meisten dieser Nomina der Terminologie der altgriechischen Musik entnommen oder ihr nachgebildet sind. Das mögen die folgenden Besprechungen etlicher Termini verdeutlichen. PROSLAMBANOMENON
In der altgriechischen Musiktheorie wird bekanntlich mit dem Terminus ProslaHrbaHomeHos(Zusatzton) der tiefste Ton des Systema teleion ametaboloHbezeichnet. Es bedarf wohl kaum des Hinweises darauf, daß die Darstellung dieses Systems ein wichtiges Kapitel mittellateinischer Breviarien und Traktate bildet 11• In der Wolfenbütteler Tabelle wird mit dem Namen ProslambanomenoHdie Konjunktur von episemierter Virga und sechs Puncta verzeichnet, eine Kombination, die offenbar einen siebenstufigen absteigenden Tongang illustrieren soll. eine Oktave Bedenkt man, daß im Systema ametabolon der ProslambaHomeHos tiefer als die Mese (Zentralton) liegt, so wird klar, daß der mittelalterliche Nomenklator ein Absteigen über acht Stufen im Sinne hatte. Die Graphie der Wolfenbütteler Tabelle ist demnach nicht ganz korrekt: es fehlt ihr ein Punctum. Name und Graphie des Proslambanomenon verraten übrigens deutlich eine theoretisierende Absicht. In den Neumierungen der Gesänge kommt natürlich ein achtstufig absteigender Gang nicht vor. TRIGON
Mit diesem Terminus wird ebenso in der Wolfenbütteler wie in der Gerbertschen Tabelle das Tripunctum angeführt. Den Namen verdankt das Zeichen seiner dreiedcähnlichen Gestalt und seiner .Ähnlichkeit mit dem Trigonon, dem bekannten altgriechischen Instrument 12 • 8
Codex Wolfenbüttel Gud. lat. 334 (4641) fol. 90r/v und Codex St. Blasien. Siehe oben S. H. geHerale de la 1Hustque, IV, Paris 1874, S. 201-203, 239-241.
• Htstolre 10 11
OrlglHe byzaHtlHe, 83-89.
Frutolf, Breviarium de 1Huslca et ToHartus, hrsg. von C. Vivell, Wien 1919 (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Phil.-hist. Klasse, 188 Bd., 2. Abh.), Cap. I und Cap. XIII. S. 27-32 und 97-101; Johannes Affligemensis, De Musica, Cap. XIII, CSM 1, 97-100. 11 Vgl. dazu M. Wegner, Das MustklebeH der GrledteH, Berlin 1949, S. 49 f., 203 f., 228; ders., Art. TrlgoHOH in MGG XIII, Sp. 679 f.
Die gräzislereHdeH, IHsbesoHderedie altgrleddscheH NomlHa
191
TIUGONICUS
Daß dieser Terminus in Analogie zu Trigon geprägt wurde, ist wohl augenscheinlich. Die Graphien des Trigonicus sind in den Tabellen verschieden: Die Wolfenbütteler Tabelle weist die Graphie Trigon + Virga auf, die Gerbertsche Tabelle die Ligatur von Pes und Semivocalis. Die Frage, welche der beiden Graphien original ist, läßt sich mit Sicherheit wohl kaum beantworten. Thibaut 13 bemerkt zu Recht, daß an der Ligatur der Gerbertschen Tabelle drei Winkel erkennbar sind. Andererseits liegt aber auch die Annahme nahe, daß der Nomenklator mit der Prägung Trigonicus möglicherweise eine dem Trigon ähnliche Graphie hat bezeichnen wollen. IGoN oder YGON
Auch dieser Terminus steht offensichtlich in Beziehung zum Trigon. Desgleichen wird er in den Tabellen mit verschiedenen Graphien aufgeführt. Die Wolfenbütteler Tabelle illustriert ihn mit zwei Virgae subpunctes, die Gerbertsche Tabelle mit der Konjunktur von episemierter Virga, Punctum und episemierter Virga. Wir sprechen die Vermutung aus, daß diese allem Anschein nach künstliche Wortbildung Igon oder Ygon möglicherweise für füyoovov(Zweieck) steht. Man betrachte die Gerbertsche Konjunktur, wo die beiden episemierten Virgae Winkel bilden 14• TETRADIUS
Thibaut 15leitet den Terminus von tETQafüovab, einem Wort, das er mit „reunion de quatre choses" übersetzt. In der byzantinischen Zeit bedeutet das Wort ,Heft'. Unseres Erachtens dürfte der Ausdruck Tetradius die Transkription des Terminus tETQrovo~ und n:eVTaqxovo~. Die Termini technici En:Taqxovl