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German Pages 428 [429] Year 2015
Astrid Dröse Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext
Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 191
Astrid Dröse
Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT.
ISBN 978-3-11-036336-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-036340-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039155-8 ISSN 0934-5531 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Meinen Eltern
Inhaltsverzeichnis Vorbemerkung | IX Vorwort von Günter Grass | XI I 1 2
Einführung | 1 G. G. in Telgte | 1 Problembereiche, methodische Überlegungen, Struktur | 5
II 1 2 3 4 5 5.1
Georg Greflinger – Versuch einer intellektuellen Biographie | 15 Zum Stand der Forschung | 15 Itinerar I: Regensburg–Wittenberg | 32 Itinerar II: Dresdner Hofgesellschaft | 39 Itinerar III: Schlesien | 45 Itinerar IV: Danzig und Frankfurt | 50 Handels- und Kulturmetropole mit ‚kosmopolitischem Flair‘: Danzig im 17. Jahrhundert | 51 Aspekte des kulturellen Lebens | 57 Synopse ‚Literarisches Danzig um 1650‘ – Institutionen und personelle Konstellationen im Überblick | 66 1640–1643: Greflinger im Kreis der Danziger litterati? | 77 Frankfurter Intermezzo | 84 Zurück in Danzig | 89 Itinerar V: Hamburg – Möglichkeiten der Netzwerkbildung | 90 Danziger Kontakte nach 1646 | 98 Politische Dissonanzen | 109 Hamburg | 114 Soziokulturelle Spezifika | 114 Im Kreis der Elbschwäne | 121 Kontakte zur Hamburger Bürgerschaft: Casualia | 142 Werk | 159 Zeitchronistische Schriften und Historiographisches | 160 Schauspiele | 168 Pragmatische Literatur | 175 Epigramme und Emblematik | 180 Das Greflinger’sche Unternehmen Nordischer Mercurius | 184 Zusammenfassung | 192
5.2 5.3 5.4 5.5 5.6 6 7 8 9 9.1 9.2 9.3 10 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5 11
VIII
Inhaltsverzeichnis
III 1 2 2.1 2.2 3
6 7
Greflinger und das weltliche Barocklied | 199 Bemerkungen zum Stand der Barocklied-Forschung | 199 Greflinger als Lieddichter | 208 Lieder in verschiedenen Kontexten | 209 Die Liederbücher im Überblick | 214 Die bedeutendste Sammlung: Seladons Weltliche Lieder (1651) | 230 Gestaltung und Paratexte | 230 Aufbau | 242 Aspekte der Topik | 244 Aspekte der musikalischen Gestaltung | 260 Überlegungen zur Aufführungspraxis und zur Funktion | 279 Annäherung: Exemplarische Einzelanalysen | 293 Textieren eines Tanzsatzes | 294 Thonangabe | 309 Kontrafaktur | 316 a) Übernahmen aus anderen Sammlungen | 316 b) Exkurs: Kontrafaktur und Parodie | 323 c) Zwei Beispiele | 329 Originalvertonung | 338 Zusammenfassung | 339
IV
Ausblick | 343
3.1 3.2 3.3 3.4 4 5 5.1 5.2 5.3
Literaturverzeichnis | 347 Werkverzeichnis Greflinger | 347 Quellen | 368 Sekundärliteratur | 373 Nachschlagewerke (Siglen) | 373 Forschung | 374 Anhang | 395 Metrische Merkmale der Lieder in Seladons Weltliche Lieder (1651) | 401 Notenbeispiele | 405 Namensregister | 413
Vorbemerkung Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Wintersemester 2013/2014 von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München angenommenen Dissertation. Sie wurde weitgehend im Rahmen des vom Elitenetzwerk Bayern geförderten Internationalen Doktorandenkollegs „Textualität in der Vormoderne“ verfasst. Angeregt und betreut wurde sie von meinem Lehrer Prof. Dr. Friedrich Vollhardt. Ihm bin ich nicht nur für beflügelnde Gespräche und seine scharfsinnige, präzise Kritik während der Entstehung dieser Arbeit zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet, sondern auch für die lehrreichen, prägenden Studienjahre in München. Prof. Dr. Hartmut Schick, der aus musikwissenschaftlicher Sicht das Korreferat übernommen hat, danke ich für sein Interesse an diesem interdisziplinären Projekt sowie für die freundliche Unterstützung und Beratung. Für die Erstellung des Drittgutachtens und weiterführende Hinweise danke ich Prof. Dr. Wolfgang Harms. In Bewunderung seiner enormen Sachkenntnis über Epochen- und Disziplingrenzen hinweg danke ich Prof. Dr. Frieder von Ammon für die vielen anregenden Gespräche. Prof. Dr. Inga Mai Groote war mir bei musikwissenschaftlichen Spezialfragen eine wichtige Ratgeberin – vielen Dank! Prof. Dr. Jörg Robert danke ich sehr herzlich für die Unterstützung bei der Fertigstellung der Arbeit in Tübingen. Bedanken für interessante Impulse möchte ich mich ferner bei Prof. Dr. Irmgard Scheitler und Prof. Dr. Klaus Garber. Dr. Judith Pfeiffer und OStR G. G. Giese bin ich für die sorgsame und kritische Durchsicht des Manuskripts, Christian und Klaus Ammann für die Hilfe beim Erstellen der Notentranskriptionen und der Hörproben für diverse Präsentationen zu besonderem Dank verpflichtet. Gudrun Bamberger, M. A., Marisa Irawan, M. A. und Moritz Strohschneider, M. A. haben mit großer Umsicht letztes Korrekturlesen übernommen. Ohne den Beistand meiner lieben Schwestern, die das Voranschreiten der Arbeit mit sachkundiger Kritik und ermutigender Begeisterung begleitet haben, wäre mir manches gewiss schwerer gefallen. Den Herausgebern der „Frühen Neuzeit“, insbesondere Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, danke ich für die Aufnahme meiner Studie in diese Reihe. Schließlich möchte ich mich bei Günter Grass bedanken – dass er, der meine Faszination für die Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit teilt, nach Lektüre meiner Arbeit sofort dazu bereit war, ein Vorwort zu verfassen, erfüllt mich mit großem Stolz. In Liebe und Dankbarkeit widme ich das Buch meinen Eltern. München, 30. August 2014
Vorwort von Günter Grass Mit Vergnügen und sich steigerndem Gewinn habe ich Astrid Dröses Dissertation „Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert“ gelesen. Was das Vergnügen betrifft, kommt Erstaunen dazu, denn der Autor der Erzählung „Das Treffen in Telgte“ erlebte sich überrascht, weil eine der vielen Figuren dieses gelegentlichen Werkes, nämlich Georg Greflinger, Anstoß geben konnte für eine so weitreichende und um jedes Detail besorgte wissenschaftliche Arbeit, die das bislang von der Germanistik vernachlässigte barocke Zeitalter durchleuchtet. Was den Gewinn ausmacht, haben mich alle Kapitel bereichert, in denen die Zusammenhänge zwischen Musik und Literatur, Gesang und Gedicht Thema sind. Zwar singen einige meiner Barockautoren auf dem Weg nach Telgte Paul Gerhardts Strophenlied „Nun ruhen alle Wälder“, zwar nimmt als später Gast Heinrich Schütz an dem Treffen der Literaten teil, weil er auf Suche ist nach Texten, die seiner Vertonung dienlich sein könnten, aber beim Schreiben meiner Erzählung war mir nicht bewußt und fehlte mir auch die Kenntnis, in welch reichem Ausmaß im 17. Jahrhundert Lyrik gesungen wurde, Musik und Gedicht Einklang fanden. Nun bin ich zwar wie Georg Greflinger in meinen besten Stücken Gelegenheitsdichter, zudem wie er kein „Studierter“, und habe – zugegeben – oft Schwierigkeiten mit von Germanisten für Germanisten verfaßten Ergebnissen fleißiger Arbeit, aber in diesem Fall überraschten mich der erzählende Ton, die liebevolle Besorgnis um genau benannte Einzelheiten und der leidenschaftliche Drang, bisher Unbekanntes ans Licht zu bringen. So heißt denn mein Wunsch: Möge diese von Astrid Dröse erbrachte Leistung viele Leser finden, damit auch ihnen Greflinger, ein singender Poet hohen Ranges, mit seinen lustvollen Gedichten bekannt werde. Günter Grass Behlendorf, den 18. März 2014
Les textes: oui. Mais ce sont des textes humains. Et les mots même qui les forment sont gorgés de substance humaine. Lucien Febvre, Examen de conscience d’une histoire et d’un historien¹
Mein Hertze hanget gantz an Ihr / Ich kan sie nicht begeben. In ihr ist alle Lust und Zier / Lieb und Leben. Bin ich in Nöhten / Sie kann sie mir tödten. Sie erquicket / Und ersticket Was uns drücket. Georg Greflinger, Der Music Freund²
I Einführung 1 G. G. in Telgte Und dann las Georg Greflinger, dem Dachs väterliche Gunst und Sorge gehörte: ein hoch und breit geratener Bursche, den der Krieg als Kind von der Schafsweide weg nach Regensburg verschlagen, später in schwedischen Dienst getrieben und dergestalt unruhig gemacht hatte, daß er zwischen Wien und Paris, Frankfurt und Nürnberg und den Ostseestädten andauernd unterwegs und allorts in wechselnden Lieben verstrickt gewesen war. […] Erst im folgenden Jahr sollte er in Hamburg ehelich werden, zur Ruhe kommen und ein einträgliches Geschäft besorgen, indem er, neben der Beschreibung des Dreißigjährigen Krieges in 4 400 Alexandrinerversen, eine Nachrichtenagentur zu betreiben begann und ab Ende der fünfziger Jahre die Wochenzeitung „Nordischer Mercur“ herausgab. Ganz dem Irdischen verhaftet, trug Greflinger zwei Buhlliedchen vor, die, weil witzig die Untreue feiernd wie das erste –„Als Flora eyferte …“ – oder deftig die lose Buhlerei rühmend wie das zweite –„Hylas wil kein Weib nicht haben …“ –, zum lauten Vortrag geeignet waren. Noch während der junge Mann, sich und sein soldatisches Gehabe parodierend, seine Scherze deklamierte, kam Vergnügen bei der Versammlung auf. Den Versen: „Ich will
1 Examen de conscience d’une histoire et d’un historien. (Leçon d’ouverture au Collège de France, 13 décembre 1933.) In: Revue de Synthèse. Organe du centre international de synthèse fondation Pour la science. Synthèse historique IV. Tombe VII (1934), S. 93–107, hier S. 102. 2 Georg Greflingers / Gekröhnten Poeten und Notarii P. Poetische Rosen und Dörner / Hülsen und Körner. Hamburg / Gedruckt im Jahr 1655, Nr. XXVI.
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Einführung
kein’ alleine lieben, Buhlen, buhlen ist mein Sinn …“ folgte kleines Gelächter. Nur Schütz’ wegen hielt man sich zurück. Dach und Albert, die beide ihren Spaß hatten, widersprachen dennoch Gerhardt nicht, als jener bei der anschließenden kritischen Aussprache gegen Moscherosch und Weckherlins Lob sprach: Sudelreime wie diese könne man nur in der Gosse singen.³
So beschreibt Günter Grass den zweiten Lesetag in seiner Erzählung Das Treffen in Telgte (1979), die von einer Zusammenkunft der bedeutendsten Barockautoren in dem kleinen Ort Telgte zwischen Münster und Osnabrück im Jahr 1647 handelt. Ziel der Beteiligten ist es, für die Zeit nach dem bevorstehenden Friedensschluss ihre Identität und zukünftige Funktion als Literaten neu zu definieren. Dazu lesen sie sich gegenseitig ihre Manuskripte vor, debattieren darüber und formulieren ein wortmächtiges Friedensmanifest, das am Ende der Erzählung in einem plötzlich ausbrechenden Feuer verbrennt. Das Treffen hat historisch freilich nie stattgefunden und bald schon wird klar, dass die Handlung eigentlich auf eine zweite Zeitebene projiziert werden muss: 1647 verweist auf das Jahr 1947, das zerstörte Deutschland von damals ist mit dem der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vergleichbar und die Dichter wie Gryphius, Logau, Harsdörffer, Rist und Gerhardt stehen in Verbindung zu Grass, Böll, Andersch, Celan und den anderen Mitgliedern der Gruppe 47 um Hans Werner Richter. Diese Konzeption gab dem Feuilleton reichlich Anlass, über das „Who’s who“ in „Telgte“ zu spekulieren.⁴ Hinter dem väterlichen Leiter der Versammlung, Simon Dach, entdeckte man bald Richter, Gryphius erinnert mit seiner Theorie vom „Tod der Literatur“ an Hans Magnus Enzensberger, Gruppe 47-Gast Hans Werner Henze erscheint wohl in der Maske Heinrich Schützens und der garstige, „bärbeißige Buchner“ wird als Alter Ego Marcel Reich-Ranickis aufzufassen sein. Unter den versammelten Barockdichtern befindet sich auch Georg Greflinger, den der Literaturnobelpreisträger als sympathisches enfant terrible der Dichtergruppe portraitiert. So auch in der oben zitierten Passage, in der das Tagungsritual der Gruppe 47 nachgebildet wird. Vermutlich wird Greflinger heute – selbst in literaturwissenschaftlichen Fachkreisen außerhalb der Frühneuzeit-Germanistik – wenn überhaupt, als Protagonist der Telgte-Erzählung bekannt sein. Selten begegnet man seinem Namen in Anthologien oder Literaturgeschichten, vereinzelt auch nur in Einführungsbänden zur Barockliteratur.
3 Günter Grass: Das Treffen in Telgte [1979]. Göttingen 92007, S. 74 f. 4 Vgl. die Zusammenstellung der Rezensionen bei Stephan Füssel: Erläuterungen und Dokumente. Günter Grass. Das Treffen in Telgte. Stuttgart 1999, S. 108–123.
G. G. in Telgte
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Diese aus der Sicht der Frühneuzeit-Germanistik bedauerliche Feststellung gibt Anlass, von der fiktionalen Darstellung Greflingers zu der im folgenden Kapitel beginnenden Studie mit dem Titel „Georg Greflinger und das weltliche Lied im 17. Jahrhundert“ überzuleiten. Dabei sind in der Erzählung bzw. in dem zitierten Ausschnitt bereits einige Stichworte gefallen, die Greflinger offensichtlich zu einer interessanten literarischen Figur machen (auf die historische Faktentreue kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden), aber auch für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Autor und seinem Werk relevant sind. So stehen seine bewegte Biographie, seine Kontakte und seine Vernetzung in der Gelehrtenrepublik, sein Rezipientenkreis sowie natürlich sein Werkprofil, das Journalistisches und Zeitchronistisches einschließt, im Mittelpunkt des ersten Teils der vorliegenden Studie. Davon ausgehend soll in einem zweiten Untersuchungskomplex ein bestimmtes Segment seiner literarischen Produktion genauer beleuchtet werden: Die Lieddichtung, mit der sich Greflinger als Autor im Literaturbetrieb der Zeit etablieren konnte und die darüber hinaus als repräsentatives Repertoire weltlicher Lieddichtung um 1650 einen exzeptionellen Quellenwert aufweist. Hier wird auch die bei Grass angesprochene performative Rezeptionssituation der Lieder eine Rolle spielen, wobei – diese Anmerkung sei gestattet – Grass für ein authentisches Kolorit Greflinger seine Buhlliedchen hätte singen, statt deklamieren lassen müssen. Doch dieses Detail hätte vermutlich den Referenzcharakter der Telgte-Erzählung erschwert – soweit die Germanistik jedenfalls über die Tagungsmodalitäten der Gruppe 47 informiert ist, wurde im Richter-Kreis Lyrik rezitiert und nicht, wie im 17. Jahrhundert häufig üblich, gesungen. Anderen historischen ‚Fehlern‘ in der literarischen Darstellung Greflingers, die vielleicht auf Basis der bis dato revisionsbedürftigen Greflinger-Forschung unterliefen⁵ oder der Freiheit der Fiktion geschuldet sind, mag der Leser dieser Studie bei Relektüre des Treffen in Telgte nachspüren. Auf den Greflinger der Erzählung wird in den nachstehenden Ausführungen nicht mehr die Sprache kommen. Doch soll zum Abschluss dieser einführenden Worte doch noch einmal kurz auf die Frage nach Grass’ Autorenportraits eingegangen werden. Mit anderen Worten: Wen versteckt Günter Grass hinter der Maske Georg Greflingers? Peter Rühmkorf vielleicht, der wie Greflinger als freier Autor in Hamburg wirkte und der in einem späteren Gedicht einmal herausstellte, dass er sich für den Erfolg im „Showgeschäft“ unter anderem bei „George [!] Greflinger“ und „Jaicee Gunther“
5 Grass’ Auseinandersetzung mit der Barockforschung wurde in mehreren Aufsätzen diskutiert, vgl. den Stellenkommentar und die Literaturhinweise bei Füssel (Anm. 4).
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Einführung
„die wichtigsten Griffe abgekloppt“ habe?⁶ Oder den Gruppe 47-Gast Rudolf Augstein, der als Gründer und Verleger des später in Hamburg erscheinenden Spiegel mit der Tätigkeit Greflingers als Herausgeber einer Hamburger Wochenzeitung in Verbindung gebracht werden könnte? Doch lässt sich noch eine weitere Referenzperson hinter der Gestalt Greflingers erahnen, worauf schon die Initialen G. G. hinweisen könnten: Günter Grass selbst. „Hamburg als der spätere Aufenthalt Greflingers, die Identität der Initialen in beiden Namen, die Buhllieder, die Affinität zum Fischfang und der Pragmatismus der Speisebeschaffung, die Sympathie mit dem zwischen ‚Dichtung und Wahrheit‘ nicht unterscheidenden Gelnhausen“ machen diesen Gedanken laut Verweyen und Witting durchaus plausibel.⁷ Darüber hinaus verbrachte Greflinger eine längere Zeit in Danzig, der Heimatstadt des Gegenwartsautors, und schließlich ist das Treffen in Telgte als Geburtstagsgeschenk für Hans Werner Richter konzipiert, es ist also ein „Gelegenheitswerk“ von Grass. Damit liegt der Bezug zum „Kasualdichter par excellence“⁸, Greflinger, nahe.⁹ All diese Annahmen bleiben Spekulation, da Grass es vermeidet, eindeutige Gleichsetzungen vorzunehmen. Schließlich ist Das Treffen in Telgte gewiss nicht
6 Möglicherweise spielt Rühmkorf mit „George Greflinger“ auf „George Gershwin“ an. Peter Rühmkorf: Haltbar bis Ende 1999. In: Ders.: Gedichte. Werke I. Hg. von Bernd Rauschenbach. Hamburg 2000, S. 352–354. Auch an anderer Stelle nennt Rühmkorf Greflinger als eines seiner Vorbilder. So stellt er einen Katalog von Autoren zusammen, mit denen sich die Auseinandersetzung lohne: „[…] hier also die Pindar, Bakchylides, Vergil und Rudolf Alexander Schröder, der Walther der Fürstenhymnen, der Hartmann der Kreuzlieder, der späte Freiligrath, der frühe Fontane, der halbe Becher – dort die Catull und Lukian, Villon und Greflinger, der frühe Firdusi, der gesamte Heine, der fast vollständige Brecht […].“ Peter Rühmkorf: Die Jahre die Ihr kennt. Anfälle und Erinnerungen. Werke 2. Hg. von Wolfgang Rasch. Reinbek bei Hamburg 1999, S. 299. 7 Theodor Verweyen, Gunther Witting: Polyhistors neues Glück. Zu Günter Grass’ Erzählung „Das Treffen in Telgte“ und ihrer Kritik. In: GRM N. F. 30 (1980), S. 451–465, hier S. 451 mit Rückgriff auf Rezensionen von Arnd Rühe („Was macht die Gruppe 47 im 30jährigen Krieg?“, Münchner Merkur 7./8. April 1979) und Christian Ferber („Wo Christoffel die Dichter bewirtet“, Die Welt, 24. März 1979). 8 Gerhard Dünnhaupt: Personalbibliographien zu den Drucken des Barock. Zweite, verbesserte und wesentlich vermehrte Auflage des Biographischen Handbuches der Barockliteratur. Bd. III. Stuttgart 1991, S. 1749. Im Folgenden DÜNNHAUPT mit Bandnummer und Seitenzahl. Vgl. auch das Vorwort von Grass zu vorliegender Studie: „Nun bin ich zwar wie Georg Greflinger in meinen besten Stücken Gelegenheitsdichter, zudem wie er kein ‚Studierter‘[…].“ 9 Gleichwohl deutete mir Günter Grass in einem Brief an, dass er der Greflinger-Figur in seiner Erzählung die Züge seines Freundes Peter Rühmkorf verliehen habe. („[…]. Das bin ich Georg Greflinger schuldig, dem ich in meiner Erzählung ‚Das Treffen in Telgte‘ einige Züge meines leider vor drei Jahren verstorbenen Freundes Peter Rühmkorf geliehen habe.“).
Problembereiche, methodische Überlegungen, Struktur
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in erster Linie als Schlüsselroman aufzufassen, sondern als literarischer Versuch, durch „eine gediegene Auseinandersetzung mit dem Leben und dem Werk der auftretenden Barockpoeten die Hauptfragestellungen der Gruppe 47 wiederum lebendig zu machen“.¹⁰
2 Problembereiche, methodische Überlegungen, Struktur Wie in den einleitenden Worten bereits angekündigt, verfolgt die vorliegende, interdisziplinär ausgerichtete und kulturhistorisch perspektivierte Studie eine zweifache Zielsetzung: (1) Zum einen geht es darum, eine umfassende Darstellung der intellektuellen Biographie des Barockautors Georg Greflinger zu erarbeiten. Bei diesem handelt es sich um einen bislang unterschätzten Autor – die erste und zugleich letzte monographische Abhandlung wurde 1882 vorgelegt –, den es als vielseitige, faszinierende Persönlichkeit im deutschen Literaturbetrieb des mittleren 17. Jahrhunderts zu entdecken gilt. Dabei verdient Greflinger nicht nur hinsichtlich der erstaunlichen Menge und Diversität seiner Literaturproduktion Beachtung, sondern auch, weil er einen neuen Autorentypus repräsentiert, den man sozialhistorisch bislang erst im 18. Jahrhundert einordnete: den Berufsschriftsteller, der seine Existenz sozusagen aus der Feder bestreitet. Mit dem Vorhaben, einen biographischen Ansatz zu wählen, begibt man sich freilich auf ein fachlich umstrittenes Terrain: Nachdem die literaturwissenschaftliche Fachtheorie in den 1960er- und 1970er-Jahren unter der Ägide des ‚New Criticism‘ und des Strukturalismus gegen eine ‚personalisierte Geschichtsauffassung‘ Front bezogen hatte, galt nämlich die Biographik lange Zeit als erledigt, stand sie doch unter dem Generalverdacht, die Komplexität der Vergangenheit unsachgemäß zu vereinfachen. Dabei geriet sie unter das Verdikt intellektueller Minderwertigkeit¹¹ und wurde von marxistischer und rezeptionstheoretischer Seite „als Symptom eines nicht hinreichend demokratischen Blicks auf die Geschichte“¹² grundsätzlich gebrandmarkt – ein Trend, den u. a. bereits
10 Füssel (Anm. 4), S. 9. 11 Detlev Schöttker: Der Autor lebt. Zur Renaissance seiner Biographie. In: Merkur 62 (2008), S. 442–446, hier S. 446. Vgl. den Forschungsüberblick aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive bei Tobias Winstel: Der Geschichte ins Gesicht sehen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/26 (2010), S. 41–46. 12 Hans-Ulrich Gumbrecht: Die Rückkehr des totgesagten Subjekts (FAZ Nr. 106, 7. Mai 2008, S. N3).
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Einführung
Kracauer in seinem Aufsatz Die Biographie als neubürgerliche Kunstform (1930) eingeleitet hatte.¹³ Auch für eine Literaturwissenschaft im Zeichen von Dekonstruktion, Neohistorismus im Foucault-Stil und der Medientheorie war jegliche Zuwendung zur biographischen Form nicht mehr haltbar und wurde vielmehr als Anzeichen eines „naiven Glaubens an die Kohärenz des ‚Subjekts‘ und damit an die rundum abgelehnte ‚abendländische Metaphysik‘“ betrachtet.¹⁴ Noch um die Jahrtausendwende setzte man das Verfassen von wissenschaftlichen Biographien ausdrücklich mit „akademische[m] Selbstmord“ gleich und diagnostizierte in diesem Kontext eine „Legitimationskrise“ des Genres, dem eine theoretischkonzeptionelle Fundierung fehle.¹⁵ Auf den unter dem Schlagwort „Rückkehr des Autors“¹⁶ zu fassenden Paradigmenwechsel der Literaturwissenschaft seit den späten 1990er-Jahren folgte jedoch in letzter Zeit auch die „Rückkehr zur Biographie“.¹⁷ Zunächst war von einem „biographische[n] Verlangen“¹⁸ die Rede, mittlerweile spricht man sogar
13 Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform. In: Ders.: Das Ornament der Masse [1930]. Frankfurt am Main 1970, S. 75–80. Gleichwohl hat Kracauer mit seinem Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit wenige Jahre später selbst einen Beitrag zur Gattung geleistet. Vgl. auch Leo Löwenthal: Die biographische Mode [1955]. In: Ders.: Literatur und Massenkultur. Schriften 1. Hg. von Helmut Dubiel. Frankfurt am Main 1980, S. 231–257. 14 Gumbrecht (Anm. 12). 15 Deirdre Bair: Die Biographie ist akademischer Selbstmord. In: Literaturen 7/8 (2001), S. 38 f.; Holger Dainat: Art. „Biographie²“. In: RLW 1, S. 236–238 („Die Legitimationskrise des Genres betrifft in erster Linie den kognitiven Stellenwert, weniger die Produktion. Diese erfolgt weitgehend in den herkömmlichen Bahnen, seitdem sie den Anschluß sowohl an die Theoriediskussion wie an avanciertere literarische Schreibweisen verloren hat.“ Ebd., S. 237). 16 Zu dieser literturtheoretischen Kehrtwende vom „Tod des Autors“-Postulat vgl. den Sammelband Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hg.): Die Rückkehr des Autors. Tübingen 1999 sowie die Beiträge in Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. DFG-Symposion 2001. Germanistische Symposien. Berichtbände XXIX. Stuttgart, Weimar 2002. 17 Vgl. z. B. Ina Hartwig, Ingrid Karsunke, Tilman Spengler (Hg.): Die Rückkehr der Biographien. Berlin 2002 sowie zuletzt Simone Lässig: Die historische Biographie auf neuen Wegen? In: GWU (2009) 10, S. 540–553 und Bernhard Fetz (Hg.): Die Biographie. Zur Grundlegung ihrer Theorie. Berlin 2009. Interessanterweise waren es ausgerechnet Vertreter der Annales-Schule, allen voran Jacques Le Goff, die in der geschichtswissenschaftlichen Forschung den biographischen Ansatz wieder ins Gespräch brachten. Vgl. Jacques Le Goff: „Wie schreibt man eine Biographie?“ In: Der Historiker als Menschenfresser. Über den Beruf des Geschichtsschreibers. Hg. von Fernand Braudel, Lucien Febvre u. a. Berlin 1990, S. 103–112. Vgl. auch Schöttker (Anm. 11), der u. a. die jüngsten Autor-Biographien zu Ernst Jünger und Stefan George in Hinblick auf „die Renaissance der Schriftstellerbiographie“ (S. 445) bespricht. 18 Ulrich Raullf: Der große Lebenshunger. FAZ Nr. 33, 4. März 1997, S. 33.
Problembereiche, methodische Überlegungen, Struktur
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von einem ‚biographical turn‘¹⁹; als wissenschaftliches Betätigungsfeld wird die Beschreibung von Lebensläufen aus akademischer Feder inzwischen verstärkt eingefordert – auch, um zu vermeiden, dass die Biographik vollständig zur Prärogative der schönen Literatur wird.²⁰ Mit der Rehabilitierung des Genres ging darüber hinaus ein verstärktes Forschungsinteresse an ihm selbst einher, was wiederum eine Weiterentwicklung der biographischen Methodik förderte.²¹ Im Zuge dieser Entwicklung findet auch das Sub-Genre der ‚intellektuellen Biographie‘, das in Frankreich und Großbritannien – wo die Biographik ohnehin nie einer Reanimation bedurfte – gepflegt wird, in der deutschen Forschungslandschaft seine Freunde. Ganz allgemein gesagt, erhebt eine ‚intellektuelle Biographie‘ den Anspruch, methodologisch fundiert eine Verbindung von Leben und Werk eines ‚Intellektuellen‘ herzustellen.²² Ist dieses Format aber als Präsentationsform einer barocken Werkbiographie, in unserem Fall der Georg Greflingers, geeignet? Gewiss gibt es zahlreiche Studien über Autoren des 17. Jahrhunderts, jüngeren und älteren Datums, die biographische Aspekte mit Werkanalysen verbinden und dabei relevante historische Kontexte einbeziehen,²³ ohne dass sie unter dem Label ‚intellektuelle Biographie‘ firmieren würden, wie überhaupt betont werden muss, dass das grundlegende Konzept an sich nicht neu ist.²⁴ Der
19 So veranstaltete das Deutsche Historische Institut, Washington D. C., 2004 eine Tagung zum Thema: „Toward a biographical turn? Biography in Modern Historiography – Modern Historiography in Biography.“ 20 Mit dieser Problemlage beschäftigte sich im Februar 2012 die Tagung „Wie schreibt man eine intellektuelle Biographie aus dem Archiv?“ am Forschungszentrum Gotha. Vgl. dazu den Tagungsbericht von Jan-Frederik Bandel (FAZ Nr. 29 vom 29. Februar 2012: Theorien für Verfasser von Lebensgeschichten, S. N3). 21 Christian Weber: Max Kommerell. Eine intellektuelle Biographie. Göttingen 2011, S. 15. Vgl. die von Christian Klein herausgegebenen Sammelbände: Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens. Stuttgart, Weimar 2002 und Handbuch Biographie. Methoden. Traditionen, Theorien. Stuttgart, Weimar 2009. 22 Der Untertitel von Ernst Gombrichs „Aby Warburg. An Intellectual Biography“ (London 1970) [deutsch: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie. Hamburg 1981] machte den Terminus bekannt; Bandel (Anm. 20) irrt jedoch, wenn er schreibt, dass durch die deutsche Fassung des Gombrich-Buches der Begriff ‚intellektuelle Biographie‘ hierzulande „schnell zum inflationären Zitat“ geworden sei. Das Genre wurde in Deutschland bislang eher schwach rezipiert. Zum deutschen „Sonderweg“ der Biographik vgl. Klein (Grundlagen der Biographik, Anm. 21, Einleitung), S. 16 ff. 23 Vgl. z. B. Lothar Noack: Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau (1616–1679). Leben und Werk. Tübingen 1999; Heinz Entner: Paul Fleming. Ein deutscher Dichter im Dreißigjährigen Krieg. Leipzig 1989. 24 So definiert bereits Dilthey die (wissenschaftliche) Biographie folgendermaßen: „Der Lebenslauf einer historischen Persönlichkeit ist ein Wirkungszusammenhang, in welchem das In-
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Einführung
Terminus ‚intellektuelle Biographie‘ präzisiert jedoch – beispielsweise im Vergleich zu den Bezeichnungen ‚Werkbiographie‘ oder dem Doppelbegriff ‚Leben und Werk‘ –, dass das im Zentrum der Darstellung stehende Individuum einen spezifischen ‚Autor-Typus‘ repräsentiert. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass die Frühneuzeitforschung neuerdings in einer Reihe von Untersuchungen die Existenz eines Typus ‚Intellektueller‘ für das 16. bzw. 17. Jahrhundert konstatiert hat.²⁵ Die generellen Kategorien, die dabei zu seiner Charakterisierung herausgearbeitet wurden, treffen – das wird zu zeigen sein – auf das Paradigma der vorliegenden Studie, ‚Georg Greflinger‘, zu; sie lauten: Netzwerkbildung, Nutzung und Entwicklung neuer Kommunikationsformen sowie die Absicht, mit einem gewissen „Anspruch auf Autonomie“ „in die Gesellschaft hinein zu wirken“.²⁶ Methodisch bestimmend ist es für das Vorhaben dabei, Werk und Leben in ihrer Wechselwirkung zu untersuchen, mithin die darzustellenden literarischen und musikalischen Kulturzeugnisse „aus den Bedingungen ihres Entstehens [zu] verstehen“.²⁷ In ihrer Grundanlage folgt die vorliegende Darstellung einer chronologischen Anordnung, wobei die Gefahr einer teleologischen Sinnkonstruktion, vor der schon Bourdieu hinsichtlich der Biographik gewarnt hatte,²⁸ im Blick behalten wird. Als zweite Ordnungskategorie wird eine lokale Dimension integriert: Die Kapitel sind im Wesentlichen nach den regionalen Zentren disponiert, in denen sich Greflinger aufhielt und wo seine Werke entstanden bzw. publiziert wurden.
dividuum Einwirkungen aus der geschichtlichen Welt empfängt, unter ihnen sich bildet und nun wieder auf diese geschichtliche Welt zurückwirkt.“ (Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 7. Hg. von Bernhard Groethuysen. 8. unveränderte Auflage. Stuttgart 1992, Die Biographie, S. 246). Um diesen „Wirkungszusammenhang“ zu begreifen und zu beschreiben, müssten die Aspekte bestimmt werden, die in eine wissenschaftliche biographische Darstellung einzubeziehen seien. Dazu gehörten bestimmte gesellschaftliche Strukturen und Institutionen wie „Religion, Kunst, Staat, politische und religiöse Organisationen“, die den Spielraum des Individuums definierten. Ebd. 25 Jutta Held (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. München 2002; Luise Schorn-Schütte (Hg.): Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Berlin 2010. 26 Schorn-Schütte (Anm. 25, Einleitung), S. 9. 27 So definiert Max Weber den Aufgabenbereich der „historischen Kulturwissenschaft“ in seinem Aufsatz „Wissenschaft als Beruf“ (1919, wiederabgedruckt in ders., Gesammelte Werke zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1982, hier S. 600). Vgl. ferner die Einführung bei Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. München 2008, v. a. S. 10 f., dessen Lessing-Monographie den Charakter einer intellektuellen Biographie hat, ohne dass dieser Begriff explizit aufgegriffen würde. 28 Pierre Bourdieu: Die biographische Illusion. In: BIOS 3 (1990), S. 75–81 [frz. 1986].
Problembereiche, methodische Überlegungen, Struktur
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Die Rekonstruktion des Kulturlebens eines solchen Zentrums mit seinen Akteuren und deren sozialer Vernetzung tritt insbesondere im Danzig-Kapitel in den Mittelpunkt der Darstellung. Vor dem entfalteten Panorama wird Greflingers Agieren in diesem Kosmos untersucht. Bei den Ausführungen zu seinen Hamburger Jahren, die realhistorisch die umfangreichste Periode im Leben Greflingers ausmachen, rückt die Beschreibung der journalistischen und literarischen Produktion in den Mittelpunkt. Hier verlagert sich die biographische Darstellung hin zu einer gattungssystematischen Betrachtung der Untersuchungsgegenstände – das sind sämtliche bibliographisch nachweisbaren Schriften Greflingers mit Ausnahme der Lieddichtung und der Casualia²⁹ – und, damit einhergehend, der überblickartigen, kontextualisierenden Kommentierung der einzelnen Werke bzw. Werkgruppen. Darüber hinaus wird in den Hamburg-Kapiteln die enge persönliche Verbindung zu Johann Rist nachzuzeichnen sein, die die aktuell sehr agile RistForschung bislang – unter anderem auf Grund von Fehlzuschreibungen – noch in keiner Weise zur Kenntnis genommen hat. Probleme für das Vorhaben bereitet generell die Quellenlage: Archivalien wie Tauf- und Sterbeeinträge in Kirchenbüchern, Kaufverträge, eine Bürgerurkunde oder gar Briefe³⁰ konnten trotz intensiver Recherchen und Nachfragen in den Bibliotheken und Archiven von Hamburg, Danzig und Frankfurt am Main nicht ausfindig gemacht werden.³¹ Einiges wird dem Brand der Hamburger Stadtbibliothek zum Opfer gefallen sein, auch Kriegsverluste sind zu verzeichnen. Somit bleibt Greflingers Schrifttum selbst, vor allem seine überlieferte Gelegenheitsdichtung sowie Vorreden zu literarischen Werken, die zentrale Quelle. Diesen Texten soll hier – im Bewusstsein ihrer literarischen Gemachtheit – die Qualität von ‚EgoDokumenten‘³² zugeschrieben werden.
29 Die Casualia werden ausführlich in den Danzig- und Hamburg-Kapiteln besprochen. Die Lieder sind Gegenstand des zweiten Teils der Arbeit. 30 Zu dem einzig überlieferten Brief vgl. S. 156 f. 31 Zum Vergleich: Für die jüngste Werkbiographie Sigmund von Birkens konnte Hermann Stauffer „5000 beschriebene Manuskriptblätter und über 2000 Briefe“ auswerten und auf die hinterlassene Handbibliothek des Autors zurückgreifen (Sigmund von Birken [1626–1681]: Morphologie seines Werkes. 2 Bde. Tübingen 2007, hier Bd. I, Einleitung, S. XXXIIf.). Auch für die biographische Studie zu Georg Neumark (Michael Ludscheidt: Georg Neumark [1621–1681]. Leben und Werk. Heidelberg 2002) konnte der Verfasser amtliche Akten aus diversen Archiven sowie einen Briefwechsel mit Sigmund von Birken und Harsdörffer auswerten. Hinzu kommen die Schreiben, die Neumark als Erzschreinhalter der Fruchtbringenden Gesellschaft an diverse Personen und Institutionen verfasst hat. 242 Briefe aus diesem Kontext konnten einbezogen werden. (Ebd., S. 18 f.). 32 Winfried Schulze: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Berlin 1996.
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Einführung
Ziel der Arbeit war es, sämtliche verfügbaren Texte Greflingers zu sichten und in eine kommentierte Bibliographie aufzunehmen. Gerade im Hinblick auf die Casualia sind diesem Unternehmen erhebliche Schwierigkeiten begegnet. Casualia wurden lange als Literatur minderer ästhetischer Qualität eingestuft und entsprechend unzureichend ist häufig die bibliographische Erfassung der Texte.³³ Trotz ausgiebiger Recherchen ist davon auszugehen, dass ein guter Teil von Greflingers Gelegenheitsschrifttum noch nicht erfasst ist (oder auch nie erfasst werden wird). Mit Ausnahme der Verschronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg liegen außerdem keine modernen Editionen von Greflingers Werken vor; die meisten Texte standen zu Beginn der Arbeit auch noch nicht als Digitalisate zur Verfügung (viele auch momentan noch nicht), so dass ein Großteil des besprochenen Materials die Autopsie vor Ort – in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel (im Folgenden HAB), in der Niedersächsischen Staats- und Landesbibliothek Göttingen, in der Commerzbibliothek der Handelskammer Hamburg, in der Forschungsbibliothek Gotha und der Bayerischen Staatsbibliothek München – verlangte (freilich mit allen Vorteilen, die die Begegnung mit ‚authentischem‘ Material auch mit sich bringt). Weiteres Material, wie zahlreiche Ausgaben des Nordischen Mercurius sowie die Greflinger-Bestände aus den Thorner und Danziger Bibliotheken konnten – dank Unterstützung des Instituts für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund sowie des Interdisziplinären Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, Osnabrück³⁴ – durch Zusendung von Kopien und Mikrofilmen untersucht werden. Da die zu besprechenden Texte in den jeweiligen Passagen der Darstellung vorgestellt werden, kann auf einen Quellenbericht vorab verzichtet werden. Die vorliegende Arbeit kann sich ferner auf einige Abhandlungen (meist in Aufsatzform) zu Greflinger stützen. Diese werden in einem Forschungsbericht vorgestellt und kommentiert. (2) Mit der Darstellung der intellektuellen Biographie Greflingers will sich die vorliegende Studie nicht begnügen, sondern sie will darüber hinaus auch durch einen konkreten Analyse-Teil erste Impulse für eine Greflinger-Forschung lie-
33 Häufig, wie auch im Fall der erhaltenen handschriftlichen Verzeichnisse der Hamburger Bibliotheken, sind die Einträge alphabetisch nach anlassstiftenden Personen sortiert, die Namen der Autoren fehlen hingegen. Die Aufzeichner hatten ein „speziell personenkundlichbiographisches“ Interesse. Klaus Garber: Umrisse eines Projekts. In: Göttin Gelegenheit. Das Personalschrifttums-Projekt der Forschungsstelle „Literatur der Frühen Neuzeit“ der Universität Osnabrück. Unter redaktioneller Bearb. v. Stefan Anders und Martin Klöcker. Osnabrück 2000, S. 28–30, hier S. 29. 34 Hier gilt mein besonderer Dank Sabine Beckmann, M. A.
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fern und zugleich einen Beitrag zur Schließung einer weiteren Forschungslücke leisten. Es soll nämlich erstmals anhand des Liedschaffens eines Autors exemplarisch die weltliche Liedkultur der Barockzeit beleuchtet werden. So rückt in einem zweiten Teil dieses Segment von Greflingers heterogenem und umfangreichem Schrifttum ins Zentrum. Aus mehreren Gründen verdient es besondere Beachtung: Erstens: Die ökonomische Sicherung seiner Existenz konnte Greflinger seit Ende der 1650er-Jahre in erster Linie durch die Gründung eines Zeitungsunternehmens erreichen. Seine Reputation als Literat, die sich in der Krönung zum Poeta laureatus und der Aufnahme in den Elbschwanenorden manifestiert, gründete jedoch primär auf der Wertschätzung, die die Zeitgenossen seinen Liedern entgegenbrachten. Zweitens: Aus der Perspektive der Liedforschung stellen Greflingers vier Sammlungen, Seladons Beständige Liebe (1644), Seladons Weltliche Lieder (1651), Poetische Rosen und Dörner (1655) und Celadonische Musa (1660) einen vielversprechenden Untersuchungsgegenstand mit exemplarischem Quellenwert dar. So ist anzunehmen, dass Greflinger aus existenziellen Gründen auch in diesem Sektor daran interessiert war, die Geschmacksnorm des anvisierten Publikums optimal zu bedienen. Sein Repertoire repräsentiert daher, so die Überlegung, die musikoliterarischen Vorlieben eines bestimmten Rezipientenkreises in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Um diese Annahme zu überprüfen und zu weiterführenden Thesen auszubauen, ist eine Kontextanalyse nötig, die biographische Aspekte des Autors, die Funktion des Liedes im bürgerlichen Stadtleben sowie die Aufführungssituation berücksichtigen muss. Beim Blick auf die lebensweltliche Verankerung soll jedoch das musikoliterarische Produkt selbst keinesfalls aus den Augen verloren werden. Vielmehr wird der Versuch unternommen, einem methodischen Vorschlag Nicole Schwindts folgend, die „Schwierigkeit eines Brückenbaus zwischen konkreten Kompositionen [hier: musikoliterarischen] und ihrer spezifischen musikalischen [hier: und literarischen] Struktur einerseits und andererseits generellen Faktoren von Kultur“ zu meistern.³⁵ Die Herausforderung besteht in vorliegendem Fall zusätzlich darin, dass eine Analyse der interessierenden Lieder nur unter literatur- und musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten adäquat erscheint, also noch ein weiterer „Brückenbau“ notwendig ist. Gerade diese interdisziplinäre Analysekompetenz stellt generell häufig ein Hindernis bei der Beschäftigung mit dem Lied
35 Nicole Schwindt: Konzepte der Alltagsgeschichte und die musikalischen Alltage in der beginnenden Neuzeit. In: Musikalischer Alltag im 15. und 16. Jahrhundert. Hg. von ders. Kassel u. a. 2001, S. 9–21, hier S. 13.
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Einführung
dar und ist mit ein Grund für den immer noch desolaten Zustand der Barockliedforschung. Hinzu kommt, dass gerade das weltliche Barocklied als Gebrauchskunst minderer ästhetischer Qualität eingestuft wird und neben anderen sich im 17. Jahrhundert entwickelnden musikalischen sowie literarischen Gattungen in den Hintergrund tritt, und zudem die Überlieferungslage (die Liedtexte zirkulierten häufig ohne Notation oder nur mit Melodienangabe) die Auseinandersetzung mit dem musikalischen Material erschwert.³⁶ Vergleichbar angelegte Projekte zu weltlichen Barockliedautoren und ihrem Werk liegen nicht vor. Daher reagiert die vorliegende Arbeit mit dem interdisziplinären Ansatz aus einer methodisch kaum erprobten Position heraus auf die Aufforderung, die für das Vorankommen der Barockliedforschung notwendigen exemplarischen Fallstudien vorzulegen.³⁷ Der zweite Teil der Arbeit ist dabei folgendermaßen konzipiert: Auf eine Beschreibung des Forschungsstandes zum Barocklied folgt ein Überblick über Greflingers Liedschaffen, denn das Lied spielt in seinem Werk in verschiedenen Zusammenhängen eine Rolle (Lieder in Schauspielen, politische Lieder in chronistischen Schriften, Lieder in Gelegenheitswerken), wobei die aus dem biographischen Teil gewonnenen Erkenntnisse in die Darstellung einfließen. In den Mittelpunkt der Betrachtung rücken anschließend die vier genannten Liederbücher, vor allem die Sammlung Seladons Weltliche Lieder (1651), das einzige Liederbuch Greflingers, dem auch Notenmaterial beigefügt ist und das als sein bedeutendster Beitrag zum Barocklied gelten kann. Auf Grundlage einer Beschreibung der thematischen, metrischen und musikalischen Aspekte dieser Sammlung werden in einem eigenen Kapitel Überlegungen zum konkreten Rezipientenkreis, zur sozialen Funktion und zum Aufführungskontext angestellt. Gerade die Untersuchung der performativen Komponente wird unter anderem deutlich machen, dass dem weltlichen Barocklied eine bislang völlig unberücksichtigte, da bei Betrachtung des Materials quasi unsichtbare ‚dritte mediale Dimension‘ innewohnt: der Tanz. Zu ausgewählten Liedern werden schließlich Einzelanalysen durchgeführt. Dieses Kapitel ist im Wesentlichen nach den drei Produktionsverfahren disponiert, die Greflinger zur ‚Herstellung‘ seiner Lieder einsetzte: Textieren von Tanzsätzen, Thonangaben,³⁸ Kontrafaktur. Besondere Aufmerksamkeit wird dem Ver-
36 Ausführlich wird in einem Forschungsüberblick auf diese Problembereiche eingegangen. 37 Zu den Desideraten der Barockliedforschung s. Jörg Krämer: Probleme und Perspektiven der Lied-Forschung. In: Das Lied im süddeutschen Barock. Hg. von dems. und Bernhard Jahn. Frankfurt am Main 2004, S. 14–33, hier S. 30–32. 38 Verwendet wird die historische Schreibweise des Terminus.
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hältnis von Worttext und Musik entgegengebracht und mit der Entwicklung eines neuen historisch-systematischen Begriffs (‚doppelte Textualität‘) dabei versucht, eine spezifische intertextuelle Spielart der Kontrafaktur zu beschreiben. Eine wichtige Aufgabe stellt es in diesem Zusammenhang dar, die von Greflinger nicht als solche markierten Tonsätze aus anderen Sammlungen sowie die annoncierten Thonangaben zu identifizieren, was von Werner Braun und Ferdinand van Ingen als wichtiger und anspruchsvoller Bereich der Barockliedforschung benannt worden ist.³⁹ Es wird sich zeigen, dass sich Greflinger seine Tonsätze vor allem von den Größen des Barockliedes – Heinrich Albert, Johann Rist und Gabriel Voigtländer – ‚leiht‘. Schließlich soll anhand von Studentenliederbüchern und ‚kommerziellen‘ Liedersammlungen gezeigt werden, wie verbreitet und populär Greflingers Lieder in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewesen sein müssen – so populär, dass Grimmelshausen ein Greflinger-Lied bald schon im sprichwörtlichen Sinne verwenden konnte. Im Anhang findet sich ein kleiner Serviceteil. Er beinhaltet eine Tabelle, die die wichtigsten formkonstitutiven Gestaltungsmittel der Lieder aus Seladons Weltliche Lieder aufführt sowie die Transkription der schwerpunktmäßig besprochenen Lieder. Eine kommentierte Werkbibliographie geht diesem Teil voraus.
39 Werner Braun: Lieder ohne Noten: Christian Brehme (1637 und 1640). In: Festschrift für Walter Wiora zum 90. Geburtstag. Hg. von Christoph-Hellmut Mahling, Ruth Seiberts. Tutzing 1997, S. 24–33, hier S. 24 und Ferdinand van Ingen: Der Stand der Barocklied-Forschung in Deutschland. In: Weltliches und Geistliches Lied des Barock. Studien zur Liedkultur in Deutschland und Skandinavien. Hg. von Dieter Lohmeier, Berndt Olsson. Amsterdam 1979, S. 3–18, hier S. 8.
II Georg Greflinger – Versuch einer intellektuellen Biographie 1 Zum Stand der Forschung Marian Szyrocki zählt Greflinger zu den „interessantesten Gestalten der zweiten Generation der Dichter, die im Banne von Opitz standen“⁴⁰, der Zeitungsforscher Elger Blühm bezeichnet ihn als eine „der vielseitigsten und fesselndsten Schriftstellerpersönlichkeiten seiner Zeit“⁴¹ und Klaus Garber spricht von Greflinger als einem „genialen Einzelgänger.“⁴² Man begegnet Greflinger in zahlreichen Kontexten, beispielsweise in Wilfried Barners Barockrhetorik ebenso wie in JörgUlrich Fechners Der Antipetrarkismus, in Werner Brauns Musik des deutschen Barockliedes und in Günther Berghaus’ Untersuchungen zur Aufnahme der englischen Revolution in Deutschland 1640–1669. Auf seine Bedeutung als Dichter und Journalist wird dabei stets verwiesen und doch ist seit der Dissertation von Wolfgang von Oettingen (1882) keine monographische Abhandlung zu Greflinger erschienen. Ein Blick auf gelehrte Urteile über Greflinger und wissenschaftliche Untersuchungen zu seinem Werk kann diese Tatsache vielleicht erklären:
40 Marian Szyrocki: Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung. Stuttgart 1979, S. 179. Niefangers Kritik, Szyrockis Auswahl sei nicht repräsentativ und er halte sich nur an „damals schon anerkannte Größen der Barockdichtung“ (Barock. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart ³2012, Kap. 2.1.) trifft nicht in allen Bereichen zu. In der einer Einführung gebotenen Kürze werden z. B. im Bereich der weltlichen Lyrik auch nicht ‚kanonische‘ Autoren wie Homburg, Schrimer und eben Greflinger mit Beispieltexten vorgestellt. Niefanger hingegen verzichtet auf diese Vertreter des weltlichen Barockliedes. Er beschreibt zwar kurz, was unter dem „Label ‚Leipziger Dichtung‘“ in Literaturgeschichten allgemein subsummiert werde, nämlich, Meid zitierend, „Werke einer Reihe von Dichtern […], die in den dreißiger und vierziger Jahren in Leipzig lebten und sich durch eine enge Anlehnung an die Opitz’schen Muster auszeichneten.“ Außer Paul Fleming wird aber im Folgenden kein einziger der Leipziger Dichter erwähnt. Auch Greflinger, dessen Verschronik vom Dreißigjährigen Krieg Niefanger andernorts als bedeutend einstuft (Dirk Niefanger: „Die Welt vol Schrecken“. Die Schlacht bei Wittstock in Georg Greflingers Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg. In: Simpliciana XXXIII [2011], S. 255–270) wird nicht besprochen. 41 Elger Blühm: Ein Dichterbesuch in Hamburg 1668. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 48 (1962) S. 111–121, hier S. 115. 42 Klaus Garber: Zum Gedenken an Anthony J. Harper. In: Daphnis 40 (2011), S. 715–719, hier S. 719.
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Georg Greflinger – Versuch einer intellektuellen Biographie
Ein frühes Urteil über den wohl 1677 verstorbenen Autor⁴³ findet sich in Michael Kongehls 1681 veröffentlichter Schrift Unvorgreiffliches Bedencken über die bekanntesten Poeten hochdeutscher Sprache.⁴⁴ Greflingers Verse seien nach gemeinem Schrott und Korn / und ist keine sonderbahre Poetische Elocutio darinn zu finden / Einen lustigen Schertz zu schreiben / ist ihm keine Mühe gewesen / doch hat er auch etzliche ehrbahre Lebens-Regulen in kurtze deutsche Verse gebracht⁴⁵ / das vornemste unter seinen Poetischen Dingen ist die Uebersetzung des carminis, welches Jacob Cats in Hollandischer Sprache / unter dem Titel des Traurings / von der Ehelichen Liebe hat heraus gegeben.⁴⁶
Eine andere Tendenz ist bei Erdmann Neumeister erkennbar. Seine bei Zeitgenossen wegen des scharfen und oft spöttischen Tons berüchtigte Darstellung De Poetis Germanicis (1695)⁴⁷ erwähnt verhältnismäßig wohlwollend Greflinger als „Poёta ingeniosus“, der sich durch „Poёmatibus dictionem nunc floridam, nunc marcidam, nunc duriusculam, nunc mollem“ einen Namen gemacht habe. Genannt werden die Liederbücher Seladons Weltliche Lieder und Poetische Rosen und Dörner, die Erneuerte Löfelerei-Kunst, das Versepos Der Deutschen DreyßigJähriger Krieg sowie Greflingers Ripa-, Corneille- und Cats-Übersetzungen. Bemerkenswert ist Gottscheds ausführliche Behandlung der Cid-Übersetzung, die „ob sie zwar bey jetzigen Zeiten alt und verächtlich ist, doch noch zeigen kann, daß man vor 80 Jahren auch unter den Deutschen einen Unterscheid unter guten und schlechten Schauspielen habe machen können.“⁴⁸ Ist Greflinger der Neumeister- und Gottsched-Generation also offenkundig noch ein Begriff, scheint er Mitte des 18. Jahrhunderts in gelehrten Kreisen in Vergessenheit geraten zu sein:
43 Ein Sterbeeintrag konnte bislang nicht ausfindig gemacht werden. 1678 spricht der Altonaer Zeitungsherausgeber Johann Frisch in seinen „Erbauliche Ruh=stunden oder Unterredungen“ vom „seeligen Herrn Greflinger“ (S. 586). 44 M. K. C. P. C. Unvorgreiffliches Bedencken / Uber die Schrifften derer bekanntesten Poëten hochdeutscher Sprache zusammen getragen Und zum erstenmahl Anno 1681 gedruckt in Hamburg / Bey Georg Rebenlein, S. 52 f. Nachzulesen auch bei Leonhard Neubaur: Georg Greflinger. Eine Nachlese. In: Altpreußische Monatsschrift N. F. 27 (1890), S. 476–503, hier S. 503. 45 Gemeint sind vermutlich Greflingers Epigramme. 46 Greflinger übertrug mehrere Gedichte aus Cats’ Werk für Epithalamien. 47 Erdmann Neumeister: De Poetis Germanicis. Lateinischer Text, Nachdruck d. Ausgabe 1695, Übersetzung von Günter Merwald. Hg. von Franz Heiduk in Zusammenarbeit mit Günter Merwald. Bern, München 1978, S. 174 f. 48 Beyträge zur Cristischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit IV. Hg. von einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. Begr. von Joh. Ch. Gottsched u. a. Reprint Hildesheim, New York 1970, S. 294.
Zum Stand der Forschung
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Wer ist der Dichter, der unter diesem Namen 1657: Der deutsche dreißigjährige Krieg, poetisch erzählt, in 8. herausgegeben hat? Das Gedicht besteht aus zwölf Büchern oder Teilen, wie er sie nennt, und verdient, bekannter zu sein. Unter dem Namen Celadon hat sich sonst George Greflinger, ein hamburgischer Notarius, der gleichfalls um die Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte, versteckt und verschiedene poetische Sammlungen ausgehen lassen, wie ich bei dem Placcius finde. Aber da sich dieser mein Celadon von der Donau schreibt, so kann es der hamburgische Greflinger wohl nicht sein.
So schreibt Lessing über „Celadon von der Donau“.⁴⁹ Die Entschlüsselung des Namens in dem genannten Pseudonymen-Lexikon irritiert ihn wegen des Herkunftsepithetons. Außerdem scheint die erwähnte Verschronik nicht in die bei Placcius sehr knapp ausgeführte Bibliographie zu passen, in der lediglich zwei Lied-Sammlungen und zwei Übersetzungen genannt werden.⁵⁰ In einem anderen Zusammenhang kommt Lessing nochmals auf „Gräfflinger“ zu sprechen. Er ordnet ihn hier zusammen mit Kindermann dem „Schwanen Orden“ Johann Rists als dessen „vornehmste Glieder“ zu.⁵¹ Noch am Ende des Aufklärungsjahrhunderts bahnte sich eine Wiederentdeckung Greflingers an: Der literarisch interessierte Major Heinrich Bretschneider machte seine Berliner Bekannten Friedrich Nicolai und Karl Wilhelm Ramler auf die Lieder des bereits in Vergessenheit geratenen Dichters aufmerksam. Bevor er zu einer Kritik an „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand, ein Schauspiel Der Verfaßer D. Göthe, ein junger Rechtsgelehrter […] ein unglücklicher Nachahmer von Shakespar“ anhebt, heißt es in Bretschneiders Schreiben (1773): Fragen Sie ihn [Ramler] doch, ob ihn [sic] kein Dichter des vorigen Jahrhunderts nahmens Georg Greflinger bekannt sey? Ich finde weder im Morhof noch wo anders geringste Spur seines Gedächtnisses und doch scheint er mir gewiß nicht, der schlechteste seiner Zeit zu seyn.⁵²
49 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hg. von Karl Lachmann. 3., auf’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. Reprint Berlin 1968, Bd. 16, Kap.: Zur Gelehrten Geschichte und Literatur, S. 238. Greflinger hatte 1657 die 5030 Alexandriner umfassende Verschronik unter dem Namen „Celadon von der Donau“ veröffentlicht. 50 „Ejus nomen proefixum gerunt (1) weltliche Lieder […] Francof. 1657 (2) Celadonische Musa […] 1663 / Utriusque scripti Auctor est Georg. GREFFLINGER Notarius publicus Hamburgensis. Poëta hic laureatus notissimus mihi olim & versionibus ex Gallico aliquot nunc non succurrentibus & Recessu Civico nostro Anni 1603. ex Saxonia inferiori dialecto in superiorem absurdissima, de qua Anonymis.“ Vicentius Placcius: Theatrum Anonymorum Et Pseudonymorum. Ex Symbolis & Collatione Virorum per Europam Doctissimorum ac Celeberrimorum […]. Hamburgi 1708, Nr. 596, S. 171. 51 Lessing (Anm. 49), Bd. 15, Kap.: Collectanea, S. 196. 52 Zitiert nach Lutz Mackensen: Ein frühes Urteil über Goethes Götz. In: Goethe 23 (1961), S. 316– 333, hier S. 329.
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Doch Ramler war bereits zuvor auf Greflinger gestoßen. Zwei Lieder aus der Sammlung Seladons Weltliche Lieder hatte er bereits 1766 in seine Lieder der Deutschen⁵³ aufgenommen: „Hylas will kein Weib haben“ und die dazugehörige Palinodie „Wiederruf“, jedoch ohne Verfasserangabe oder Datierung.⁵⁴ Herder, der dem unhistorischen Ansatz Ramlers mit heftiger Kritik begegnete, berücksichtigt Greflinger in seinen Volksliedern nicht. Jedoch führte sein Aufruf zur Wiederentdeckung der nationalen Literaturen bekanntlich nicht nur zu einer modernen Wirkungsgeschichte einzelner Barocklieder (man denke an Heinrich Alberts „Anke auff Trauw“), sondern regte generell die historische Aufarbeitung der nationalen Literatur, auch der barocken Lyrik, an.⁵⁵ In die berühmteste Umsetzung des Herder’schen Programms, Arnims und Brentanos Des Knaben Wunderhorn, fand das Ehelied „Lasset uns scherzen“ aus Greflingers Seladons Weltliche Lieder Aufnahme.⁵⁶ In der Folgezeit gilt Greflinger den Literarhistorikern des 19. Jahrhunderts vorwiegend als Dichter von „leichten, scherzhaften Liedern, obgleich auch seine ernsthaften Dichtungen weltlichen und religiösen Inhalts keineswegs ohne Werth, sie vielmehr von wahrem Gefühl durchdrungen sind und sich, wie seine Gedichte überhaupt, in gewandter, wohllautender und zugleich reicher Sprache bewegen.“⁵⁷ Die „bis zum Leichtsinn sich steigernde Heiterkeit“ und „volksthümliche Ader“ der weltlichen Lieder wird dabei als Ausdruck seiner „südliche[n] Abstammung“ gesehen.⁵⁸ Oft als Vertreter einer ‚volkstümlichen‘ Literatur im Zeitalter der ‚sprachlich-geistigen Fremdherrschaft‘ dargestellt, fällt auf Greflinger in diesen Darstellungen ein durchaus positives Licht. So ist er für Gervinus als Vertreter der weltlichen Lyrik nach Opitz von Bedeutung. Gemeinsam mit Jacob Schwieger und Philipp von Zesen zählt er ihn zum „Kleeblatt“ der Barocklyriker, „die vor allen anderen Zeitgenossen den Namen weltlicher und erotischer
53 Karl-Wilhelm Ramler: Lieder der Deutschen. Berlin 1767/1768, S. 45. 54 In einer späteren Auflage fügt Ramler auch Noten bei. In seine Lyrische Bluhmenlese (Leipzig 1778, Bd. 2, S. 45 f.) werden beide Lieder übernommen und auf 1650, korrekt wäre 1651, datiert. Jedoch nennt er auch hier keinen Autornamen. Zu Ramlers Auswahlkriterien und seinem editorischen Verfahren vgl. Dieter Martin: Barock um 1800. Bearbeitung und Aneignung deutscher Literatur des 17. Jahrhunderts von 1770 bis 1830. Frankfurt am Main 2000, S. 94. 55 Ebd., S. 97. 56 Achim von Arnim, Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Alte Deutsche Lieder. Bd. 1. Heidelberg 1806, S. 181. 57 Heinrich Kurz: Geschichte der deutschen Literatur mit ausgewählten Stücken. Bd. 2. Leipzig 1856, S. 287. 58 Ebd.
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Dichter verdienen.“⁵⁹ Gervinus hebt die „freiere Dichtungsweise“ dieser drei Autoren hervor, konstatiert also eine gewisse poetische Autonomie in Hinblick auf zeitgenössische literarische Konventionen. Diese bringt der liberale Literaturprofessor in Zusammenhang mit dem kulturellen Geist der Freien Reichsstadt Hamburg, wo Greflinger, Schwieger und Zesen vornehmlich wirkten sowie mit dem „Weltmännische[n] ihres Lebens“, womit er auf die Reisen und unsteten Wanderjahre der drei Autoren anspielt. Durch seine Verbindungen zu anderen literarischen Zentren, insbesondere Sachsen – die Freundschaft zu August Augspurger wird genannt – baue Greflinger gewissermaßen eine Brücke zwischen den Leipzigern und Hamburgern.⁶⁰ Ein Gedanke, den man verstärkt bei Otto Friedrich Gruppe oder später dann bei Nadler findet, der aber auch in der neueren Forschung (z. B. von Harper) aufgegriffen wird. Die Abhandlung des Philosophen, Philologen und Dichters Otto Friedrich Gruppe, in der Greflinger ein umfangreiches Kapitel zugestanden wird, bedarf genauerer Betrachtung.⁶¹ Als dezidierter Anti-Hegelianer hatte er sich ins Abseits der philosophischen Disziplin seiner Zeit gestellt, mit der universitären Philologie stand er durch sein freimütiges Bekenntnis zu einer ästhetisch-literarischen Perspektive auf Kriegsfuß. Gruppes Leben und Werk deutscher Dichter. Geschichte der deutschen Poesie in den drei letzten Jahrhunderten erschien 1864 bis 1872 in fünf Bänden. Der erste Band behandelt die deutsche Dichtung von Weckherlin bis zur ‚Zweiten Schlesischen Schule‘ und ist im Wesentlichen nach den 14 abgehandelten Autoren gegliedert, hinzukommen Kapitel zu poetischen Gesellschaften und regionalen Spezifika. Gruppe, Schüler von Lachmann in Berlin, versteht sich als Vertreter einer neuen Literaturgeschichtsschreibung, die sich nicht auf biobibliographische Aufgaben beschränke, sondern exemplarische Werke historisch kontextualisiere und kulturgeschichtlich einordne, ohne dabei freiwillig der Literatur ihr „eigenes Leben“ abzusprechen. Vielmehr solle das der „Dichtung Eigene“ ins Zentrum gerückt werden, um einer möglichen ideologischen Vereinnahmung entgegenzuwirken.⁶² Nationale Literaturgeschichte im Zusammenhang mit europäischen Transferprozessen zu betrachten, ist dabei
59 Georg Gottfried Gervinus: Handbuch der Geschichte der poetischen National-Literatur der Deutschen. Bd. III. 2. Auflage. Leipzig 1842, S. 354 f.; Karl Goedecke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 2. Hannover 1859, S. 88. 60 Gervinus (Anm. 59), S. 354 f. 61 Zu Leben und Werk des vielseitigen Denkers vgl. Ludwig Bernays (Hg.): Otto Friedrich Gruppe 1804–1876. Philosoph, Dichter, Philologe. Freiburg 2004. 62 Otto Friedrich Gruppe: Leben und Werke deutscher Dichter. Geschichte der deutschen Poesie in den drei letzten Jahrhunderten. Bd 1. München 1864, Vorwort, S. VI.
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Georg Greflinger – Versuch einer intellektuellen Biographie
seine Agenda (sein sonstiges literaturgeschichtliches Interesse gilt der Übersetzung).⁶³ Interessant ist die Auswahl der abgehandelten Dichter. Beginnend mit Weckherlin werden in fast chronologischer Folge Opitz, Fleming, Ringwaldt, Heermann, Gerhardt, Gryphius, Logau, Scheffler, Spee, Greflinger, Hoffmannswaldau, Lohenstein und Scultetus in unterschiedlichem Umfang besprochen. Mit fast 50 Seiten ist dabei das Greflinger-Kapitel nach den Abschnitten zu Gryphius und Opitz das mit Abstand umfangreichste. Gruppe schätzt nämlich nicht nur Greflingers Lieder, die „sich besonders durch Sangbarkeit“, „liebenswürdige Offenheit“ und „Unmittelbarkeit des lyrischen Ergusses“ auszeichneten.⁶⁴ „Anmutig, aber schalkhaft“ beschreibe er die Geliebte, „lustig“ seien die Lieder „gegen das Heirathen“, „kunstreich“ und „geschmackvoll“ die am „Ton der Minnesänger“ geschulten Liebesgedichte.⁶⁵ Der „Rückert des Zeitalters“, dessen Epigramme der Qualität der Sinnsprüche Logaus und Scheffers entsprächen,⁶⁶ ist für Gruppe vor allem ein Wegbereiter einer „wahrhaft nationalen Poesie“.⁶⁷ Zum einen begreift er die Lieder Greflingers nämlich als exzeptionelle Beispiele sanglicher „Volkstümlichkeit“, die sich trotz Ausrichtung nach der Opitz’schen Reform am Ton des Volksgesangs orientierten.⁶⁸ Zum anderen und entscheidend für die Bedeutung, die er Greflinger beimisst, sei jedoch der biographische Gesichtspunkt: Greflinger sei ein Dichter, der auf „eigenthümliche Weise den Süden mit dem Norden, den Volksgesang mit der Kunstpoesie“ vereinen könne.⁶⁹ Hierzu die pathetische Schlussbemerkung Gruppes: Er hatte weder in Süd- noch Norddeutschland einen festen Boden: und doch liegt gerade hierin seine Bedeutung, seine Leistung, überdies die Hoffnung für eine kommende allgemeine deutsche Poesie […]. Er steht den Norddeutschen voran in seinem süddeutschen Grundzuge, in seiner innerlich poetischen Natur, in seinem Zusammenhange mit der Volksdichtung; er steht wiederum allen Süddeutschen voran durch die Cultur der protestantischen Kunst, welche er eben seinem Aufenthalt in Norddeutschland verdankt. Er ist mit-
63 Auf der anderen Seite solle der „Charakter“ der portraitierten Dichter erfasst werden, ohne dass durch die Betrachtung des Einzelnen die „historischen Fäden“ aus der Hand verloren würden. Gruppe kritisiert dabei die gegenwärtig als „National-Literatur“ verstandene Dichtung. Auf diese Weise käme es zu einer Kanonbildung, die nach unangemessenen Kategorien wie „Sittlichkeit“ oder „Volksgefühl“ zusammengestellt werde. Ebd. 64 Ebd., S. 269. 65 Ebd., S. 289. 66 Ebd., S. 299. 67 Ebd., S. 270. 68 Ebd., S. 269 f. 69 Ebd., S, 264.
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hin ein wesentliches Moment der deutschen Einigung und Einheit: wie konnte die nur so lange verkannt werden! Ein Dichter, wie der unsere, hätte der Stolz eines Zeitalters sein können, im Orient würde man ihn gefeiert haben, wie Hafis – in Deutschland bedurfte er der Erweckung nach zwei Jahrhunderten!⁷⁰
Den Symbolcharakter, den Greflinger für Gruppe als Integrationsfigur einer Kulturnation erhalten könne, macht er in diesem Zitat deutlich. Stellt Gruppe im Vorwort heraus, den regionalen Besonderheiten als einer Eigenart der deutschen Literaturgeschichte, ja der deutschen Historie überhaupt, Rechnung zu tragen, findet er in Greflinger einen Vermittler der Vielfalt. Hierin sieht Gruppe die umfangreiche Darstellung Greflingers gerechtfertigt und löst mit diesem Kapitel eine seiner im Vorwort angekündigten „Rettungen“ von Autoren, deren „Werth bisher nicht erkannt war“ (XIV), ein. Die Assoziation mit den Lessing’schen ‚Rettungen‘ ist dabei übrigens durchaus intendiert. Mit dem Aufklärer sah sich Gruppe als Philosoph, Philologe und Dichter geistesverwandt.⁷¹ Gruppes Verdienst um eine Wiederentdeckung der Barockdichtung sollte nicht unterschätzt werden, auch wenn seine Methodik und seine Intentionen aus heutiger Perspektive gewiss fragwürdig anmuten. Mit seinen literarhistorischen Schriften und Anthologien hat er jedoch beispielsweise auch Johann Christian Günther und Anna Luise Karschin einem breiteren Lesepublikum zugänglich gemacht. Schließlich hat Gruppe auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Greflinger angestoßen. Wolfgang von Oettingen nimmt die Ausführungen Gruppes zum Ausgangspunkt seiner Studie und unterzieht sie einer massiven Kritik. Selbst wenn der Versuch zu würdigen sei, eine erste umfassendere Darstellung von Leben und Werk Greflingers zu bieten, die über die Notizen in den einschlägigen Kompendien und die kurzen Erwähnungen in den gängigen Literaturgeschichten hinausgehe, sei diese Arbeit doch „eher enthusiastisch als wissenschaftlich“ gehalten.⁷² Vor allem der Symbolcharakter, den Gruppe Greflinger als „Moment der deutschen Einigung“ zuschreibe, rügt von Oettingen als unwissenschaftlich.⁷³ Auch Gruppes „wichtigtuendes Lob“ irritiert den Germanisten.⁷⁴
70 Ebd., S. 311. 71 Auch sein Sohn, Otto Gruppe, zieht diese Parallele. Pascale Hummel: Savant et écrivain: O. F. Gruppe ou la philologie sans frontière. In: Bernay (Anm. 61), S. 15–29, hier S. 25 f. 72 Wolfgang von Oettingen: Georg Greflinger von Regensburg als Dichter, Historiker und Übersetzer. Straßburg, London 1882, S. 2. Gruppe selbst hatte sich immer als philologischer Dilettant ausgegeben: „Ich glaube deshalb hier auch ohne Erröthen wieder gestehen zu dürfen, daß ich kein Philolog von Profession bin […].“ Zitiert bei Hummel (Anm. 71), S. 17. 73 Von Oettingen (Anm. 72), S. 2. 74 Ebd. Dieser Kritik ist gewiss zuzustimmen; man sollte aber den Anspruch berücksichtigen, den Gruppe in seinem Vorwort artikuliert: Er schreibt seine literaturgeschichtlichen Aufsätze aus
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Georg Greflinger – Versuch einer intellektuellen Biographie
Von Oettingens Arbeit erschien 1882 als Dissertation an der Universität Straßburg. Angeregt wurde sie von Wilhelm Scherer. Die Kritik an unreflektiert betriebener Forschungspraxis, wie sie von Oettingen im Fall Gruppes übt, versteht sich im Zusammenhang mit dem literaturwissenschaftlichen Programm Scherers, dem später so genannten ‚literarischen Positivismus‘.⁷⁵ Eine monographische Behandlung des „fast vergessenen“ Autors sei laut von Oettingen dadurch gerechtfertigt, dass Greflinger der „kunstmässigen Poesie des 17. Jahrhunderts“ seine mit „natürlichem Geschick“ verfasste „volkstümlichere“ Dichtung entgegengesetzt habe. Ferner sei Greflingers Bedeutung an seiner poetischen Beschreibung des Dreißigjährigen Krieges und der ersten deutschen Übersetzung des französischen Cid-Dramas festzumachen. Ziel der Darstellung sei es somit, „durch Berücksichtigung seines Lebens und seiner übrigen Werke ein Gesamtbild“ des Dichters zu entwerfen „und ihm gegenüber ungenauen Angaben und Urteilen einen festeren Platz in der Litteraturgeschichte“ zuzuweisen.⁷⁶ Problematisch ist dabei aus heutiger Perspektive von Oettingens Versuch, aus autobiographisch inszenierten Bemerkungen in den lyrischen Texten relativ vorbehaltlos eine Biographie Greflingers zu rekonstruieren. Die Analyse von Gelegenheitsschriften, Widmungen und Vorreden liefert gleichwohl erste grundlegende Ergebnisse der Greflinger-Forschung. Auf die biographische Darstellung, die mittlerweile in einigen Punkten durch die Aufsätze von Elger Blühm (1964)⁷⁷ und Franz Heiduk (1980)⁷⁸ überholt ist, folgt ein Werkverzeichnis mit knapper Charakteristik einzelner Schriften. Die folgenden drei Kapitel widmet von Oet-
der Perspektive eines selbst Dichtenden (er hatte sich selber erfolgreich auf dem poetischen Feld versucht), womit er seine ‚subjektive‘ Perspektive auf den Gegenstand gewissermaßen einräumt. 75 Scherer, der selbst keinen Arbeitsschwerpunkt im 16. und 17. Jahrhundert setzte, regte viele seiner Schüler zur Auseinandersetzung mit frühneuzeitlicher Literatur an und initiierte damit gewissermaßen eine erste Welle der literaturwissenschaftlichen Barockforschung in Deutschland. Max von Waldberg, der in seinen Studien häufig auf „Anregung und Rat“ Scherers hinweist, folgt in seinen Arbeiten (Die galante Lyrik. London 1885 und Die deutsche RenaissanceLyrik. Berlin 1888) der chronologischen Gliederung Scherers und dessen Bewertung der Lyrik des 17. Jahrhunderts. (vgl. Hans-Harald Müller: Barockforschung: Ideologie und Methode. Ein Kapitel deutscher Wissenschaftsgeschichte 1870–1930. Darmstadt 1973, S. 12–26). In seiner „Geschichte der Deutschen Literatur“ erwähnt Scherer Greflinger flüchtig im Zusammenhang mit Dichtern wie J. Schwieger und den Leipzigern, die „das Derbe besser als das Zarte, das Lustige besser als das Ernst“ poetisiert hätten und die für „flotte Studentenlieder, Schmaus- und Trinklieder, satirische Lieder“ etc. bekannt seien (S. 366). 76 Von Oettingen (Anm. 72), S. 1. 77 Elger Blühm: Neues über Greflinger. In: Euphorion 58 (1964), S. 74 –97. 78 Franz Heiduk: Georg Greflinger – Neue Daten zu Leben und Werk. In: Daphnis 9 (1980), S. 191–208.
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tingen Greflingers „lyrischen Gedichten“, Epigrammen und dem Schauspiel Ferrando Dorinde, dem Versepos Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg und der CidÜbersetzung. Der abschließende Abschnitt befasst sich mit stilistischen Fragen. Gebrauchsliteratur wie die Komplimentierbücher finden in dieser Dissertation keine Beachtung, Greflingers Zeitungsunternehmen Nordischer Mercurius wird nur beiläufig erwähnt, das Gelegenheitsschrifttum lediglich im Kontext des biographischen Abschnitts behandelt. Greflingers Lyrik betrachtet von Oettingen als ‚konventionell‘. Dabei unterscheidet er Lieder, deren Notenbeigabe ihren Aufführungscharakter bezeugten, von solchen, die nicht zur geselligen Unterhaltung bestimmt seien, da sie ohne Notenmaterial bzw. Melodieangabe vorliegen⁷⁹ – eine zu apodiktisch ausgesprochene Einschätzung, die jedoch auch heute noch in Bezug auf barocke Lyrik vertreten wird. Dem ist entgegenzuhalten, dass ein großer Teil der Lyrik des frühen und mittleren 17. Jahrhunderts, viel stärker als dies bislang von der Liedforschung reflektiert wurde, auf Vertonung angelegt war⁸⁰ und dass gerade die liedmäßige Dichtung dieser Zeit – auch wenn ihr keine Noten beigegeben sind – nicht als Leselyrik betrachtet, sondern auf musikalische Realisation ausgerichtet war, also tatsächlich gesungen wurde. Auf diese Gesichtspunkte wird im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit eingegangen. Was die poetische Seite der Greflinger-Lieder betrifft, zeugen diese nach Ansicht von Oettingens von wenig Gelehrsamkeit und ständen dem derben Gesellschaftslied des 16. Jahrhunderts näher als der neuen Kunstdichtung. Anklänge an die Opitz’sche Pastoraldichtung seien festzustellen, doch fehlten die typischen epischen Elemente. Mythologische Stoffe fänden nur sparsame Verwendung, moralische und didaktische Äußerungen würden vermieden. Greflingers besondere Leistung auf dem Gebiet der Lieddichtung sei es, die Stoffe des älteren Gesellschaftsliedes moderat mit Elementen der neuen Geschmacksrichtung zu verbinden, so dass er im jüngeren Lied die alte Tradition aufrecht erhielte. Und doch könne man auch bei Greflinger den „Stempel des Künstlichen“ nicht verleugnen, der „Fluch des 17. Jahrhunderts“ hafte auch an ihm, der sich letztlich als Kind „einer niedergehenden Periode“ erweise⁸¹ – die sogenannte ‚Blütezeitentheorie‘ und die an Klassik und Romantik orientierten ästhetischen Maßstäbe der Scherer-Schule sind präsent.
79 Von Oettingen (Anm. 72), S. 38 f. 80 Achim Aurnhammer, Dieter Martin: Musikalische Lyrik im Literatursystem des Barock. In: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von Hermann Danuser. Berlin 2004, S. 334–348, hier S. 343. 81 Von Oettingen (Anm. 72), S. 47 f.
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In vielen dieser Punkte wird von Oettingen zu widersprechen sein. So ist ein moraldidaktisches Potential der Lieder unbedingt vorhanden und wenngleich das Pastorale in der Tat nur eine untergeordnete Rolle spielt, ist Greflinger der Opitz-Reform vor allem, was die Metrik betrifft, verpflichtet. Hinsichtlich der Topik sind Traditionsbezüge zu berücksichtigen, die nicht ohne Vorbehalt auf den Begriff ‚Volkstümlichkeit‘⁸² gebracht werden können, sondern auch auf gelehrte Stofftraditionen zu beziehen sind. In den entsprechenden Kapiteln der vorliegenden Arbeit wird auf diese Aspekte einzugehen sein. Von Oettingens Greflinger-Abhandlung führte zu einem kurzzeitigen Interesse an Leben und Werk des Barockautors: So breiten die Aufsätze von Neubaur,⁸³ Bolte⁸⁴ und Walther,⁸⁵ die als Rezensionen oder Ergänzungsbeiträge zu Oettingers Dissertation erschienen, weiteres Material aus. Christoph Walther, Archivar am Hamburger Stadtarchiv, fügte in seiner Besprechung zahlreiche Hinweise vor allem zu Greflingers Gelegenheitsschrifttum hinzu. Das Verzeichnis der Leichen-, Hochzeits- und Glückwunschgedichte umfasst 384 Carmina aus den Jahren 1646 bis 1676 und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die aufgelisteten Titel stammen aus der Commerzbibliothek Hamburg, der Bibliothek des Stadtarchivs und der Behrmannschen Sammlung der Stadtbibliothek.⁸⁶ Ohne die positivistische Präzision dieser Abhandlung wäre es heute kaum möglich, die gesellschaftlichen Beziehungen Greflingers zu der Hamburger Bürgerschaft zu rekonstruieren, da große Teile der Hamburger Casualia dem Brand der Stadtbibliothek zum Opfer gefallen sind oder als Kriegsverluste gelten.⁸⁷ Johannes Bolte lieferte im Anschluss an Walthers Darlegungen Hinweise zu den Gelegenheitsschriften
82 Der Begriff an sich ist generell problematisch, da er sozialgeschichtlich gesehen nicht klar definiert ist und außerdem durch seine Verwendung im 19. und 20. Jahrhundert mit ‚völkischen‘ Implikationen ideologisch belastet ist. Zur Begrifflichkeit vgl. Wolfgang Brückner: Begriff und Theorie von Volkskultur für das 17. Jahrhundert. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. 2 Bde. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Wiesbaden 1985, Bd. 1, S. 3–21, hier S. 8 sowie Dieter Breuer: Apollo und Marsyas. Zum Problem der volkstümlichen Literatur im 17. Jahrhundert. In: Ebd., S. 23–43. 83 Neubaur (Anm. 44). 84 Johannes Bolte: Zu Georg Greflinger. In: Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 13 (1887), S. 103–114. 85 Christoph Walther: Rezension zu von Oettingen: Über Georg Greflinger von Regensburg. In: Anzeiger für deutsches Alterthum und deutsche Literatur 10 (1884), S. 73–127. 86 Ebd., S. 80–89. 87 Vgl. dazu Klaus Garber: Der Untergang der alten Hamburger Stadtbibliothek im Zweiten Weltkrieg. Auf immer verlorene Barock- und Hamburgensien-Schätze nebst einer Rekonstruktion der Sammlungen Hamburger Gelegenheitsgedichte. In: Festschrift Horst Gronemeyer. Hg. von Harald Weigel. Herzberg 1993, S. 801–859.
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Greflingers, die entweder in seiner Danziger Zeit entstanden oder an Danziger Bürger gerichtet sind. Ferner kommentiert er einige Übertragungen Greflingers aus anderen Sprachen, vor allem die Adaption der Lope-de-Vega-Komödie El palacio confuso (Madrid 1649). Ein weiterer Ertrag der durch von Oettingen angestoßenen Greflinger-Forschung ist Leonhard Neubaurs „Nachlese“ (1890), in der die bibliographischen Aufsätze Boltes und Walthers um weitere Titel erläuternd ergänzt werden. Auch dieser Beitrag gibt detailliert Auskunft über die Adressaten der erwähnten Casualia, wofür auch diverse Schriften aus anderen Bibliotheken wie Elbing herangezogen werden. Besonders das Danziger Umfeld Greflingers gewinnt bei der Zusammensicht der Beiträge Neubaurs und Boltes Konturen. Mit diesen drei Nachträgen zu von Oettingens Monographie ruhte das literaturwissenschaftliche Interesse an Greflinger für viele Jahrzehnte, während vor allem seine Lieder nun einige Beachtung seitens der Musikwissenschaft erfuhren. Festzuhalten bleibt, dass die positivistische Literaturgeschichtsschreibung durch die Erarbeitung der historischen und textlichen Grundlagen auch im Fall Georg Greflingers die entscheidenden Voraussetzungen für eine weitere Beschäftigung mit diesem geschaffen hat. Die Wertungspositionen indes müssen im forschungsgeschichtlichen Zusammenhang betrachtet werden: Das recht eindimensionale Bild, das die Literaturgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts im Anschluss an von Oettingen von Greflinger geformt hat, prägte die Vorstellung eines leichtlebigen Vagabundendichters, der vor allem mit seinen derben Liedern das Publikum erfreut habe. Paradigmatisch für diese Einschätzung ist das Greflinger-Portrait Cysarz’: Der vorwiegend nach Hamburg zuständige Süddeutsche Greflinger, ein lyrischer Vorfahr Christian Reuters, vielgereist und vielgeprüft, pocht gern auf sein unbürgerliches Freiluftleben, wie häufig Voigtländer, bisweilen Wasserhuhn: ‚Ich hab etwas schlecht studirt‘ und ‚Hier geb ich mich klärlich an, Daß ich nichts Französisch kann‘. […] Teils trotzig teils windig prachert er allerhand Derbes und Drastisches, Ausfälliges und Witziges zusammen, oft schlechterdings im Neidhart-Stil, noch öfter dem Wiener Hanswurst und zwar in der robusten Maske Stranitzkys vergleichbar, nach Motiven des älteren Burschen-Gesellschaftslieds; seine burleske Zeichnung entbehrt allerdings nie einer gewissen ironischen Perspektive: Der Realismus Nestroys, nicht Raimunds.⁸⁸
88 Herbert Cysarz: Deutsche Barockdichtung. Renaissance, Barock, Rokoko [Leipzig 1929]. Frankfurt am Main 1979, S. 135. In diesem Zusammenhang sind auch die Arbeiten Max von Waldbergs zu nennen. Für Waldberg gehört Greflinger neben Finckelthaus, Voigtländer, Göring und Wasserhuhn zu den Dichtern, die Kunstpoesie und Volkslied vereinigen, in deren Liedern die „Wechselwirkung zwischen Volks- und Kunstdichtung“ herbeigeführt werde (Renaissance-Lyrik [Anm. 75], S. 192); ähnlich auch Paul Hankamer: Deutsche Gegenreformation und deutsches Ba-
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Vergleichbar ist auch die Einschätzung Josef Nadlers: Er charakterisiert „Georg von Greflinger“⁸⁹ in seiner regionalgeschichtlichen Darstellung (die erst in ihrer vierten Auflage Gedanken des NS aufnahm) als „wilde[n] Geselle[n]“, den „Krieg und Liebesstürme über ganz Deutschland gewirbelt“ hätten.⁹⁰ Er wird kurz im Kapitel „Hamburg“ abgehandelt, auch wenn er sich als Lyriker eher an den Königsbergern orientiert habe. Implizit wird durch die Erwähnung seiner süddeutschen Herkunft für Greflinger das gleiche konstatiert, was Nadler für Rist herausstellt: Da dessen Familie aus dem Schwäbischen stammte, gehöre Greflinger somit zu den zugezogenen Dichtern, „die die Stadt [Hamburg] an das hochdeutsche Sprachleben banden.“ Somit begünstigten Dichter und Gelehrte wie Rist, Greflinger und der aus Hessen stammende Prediger Schupp, dass sich in der Hansestadt „niederfränkische und süddeutsche Kulturwirkungen kreuzten“.⁹¹ Die erste musikwissenschaftliche Arbeit, die sich näher mit Greflinger befasst, ist die Dissertation von Kurt Fischer (1911).⁹² Er untersucht Greflingers Lieder im Zusammenhang mit den Kompositionsverfahren Gabriel Voigtländers, wobei Parallelen in der ‚Herstellung‘ von Liedern beider Autoren aufzeigt werden können: die Aneignung bereits bestehender, oft bekannter Liedmelodien anderer Komponisten sowie die Übernahme instrumentaler Stücke, vor allem von Tanzmelodien. Da die Abhandlung jedoch Voigtländer in den Mittelpunkt stellt, werden die Liederbücher Greflingers nicht erschöpfend behandelt und dienen vorwiegend als Vergleichsmaterial. Dennoch kann Fischer viele musikalische Vorlagen Greflingers identifizieren, so dass die vorliegende Arbeit auf diesen Ergebnissen maßgeblich aufbauen kann. Auch die Geschichte des deutschen Liedes von Hermann Kretzschmar (ebenfalls 1911) behandelt Greflinger, dessen Lieder im Kapitel „Frankfurter Revier“ besprochen werden, weil die Sammlungen Seladons Beständige Liebe, das „Liederspiel“ Ferrando Dorinde sowie Seladons Weltliche Lieder in Frankfurt am Main erschienen. Greflingers Lieder interpretiert Kretzschmar als ein „durch Frische
rock. Die deutsche Literatur im Zeitraum des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1935, S. 211 f.; Curt von Faber du Faur: German Baroque Literature. New Haven 1958, S. 87 („He is natural and possesses a certain jolly manner, which may perhaps hark back to his Bavarian origin.“). 89 Wie er auf das Adelsprädikat kommt, ist nicht nachvollziehbar. 90 Josef Nadler: Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften. 3. Auflage. Bd II. Regensburg 1931, S. 348. 91 Ebd. 92 Kurt Fischer: Gabriel Voigtländer. Ein Dichter und Musiker des 17. Jahrhunderts. In: SIMG 12 (1910/11), S. 17–93.
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hervorragender Beitrag zur Hagestolzenpoesie“.⁹³ Die Sammlung Seladons Weltliche Lieder zählt Kretzschmar dabei zu den „besseren Liebesgedichte[n] des 17. Jahrhunderts“, zumal sie ohne „deplazierte Gelehrsamkeit“ auskämen.⁹⁴ Wichtig und aufschlussreich ist Kretzschmars Bemerkung zur Bedeutung der Melodien in Greflingers Liederbuch Seladons Weltliche Lieder: Sie hätten dadurch einen „geschichtlichen Wert, daß sie einen Fingerzeig über Melodien geben, die um die Mitte des 17. Jahrhunderts populär waren“, wobei er vermutet, dass die Sammlungen keine Originalkompositionen Greflingers enthielten.⁹⁵ Fraglich bleibt, ob dieser als Begründer einer Frankfurter Liederschule gelten kann, der „die von Voigtländer und Rist eingeschlagene volkstümliche Richtung im Süden Deutschlands eingebürgert hat“.⁹⁶ Auch auf die Frage nach möglichen ‚Originalkompositionen‘ wird zurückzukommen sein. In der wohl wichtigsten Liedgeschichte des 20. Jahrhunderts aus germanistischer Perspektive, Günther Müllers Geschichte des deutschen Liedes, wird wiederum Greflingers Stil hervorgehoben, der das Volkslied mit den Neuerungen der Opitz-Reform verbinde.⁹⁷ Dabei unterstreicht Müller die Bedeutung des metrisch-musikalischen Parts der Greflinger-Lieder: Im Zusammenhang mit der Musik erkenne man die Stärke dieser Lieder „auf dem Gebiet des Strophenbaus“, der sich in „gemeißelt rhythmischer Prägnanz“ präsentiere.⁹⁸ Doch sieht er Greflinger auch als Repräsentanten einer sich verflachenden Dichtung, die über die Stationen Regnart und Schein ihren Höhepunkt bei Dach und Gryphius gefunden habe: „Zwischen Greflinger und Gryphius […] ist keine Verbindung mehr möglich.“⁹⁹ In der Folgezeit verblasste das Interesse an Greflinger. Lediglich in der im Sinne der NS-Ideologie gefärbten Darstellung Hertels zur Danziger Gelegenheitsdichtung spielt Greflinger mit seinem Lobgedicht auf die Weichselstadt eine Rolle.¹⁰⁰ Für die Aktualisierungstendenz barocker Lyrik in den Nachkriegsjahren
93 Hermann Kretzschmar: Geschichte des neuen deutschen Liedes. [Leipzig 1911]. Hildesheim 1966, S. 118 f. Kretzschmar verwechselt die Inhalte des Schäferspiels mit der Thematik der Liedsammlungen (ebd., S. 118). Auch geraten seine Datierungen durcheinander (ebd., S. 119). 94 Ebd. 95 Ebd. 96 Ebd., S. 120. 97 Günther Müller: Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart. München 1925, S. 76. 98 Ebd. 99 Ebd., S. 79. 100 Herbert Hertel: Die Danziger Gelegenheitsdichtung. In: Danziger Barockdichtung. Hg. von Heinz Kindermann. Leipzig 1939, S. 165–230.
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und werkimmanente Strukturanalysen scheinen Greflingers Texte wenig geboten zu haben. * Erneute Aufmerksamkeit wurde dem nunmehr wiederum vergessenen Autor erst im Zusammenhang mit der aufkommenden Zeitungswissenschaft in den 1960erJahren zuteil. Hier sind es vor allem die Arbeiten Elger Blühms und Lutz Mackensens, die die Bedeutung des Greflinger-Blattes Nordischer Mercurius in mehreren Beiträgen hervorhoben. Greflinger verbinde „die kulturellen Knotenpunkte Europas mit einer Geschwindigkeit, die auch der heutigen Presse [1960] Achtung abnötigen würde“ und er präsentiere sich mit Eigenschaften wie „Einfallfreudigkeit, Gespür für die Sensation […], Sprachgefühl, die Fähigkeit, Beziehungen zu knüpfen, festzuhalten und zu nutzen“ gewissermaßen als ‚Prototyp‘ eines Zeitungsmenschen.¹⁰¹ In der historisch-politischen Dichtung und der Berichterstattung von Zeitgeschehen sieht die Zeitungswissenschaft dementsprechend Greflingers größte Leistung und seine historische Bedeutung.¹⁰² Dagegen brachte die sozialgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft Greflinger kaum ins Spiel, obgleich er als „Kasualdichter par excellence“ (Dünnhaupt)¹⁰³ gelten kann. Das, was beispielsweise für Simon Dach mit den Arbeiten von Schöne, Kellert und Segebrecht¹⁰⁴ erreicht wurde, nämlich ein methodisch abgesichertes und somit auch fundierteres Verständnis seiner anlasszentrierten Lyrik, blieb im Fall des zu wenig bekannten Greflinger aus. So brachte erst die Auslandsgermanistik 1974 mit zwei Dissertationen Greflinger wieder ins Gespräch: Die komparatistische Studie Greflinger and van Heemskerck: A Comparative Exegesis of the earliest German and Dutch Translations of Corneille’s Le
101 Lutz Mackensen: Die Entdeckung der Insul Pines. Zu Georg Greflinger und seinem „Nordischen Mercurius“. In: Mitteilungen aus der deutschen Presseforschung zu Bremen 1 (1960), S. 7–47, hier S. 41. 102 Vgl. auch Elger Blühm: Art. „Georg Greflinger“. In: NDB 7, S. 19 f. In der Zeitungsforschung widmete sich im Anschluss an Mackensen und Blühm vor allem Carsten Prange dem GreflingerBlatt. (Carsten Prange: Die Zeitungen und Zeitschriften des 17. Jahrhunderts in Hamburg und Altona. Ein Beitrag zur Publizistik der Frühaufklärung. Hamburg 1978). Günther Berghaus beschäftigte sich mit Greflinger als Journalist und historisch-politischem Schriftsteller vor allem im Zusammenhang mit der Rezeption der Englischen Revolution in Deutschland. (Georg Greflinger als Journalist und historisch-politischer Schriftsteller. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 21 [1994], S. 1–15). 103 DÜNNHAUPT III, S. 1749. 104 Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart 1977.
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Cid (Tulane University, Michigan) von Russell W. Godwin zeigt, dass sich Greflinger bei seiner Cid-Übersetzung eng an einer niederländischen Vorlage orientiert. Im Fokus der Arbeit steht jedoch diese niederländische Fassung des CorneilleDramas. Guenther H. S. Mueller bietet eine erste kommentierte Edition von Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg (1657), wobei er auch die schon 1647 erschienenen Teile abdruckt. Einen gehaltvolleren Kommentar liefert jedoch die von Peter Michael Ehrle besorgte Ausgabe der Reimchronik (München 1983), die aber von wenigen Ausnahmen abgesehen¹⁰⁵ auch nicht zu weiteren Forschungsarbeiten zu Greflinger geführt hat. Die bisher präsentierte neuere Forschung stellt also den Übersetzer, den Zeitchronisten, den politischen Schriftsteller und Journalisten ins Zentrum. Erst 2005 thematisierte Anthony Harper in einem Aufsatz wieder die Lieddichtung Greflingers. Dem schottischen Germanisten kommt das Verdienst zu, sich generell vernachlässigten Gebieten der deutschen Barocklyrik gewidmet zu haben: Zum einen geht es ihm um die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem kulturellen Zentrum Sachsen (vor allem Leipzig) in der Mitte des 17. Jahrhunderts, zum anderen um die Erforschung der weitgehend unberücksichtigten Gattung des weltlichen Barockliedes. Diese beiden Forschungsinteressen verbindend, besorgte Harper eine Reihe von Editionen, veröffentlichte Aufsätze und beschäftigte sich in Monographien mit diesen „neglected areas“.¹⁰⁶ Vor allem seine letzte große Studie, German Secular Song-Books of the Mid-Seventeenth Century (2003), stellt die erste monographische Abhandlung zur Gattung ‚weltliches Lied des 17. Jahrhunderts‘ aus germanistischer Feder überhaupt dar. Harper setzt mit einer Kritik der monolithischen Darstellung und entsprechend verzerrten Bewertung der sächsischen Dichter wie Brehme, Finkelthaus und Schirmer an. Das Bild einer Lyrik, die ausschließlich im Umfeld des „fröhlichen Studentenlebens“ situiert und der „ein jugendlich-burschikoser Zug“ und ein „frisch-oberflächlicher“ Ton zugeschrieben werde, gilt es laut Harper zu revidieren.¹⁰⁷ Diese Klischees und Pauschalurteile gingen auf die literarhistorischen Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert – Harper nennt u. a. Gervinus und Heinrich Kurz – zurück.
105 Erst in jüngster Zeit Niefanger („Die Welt vol Schrecken“, Anm. 40). 106 Anthony Harper: David Schirmer. A Poet of the German Baroque. Stuttgart 1977; Ders.: Schriften zur Lyrik Leipzigs 1620–1670. Stuttgart 1985; Ders.: The Song-Books of Gottfried Finckelthaus. Glasgow 1988 etc. (weitere Titel s. Literaturverzeichnis). 107 Das Spektrum der Leipziger Dichtung umfasst vor allem an Opitz orientierte petrarkistische und schäferliche Liebesdichtung, die sich oft in kunstvollen Opitz-Parodien manifestieren. Finkelthaus beispielsweise erweist sich bei genauerer Betrachtung seiner Lieder als Formkünstler, Schirmers Lyrik ist zudem an Zesen und den Nürnbergern orientiert. Vgl. auch Volker Meid: Barocklyrik. Stuttgart ²2008, S. 94 f., der die neuere Forschung zu den Leipzigern berücksichtigt.
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Es ist anzumerken, dass entsprechende Anthologien und Einführungen in die Barockliteratur¹⁰⁸ bisweilen auch heute den Eindruck einer ausschließlich metaphysisch aufgeladenen und von rhetorischer Intensität dominierten Literaturepoche erwecken. Die verbreitete und für das kulturelle Gesamtbild der Zeit konstitutive weltliche Lieddichtung (wie übrigens häufig auch das Gelegenheitsschrifttum) wird hier immer noch ausgeklammert. Die Folge ist eine fragwürdige, rein an ästhetischen Maßstäben orientierte Kanonbildung, die Autoren wie die Leipziger Dichter oder eben Greflinger an den Rand des Epochenbildes drängen.¹⁰⁹ Eine kontextualisierende Erschließung der Werke dieser Autoren und davon ausgehend eine Einordnung in das Literatursystem der Zeit, an dem sie in nicht geringem Maße partizipieren, sind weiterhin Desiderate der Barockforschung. Grundlagenforschung, wie sie Harper in seinen Fallstudien und Editionen vorgelegt hat, ist unabdingbar, um diese Forschungslücken zu schließen. Die Fragwürdigkeit des etablierten barocken Literaturkanons demonstriert Harper auch in der genannten Darstellung zur weltlichen Lieddichtung des mittleren 17. Jahrhunderts.¹¹⁰ Er verbindet dabei philologische Arbeit an den ausgewählten Liederbüchern mit regionalhistorischen Fragen. Die weltliche Lieddichtung wird so zu einem Paradigma der deutschen Kulturgeschichte, an dem sich die Besonderheiten regionaler Kulturzentren im Alten Reich veranschaulichen lassen. Deutlich wird aber auch die mögliche Problematik dieses Ansatzes: Die als Lieddichter präsentierten Autoren sind selten ihr Leben lang einem kulturellen Zentrum verbunden. Greflinger, der der Region „Hamburg and the North“ zugeschlagen wird, ist hierfür das beste Beispiel.¹¹¹ Harper interessieren in seinem Greflinger-Aufsatz wie auch in der Monographie zum Barocklied vor allem Aufbau und Themenspektrum der Sammlungen. Als Ergebnis kann er „a certain development in his [Greflingers] work“ konsta-
108 Das Kapitel zur bürgerlich-weltlichen Lyrik von Rainer Bassner im Band „Die Literatur des 17. Jahrhunderts“ (Hg. von Albert Meier. München, Wien 1999, S. 517–539) der Reihe Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur geht lediglich auf Opitz, Gryphius, Fleming, Hoffmannswaldau und Günther ein. 109 Vgl. jedoch die Anthologie Eberhard Haufe: Wir vergehn wie Rauch von starken Winden. Deutsche Gedichte des 17. Jahrhunderts. 2 Bde. München 1985, in der auch zahlreiche Gedichte Greflingers berücksichtigt werden. 110 Auf die Beschreibung der „pan-German models“, d. h. Opitz und Fleming (Kapitel 2), folgt je ein Abschnitt zu „North East“, „Central Germany“ und „Hamburg and the North“. Die jeweiligen Autoren vorgestellt, anschließend die Liederbücher beschrieben und einzelne Texte interpretiert. Die bereits besser untersuchten Lieder der Nürnberger werden durch diese Gliederung ausgeklammert wie der süddeutsche Raum überhaupt. 111 Vgl. auch Judith P. Aikin.: Rezension zu Harper German Secular Song-Books. In: Daphnis 33 (2004), S. 348–351.
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tieren, „a certain smoothing out of the brashness, the vitzperation, possibly a diminishing of originality, as his life moves from that of a young man seeking employment to what a civic figure.“¹¹² Den musikalischen Aspekt sieht Harper außerhalb seines Kompetenzbereichs und lässt ihn daher bewusst außen vor. * Der Forschungsstand zu Greflinger lässt sich, die großen Linien nachzeichnend, somit wie folgt zusammenfassen: Die Literarhistoriker des 19. Jahrhunderts sahen in Greflinger vor allem den Vertreter einer Dichtung, die sich z. B. durch die Verwendung ‚volkstümlicher‘ Elemente nicht unter das Diktat der neuen Kunstpoesie geworfen habe. In Gervinus’ Literaturgeschichte kurz in diesem Sinne charakterisiert, wird Greflinger für Otto Friedrich Gruppe zum unterschätzten Barocklyriker, der nicht nur die Kunst- mit der Volkspoesie vereine, sondern aufgrund seiner Biographie als Symbolfigur einer gesamtdeutschen Dichtung zu würdigen sei. Im Umfeld Scherers beschäftigen sich u. a. Max von Waldberg und Wolfgang von Oettingen mit Greflinger. Letzterer verfasst die erste Monographie, die „durch Berücksichtigung seines Lebens und […] seiner Werke ein Gesamtbild“ Greflingers zu entwerfen versucht „und ihm gegenüber ungenauen Angaben und Urteilen einen festeren Platz in der Literaturgeschichte“ zuweisen will.¹¹³ Von Oettingen hebt Greflingers Lieddichtung und Übersetzungstätigkeit hervor, auch wenn er ihn letztlich als Vertreter einer Epoche des Verfalls portraitiert. Walther, Bolte und Neubaur ergänzen von Oettingens Arbeit vor allem um Angaben zu Casualia aus Danziger und Hamburger Archiven. In Literaturgeschichten des frühen 20. Jahrhunderts wird Greflinger vor allem als Lyriker präsentiert; seinen Liedern wird ein derb-heiterer und bisweilen frivoler, dabei wenig kunstmäßiger Charakter zugeschrieben. Eine intensivere Beschäftigung mit Greflinger setzt erst mit der Presseforschung in den späten 1960er- und 1970er-Jahren des 20. Jahrhunderts wieder ein. Es sind nun vor allem die journalistischen und zeitchronistischen Arbeiten von Interesse. Die (marginale) Forschung zu Greflinger seit den mittleren 1970erJahren setzt ihre Schwerpunkte im Bereich biobibliographischer Ergänzungen. 1974 widmen sich zwei amerikanische Dissertationen Greflingers Reimchronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg bzw. seiner Cid-Übersetzung. Weder diese Arbeiten noch eine Neuedition der Reimchronik oder die Beiträge von Heiduk
112 Anthony Harper: German secular song-books of the midseventeenth century. An examination of the texts in collections of songs published in the German-language area between 1624 and 1660. Aldershot 2003, S. 295. 113 Von Oettingen (Anm. 72), S. 1.
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und Berghaus, noch verschiedene Miszellen zu bibliographischen Befunden konnten jedoch Impulse für eine tatsächliche Greflinger-Forschung liefern. Als Liedautor wurde Greflinger erst durch Anthony Harper, der seine Lieder unter regionalgeschichtlichen und thematischen Gesichtspunkten betrachtet, wiederentdeckt. Der Musikwissenschaft ist Greflinger zwar bekannt (Kretzschmar, K. Fischer, W. Braun), eine eingängige Beschäftigung mit diesem Vertreter des weltlichen Barockliedes steht indes noch aus.¹¹⁴ In summa ist also festzuhalten, dass Greflinger trotz vielfacher Erwähnung bislang wenig Beachtung in der neueren literatur- und musikwissenschaftlichen Forschung gefunden hat. Er gilt als Autor der ‚zweiten Reihe‘, einer, der nicht zu den ‚Großen‘ der Epoche zähle und obendrein in der „neglected area“ (Harper) des weltlichen Liedes tätig war. Hinzukommt, dass Greflinger weder einem schriftstellerischen Genre, noch einer literarischen regionalen Gruppe eindeutig zugeordnet werden kann: Bisweilen wird er im Kontext der Königsberger genannt, seine Lieder gelten oft dem Stil der Leipziger verpflichtet oder er wird im Hamburger Rist-Kreis situiert. Mal gilt er als Produzent von anspruchsloser Gebrauchsliteratur, mal als gut vernetzter Zeitchronist und Journalist, dann als Verfasser mäßig qualitätvoller Lieder oder als Pastoraldichter, mal als versierter Übersetzer, mal als erfolgreicher Casualpoet. Der Versuch, die Ergebnisse der vorliegenden Forschung zusammenzuführen, zu überprüfen, zu ergänzen und ggf. zu revidieren, soll mit folgender Darstellung der intellektuellen Biographie Greflingers unternommen werden.
2 Itinerar I: Regensburg–Wittenberg Die ältere Forschung nahm als Greflingers Geburtsort meist Regensburg an, da sich Greflinger selbst als „Regenspurger“, „von Regenspurg“, „Ratispogen(sis)“ etc. bezeichnet.¹¹⁵ Heiduk dagegen ging einem biographischen Hinweis in dem Lobgedicht An seinen von Jugend auff bekannten und getreuen Freund CELADON nach. Bei diesem Text handelt es sich offenkundig um ein Casualwerk anlässlich Greflingers Dichterkrönung 1654, das als Geleitgedicht der Liedersammlung Celadonische Musa (1655) vorangestellt ist, und dessen Autor sich „Columbin“ nennt. Hier heißt es, Greflinger habe in Kindheitstagen „an der Asch“ der „Eltern
114 Auch ein Eintrag in der MGG fehlt. 115 So von Oettingen (Anm. 72), S. 5, der zudem darauf verweist, dass in „Regensburger Acten der Name einer Familie Gräfflinger“ wiederholt erscheine. Auch in dieser Hinsicht zuverlässig ist hingegen der Artikel von Bernd Prätorius: Art. „Georg Greflinger“. In: KILLY 4, S. 321–323.
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Lämmer Herd“ gehütet und mit einem Gedicht „auff ein Lam / Wann es von der Mutter kam“ schon früh dichterische Begabung bewiesen. Dann jedoch habe sich das Kriegsgreuel in der Heimat breit gemacht: Bei einem feindlichen Überfall, der sich um das Jahr 1625 ereignet haben muss,¹¹⁶ sei der Vater erschossen worden, die Mutter und die Brüder samt allem Hab und Gut in den Flammen zugrunde gegangen:¹¹⁷ Da dein Vater dier zun [!] Füssen Durch den Feind erschossen lag / Dachtestu wol solchen Tag Dieser Ehre zu genüssen?¹¹⁸ Nimmermehr. Des Vaters Tod War auch deine Todes=Noht. Minders nicht / da von den Flammen All dein Haab zu Grunde gieng / Daß kein Stock am anderen hieng. Da auch all dein Blut zusammen Mutter / Brüder über ein Eines Todes musten sein.
Bei der erwähnten „Asch“ handelt es sich um den kleinen Fluss Ascha, der im böhmischen Grenzland entspringt und in Neunburg vorm Wald in die Schwarzach mündet.¹¹⁹ Neunburg war unter Kurfürst Ruprecht II. zur Residenzstadt geworden. Nach der bayerischen Landesteilung 1410 wählte Pfalzgraf Johann der „Neunburger“ die Stadt als einen seiner Residenzorte und verlieh ihr wichtige Privilegien. In große Bedrängnis kam Neunburg durch den Einfall der Hussiten in dieser Zeit, wovon ein damals entstandenes historisches Volkslied („Vom
116 Hierzu konnte die Neunburger Heimatforschung Ergebnisse erzielen: Die Neunburger Stadtchronik berichtet ab 1625 verstärkt von Flüchtlingsströmung in Richtung Regensburg auf Grund von Drangsalen der durchziehenden Soldateska und der rigiden Religionspolitik der Bayern. Theo Männer: Georg Greflinger – ein Neunburger Schriftsteller, Dichter, Chronist und Journalist. In: Heimatkalender für die Oberpfalz 19 (1995), S. 24–27, hier S. 26. 117 Carl August von Bloedau (Grimmelshausens Simplizissimus und seine Vorgänger. Beiträge zur Romantechnik des siebzehnten Jahrhunderts. Berlin 1908) sah in Greflingers Schicksal das Vorbild für Grimmelshausens Romanheld. So abstrus ist diese Vermutung gar nicht. Wir werden noch öfters sehen, dass Grimmelshausen das Werk Greflingers jedenfalls kannte. 118 Gemeint ist die Dichterkrönung. 119 Heiduk (Anm. 78), S. 192. Vgl. im Folgenden Wilhelm Nutziger: Neunburg vorm Wald. Historischer Atlas von Bayern/Teil Altbayern 52. München 1982.
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Hussenkrieg“) erzählt.¹²⁰ Seit dem 16. Jahrhundert stand die Residenzstadt unter der Herrschaft der Pfälzer Kurfürsten, womit eine Zeit permanenten Konfessionswechsels begann. In der Anfangsphase des Dreißigjährigen Krieges war das Gebiet um die Fürstenresidenz, das zu den Landen des ‚Winterkönigs‘ Friedrichs V. gehörte, vorwiegend protestantisch, bis es 1628 endgültig an Kurbayern fiel und Maximilian I. gegenreformatorische Maßnahmen einleitete. Die Gegend an der Ascha litt in der Folgezeit unter der Rekatholisierung¹²¹ und wurde zudem durch schwedische Besatzung und ständigen Truppendurchzug schwer erschüttert, während die etwa 50 Kilometer entfernte paritätische Reichsstadt Regensburg zumindest in den ersten Kriegsjahren von Kampfhandlungen kaum betroffen war. „In dieser Zeit wurde Greflinger, der sich noch lange Greblinger schrieb, in diesem Grenzgebiet geboren“.¹²² Das besagte Gedicht berichtet weiter, dass das Waisenkind Greflinger nach den traumatischen Erlebnissen im Heimatort zunächst hilflos in den Wäldern umhergeirrt sei, vor Hunger „Eckern“ gegessen habe und schließlich in die „gut[e] Stadt / Die die stärckste Brücken hat“ gelangt sei – also nach Regensburg –, wo er fürsorgliche Aufnahme gefunden habe.¹²³ Auch sei er hier „in die Bücher“ getrieben worden und habe die „Poeten Schul“, also das protestantische Gymnasium Poeticum, besucht.¹²⁴ Stimmen die Aussagen des Gedichts, ist anzunehmen, dass Greflinger in das mit der Schule verbundene Alumneum eintrat, wo mittel-
120 Peter Klewitz: Vom Hussenkrieg ein Gesang. Wie der Neunburger Pfalzgraf Johann im Jahr des Herrn 1433 die Hussiten bei Hiltersried schlug. Regensburg 1983. Noch heute wird in Neunburg jährlich das Freiluftspiel „Vom Hussenkrieg“ aufgeführt. 121 „Abgesehen von den persönlichen Konsequenzen verursachte die teilweise erzwungene Auswanderung des [protestantischen] Adels und die dadurch hervorgerufene mangelnde wirtschaftliche Betreuung der Adelsgüter Hand in Hand mit den verheerenden ökonomischen Folgen des Dreißigjährigen Krieges den finanziellen und wirtschaftlichen Niedergang der Oberpfalz.“ Nutzinger (Anm. 119), S. 126. Die Rekatholisierung hatte bereits nach der Schlacht am Weißen Berg (1620) begonnen. Ab 1625 wirkten die Jesuiten in Neunburg. 122 Heiduk (Anm. 78), S. 193. 123 Das Wahrzeichen der Stadt ist bekanntlich die „Steinerne Brücke“. 124 1505 wurde vom einstigen Privatsekretär Maximilians I., Josef Grünseck, mit Zustimmung des Rates eine Lateinschule eröffnet. Die Institutionalisierung des Gymnasiums wurde im Zusammenhang mit dem Konfessionswechsel zu Wege gebracht, so dass Luthers Denkschrift über die Errichtung von Gymnasien (1524) in Regensburg sofort konsequent umgesetzt wurde. Dabei zog man den Reformator und auch Melanchthon als Berater heran. Am Ende des 16. Jahrhunderts war das Gymnasium Poeticum mit sechs Klassen voll ausgebaut. Vgl. Andreas Kraus, Wolfgang Pfeiffer: Regensburg. Geschichte in Bilddokumenten. München 1979, S. 91. Schon bald mit einem über die Stadtmauern reichenden, hervorragenden Ruf verbunden, fuhr die Lehranstalt einen betont protestantischen Kurs, so dass mit dem Jesuitengymnasium St. Paul von katholischer Seite bald eine Gegeneinrichtung geschaffen wurde.
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lose, begabte Schüler umsonst wohnen konnten.¹²⁵ Erwähnenswert ist, dass die reichsstädtische Lehranstalt ausgesprochen großen Wert auf die musikalische Ausbildung der Schüler legte,¹²⁶ von denen zu Beginn des 17. Jahrhunderts nur noch die Hälfte aus der Donaustadt stammte.¹²⁷ So war Musiktheorie, aber auch die musica practica am Regensburger Gymnasium sozusagen Hauptfach, die unterrichtenden Kantoren und Praezeptoren mussten über eine herausragende Befähigung und Qualifikation als Musiker und Musikpädagogen verfügen.¹²⁸ Die Alumnen, also die Stipendiaten des Alumneums, wirkten als Gegenleistung für die ihnen zukommenden Wohltätigkeiten als Sänger und Instrumentalisten bei den liturgischen Feiern der evangelischen Gemeinden und führten Theaterstücke auf. So war „überdurchschnittliche musikalische Begabung Voraussetzung zur Aufnahme ins Alumneum.“¹²⁹ Eine bedeutende Persönlichkeit, die während Greflingers Schulbesuch am Gymnasium Poeticum wirkte, war der evangelische Kirchenmusiker Paul Homberger (1559/60–1634).¹³⁰
125 Da die Schülerverzeichnisse des Gymnasiums aus dem frühen 17. Jahrhundert nicht erhalten sind, lässt sich der Schulbesuch Greflingers nicht archivarisch belegen. Vgl. von Oettingen (Anm. 72), S. 6. 126 Zu den bekanntesten Regensburger Schülern zählen Johannes Beer, der das Gymnasium ab 1670 besuchte, sowie Johann Pachelbel, der bis 1673 hier studierte. (Raimund Sterl: Das Gymnasium Poeticum, die Praezeptoren und die Alumnen. Zur Schulmusikgeschichte Regensburgs im 16. und 17. Jahrhundert. In: Musik in Bayern 55 [1998], S. 5–34, hier S. 20.) Auch Georg Aichinger (1564/65– 1602), der noch lange vor Schütz einer der ersten deutschen Schüler Gabrielis in Venedig war und zu einem Hauptvertreter der süddeutschen Musik des Frühbarock wurde, besuchte die Lehranstalt. 127 Den Großteil Alumnen stellten protestantische Exulanten aus den fränkischen Gebieten, aus dem Südosten des Reiches (v. a. aus der Steiermark und Kärnten), aber auch aus Böhmen und Sachsen. (Sterl [Anm. 126], S. 12). 128 Seit der neuen Schulordnung (1567) des an der Universität Wittenberg promovierten Rektors Hieronymus Osius wurde das Fach Musik nochmals intensiviert und nahm seitdem die zentrale Stellung neben den klassischen Sprachen ein, freilich vor allem zur Bewahrung und Verkündigung der protestantischen Glaubenslehre. 129 Raimund Sterl: Weltliche Musik in der Reichsstadt. In: Musikgeschichte Regensburgs. Hg. von Thomas Emmerig. Regensburg 2006, S. 186–222, hier S. 202. 130 Vgl. Michael Zywietz: Art. „Paul Homberger“. In: MGG², Personenteil 9, Sp. 282 f. Homberger stammte aus einer niederösterreichischen Exulantenfamilie und studierte u. a. auch kurzzeitig in Venedig bei Gabrieli. Von 1601 bis 1634 war er Präzeptor am Regensburger Gymnasium, zudem Hauptkantor an der Neupfarrkirche und an der Dreieinigkeitskirche. Sein Werk umfasst viele Gelegenheitskompositionen für Hochzeiten und Beerdigungen, Hymnen und Psalmen. Zum Einzug Kaiser Matthias’ in Regensburg 1612 verfasste er die (verschollene) Einzugsmusik, anlässlich des Aufenthalts Kaiser Ferdinands II. (1630) eine Huldigungsmotette.
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Biographische Anspielungen in Greflingers großer Verschronik vom Dreißigjährigen Krieg deuten darauf hin, dass der Flüchtling anschließend nach Nürnberg aufbrach, wo er wohl während der Belagerung der Stadt durch die Schweden (1632) Unterschlupf fand.¹³¹ In der Sammlung Seladons Weltliche Lieder (1651) befindet sich außerdem ein Epicedium auf den Tod eines Vetters, das an eine Nürnberger Tante gerichtet ist,¹³² so dass angenommen werden kann, dass der junge Oberpfälzer damals bei Verwandten Aufnahme gefunden hatte. Laut „Columbin“ hätten Greflinger die Kriegswirren anschließend nach Magdeburg, nach Böhmen und Ungarn, schließlich nach Wien getrieben. In der Kaiserstadt sei er von einem Herrn Kielmann unterstützt worden, möglicherweise der kaiserliche Beamte und Freiherr, der auch in einem an Rist gerichteten Gedicht (dazu später) genannt wird. In einem Gelegenheitsgedicht, das Greflinger in seinen Hamburger Jahren einer aus Wien zurückkehrenden Gesandtschaft widmet (1665), spielt er auf einen früheren Aufenthalt in der Kaiserstadt an: Wien […] Woselbst ich manchen Herrn und Grossen (der vielleichte Bereits entseelet liegt) negst Euch, zu Helfern bat, Den Herrn von KielmansEck, der mir viel Gnade that, Wann meine Leyer Ihm in seinem schönen Garten Als einem Liebenden der Kunst pflag auffzuwarten. (Ach hochgepreistes Wien, was gabstu da vor Lust, Dergleichen vor und nach mir nimmer ist bewust!)¹³³
Archivarisch greifbar wird Greflinger jedoch erst als Student der Universität Wittenberg: Im Album Academiae Vitebergensis ist er im Juni 1635 als „Georgius
131 Greflinger beschreibt die Schlacht an der Alten Veste bei Fürth (31. August bis 4. September 1632). Gustav Adolf hatte sich mit seinen Truppen in Nürnberg verschanzt, nachdem sich das kaiserliche und bayerische Heer in der Oberpfalz vereint hatten. Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg 1657 (Kommentiert und mit einem Nachwort von Peter Michael Ehrle. München 1983), S. 71 (im Folgenden DDK): „Der König säumte nicht mit eben so viel Mann Als Wallenstein vermocht auf Nürenberg zu gehen / […] So wollder [!] guten Stadt / die Seuch und Hungers Noth / (Ich hatte selber da mehr Gold als liebes Brod).“ 132 Seladons [= Georg Greflingers] Weltliche Lieder. Nechst einem Anhang Schimpf= vnd ernsthaffter Gedichte. Franckfurt am Mayn / In Verlegung / Caspar Wächtlern gedruckt / bey Mattho Kämpfern / Im Jahr Christi / M. DC. LI, S. 68 f. 133 Stadtbibliothek Hamburg, Kriegsverlust, zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 105.
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Greblingerus, Neoburgo Palatin, non iuravit propter aetatem“¹³⁴ verzeichnet, womit die Fürstenresidenz Neunburg bzw. ihr Umland als Herkunftsort Greflingers bestätigt wird.¹³⁵ Da er in Wittenberg offenkundig nicht vereidigt wurde, ist zugleich ein Rückschluss auf das Geburtsjahr 1620 (spätestens) plausibel. Dazu passt Greflingers Selbstaussage in Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg, er sei bei Ausbruch des Krieges „noch ungebohrn“ gewesen.¹³⁶ Ein Epicedium auf eine schlesische Adelige aus dem Jahr 1639, eines seiner ersten Werke, unterzeichnet Greflinger mit „GEORGIUS GREBLINGER Neoburgo Palatinus Phil. Studiosus“.¹³⁷ Folglich absolvierte er an der Philosophischen Fakultät das artistische Vorstudium.¹³⁸ Zweifelsohne ist das Wittenberger Studium für Greflinger von erheblicher Bedeutung: Zum einen wird die lutherisch-orthodoxe Prägung der dortigen Theologie, an die sich auch die philosophische Fakultät anlehnte, auf Greflingers religiöse Grundhaltung gewirkt haben; zum anderen unterrichtete hier August Buchner (1591–1661), dessen maßgeblicher Einfluss auf den großen Kreis seiner Schüler und Epigonen – Brehme, Dach, Dilherr, Fleming, Klaj, Gerhardt, Schirmer, Schwieger, Titz, Tscherning, Zesen, um nur die bekannteren zu nennen – wohl kaum zu überschätzen ist.¹³⁹ 1616 war Buchner an der Leucorea zum ordent-
134 Heiduk (Anm. 78), S. 193, nachzulesen im Album Academiae, S. 388. Damit widerlegt Heiduk auch von Oettingens Behauptung, Greflinger habe „höhere Studien überhaupt nicht getrieben“ (von Oettingen, Anm. 72, S. 6). 135 Neuburg an der Donau komme nach Heiduk hier nicht in Frage, denn das „Gebiet um den Fürstensitz blieb nicht nur im ersten Jahrzehnt des Krieges von Kampfhandlungen verschont, sondern war bereits seit 1613 mit dem Herzog und Pfalzgrafen Wolfgang Wilhelm […] katholisch.“ Vgl. Heiduk (Anm. 78), S. 193. 136 DDK, S. 11: „Vom Anfang weiß ich nicht / weil ich in solchem Jahr’ / | Als sich der Krieg erhob / noch ungebohren war.“ 137 Auff den Seeligen Todt | Der Wolgebornen Frawen / | Frawen Barbare Wachtelin / | Geborner Bessin / Freyin von Cölln und | Götzendorff / Frawen auff Mangschütz | und Hertzogßwalda. | Welche den 17. Augusti vesp. umb. | 10.Uhr Anno 1639. seeliglich von dieser | Welt geschieden. (Das Original befindet sich im Besitz von Heiduk; vollständig zitiert bei Heiduk [Anm. 78], S. 195). 138 Da das artistische Studium in etwa zwei bis höchstens drei Jahre dauerte, kann Greflinger 1639 kaum noch an der Universität gewesen sein. Vermutlich legte er auch kein Magisterexamen ab, zumindest liegen hierfür keine Zeugnisse vor. In dem Gedicht „Sein Erstes an Floren“ (In: Seladons Beständige Liebe. Franckfurt am Mayn Verlegt von Edouard Schleichen Buchhändler. MDCXLIV) heißt es: „Zwar die Wahrheit zu bekennen / Ich hab etwas schlecht studiert.“ Harper (Der Liederdichter Georg Greflinger. In: Regionaler Kulturraum und intellektuelle Kommunikation vom Humanismus bis ins Zeitalter des Internet. FS für Klaus Garber. Hg. von Axel E. Walter. Amsterdam, New York 2005, S. 211–238, hier S. 214) ist sich sicher, dass „er [Greflinger] sein Studium nicht beendete und nie einen Universitätsabschluß erreichte.“ 139 DÜNNHAUPT II, S. 855.
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lichen Professor der Poesie berufen worden. Als 1631 der Rhetorik-Lehrstuhl vakant geworden war, kam die Universität zu dem Schluss, dass Buchner „auch in lateinischer und deutscher Sprache einen guten Oratorem gibt“, so dass er ab 1632 zusätzlich die Beredsamkeitsprofessur übernahm.¹⁴⁰ Maßgebliche Prägung hatte die in Wittenberg unterrichtete Poetik unter Buchners Lehrer, Friedrich Taubmann (Professor von 1593 bis 1613, zugleich sächsischer Hofpoet) erfahren, der sich an der neulateinischen Poetik Scaligers orientierte und dabei auch für die Verwendung der Muttersprache plädierte.¹⁴¹ Sein an Plautus geschulter satirischer Stil und vor allem seine Epigrammatik haben für Greflinger Vorbildcharakter. Mehrere Epigramme wird Greflinger später explizit als Taubmann-Imitationen ausweisen. In die Wittenberger Zeit muss auch Greflingers Bekanntschaft mit August Augspurger (1620–1675) fallen, der seit 1634 in Leipzig Jura und Theologie hörte.¹⁴² Der Sohn des sächsischen Hofbeamten Caspar Augspurger, ein protestantischer Exulant, könnte für Greflinger in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Weggefährte gewesen sein:¹⁴³ Das gemeinsame Interesse an Poesie mag die jugendlichen Autoren verbunden haben, auch, dass beide Buchner als Autorität anerkannten, so dass es eventuell zu einem Austausch der ersten poetischen Versuche kam. Jedenfalls sind thematische Überschneidungen beider Frühwerke – Augspurgers Reisende Clio (Dresden 1642) und Greflingers Seladons Beständige Liebe (Frankfurt am Main 1644) – zu beobachten. So weisen beide Lyriksammlungen eine
140 Denomination der Universität Wittenberg an den Kurfürsten 17. Januar 1632 (Entwurf) zitiert nach Heinz Kathe: Die Wittenberger Philosophische Fakultät: 1502–1817. Köln u. a. 2002, S. 179. 141 Die Vorrede seiner Culex-Edition (ein satirisches Gedicht aus der Appendix Vergiliana) enthält ein Plädoyer für die Muttersprache und bietet einen literaturhistorischen Abriss über die alte deutsche Poesie. Kathe (Anm. 140), S. 184. 142 Augspurger stammte aus Prag, wo sein Vater als kaiserlicher Hofbuchführer amtierte. Im Zuge der Protestantenverfolgung gelangte die Familie nach Dresden, wo der alte Augspurger am Hof Anstellung fand. Auf das 1634 begonnene Studium Augusts in Leipzig folgte nach dem Examen 1639 eine Bildungsreise. Von dieser zurückgekehrt, veröffentlichte er 1642 in Dresden die Lyriksammlung Augusti Augspurgers Reisende Clio. Sein Studium setzte er ab 1644 bei Buchner fort, wirkte als Hofmeister und erhielt schließlich eine Amtsvogtstelle in Weißenfels. Neben der Reisenden Clio ist Augspurger als Übersetzer hervorgetreten. Zu Augspurger vgl. DÜNNHAUPT I, S. 353–356 und Bernd Prätorius: Art. „August Augspurger“. In: KILLY 1, S. 255. 143 Über das genaue Verhältnis zwischen den beiden Autoren lässt sich nichts sagen, als dass Greflinger in einem Gedicht Augspurger (Seladons Beständige Liebe, S. 44) als „alten Freund“ bezeichnet. Als Augspurger in Wittenberg studierte, weilte Greflinger wohl bereits in Danzig. Diese Tatsache übersieht von Oettingen (Anm. 72, S. 6). Heiduk vermutet jedenfalls „intensive Beziehungen zu August Augspurger“ (Anm. 78, S. 193).
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ähnliche Thematik auf,¹⁴⁴ insofern die Sonette (nur Augspurger), Oden und Epigramme von beständiger Liebe, von Abschied und Wankelmut der zurückgebliebenen Geliebten handeln.¹⁴⁵ Eine Verbindung ergibt sich ferner durch den Namen der Protagonistin, die sowohl bei Greflinger als auch bei Augspurger „Flora“ heißt. Greflinger selbst stellt gewissermaßen einen intertextuellen Bezug zu dem Werk seines Freundes her, wenn er in seinem Liederbuch Seladons Beständige Liebe (1644) ein Lied „Seines alten Freundes H. Augusti Augspurgers Flora“ betitelt und kurz auf die gemeinsame Zeit in der „schönen Rauten Stadt“ – gemeint ist Dresden – anspielt.¹⁴⁶ Formal unterscheiden sich die beiden Sammlungen dahingehend, als sangbare, also strophische Oden, bei Augspurger nur einen kleinen Teil der Gedichte ausmachen, während diese bei Greflinger dominieren. Stattdessen präsentiert Augspurger ein vielfältigeres formales Programm, also „Stilübung im Geiste des opitzianischen Literaturprogramms“,¹⁴⁷ Vermischtes aus dem „Garten der poetischen Formen und Gegenstände“ (wie es im Titel heißt), überwiegend Sonette und Epigramme, die eher im Kontext des Dresdner Hofes zu verorten sind als beispielsweise im Umfeld der Leipziger Studentendichter.¹⁴⁸
3 Itinerar II: Dresdner Hofgesellschaft 1638 ist Augspurger Respondent einer Disputatio ethica („De amicitia“), zu Beginn des Jahres 1639 erhält er den Magistergrad und bald werden in Dresden unter seinem Namen zwei Epicedien gedruckt.¹⁴⁹ Im selben Jahr erscheint ebenfalls in Dresden eines der ersten nachweisbaren Werke Greflingers: Georgij Greblingerj. Weinacht-Gedancken / Mit angehengtem Newen Jahres wuntsch. Dresden: Wolff Seyffert 1639.
Das zwölf Quartseiten umfassende Exemplar, das Blühm sichtete und beschreibt, entstammt einem Sammelband der Lüneburger Ratsbibliothek, in dem auch
144 Auch Harper deutet diese Beobachtung in Bezug auf Augspurgers Reisende Clio an: „ […] throughout the sequence the song remind one of a sonnet cycle, proceeding from wooming to farewell and demands for fidelity.“ Harper (Anm. 112), S. 168. 145 Diese Themen und Motive findet man natürlich generell in Liebesdichtung. 146 Seladons Beständige Liebe, S. 44. 147 Prätorius (Anm. 142), S. 255. 148 Harper (Anm. 112), S. 169. Augspurger hatte in Leipzig sein Studium abgeschlossen. 149 DÜNNHAUPT I, S. 354 (Nr. 3–5).
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geistliche und weltliche Texte von Brehme, Lund, Rist und Rollhagen eingeheftet sind.¹⁵⁰ Die Weinacht-Gedancken bestehen aus sieben Gedichten: Weinacht Gedancken, Ode, An das undanckbare Bethlehem, Daß jhme das Jesulein was bescheren wolle, An die Mutter Jesu, Eben an Sie und An den Friede=Fürsten JEsum. Thematisch kreisen die schlichten, in stilistischer Hinsicht oft kindlichnaiv anmutenden Gedichte¹⁵¹ um das Mysterium der Jungfrauengeburt¹⁵² sowie um den weihnachtlichen Friedensgedanken. Bei den Widmungsempfängern des kleinen geistlichen Zyklus’ handelt es sich um Dresdner Hofbeamte: den kurfürstlichen Kammerdiener Christoph Lehenmann, den Geheimsekretär Christian Reichboldt sowie den Münzmeister Sebald Dürrlebern – allesamt ‚Arbeitskollegen‘ von Capsar Augspurger, Augusts Vater. In der Vorrede zu den Weinacht-Gedancken begegnet man dem ersten Selbstzeugnis Greflingers, das die Kenntnisse eines rhetorisch geschulten, mit dem
150 Blühm (Neues, Anm. 77), S. 74 ff. 151 Das Gedicht „Daß jhme das Jesulein was bescheren wolle“ mutet wie ein Kindergebet an: „1. Jesulein Du bringest allen Etwas mit von deinem Thron Als ein reicher GOttes Sohn / Lasse Dir mich auch gefallen Bringe Mir / ich bitte Dich Etwas mit / Erfreue Mich. […].“ 152 So lauten die (wenig geschmeidigen) Eingangsverse der Weihnacht-Gedanken: „Heute können mir die Augen wenig taugen. Dann was vns in dieser Nacht wird gebracht Muß ich nur den Glauben lassen veste fassen. Heute wird mit nichts mein sinnen nützen können. Einer Jungfraw Niederkunfft Die Vernunfft Wann man Ihr gleich die beschreibt Wenig gläubet. Mit dem Glauben muß ich sehen / Was geschehen. […]. Glaubens=Ohren=Glaubens=Augen heute daugen.“
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‚Argumentationssystem‘¹⁵³ einer praefacio vertrauten Absolventen einer Lateinschule bzw. der Artistenfakultät, demonstriert: WIE andre diese Feyertage zugebracht / laß Ich seyn / Ich Habe mich mit den Leuthen meines Herkommens / alß Mit den einfältigen Hirten / zu den Krippen Jesu ge= machet / Ihn mit den Glaubensaugen anzusehen / wo= rüber ich dann diese Gedancken gehabet / die jch allhier zu Pappier bringen wollen / welche zwar in Reymen / aber ohne alle hoch trabende Wort vnnd schönen Farben verfasset / dann es die Hirten Natur andern nach zumachen nicht weiß. Daß jch aber solches Hochgeehrte Herren / vnter dero Nah= men an die Sonne setze / reitzen mich darzu / die vielfaltigen Gutthaten / die Sie an mich Vnwürdigen angelegt / nicht daß diese schlechte Reymen solten eine Wiedergeltung bezeigen / sondern mein danckbares Gemüth erzeigen / un(d) mich Ihren Gunsten mehrers empfelen sollen. Wüntsche Ihnen hiemit Allen ein Glückseliges / Frewdenreiches Jahr von vnsern Newgebornen Kindlein JEsu / dessen Schutze jch Sie auch alle empfehle. Geben / Dreßden / am heutigen Christage 1638. Georgius Greblinger.¹⁵⁴
Ein gewisser historischer Quellenwert dieser Vorrede im Sinne eines Ego-Dokuments kann natürlich nur konstatiert werden, wenn man sich der hier vorgenommenen topischen Selbststilisierung bewusst ist. Blühms erlebnisphilologische Lesart, Greflinger spiele durch den Vergleich mit den Hirten an der Krippe „ganz real auf sein Herkommen an“¹⁵⁵, muss daher in Frage gestellt werden, denn die Identifizierung des Poeten mit dem Schafshirten steht freilich in der arcadia-Tradition. Hinzukommt, dass die Weihnachtsgeschichte seit dem Humanismus gerne in einen bukolischen Mantel gehüllt wurde. Damit sei jedoch nicht ausgeschlossen, dass sich im Fall Greflingers der literarische Topos mit der biographischen Realität deckt: Durchaus ist es plausibel, dass er aus ländlichen Verhältnissen stammt, und, wie es in dem Columbin-Gedicht heißt, Schafe gehütet habe. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Oberpfälzer sich hier auch als Schüler August
153 Joachim Dyck: Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. 3. Auflage. Tübingen 1991 („Den Zusammenhang aller derjenigen Argumente nun, die gemeinsam den Problemgehalt einer behandelten Sache umgreifen, nennen wir Argumentationssystem“), S. 114. 154 Zitiert nach Blühm (Neues, Anm. 77), S. 76. 155 Ebd.
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Buchners präsentiert. Dieser hatte 1628 seine Weyhnacht Gedancken¹⁵⁶ publiziert und sie ebenfalls Dresdner Hofbeamten gewidmet. Auf eine Prätext-Funktion der Buchner’schen Gedichte weist neben dem Titel die Vorrede, die einen sehr ähnlichen Wortlaut wie Greflingers Widmungsschreiben hat: Wie andere diese hochfeyerliche Tage fürbey gebracht / gehet mich nicht an. Sonst erfordert heilige Zeit gleiches Beginnen. Meine Person anlangend / habe ich mich zwar nichts als meiner Schwachheit zurühmen: Doch werden die nachgesetzten Reime bezeugen können / mit was für Gedancken ich umbgangen […].¹⁵⁷
Auch liefert ein Augustinus-Zitat aus den Sermones, das Buchner seinen Weyhnacht Gedancken voranstellt, sowohl dem Professor als auch dem Schüler das Thema.¹⁵⁸ Den Friedensgedanken des Weihnachtsfestes stellt Buchner im Vorwort als weiteren Gegenstand seines Werkes vor, wobei er den aktuellen Zeitbezug explizit benennt. Auch Greflinger behandelt dieses Thema, wenngleich die Verse des Wittenberger Gelehrten sich gewiss in sprachlicher Hinsicht als auch mit Blick auf das theologische Reflexionsniveau deutlich vom Debütwerk des Studenten abheben. In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass es zu Buchners Unterrichtspraxis gehörte, seinen Schülern an hohen Festtagen, vor allem an Weihnachten, Gedichte zum Anlass mit unterschiedlichen Versmaßen vorzutragen. Anschließend lud er seine Zuhörer ein, ihrerseits ein neues Lied zum Lobpreis des Christuskindes zu verfassen. In Buchners privatem collegium poeticum wurden die Ergebnisse besprochen.¹⁵⁹ Denkbar, dass Greflingers Weihnachtsgedichte in diesem Kontext entstanden sind. In jedem Fall ist die Widmungsvorrede ein wichtiges Dokument, weil sie beweist, dass Greflinger sich Ende des Jahres 1638 im Umfeld des Dresdner Hofes aufgehalten und hier unter den Hofbeamten einige Gönner gefunden haben muss: „Da alle drei Angeredeten – Lehenmann, Reichbrod¹⁶⁰ und Dürrleber –
156 Augusti Buchneri Weyhnacht Gedancken. 1628 (VD17 35:719241K). Zwischen Seite 3v und 5r fehlen im vorliegenden Exemplar (Leibniz Bibliothek Hannover) Seiten, so dass ein vollständiger Vergleich mit Greflingers Gedichten nicht möglich ist. Ab Seite 5r wechselt die Sprache von Deutsch zu Latein. Den letzten Teil stellt ein „Eidyllion alterum. In quo vota pro pace“ dar. Zur Tradition lateinischer und deutscher Christgeburtpoesie vgl. Martin Keller: Johann Klajs Weihnachtsdichtung. Berlin 1971. 157 Buchner, Weyhnacht Gedancken, Widmungsvorrede. 158 „Augustinus im 8. Sermon vber den Geburtstag des Herren“. Das Zitat bezieht sich auf die Jungfrauengeburt. Greflinger zitiert Augustinus nicht explizit. 159 Keller (Anm. 156), S. 17 f. 160 Der Widmungsempfänger Reichbrod wird auch in dem oben erwähnten, etwa 15 Jahre später entstandenen, Columbin-Gedicht als Förderer Greflingers genannt („Reichbrod / der dem
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im kursächsischen Dienst standen, liegt die Annahme nicht fern, daß Greflinger damals sein Brot am Dresdner Hof oder in einer sächsischen Amtsstube verdiente.“¹⁶¹ Damit führt Greflingers Weg direkt in eines der bedeutendsten politischen wie kulturellen Zentren des Reiches, wobei am Hof der Wettiner wie andern Orts der Krieg finanzielle Nöte mit sich gebracht hatte und das kulturelle Leben beeinträchtigte. Auch Hofkapellmeister Heinrich Schütz litt unter den Sparmaßnahmen, immer wieder kam es zu Engpässen bei der Bezahlung der Hofmusikanten. Selbst der feierfreudige Kurprinz Johann Georg II. musste im Laufe der Kriegsjahre, spätestens seit den 1630er-Jahren, zunehmend auf große Feierlichkeiten verzichten. Erst nach dem Friedensschluss konnte Dresden wieder eine kulturelle Blüte erreichen.¹⁶² Von Kriegsbeginn an stand der kursächsische Hof im Brennpunkt der politischen Ereignisse. Zunächst auf kaiserlicher Seite, war Kurfürst Johann Georg I. ein Bündnis mit den Schweden eingegangen, um sich nach der Schlacht von Lützen und der katastrophalen Niederlage in der Schlacht von Nördlingen wieder an den Habsburger anzunähern. Schließlich führten Verhandlungen, in denen Kursachsen als Vertreter der protestantischen Reichsstände agierte, zu einem Bündnis des Kaisers mit den Reichsständen, das im Prager Frieden 1635 besiegelt wurde. Daraufhin verbündeten sich jedoch die Schweden mit Frankreich – bekanntlich der Beginn der blutigsten Phase des Krieges. Der Friedensschluss von 1635 einerseits und andererseits die schwedisch-französische Allianz riefen überall im Reich, besonders aber in Dresden, eine patriotische Stimmung hervor. Bei Greflingers Dresdner Verleger Wolf Seyffert erscheinen im Jahr der Weihnacht-Gedancken entsprechende Flugschriften, die die politische Atmosphäre in der kurfürstlichen Residenzstadt zur Zeit von Greflingers Aufenthalt greifbar machen.¹⁶³
grossen Sachsen | Von geheimten Schrifften lieb / | War der andre / der dich trieb | Daß dein Tichten möchte wachsen.“). 161 Blühm (Neues, Anm. 77), S. 78. 162 Vgl. Helen Wanatabe-O’Kelly: Dresden. In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit. Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum. Hg. von Wolfgang Adam, Siegrid Westphal in Verbindung mit Claudius Sittig und Winfried Siebers. Berlin, Boston 2012, Bd. 1, S. 417–466, hier S. 444 f. 163 Blühm (Neues, Anm. 77), S. 79, erwägt, dass Greflinger Verfasser der patriotischen Schriften „Der deutsche Planet“ und „Nothwendige Informationen“ sein könnte. Dafür gibt es jedoch keinerlei konkrete Hinweise.
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Greflingers Aufenthalt im Umfeld des Dresdner Hofes dokumentiert außerdem ein bislang unbekanntes Glückwunsch-Gedicht auf den sächsischen Kurprinzen, datiert den 31. Mai 1638: Glücks=Krantz Dem Durchlauchtigsten / Hochgebornen / Fürsten vnd Herrn / Herrn Johann=Georgen / Herzogen zu Sachsen / Gülich / Cleve und Berg / Landgrafen in Düringen / Marggrafen zu Meissen / auch Ober= vnd NiederLausitz / Grafen zu der Marck vnd Ravenspurg / Herrn zum Ravenstein / Meinem gnädigsten Fürsten / vnd Herren. An dero Hoch=Fürstl. Durchl. Sechs vnd Zwantzigsten mit GOtt vnd Glück gesund erlebten Geburts=Tag / Den 31. May / 1638.
Das Gelegenheitswerk besteht aus zwei Teilen: einem Sonett und einer Ode. Das Sonett nimmt auf das Wappen der Wettiner, die Raute, Bezug: Gott hat als „Gärtner dieser Erden“ (V. 2) für die Fortpflanzung der „Raute“ gesorgt, die daraufhin einen wohl duftenden, tugendhaften „Zweig“, gemeint ist also der Adressat, hervorgebracht hat. Als bald darauf die Vermählung des Kurprinzen mit der Uraufführung von Schütz’ Singballett Orpheus und Euridice (Libretto: August Buchner), mit dem – wie der Komponist verkündete – „in Teutschland noch ganz ohnbekandt[en]“ italienischen Rezitativstil¹⁶⁴ gefeiert wurde, müsste sich Greflinger noch am Hof aufgehalten haben, so dass er wahrscheinlich Zeuge dieses Spektakels gewesen ist. In seiner ersten Epigrammsammlung (Danzig 1645) huldigt Greflinger dem Hofkapellmeister möglicherweise mit Bezug auf dieses Werk: Auff den vortrefflichen Herrn Schützen Des Orpheus Spielen zwung der Erden ihr Gewimmel / Du Schütze zwingest mehr / Du zwingest Erd und Himmel.¹⁶⁵
Schließlich weist ein Grabgedicht aus dem Jahr 1648 auf Greflingers Dresdner Wirkungskreis. Es handelt sich hierbei um ein Epicedium, das der Leichenpredigt des Quedlinburger Superintendenten D. Johannes Hofer für den sächsischen General Hans Vitzthum von Eckstedt beigefügt ist.¹⁶⁶ Beachtenswert ist, dass Greflinger also noch etwa zehn Jahre nach seinem Aufenthalt in Sachsen
164 Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz (1585–1672): Kulturpatriotismus und deutsche weltliche Vokalmusik. Bern 2003, S. 102. 165 Georgen Grevlingers. Deutscher EPIGRAMMATVM. Erstes Hundert. Danzig 1645, D IVr. 166 Hoch Andeliche vnd Ansehlichen Begräbnis / Des HochEdelgebornen / Gestrengen vnd Mann-Vesten Herrn / H: Hansen Vitzthumb von Eckstedt / etc. Der Cron Schweden General-Lieutnants / etc. etc. […] Quedilinbuurg 1648. Biographische Informationen zu Hans von Vitzthum
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den Auftrag für ein Casualwerk aus dem Umfeld der Dresdner Hofgesellschaft erhält, dort also immer noch über eine gewisse Bekanntheit verfügt haben muss. Ferner ist eine kleine Randnotiz in diesem Trauergedicht bemerkenswert: Greflinger nimmt Bezug auf ein Grabgedicht für einen bereits verstorbenen Verwandten des Generals Hans Vitzthum: „Dam Vietzthumb / dem ich auch zu seinem Grabe sang? | Wer ist von Ihnen nicht ein Held / geschickt vnd lang.“ Besagter Dam(ian) Vitzthum, kursächsischer Kriegskommissar, fiel im Juli 1638 bei der Warnemünder Schanze und wurde mit großen Ehren, unter Anwesenheit des Kurfürsten, im Magdeburger Dom beigesetzt. Wenn Greflingers Aussage stimmt, er habe zu diesem Anlass ein Epicedium verfasst – ein solches Gedicht konnte bislang nicht nachgewiesen werden –, müsste er also im Sommer 1638 bereits seit einiger Zeit am sächsischen Hof gewirkt haben.¹⁶⁷ Schließlich bezieht sich noch ein Hinweis in Greflingers Verschronik vom Dreißigjährigen Krieg auf seine sächsischen Verbindungen, da er hier behauptet, bei die Eroberung Pirnas durch Banér im Frühjahr 1639 vor Ort gewesen zu sein,¹⁶⁸ wobei er nicht andeutet, ob er im sächsischen Heer gedient hat oder in anderer Funktion am Kampfgeschehen beteiligt war.¹⁶⁹ Heiduk vermutet vielmehr, Greflinger habe zeitweise als Berichterstatter sein Brot verdient und auf diese Weise „den Krieg zur Nahrung“ genommen wie es in dem eingangs erwähnten Columbin-Gedicht mehrdeutig heißt. Andererseits behauptet Greflinger in einem Hamburger Gelegenheitswerk, Soldat gewesen zu sein.¹⁷⁰
4 Itinerar III: Schlesien Bisweilen wurde die Behauptung aufgestellt, Greflinger sei während seiner Zeit in Wittenberg und am kursächsischen Hof auch mit dem Kreis der Leipziger Dichter in Verbindung gestanden. Zeugnisse für eine Begegnung beispielsweise
und seiner Familie bietet Elger Blühm: Zwei Mitteilungen über Greflinger. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 7 (1980), S. 129–132, hier S. 129 ff. 167 Vgl. ebd. 168 „So aber sich Bannier nach Böhaims Grentzen fügte / Gieng er nach Pirna hin / das er auch bald besiegte / Und alles niderhieb was in den Waffen war. Ich selber stundte da in eußerster Gefahr.“ DDK, S. 118 f. 169 Blühm (Neues, Anm. 77), S. 78. 170 In einem Hochzeitsgedicht [Hamburger Stadtbibliothek, Kriegsverlust] heißt es: „Ich war vor diesem ein Soldat.“ Walther (Anm. 85), S. 104.
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mit Brehme, Lund und Homburg liegen jedoch nicht vor.¹⁷¹ Gleichwohl ist zu bedenken, dass der Einfluss dieser Gruppe junger Autoren auch nach Flemings Tod „sich räumlich über die Stadt [Leipzig] hinaus auf Wittenberg und eine Reihe von Schülern August Buchners“ erstreckte und ihre spezifische, vorwiegend satirisch-parodistisch geprägte Lyrik „bis in die vierziger Jahre und darüber hinaus“ produktive Aneignung fand.¹⁷² Vor allem der musikalische Charakter der Leipziger Poesie ist, neben dem Motivrepertoire und stilistischen Aspekten, auch in Greflingers Lieddichtung zu beobachten, so dass ein Einfluss dieser Autoren angenommen werden kann, ohne dass es zu einer direkten persönlichen Begegnung gekommen sein muss. Folgt man indessen weiter der Spur der ‚harten Fakten‘, findet man Greflinger bald in Schlesien. Hier dediziert er dem Oberlandeshauptmann von Ober- und Niederschlesien, Carl Eusebius, einen kleinen geistlichen Zyklus (WeihnachtGedancken, An die Mutter Jesu, An das liebe Jesulein), der auf das Jahr 1639 zu datieren ist und der zwei Gedichte der Dresdner Weihnacht-Gedancken enthält.¹⁷³ Über der gedruckten Widmung an Carl Eusebius ist in einem Exemplar eine handschriftliche Widmung an den „Freyherrn von Nostitz“ beigefügt, vermutlich von Greflinger selbst, denn an denselben Adressaten richtet der Dichter als „Georg Greblinger Neoburgo Palatinus Phil. Studiosus“ im August 1639 ein Epicedium, auf das oben bereits kurz hingewiesen wurde.¹⁷⁴ Sowohl bei Carl Eusebius als auch bei Otto von Nostitz handelt es sich im Übrigen um katholische Fürsten, die sich an den gegenreformatorischen Maßnahmen in Schlesien beteiligt hatten und hoch in der Gunst des Kaisers standen. Heiduk vermutet, dass Greflinger in dieser
171 Georg Witkowski: Geschichte des literarischen Lebens in Leipzig [1909]. Mit einem Nachwort von Christel Foerster. München u. a. 1994, S. 153 schreibt (ohne Quellenbeleg): „Georg Greflinger ist um die Mitte der dreißiger Jahre vorübergehend in Leipzig gewesen […].“ 172 Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung 1570–1740. München 2008, S. 155. Eine Revision der Auffassung, die Leipziger seien auf ein oberflächliches Repertoire von Studenten- und Saufliedern beschränkt gewesen, legte Harper in verschiedenen Arbeiten vor. 173 Übernommen werden das Titelgedicht „WeinachtGedancken“ und die „Ode“ („Und will ich fromm / nicht witzig seyn“). Heiduk (Anm. 78), S. 194. Der Zyklus, der sich im Prager Národní Muzeium befindet, ist im Anhang des Aufsatzes als Faksimilie abgedruckt. 174 Auff den Seeligen Todt Der Wolgebornen Frawen Barbare Wachtelin, s. Heiduk (Anm. 78), S. 195. Bei der Verstorbenen handelt es sich um Nostitz’ Schwiegermutter. Das zitierte Exemplar lag auf Schloss Lobris bei Jauer in Schlesien und befindet sich im Besitz Heiduks. An jenem Fundort befand sich auch ein Hochzeitsgedicht, das Greflinger 1640 auf die Hochzeit von Otto von Nostitz und Barbara Katharina von Wachtel verfasst hatte. (Ebd., S. 196).
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Zeit möglicherweise im Auftrag Nostitz’ mit diplomatischen Missionen nach Wien geschickt worden ist.¹⁷⁵ Etwa ein Jahr später¹⁷⁶ widmet Greflinger auch Herzog Georg Rudolf von Liegnitz, dem Bruder Johann Christians von Brieg, ein 94 Alexandriner umfassendes politisches Gedicht: Querela GERMANIAE. Dem Durchlauchtigen Hochgebornen Fürsten vnd Herrn / Herrn Georg Rudolffen / Hertzogen in Schlesien zur Liegnitz vnd Brieg / Meinem gnädigen Fürsten vnd Herren / vbergibts demüttigst GEORGIUS GREBLINGER.¹⁷⁷
Der ‚Archetypus‘, dem die Querela nachgebildet sind, ist Petrarcas allegorische Versepistel der trauernden Roma – ein Muster, das „bis in die Jahre des Dreißigjährigen Krieges abrufbar blieb und noch bei Autoren wie Rompler von Löwenhalt [Das rasende Teutschland, 1647] in Straßburg […] die politisch-militärischen Katastrophen des Reiches in kollektiver Trauer oder flammender Empörung zur Sprache brachte.“¹⁷⁸ Überhaupt hat es den Anschein, dass es seit etwa Mitte der 1630er-Jahren kaum eine Region im Reich gab, „deren prominente literarische Vertreter nicht den Typus des Bußgedichtes oder poetischen ‚Querela Germaniae‘ gepflegt hätten.“¹⁷⁹ Exemplarisch wäre hier an Flemings Versepistel Schreiben vertriebener Frau Germanien an ihre Söhne oder die Churfürsten, Fürsten und Stände in Deutschlande zu denken. In dieser Flugschrift entwirft Fleming, wie auch Greflinger in seiner Querela, nach dem Vorbild patriotischer Schriften des 16. Jahrhunderts ein Plädoyer für die Einigkeit des Reiches. Beide Texte, Gref-
175 In dem ‚biographischen‘ Gedicht des ‚Columbin‘ (s. o.) wird angedeutet, dass Greflinger sich in Wien aufgehalten hat und von einem Herrn Kielmannseck gefördert wurde. Vgl. dazu Heiduk (Anm. 78), S. 196 sowie Blühm (Neues, Anm. 77), S. 77, Anm. 8. 176 Diese Datierung würde passen, wenn man annimmt, dass Greflinger das Gedicht vor seinem Danziger Aufenthalt, der ab 1640 gewiss ist, verfasst hat. Das Gedicht könnte auch aus Danzig übersandt worden sein. 177 In Auszügen zitiert bei Neubaur (Anm. 44), S. 495 f. 178 Wilhelm Kühlmann: Reichspatriotismus und humanistische Dichtung [zuerst 2001]. In: Ders.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland. Hg. von Joachim Telle, Friedrich Vollhardt, Hermann Wiegand. Tübingen 2006, S. 84–103, hier S. 101. Möglicherweise kannte Greflinger den Petrarca-Text selbst nicht und Adaptationen dieser Versepistel dienten ihm als Vorbild. 179 Wilhelm Kühlmann: Krieg und Frieden in der Literatur des 17. Jahrhunderts. In: 1648. Krieg und Frieden in Europa. Hg. von Klaus Bußmann, Heinz Schilling. Textband II: Kunst und Kultur. Münster u. a. 1998, S. 329–338, hier S. 335.
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lingers und Flemings, lassen dabei in der genannten Petrarca-Tradition ‚Mutter Germania‘ sprechen, die ihren Kindern vorwirft, sich selbst zu zerfleischen, statt gemeinsam gegen auswärtige Feinde zusammenzustehen. Greflinger unterstreicht diese Forderung zudem durch eine Ehrung von Kriegshelden beider Parteien: Der „tapfer Tylli / der billich zu beschencken Mit Lob der komenden“ wird ebenso gewürdigt¹⁸⁰ wie der „schlawe Pappenheimb“ und „Gustav Adolph auß Schweden“. Die Klage über Tod, Verwüstung und Zwietracht mündet schließlich in einem Appell der Germania, die Aggression gegen die osmanische Bedrohung zu richten – wiederum ein Gedanke, der bereits die patriotische Dichtung der Türkenlyrik des 16. Jahrhunderts prägte und in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges aktualisiert wurde. Gerade in Schlesien, wo die Konfrontation mit der türkischen Gefahr im kollektiven Gedächtnis fest verankert war und das Thema nicht zuletzt aufgrund der Thronbesteigung Ibrahims I. (1640) wieder brisant wurde,¹⁸¹ scheint der Rückgriff auf dieses Argumentationssystem besonders geeignet: Es siehet bald alß gieng ein newes Fewer auff Auch von Bisantz heran / was ich von meinen Kindern Verschonet worden / will der Christen Bluthundt mindern Vnd mich verschlucken gantz. Habt ewers spieles saat Daß Deutschlandt seine Krafft für jhn beysammen hat. […] Fort an Bisantz hinzu / wann jemehr lust zu streiten Das deutsche Hertze hat alß nach den friedens zeiten Da habt jhr mehrers Ehr / wann Ihr mir widerbringt Was Ich verlohren hab vnd mehr darzu bezwingt Als wann ein Bruder Hertz das andre will abschlachten Will sein selbs [!] Mörder sein. Das gib Ich zu betrachten.¹⁸²
180 Das ist eine gewisse Besonderheit, zumal Tilly seit der Eroberung Magdeburgs, gerade nach seinem Tod in der Schlacht von Breitenfeld (1631), von protestantischer Seite zum Feindbild aufgebaut wurde. (Vgl. Kühlmann [Anm. 179], S. 330). 181 Durch die 1640 erschienene Friedens-Rede Diederichs von dem Werder könnte Greflinger dieser Gedanke präsent gewesen sein (s. Neubaur [Anm. 44], S. 497). Die Friedensrede ist ihrerseits eine Adaptation der Querela pacis des Erasmus von Rotterdam (1517). Hier tritt der Friede als personifizierte Titelfigur auf, die nicht weiß, zu wem sie flüchten soll, da selbst die Christen sie verraten haben. Anlass der Kriege seien dynastische Heiraten und der dadurch provozierte Neid. Nach einer Klage über diese Zustände wendet sich der Friede in einem feierlichen Appell an die Mächtigen der christlichen Welt. Vgl. Kühlmann (Anm. 178), S. 87. 182 Zitiert nach Neubaur (Anm. 44), S. 496 f.
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Wilhelm Kühlmann hat darauf hingewiesen, dass sich „derartige Dichtungen im 17. Jahrhundert recht genau mit politischen Ereignissen und diplomatischen Aktivitäten koordinieren“ lassen.¹⁸³ So verfasste Fleming seine Schrift Schreiben vertriebener Frau Germanien nach der Landung Gustav Adolfs für das Publikum des Leipziger Konvents (1631), auf dem Verhandlungen in Regensburg zur Überwindung der schwierigen Lage des Reiches vorbereitet werden sollten.¹⁸⁴ Ein erhellender Kontext im Hinblick auf den Greflinger-Text ergibt sich durch den Widmungsträger, den Piasten Georg Rudolf, in dessen Dienst auch Opitz gestanden hatte. Der Herzog hatte aus Enttäuschung über die unnachgiebige Haltung Wiens hinsichtlich der rigorosen gegenreformatorischen Maßnahmen in Schlesien 1628 die Würde des Oberlandeshauptmanns, des Vertreters der schlesischen Stände, niederlegt. In der Folgezeit bemühte er sich zum Schutz seines Fürstentums Liegnitz um Neutralität, trat dann jedoch dem sächsischen Bündnis bei und mussten daher nach 1635 die Konsequenzen des Prager Friedens tragen. Allerdings folgte er seinem kalvinistischen Bruder nicht ins brandenburgische Exil, unterwarf sich stattdessen dem Kaiser und übernahm schließlich 1641 erneut das Oberhauptmannsamt. Auf die weiteren Ereignisse wirkte er jedoch kaum ein, sondern konzentrierte sich, nach dem Friedensschluss 1648 verstärkt, auf die Pflege von Wissenschaft und Musik.¹⁸⁵ Entscheidend ist also, dass das GreflingerGedicht in einer Zeit der Annährung zwischen dem Piasten und dem Wiener Kaiserhof entstand und somit als eine Bestärkung des politischen Einlenkens Rudolf Georgs verstanden werden könnte. Ferner zeigt sich, dass die Entspannung der konfessionellen Lage im Reich nach dem Prager Frieden auch für den existenziell nicht abgesicherten Universitätsabbrecher Greflinger von Belang gewesen sein wird. Sowohl ein protestantischer als auch ein katholischer Fürst wäre als Dienstherr in Frage gekommen. Doch ist es Greflinger offenbar nicht gelungen, an den ohnehin kriegsbedingt finanzschwachen schlesischen Fürstenhöfen Fuß zu fassen. Sein Weg führte ihn wie viele seiner jungen Zeitgenossen aus Schlesien nach Königspreußen.
183 Kühlmann (Anm. 179), S. 336. 184 Ebd. 185 Zu Georg Rudolf von Liegnitz vgl. Norbert Conrads: Das preußische Exil des Herzogs Johann Christian von Brieg. In: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines habsburgischen Landes. Hg. von Joachim Bahlcke. Köln u. a. 2009, S. 39–52.
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5 Itinerar IV: Danzig und Frankfurt Greflinger muss 1640 in Danzig angekommen sein, zwischen 1643 und 1644 in Frankfurt am Main geweilt haben, und im Frühling 1644 wieder in die Metropole an der Ostsee zurückgekehrt sein.¹⁸⁶ Ende 1646 lebte Greflinger bereits in Hamburg. Etwa sechs Jahre hat er also mit Unterbrechungen in Danzig verbracht – eine doch erstaunlich lange Zeit! Welche Chancen bot also die freie Handelsstadt im Preußen königlichen Anteils Mitte des 17. Jahrhunderts für einen literarisch ambitionierten, anfangzwanzigjährigen bayerischen Kriegsflüchtling? Wie kann Greflinger als ortsfremder Autor, der mangels universitärer Ausbildung – das sei vorausgeschickt – weder in dem akademischen noch geistlichen Milieu Danzigs beruflich Fuß fassen wird können, zu einem der produktivsten Casualiadichter der Metropole avancieren? Welchen Status hat er in der städtischen Gesellschaft, wie kann er seinen Lebensunterhalt bestreiten? Über welche Kontakte verfügt er, wer sind seine Auftraggeber, und schließlich – warum verlässt er Danzig? Zur Beantwortung dieser Fragen müssen zunächst die singulären sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen der westpreußischen Metropole in der Frühen Neuzeit in ihren Grundzügen erfasst werden.¹⁸⁷ Ziel des Kapitels ist es dabei, das bislang nahezu unbekannte Casualschrifttum Greflingers unter literarischen und sozialhistorischen Aspekten auszuwerten. Letzterer Gesichtspunkt erlaubt schließlich die Rekonstruktion des Aktionsradius, in dem sich der Neuankömmling bewegte. Das zu behandelnde Textkorpus umfasst etwa 100 Drucke, die durch die Kataloge und Verfilmungen des Interdisziplinäres Instituts für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit Osnabrück der Forschung erst seit wenigen Jahren zugänglich sind. Es versteht sich, dass nach Sichtung aller verfilmten Drucke aus platzökonomischen Gründen nur auf eine kleine Auswahl von repräsentativen Texten näher eingegangen werden kann.
186 Von Oettingen (Anm. 72), S. 7. 187 Vgl. hierzu die kommentierten Literaturangaben bei Klaus Garber: Die Danziger Stadtbibliothek. Sammler, Sammlungen und gelehrtes Leben im Umkreis der Stadt. In: Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück. Hg. von Klaus Garber. Bd. 23. Danzig, Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften. – Abt. 1. Gedanensia. Teil 1–3. Hg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Klaus Garber unter Mitarb. von Stefania Sychta. Hildesheim u. a. 2009, hier Teil I. Mit einer bibliotheksgeschichtlichen Einleitung und Bibliographie von Klaus Garber, S. 17–50.
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5.1 Handels- und Kulturmetropole mit ‚kosmopolitischem Flair‘: Danzig im 17. Jahrhundert Danzig gehörte seit der 1454 erfolgten Trennung vom Deutschen Ritterorden nominell dem Staatsverband des Königreichs Polen an. In dieser Konstellation genoss es verbriefte Freiheiten und Sonderrechte, die auch nach der Inkorporation durch die Lubliner Union (1569) in die neue polnisch-litauische Adelsrepublik gewahrt blieben und die die Ostseestädter erfolgreich zu verteidigen wussten.¹⁸⁸ Danzig blieb also de jure wie de facto eine autonome Stadtrepublik, der König von Polen war nicht Landesherr. Andererseits schuf der florierende Handel gerade durch die engen ökonomischen Beziehungen zum polnischen Hinterland seit Ende des 16. Jahrhunderts – bald schon übertraf der Danziger Hafen den Umsatz der Häfen von Riga, Königsberg oder Rostock um das Dreifache – die Grundlage für Danzigs Aufstieg von einer mittelgroßen Hafenstadt zu einer der bevölkerungsreichsten Metropolen Europas: Um 1650 lebten etwa 70 000 Menschen innerhalb der Stadtmauern.¹⁸⁹ Auch als Produktions- und Finanzzentrum gewann das aufstrebende „Venedig des Nordens“ – so ein durchaus treffender zeitgenössischer Vergleich – zunehmend an Bedeutung. Regiert und verwaltet wurde die Stadtrepublik durch ein komplex organisiertes Gemeinwesen mit einer mächtigen Patrizier- und Kaufmannsschicht an seiner Spitze,¹⁹⁰ deren Wohlstand seinen Ausdruck in einer aufs
188 Vgl. Edmund Cieślak, Czeslaw Biernat: History of Gdansk. Danzig 1988, S. 148–153. Die Auseinandersetzung im Zusammenhang mit der Wahl Stefan Báthorys dürfte hierfür beispielhaft sein. Danzig verweigerte 1575 aus Besorgnis um seine Privilegien die Zustimmung zur Wahl des Báthory-Fürsten und stellte sich stattdessen auf die Seite Kaiser Maximilians II., der sich ebenfalls um den polnischen Thron bewarb und der Hansestadt im Falle seiner Wahl die Bestätigung der Privilegien zusicherte. Nach gescheiterter Belagerung musste Stefan den Autonomiestatus Danzigs anerkennen. Die Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Danziger werden von Zeitgenossen akzentuiert. Vgl. zum Beispiel Rists „Zu- und Übereignungs-Rede“ des Liederbuchs Neues Musikalisches Seelenparadies (2. Teil) an die Stadt Danzig. Hans Viktor Böttcher: Johann Rist und die Stadt Danzig. „Zuschrift“ der Dichtung Neues Musikalisches Seelenparadies. Zweiter Teil – an die Stadt Danzig im Jahre 1662. Göttingen 1991. 189 Cieślak/Biernat (Anm. 188), S. 103; anderen Quellen zufolge zählte Danzig in der Mitte des 17. Jahrhunderts sogar bis zu 100 000 Einwohner (Maria Bogucka: Das alte Danzig. Alltagsleben vom 15. bis 17. Jahrhundert. Leipzig 1980, S. 8). 190 Man unterschied drei Regierungsordnungen: Der Rat, die Erste Ordnung, bestand aus zwölf Ratsherren und vier Bürgermeistern. Er leitete die innere Administration und vertrat die Stadt nach außen. Zwölf Schöffen bildeten die Zweite Ordnung, das Gericht. Die beiden ersten Ordnungen wurden zum Großteil von Vertretern miteinander verwandter bzw. verschwägerter Ratsfamilien gestellt. Die Dritte Ordnung repräsentierte mit 100 Mitgliedern (den „Hundertmännern“) die vier Danziger Stadtteile und wurde von den acht Älterleuten der vier Hauptgewerke der Schuster, Bäcker, Schmiede und Fleischer, den Vertretern der Kaufleute und der Zünfte sowie
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„betont Weltmännische und Kosmopolitische, auf Reichtum und Status gerichteten Repräsentationskultur“ fand.¹⁹¹ Dabei blieben die städtischen Ämter größtenteils in der Hand eingesessener Ratsfamilien, die sich entschieden mit ihrer Stadt und deren Geschichte identifizierten. Einen herben Einschnitt bedeuteten die Konsequenzen des ersten PolnischSchwedischen Krieges (1600–1629), wenngleich Gustav Adolf die Einnahme Danzigs nicht gelang. Doch die schwedischen Repressionen zehrten an den Kräften der im Zenit ihrer wirtschaftlichen Macht stehenden Handelsstadt. Erst das 1629 geschlossene, im Herbst 1635 verlängerte und 26 Jahre bestehende schwedischpolnische Waffenstillstandsabkommen brachte erneut eine Wende, indem es Danzig gewissermaßen den Status einer ‚Friedensinsel‘ verlieh.¹⁹² Bereits eineinhalb Jahrhunderte zuvor waren Einwanderer aus verschiedenen Teilen Europas nach Danzig geströmt. Waren es zu Beginn des 16. Jahrhunderts vorwiegend Handwerker und Kaufleute aus den Handelsstädten des Nord-Ostseeraums und der süd- und südostdeutschen Reichsteile, auch Bauern
Vertretern des Gelehrtenstandes gestellt. Zu den komplizierten Wahlverfahren vgl. die Beschreibungen bei Ogier (Kurt Schottmüller: Reiseeindrücke aus Danzig, Lübeck, Hamburg und Holland 1636. Nach dem neuentdeckten II. Teil von Charles Ogiers Gesandtschaftstagebuch. [= Zeitschrift des west-preussischen Geschichtsvereins 52 [1910], S. 210). 191 Dick van Stekelenburg: Michael Albinus „Dantiscanus“ (1610–1653): eine Fallstudie zum Danziger Literaturbarock. Amsterdam 1988, S. 15; vgl. auch Maria Bogucka: Les bourgeois et les investissements culturels: L’exemple de Gdańsk au XVIe et XVIIe siècles. In: Revue Historique 259 (1978), S. 429–440. 192 Dem letzten Jagiellonen Stefan Báthory folgte nach Machtkämpfen 1587 sein Neffe Sigismund, Sohn des schwedischen Königs aus der Wasa-Dynastie, auf den polnischen Thron. Damit war eine Personalunion zwischen dem protestantischen Schweden und dem katholischen Polen geschaffen, was bald zu schweren innen- und außenpolitischen Auseinandersetzungen führte. Sigismund beharrte gegen alle Widerstände auf seinem schwedischen Thronanspruch. Ein langjähriger Krieg um die Vorherrschaft im Dominium Maris Baltici folgte, aus dem Schweden als Sieger hervorging. Gustav Adolf, seit 1611 schwedischer König, besetzte 1626 schließlich Livland und Kurland, um nach Preußen vorzustoßen. Im August des Jahres erklärte er Danzig den Krieg, worauf im Winter 1627/28 eine Belagerung der Stadt folgte. Schließlich schlossen die beiden Wasa den Waffenstillstand von Altmark 1629 auf zunächst sechs Jahre, mit ungünstigen Bedingungen für Polen und seinem wichtigsten Getreideexporthafen Danzig. Die Hafenstadt musste fortab mehr als ein Drittel der Zollgebühren an die Schweden abführen. Auf Intervention Frankreichs und der niederländischen Generalstaaten wurden die Bedingungen gelockert und die Blockade des Danziger Hafens aufgegeben. Diese Bestimmungen wurden am 12. September 1635 vertraglich vereinbart – solang sie Geltung besaßen (bis zur zweiten schwedischen Invasion 1655), feierte man alljährlich am 12. September das „Bet- und Dankfeste.“ Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 81. Für Polen stellten die Waffenstillstandsverträge de facto eine veritable Niederlage dar, war damit doch der Anspruch auf den schwedischen Thron vertan. Ein Friedensfürst war Wladislav IV. auch in der Folgezeit wahrlich nicht.
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aus den ländlichen Nachbargebieten, erreichten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts Scharen von Glaubensflüchtlingen (vor allem aus Flandern, den Niederlanden und Schottland) die Weichselmündung, nachdem der polnische König 1557 in Danzig die Konfessionsfreiheit eingeführt hatte.¹⁹³ Das durchaus mit merkantilem Hintergedanken etablierte, relativ ‚tolerante‘ konfessionspolitische Klima, beförderte über die genannten Faktoren hinaus die kulturelle Entwicklung Danzigs. Für Dezennien gehörte die Stadt als quasi „Freizone praktizierter Toleranz inmitten des katholischen Königreiches“ auch „zu den Enklaven, in denen Angehörige der bedrängten schlesischen Protestanten mit den reformierten Häuptern und Dichtern wie Martin Opitz an der Spitze einen Unterschlupf fanden und überlebten.“¹⁹⁴ Auch Reiseschriftsteller wie die Franzosen Ogier und Le Laboureur sowie der Ungar Csombor lassen die in Danzig waltende Toleranz nicht unerwähnt, die sogar zeitweilig die Duldung von Arianern und Wiedertäufern miteinschloss. Zu den vorwiegend gelehrten jungen Männern, die seit den 1630er-Jahren dem ‚Exodus‘ protestantischer Schlesier in Richtung der Städte Preußens königlich polnischen Anteils und Großpolens folgten, gehörte bekanntlich auch der Student Andreas Gryphius. In seinem Gryphius-Buch versucht Szyrocki, die ersten Eindrücke des Schlesiers von der Metropole nachzuzeichnen: Die reiche Hafenstadt berauschte ihn durch die Mannigfaltigkeit und die Pracht ihres Treibens. Hier, wo Schiffe aus aller Welt vor Anker gingen, hier, wo sich die verschiedensten Glaubensbekenntnisse und Weltanschauungen kreuzten, waren auch die neuesten wissenschaftlichen und kulturellen Ereignisse Tagesgespräch. Aus der tiefsten Provinz war Gryphius mit einemal in eine der fortschrittlichsten und reichsten Städte gekommen.¹⁹⁵
193 Cieślak/Biernat (Anm. 188), S. 140. Zur Kirchengeschichte Danzigs vgl. Eduard Schnaase: Geschichte der evangelischen Kirche Danzigs. Danzig 1863. 194 Klaus Garber: Die alte Danziger Stadtbibliothek als Memorialstätte für das Preußen königlich polnischen Anteils. Sammler, Sammlungen und gelehrtes Leben im Spiegel der Geschichte. In: Beckmann/Garber (2005), S. 301–358, hier S. 302. 195 Marian Szyrocki: Der junge Gryphius. Berlin 1959, S. 72. Van Stekelenburg beurteilt die Situation in Danzig kritisch: „Es verwundert, daß diese Konstellation in Literaturgeschichten seit eh und je als eine für die Entwicklung der deutschen Dichtung in Danzig besonders vorteilhafte herausgestellt worden ist. Nur der versierte Literat Martin Opitz wußte die Stunde vermittels eines Lobgedichts […] für sich auszunutzen […]. Für die beiden damals aus Schlesien zugewanderten Studenten Andreas Gryphius und Christian Hofmann von Hoffmannswaldau waren Danzig und das Danziger Gymnasium Academicum nurmehr Zwischenstation auf der Reiseroute nach Holland und zur renommierten Leidener Universität. Damit erschöpft sich vorerst die ‚Reihe bedeutender schlesischer Dichter‘ [Eberhard Mannack: Andreas Gryphius. Stuttgart 1986, S. 6], die sich angeblich (nur im Fall des Andreas Gryphius tatsächlich kein Klischee) vor den Schrecknissen des Dreißigjährigen Krieges und den Auswirkungen der konfessionellen Spaltung
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Gewiss unterliegt man keinem „bürgerlichen Bildungschauvinismus des 19. Jahrhunderts“, wie van Stekelenburg befürchtet,¹⁹⁶ wenn man die in der vorliegenden Studie im Zentrum stehende Phase der Danziger Geschichte in summa als eine Glanzperiode auffasst und Greflingers Aufenthalt in der Weichselstadt somit in deren (allerdings allmählich ausklingendem) ‚Goldenen Zeitalter‘ situiert.¹⁹⁷ Nicht nur der französische Gesandtschaftssekretär Charles Ogier zeigt sich in seinem, der Danzigforschung wohl bekannten, Diarium vom prächtigen Erscheinungsbild und dem vielfältigen Kulturleben beeindruckt.¹⁹⁸ Auch andere Berichte aus der Feder von Vertretern der gelehrten Welt des 17. Jahrhunderts zeichnen ein farbenfrohes Bild der vitalen Metropole mit ihrem blühenden Handel, dem dichten Treiben in ihren Gassen und dem Potpourri verschiedener Sprachen und Gewänder, dem man hier begegnen konnte.¹⁹⁹ Orient und Okzident reichten sich auf den Märkten und Umschlagplätzen der Handelsstadt gleichsam geschäftig die Hände. Denn nicht nur aus ganz Europa trafen hier Kauf- und Seeleute aufeinander, sondern auch türkische und armenische Handelsleute gehörten zum Stadtbild. Bewundernd war die Rede von Danzig als „Fortunas Liebling“ oder der „Zierde der ehrwürdigen Polnischen Krone“, aber auch von „Gdańsk“ als „Chłansk“, dem alles verschlingenden Polyp.²⁰⁰ Noch im Jahr 1662 will Johann Rist die Handelsstadt zu den „Sieben Wundern der Welt“ zählen, „zumahlen auch diese in gahr kurtzer Zeit zu solcher Gewalt und zu solchem herlichem Ansehen aufgestiegen, daß ich nicht glaube, einigen Ohrt in der Welt sein, da Ihr Name nicht kundig.“²⁰¹ Eine der wirkmächtigsten Friedensutopien des 17. Jahrhunderts,
in der Heimat nach Danzig retteten.“ Van Steklenburg (Anm. 191), S. 26. Zum Thema vgl. auch die noch immer lesenswerte Studie von Theodor Hirsch: Über literarische und künstlerische Bestrebungen in Danzig während der Jahre 1630 bis 1640. In: Preußische Provinzblätter 7 (1849), S. 38–52. 196 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 25. 197 An anderer Stelle (S. 32) verortet van Stekelenburg selbst die Lebenszeit des Albinus in einem „Zeitraum, in dem Danzig den Gipfel seiner politischen und wirtschaftlichen Macht erstieg; die Periode seines Schaffens fiel zusammen mit der Hochblüte des wissenschaftlichen Humanismus und der schönen Künste in der vom Dreißigjährigen Krieg weitgehend verschont gebliebenen Stadtrepublik; er starb, kurz bevor der Ausbruch des Zweiten Schwedisch-Polnischen Kriegs (1655–1660) auch für Danzig eine Zeit allmählichen Niedergangs einleitete.“ 198 Caroli Ogerii Ephemerides sive iter DANICUM, SCECIVM, POLONICVM […] Paris 1656. Eine Teilübersetzung des Tagebuchs bietet Schottmüller (Anm. 190). 199 Vgl. die Quellensammlung von Berichten und Reisetagebüchern: Elida Maria Szarota (Hg.): Die gelehrte Welt des 17. Jahrhunderts über Polen. Zeitgenössische Texte. Wien u. a. 1972. 200 Bogucka (Anm. 189), S. 13. 201 Rists „Zuschrift“ des Liederbuchs „Neues Musikalisches Seelenparadies“ (2. Teil) an die Stadt Danzig.
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Maximiliens de Bethune Duc de Sully Grand Dessin, benennt Danzig als Sitz eines der sechs Provinzialräte in einer föderativ organisierten europäischen „république chrétienne“.²⁰² Der weltgewandte Danziger Städter beherrschte die wichtigsten europäischen Handels- und Kultursprachen, neben seiner Muttersprache Deutsch also Französisch, Italienisch, Englisch, Schwedisch, Polnisch und den niederländischen Dialekt, während die vorzüglichen Bildungsanstalten, allen voran das Gymnasium Academicum, die humanistische Latinität kultivierten.²⁰³ Man schickte seine Söhne ins Ausland, denn „wer die Welt nicht gekostet hat, der wird hier nicht geschätzt“ wie der Ungar Marton Csombor von seiner Danzig-Reise berichtet.²⁰⁴ Wie kaum ein anderer Ort bot Danzig daher auch die Möglichkeit, verschiedene Fremdsprachen zu erlernen und zugleich in der Praxis zu üben. Hoffmannswaldau konnte sich während seines Studiums am Danziger Gymnasium Italienisch, Französisch und Niederländisch aneignen.²⁰⁵ Auch die laudes urbium der städtischen Autoren wie Georg Bernhardis Kurze und einfältige Beschreibung von dem Ursprung und erster Erbauung der See- und Handelsstadt Dantzig (1641) unterstreichen stets den ‚polyglotten‘ Wesenszug der Handelsstadt: Hier kommen vile Leut’ von Lübeck und auß Sachsen / Die bringen derer Frücht so da bey ihnen wachsen / Hier find man andere auß See- und Niederland. Auß Franckreich / Engelland / auß Holland und Braband / Hier kommen Schiffe her auß Ost- und West Indien / Auß Welschland / Portugal / Venedig / auß Hispanien
202 Eine neuere Studie zum „Memoire“ des Duc de Sully (nicht aber mit einer spezifischen Betrachtung der Funktion Danzigs in den Friedensutopie-Passagen) bietet Heinz-Gerhard Justenhoven: Internationale Schiedsgerichtbarkeit: Ethische Norm und Rechtswirklichkeit. Stuttgart 2006. 203 Von Stekelenburg (Anm. 191), S. 16: „[…] das Deutsche war seit langem in der offiziellen Urkundensprache und der Jurisprudenz vorgedrungen und war die Kultsprache der reformatorischen Volkskirche; das mittelständische Bürgertum sprach das regionale Deutsch sowie Polnisch in den Kontakten mit dem Dienstpersonal; das städtische Schulwesen stand im ganzen 17. Jahrhundert noch unter der absoluten Dominanz der klassischen und humanistischen Latinität.“ 204 Marton Csombor: Reise durch Polen. (In: Szarota [Anm. 199], S. 703). Seine Darstellung Danzigs ist keineswegs als „naiv“ zu bezeichnen (so Kersten im Kommentar zum Abdruck bei Szarota), sondern folgt vielmehr dem Muster der Apodemik (s. Rosmarie Zeller: „Ich singe Dantzig dich, Prinzeßin aller Plätze / Du Städte-Keyserin“. Die Stadt Danzig in Beschreibungen und Lobgedichten des 17. Jahrhunderts. In: 1000 Jahre Danzig in der deutschen Literatur. Studien und Beiträge. Hg. von Marek Jaroszewski. Gdansk 1998, S. 31–43, hier S. 33, Anm. 12). 205 Noack (Anm. 23) S. 76.
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Aus Schweden / Dennemark auß Ost- und West-Frießland Aus Norwegen / Finmarck / auß Chur und auß Liffland Auß diesen Ländern auß diesen Königreichen / Kömpt Jährlich großer Nutz für Armen und für Reichen / Hie kommen Außländer so wohnen an dem Rhein / Und bringen zu uns her den edlen Rheinschen Wein Daß also diese Stadt einn großen Handel führet / Daß sie für anderen in Deutschland weit florieret Und dass nun Dantzger Lob anjetzt zu dieser frist In vielen Länderen gar weit erschollen ist.²⁰⁶
Trotz einer ‚kosmopolitischen‘ Atmosphäre darf jedoch nicht freimütig konstatiert werden, dass es sich bei Danzig sozusagen um einen vormodernen ‚meltingpot‘ der Kulturen gehandelt habe.²⁰⁷ Mit derartigen Behauptungen begibt man sich vielmehr in die Gefahr, in das Fahrwasser neuer Mythenbildungen zu geraten, wovor Musekamp (am Beispiel Stettins) und Loew (in Hinblick auf Danzig) gewarnt haben: Das neuerdings häufig anzutreffende Erklärungsmuster ‚Multikulturalität‘ stelle nämlich eine Flucht „vor der Narration über die Deutschheit als auch der besonders zur Zeit des kommunistischen Regimes propagierten Polonität“ dar. Versucht werde laut Musekamp dabei, durch die Hervorhebung eines Einflusses verschiedener Nationen, den deutschen Beitrag zur Stadtgeschichte aufzuweichen, was der historischen Wirklichkeit nicht entspreche: Ähnlich wie in Stettin und Breslau verdeckt dieses Vorgehen trotz aller Sympathie, die man im Vergleich zur Geschichtsdeutung der vorangegangenen politischen Systeme (Nationalsozialismus und Kommunismus) entgegen bringen kann, den Blick darauf, dass diese Städte in den vergangenen Jahrhunderten zwar durchaus auch von anderen Kulturen geprägt worden waren, der Einfluss der aus dem deutschsprachigen Raum stammenden Bürger für ihre Städte jedoch entscheidend war.²⁰⁸
206 Zitiert nach Walter Raschke: Der Danziger Dichterkreis des 17. Jh. Diss. Rostock 1921, S. 87. Herbert Hertel: Die Danziger Gelegenheitsdichtung. In: Danziger Barockdichtung. Hg. von Heinz Kindermann. Leipzig 1939, S. 165–230, hier S. 215. 207 „Mochten gleich in ihr [der Stadt Danzig] selbst als auch in der ganzen Res publica multikulturelle Erscheinungen aufeinandertreffen, so dürfen wir dennoch die zwischen ihnen existierenden Unterschiede nicht übersehen.“ Roman Wapiński: Danzig in der polnischen politischen Mythologie – die Entstehung eines politischen Bewusstseins. In: Danzig: Sein Platz in Vergangenheit und Gegenwart. Hg. von Udo Arnold. Warschau, Lüneburg 1988, S. 13–21, hier S. 16. 208 Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt 1945–2005. Wiesbaden 2010, S. 316. Zur Problematk national verengter Blickwinkel hinsichtlich der Beschäftigung mit der Geschichte Ost- und Westpreußens s. die detaillierte wissenschaftshistorische Untersuchung von Jörg Hackmann: Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landesgeschichte als beziehungsgeschichtliches Problem. Wiesbaden 1996.
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Die wohl bedeutendste gegenwärtige Danzig-Forscherin, Maria Bogucka, hebt hervor, dass die bürgerliche Kultur in den Städten Königspreußens weitaus stärker deutsch und holländisch geprägt war, wohingegen nur eine „schwache Polonisation“ zu beobachten sei.²⁰⁹ Wichtig und durchaus kompatibel ist es hingegen, die produktive Begegnung vor allem deutscher, niederländischer,²¹⁰ skandinavischer und polnischer Kultur im frühneuzeitlichen Danzig zu unterstreichen.²¹¹
5.2 Aspekte des kulturellen Lebens Danzigs musikalische und literarische Kultur ist wie in jeder frühneuzeitlichen Stadt eng mit Alltag und öffentlichem Leben, vor allem der Festkultur, verbunden. Insofern ist die Bedeutung dieser Kulturformen „in ihren Beziehungen zum
209 Maria Bogucka: Die Kultur der Städte in der polnischen Adelsrepublik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Städtische Kultur in der Barockzeit. Hg. von Wilhelm Rausch. Linz 1982, S. 67–75, hier [Diskussion zum Vortrag] S. 284. 210 Der für ganz Europa bedeutende Getreidehandel wurde in Danzig, dem wichtigsten Exporthafen der Ostsee, von Amsterdamer Kaufleuten dominiert. 211 Vgl. Walther Faber: Die polnische Sprache im Danziger Schul- und Kirchenwesen von der Reformation bis zum Weltkrieg. In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 69 (1929), S. 89–135. Auf das natürliche Umfeld übte das städtisch-protestantische Gepräge der Hafenstadt eher wenig kulturellen Einfluss aus. Bis ins späte 19. Jahrhundert wurde Danzig in der polnischen „Politmythologie“ als kulturell „fremd“ wahrgenommen. (Wapiński [Anm. 207], S. 16 f.). Andererseits übte gerade die polnische Adelskultur mit ihrer Vorliebe für prachtvolle Lebensart eine große Anziehungskraft auf das prosperierende Danziger Bürgertum aus. Als konstitutiver Bestandteil dieser Kultur faszinierte auch der katholische Ritus die überwiegend protestantischen Danziger. Überrascht berichtet Ogier davon, dass Protestanten gelegentlich am katholischen Gottesdienst teilnahmen. Dem „Zauber des Sarmatismus“ (Bogucka [Anm. 209], S. 69) konnte sich das Bürgertum Danzigs nicht entziehen. Spannungsfrei war das Verhältnis jedoch nicht. So berichtet zum Beispiel der Franzose Vasseur 1660 in seinem Diarium von Animositäten seitens des polnischen Adels gegenüber Deutschen: „Der polnische Adel begegnet seinen Vorgesetzten […] mit ziemlicher Demut und Gefälligkeit, er ist freundlich und höflich zu seinesgleichen und zu seinen Landsleuten […]. Was die Moskowiter betrifft, so hält er sich wegen ihrer rohen Sitten von ihnen fern und will nicht mit ihnen verkehren, ebenso wenig wie mit den Schweden und den Deutschen, gegen die er eine unüberwindliche Abneigung hat, so daß er sie keinesfalls liebt, sondern im Gegenteil zutiefst haßt. Und wenn sich die Polen manchmal der Deutschen bedienen, geschieht es nur im äußersten Notfall; hingegen nennen sie die Franzosen gern ihre Brüder […].“ (Guillaume le Vasseur, Sieur de Beauplan: Description d’Ukraine, qui sont plusieurs Provinces du Royaume de Pologne […] Rouen 1660. In: Szarota [Anm. 199], S. 81). In diesem Tenor auch Andreas Cellarius (Regni Poloniae […] Amsterdam 1659. In: Szarota [Anm. 199], S. 90). Vgl. auch Eberhard Mannack: Barock-Dichter in Danzig. In: FS für Rolf Tarot zu seinem 65. Geburtstag. Hg. von Gabriela Scherer u. a. Bern 1996, S. 291–305, hier S. 294.
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staatlichen, gesellschaftlichen und religiösen Leben als einer seiner wesentlichsten Ausdrucksformen“²¹² zu suchen. Um sogleich ein konkretes Beispiel zu nennen, sei die erste Sehenswürdigkeit, die der französische Diplomat Ogier in seinem Reisetagebuch beschreibt, vorgestellt: Es gibt in dieser Stadt ein öffentliches Gebäude, nicht unähnlich dem Pariser Hospital St. Gervais, dessen Wände – wenigstens nach meinem Urteil – mit den schönsten aus dem Altertum herrührenden Gemälden und mit lateinischen und deutschen Versen geschmückt sind. Auch befinden sich da viele Bilder der Heiligen und andrer Heroen […]. Wäre Ariost jemals nach Preußen gekommen, so würde ich glauben, daß der Entwurf zu diesem Tempel von ihm herrühre.²¹³
In der frühneuzeitlichen Hochphase Danzigs wird der Artushof – wohl der bedeutendste im Ostseeraum²¹⁴ – nicht nur zur Hauptattraktion für Fremde, sondern auch zum Dreh- und Angelpunkt der städtischen Kommunikation und Interaktion. Die Bruderschaften der Patrizier und wohlhabenden Bürger hatten hier ihre Stammbänke. Des Abends fanden sich auch reiche Kauf- und Handelsleute aus anderen Städten ein, um bei Bier (dem einzigen Getränk, das ausgeschenkt wurde) in dem großen Saal des Gebäudes freundschaftliche Unterhaltung zu pflegen. Besonders bemerkenswert ist das tägliche Musikprogramm.²¹⁵ Seit 1400 ist das Engagement von Musikern am Artushof belegt;²¹⁶ das hohe künstlerische Niveau der Darbietungen an diesem repräsentativen Ort für bürgerliches Musizieren in der Stadt war über die Stadtgrenzen hinaus bekannt. Dabei wurde Instrumentalmusik ebenso vorgetragen wie Madrigale und französische Chansons.²¹⁷ Auch deutsche weltliche Lieder, zum Beispiel aus der Feder des in Danzig wirkenden Andreas Hakenbergers, kamen zur Aufführung. Involviert waren zudem die von den Banken des Artushofs sehr geschätzten Kapellmeister, vor allem von St. Marien, dem „Haupttempel heiliger Musik“ in Danzig.²¹⁸ Einer der bedeu-
212 Zitiert nach Bogucka (Anm. 189). 213 Zitiert nach der Übersetzung von Schottmüller (Anm. 190). 214 Maria Bogucka: Danzig als Metropole in der Frühen Neuzeit. In: Kulturgeschichte Preußens königlich polnischen Anteils in der Frühen Neuzeit. Hg. von Sabine Beckmann und Klaus Garber. Tübingen 2005, S. 89–98, hier S. 94. 215 Vgl. Hermann Rauschning: Geschichte der Musik und Musikpflege in Danzig. Danzig 1931, S. 107. 216 Ebd., S. 22. Vgl. auch Danuta Popinigis: Die musikalische Renaissance in Danzig – Richtungen und Einflüsse. In: Beckmann/Garber (Kulturgeschichte Preußens, Anm. 214), S. 739–747. 217 Rauschning (Anm. 215), S. 107. 218 Gottfried Döring: Zur Geschichte der Musik in Preußen: ein historisch-kritischer Versuch. Elbing 1852, S. 54.
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tendsten Kapellmeister von St. Marien, Caspar Förster,²¹⁹ der auch mit Martin Opitz befreundet war, trat beispielsweise mit seinem 14-köpfigen Sängerchor häufig im Danziger Arthurium auf. In erster Linie gehörte es jedoch zum Aufgabenbereich der Stadtpfeifer, nahezu täglich von der Galerie der Trinkhalle aus für die musikalische Unterhaltung der Besucher Sorge zu tragen. Der wegen der günstigsten Quellenlage am besten erforschte Bereich des Danziger Musiklebens ist die Kirchenmusik. Diese spielte sich vornehmlich an den vier Danziger Hauptkirchen ab. Gerade an der Marienkirche wirkten bekannte Musiker aus dem Reich und anderen Teilen Europas. Ohne Zweifel waren die mittleren Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts ein Höhepunkt der Danziger Kirchenmusikgeschichte: An allen Hauptkirchen waren Musiker, die auch als Komponisten einen gewissen Rang behaupten durften. Neben Förster wirkte als erster Organist noch immer Paul Siefert an der großen Orgel […], an der kleinen Daniel Jacobi. An St. Johann war die erste Orgel durch Ewald Hintz, einen Schüler Frobergers, besetzt, der vordem Hoforganist König Friedrichs III. in Dänemark gewesen war. An St. Katharinen leitete die Kirchenkapelle der sich in allen Formen des Kirchenkonzertes und der Motette bewährende Kantor Crato Büthner. An St. Trinitas und dem Gymnasium wirkte Thomas Strutz, der in diesen Jahren seine oratorische Passion und Seelengespräche in den Gottesdienst einzuführen begann und neben dem gelehrten Maukisch wesentlichen Anteil an der Verbesserung der Musikpflege am Gymnasium hatte.²²⁰
Auch unter den Instrumentalmusikern und Sängern der Ratskapelle waren Künstler mit internationaler Reputation. Ein Angebot an der Danziger Kapelle wurde selten ausgeschlagen sowohl aus künstlerischen und finanziellen Gründen, nicht zuletzt aber auch aufgrund der ‚Lebensqualität‘ der Stadt. Der Musiker Adam Feldhorn kündigte seine Stelle am Kaiserlichen Hof zu Wien, „allein weil der annoch wehrende schreckliche Kriegstumult in Deutschland fast aller Orten vor der Music verschlossen“ und er somit wie viele andere „in dieses ruhesame und von Gott sonderlich übersehene Preußen Land fürnehmlich aber in diese Lobliche weitberühmte Stadt Dantzig sich zu begeben gedrungen worden“ sei.²²¹ In der weltlichen Sphäre findet man Musik als konstitutiven Bestandteil der jährlich ausgerichteten Lustbarkeiten der Zünfte und Gilden, vor allem während
219 Zu der interessanten Biographie des ‚Querkopfes‘ C. Förster, gerade was musikhistorische Aspekte und konfessionelle Spannungen in Danzig betrifft, vgl. das Portrait des Musikers bei Theodor Hirsch (Anm. 195), S. 49–51. 220 Rauschning (Anm. 215), S. 200. 221 Zitiert nach ebd.
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der Karnevalszeit, die in Danzig – trotz mehrheitlich evangelischer Konfession der Bevölkerung – ausgelassen begangen wurde. Nach prachtvollen Umzügen versammelte man sich in den Zunfthäusern, im Artushof oder in Privathäusern der Patrizier zum üppigen Mahl, zu Tanz und Gesellschaftsspielen. Die Vorliebe der Ostseestädter für Formen verschiedener „Scherztänze“ war bekannt. Auch Ogier berichtet von einem vergnüglichen Beisammensein zur Fastnachtzeit im Hause des Ratsherren Czirenberg, mit dem auch Grefligner in Kontakt gekommen war: Nach dem Essen und nach der Forträumung der Tische wurden Reigentänze aufgeführt, ernstgemessene und lustige. Die lustigen waren etwa so: der Herr […] wählte nach einigen Tanzschritten im Kreise sich eine Dame […], nachdem sie einige ruhige und einige wuchtige Schritte zusammen gemacht, stellte der Herr seine Dame in die Mitte, tanzte um sie, die unbeweglich dastand, mit lustigen Gebärden herum, um sie zum Lachen zu reizen, für die Dame gilt es, lange ernst und gleichsam streng zu bleiben, lacht sie, so ergreift der Herr gleichsam als Sieger sie bei der Hand und beide tanzen einige Runden vorwärts und rückwärts. Die Dame wählt sich dann einen anderen Herrn, um ihrerseits denselben zum Lachen zu bringen. Diesem in der Mitte stehenden naht sich einer der aufwartenden Diener mit einer brennenden Kerze und leuchtet ihm damit wiederholt ins Gesicht, um ihn dadurch schneller zum Lachen zu bringen.²²²
Musikdarbietungen umrahmten ferner die pompösen pyrotechnischen Vorführungen, die bei Besuchen des polnischen Königs ausgerichtet wurden. Ein besonders aufwändiges Spektakel wurde für den Einzug der neuen Königin Ludowika am 11. Februar 1646 inszeniert.²²³ Tänze und Theateraufführungen sowie die Auftritte der mit Königsberger Musikern verstärkten Stadtkapelle umrahmten den feierlichen Zug durch die mit Triumphbögen und Statuen dekorierten Straßen der Stadt. Einen Höhepunkt der Feierlichkeiten stellte das Gastspiel der polnischen Oper unter der Leitung des Kapellmeisters am polnischen Hof Virgilio Puccitelli dar. Von seinem Werk Le nozze d’ Amore et Psiche Drama musicale, einer Adaption des Apuleius-Stoffes, ist nur das Libretto erhalten. Das Danziger Publikum wurde auf diesem Wege nach den Parisern frühster Zeuge einer italienischen Opernaufführung außerhalb Italiens. Übrigens war Greflinger bei dieser Feierlichkeit anwesend und schildert retrospektiv in einem 208 Verse umfas-
222 Zitiert nach Schottmüller (Anm. 190), S. 235 f. Vielleicht wird hier eine Form des Branles, eines Kreistanzes, häufig mit pantomimischen Elementen, beschrieben. 223 Vgl. die Relation Jean Le Laboureurs: Sieur de Bléranval, Relation du voyage de la Royne de Pologne et du Retour de Madame la Mareschalle de Guébriant en France […] Paris 1647. In: Szarota (Anm. 199), S. 726–743.
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senden Alexandrinergedicht aus Sicht eines ‚poetischen Chronisten‘ das Spektakel.²²⁴ Mit großer Wortpracht stellt er die Parade als einen römischen Triumphzug dar, wobei zugleich das Bild einer harmonischen politischen Ordnung, an der die Handwerker wie die Stadteliten und die Monarchin teilhaben, gezeichnet wird. Als Auftraggeber ist der Danziger Rat zu vermuten. Das Theaterleben in Danzig wurde von englischen Wandertruppen dominiert.²²⁵ Ein eigenes Theater besaß die Handelsstadt nicht, dazu hätte es wohl des Einflusses eines Fürstenhofes bedurft. Stattdessen spielte man in Räumlichkeiten der Rathäuser oder im großen Saal des Koggentores. Die berühmte englische Truppe von John Green gastierte auf einer provisierten Bühne in der Fechtschule, die mit einer Vorder- und Hinterbühne der Shakespeare-Bühne nachempfunden war. Theatergruppen, die sich aus Angehörigen der Handwerkerzünfte zusammensetzten, traten meist in den Gildenhäusern auf. Außerhalb des Stadtzentrums, im Danziger Vorort Schottland, fanden am dortigen Jesuitenkollegium Theateraufführungen statt. Die Pfarrschulen an St. Marien, die Johannisschule, die Katharinenschule und das Gymnasium führten Stücke in lateinischer, aber auch deutscher Sprache auf. Anders jedoch als in den schlesischen Städten, wo die Schultheateraufführungen der protestantischen Gymnasien mit dem Jesuitendrama in produktiver Konkurrenz standen, verhinderte der dominante Einfluss der lutherischen Orthodoxie eine gegenseitige Befruchtung.²²⁶ In den Bereich urbaner Geselligkeit, bei der Musik und Literatur eine Rolle spielten, gehörten auch Hochzeiten, zumal eine frühneuzeitliche Verehelichung
224 Kurtze Poetische Beschreibung Des prächtigen vnd mächtigen Einzugs in Dantzigk / Des Großmächtigsten und Sieg=haff=tigsten VLADISLAI IV. Königs in Pohlen vnd Schweden etc. etc. etc. Hertzgeliebten Braut / Der Durchleuchtigsten Princessin / LUDOVICÆ MARIÆ GONZAGÆ &c. &c. &c. / Gehalten den 11. Februarii 1646. (Handbuch des personalen Gelegenheitsschrifttums in europäischen Bibliotheken und Archiven. Im Zusammenwirken mit der Forschungsstelle Literatur der Frühen Neuzeit und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück. Hg. von Klaus Garber. Bd. 23. Danzig, Danziger Bibliothek der Polnischen Akademie der Wissenschaften. – Abt. 1. Gedanensia. Teil 1–3. Hg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann und Klaus Garber unter Mitarb. von Stefania Sychta. Hildesheim u. a. 2009, Nr. 1305). Im Folgenden wird das Handbuch (Danzig) mit HPG abgekürzt. Die folgende Zahl bezieht sich auf die Nummer des entsprechenden Casualwerks im HPG Danzig. 225 Johannes Bolte: Das Danziger Theater im 16. und 17. Jahrhundert. Hamburg, Leipzig 1895. 1611 erhielt die Truppe von John Spencer Spielerlaubnis in Danzig, John Green trat 1615 mit 18 Schauspielern auf. Aufführungsorte waren das Altstädtische Rathaus, das Grüne Tor, der Schießplatz und die Fechtschule. 226 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 28.
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keinen Privatakt darstellte, sondern ein öffentliches Ereignis von kaum überschätzbarer sozialer Relevanz.²²⁷ Hochzeitsordnungen erlauben in diesem Fall als musikhistorische Quellen zunächst Rückschlüsse auf die – zumindest nach dem Normierungswillen der Obrigkeit festgelegten – Aufgabenbereiche der verschiedenen Musikergruppen bei derartigen Feiern zu ziehen und weisen darüber hinaus auf den Status von Rats- und Zunftmusikern in der sozialen Hierarchie der Stadt hin.²²⁸ Ein Danziger Ratschluss von 1636 legte in diesem Sinne die gesellschaftliche Rangfolge der Instrumentalkörperschaften fest und wies den beiden konkurrierenden Gruppen der Zunft- und Ratsmusiker konkrete Auftrittskreise zu:²²⁹ die Hochzeiten von Paaren, die „das große Bürgerrecht haben“, sollten von den Ratsmusikern, Handwerker-Hochzeiten von den Zunftmusikern gestaltet werden. Musik begleitete den Kirchgang der Brautleute,²³⁰ in der Kirche erklang Orgelspiel zur Umrahmung der Trauung und während des Festmahls waren die Darbietungen der Musikanten ein unabdingbarer Bestandteil. Während des mehrstündigen Tafelns wurden auch Glückwunschgedichte, die die Danziger Bürger bei Casualdichtern wie Greflinger bestellt hatten, verteilt und vorgetragen.²³¹ Greflinger spielt in einigen seiner Hochzeitsgedichte auf diese Vortragssituation an: So stellt er einem Epithalamium ein kleines Proöm voran, in dem in scherzhaften Unterton berichtet wird, dass bereits mehrere „Singer“ aufgetreten seien, um dem Brautpaar zu huldigen, so dass die Braut – die Tochter des Rats-
227 Vgl. Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. I. Das Haus und seine Menschen. München 1990, S. 134. 228 Vgl. hierzu auch Otto Günther: Danziger Hochzeits- und Kleiderordnungen. In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 42 (1900), S. 183–228. 229 Zu dem langwierigen Konkurrenzstreit der Zunft- und Ratsmusiker in Danzig s. Rauschning, (Anm. 215), S. 86–113 (Kapitel: „Die weltliche Musikpflege ausgangs des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Musikerorganisation und Instrumentenstreit.“). Zu dem Aufgabenbereich der Ratsmusiker gehörte neben der Tätigkeit im Artushof vor allem die musikalische Gestaltung des Gottesdienstes, das tägliche Turmblasen, das „Umblasen“ oder „Edict ausblasen“ (auf Bekanntmachungen des Rates aufmerksam machen), die Begleitung von Gesandtschaften und sie fungierten als Feldtrompeter bei Kriegszügen. Für die Musikgeschichte des frühneuzeitlichen Danzigs war die Tatsache wichtig, dass sämtliche musikalische Angelegenheiten der Stadt im Aufgabenbereich des Rates lagen. So bezogen die Stadtpfeiffer ihr festes Gehalt vom Rat bzw. den Banken des Artushof. Eine Haupteinnahmequelle waren daneben Gelegenheiten wie Hochzeiten und andere Festlichkeiten. Der Danziger Rat beschäftigte neben Bläsern auch Fiedler und Lautenisten, die seit dem 16. Jahrhundert in den Kämmereirechnungen auftreten. 230 Entsprechende Verbote in Hochzeitsordnungen lassen auf eine gängige Praxis schließen. 231 Vgl. die kurze Beschreibung des ‚performativen‘ Umgangs mit Casualia auf Hochzeiten bei Walter Baumgartner: Deutsche und schwedische Hochzeitsdichtung in Stralsund. Eine Fallstudie. In: Ostsee-Barock. Texte und Kultur. Hg. von dems. Berlin 2006, S. 105–137, hier S. 114.
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herrn Rosenberg – sich schon langsam langweilen müsse. Dennoch wolle nun auch er die Stimme erheben.²³² Das Fest wurde gewöhnlich mit ausgelassenem Tanz beschlossen, woran sich die häufig von Musik untermalte Heimführung der Braut zum Haus des Ehemanns anschloss. Die mitziehenden Freunde gaben dabei gern noch Scherzgedichte und Lieder mit ungezügelten Texten zum besten.²³³ Das genannte Diarium des französischen Diplomaten Ogier gewährt mit Berichten über seine Besuche bei den Ratsfamilien Kerschenstein, Schwarzwald, Hafferat und Czirenberg auch Einblick in das Musikleben der kunstbeflissenen Patrizierhäuser, in deren Umfeld sich Greflinger aufhielt.²³⁴ Die begabte Tochter des 1636 zum Burggrafen ernannten Johann Czirenberg, Constantia (1605–1653), steht im Mittelpunkt dieser aufschlussreichen Passagen.²³⁵ Da selbst „bei einer hochangesehenen und weit verzweigten Familie wie den Fuggern“ die Belege, „dass die Frauen an der nachweislich intensiv gepflegten Musikübung teilhatten, eine Seltenheit“ darstellen,²³⁶ sind die Zeugnisse, die über die Danziger Bürgerstochter existieren, geradezu spektakulär²³⁷ und weisen auf die „‚ariose‘ Ausprägung“²³⁸ der ‚femininen‘ Liedkultur im 17. Jahrhundert hin. Laut Ogier beherrschte Constantia das Clavichord, das typische ‚Mädcheninstrument‘ der Zeit,²³⁹ auf dem sie sich selbst begleitete. Sie verstände sich dabei bestens auf die italienische Gesangsweise. Bis nach Italien sei ihr Ruf geeilt, wo ihr die berühmtesten Musiker Mailands eine Blütenlese geistlicher Vokalwerke gewidmet hätten.²⁴⁰ Ogier hebt darüber hinaus Constantias spontane Begeisterung für die Gesangskunst des musikbegabten Gesandtschaftsbeteiligten Varenne hervor, denn die Ratstochter habe noch niemals französisch singen gehört. Zwar habe
232 HPG, 2432. 233 Bogucka (Anm. 189), S. 149. 234 Zu den kulturellen Interessen dieser Familien vgl. Hirsch (Anm. 195), S. 38 ff. 235 Schottmüller (Anm. 190), S. 234. 236 Maria Linda Koldau: Frauen. Musik. Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet in der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005, S. 317. 237 Werner Braun: Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes. Tübingen 2004, S. 115. Auch Opitz erwähnt lobend eine musikalisch und literarisch gebildete Danziger Bürgertochter, Virginia Keckerbart. Diese „Sappho“ habe durch ihre Begabung und umfassende Bildung Rom und Griechenland an den Weichselstrand versetzt. S. van Stekelenburg (Anm. 191), S. 86, Anm. 21. 238 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 115. 239 Laut Bogucka (Anm. 189, S. 190) seien die Danziger Mädchen „von Kindheit an in Zimmerorgel, Klavichord und Gesang“ ausgebildet worden. Allerdings referiert sie hierbei nur auf Ogiers Bericht über Constantia. (S. auch Koldau [Anm. 236], S. 321, Anm. 14). 240 Abdruck der Widmung bei Koldau (ebd.), S. 325, die den mailänder Druck identifiziert.
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sie Lieder auf Französisch vortragen können, zumal sie die Sprache beherrsche, „suo tamen Italico modo“, worauf Varenne sie seine, nämlich die französische, Manier gelehrt habe.²⁴¹ Die „Baltische Sirene“²⁴² ließ sich, von der französischen Gesangsweise angetan, durch Ogier Noten aus Paris besorgen. Den hohen Stellenwert, der privater Musikausübung bei den Danziger Bürgern zukam und wofür die Berichte über Ratsherrentochter paradigmatischen Quellenwert besitzen,²⁴³ bezeugen auch andere Darstellungen.²⁴⁴ Welches Repertoire in den Danziger Bürgerhäusern konkret intoniert wurde, lässt sich hingegen nur noch grob rekonstruieren. Anhaltspunkte liefern die erhaltenen Bestände der
241 Koldau interpretiert die Passage folgendermaßen: „Sie lässt sich von Barenne [sic] vorsingen, beurteilt seinen Gesang mit selbstverständlicher Autorität, übernimmt ad hoc ein Lied von ihm und singt schließlich mit ihm im Duett.“ (Ebd., S. 323). Dass Constantia nach italienischer Gesangsweise intoniert, muss jedoch nicht – wie Koldau im Folgenden annimmt – zwangsläufig auf eine Unterrichtung am Warschauer Hof zurückzuführen sein oder auf die Tatsache, dass sich „viele italienische Musiker in Danzig aufhielten und zahlreiche Kontakte zur vorwiegend italienischen Kapelle am polnischen Hof bestanden“ (so Koldau ebd.). Das von Caccini und Bovicelli beschriebene italienische Gesangsideal wurde auch in Deutschland generell stärker als die französische Manier rezipiert: Zu nennen wäre hier vor allem Michael Prätorius’ IX. Kapitel des Syntagma musicum III, in dessen Nachfolge auch Johann Andreas Herbst, der mit seiner Musica practica von 1642 (erweitere Fassungen 1653 und 1658 als Musica moderna prattica) die italienische Gesangsmanier vermittelte. Der Schütz-Schüler Christoph Bernhard, der zeitweise in Danzig wirkte, schrieb nach seinem kurzen Italienaufenthalt eine von der dortigen Praxis inspirierte Abhandlung (Von der Singekunst oder Manier, 1657). Vgl. Leopold Tesarek: Kleine Kulturgeschichte der Singstimme von der Antike bis heute. Wien u. a. 1997, S. 35–82. 242 Der „Sireni Balthicae. Constantiae Sirenbergiae“ widmet Ogier im Anhang des Diariums ein lateinisches Gedicht, bestehend aus 125 lateinischen Distichen (Caroli Ogerii Ephemerides sive iter DANICUM, SCECIVM, POLONICVM […] Paris 1656, S. 498–507): „Nos quoque carminibus, pulchra ô CONSTANTIA, nostris | Pangimus in laudes debita vota tuas […].“ In Max Halbes historischem Danzig-Roman „Die Friedensinsel“, der von den letzten Lebensjahren Opitz’ in der Weichselstadt handelt, ist die Ratsherrntochter Protagonistin. Augenscheinlich rezipierte Halbe für seinen Roman Ogiers Diarium. 243 Außer den Äußerungen Ogiers gibt es noch weitere Zeugnisse über sie. So dedizierte der niederländische Dichter Samuel Naeran ihr ein Lobgedicht (das Ogier erwähnt). Noch im 18. Jahrhundert wird Constantia in verschiedenen Lexika (z. B. Zedler. Bd. 37, S. 1792: Artikel „Konstantia Sirenbergin“) genannt (vgl. auch Koldau [Anm. 236], S. 322, Anm. 19). 244 „Sie sind große Musikfreunde, lieben den schönen Gesang […]“, schreibt der Ungar Csombor (Szarota [Anm. 199], S. 703). Csombor erwähnt auch den beliebten Sommeraufenthalt der Danziger Bürger in Heiligenbrunn, wo zur Unterhaltung der ‚Sommerfrischler‘ im Garten „unter den Obstbäumen […] Geiger, Zimbelspieler, Lauten- und Harfenspieler und noch andere Musikanten“ spielen. Ebd., S. 705.
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ehemaligen Danziger Stadtbibliothek.²⁴⁵ Besonders aufschlussreich ist die 1617 nachgelassene Musikaliensammlung des Patriziers Georg Knoff, die den Großteil der in der Danziger Bibliothek erhaltenen Drucke weltlicher Vokalmusik um 1600 liefert.²⁴⁶ Die Dominanz des italienischen Repertoires sticht hier hervor: Unter den 174 Drucken der Sammlung mit profaner Vokalmusik befinden sich nur sechs Werke nichtitalienischer Provenienz. Die frühsten Drucke datieren in die 1570erJahre und reichen bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts. Knoff sammelte offenbar systematisch aktuelle Drucke, bevorzugte dabei anspruchsvolle fünfstimmige Madrigale u. a. von Giovanni Croce und Marenzio, außerdem – wenngleich in geringerem Maße – Canzonetten oder Villanellen, darunter Lechners Deutsche Lieder und Gastoldis Canzonete à tre voce.²⁴⁷ Es gibt sehr deutliche Hinweise darauf, dass der Danziger Patrizier nicht lediglich als Bibliophiler Interesse an diesem spezifischen Repertoire hatte,²⁴⁸ sondern dass er es auch als ‚performer‘ goutierte.²⁴⁹ Darüber hinaus ist ein Tenorstimmheft mit einer handschriftlichen Widmung durch den Komponisten versehen, in der es heißt, er dediziere Knoff das Exemplar „nec non Musicorum omnium patrono celeberrimo“, sondern auch „insigni musico“.²⁵⁰ Erwähnenswert ist ferner, dass Knoff zeitweise das Vogtamt der hoch angesehenen Reinholdsbank im Artushof innehatte, die mit der Besoldung der dort musizierenden Ratsmusiker betraut war.²⁵¹ Die Sammlung Knoff könnte also auch Hinweise auf das Artushof-Repertoire liefern. Natürlich ist es problematisch, aufgrund dieses Beispiels auf eine allgemeine Präferenz italienischer weltlicher Vokalmusik und auf eine tatsächliche Realisierung dieses Repertoires in den Danziger Patrizierhäusern des 17. Jahrhunderts zu schließen. Die Bestände der Danziger Bibliothek bieten nur wenige weitere
245 Zu den Kriegsverlusten bei den Musikalien vgl. Karl-Günther Hartmann: Musikgeschichtliches aus der ehemaligen Danziger Stadtbibliothek. In: Die Musikforschung 27 (1974), S. 387–412 v. a. S. 387 f. 246 Ebd., S. 390 ff. 247 Zu den spezifischen Charakteristika der Sammlung s. Georg Knoff: Bibliophile and Devotee of Italian Music in Late 16th Century Danzig. In: Music in the German Renaissance: Sources, Styles, and Contexts. Hg. von John Kmetz. Cambridge 1994, S. 103–126. 248 Gegen ein ausschließliches Sammelinteresse spricht auch, dass es sich bei den Musikalien meist um Neuerscheinungen handelt, während „im allgemeinen bei einem Sammler das antiquarische Interesse“ überwiegt. Hartmann (Anm. 245), S. 398. 249 Beispielsweise finden sich in den Stimmbüchern handschriftliche Annotationen, die nur „in the context of practical execution“ sinnvoll erscheinen. S. Morell (Anm. 247), S. 110. 250 Zitiert nach ebd., S. 111. 251 Rauschning (Anm. 215), S. 22; Hartmann (Anm. 245), S. 399.
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Anhaltspunkte.²⁵² So weisen die weiteren im Liber Donatorum, der als eine Art ‚Akzessionskatalog‘ dienen kann, verzeichneten Nachlässe im Vergleich zur Knoffs Sammlung ein weniger weltlich-italienischgeprägtes und zumeist älteres Repertoire auf.²⁵³ Festzuhalten ist jedoch, dass die mehrfachen Berichte über Constantia Czrienbergs vortrefflichen Liedvortrag und die Zusammenstellung der Musikalien aus dem Knoff-Nachlass Hinweise auf die hohe Qualität der Danziger Laienmusik geben. Die Präferenz italienischer Musik in der Handelsstadt muss dabei im Kontext des romanischen Kulturtransfers in das Königreich Polen betrachtet werden, der seinerseits im Zusammenhang mit der Italophilie der polnischen Könige und Magnaten steht: „Im 17. Jahrhundert bildete Polen den östlichsten Punkt des romanisch ausgerichteten Kulturkreises“.²⁵⁴ Die Danziger kamen darüber hinaus auch durch Handelsbeziehungen mit Italienern in Kontakt, von denen einige an der fernen Ostsee sesshaft wurden und die kulturellen Errungenschaften ihrer Heimat mitbrachten.²⁵⁵
5.3 Synopse ‚Literarisches Danzig um 1650‘ – Institutionen und personelle Konstellationen im Überblick Während das beachtliche Niveau des Danziger Musiklebens in der Frühen Neuzeit unbestritten ist, wird die Rolle der Ostseestadt für die Entwicklung der neuen deutschen Literatur kontrovers diskutiert. Dabei geht es zum einen um die Frage, ob sich in Danzig im 17. Jahrhundert eine literarisierende Organisation etabliert habe, die dem Charakter einer Sprachgesellschaft entsprochen habe. Zum anderen muss weiter geprüft werden, ob die spezifischen historischen Bedingun-
252 Die musikalischen Handschriften sind zum Großteil in Otto Günthers Katalog erfasst (Die musikalischen Handschriften der Stadtbibliothek und der in ihrer Verwaltung befindlichen Kirchenbibliotheken von St. Katharinen und St. Johann in Danzig. Danzig 1911). Zu den Kriegsverlusten: Hartmann (Anm. 245), S. 387 ff. 253 Detaillierte Beschreibung des Nachlasses des Buchhändlers Balthasar Andreä (erworben 1632) und der Bürgermeistertochter Elisabeth Brandes bei Hartmann (Anm. 245), S. 394 ff. Unter der entsprechenden Signaturengruppe Ee gibt es darüber hinaus nur zwei Bände, die Tänze für festliche Anlässe versammeln und somit auf das Repertoire der Hof- und Ratspfeifer bzw. -fiedler verweisen. (Ebd.). Die Mehrzahl der kirchenmusikalischen Druckwerke stammt aus St. Bartholomä, dessen Bestände 1867 mit denen der Stadtbibliothek vereinigt wurden. 254 Anna Szweykowska: Monteverdi in Polen. In: Claudio Monteverdi und die Folgen. Kongressbericht Detmold 1993. Hg. von Silke Leopold, Joachim Steinheuer. Kassel 1998, S. 93–104, hier S. 93. 255 Vgl. van Stekelenburg (Anm. 191), S. 315.
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gen in Danzig „der Entfaltung einer deutschen Literaturproduktion von Rang […] in der Tat so förderlich gewesen sind, wie man oft annimmt.“²⁵⁶ So könne man sich, laut van Stekelenburg, „des Eindrucks nicht erwehren, daß in diesem polyglotten Gemenge der Hafenstadt die Trägerschicht deutschsprachiger Kunstdichtung nur unscharf und vermutlich marginal in Erscheinung treten konnte.“²⁵⁷ Dieser Auffassung steht Joseph Leightons Ansicht entgegen, nach der eine „Sonderstellung der Danziger Barockdichtung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts“ zu beobachten sei. Die soziokulturellen Bedingungen hätten hier zu einer vergleichsweise raschen und sehr produktiven Opitz-Rezeption geführt.²⁵⁸ Zunächst muss jedoch konstatiert werden, dass „entgegen aller Behauptungen unser Wissen vom literarischen Leben Danzigs lückenhaft ist“,²⁵⁹ und dass diese Fragen auch in diesem Rahmen gewiss nicht umfassend beantwortet werden können. Die deutsche Nachkriegsgermanistik wollte – da politisch eventuell prekär – bzw. konnte – man denke an die Schwierigkeit der Materialbeschaffung – sich dieses literaturhistorisch bedeutenden Themas nicht wirklich annehmen. So kam es in der Tat zu der gleichsam paradoxen Situation, dass man sich einerseits den gegebenen Schwierigkeiten nicht stellte (bzw. stellen konnte), auf der anderen Seite aber in die Lage manövrierte, auf die ideologisch stark belasteten Darstellungen aus dem Kindermann-Kreis zurückgreifen zu müssen.²⁶⁰ Die
256 Ebd., S. 16. 257 Ebd. 258 Joseph Leighton: Gelegenheitssonette aus Breslau und Danzig in der Zeit zwischen 1624 und 1675. In: Stadt – Schule – Universität – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17. Jh. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 536–548, hier S. 540 f. 259 Achim Aurnhammer: Barocklyrik aus dem Geiste des Humanismus: Die Sonette des Johannes Plavius. In: Beckmann/Garber (Kulturgeschichte, Anm. 214), S. 801–826, hier S. 810. Neben der wichtigsten neueren Studie, von Stekelenburgs Dissertation zu Albinus, gibt es einige Überblicksdarstellungen, die jedoch – es handelt sich um Aufsätze – kein detailliertes Portrait des literarischen Danzigs in der Barockzeit liefern. Zu nennen ist: Maximilian Rankl, Axel Sanjose: Literatur des Barock in Danzig: ein Überblick. In: Acta Borussica 5 (1991/1995), S. 132–177; Edmund Kotarski: Die Danziger Literatur im 17. Jahrhundert. Eine Übersicht. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der Frühen Neuzeit. Hg. von Klaus Garber unter Mitwirkung von Stefan Anders und Thomas Elsmann. Tübingen 1998, S. 769–785; Mannack (Anm. 211). Die ältere Darstellung von Raschke (Anm. 206) gilt als überholt und kaum brauchbar. Einige Spezialstudien zu Dichtern, die eine zeitlang in Danzig wirkten, wie Hoffmannswaldau (Noak), Gryphius (Szyrocki) bringen ein wenig Licht in das schwer durchdringbare Dickicht des mit kirchlichen, akademischen, politischen und stadtbürgerlichen Institutionen und Ritualen verwobenen Literaturgeschehens der frühneuzeitlichen Handelsstadt. 260 Im Geleitwort zu dem materialreichen Sammelband Danziger Barockdichtung (Leipzig 1939) formuliert Kindermann deutlich seine Intention: „Es ist inmitten des Reiches noch zu wenig bekannt, daß Danzig im 17. Jahrhundert einer der Brennpunkte der deutschen Barockdichtung
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ersten umfassenden neueren Untersuchungen wurden bezeichnenderweise von ausländischen Germanisten (van Stekelenburg, Leighton) vorgelegt. Doch erst die politischen Umwälzungen und die in diesem Zusammenhang forcierte Bibliotheksarbeit der Osnabrücker Forschungsstelle Literatur in der Frühen Neuzeit ermöglicht durch Verfilmungen den Zugriff auf die Bestände des Gelegenheitsschrifttums osteuropäischer Bibliotheken. Der Band zu Danzig liegt seit 2009 vor. In Abgrenzung zu van Stekelenburgs skeptischer Einschätzung ist anzunehmen, dass günstige Bedingungen für literarisches Schaffen im Danzig des 17. Jahrhunderts generell durchaus gegeben waren. Neben den bereits genannten Faktoren (politische Stabilität durch Waffenstillstandsabkommen, wirtschaftliche Prosperität, ‚relative‘ religiöse Toleranz)²⁶¹ ist zuvörderst die Qualität des wissenschaftlichen Betriebs zu nennen. Die Danziger Intelligenz konzentrierte sich am Akademischen Gymnasium, in dessen Umfeld direkt oder indirekt ein Großteil der Autoren wirkte, die allgemein mit der Danziger Barockliteratur in Verbindung gebracht werden können.²⁶² Des Weiteren bestand in den Kreisen der patrizischen Oberschicht und der wohlhabenden Kaufmannschaft ein starkes Bedürfnis nach prestigeträchtiger Repräsentationsliteratur, dem die Autoren mit einer regelrechten ‚Sintflut‘ von Casualdichtungen nachkamen. Ferner sind Formen kulturell orientierter Geselligkeit zu beobachten, die gleichsam den Nährboden für eine umfangreiche Literaturproduktion schufen und sich somit denkbar günstig auf die Entwicklung von Dichtung auswirkten. So pflegte man in den gelehrten Tischgesellschaften der Oberschicht humanistische Bildung und schwelgte in elitären Lese- und Musikzirkeln in einem aristokratisch-mondän anmutenden Lebensstil.²⁶³ Dem Bedarf der Danziger Bürger an Information und geistiger Nahrung trugen zahlreiche Druckereien, Buchhandlungen und zwei große Verlage gerne
gewesen ist und daß sich dort Vorgänge abspielten, die für die Barockdichtung des ganzen deutschen Volksraumes von zum Teil vorbildlicher Wirkung wurden. Da es sich dabei um Vorgänge handelt, an denen in Danzig weiteste Kreise der Bevölkerung beteiligt waren, legt dieses Buch mit seinen Texten und Darlegungen Zeugnis ab für den ausgesprochen deutschen Charakter des gesamten Danziger Kulturlebens in diesem Zeitalter. Mehr noch: diese hochentwickelte Danziger Barockdichtung muß verstanden werden als gemeinsam-deutscher und artbewußter Chor der Abwehr gegen slawische Gefahren und Versuchungen.“ Ebd., S. 5. 261 Vgl. auch Leighton (Anm. 258), S. 541. 262 Zum ideengeschichtlichen Status quo des Danziger Akademischen Gymnasiums zur Zeit von Gryphius’ Studienzeit vgl. Oliver Bach: Zwischen Heilsgeschichte und säkularer Jurisprudenz. Politische Theologie in den Trauerspielen des Andreas Gryphius. Berlin, Boston 2014, S. 169–179 (Kap. 4.2.1. Das Danziger akademische Gymnasium: Theologische Suprematie). 263 Vgl. van Stekelenburg (Anm. 191), S. 169.
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Rechnung.²⁶⁴ Seit 1618 gab das Unternehmen Hünefeld ein wöchentlich erscheinendes Periodikum heraus; bald kursierten zwei weitere Zeitungen, die Tagespolitisches verhandelten, denn die Danziger waren schon aus existenziellen Gründen politisch sehr interessiert und die Handelsstadt gehörte zu den ausnahmslos gut informierten Zentren. Dass Opitz ab 1636 bis zu seinem Tod in Danzig weilte, mag die Attraktivität der Metropole für ambitionierte auswärtige Poeten in diesen Jahren bisweilen gesteigert haben, auch wenn man den Reformer kaum als „einheitsstiftende[n] Gestalt“ eines vermeintlichen Danziger Poetenkreises mit Hoffmannswaldau und Gryphius im Zentrum bestimmen kann.²⁶⁵ Der folgende Überblick stellt daher den Versuch dar, die Dichter des ‚Danziger Helikons‘ um die Jahrhundertmitte bestimmten Institutionen zuzuordnen, somit ihren Aktionsradius zu skizzieren bzw. die Beziehungsgeflechte nachzuzeichnen, in die sie eingebunden waren. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge kann auch Greflingers Wirken in der westpreußischen Metropole präziser beschrieben werden. Skeptisch stimmt dabei zunächst van Stekelenburgs lakonisch vorgetragene Ansicht, nach der für die schlesischen Studenten Gryphius und Hoffmannswaldau „Danzig und das Danziger Gymnasium Academicum nurmehr Zwischenstation auf der Reiseroute nach Holland zur renommierten Leidener Universität“²⁶⁶ gewesen sein sollen. Dem ist entgegenzuhalten, dass die vom Krieg kaum betroffene Handelsmetropole, die zugleich als ‚Bollwerk‘ des Protestantismus im Zeitalter der Gegenreformation gelten kann, für Schlesier protestantischer Konfession vortreffliche Studienmöglichkeiten bot; der gute Ruf ihrer Bildungsanstalten reichte weit über die Grenzen des Ostseeraums hinaus.²⁶⁷ Renommierte Gelehrte, vor allem aus dem Bereich der Jurisprudenz und der historischen Fächer (z. B. Peter Oelhaf, Christoph Riccius) sowie der Medizin und Naturwissenschaft
264 Detlef Haberland: Der Buchdruck in Danzig in der Frühen Neuzeit. Vom Wanderdrucker bis zur Massenproduktion. In: Ostpreußen, Westpreußen, Danzig. Eine historische Landschaft. Hg. von Jens Stüben. München 2007, S. 189–204. 265 Mannack (Anm. 211), S. 297. 266 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 26. 267 Vgl. Hedwig Penners-Ellwart: Die Danziger Bürgerschaft nach Herkunft und Beruf 1537–1709. Marburg 1954, S. 90. Mit 108 Personen erreichen die Neueinbürgerungen schlesischer Exulanten in den Jahren 1640 bis 1649 ihren Höhepunkt. Vgl. ebd. Zu den bekanntlich desolaten Ausbildungsmöglichkeiten für Protestanten in Schlesien vgl. Herbert Schöffler: Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff. Frankfurt am Main 1956, v. a. S. 30–39. Zum Danziger Geistesleben im Umfeld des Gymnasiums vgl. Walther Faber: Johann Raue. Untersuchungen über den Comeniuskreis und das Danziger Geistesleben im Zeitalter des Barock. In: Zeitschrift des Westpreußischen Geschichtsvereins 68 (1928), S. 185–242.
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(vor allem der Astronom Peter Crüger) übten zweifelsohne eine enorme Anziehungskraft auf die Gryphius-Generation aus. Danzig stellte auch insofern eine Option dar, als der Abschluss eines Gymnasium Academicum meist genügte, um in den Kirchen- oder Staatsdienst treten zu können.²⁶⁸ Die mögliche Nähe zu Opitz dürfte hingegen für Gryphius wohl kein direkter Anlass gewesen sein, die Stadt an der Weichselmündung aufzusuchen.²⁶⁹ Welche Sonette der Lissaer Ausgabe jedoch möglicherweise in Danzig entstanden seien könnten, lässt sich aufgrund der späteren Drucklegung nicht mehr mit Sicherheit rekonstruieren.²⁷⁰ Das lateinische Carmen heroicum Dei Vindicis Impetus. Et Herodis Interitus (das sog. zweite Herodes-Epos) wurde hingegen 1635 in der Danziger Offizin Rhete gedruckt und hebt mit einem Widmungsgedicht auf den Danziger Rat an.²⁷¹ Im Sommer 1636 verließ Gryphius Danzig, einige Wochen bevor Hoffmannswaldau eintraf – zu dem häufig behaupteten Zusammentreffen der beiden Schlesier am Gymnasium ist es wohl nicht gekommen. Der spätere Breslauer Bürgermeister kam dezidiert mit dem Vorhaben nach Danzig, die in der Heimatstadt begonnene Ausbildung fortzusetzen.²⁷² Hoffmannswaldau soll in Danzig bei Opitz „auß und eingegangen“²⁷³ sein; möglicherweise war die Präsenz des Reformers für den Breslauer zusätzlich ein Anlass für seinen längeren Besuch.²⁷⁴ Vor allem jedoch
268 Faber (Anm. 267), S. 209. Die universitäre Ausrichtung des Danziger Gymnasiums zeigt sich auch im Faktum, dass eine Anzahl von Studenten ihr in Frankfurt, Krakau oder Königsberg begonnenes Universitätsstudium an der Athenae Gedanensis fortsetzte. Zu erwähnen ist, dass die Bildungsanstalt von einer einstigen „Pflanzschule des Kalvinismus“ unter der beinahe 50 Jahre dauernden Leitung des Jacob Fabricius (in den Jahren 1580–1629) zu einem ‚Hort‘ der protestantischen Orthodoxie geworden war. Gryphius logierte zeitweise bei dem ultraorthodoxen Rektor Johann Botsack, zog aber nach zwei Monaten als Präzeptor in das Haus des Schotten Alexander Seton. 269 Persönliche Aversionen des Glogauers gegen den Reformer bleiben jedoch Spekulation. Die berühmte Begegnungszene in Günter Grass’ „Der Butt“ ist bekanntlich historisch nicht belegt. Dabei ist jedoch auch zu bedenken, dass Opitz Sekretär des katholischen Breslauer Landeshauptmanns war, als der junge Gryphius mit seiner Familie ins Exil gehen musste. 270 Szyrocki (Anm. 195), S. 83. 271 Andreas Gryphius: Herodes. Der Ölberg. Lateinische Epik. Hg., übersetzt und kommentiert von Ralf Georg Czapla. Berlin 1999, S. 80. 272 Die Parallelen und Differenzen in den Biographien von Gryphius und Hoffmannswaldau beschreibt Eberhard Mannack: Andreas Gryphius und Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau. Eine gegensätzliche Freundschaft. In: Andreas Gryphius. Weltgeschick und Lebenszeit. Ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht. Hg. von der Stiftung GerhartHauptmann-Haus. Düsseldorf 1993, S. 137–153. 273 Vorrede zu Deutsche Übersetzungen und Gedichte. Zitiert nach Noack (Anm. 23), S. 79, Anm. 48. 274 Mannack (Anm. 211), S. 51.
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studierte Hoffmannswaldau bei dem Rhetorikprofessor Mochinger – eine zentrale Figur im Danziger Geitesleben. Als ‚zuverlässiger‘ Lutheraner ergänzte er die Ausrichtung der Lehranstalt im Sinne der orthodoxen Gesinnung der städtischen Obrigkeit. Entscheidend für Mochingers Berufung war aber auch seine von Zeitgenossen gerühmte und bewunderte Gelehrsamkeit gewesen, die er während seiner Studien in ganz Europa erworben hatte.²⁷⁵ Ab 1638 hatte er zudem das Pastorat der Katharinenkirche inne. Bis zu seinem Tod 1651 wirkte Mochinger am Gymnasium Academicum und genoss als offizieller Redner Danzigs in der gesamten europäischen Gelehrtenrepublik höchstes Ansehen. Ehrfurchtsvoll sprachen seine Schüler von ihm als ‚Plato borussiacus‘.²⁷⁶ Obwohl Mochinger, wie bereits erwähnt, in Kontakt zu Opitz stand und dessen Poetik kannte,²⁷⁷ war sein akademisches Wirken fest und nahezu vollständig der gelehrten eloquentia latina verpflichtet. Als Professor lehrte er die Rhetorik Ciceros und Quintilians, verfasste hierfür Kommentare und bearbeitete Castigliones Cortegiano. Schüler und Kollegen beeindruckten die umfassenden Fremdsprachenkenntnisse des Gelehrten: In Leiden hatte er das Griechische und Hebräische erlernt und beherrschte zudem etliche moderne Sprachen. Davon profitierten vor allem seine Privatschüler wie Hoffmannswaldau, der im August 1636 bei Mochinger Quartier bezog.²⁷⁸ Auch für Greflinger stellt Mochinger eine Autorität dar. In einigen Werken betont er dessen Bedeutung für den Aufenthalt in Danzig. Ob Greflinger wie der verwaiste Michael Albinus, später ein bedeutender Autor im literarischen Leben Danzigs, als Stipendiat bei Mochinger unterkommen konnte, ist nicht nachweisbar und eher unwahrscheinlich. Vermutlich war es jedoch Greflingers Ansinnen, im Studienkreis des Professors aufgenommen zu werden, wo man – wie das Beispiel des Michael Albinus zeigt – auch als mittelloser Student eine Chance bekommen konnte.
275 Nach dem Besuch der Gymnasien zu Thorn und Danzig und der Universitäten Wittenberg und Leiden hatte Mochinger eine perigrinatio academica angetreten, die ihn durch England und Frankreich geführt hatte. Bis 1628 hielt er sich schließlich an der Universität Straßburg im Umfeld von Matthias Bernegger auf. Bernegger ließ Mochinger Grüße an die Danziger Gelehrten u. a. an Kepler ausrichten, um seinen Schüler dadurch zu empfehlen. Vgl. Neubaur (Anm. 44), S. 487. 276 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 66. 277 In einem Brief an Opitz (datiert 28. März 1629) rühmt Mochinger dessen Verdienste um die deutsche Sprache und bittet um Information zum Stand der Übersetzung von Augustinus’ Gottesstaat, woran die Danziger Obrigkeit großes Interesse habe. (Martin Opitz: Briefwechsel und Lebenszeugnisse. Kritische Edition mit Übersetzung. Hg. von Klaus Conermann. 3 Bde. Berlin, New York 2009, hier Bd. 2, S. 689 ff.). Mochinger organisierte auch die Danziger Trauerschrift auf Opitz’ Tod. 278 Noack (Anm. 23), S. 75.
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Doch es gibt noch weitere Beweggründe, die Autoren zur Übersiedlung nach Danzig motivierten: Ebenfalls aus Schlesien, vor dem Einfall der Schweden 1641 flüchtend, vor allem jedoch, um den Anfeindungen der örtlichen Theologen zu entgehen, exilierte Abraham von Franckenberg in die Metropole, wo ein relativ tolerantes Klima herrschte. Seine Kontakte vor Ort verliefen erwartungsgemäß weniger im orthodoxen Umfeld Mochingers,²⁷⁹ während der aus Thüringen stammende Johannes Plavius (Plauen) bereits in den 1620er- und frühen 1630er-Jahren mit dem Mochinger-Kreis in Kontakt stand.²⁸⁰ Befreundet mit dem Sprachgelehrten sowie mit Peter Crüger konnte er sich in diesen Jahren als gefragter Casualpoet etablieren, bis sich nach der Herausgabe der Trauer- und Treugedichte und des Lehrsonette-Zyklus 1630 seine Spuren gleichsam im Getümmel der Handelsmetropole verlieren. Plavius wird häufig als „Opitz-Rivale“ bezeichnet,²⁸¹ dessen Diminiutivreime und metrische Lizenzen Ende des Jahrhunderts gerne bespöttelt wurden. Auf der anderen Seite wird Plavius, dessen „stilistische Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit“²⁸² sich in einem geradezu ‚experimentell‘ anmutenden Gebrauch von Metrum und Reim manifestiert, von Autoren der folgenden Generation nachgeahmt.²⁸³ Das Hochzeitslied „Lustige Sappho“ galt den Poetikern Zesen, Harsdörffer und Titz als Muster des „deutschen Sapphicums“.²⁸⁴ Greflinger orientiert sich bei einem seiner Epithalamia an dieser von Plavius etablierten Form,²⁸⁵ auch seine 1644 erschienenen Sapphischen Lieder (s. unten „Lieder in verschiedenen Kontexten“, Kap. III.2.1.) könnten formal an Plavius orientiert sein. Als eine weitere zentrale literarische Figur dieser Zeit kann der bereits genannte Michael Albinus gelten, einer der wenigen gebürtigen Danziger Barockautoren. Sein literarisches Schaffen ist aufs engste mit seinem stadtgeistlichen Posten verknüpft. Nach dem Studium trat er 1638 das Amt des Subdiakons an
279 Joachim Telle: Art. „Abraham von Franckenberg“. In: KILLY 3, S. 529–531. Zu Franckenbergs engerem Danziger Bekanntenkreis zählten neben dem Astronom Hevelius die Sozinianer Ruarus und Crusius. Die Begegnung und der Austausch mit Hevelius inspirierte den Schwärmer zu seiner Kopernikanischen Verteidigungsschrift „Oculus Sidereus Oder / Neu-eröffnetes Stern-licht und Fern-gesicht“, die 1644 in Danzig erschien. 280 Aurnhammer (Anm. 259) mit zahlreichen Literaturhinweisen. 281 Ebd., S. 803; eine eher negative Bewertung findet sich bei Szyrocki: „Weder ein Musteropitzianer noch ein bewußter Neuerer konnte er mit den Formproblemen seines Jahrhunderts nicht fertig werden.“ (Anm. 195), S. 80. 282 Aurnhammer (Anm. 259), S. 816. 283 Ebd., S. 806. 284 Horst Joachim Frank: Handbuch der deutschen Strophenformen. Tübingen 1993, S. 271. 285 HPG, 2440.
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St. Katharinen an, wobei er durch das Verfassen von Gratulations- und Trauergedichten seine bescheidene Besoldung aufbesserte.²⁸⁶ Zu den ebenfalls in diesem Sinne literarisch produktiven Geistlichen um die Mitte des 17. Jahrhunderts, die der strengen Orthodoxie zuzuordnen sind und häufig auch zugleich als Universitätsprofessoren wirkten, zählen unter anderem Johannes Botsack, Nathanael Dilger, Johan-Jacobus Cramer und Johannes Fabricius.²⁸⁷ Die genannten Geistlichen bzw. Professoren traten literarisch in der Regel als okkasionelles ‚Dichterkollektiv‘ auf, indem jeder bei entsprechender Gelegenheit ein meist lateinisches Gedicht beisteuerte. Das literarische Gemeinschaftswerk inszenierte sich somit vor den Augen der Öffentlichkeit als „das konfliktlose Bild eines vaterländischen Berufsstandes […], an dessen Gliedern die christlichen Kardinaltugenden sich vorbildlich professionalisiert hätten.“²⁸⁸ Und dies mit leicht nachvollziehbarer Intention:²⁸⁹ Bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts hatte das reformierte Bekenntnis bei den politisch-akademischen Eliten Danzigs dominiert und von diesem ‚Epizentrum‘ ausgehend weitere Verbreitung gefunden. Nach der Wende zum 17. Jahrhundert eskalierte der Konflikt unter den protestantischen Konfessionen, als der mehrheitlich lutherischen Stadtbevölkerung und den rekonvertierten Ratsmitgliedern das reformierte Gepräge des Gymnasiums zu missfallen begann. Festzuhalten bleibt, dass ab den 1630er-Jahren die konfessionellen Proporzverhältnisse in Rat und Lehrerschaft des Gymnasiums eindeutig zugunsten der lutherischen Orthodoxie lagen. Ab 1631 bis 1643 leitete Johannes Botsack als Rektor das Gymnasium, sein Nachfolger bis 1650 wurde Abraham Calov. Beide standen für einen unbeugsamen Konfessionalismus, der bekanntlich auch die von der polnischen Krone initiierten konfessionellen Friedensgespräche zu Fall brachte.²⁹⁰ Es galt also, gerade in der Folgezeit dieser neuen konfessionellen Konstellationen auf symbolischer Ebene, nämlich im öffentlichkeitswirksamen Medium des Gelegenheitsschrifttums, der Danziger Respublica das Bild einer einträchtig zusammenwirkenden Geistlichkeit zu demonstrieren.
286 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 166. 287 Ebd., S. 167 mit weiteren Namen. 288 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 168. 289 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Michael G. Müller: Zweite Reformation und städtische Autonomie im Königlichen Preußen. Danzig, Elbing und Thorn in der Epoche der Konfessionalisierung 1557–1660. Berlin 1997. 290 Die auch andernorts zu beobachtende „Erstarrung in Orthodoxie“ (Faber [Anm. 267], S. 200) ist im Kontext der erfolgreichen Gegenreformation im polnischen Königreich zu sehen. Diese Entwicklung bekam man bald auch schon in Danzig zu spüren, beispielsweise erfuhr das Jesuitengymnasium in Altschottland vor den Toren der Stadt enormen Zulauf.
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In dem beschriebenen Umfeld – als Geistliche oder Lehrer an den protestantischen Kirchen oder bzw. zugleich als Lehrende am Akademischen Gymnasium – wirkten ferner in den späten 1630er- und 1640er-Jahren der in Weichselmünde als Prediger sesshaft gewordene Schlesier Adam Bythner (gest. 1643 in Weichselmünde), der aus Hessen stammende Johann Georg Moeresius (gest. 1657 in Danzig), der gebürtige Ungar Johann Klein (Salicetus; gest. 1662), der Danziger Jakob Zetzkius (1603–1671, seit 1629 Konrektor, seit 1648 Rektor mit Titz als Konrektor), die Sachsen Andreas Bythner (1615–1652; Konrektor dann Rektor der Katharinenschule) und Johann Maukisch (1617–1669, Pastor an St. Trinitas). Georg Bernhardi und Bartholomäus Manhardt (1647–1687) gehören zu den dichtenden Musikern der Stadt – Bernhardi wirkte als Kantor an St. Marien, Manhardt war ein bedeutender Organist. Die genannten Autoren sind die produktivsten Verfasser von Casualia während des Zeitraums, in dem sich Greflinger in Danzig aufhielt. Dabei handelt es sich natürlich bei keinem dieser Autoren um ‚Berufsschriftsteller‘. Das gilt auch für Poeten, die nicht das Amt eines Geistlichen bekleideten wie der aus Halle stammende Ludwig Knaust (um 1620, gest. 1674 in Danzig, Gerichtsschreiber, dann Richter der Altstadt). Die aktivsten Dichter in Danzig gehörten somit in keinem Fall zu einer „Gruppe von aus der Bahn geworfenen Existenzen, die ihren Lebenshaushalt dadurch bestritt, daß sie bestellt oder unbestellt gegen Bezahlung Hochzeits- und Begräbnisgedichte anfertigte“.²⁹¹ Was Drees für die Verfasser deutscher Casualia in Stockholm konstatiert, mag zum Großteil auf die Danziger Verhältnisse übertragbar sein: „Zwar handelt es sich bei der Gelegenheitsdichtung um eine literarische Konvention, die sich von den Autoren in einer sehr großen Bandbreite von für diese [also die Autoren] persönlich sehr nutzbringenden Möglichkeiten anwenden ließ, aber die direkte Entlohnung als alleiniger Anreiz dürfte nur einer von vielen Aspekten gewesen sein.“²⁹² * Diese kursorische Darstellung der literarischen ‚Szene‘ soll im anschließenden Kapitel durch eine konkrete Quellenanalyse vertieft werden, die Greflinger ins Zentrum stellt. Als Zwischenbilanz bleibt festzuhalten: Danzig als schillernde Metropole mit weltoffenem Flair, Verdienstmöglichkeiten und verhältnismäßig toleranter Haltung in konfessionellen Fragen stellte bereits seit dem 16. Jahrhundert ein Emigrationsziel vor allem religiös bedrängter Protestanten dar. Die gegenrefor-
291 Analog zu Jan Drees: Deutschsprachige Gelegenheitsdichtung in Stockholm zwischen 1613 und 1719. Die soziale Funktion der Gelegenheitsdichtung. Stockholm 1986, S. 169. 292 Ebd.
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matorischen Repressalien nach dem Prager Frieden gerade in Schlesien verstärkten die Fluchtbewegung verfolgter Protestanten aus dieser Region. Danzig verfügte indes über hervorragende Bildungsmöglichkeiten, vor allem das Akademische Gymnasium genoss einen entsprechenden Ruf. Somit bot Danzig Studenten aus kriegsleidenden Regionen die Möglichkeit, unter besten Bedingungen das gymnasiale Studium fortzusetzen. Die gute infrastrukturelle Bindung an die wissenschaftlichen Zentren der Niederlande mag ein weiterer Vorteil gewesen sein (Gryphius, Hoffmannswaldau). Für (auch angehende) protestantische Geistliche bestanden an den vielen protestantischen Kirchen gute Anstellungsmöglichkeiten, oft in Verbindung mit einer Lehrprofessur am Gymnasium. Darüber hinaus konnten literarisch Ambitionierte mit einer nach Repräsentationskultur trachtenden Oberschicht rechnen. Eine organisierte, mit Satzung, Ritualen etc. ausgestattete literarische Gesellschaft ist zumindest in dem hier interessierenden Zeitraum nicht nachgewiesen worden. Stielers Widmung der „Dritte[n] Zehen“ seiner Geharnschten Venus – „Denen Hochgepreisten Weichsel-Schäffern“ – bleibt ein disparates Zeugnis für eine mögliche Danziger Dichtersozietät.²⁹³ Gleichwohl verfestigten sich innerhalb der Danziger Stadtmauern Konstellationen und gruppierten sich Autoren um die kirchlichen Gemeinden und das Akademische Gymnasium. * Eine Aufstellung auf Grundlage des Registers des Handbuchs des personalen Gelegenheitsschrifttums (Danzig), das rund 8500 Casualdrucke des 17. Jahrhunderts aus der ehemaligen Danziger Stadtbibliothek erfasst, zeigt, welche der zum Teil bereits genannten Autoren in diesem Sektor besonders aktiv waren, wobei zu bedenken ist, dass Greflinger nur sieben Jahre – mit Unterbrechungen – in Danzig weilte:²⁹⁴
293 Gelegentlich wird auch behauptet, Bürgermeister Adrian von der Linde habe den Plan verfolgt, einen „Weichselorden“ ins Leben zu rufen. Faber (Anm. 267), S. 211. Diese Vermutung bleibt vage. Fest steht hingegen, dass einige wichtige Danziger Autoren Kontakt zu auswärtigen Sozietäten und Autorengemeinschaften pflegten. Engere Beziehungen nach Königsberg lassen sich für Titz nachweisen, der als „Tityrus“ in den Kreis der „Musikalischen Kürbishütte“ aufgenommen wurde. Heinrich Albert vertonte mehrere seiner Gedichte – eine bemerkenswerte literarischmusikalische Achse zwischen den beiden östlichsten Metropolen des deutschen Sprachraums lässt sich hier nachziehen. Gen Westen bestanden Verbindungen nach Hamburg: Rist verlieh den drei Danzigern Ludwig Knaust, Karl Taut und Jeremias Erben die Mitgliedschaft in seinem Elbschwanenorden. Vgl. Eberhard Mannack: Hamburg und der Elbschwanenorden. In: Sprachgesellschaften, Sozietäten, Dichtergruppen. Hg. von Martin Bircher. Hamburg 1978, S. 163–179, S. 168 f. 294 Die Casualia-Aufstellung dieses Handbuchs erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.
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Autor
Anzahl der überlieferten Casualia
Johannes Georg Moeresius Jacob Zetzkius (d. Ä.) Georg Bernhardi Johan Titz Bartholomeus Manhardt Johannes Klein Georg Buchheim Andreas Bythner Friedrich Wagner Georg Greflinger Christoph Behr Daniel Aschenborn Michael Albinus Ludwig Knaust Michael Conovius
236 163 129 106 106 98 95 77 73 71 70 70 66 68 46
Bei den anlassstiftenden Familien treten einige Danziger Ratsgeschlechter besonders hervor. Sie repräsentieren im 17. Jahrhundert die Danziger Oberschicht, stellen Ratsherren, Bürgermeister und Richter. Dabei ist hervorzuheben, dass viele Mitglieder der Patriziergeschlechter, z. B. aus der Familie der Bodecks, im akademischen bzw. geistlichen Raum wirkten und somit bisweilen eine enge personelle Verbindung zwischen Stadtherren und Geistlichen bzw. Akademikern am Gymnasium bestand. Der Großteil der Casualia sind Todes- und Begräbnisgedichte, Epithalamia stellen das zweithäufigste Genre dar. Glückwunschgedichte zu erfolgreichen Wahlen und Amtsantritten (Bürgermeister, Schöffe, Ratsherr, Richter) findet man im größeren Umfang, daneben Promotions-Gratulationen, Abreise- und Abschiedsgedichte, einige Glückwünsche zum Namenstag und wenige Geburtsgedichte. Somit trifft der Generalbefund Segebrechts, wonach „das Hochzeits- und Leichencarmen die bei weitem verbreitetsten Gedichtarten der Casuallyrik sind“²⁹⁵, so dass „in der Nachfolge Opitz’ diese beiden Gedichtarten häufig geradezu terminologisch den Gesamtbereich der Casuallyrik vertreten haben“,²⁹⁶ auch für die Verhältnisse in Danzig zu.
295 Segebrecht (Anm. 104), S. 86. 296 Ebd., S. 97.
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Familie
Anzahl der überlieferten Casualia
von der Linde von Bodeck Ferber Botsack Bobart Cölmer Czirenberg Engelcke Giese Holten Rosenberg Ehler Freder
180 140 140 49 31 81 40 84 85 62 60 50 60
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5.4 1640–1643: Greflinger im Kreis der Danziger litterati? Es soll nun geprüft werden, wie bzw. ob es Greflinger gelingt, sich in diesen Kreis der Danziger Literaturproduzenten zu integrieren. Auch liefern aus dem Gelegenheitsschrifttum rekonstruierbare Informationen über seine Auftraggeber Mosaiksteinchen zur Modellierung des Autorenprofils: Das „Grab=Gedichte“ auf den „Herrn Tidemann Giesen / der Stadt Dantzig […] Cämmererß vnd Rathverwandten“ lässt uns den terminus a quo Greflinger in Danzig auftritt, bestimmen.²⁹⁷ Gieses Bestattung fand am 15. November 1640 statt. Dass Greflinger hingegen noch „zu Opitz Lebzeiten“, also spätestens 1639, nach Danzig gelangt sei, wie Raschke vermutet,²⁹⁸ kann durch die vorliegenden Quellen nicht verifiziert werden. Das Trauergedicht auf Giese gibt bereits einen ersten Hinweis auf Greflingers Aktionsradius in der Danziger Bürgerschaft: Der Adressat ist Repräsentant eines jener Danziger Geschlechter, die seit der Jahrhundertwende Stadtämter akkumuliert und monopolisiert hatten, zudem über erheblichen Grundbesitz außerhalb der Stadtmauern verfügten und im Machtgefüge der Stadtrepublik eine Spitzenposition besetzten. Tidemann Giese bekleidete neben seinem Ratsherrnamt zeitweise auch ein Scholarchenamt, wodurch er dem akademischen Milieu Danzigs verbunden war und Einfluss auf dieses nehmen konnte. Ferner zählte er zu den Mitgliedern der städtischen Kämmerei, deren Amtsinhaber aus dem Kreis der ältesten Ratsherren gewählt wurden. 1621
297 HPG, 2880. 298 Raschke (Anm. 206), S. 97.
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amtierte er als königlicher Burggraf. Johann Georg Moeresius widmet dem Ratsherren ein lateinisches Epicedium,²⁹⁹ von Michael Albinus ist ein handschriftliches Sonett mit lateinischem Schlussanagramm auf Giese (1630) überliefert, in dem er den Patrizier als Freund und Förderer der Kunst lobt.³⁰⁰ Greflingers Epicedium hat folgenden Wortlaut: Grab=Gedichte Uber den seeligen Hintritt Des Weilandt Wol Edlen / Gestrengen / Hoch vnd Wolweisen Herrn Tideman Giesen / Der Stadt Danzig Hochverdienten Cammerer vnd Rathverwandten / Den 15. Novemb. Anno 1640.³⁰¹ Ich wolte / solte diß vom Todesgang befrewen / Ich wolte / solte diß die Lebenszeit ernewen / Wann einer so gelebt / daß Gott vnd Menschen liebt / Wann einer so gelebt / daß guten Nahmen giebt / Ich wolte diesen Tag mit grossem Eyfer sagen: Was wird Herrr Giese dann zu Grabe nun getragen Hat der nicht so gelebt / daß Gott damit vergnügt / Dem sonder zweifel nu sein Geist in Armen liegt? Hat der nicht so gelebt / daß menniglich (die Frommen) Beklagen: Ach er ist zu früh von vns genommen / Wie graw er immer war. Wie aber keines kann / Noch Ehr / noch Gut / noch Gunst entreissen von der Bahn Die jeder gehen muß / Wie alle Kunst verdorben Am Nimmer=satten=Fraaß / so ist er auch gestorben / Der Lebens würdigste. Was trawret man darob? Ist schon Herr Giese Todt / so lebet Geist vnd Lob / Sein Geist in GOTttes Schoß / sein Lob bey vns auff Erden / Vnd diß sol keiner Zeit durch Zeit entrissen werden. Was trawret man darob? Betrawret den der stirbt Dem Geist vnd Lob vnd Leib (behüte Gott) verdirbt. Diß ist ein gantzer Todt / diß ist wol gantz verdorben / Wer aber Giesisch stirbt / der ist dem Todt entstorben. Gott habe seinen Geist / den Cörper nimbt der Sandt / So kömpt ein jedes so zum rechten Vaterlandt.
5
10
15
20
Sicca vena
GEORGII GREBLINGERI, Ratisbonensis.
299 HPG, 2878. 300 Abgedruckt bei Raschke (Anm. 206), S. 20; vgl. auch van Stekelenburg (Anm. 191), S. 283. 301 HPG, 2880.
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Aus Greflingers Epicedium erfährt man nichts über mögliche Produktionsmotivationen – handelt es sich um ein Auftragswerk oder stellt es den Versuch dar, sich unaufgefordert im Umfeld der Ratsfamilie zu rekommandieren?³⁰² Auf jeden Fall wird der Regensburger in den folgenden Jahren noch mindestens zweimal für das Ratsherrengeschlecht der Giese zur Feder greifen: 1643 anlässlich des Todes von Cordula Giese, geborene von Bodeck, Gattin des Rhaban Giese,³⁰³ und 1648 für die Hochzeit Constantia Gieses, der Nichte Tidemanns. Greflinger erfüllt im zitierten Gedicht exakt die Formvorgaben der Epicedienpraecepta:³⁰⁴ Das für die Gattung konstitutive „Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung“³⁰⁵ wird durch die Verbindung dreier Teile (laudatio, lamentatio, consulatio) erzeugt: Das Alexandriner-Gedicht beginnt mit einem kurzen proömartigen Fünfzeiler, in dem der Sprecher in anakoluthisch konstruierten Versen zu einer lamentatio anhebt. Anaphorik und Parallelismen unterstreichen dabei die rhetorisch zum Ausdruck gebrachte Verzweiflung über das Dahinscheiden eines gottesfürchtigen und menschenfreundlichen Mannes, woran auch der Dichter mit seinem Trauergesang nichts ändern kann. Diese Gedanken werden im anschließenden Lobteil ausgeweitet (V. 6–10) und schließlich in eine allgemeine Memento-Mori-Reflexion überführt (V. 11–14), wodurch die durch die laudatio hervorgerufene Affekterregung gedämpft wird. Der Trostteil verbindet zwei topische consulatio-Argumente: den aus der antiken Tradition stammenden Gedanken des Fortlebens durch dauernden Ruhm (wofür ja das vorliegende Epicedium Sorge zu tragen verspricht) sowie den christlichen Erlösungsgedanken. Eine ‚individuelle‘ Note erhält die Passage, indem Greflinger durch zwei Neologismen den konsultatorischen Effekt verstärkt (V. 22): der Name des Verstorbenen wird adverbialisiert zum Synoym für eine exempelhafte Lebensführung, die nach dem Tod irdische und himmlische Ewigkeit garantiert, was in Verbindung mit einer neugeschöpften, antithetischen traductio (zu „sterben“) auf eine sentenz-
302 Sich durch Casualia bei Höhergestellten zu rekommandieren, wird in den poetischen Anleitungen als Anreiz formuliert. Segebrecht (Anm. 104), S. 177. 303 HPG, 1294. 304 Hans-Henrik Krummacher (Das barocke Epicedium. Rhetorische Tradition und deutsche Gelegenheitsdichtung im 17. Jahrhundert. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 18 [1974], S. 89–147) beschreibt die antike und christliche Traditionsgebundenheit des barocken Epicediums, vor allem was die Bereiche der dispositio und die Topik betrifft. Seine Funktion sieht Krummacher dem Aufbau der Texte dieser Gattung entsprechend darin, durch das Lob (laudatio) des Verstorbenen den „Affekt der Trauer zu erregen“ (lamentatio), um diesen im Trostteil (consolatio) abzufangen, so dass das „Gegenspiel von Affekterregung und Affektstillung“ als das Formgesetz des Epicediums verstanden werden könne (ebd., S. 110). 305 Ebd.
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artige Formel gebracht wird: „Wer Giesisch stirbt / der ist dem Tod entstorben“. Auch die beiden letzten Verse haben Epigrammcharakter. * Geht man bei der Betrachtung des Greflinger’schen Gelegenheitsschrifttums weiter chronologisch vor, gewinnt man den Eindruck, dass der süddeutsche Neuankömmling tatsächlich recht bald nach Ankunft in der Handelsmetropole erste Kontakte zu den produktiven Danziger Casualdichtern knüpfen konnte. So tritt er im Januar 1641 in einem Ehrengedächtnis im Kreis der „litterati“ auf, die den Tod des Senators und Scholarchen Gualtherus Rosenberg beweinen („deflent“).³⁰⁶ Bei den Beiträgern handelt es sich um geistliche Amtsträger, nämlich um die Konrektoren zweier Danziger Pfarrschulen, Moeresius und Culmann, sowie um den Kantor Bernhardi und um Theologiestudenten, u. a. Friedrich Büthner. Gerade Moeresius, Culmann und Bernhardi gehören dem produktiven Danziger Autorennetzwerk an, dessen Mitglieder um die Jahrhundertmitte in variierenden personellen Konstellationen kasuale Gemeinschaftswerke präsentierten. Greflinger indes war zu diesem Zeitpunkt in Danzig literarisch noch kaum hervorgetreten. Es ist also anzunehmen, dass er von einflussreicher Seite empfohlen worden war, vielleicht von einer Person aus dem Umfeld der arrivierten Gelegenheitsdichter. Auch kann ein Wunsch der Auftragsgeber, der Patrizierfamilie Rosenberg, dahinterstehen, die den jungen Dichter kannte oder ihn vorgeschlagen bekommen haben mag. Als Mittelsmann wäre an dieser Stelle an Mochinger zu denken oder die Familien Bobart und Bodeck – auch hierzu später mehr. Trotz dieser ersten Annäherung wird Greflinger nur allmählich mit Aufträgen, vor allem aus dem Kreis verschiedener Ratsfamilien und der finanzstarken Kaufmannschaft, bedacht. Auf 1642 datiert das erste überlieferte Epithalamium, das unter dem Namen Greflingers erscheint: ein mehrteiliger, umfangreicher Beitrag für eine Bürgerhochzeit.³⁰⁷ Wie eine gelehrte Abhandlung mutet der erste Teil des Casualwerks an, in dem – gemäß dem topos ex definitione³⁰⁸ – die universelle „Frage von der Liebe“ diskutiert wird. Folgende ‚Quaestiones‘ werden dabei artikuliert: „Woher die Liebe?“, „Was die Liebe sey / ob sie ein Gott?“, „Woran man einer Dama und Cavallirs GegenLiebe erkennt?“, „Ob es besser ist eine Jungfraw oder eine Alte Witbe lieb zuhaben.“, „Was der Liebe Ziel?“. Die letzte Frage ist am leichtesten
306 HPG, 4070. 307 HPG, 3252. Auch HPG (Thorn) [Toruń Wojewódzka Biblioteka Publiczna Ksia̧żnica Kopernikańska. Gymnasialbibliothek Thorn. Hg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann. Hildesheim, Zürich 2002], Nr. 0136–100469. 308 Zum ‚topos ex definitione‘ vgl. Dyck (Anm. 153), S. 45 f.
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zu beantworten: „Ziel“ der (ehelichen) Liebe ist ganz im Sinne der protestantischen Ehelehre „Kinder / Kinder Kinder“.³⁰⁹ Auf die anderen Quaestiones wird im Umfang von zehn bis vierzehn paargereimten Alexandrinerversen geantwortet. Einen interessanten Aspekt weist der zweite Teil des Epithalamiums auf: Er beinhaltet ohne Notenbeigabe das ‚Zwillingsgedicht‘ „Lied eines Unverliebten vnnd Verliebten“, eine Variante des misogamen Stücks „Hylas will kein Weib haben“ und seiner Palinodie, die erstmals 1644 in Seladons Beständige Liebe erschienen – ein Beispiel dafür, dass Greflinger wie viele andere Autoren ursprünglich anlassgebundene Texte in Werkausgaben überführt. Im Streitgespräch des Epithalamiums siegt der für eine monogame Ehe plädierende „Verliebte“, so dass in den anschließenden, davon abgesetzten Erläuterungsversen der Bräutigam aufgefordert wird, diesem Exemplum zu folgen. Im insgesamt vierteiligen Epithalamium folgt sodann ein Appell „An die Jungfrawen“, in dem unter Verwendung jahreszeitlicher Metaphorik zur Eheschließung im Frühling des Lebens aufgerufen wird. Das zotige Rätsel am Ende ist der einzige Abschnitt des Epithalamium-Komplexes, der keinen thematischen Zusammenhang zu den anderen Elementen aufweist. Es wird seinen ‚performativen‘ Ort im Rahmen des Hochzeitsfest im Anschluss an das Festmahl gehabt haben. Das folgende Jahr ist für den Casualdichter Greflinger bereits recht erfolgreich, denn er erhält Aufträge, den ein oder anderen Danziger Würdenträger zu bedichten: Im Januar stirbt der Richter der Rechtsstadt, Carl Schwartzwald, der aus einem ratsverwandten Patriziergeschlecht stammt, welches für außerordentliche Kunstbeflissenheit bekannt war und sich der generösen Förderung von Malerei und Poesie verschrieben hatte. Gelehrte, Dichter und bildende Künstler gingen in den noblen Wohnhäusern der Schwartzwalds ein und aus. Zeitgenössische Schilderungen erwecken gar den Eindruck, man habe es hier mit literarischen Salons avant la lettre zu tun.³¹⁰ Greflinger ehrt den Verstorbenen entsprechend mit einer „Musen Klag ODE“.³¹¹ Der „Helicon, Phoebus vnd die neun Göttinnen“ beklagen den Tod des kunstliebenden, sprachgewandten und bibliophilen „Herrn Schwartzwald / der für sie | Hat getragen mache Mühe.“ Das elegante Druckbild mit aufwendig gestalteten Zierleisten deutet darauf hin, dass die Hinterbliebenen das GreflingerGedicht als würdigen Beitrag zur memoria-Stiftung ihres Verstorbenen erachteten und einen entsprechenden Druck arrangiert hatten.
309 Der Kinderwunsch ist freilich schon seit der Antike fester Bestanteil des Epithalamiums. Mit der protestantischen Ehelehre war dieser Aspekt äußerst kompatibel und fehlt daher in kaum einem Hochzeitsgedicht, das Greflinger und seine Kollegen verfassen. 310 Kindermann (Anm. 260), S. 11. 311 HPG, 2950.
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Doch auch für freudige Ereignisse engagierten Danziger Bürger den süddeutschen Neuankömmling verstärkt. Dabei machen sich die Schreibbedingungen, unter denen den verschiedenen Anlässen entsprechend ein Casualwerk entsteht, deutlich bemerkbar. So eröffnet ein Epithalamium dem Autor durch eine in der Regel längere Vorlaufzeit eher die Möglichkeit, sein poetisches Können unter Beweis zu stellen, während ein Epicedium sozusagen naturgemäß rasch verfasst sein muss und die Autoren daher eher geneigt sind, auf Muster oder bereits Ausgearbeitetes zurückzugreifen. Hinzu kommt, dass ein Begräbnisgedicht traditionell in einen enger abgesteckten Rahmen von Vorschriften und Traditionen eingepasst wird. Die Epithalamium-praecepta lassen hingegen mehr Raum für Innovation und Spielereien. Entsprechend präsentiert sich das Hochzeitsgedicht für den Ratsherrn Johann Borckmann und seine Braut Euphrosina Preuß als imposantes, 102 Alexandriner umfassendes Versepos mit dem Titel Blut=und=Liebes=Krieg mit seiner verwandlung.³¹² In drastischen Bildern beschreibt Greflinger zunächst eine Welt, in der Mars sein blutiges Regiment führt: brennende Städte, die Suche nach Waffen, Töten und Morden, Untaten der Söldnerheere, der Verfall der Sprache.³¹³ Besonders ausführlich wird die Situation der Bauern dargestellt, die aus Not Familie und Besitz verlassen, um sich einem Söldnerheer anzuschließen. Der Hof wird so leicht zum Opfer umherziehender Heere: […] O welche wissenschafft Hat unser Bauers Mann mit Kriegen eingeschafft Für all sein Hauß und Hoff. Er sitzet so zu Pferde Als kein Croate nicht / Entfliehet seiner Herde Läst Weib und Kind im Stich / und sprenget in die Stadt Damit der Jagende sein Gutt in Händen hat. Und thut was ihm geliebt / raubt Pferde / Schaff und Rinder Die Fraw beschickt den Tisch / das Bette seine Kinder […].
312 HPG, 2396. Zum Topos vgl. auch Wilhelm Kühlmann: Militat omnis amans. Petrarkistische Ovid-imitatio und bürgerliches Epithalamium bei Martin Opitz. In: Daphnis 7 (1978), S. 199–214. 313 Zu dieser zentralen Thematik der Barockliteratur vgl. Kühlmann (Anm. 179); Ferdinand van Ingen: Der Dreißigjährige Krieg in der Literatur. In: Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Hg. von Horst Albert Glaser. Band 3: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock. 1572—1740. Hg. von Harald Steinhagen. Reinbek 1985, S. 237–256. Zur Thematisierung von Krieg und Frieden in Epithalamien vgl. beispielsweise den Aufsatz von Knut Kiesant: Friedensvisionen in Casualgedichten Wencel Scherffers von Scherffenstein. In: Memoria Silesiae. Hg. von Miroslawa Czarnecka u. a. Wrocław 2003, S. 281–297.
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Alles ist in der Kriegssituation einer fundamentalen Perversion, einer „verwandlung“ unterworfen – freilich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts mehr als ein omnipräsenter Topos, vielmehr ein erlebter ‚Störfall‘ (Johannes Burkhardt) und bittere Wirklichkeit, die Greflinger aus eigener Erfahrung schildern konnte.³¹⁴ In dem Hochzeitsbeitrag wird die Kriegsklage entsprechend dem Casus in einem zweiten Teil erweitert: Auch die Regentschaft der Venus und ihres von Mars gezeugten Sohnes bedeutet Verkehrung, indem Amor etwa die „Alten wieder Jung“, „die schönen ungestalt / die Ungestalten schön“ und die „Jungfern [zu] Frawen“ macht. Trotz eines tertium comparationis beider Regimenter, nämlich die durch sie ausgelöste „verwandlung“ einer bestehenden Ordnung, wird eine zur Pointe führende Differenz aufgezeigt: Der Macht des Mars kann man widerstehen, der des Amor und der Venus jedoch muss man sich letztlich dem omniavincit-amor-Diktum entsprechend beugen.³¹⁵ Seine eigentliche Signatur gewinnt Greflingers Hochzeitsepos schließlich durch die inventio ex loco circumstantiorum temporis:³¹⁶ Es wurde an verschiedenen Stellen bereits angesprochen, wie segensreich es für Danzig war, vom Krieg weitgehend verschont geblieben zu sein. Dennoch bestimmte auch hier das Kriegsgeschehen in den deutschen Landen das Tagesgespräch und wurde somit als Realium häufig Sujet von Gelegenheitsdichtung. Man darf annehmen, dass die starke Präsenz kriegsleidgeprüfter Autoren – vor allem der zahlreichen Schlesier – erheblich dazu beigetragen hat, dass die
314 Vgl. Johannes Burkhardt: Der Störfall frühneuzeitlicher Geschichtserfahrung. Ein Epilog zum dreißigjährigen Alltag. In: Ders.: Der Dreißigjährige Krieg. Frankfurt am Main 1992, S. 233–243. Die durch Kriegswüten hervorgerufene Weltverkehrung behandelt auch das 172 Verse umfassende epische Zeitgedicht Des jetzigen Deutschlandes Erbärmliche Beschaffenheit, das im gleichen Jahr wie der Blut=und=Liebes=Krieg mit seiner verwandlung erscheint und eine Umarbeitung bzw. Erweiterung der oben besprochenen Querela Germaniae darstellt. Der erstgenannte Widmungsempfänger ist der Thorner Burggraf Johann Preuß, möglicherweise ein Verwandter der Danziger Braut Euphrosina Preuß. Wie in der Querela steht die Klage über den Bruderzwist, der zum Niedergang des einst so mächtigen Deutschlands geführt habe, im Zentrum. Das geschwächte Reich sei so den aggressiven auswärtigen Feinden hilflos ausgeliefert („Die mit verhasstem Aug jetzt deine Wunden zehlen | Vnd wann du fast erligst zum Raube dich erwehlen“). Das Gedicht endet mit einem Appell, gemeinsam gegen den türkischen Erzfeind vorzugehen. 315 Das Motiv des Venus- und Marskrieges ist petrarkistisch. Greflinger könnte es von Opitz gekannt haben, der es seinerseits von Ronsard oder aus dem niederländischen Bloem-Hof übernommen hatte. Vgl. Barbara Becker-Cantarino: Vesuvius. Poema Germanicum. Opitz und der Dreißigjährige Krieg. In: Martin Opitz. Studien zu Werk und Person. Hg. von ders. Amsterdam 1982, S. 501–518. 316 Segebrecht (Anm. 104), S. 122.
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Kriegsthematik und mit dieser auch der Friedensgedanke zu den zentralen Motivkomplexen der Danziger Dichtung in den 1640er- Jahren wurden.³¹⁷ * Einige Casualia aus den Thorner Beständen zeigen, dass Greflinger auch mit Bürgern der Kopernikus-Stadt in Kontakt stand. Offenbar hielt er sich auch einige Zeit hier auf. Auf eine Verbindung weist die bereits erwähnte Widmung an zwölf Thorner „hochgeehrten Herren vnd geneigten Gönnern“ des Zeitgedichts Des jetzigen Deutschlandes Erbärmliche Beschaffenheit Anno 1643 hin.³¹⁸ Über die Vermutung Blühms hinaus – „ob er [Greflinger] zuerst 1643, als er auf dem Wege nach Frankfurt a. Main war, in Thorn weilte oder ob er mehrfach diese Stadt berührt hat“³¹⁹ – lässt sich an dieser Stelle nicht mehr sagen. Ein früher Casualdruck mit Thorner Adressat datiert bereits 1641.³²⁰ Ein 1652 aus Hamburg gesandtes Epithalamium überschreibt Greflinger „Herr Seelstrey, der zu Thorn sein guter freund gewesen / Gibt hochzeit.“³²¹
5.5 Frankfurter Intermezzo Die Lücke, die bei einer Auflistung der Casualia zwischen Sommer 1643 und Herbst 1644 festzustellen ist, deutet auf einen Ortswechsel hin. Der Druckort der in diesen Monaten unter dem Namen Greflingers erscheinenden Werke ermöglicht es jedoch, der Spur des Oberpfälzers zu folgen: Der Weg führt nach Frankfurt am Main. Möglicherweise spielte die Familie Bodeck in diesem Kontext eine Mittlerrolle. Ein Zweig der Danziger Stadtadeligen galt in Frankfurt als eines der mächtigsten Geschlechter und war hier vor allem im Geldgeschäft tätig. 1654 fertigte Greflinger ein Dankgedicht für das „edle Bodecks Hauss Umb dessen mier erzeigte Gnaden Von Franckfurt und von Dantzig aus“ an.³²² Bereits 1648 hatte
317 Vgl. Hertel (Anm. 206), 183 ff. und van Stekelenburg (Anm. 191), S. 102 ff. mit weiteren Beispielen. 318 Der Text ist vollständig zitiert bei Blühm (Neues, Anm. 77), S. 83–87. Vgl. auch die Angaben zu Casualia an Thorner Adressaten 1641 und 1643 (DÜNNHAUPT III, S. 1699). 319 Ebd., S. 83. 320 DÜNNHAUPT III, S. 1689 f. (Nr. 47). 321 Zitiert bei Bolte (Anm. 84), S. 105 (Nr. 14). 322 Zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 107. In einem anderen Gelegenheitsgedicht (1657) dankt Greflinger dem aus Frankfurt stammenden Bonaventura Bodeck für sein Wohlwollen und seine Unterstützung. S. ebd.
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er in einem Epithalamium auf die Bedeutung der Bodecks in Frankfurt hingewiesen.³²³ 1644 erscheinen in Frankfurt unter Greflingers Namen (bzw. unter seinem Schäfernamen „Seladon“, den er wohl in Anlehnung an den treuen Hirten aus Honoré d’Urfés Astrée wählte) jedenfalls mehrere Werke: Das emblematische Erbauungsbuch David Virtuosus, die Liedersammlung Seladons Weltliche Lieder und das Schauspiel Ferrando Dorinde. Letztere verlegte Eduard Schleich, der Nachfolger des Hanauer und Frankfurter Buchhändlers Clemens Schleich,³²⁴ David Virtuosus erschien bei Johann Ammon, dem Schwager und Kompagnon des aus Basel nach Frankfurt umgesiedelten Matthäus Merian (d. Ä.). Dass Greflinger bald Zugang zum Zirkel dieser Drucker, Verleger, ihrer Künstler und Redakteure gefunden hat, belegt das Vorwort zu seinem ersten Liederbuch Seladons Beständige Liebe von einem „J. G. S. Ratisp.“. Hinter diesem Kürzel verbirgt sich der Publizist, Historiker und Gymnasiallehrer Johann Georg Schleder, ein gebürtiger Regensburger. Offensichtlich hat dieser Greflinger im Kreis um Schleich, Ammon und den Kupferstecher Sebastian Furck kennengelernt und seine Integration in jenen Zirkel, der wesentlich an der Redaktion von Merians Theatrum Europaeum beteiligt war, vorangetrieben.³²⁵ Schleich verlegte auch das Schauspiel Ferrando Dorinde. Zweyer hochverliebtengewesenen Personen erbärmliches Ende, dessen Widmungsvorrede auf den 12. Februar 1644 datiert ist. Bei den Adressaten „Jacob Holtzapffel“ und „Hartmann Ulrich Sagenbard genandt Fuchs“ handelt es sich vermutlich um vermögende Frankfurter Bürger,³²⁶ Greflinger bezeichnet sie als seine „Geneigte[n]
323 HPG, 2477. 324 Die Firmengeschichte des Schleich’schen Unternehmens steht in Verbindung mit dem großen Betrieb der Brüder David (gest. 1635) und Daniel (gest. 1627) Aubry. Die Söhne des Johann Aubry verlegten das Unternehmen nach Frankfurt am Main, wo sie mit dem aus Wittenberg stammenden Buchhändler und Verleger Clemens Schleich zusammenarbeiteten. Eduard Schleich übernahm 1643 Teile des väterlichen Unternehmens. Seine Witwe heiratete den Buchhändler Caspar Wächtler. Josef Benzing: Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 2 (1960), S. 445–509, hier S. 491. 325 Das Theatrum Europaeum beschreibt in 21 Bänden die Zeitgeschichte zwischen 1618 und 1718, die erste Ausgabe erschien 1633, die letzte 1738. Abgehandelt wird, „was den üblichen Lauf der Natur und des gewöhnlichen Menschenlebens überschreitet um außerordentliche, wunderbare und herrliche oder schädliche Ereignisse.“ Abgesehen vom „Unterhaltungsstoff“ geht es also um Kriege, Staatsaktionen, aber auch um regionale Ereignisse. (Hermann Bingel: Das Theatrum Europaeum, ein Beitrag zur Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts. München 1909, S. 8 f.). Zu Schleders Bedeutung für den Merian-Verlag vgl. ebd., v. a. S. 59–71. 326 Holtzapffel ist als städtischer Apotheker Adressat mehrerer Gelegenheitsschriften (vgl. VD17 125:015586G).
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Beförderer“. Nach einer kurzen Ankündigung des tragischen Inhalts – die Handlung folgt in ihrer Grundstruktur der Pyramus-und-Thisbe-Fabel –, nimmt Greflinger auf die eigene Situation Bezug: Daß ich allhier das meiste von Liebessachen geschriben / kommt / weil ich dieser Zeit vber mit dergleiche(n) Beschwernussen zimblich behaftet gewesen. Aber den Göttern gedanckt / ich bin frey worden / daß ich aber die Freund=Feindliche Venus nicht gäntzlich erzürne / bin ich entschlossen ihrem Geliebten / dem Mars hinfüro zu dienen. Vielleichte erlange ich durch den Degen was ich durch die Feder vnd küssen niemals erwerben können.³²⁷
Ob er wirklich in Betracht gezogen hat, wieder in Kriegsdienste zu treten, ist dabei freilich ebenso fraglich wie ein autobiographischer Bezug zur dargestellten Liebeshandlung. Was jedoch aus der Vorrede bei Abzug aller rhetorisch-topischen Elemente hervorgeht, ist, dass Greflinger weiterhin von materiellen Nöten bedrängt war³²⁸ und offenbar bereits seinen Abschied aus Frankfurt und seine Rückkehr nach Danzig plante, auch wenn die Kontakte zu dem Merian-Kreis noch einen weiteren Auftrag eingebracht hatten: Zu den David-Kupferstichen Johann Theodor de Brys (1561–1623), die Szenen aus dem Leben des alttestamentarischen Königs zeigen, verfasste Greflinger „summarien“, in Reim gefasste, epigrammartige Kommentare, die sich an die ebenfalls wiedergegebenen lateinischen Verse von Benedictus Montanus³²⁹ aus der Originalausgabe (David Virtutis spectaculum, 1597) anlehnen. Die Vorrede an den Leser datiert das Erscheinen des Werkes zur „Oster=Meß / im Tausendt sechshundert und vier und viertzigsten Jahre“ in Frankfurt am Main. Schließlich erschienen in Greflingers Frankfurt-Jahr 1644 bei Matthäus Kämpffer noch mit Noten versehen: Zwey Sapphische Lieder / Von der Geburt und von dem Leyden Unsers getrewen Heylandes Jesu Christi / gesungen von Georg Greblinger auß Regenspurg,³³⁰
327 Ferrando Dorinde Zweyer hochverliebtgewesenen Personen erbärmliches Ende. Franckfurt am Mayn / Verlegt von Eduard Schleichen Buchhändler M. DC. XLIV., S. 4. 328 „Wolan / geneigte Herrn / bestraalet dieses wenige so günstig wie ihr etwa einer wichtigen Sache zu thun pfleget / und dencket daß es komme von einem / der sich gern auß dem Staube erheben wolte / wann ihn das mißgünstige Glücke etwas bessers beschiene.“ Ferrando Dorinde, S. 4. 329 Benedictus Arias, genannt Monatus war spanischer Theologe und wirkte im Auftrag Philipp II. in Antwerpen. Das Werk erschien unter dem Titel David Virtutis Erercitatissimae probatum Deo spectaculum zuerst 1575 bei Plantin in Antwerpen, 1597 dann bei de Bry in Frankfurt und 1632 mit anderem Titel bei Filzer (Frankfurt). S. Claudia Sedlarz: Der Beitrag Georg Greflingers zur Rezeption von Ripas Iconologia in Deutschland. Magisterarbeit (Ludwig-Maximilians-Universität München) 1989, S. 30. 330 Sedlarz (Anm. 329), S. 17, weist auf einen möglichen bibliographischen Irrtum bei von Oettingen (S. 16, Nr. 2) hin, der den Titel nach dem Frankfurter Messkatalog als Georg Greblingers
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denen eine Widmung an mehrere Personen, die sich als in Frankfurt ansässige und vorwiegend mit Tuch, Seide und auch Büchern handelnde, niederländische Kaufleute identifizieren lassen, vorangestellt ist:³³¹ Den Ehrnvesten / Fromm und Vor=| nehmen als einer lieblichen Freundschafft / | Herrn Abraham Heldevir | H. H. Jacobis de Famars H. Jacob du Fay / Vettern H. Johann du Fay H. Daniel Dorviel / H. David Malapert / H. Abraham de Newsill / H. Johann Peter Braun / H. Johann Merten / Nehmt an mit gutem Auge / ihr unser neun Gottinen berühmte Förderer mein wohlgemeintes sinnen / Von allen Christen Hayl das Blatt wird ewrer Tugend Empfohlen Ewrer Gunst befehl ich meine Jugend Seinen allerseits Hochgeehrten Herrn wolmeinend uberreicht vom Authore.
Es ist anzunehmen, dass sich Greflinger darüber hinaus auch in Frankfurt als Gelegenheitsdichter betätigt hat. Dünnhaupt verweist auf einen hier entstandenen Casualdruck, der von „Seladon aus Regensburg“ signiert ist.³³² Eine Anfrage im Frankfurter Stadtarchiv erbrachte jedoch keine Ergebnisse. Festzuhalten bleibt, dass für Greflingers spätere Tätigkeit als Journalist und Zeitchronist die Bekanntschaft mit den Theatrum-Journalisten (vor allem mit Schleder) nicht zu unterschätzen ist. So ist zum Beispiel für Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg und auch andere zeitchronistische Schriften Greflingers das Theatrum Europaeum eine zentrale Quelle. Außerdem wird Greflinger durch den Merian-Kreis mit den Techniken der Informationsbeschaffung und -verarbeitung vertraut gemacht worden sein, was ihm bei seinen späteren Unternehmungen als Journalist und Zeitungsherausgeber von großer Nützlichkeit gewesen sein dürfte.
zwey Sapphische Lieder von Geburt und Leiden Jesu Christ zitiert und Schleich als Verleger bestimmt. Diese Fassung ist heute jedenfalls nicht mehr nachweisbar. 331 Zu diesen Familien vgl. Friedrich Bothe: Geschichte der Stadt Frankfurt am Main. 3. Auflage. Frankfurt am Main 1929. [Reprint 1977], S. 129. Sedlarz vermutet, dass Greflinger über Merian und Ammon in die Kreise dieser Antwerpener Familien eingeführt wurde (Anm. 329, S. 17). Denkbar wäre aber auch, dass die Verbindung zu den Niederländern zuerst bestand (vielleicht über den in Frankfurt niedergelassenen Zweig der Danziger Kaufmannsfamilie Bodeck) und der Kontakt zu dem Merian-Kreis über sie zustande kam. 332 DÜNNHAUPT III, S. 1750.
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Die Mischung aus Unterhaltungs- und Geschichtsstoff, die für die Gestaltung des Theatrum Europaeum charakteristisch ist, findet man später auch in Greflingers Hamburger Zeitung Nordischer Mercurius. Der Kontakt zu Druckern, Verlegern, Künstlern und Journalisten der Mainmetropole brach jedenfalls nicht ab, so dass Greflinger auch in den folgenden Jahren hin und wieder für Frankfurter Buchunternehmen tätig wurde: 1648 erschien bei Johann Ammon Wahre Abbildungen der Türckischen Kayser vnd Persischen Fürsten. Die versifizierten Bildkommentare, allesamt freie Übersetzungen von Jean-Jacques Boissards ursprünglichen Epigrammen, verfasste der mittlerweile in Hamburg lebende Autor. Schließlich engagierte Clemens Ammon, der Sohn und Nachfolger Johanns in Heidelberg, Greflinger für die editio ultima von Zingcrefs Emblemata Ethica-Politica Centuria, der deutsche Texte beigefügt werden sollten. Die erste Auflage von 1664 nennt Greflinger noch nicht als den Übersetzer, eine weitere, im Wortlaut identische Auflage von 1681 belegt seine Autorschaft der deutschen Ergänzungsepigramme.³³³ Auch Greflingers bedeutendste Liedersammlung Seladons Weltliche Lieder erscheint 1651 in Frankfurt im Verlag Caspar Wächtler, dem Erben des Schleich’schen Unternehmens. Das Vorwort an den „Freundliche[n] Lands=Mann“ ist an Johann Georg Schleder gerichtet. Schleder zeichnet in einem Ehrengedicht ein buntes Bild des Frankfurter Aufenthalts des „Braunen“, wie Greflinger im geselligen Freundeskreis der „Musicanten vnd Poeten / Mahler / Setzer / Kupferstecher“ genannt worden sei: […] Weißt du wol / wie es geschahe? Als ich dich bey Furcken sahe? Mit dem reingehertzten Schleichen […] Da wir sprachten / da wir sungen / Da wir nach den Saiten sprungen: Da wir recht vertreulich lebten / Und in reiner Freude schwebten.
Schleder hebt mehrmals ausdrücklich die Landsmannschaft der „zween Georgen“ (S. 11) hervor und mahnt zur Aufrechterhaltung der Freundschaft. Auch wird
333 Zur Druckgeschichte der Zincgrefschen Emblemsammlung vgl. Julius Wilhelm Zincgref: Emblemata ethico-politica. Hg. von Dieter Mertens, Theodor Verweyen. 2. Teilband: Erläuterungen und Verifizierungen. Tübingen 1993, bes. S. 40–46. Über Greflingers Beitrag heißt es hier: „Jedenfalls verleihen Greflingers elegante Epigramme dem Druck C [1664] eine zusätzliche Qualität.“ (S. 44).
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deutlich, welches Ziel die Publikation der Liedersammlung hat und worin Schleder seinen Landsmann bestärken und unterstützen will: „Seladon / viel Glück zur Krone Die sey deines Dichtens Lohne!“ (S. 12), heißt es am Ende des Ehrengedichts – 1655 wird Rist dieser Forderung, der Krönung Greflingers zum Poeta laureatus, Folge leisten.
5.6 Zurück in Danzig Seit dem Herbst 1644 tritt Greflinger wieder verstärkt als Gelegenheitsdichter in Danzig auf. Die Verbindungen scheinen nach mehrmonatiger Abwesenheit fortbestanden zu haben und die Frankfurter Neuerscheinungen, von denen man in dem buchmarktmäßig bestens versorgten Handelszentrum gewiss Notiz genommen hat, seine Reputation bei der Stadtelite als Autor für prestigeträchtige Ereignisse durchaus befördert haben. So ist Greflinger in seinen beiden letzten Danziger Jahren im Casualgeschäft sehr aktiv, wobei der Adressatenkreis relativ konstant blieb: Vorwiegend schreibt Greflinger im Auftrag von Patrizierfamilien, vermögenden Handelsleuten und Militärs. Zur Gelehrtenwelt des Akademischen Gymnasiums kann er hingegen keinen engeren Kontakt aufbauen. Am akademischen Gelegenheitsschrifttum (Dienstjubiläen, Promotionen, Berufungen etc.) ist er nicht beteiligt, kein einziges überliefertes Casualwerk ist auf Latein verfasst. Indes reichten Honorare für seine Gelegenheitsdichtungen und mäzenatische Unterstützung vermutlich kaum, um ein ‚bürgerliches‘ Leben zu führen³³⁴ – Greflinger war mittlerweile Ende 20 und dachte möglicherweise an Familiengründung. Auch eine Hofmeistertätigkeit im Hause des Kapitäns Tönniges (mehr dazu später) scheint keine Dauerlösung geboten zu haben. Ohne Jura- oder Theologiestudium konnte Danzig für Greflinger also keine Option bleiben. Keiner der uns bekannten Danziger Autoren um 1640 lebte aus der Feder – alle übten ihre literarischen Tätigkeiten im Rahmen eines geistlichen oder akademischen Amtes aus. Auf ein solches hatte Greflinger jedoch ohne adäquaten Studienabschluss keine Aussicht. Der Vergleich mit dem literarisch besonders produktiven Stadtprediger Albinus kann die Problematik verdeutlichen: Dessen literarisches Schaffen ist aufs Engste mit seiner Amtstätigkeit verknüpft, seine „Bibliographie weist nur wenige Titel auf, die nicht seinen offiziellen Status als Mitglied der obrigkeitlichen Amtskirche affichieren und an die Respektabilität seiner im Rang dritt-
334 Vgl. Rudolf Endres: Das Einkommen eines freischaffenden Literaten der Barockzeit in Nürnberg. In: Quaestiones in musicis. FS für Franz Krautwurst zum 65. Geburtstag. Hg. von Friedhelm Brusniak und Hort Leuchtmann. Tutzing 1989, S. 85–100.
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wichtigsten kommunalen Pfarrkirche erinnern.“³³⁵ Das Gleiche gilt für Moeresius, Bernhardi, Bythner, Manhardt, Zetzkius und viele andere. Die soziokulturellen Gegebenheiten im Danzig des mittleren 17. Jahrhunderts waren somit für einen Autor wie Greflinger letztlich ungünstig: Die an sich durchaus produktive Danziger Literaturszene ist fest mit der institutionalisierten Kirchlichkeit verbunden, die ihrerseits eng mit der akademischen Welt des Gymnasiums verknüpft ist. Greflinger als nicht studierter Theologe kann nur in der Peripherie dieses fixen Teilnehmerkreises agieren. Eine ‚säkulare‘ Literaturplattform in Gestalt einer Sprachgesellschaft oder eines literarisch-musikalischen Freundeskreises nach Art der Kürbishütte fehlte. Literarische Organisation bestand ansatzweise höchstens „im okkasionellen Zusammenschluß der meist lateinisch dichtenden orthodoxen Stadtgeistlichen im Rahmen ihrer körperschaftlichen Verpflichtungen und – wenn es der Anlaß gebot – unter Anbindung der Kollegen der pfarrkirchlichen Lateinschulen.“³³⁶
6 Itinerar V: Hamburg – Möglichkeiten der Netzwerkbildung Bei dem letzten Casualdruck, der aus Greflingers Zeit in Danzig überliefert ist, handelt es sich um das auf den 26. Oktober 1646 datierte Begräbnisgedicht auf den Kaufmann Simon Eßken.³³⁷ Noch in diesem Jahr muss Greflinger die Weichselstadt verlassen haben, um nach Hamburg umzusiedeln. Doch wollte er nicht unangekündigt vor den Toren der Stadt erscheinen, um hier sein Glück zu versuchen. Stattdessen ergriff Greflinger die Initiative, denn die Netzwerke sollten bereits installiert sein, wenn er ankam. Greflinger wandte sich daher sozusagen direkt an die ersten Adressen: an den einflussreichsten Literaturorganisator der Region – darauf wird bald ausführlich zurückzukommen sein – sowie an die städtische Obrigkeit. Hier greift er zu den Mitteln, die einem barocken Autor zur Verfügung stehen, um sich bestmöglich bei den politischen Führenden eines Gemeinwesens zu rekommandie-
335 Van Stekelenburg (Anm. 191), S. 170. 336 Einige wenige Male konnte Greflinger diesem Kollektiv beitreten, wie im Fall des Ehrengedächtnisses für die 1645 gestorbenen „Matrona“ Sara Brömmer, eine Person aus dem ekklesiastischen Kontext: Die begüterte Witwe hatte sich nach dem Ableben ihres Gatten karitativen Aufgaben in der Gemeinde gewidmet. Hier genoss die strenge Lutheranerin aufgrund ihres Engagements vor allem für die Armenfürsorge großes Ansehen. Vgl. van Stekelenburg (Anm. 191), S. 172. Greflingers Beitrag leitet den gesondert gedruckten Teil der Epicedien ein, deren Verfasser sich als „gut[e] Freund[e]“ der Verstorbenen ausgeben. 337 HPG, 2912.
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ren: Er verfasst eine laus urbis. Die Kurze Poetische / dennoch unbeschmeichlete Beschreibung / Der mächtigen und prächtigen / Stadt Hamburg sandte Greflinger Ende des Jahres 1646 in die Elbmetropole.³³⁸ Wie neueste Studien gezeigt haben, handelt es sich bei diesem Text um eine Umarbeitung des kurze Zeit zuvor entstandenen und nur handschriftlich überlieferten Stadtlobgedichts Das blühende Dantzig aufgesetzt vom Georg Greblinger aus Regenspurg A[nn]o 1646.³³⁹ Bleiben wir zunächst kurz bei diesem Text, denn er gehört zu den wenigen Werken Greflingers, die in größerem Rahmen die Aufmerksamkeit der Forschung geweckt haben.³⁴⁰ Das Danzig-Lob Greflingers stellt grundsätzlich eine gattungskonforme laus urbis dar,³⁴¹ die das Ziel verfolgt, in gebundener Rede panegyrische Rheto-
338 Maja Kolze: Wir haben Weins genug den andre für uns bauen. Über ein anonymes, Georg Greflinger zuzuschreibendes Stadtlob auf Hamburg. In: Euphorion 104 (2010), S. 317–344, hier S. 340–344. Der Druck des Hamburg-Gedichts befindet sich in der Hamburger Commerzbibliothek (Signatur S /1068) und ist bei Kolze vollständig abgedruckt. 339 Für die Zusendung einer Kopie des Manuskripts danke ich Prof. Rosmarie Zeller. 1723/24 wurde in Thorn eine leicht abweichende Fassung in der Zeitschrift „Das Gelahrte Preussen“ gedruckt. Der Herausgeber veröffentlicht hier das Gedicht des „bekandten Dantziger Poetens GEORG GRAEBLINGER“ (S. 75). Die Gründungssage fehlt. Zu den Abweichungen, die auf ein Eingreifen des Herausgebers zurückzuführen sind, vgl. Neubaur (Anm. 44), S. 492 und Kolze (Anm. 338), S. 329, Anm. 36. 340 Ausschlaggebend für die Beachtung von Greflingers Danziggedicht war, dass Herbert Hertel, Mitglied der dem NS nahestehenden ‚Kindermann-Gruppe‘, das Manuskript aus der Danziger Bibliothek als Zeugnis für das lebendige Leben „dieser stolzen deutschen Stadt, die sich […] niemals in ihrer national bewussten Haltung beirren ließ“ erachtete und einen Teil der fast 500 Alexandrinerverse transkribierte. (Hertel [Anm. 206], S. 230, Anm. 61. In der Transkription fehlen die 206 Verse, die die Gründungssage erzählen). In der Folgezeit interessierte sich vor allem die Danziger Heimatforschung für dieses Gedicht, das „die Freiheitsliebe und Wahrhaftigkeit der Danziger“ vor Augen führe (Rüdiger Ruhnau: Danzigs Beitrag zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte. Stuttgart 1980, S. 19. S. auch Helmut Motekat: Ostpreußische Literaturgeschichte mit Danzig und Westpreußen. München 1977, S. 98 f.). In der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung hat sich vor allem Maja Kolze in einem Aufsatz und in ihrer Dissertation mit dem Blühenden Dantzig im Kontext von laudes urbium befasst. Kolze beschreibt und vergleicht in beiden Arbeiten (Dissertation: Stadt Gottes und „Städte Königin“. Hamburg in Gedichten des 16. bis 18. Jahrhunderts; mit einer Gegenüberstellung von Gedichten auf London aus dem gleichen Zeitraum. Berlin 2011, S. 200–223) den Aufbau, die Darstellungsweise und die sprachliche Gestaltung des Danzig-Gedichts mit dem anonymen Hamburglob Beschreibung der mächtigen und prächtigen Stadt Hamburg. Die stilistischen und inhaltlichen Übereinstimmungen beider Texte lassen auf Greflinger als Verfasser des Hamburggedichts schließen. Rosemarie Zeller (Anm. 204) vergleicht die bei Hertel genannten Danziggedichte von Bernhardi, Salicetus und Greflinger und zieht dazu auch die Chronik Curickes und Reisebeschreibungen (z. B. Ogier) heran. Dabei arbeitet sie heraus, welche Motive (z. B. der Frieden, Handel, Architektur, Landschaft) für das Danziglob besonders charakteristisch sind. 341 Zum Genus des Städtelobs allgemein vgl. Hartmut Kugler: Die Vorstellung der Stadt in der Literatur des deutschen Mittelalters. München 1986, v. a. S. 17–36, ders.: Art. „Städtelob“. In: RLW
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rik mit der Präsentation von Stadtgeschichte und urbanem Erscheinungsbild zu verbinden. Dabei berücksichtigt Greflinger in humanistischer Tradition die topologischen Aspekte des Genres geradezu lehrbuchgemäß, nämlich die Gründung der Stadt, die Lage und landschaftliche Umgebung, die Gärten der Vorstadt mit ihrer Blumenpracht, die Leistung der Bürger, die Würdigung einiger prominenter Einwohner, Nutzen und Schönheit der öffentlichen Bauten (z. B. Zeughaus, Rathaus und Speicher), die Vielfalt der Waren, das Lob der Institutionen (der Rat, die Verfassung, die Wissenschaft etc.) und der Künste. Betrachtet man die teilweise ekphrastisch anmutende Ausgestaltung dieser Elemente, sticht die ausführliche Darstellung des Gründungsmythos, der auch die Wortbedeutung des Stadtnamens aufzeigen will, allein quantitativ deutlich hervor. In über 200 Versen – beinahe die Hälfte des Gesamtumfangs – rekapituliert Greflinger die Legende von den mutigen Bewohnern des Dorfes Wieck und dem grausamen König der Hagelsburg,³⁴² wobei die politische Aussage dieser Geschichte, die für das Selbstverständnis der Stadtrepublik von entscheidender Bedeutung ist, offensichtlich wird: So wie die mythischen Gründer Danzigs, die Bewohner von Wieck, den Tyrannen Hagel, der sie unterdrückt und ausbeutet, mit vereinten Kräften während einer Tanzveranstaltung (der Stadtname „Danzig“ setze sich also aus „danz“ und „wieck“ zusammen) überwältigen und schließlich sogar hinrichten, so wird es, gemäß der impliziten Paränese, auch jedem anderen ergehen, der die Freiheit der zusammenstehenden Bürgerschaft antasten will. In der Schlusspassage führt Greflinger das für die barocke Danzig-Dichtung typische Friedenslob mit einem Panegyrikus auf den polnischen Schutzherren und dessen Gemahlin zusammen: Was unter allem mihr das gröste wunder giebt Ist, Dantzig, deine Ruh, bedencks, wie sehr beliebt Du bey dem Himmel seyst. Sieh an die armen Deutschen Wie nach einander Sie sich selber müßen peitschen. Da gantz Europa nun voll Kriegs undt Kriegsgeschrey Bistu bey Gottes und des Königs Schutze frey.³⁴³
3, S. 491–494; Wilhelm Kühlmann: Zum Profil des postreformatorischen Humanismus in Pommern: Zacharias Orth (ca. 1535–1579) und sein Lobgedicht auf Stralsund — Mit Bemerkungen zur Gattungsfunktion der ‚laus urbis‘. In: Pommern in der Frühen Neuzeit. Hg. von dems. und Horst Langer. Tübingen 1994, S. 227–238 sowie den Forschungsbericht bei Kolze (Anm. 340), S. 1–8. 342 Im Manuskript dienen Marginalien als Zwischenüberschriften. Die erste lautet „Woher der Nahme Dantzig.“ Diese Passage wurde von Hertel nicht transkribiert und fand entsprechend keine Berücksichtigung in den folgenden Forschungsbeiträgen. 343 Manuskript Das blühenden Dantzig, S. 26 f.; Hertel (Anm. 206), S. 229 f.
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Die letzten Verse beschwören außenpolitische Gegner des Polenkönigs, die „Heyden Könige“, die „Moskowiter“ und die „Tataren“, sich der Macht Wladislaws’ zu beugen. Die Schweden werden aufgefordert, „gute Nachtbarschafft“ zu halten und „die Degen ein [zu stecken]“, um gemeinsam den eigentlichen Feind, „den Bluthundt […], der in Bysantz regiert / Und dessen Säbel schaff auf uns gewetzt wirdt“, zu bekämpfen.³⁴⁴ Auch wenn das Blühende Dantzig keinen Widmungsempfänger aufweist, muss es sich um den letzten großen Rekommandierungsversuch Greflingers handeln, denn laudes urbium wurden generell „von den Stadtvätern finanziell honoriert“ und boten die Möglichkeit, „sich für eine Anstellung in der betreffenden Stadt zu empfehlen.“³⁴⁵ Ist aufgrund des Schlussteils, der den polnischen König als Schutzherren der Stadt mit einbezieht, auch denkbar, dass das Blühende Dantzig an die direkte Adresse des Wasa gerichtet war? Dachte Greflinger an Opitz, dem das berühmte Lobgedicht auf den polnischen König eine Stelle als Hofhistoriograph eingebracht hatte?³⁴⁶ Der Erfolg scheint jedoch – sei es in Hinblick auf ein Entgegenkommen der Stadtherren, sei es eine Dankerweisung durch den König – ausgeblieben zu sein, so dass Greflinger beschlossen haben muss, endgültig nach anderen Optionen Ausschau zu halten. Seinen Blick wandte er westwärts, in Richtung der zweiten großen ‚Friedensinsel‘ inmitten der mitteleuropäischen Kriegswirren: Hamburg. Und nun kommt das oben erwähnte Hamburg-Lob ins Spiel: Greflinger hat offenkundig das vom Danziger Rat nicht zum Druck beförderte Stadtlob durch Streichen einiger Passagen und Angleichen an die Hamburger Gegebenheiten zu einer laus urbis auf die hanseatische Metropole an der Elbe umgestaltet.³⁴⁷ Aus dem Blühenden Dantzig wird die Beschreibung der mächtigen und prächtigen Stadt Ham-
344 Man kann in dem panegyrischen Schlussteil von Greflingers Gedicht vor diesem Hintergrund die der Gattung des Herrscherlobs zugehörigen normativen Implikationen in Richtung des polnischen Schutzherrn erkennen: Die Beibehaltung der Neutralitätspolitik im Dreißigjährigen Krieg sowie die Aufforderung, sich mit den christlichen Mächten im Kampf gegen die Türken zu vereinen. 345 Kolze (Anm. 338), S. 318. Die Vermutung, Greflinger habe sich vom Danziger Rat mit seinem Lobgedicht ein „viaticum“ für die Weiterreise erwartet (Walther [Anm. 85], S. 75), mutet nicht sehr plausibel an. 346 Raschke vermutet, dass Greflinger mit seinem Danziglob bezweckte, „der Nachfolger von Opitz beim Könige zu werden.“ Raschke (Anm. 206), S. 103. 347 Zu den Änderungen vgl. die Beiträge von Kolze (Anm. 338). Da die beiden Städte sich in mehreren Gesichtspunkten (beide sind Handelsstädte mit ‚kosmopolitischem‘ Flair, beide liegen am Meer, beide weisen eine ähnliche Verfassung auf, beide sind vom Krieg verschont etc.) gleichen, gestalteten sich poetischen ‚Umbauarbeiten‘ nicht allzu aufwendig.
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burg.³⁴⁸ Auch wenn zu fragen bleibt, warum das Hamburg-Gedicht anonym erschien, ist die Intention des Verfassers unmissverständlich und wird bereits im Exordium artikuliert: Die süsse Nachtgall wann Sie vom flügen müd Auff grüne Zweige kommt / so singet Sie ein Lied daß Busch und Feld erschallt die Zweige zu verehren. Dergleichen will auch ich anietzo lassen hören / Nach dem ich müd und matt hierher gekommen bin / Hierher wo alles grünt / wiewol ich noch zu grün Vor solche Weisen bin / vor denen ich will singen.
Diese Eröffnungsverse weisen das Gedicht als Selbstempfehlung des Autors an den Hamburger Rat aus. Greflinger formuliert seine Absicht nun offensiver, derartige Passagen fehlen in der Danziger Fassung. Zwischen den Verspartien, die direkt aus der Vorlage übernommen oder leicht modifiziert sind, tritt nun immer wieder das Autor-Ich hervor: […] Die liebe Freundligkeit Ist hier nicht ungemein / Man hat vor langer zeit Die Sachsen hoch gerühmt / ja noch die alten Heyden Daß sie den Fremdlingen sehr günstig und bescheyden Sich hielten / diß ist noch / ich will zum Zeugen seyn. Das Reichthum dieser Stadt trifft mit des Crösus ein. Ob schon bey mier nicht viel / ich hoff’ es sol noch kommen / Hab ich nicht zu= so hab ich auch nicht angenommen. Nicht reich doch freudig sein ist der Poeten Stand. Mein redliches Gemüth ist mier ein gantzes Land. Was will ihm einer mehr / wann er ein gut Gewissen Und satte Nothurfft hat / darff keines Füsse küssen Noch mit entblöstem Häupt in grosser Gegenwart Wie ein verdammter stehn / hat frommer Storchen art Flügt hin wo Sommer ist darff eben da nicht bleiben Wo ihm die Winterlufft viel pfleget auszutreiben. Gott gebe / daß alhier mein steter Sommer sey Alhier wo weder Krieg viel minder Kriegsgeschrey.³⁴⁹
Aus diesen Versen sticht Greflingers Bemühen hervor, seine Arbeit nicht der adulatio, der Schmeichelei, verdächtig zu machen, was die Ernsthaftigkeit seines
348 S. Abdruck bei Kolze (Anm. 338), S. 341 und 343. 349 Abdruck bei Kolze (Anm. 338), S. 342 f.
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Anliegens noch stärker hervorheben soll.³⁵⁰ Interessant ist auch seine allgemeine Charakterisierung des „Poeten Standes“, denn sie geht mit einer selbstbewussten Darstellung der eigenen Charakterqualitäten einher.³⁵¹ Das letzte Verspaar spricht den Rekommandierungswunsch abschließend noch mal offen aus: „Was dier mein Hertze wündsch durch dieses kleine Blat / Nim solches günstig auff du Weltberühmte Stadt.“ Über direkte Reaktionen seitens der Hamburger Obrigkeit sind wir nicht unterrichtet. Allein auf dieses Lobgedicht wollte sich Greflinger aber nicht verlassen. Es gibt einen Hinweis darauf, dass er gleichzeitig Kontakt zu Rist in Wedel aufgenommen hat, nämlich ein Lobgedicht auf den Pastor, das später in dessen Neuer deutscher Parnass (Lüneburg 1652)³⁵² Aufnahme gefunden hat: An Herrn Johann Rist / Den Fürsten der Teutschen Poeten / Geschrieben im Flekken Wedel auf der Reise nach der Glückstadt [1.] Herr Rist / Ihr Fürst der Deutschen Tichter Von allen Musen außgeschmükt Dem des Europens höchster Richter Den Lorbeerkrantz hat zugeschickt Soll jemand hier vorüber gehen Und Ihm nicht wünschen Euch zu sehen? 2. Eß rühmte mir von Euren Gaben Herr Strephon³⁵³ an de[m] Pegnitzstrand / Den alle selbst zu rühmen haben /
350 Kolze sieht hier ein eher ungewöhnliches Verfahren, da der hyperbolische Charakter für panegyrische Gattungen geradezu konstitutiv sei und „im Einklang mit dem Wunsch des jeweiligen Dichters, sich der Stadt zu empfehlen“, stehe (Kolze [Anm. 340], S. 205). 351 Vgl. Fridrun Freise: Topisch-gesellschaftliche Norm und Selbstinszenierung. Der Umgang mit dem Dichter-Stereotyp in Elbinger Kasualschriften des 17. Jahrhunderts. In: Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster. V. Jahrestagung der Internationalen Andreas Gryphius Gesellschaft. Wrocław 8. bis 11. Oktober 2008. Hg. von Thomas Borgstedt, Miroslawa Czarnecka, Tomasz Jablecki. Bern 2010, S. 407–442, hier S. 411. 352 Das Gedicht befindet sich in dem Anhang des Parnass, den Rist als „Nebenbergelein“ bezeichnet. Es handelt sich um eine Abfolge von Ehrengedichten auf den Verfasser, die eindrucksvoll dessen deutschlandweites Netzwerk dokumentieren. Beiträge liegen hier u. a. von Moscherosch, Hudemann, Christian Brehme, David Schirmer, Georg Neumark und Sigmund von Birken vor. 353 Harsdörffers Ordensname im Blumenorden.
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Das fruchtbare Poetenland³⁵⁴ / Wo der berühmte Apelles³⁵⁵ sitzet / Ist neben Ihm von Euch erhitzet. 3. Der Hertzens Zwing= und süsse Singer Den nun der Rosenstok³⁵⁶ bedekt / Herr Tscherning deß Apollons Jünger / In dem ein andrer Opitz stekt / Hat Euch nichts minders viel gepriesen Und mich in Euer Buch gewisen. 4. Herr Schottel Euer halbes Hertze / Der Allerhöchst zu rühmen ist Für unsrer Sprache Zier und Kertze So lang man Deutsche Verse list / Befohl’ alß ich bei ihm gewesen / Herrn Ristens Verse wol zu lesen. 5. Herr Mochinger / das Licht der Weixel Der Mann / der so viel Sprachen kann / Zu dem ich meines Wagen Deixel Itzt wieder richte / fieng offt an / Gefatter Rist schreibt solche Sachen Die Ihm gantz Deutschland günstig machen. 6. Eß hat mich auch in Wien gesaget Ein Tichter der ein Freyherr ist / Seht an wie unsre Sprache taget Durch den berühmten Priester Rist! Wolan ihr a Wittenberger Schwanen / Vertreibt die ingeschlichne b Hahnen. 7. Den mir so viel gerühmet haben / (Es rühmen ihn auch weit und breit Ohn andrer rühmen / seine Gaben) Sol solchen Mann / nun Mich die Zeit Ihm hat genähret / ungesehen Sein Wohnhauß ich vorüber gehen?
354 Schlesien. S. Walther (Anm. 85), S. 100. 355 Der schlesische Komponist Matthäus Apelt bzw. Apelles (von Löwenstein). 356 Mit dieser Umschreibung ist Rostock gemeint, wohin Tscherning 1644 einen Ruf an die Universität annahm.
Itinerar V: Hamburg – Möglichkeiten der Netzwerkbildung
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8. Vergönt Euch mir / nicht wegen meiner Gesagter wegen gönnt Euch mir Dan Ich bin Ihrer Diener einer / Ich sehe waß ich sehe hier / Hab Ich Herrn Risten nicht gesehen So ist die Reiß umbsonst geschehen. a Verstundte unß Lutrische b Die Frantzösische Wörter Georg Greflinger auß Regensburg
Da Rist 1646 zum Poeten gekrönt worden war und in der ersten Strophe darauf Bezug genommen wird, kann das Gedicht frühestens zu diesem Zeitpunkt entstanden sein und nicht, wie von Oettingen vermutet, 1644 auf der Rückreise von Frankfurt nach Danzig.³⁵⁷ Da aber in Strophe 5 von der Heimfahrt an die Weichsel die Rede ist, Greflinger ab Ende 1646 jedoch definitiv nach Hamburg umgesiedelt ist, muss die Entstehung des Gedichts in dieses Jahr fallen. Harsdörffer, Tscherning, Schottelius, Apelles von Löwenstein als Repräsentant der schlesischen Intelligenz und auch der Danziger Gelehrte Mochinger werden hier als gute Bekannte Greflingers inszeniert, von denen er in der Poesie unterricht worden sein will. Allesamt, obgleich selbst angesehene Autoritäten, erblicken in Rist die größte lebende Koryphäe auf diesem Gebiet und empfehlen ihrem Schüler Greflinger das Studium seiner Poesie. Das Lob des Angesprochenen wird also rhetorisch geschickt anderen in den Mund gelegt, wodurch sich der Verfasser des Schmeichelverdachts entziehen kann, durch die Wahl der Kronzeugen das Lob sogar verstärkt und selbst als jemand auftritt, der keinesfalls als literarischer ‚nobody‘ zu betrachten ist, sondern in den relevanten Kreisen verkehrt. Die Wahl dieses Duktus war gewiss eine geschickte Strategie, denn für Rist war es meist ein wichtiges Kriterium, dass die von ihm geförderten Autoren über ein entsprechendes Kommunikationsnetz in der Gelehrtenrepublik verfügten. Sozusagen nach dem Motto ‚do ut des‘ engagierte er sich beispielsweise für den jungen Sigmund von Birken, nicht zuletzt deshalb, weil dieser sowohl zum Welfenhof in Wolfenbüttel als auch zu Harsdörffer in Nürnberg in enger Verbindung stand.³⁵⁸ Möglicherweise hatte Greflinger von Birkens Besuch in Wedel gehört und hoffte, bei dem einflussreichen Literaturorganisator auf diese Weise Eindruck zu machen.
357 Von Oettingen (Anm. 72), S. 9. 358 Vgl. Ralf Schuster: „JST ES HIER NIT EITELKEIT!“ Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Johann Rist als Beispiel für literarisches Konkurrenzdenken im Barock. In: Daphnis 34 (2005), S. 571–602, hier S. 583.
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Welchen Wahrheitsgehalt kann man jedoch den Andeutungen, die Greflinger in Bezug auf seine literarischen-intellektuellen Kontakte macht, zusprechen? Schottelius könnte Greflinger in Wittenberg kennengelernt haben, wo sich der Sprachgelehrte 1636, ein Jahr nach dem Oberpfälzer, immatrikulierte. Denkbar, dass er ihm am Hof der Herzöge zu Braunschweig und Lüneburg (wo Schottelius seit den 1640er-Jahren wirkte) einen Besuch abgestattet hat.³⁵⁹ Für die vorgegebenen Begegnungen mit Harsdörffer und Apelles von Löwenstein gibt es keine Anhaltspunkte, auch für den Kontakt zu Tscherning konnte kein Beleg gefunden werden. Greflinger gibt vor, sich auf der Rückreise nach Danzig zu befinden (Strophe 5), wo er angeblich in enger, vertrauter Verbindung zu Mochinger – der den 20 Jahre Jüngeren als „gefatter“ bezeichne – stehe. Die Untersuchung des Danziger Materials konnte diese nähere Verbindung indessen nicht bestätigen. Zumindest ist Greflinger weder durch Gelegenheitsschriften für Mochinger oder seine Familie hervorgetreten, noch war er am Gymnasium inskribiert. Feststeht jedoch, dass der Annäherungsversuch an den Wedeler Pastor offenbar nicht erfolglos war. Rist und sein Kreis werden für Greflinger in Hamburg zentrale Bezugspunkte seiner literarischen Aktivitäten. Die Voraussetzungen in der Hansestadt waren somit auch ‚sozial‘ für Greflinger von vornherein günstiger als in Danzig.
7 Danziger Kontakte nach 1646 Greflinger blieb auch nach der Übersiedlung nach Hamburg mit seinen Danziger Gönnern und Bekannten in Verbindung, wie er es generell verstand, soziale Netzwerke zu errichten und Kontakte zu pflegen – eine essentielle Strategie für einen Journalisten und Berufsschriftsteller. Die Hochzeits- und Begräbnisgedichte, die Greflinger von der Spree an die Mottlau sendet, nutzt er, wie zu zeigen sein wird, dabei nicht nur zur Kontaktpflege, sondern auch zur ostentativen Selbstinszenierung. Festzustellen ist jedenfalls, dass Greflinger auch nach seinem Umzug in Danzig über eine gewisse Reputation verfügte. So tritt er zwei Jahre nach dem Ortswechsel mit einem Hochzeitslied in einem durchaus erlauchten Kreis von Beiträgern eines Gemeinschaftswerks anlässlich der Vermählung des Syndikus
359 In seinem Hamburggedicht vergleicht Greflinger die Hamburger Wälle mit den Befestigungsanlagen Braunschweigs. S. den Abdruck bei Kolze (Anm. 338), S. 341.
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Nicolaus von Bodeck mit Constantia Giese (1648) auf.³⁶⁰ Im Vergleich zu den anderen Beiträgen charakterisieren individuell auf die Familie der Brautleute bezugnehmende Passagen Greflingers Lied. Die „Tichter der berühmten Stadt / die von dem Dantz den Nahmen hat“, werden dazu aufgerufen, dem Brautpaar zu huldigen, während der Autor selber vom „Elbe=Land“ her in den Chor der Gratulanten einstimmen will. Das zentrale Thema ist die weit über die Stadtgrenzen reichende Fama des Geschlechts der von Bodeck.³⁶¹ Greflinger zeigt sich somit bestens informiert und dabei als Weitgereister, dessen Bericht über den Ruhm, den der „Bodecks=Stamm“ an entfernten Orten genießt, glaubwürdig ist. Das Interessante ist hier das Gesamtarrangement des Sammeldrucks. Greflingers Darbringung gehen sieben Beiträge vor, neun folgen. Die Reihenfolge der Beiträge dürfte dabei (zumindest größtenteils) die Position ihrer Verfasser in der gesellschaftlichen Hierarchie Danzigs spiegeln. So eröffnet der HeveliusIntimus und Astronomie- und Mathematikprofessor Lorenz Eichstadt den Reigen der Glückwunschgedichte. Es folgen die Beiträge des Diakons an St. Katharinen, Michael Albinus, des Predigers Georg Daniel Koschwitz und des Rektors der Barbaraschule Andreas Bythner. Titz war gerade zum Konrektor der Marienschule berufen worden und damit unmittelbarer Arbeitskollege des Kantors und Organisten an der größten Kirche der Stadt, Bartholomäus Manhardt. Der vielschreibende Oswald Enders, über dessen Biographie nichts bekannt ist, liefert den siebten Beitrag, auf den Greflingers Lied folgt. Greflinger ist unter den identifizierbaren Beiträgern der einzige, der kein geistliches und/oder akademisches Amt ausübte. Hinzukommt, dass er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in Danzig weilte. Denkbar, dass die Zusammenstellung nicht auf Initiative der Autoren zurückzuführen ist, sondern eine vom Adressaten in dieser Form gewünschte Konstellation darstellt. So war Greflinger für die Familien Giese und Bodeck schon zuvor dichterisch tätig.³⁶² Feststeht jedenfalls, dass Auftraggeber und/oder Dichterkollegen auf seinen Beitrag für diese gesellschaftlich bedeutende Sammelschrift nicht verzichten wollten. Greflinger gehört auch, oder erst recht, nach seinem Abschied zu den anerkannten Danziger Autoren. Diese These wird durch zwei Epicediensammlungen auf den einflussreichen Stadtadeligen Heinrich Freder (1654) unter-
360 Es handelt sich um Bodecks zweite Vermählung und auch Constantia war, wie aus dem Beitrag Greflingers hervorgeht, seit vier Jahren verwitwet. Der Bräutigam war ältester Sohn des bereits einige Jahre zuvor verstorbenen Danziger Bürgermeisters Valentin von Bodeck und einer Ratsherrentochter aus dem Geschlecht der von der Linde. 361 Zu dem weitverzweigten Geschlecht der von Bodeck, das im gesamten deutschsprachigen Raum hohe städtische Ämter bekleidete, vgl. Art. „Bodeck“. In: Neues allgemeines Deutsches Adels-Lexicon. Hg. von Heinrich Ernst Kneschke. Band 1. Leipzig 1859, S. 504 f. 362 Z. B. HPG, 2880; HPG, 1294.
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mauert. Wiederum ist Greflinger der einzige, der in absentia ein Trauergedicht zu Ehren des Verstorbenen beisteuert, wobei sich die Liste der Beiträger wie ein ‚Who’s Who‘ des Danziger Geisteslebens liest: Johannes Maukisch (Calovs Nachfolger als Rektor des Gymnasiums), Eichstadt, Titz, und die wichtigsten Vertreter der Geistlichkeit wie Zetzkius und Moeresius sind in diesem Gemeinschaftswerk zusammengetreten. * Doch auch mit eigenständigen Gelegenheitswerken, vor allem mit Hochzeitsgedichten, ist Greflinger weiterhin in Danzig präsent. Die Gestaltung dieser Texte ist bemerkenswert – hinsichtlich ihrer Rhetorizität, einer eigenartigen autobiographischen Inszenierung, ihres Quellenwertes als ‚Ego-Dokumente‘ und der intertextuellen Bezüge, die sie zu anderen Texten des Autors entfalten. Ein auffälliges Merkmal verbindet diese Werkgruppe: die Gedichteingänge. Denn wenngleich die Verschränkung der Schreibsituation des Ichs mit der Exposition des gegebenen Adressatenbezugs zu den Konventionen der Kasualdichtung gehört, entwickelt Greflinger hier einen autobiographisch inszenierten, spezifischen Exordialgestus, den er für die nach Danzig gesandten Epithalamia nahezu konsequent einsetzt: Die Nachricht von der anstehenden Hochzeit eines Danziger Paares ereilt den Poeten stets während seines zeitchronistischen Tagesgeschäfts.³⁶³ Exemplarisch werden im Folgenden einige Texte dieser Gruppe vorgestellt. Das Glückwunschgedicht für Reinhold von Amster und die verwitwete Elbingerin Dorothea von Ewert setzt mit folgender Situationsbeschreibung ein:³⁶⁴ In dem ich embsig war den Krieg von Irr= und Schotten / Mit ihrer Widerpart / wie ich den Krieg der Gotten / Mit unserm Ferdinand beschrieb / in Reyhm und Band / Zu bringen. Siehe da / kam mier von lieber Hand / Ein Liebes Brieflein ein […].
Bei den Schriften, von denen Greflinger hier spricht, dürfte es sich zum einem um das Diarium Britannicum handeln, das er 1652 publizierte. Die andere Anspielung („Krieg der Gotten Mit unserm Ferdinand“) bezieht sich offenkundig auf seine Verschronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg.³⁶⁵ Vor Freude über die Hoch-
363 Zur „Integration der Schreibsituation des Autors in das Carmen“ vgl. Segebrecht (Anm. 104), S. 166 –173. 364 HPG, 1274. 365 Vgl. Neubaur (Anm. 44), S. 492.
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zeitsbotschaft habe er „alle Schrifft vom Kriegen hergeschriben / Vor hundert Hunde“ weggeschmissen und sofort mit dem folgenden Glückwunschgedicht begonnen. Das Gelegenheitsdichten an sich stiftet also die inventio, man „sieht dem Poeten bei der Arbeit zu.“³⁶⁶ Einen vergleichbaren Einstieg wählt Greflinger auch für die Glückwunschgedichte, die er aus Hamburg an Johann Walter und Elisabeth Friese (1654), an Johan von Bobart und Elisabeth Vphogt (1654) sowie an Johann von der Linde und Barbara Sandter (1653) sendet:³⁶⁷ In der Hitze des Hamburger Hochsommers habe er, so das Gedicht von 1653, gerade im Schatten der Lindenbäume – dezent wird der Namen des Bräutigams alludiert – an der Börse die aktuellen Relationen mit Neuigkeiten über das Zeitgeschehen in England studiert, in denen vom maßlosen und pöbelhaften Verhalten „König Oliver[s]“ [Cromwell] berichtet werde. Doch schnell habe er sich durch das just eintreffende Schreiben aus Danzig von der Weltpolitik abgewendet, um für den Bräutigam zur Feder zu greifen. Bei diesem handelt es sich wiederum um einen Repräsentanten eines der ältesten und einflussreichsten Patriziergeschlechter Danzigs, die Braut ist eine Tochter des Kaufmanns und königlichen Kriegskommissars Nikolaus Sandter.³⁶⁸ Es ist auffällig, wie Greflinger im Folgenden bemüht ist, den Danziger Adressaten – zu denen neben den Brautleuten zumindest auch noch die elitäre Hochzeitsgesellschaft gehört – den Eindruck zu vermitteln, dass er in Hamburg reüssiert habe. Dies unterstreicht vor allem der beschriebene Initialgestus, der augenscheinlich das Bild eines arbeitsamen, gefragten Dichter-Chronisten transportieren soll. Diese Tendenz tritt in den folgenden Versen noch deutlicher zu Tage, wenn Greflinger en passant seinen ökonomischen Aufstieg in der Hansestadt zur Schau stellt. So hebt er hervor, in seinem Hamburger Wohnsitz zu „residire[n]“. Gewissermaßen könne nur mit diesem hochgestochenen Fremdwort der Wohnkomfort in dem noblen Anwesen adäquat beschrieben werden, fährt Greflinger fort: „Verzeiht mier daß ich hier so frembde Rede führe / Bewohnen ist zu schlecht“. Mittlerweile muss er auch Ehemann und Vater geworden sein, also materiell abgesichert einen Hausstand begründet haben, ist doch von Frau und Kindern die Rede. Und dass er neuerdings Austern, dazu rheinischen Wein goutiere, bleibt auch nicht unerwähnt („Kein Schlaff / kein Reinisch Wein / kein Oster war so lieb / Ich satzte sie zurück / ich sagte Weib und Kindern Gehör und Rede auff“). Bemerkenswert ist also, dass Greflinger zwar die genre-
366 Freise (Anm. 351), S. 420. 367 HPG, 1308. 368 Zwei Anagramm-Carmina anlässlich der Hochzeit lieferte Jacob Zetzkius (HPG, 1510), Friedrich Werner (HPG, 1483) verfasst ein Epithalamium ebenso wie Daniel und Georg Schrader (HPG, 1111).
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typische Exordialtopik, nämlich die Eiligkeit, in der das Gedicht verfasst werden muss, aufgreift, sie jedoch mit persönlichen Informationen raffiniert anreichert und ausgestaltet. Das übliche „devote Bekenntnis der Unterwürfigkeit des poetisierten Gratulanten“³⁶⁹ wird dadurch gleichsam in sein Gegenteil gewendet: Der primäre Adressat und das am Kommunikationsvorgang beteiligte Publikum – da Greflinger nicht vor Ort war, könnte das Gedicht von einem Dritten vorgetragen oder zum Lesen verteilt worden sein – werden auf diese Weise gar nicht erst in die Position des urteilenden Kritikers erhoben. Vielmehr wird suggeriert, dass der gefragte und vielbeschäftigte Autor dem Brautpaar und mit ihm der Hochzeitsgesellschaft eine besondere Ehre zuteil werden lasse. Greflinger nutzt auf diese Weise die Möglichkeiten der Textsorte also frech aus, indem er zwar inhaltlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten bleibt, sie auf funktionaler Ebene jedoch geradezu konterkariert.³⁷⁰ Das nun folgende, eigentliche Epithalamium gibt sich zunächst konventionell: Greflinger kombiniert Stadtlob-Elemente mit dem obligatorischen Tugendund Schönheitspreis des Brautpaares und dem Kinderwunsch, der hier, wie oft bei Greflinger, in einen Heirats-Appell an alle Hochzeitsgäste mündet: „Ey lustig frisch gepahret / Folgt unserm Bräutigam und seiner / eh ihr jahret“. Den Abschluss bildet ein Sonett, dessen Thema aus einer inventio ex loco notationis³⁷¹ entwickelt wird, und zwar aus der (falschen bzw. fiktiven) Etymologie von ‚Barbara‘: „Auff der Jungfrauen Braut Vornahme / Welcher in hebreischer Sprache eine Perle heisset“. In Form eines Rollengedichtes gestaltet – der Freier spricht seine Braut an –, wird die innere und äußerliche Vollkommenheit der Geliebten mit der Makellosigkeit einer Perle verglichen. Der somit dreiteilige Epithalamium-Komplex (Einleitung – Lobgedicht – Sonett) wird durch den leitmotivischen Danzigbezug zu einer Einheit integriert: Im Exordium führt der
369 Segebrecht (Anm. 104), S. 173. 370 Vgl. dazu, in einem anderen Kontext, Friedrich Vollhardt: Trost, Buße, Erbauung. Die ‚Frömmigkeitskrise‘ im frühen 17. Jahrhundert und die geistliche Lyrik Simon Dachs. In: Simon Dach (1605–1659). Werk und Nachwirken. Hg. von Axel E. Walter. Tübingen 2008, S. 349–362. Hier wird gezeigt, dass auch in stark konventionellen Gattungen wie dem Epicedium Freiräume bestanden, in denen, „veranlaßt durch den Einzelfall […] die Individualität des Autors ins Spiel gebracht wurde.“ (S. 351). 371 Die verbreiteten Poetiken der Zeit führen den locus notationis, in diesem Fall also die Namen der adressierten Personen, als ersten Fundort für Inventionen an. Der Name der Adressaten ist somit traditionell der ergiebigste ‚Brunnquell‘ für Erfindungen: „Die Erfindungen ex loco notationis treten in der Praxis der Casuallyrik in so ungeheurer Masse auf, daß man geradezu von einer Ausnahme sprechen muß, wenn einmal ein Casualgedicht ohne eine solche Erfindung auskommt.“ Segebrecht (Anm. 104), S. 115.
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Absendeort der Hochzeitsnachricht dazu, dass Greflinger die Berichte über das Commonwealth generös zur Marginalität herabstuft („Indem ich also laß kam mir ein Danzger Schreiben / Worüber ich die Schrifft vom Cromwel Schrifft ließ bleiben.“). Denn, wie es weiter heißt, „was von Danzig mier / Wird eingebracht / das geht all andern Schrifften für / Und waren sie vom Pabst.“ Im darauf einsetzenden Glückwunschgedicht wird zunächst die westpreußische Handelsstadt angesprochen, zu der der Dichter eine emotionale Bindung bekennt („Berühmte Danzig Stadt / Die meine Seele halb in ihren Mauren hat.“) und, indem er sie personifiziert, zu dem vortrefflichen Brautpaar beglückwünscht. Auch in den folgenden 81 Alexandrinern, in denen allmählich die personifizierte Stadt durch die Frischvermählten substituiert wird, klingt das Lob Danzigs fortwährend an. Dem Sonett folgen drei Zeilen, in denen Greflinger die hektische Situation der Einleitungsszene nochmals aufgreift („So viel kunte ich vor der Post Abreise thun / das übrige bestehet im Herzen.“) und mit dem Gruß „Fahr wol mein edles Dantzig“ die Danzig-Einrahmung des Gesamtwerkes schließt. Verbundenheit mit der Weichselstadt artikuliert Greflinger auch in dem genannten Epithalamium für Reinhold von Amstern und Dorothea von Radlaw (1651).³⁷² Auf die Freundschaft zu seinen Danziger Gefährten lege er großen Wert („Ich bin auch stets verbunden / Für jeden / der mein Freund in Dantzig wird erfunden“), wobei die Stadt selbst als gleichsam vertraute Freundin angesprochen wird („Ich frewe mich mit dier / Wann du mein Dantzig freyst / all bin ich weit von dier.“).³⁷³ Auch in diesem Gedicht-Komplex ist Greflinger bestrebt, die inventio des Exordiums im Hauptteil des Glückwunschschreibens aufzugreifen. Dies geschieht, indem er unvermittelt die Schreibsituation wieder ins Gedächtnis ruft. So wird ein zotiges etymologisches Spiel mit dem Namen der Braut („Was Thoro-Dea? Ja. / O schöne Bett=Göttin! Was ich im Nahmen sah’ / Erfahr’ er in der That. Und es sol bald geschehen.“) jäh unterbrochen und man wird Zeuge einer genrebildartig anmutenden Schenkenszene: „Jung’ Wein“, fordert das dichtende Ich, „So kann mein Wunsch mit dieser Post / Je mehr man guten Wein in meine Feder güsst / Je mehr daß auch mein Reyhm / und zwar im eilen / flüsst.“ – Eine Weisheit, die man, so heißt es weiter, in der Danziger Langgasse lerne. Es schließt
372 In einem Aufsatz analysiert Fridrun Freise diese Gelegenheitsschrift im Zusammenhang mit Dichter-Stereotypen in Elbinger Casualia (Freise [Anm. 351], S. 419 f.). Hierzu eine kleine Kritik: Es ist nicht nachvollziehbar, warum Freise Greflinger als „Danziger Studienfreun[d]“ Reinhold von Amsterns bezeichnet. 373 Die Personifizierung von Orten unterstreicht den Anspruch auf Repräsentation, „den ‚Gelegenheiten‘ insbesondere dann erheben, wenn sie von hochgestellten Personen begangen werden. Der Ort des Geschehens wird dann zum Forum allgemeiner Teilnahme.“ Segebrecht (Anm. 104), S. 124.
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sich ein Ehelob unter dem Motto „Was Mars verzehret hat / sol uns die Venus zahlen“ an, wobei die Umstände der Zeit es erlauben, reales aktuelles Kriegsgeschehen in Europa konkret zu thematisieren und dem endlich hergestellten Frieden in den deutschen Landen gegenüberzustellen. Somit wird auch wieder ein Bogen zur inventio des Exordiums geschlagen und werden die vermeintlichen Großtaten, mit denen man im Krieg Ruhm erwerben kann, nun antithetisch den venerischen Gaben und Freuden gegenübergestellt: Ein Kuss ist lieblicher als tausend Stück erschillen Ein Kind zur Welt gebracht ist mehr als tausend Mann Von feindlicher Parthey dem Leben abgethan. Ein Hauß voll Lieb und Treu in Heyden abgelegen Wird bey vernünfftigen Castelen überwiegen. Da tausend Mann und Stück in der Besatzung sind Es ist kein lieber Bild / als Venus und ihr Kind Das ist die liebe Lieb. O Zucker treuer Küsse! […].³⁷⁴
Vom Allgemeinen leitet Greflinger wieder zum ‚Konkreten‘ über und nimmt mit einem neuen Gedanken abermals auf die Adressaten Bezug, indem er die heikle Bedingung der besungenen Eheschließung anspricht: Die Braut ist Witwe und offenbar bereits im fortgeschrittenen Alter.³⁷⁵ Dieses Realium ist geeignet, mit dem an-uxor-ducenda-Topos verbunden zu werden:³⁷⁶ In diesem Fall geht es um die Frage, ob man, wenn man sich zur Heirat entschlösse, besser eine Jungfrau oder eine Witwe heiraten sollte. Die bösen Erinnerungen an persönliche Erfahrung mit „Dantzger Jungfern“, die ihm „gehässig“ begegnet seien und die er „mit nechstem nenne[n]“ werde, hätten dem Sprecher-Ich jedoch die Vorzüge reiferer Frauen vor Augen geführt, auf deren Loyalität und Kenntnisse der Haushaltsführung zumin-
374 Freise sieht in dieser Passage eine Anspielung „auf die poetologische Diskussion um die Rechtfertigung und Aufwertung der Liebesdichtung.“ (Anm. 351, S. 419, Anm. 40). Den Separatdruck „Der Beständige Liebhaber Herrn Reinhold Amstern“ versteht sie als konkrete Umsetzung dieses Dichtungsprogramms (S. 420). Einen thematischen Bezug zwischen beiden Gedichten für die Amstern-Ewert-Hochzeit kann man durchaus feststellen. Freises „poetologische Interpretation“ (S. 420) mutet vielleicht jedoch ein wenig textfern und forciert an. 375 Zur Problematik der Neuverheiratung von Witwen aus moralischer und rechtlicher Perspektive in der Frühen Neuzeit vgl. z. B. Elisabeth Koch: Die Frau im Recht der Frühen Neuzeit. Juristische Lehren und Begründungen. In: Frauen in der Geschichte des Rechts: Von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. von Ute Gerhard. München 1997, S. 73–93, hier v. a. S. 78 ff. 376 Vgl. Freise (Anm. 351), S. 419. Seit der Antike ist dieser Topos verbreitet. In Briefen, Dialogen, Gedichten usw. wird dabei verhandelt, ob z. B. ein Gelehrter, ein Alter oder ein Herrscher heiraten solle.
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dest Verlass sein könne. Bestätigt fühle sich das Ich durch ein „alte[s] Lied“, ein Lob auf ältere Bräute, dessen erste Verse zitiert werden. (Ob dieser Einschub dem Brautpaar besonders schmeichelte bzw. als derber Scherz ‚ankam‘ sei dahingestellt.) Das eigentliche Epithalamlium bringt christliche Segenswünsche zum Ausdruck, doch fehlt in Greflinger’ischer Manier eine deftige Schlussstrophe nicht, in der ein fröhlicher Toast auf das Brautpaar ausgerufen wird, welcher in der Aufführungssituation beim Danziger Hochzeitsmahl für beste Stimmung gesorgt haben dürfte. Eine Thonangabe oder Noten zu diesem Lied liegen nicht vor, doch ist die ungewöhnliche Strophenform³⁷⁷ metrisch identisch mit dem Eröffnungslied aus der im selben Jahr erscheinenden Sammlung Seladons Weltliche Lieder. Offensichtlich hat Greflinger mit dieser Melodie ‚im Ohr‘ den „Wundsch“ für das Brautpaar Amstern-Ewert verfasst. Als separaten Druck zum gleichen Anlass legt Greflinger das Lied „Der Beständige Liebhaber / Herrn Reinholt von Amstern / Übersandt von Georg Greflinger Käyserlichem Notario auß Hamburg“³⁷⁸ vor. Möglicherweise wird hier auf das titelgebende Hauptthema von Greflingers Liederbuch Seladons beständige Liebe (1644) Bezug genommen – ein Sujet das auch in seinem aktuellen Liederbuch Seladons Weltliche Lieder von Bedeutung ist. Vielleicht wollte Greflinger das Danziger Publikum mit diesen Gelegenheitsgedichten also zugleich auf seine Neuerscheinungen aufmerksam machen, so dass man ihnen eine Art ‚teaser‘-Funktion zuschreiben könnte? Jedenfalls weist das Amstern-Ewert-Epithalamium gemeinsam mit dem Zusatzlied einen dreifachen intertextuellen Bezug zu Greflingers Liedersammlungen auf: Zum einen verwendet er die ungewöhnliche Strophenform des DorindeLiedes für das eigentliche Epithalamium. Zum anderen spielt er an zwei Stellen auf die Thematik der Sammlung an, sowohl mit dem „Beständigen Liebhaber“ als auch mit den „gehässigen Jungfrauen“, „die ich mit nechstem nenne“, denn die untreue Danzigerin „Flora“ ist die Protagonistin in Greflingers Liederbüchern. * Nach seiner Krönung zum Poeta laureatus zögert Greflinger freilich nicht, diesen Titel auf den nach Danzig gesendeten Werken zu vermerken: „Auffgesetzt und übersandt vom Georg Greflinger / Regenspurger / Käyserl. gekrönten Poeten und Notario in Hamburg“ heißt es auf der Titelei des Epithalamiums für Johann Walter und Maria Elisabeth Friese (23. Juni 1654).³⁷⁹ Das Exordium inszeniert wiederum
377 In Franks Strophenformen-Handbuch wird sie nicht erwähnt. 378 HPG, 1275. 379 Zu den paratextuellen Anteilen von Casualdrucken und den Möglichkeit, die sie als Repräsentationsfeld für die Selbstdarstellung der Autoren bieten, vgl. Freise (Anm. 351), S. 433 ff.
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den geschäftigen Zeitchronisten, der diesmal eine „FriedensSchrift“ anlässlich des Waffenstillstands zwischen den Niederlanden und Cromwells England verfasst.³⁸⁰ Die ersten Verse der Schrift sind bereits gedichtet und werden mitgeteilt, doch der Chronist bricht sein Unterfangen abrupt ab, denn er erhält eine Botschaft aus Danzig und wird gleichsam aus dem Weltgeschehen gerissen. Walter scheint ein Förderer und Gönner Greflingers in Danzig gewesen zu sein. Der Dichter empfindet es jedenfalls als ziemlich, dem „Freund Herrn Walter“ anlässlich seiner Wiedervermählung ein Glückwunschgedicht zu senden, denn die „Gunst an mir bezeigt / hält mich in seiner Pflicht.“³⁸¹ Mit großer Geste hebt Greflinger nun zu einer invocatio der Venus an, um sich von ihr zur Inspiration „edle[n] Trauben=Safft“ einschenken zu lassen, bis das folgende Lied ihm gleichsam aus der Feder fließt. Diesen Liedteil des Epithalamiums unterschreibt Greflinger mit seinem Schäfernamen „Seladon“. Es schließt sich ein „Liebs=Gespräch zwischen dem Hn. Bräutigam und seiner Liebsten.“ an. Diskutiert werden Nachteile und die Vorzüge der Ehe, die letztlich überwiegen. Im Zentrum steht jedoch die Frage, ob ein Witwer (der Walter ist) sich mit einer Jungfrau vermählen dürfe, wovon der Freier die Liebste schließlich überzeugen kann: „So nem ich ihn fortan zur Leid= und Freuden=Bahn / Bis in das schwartze Grab für meinen WALTER an.“ Noch ein letztes Beispiel aus dieser Gruppe: „Geschrieben und übersandt auß Hamburg […] Von Georgio Greflinger Kayserl. Poeten und Notario“ steht auf dem Titelblatt des Glückwunsches für den „Capitän in der Vestung Weyselmünde vor der hochlöblichen Stadt Dantzigk“, Johann Bobart.³⁸² Seit Generationen gehörte die Familie Bobart zu den einflussreichsten Patriziergeschlechtern Danzigs, stellte Ratsherren und Bürger-
380 Im Oktober 1651 hatte Cromwell durch die sogenannte „Seeakte“ den niederländischen Export nach England unterbunden, was den ersten niederländisch-englischen Seekrieg auslöste. Die Anerkennung der Akte durch die Niederlande 1654 begründete die englische Vorherrschaft auf den Weltmeeren. 381 ‚Pflicht‘ und ‚Schuldigkeit‘ sind die von Casualautoren am meisten genannten Motivationen, ein Gedicht zu verfassen. Die ‚Pflicht‘ ist dabei „die gefühlsbestimmte innere Übereinstimmung mit dem, was sich gehört; sie ist kein ‚Zwang‘. Die Pflichterfüllung ist, allen möglichen Hindernissen zum Trotz, eine Selbstverständlichkeit“, wobei natürlich ‚Pflicht‘ „auch ein übergreifender Leitbegriff [ist], auf den andere Motivationen zurückgeführt werden können.“ Segebrecht (Anm. 104), S. 176 f. 382 HPG (Thorn) [Toruń Wojewódzka Biblioteka Publiczna Ksia̧żnica Kopernikańska. Gymnasialbibliothek Thorn. Hg. von Stefan Anders, Sabine Beckmann. Hildesheim, Zürich 2002], Nr. 0725–103269.
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meister.³⁸³ Die Hochzeit Johann Bobarts mit Elisabeth Vphogt datiert auf den 31. August 1654. Noch ausführlicher als in den bereits vorgestellten Epithalamien beschreibt Greflinger im Exordium seine Tätigkeit als Journalist. Gerade habe er für seine „Correspondenten“ einen Bericht über den Hamburger Besuch der Schwedischen Königin Christina am „3. Julij“ verfasst³⁸⁴ und ihn, überwältigt vom prachtvollen Einzug, mit einem panegyrischen Gedicht („Sey willkommen schöne Venus unter den Regenten Sternen“) versehen. Diese Verse werden als Übersetzung einer zufällig gefundenen lateinischen Flugschrift, die ebenfalls zitiert wird,³⁸⁵ vorgestellt – der gekrönte Poet kann also mühelos, das wird demonstriert, aus der Gelehrtensprache übertragen. Dann schwenkt Greflinger über zu einem anderen Thema, das ganz Europa gerade beschäftige: Ferdinand IV. ist den Pocken erlegen. Doch damit nicht genug, sogleich wird ein Panorama des aktuellen, beinahe des weltweiten Zeitgeschehens entworfen: der schwedische Angriff auf Bremen, die Belagerung von Arras, die Schlacht der Venetianer gegen die Türken bei den Dardanellen, „und mehr geringern Dingen / hatten sich zusamen gesamlet / meinen Leuten davon zuschreiben“. Zwei Druckbögen werden für diese ungewöhnliche informationsreiche Einleitung, in der sich Greflinger als umtriebiger Journalist inszeniert, benötigt. Diese Passage ist in der Tat ein Hinweis darauf, dass Greflinger zu diesem Zeitpunkt bereits im Zeitungswesen Hamburgs tätig war, ehe er durch die Gründung eines eigenen Periodikums den Journalismus gewissermaßen hauptberuflich betrieb.³⁸⁶ Die Überleitung zum eigentlichen Epithalamium ist uns schon bekannt: Das Tagesgeschäft wird durch die Hochzeitsnachricht aus Danzig unterbrochen. Greflinger wechselt nun jedoch völlig unerwartet zu ungebundener Rede, um eine Art Dankesbrief an Bobart zu verfassen. Diese Passagen erweisen sich als wichtiges Selbstzeugnis:
383 Gotthilf Löschin: Bürgermeister, Rathsherren und Schöppen des Danziger Freistaates und die Patricierfamilien, denen sie angehörten. Danzig 1868 [Nachdruck: Sonderschriften des Vereins für Familienforschung in Ost- und Westpreußen e. V. Nr. 29 Hamburg 1974], S. 38 f. Zu Johann Bobart vgl. Neubaur (Anm. 44), S. 486. 384 In seiner Schrift Kurtze Anzeigungen / Der vornehmsten Kriegs-Händel und anderer denckwürdigsten Sachen Die sich von Anno 1650. biß 1658. […] begeben haben. Auffgesetzt von G. G. N. P. Gedruckt im Jahre 1657 berichtet Greflinger vom Besuch der schwedischen Königin in Hamburg. Vgl. Neubaur (Anm. 44), S. 479, Anm. 2. 385 Neubaur (Anm. 44, S. 484) geht davon aus, dass der lateinische Text nicht von Greflinger stammt. Feststeht hingegen, dass Greflinger ein Gymnasium besucht hat und somit auf jeden Fall des Lateinischen mächtig war, jedoch keine lateinische Verse von ihm überliefert sind. Das zitierte Gedicht stammt vermutlich von dem Hamburger Juristen und Greflinger-Bekannten Strauß. Vgl. Liselotte von Reinken: Deutsche Zeitungen über Königin Christine 1626–1689. Eine erste Bestandsaufnahme. Münster 1966, S. 144. 386 So auch die Vermutung Neubaurs (Anm. 44, S. 480).
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Und in Wahrheit ich habe diesem Stamme viel zu dancken / und gutes zu wünschen / dan eben dieser war in der weitberühmten Vestung Weyxelmünde mein Hafen oder Port / in welchem ich / auß dem grausamen Meer der Deutschen Kriege / derer Fahnen ich lange Zeit (doch sonder Glücke) gefolget / und auß Noth beliebet habe / endlich durch wunderlichen Sturm getrieben / glücklich eingekommen bin: Der Pilot hierzu / war der in seiner Grufft berühmte Redner Herr Johann Mochinger. Mein Aufnehmer der mir nievergessene Tapfere Capitain Herr Tönnies / dieses Herren Breutigams liebgewesener Herr Schwager. Ich war Unterweiser der Kinder / aber nichts wenigers selbst alß ein Sohn im Hause beliebt. Wegen dessen sag ich / so auch selbst wegen seiner / Wol=Edler Herr Breutigam / mir offt erzeigter Gunst / bin ich freylich verpflichtet alles andere hindan gesezet / sein hochzeitliches Fest nach Möglichkeit zu ehren / doch so wie es die Poeten machen / mit einem Hertzgeneigtem Wunsche / mich woll versichernd / daß seine mir lang bekannte Discretion solches von mir so lieb aufnehme / alß von anderen die güldene Gaben. Erhebe dich demnoch [!] meine singende Clio, Einem tapferen / und von sehr vornehmen Blute erzeigten Danzger und Capitain / dessen Discursen von Kunst und Kriegen dich so manchmalen belustiget / dessen Hände dich so vielmals erfreuet / dessen Freundschafft deinem damals sehr schwachem Vermögen zu Kräfften verholffen haben / ein Liedlein zu singen / nicht zweiffelnd / der Wille werd vor die That angenommen werden. Ach sie ist bereit / aber wegen vieler Sorgen / nicht wie sie will / sondern wie sie kann.
Greflinger stand also laut dieser Selbstaussage längere Zeit aus wirtschaftlicher Not in Kriegsdiensten, ob als Schreiber, Berichterstatter oder Soldat wird nicht geklärt. Doch die schrecklichen Erlebnisse brachten ihn dazu, den Dienst zu quittieren.³⁸⁷ Stattdessen muss er den Entschluss gefasst haben, seine akademische Ausbildung fortzusetzen und zwar, das war also sein Plan, bei Mochinger in Danzig.³⁸⁸ Der knapp 20-jährige gelangt über den Flussweg nach Weichselmünde und findet sogleich Hilfe und Unterstützung bei der Kapitänsfamilie Bobart. Auch im Haus des Kapitäns Michael Tönniges [Töngies, Tönnies], Johann Bobarts Schwager, nimmt man sich des heimatlosen Flüchtlings an. Tönniges ist eine angesehene Danziger Persönlichkeit. Nach mehreren Unternehmungen im holländischen Dienst in Übersee war er 1620 in seine Heimat zurückgekehrt, wo er erst eine Kompanie in der Stadt, dann in Weichselmünde, erhielt. Als Hauptmann der Festung starb er 1650.³⁸⁹ Greflinger wird Hauslehrer, unterrichtet die Kinder des Kapitäns, in dem er seinerseits einen väterlichen Freund findet. Auch dem Haus Bobart bleibt Greflinger verbunden. Interessiert hört der
387 Es bleibt also weiter in der Schwebe, ob Greflinger als Soldat gedient hat. 388 In einem Gedicht, das Rist in seinem Neuen Teutschen Parnaß veröffentlicht (von dem bereits die Rede war), spricht Greflinger nochmals von Mochinger. Das Gedicht erweckt den Anschein, dass Greflinger tatsächlich in engen Kontakt mit dem Gelehrten gekommen sei, auch wenn es keine weiteren Belege (z. B. in Form von Gelegenheitsschriften) gibt. 389 Neubaur (Anm. 44), S. 486.
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Oberpfälzer mit „schwachem Vermögen“ Johann Bobarts „Discursen von Kunst und Kriegen“ zu. Auch auf seine finanzielle Unterstützung kann er zählen. Das Gefühl, die „Pflicht“ zu haben, seinen Dank in einem Epithalamium auszudrücken, scheint für Greflinger hier mehr als eine rhetorische Floskel zu sein. Der großtuerische Ton einiger anderer Gedichte, die er aus Hamburg sendet, fehlt in diesem Werk. Zwar stellt Greflinger ausführlich seine Journalistentätigkeit dar und demonstriert sowohl seine Geschäftigkeit als auch seine breite Kenntnis des aktuellen Weltgeschehens, scheut sich aber nicht, dem Vertrauten anzudeuten, dass ihn „viele[n] Sorgen“ drücken (man darf annehmen, finanzieller Art). Eine kleine Finanzspritze könnte er sich durch das Hochzeitsgeschenk erhofft haben. Die anschließende Alexandrinerode sammelt Argumente für die Wiederverheiratung eines Witwers (Bobart heiratete bereits zum dritten Mal), wobei Greflinger passend zum Beruf des Bräutigams am Gedichteingang Metaphern aus dem Bildfeld des Soldatentums und der Seefahrt wählt.
8 Politische Dissonanzen Bis ins Jahr 1654 lassen sich also die Spuren, die Greflinger in Danzig hinterlässt, verfolgen. Dann jedoch findet man kein einziges Gedicht in den entsprechenden Katalogen der Danziger Stadtbibliothek, das Greflinger als Autor nennt. War das Hamburger Zeitungsunternehmen, das Bedichten hanseatischer Bürger, das Verfassen von Liederbüchern und Zeitchroniken mittlerweile so zeitintensiv geworden, dass sich Greflinger der literarischen Freundschaftspflege nicht mehr widmen konnte? Der Fall ist anders gelagert und erfordert vorab nochmals einen kurzen Blick in die schwedisch-polnische Geschichte:³⁹⁰ Während man im Reich seit 1648 nach 30 Jahren endlich Frieden hatte, setzten in anderen europäischen Staaten blutige Auseinandersetzungen ein. Ein Schauplatz ist Polen. Als die Zeit der ‚Potop Szwedzki‘, der schwedischen Sturmflut (so der Titel des berühtem Historienromans Sienkiewiczs), sind die 1650er- und 60er-Jahre in die polnische Geschichte eingegangen, in denen der polnisch-schwedische Gegensatz auf polnischem Boden erneut zu heftigen Kampfgefechten führte. Die Schwächung der Adelsrepublik durch die Auseinandersetzungen mit Russland nutzte der neue Schwedenkönig Karl X. Gustav, noch vor Ablauf des seit 1635 bestehenden Waffenstillstands, im Sommer 1655 zur Invasion. Die Königsstädte Warschau und
390 Zu den folgenden Ausführungen vgl. Jörg K. Hoensch: Geschichte Polens. Stuttgart 1983, S. 147 ff.
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Krakau fielen, Johann Kasimir suchte auf habsburgischem Gebiet, in Schlesien, Zuflucht. Für Danzig stellte sich in dieser Situation die Frage, ob es wie Elbing und Stettin zu den Schweden und dem mit diesem verbündeten Brandenburg überlaufen sollte. Die Schweden hatten bereits im Vorfeld den Danziger Rat für eine Neutralitätspolitik gewinnen wollen, was genauso scheiterte wie ein formelles Neutralitätsangebot bei Ausbruch des Krieges, wobei der Rat um geschickte, verzögernde Verhandlungstaktik nicht verlegen war. Man war sich jedoch darüber im Klaren, dass eine neutrale Position auf Dauer nicht durchzuhalten war. Als Begründung für die Entscheidung, sich auf die polnische Seite zu stellen, führte der Rat den Treueid an, durch den die Stadt dem polnischen Schutzherrn verbunden war. Danzig hielt in der Folge der schwedischen Belagerung stand. Mit dieser Position machte man sich aber an der Weichsel gerade in den protestantischen Territorien des Reiches keine Freunde und auch innerhalb der Stadtmauern war der Beschluss umstritten. Für manchen ergab sich ein Dilemma bezüglich der Frage Ob Evangelische Stände der Augspurgischen Confession zugethan / in Hoffnung die Religion zubefordern / von ihrem Herrn abfallen / oder ihm alle Hülffe versagen sollen: Daraus erscheinet / ob die Dantziger recht und Christlich daran gethan / daß sie Ihrem Herrn und Könige Johanni Casimiro, &c. In jetzigem Kriege wider den König in Schweden bißhero beygestanden.³⁹¹
Aus Hamburg meldete sich auch Greflinger mit pro-schwedischen Spottversen zu Wort, die auf einem Propaganda-Flugblatt nach Danzig gelangten.³⁹² Dieses ist mit einem Kupferstich (Abb. 1) von Martin Winterstein versehen, der auch das Frontispiz von Greflingers Verschronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg schuf. Es zeigt im Bildvordergrund einen Zeitungsmelder, der eine Siegesflagge mit der Inschrift „Polnisch Victori, Victori, Victori“ vor sich herträgt. Seine Inva-
391 Copia Eines Send-Schreibens / Darinn die Frage / Ob Evangelische Stände […]. 1657. Zu der Berichterstattung im Theatrum Europaeum s. die detaillierte Studie von Izolda GulczynskaZalewska: Das Theatrum Europaeum, eine Chronik von Matthaeus Merian, deutschsprachige Flugschriften und Flugblätter in den Jahren 1617–1718 und das Bild der Großstädte in Königlich Preußen. Diss. Universität Torun [ungedruckt] 2008. 392 Die Verse sind mit dem Hinweis „Seladon inv[enit]“ versehen. Der Zusammenhang der beiden Schriften wurde bislang nicht untersucht. Ein Exemplar der Greflinger-Flugschrift befand sich auch in der Danziger Stadtbibliothek vgl. den Hinweis bei Blühm (Neues, Anm. 77), S. 95, Anm. 47, der einen Zusammenhang andeutet, ohne näher darauf einzugehen. Die Flugschrift wird auch bei Wolfgang Harms (Hg.): Deutsche Illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts. Bd. 2. Wolfenbüttel 1980, S. 338 [Michael Schilling] beschrieben, wobei die Erläuterung nicht auf die politische Rolle Danzigs in diesem Kontext eingeht.
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lidität (er hat nur noch ein Bein), das brennende Getreidebündel in seinem Arm – das „flammend Stro“, als das sich die Falschmeldung vom polnischen Sieg entpuppt, wie die Verse erläutern – und vor allem sein Täschchen mit der Aufschrift „Lügen Sac“ weisen ihn jedoch als Betrüger aus. Denn von einem polnischen Triumph zu sprechen, so suggeriert das Flugblatt, entspreche in keiner Weise der aktuellen politischen Lage. Diskreditiert wird zugleich eine Versammlung von Bürgern (möglicherweise Danziger Patrizier) und Adeligen (vermutlich polnische Magnaten) im Hintergrund, die mit selbstbewusster Geste einen Chor mit dem Text „Eia, Eia, ist der Schweden Tod nun da“ anstimmen. Diese Figurengruppe steht im Gegensatz zu der rechten Bildseite, auf der eine zweite Szene darstellt ist. Der „lügen=Krähmer“ liegt nun unter den Felgen eines von Löwen gezogenen und von einer Veritas-Allegorie gelenkten Triumphwagens, auf dem der Schwedenkönig thront. Der Nimbus, der die Veritas-Allegorie umgibt, sowie der auf sie gerichtete Sonnenstrahl weisen auf göttliche Bestimmung hin. Indes richtet der Schwedenkönig mit heroischer Geste Blitze, die er in seiner Rechten hält, gegen die Anhänger der polnischen Sache. Im Hintergrund eilt von rechts das schwedische Heer herbei. Greflingers Verse unter dem Stich sind genau auf die Darstellung bezogen und attackieren die „Lügen Geister“, die die Falschmeldung „Von der Schwedenfeinde siegen“ verbreiten, sich aber „bald im Schlamme welzen | Wann die helle Warheit blickt“ – nämlich der Triumph der Schweden. Das Flugblatt sollte also (im Auftrag der Stadt Hamburg?) dazu beitragen, die Unterstützer der polnischen Kriegspartei, darunter auch die Stadt Danzig, im Nordischen Krieg zu demoralisieren. Ganz offensichtlich bezieht sich eine anonyme Schrift aus Danzig mit dem Titel „Gegen-Satz Aus den [!] Sack der Warheit / Gegen den Newlicher Zeit / außgegangenen und zum Druck verfertigten Lügen-Sack / Durch G. G. alias Seladon genant. Anno M. DC. LVI“³⁹³ direkt auf dieses Flugblatt. Diese Replik geht mit dem Verfasser des Flugblattes, dem einstigen Wahl-Danziger Greflinger, hart ins Gericht.³⁹⁴ Undank und Opportunismus wird dem „Spötter Seladon“ vorgeworfen, der die „Pohlen Nation“ ungehörig beleidigt habe. Der „Schandfleck in dem Helikon“ habe auch Danzig, „was er vorhin gepreist“, „was dich gekleidet und gespeist“ liederlich beschmutzt und sich somit als „falsche[r] Kukuck“ entpuppt. „Vnd halt den Mund Paßquillen-Krähmer / Du unverschämter Lügen-nähmer“
393 VD17 14:075155C (fälschlicherweise wird Greflinger im Katalog als Verfasser aufgeführt). Abgedruckt auch bei Neubaur (Anm. 44), S. 494 f. 394 Den Schäfernamen führte Greflinger spätestens seit der Veröffentlichung seiner ersten Gedichtsammlung 1644, die Initialen weisen zudem eindeutig auf ihn als Kontrahenten hin.
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ruft der Verfasser Greflinger zu und nimmt damit den Wortlaut der GreflingerSchrift gegen die Polen-Anhänger direkt auf. Es ist also ersichtlich, dass das antipolnische Flugblatt in Danzig, wo Greflinger ganz offensichtlich einen bekannten Namen hatte, hohe Wellen der Empörung geschlagen hat. Die Kontakte zu den Bürgern der Handelsstadt brechen jedenfalls just in diesem Jahr ab. Nach 1655 sendet Greflinger kein Gedicht mehr an die Weichsel.
Abb. 1: Flugblatt mit proschwedischen Propagandaversen von Greflinger, die Illustration schuf der Hamburger Stecher Hans Martin Winterstein. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Signatur: IH 261.1.
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Zum Abschluss des Danzig-Kapitels sei eine kleine Bemerkung zu „Flora“ erlaubt. Für die ältere Greflinger-Forschung stand die Identität des Sprecher-Ichs „Seladon“ und „Flora“, den Protagonisten seiner Liedersammlungen, mit Greflinger und seiner Danziger Verlobten fest: In Danzig habe Greflinger seine große Liebe gefunden. „Elisa, ein schlichtes, armes Mädchen, fesselte den bisher Flatterhaften, und mit ihr, seiner Flora, durchlebt er als Seladon alle Freuden und Schmerzen der heimlichen Liebe.“³⁹⁵ Die Scheidung von biographischer Faktualität und fiktionalem Rollenspiel wird hier nicht gelingen. Festzuhalten bleibt jedoch, dass sich Greflinger tatsächlich bemüht, der Gestalt der Flora, in seinen Liederbüchern der Name der untreuen Geliebten, einen realen, autobiographischen Bezug zu geben. Am deutlichsten wird dies in einem Epithalamium, welches er 1652 aus Hamburg an den Thorner Bekannten Seelstrey sendet. Folgende Szene wird hier beschrieben: Um sich für das Verfassen des Hochzeitscarmens in Stimmung zu bringen, sucht der Dichter das Weinlokal des „herrn Jost“ auf und bestellt erst einmal reichlich Wein und Austern („Fünfftzig osters auff den rost Und ein fünffzig ungebraten“). Durch Speis und Trank gleichsam von der Muse geküsst, bringt er sogleich auch ein Loblied auf das Glück der Liebe „nach einer eigenen weise“ zu Papier. Doch plötzlich überfallen den Dichter trübselige Gedanken: Ich breche seuffzend ab, es geht mier auch vom hertzen Es pflegen ihrer viel im lieben gross zu schertzen. Ich aber nicht also. hätt’ ich was falsch geliebt, So hätte Flora mich in Danzig nie betrübt. Nu hab ich ausge-Flort. verstand kommt nicht vor jahren.³⁹⁶
Die Erinnerung an die Untreue entlockt dem Betrogenen schließlich noch einige misogyne Verse, bis ihm die hübsche Wirtshaustochter „Trinchen“ die Verbitterung vertreibt und der Dichter zu einem zotigen Lied anhebt („Komm liebstes lieb, Vnd gib mir einen kuss“), wovon ihn auch die hinzutretende „nonnenfromm[e] vettel“ nicht abhalten kann. Inzwischen ist das Hochzeitscarmen fast in Vergessenheit geraten. Erst auf die Meldung des Herrn Jost hin, der Danziger Bote warte draußen auf den Brief, macht sich der Poet wieder ans Werk. Geschwind verfasst er seine Glückwunschverse, fügt ein Rätsel bei und wünscht den Hochzeitsgästen auf Polnisch Gute Nacht: „Dobra noc“.
395 Von Oettingen (Anm. 72), S. 7. 396 Zitiert nach Bolte (Anm. 84), S. 106.
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9 Hamburg 9.1 Soziokulturelle Spezifika 1674, drei Jahre vor seinem Tod, veröffentlicht Greflinger eine Neuauflage eines Reisehandbuchs als Supplement zu einer Ausgabe seiner Zeitung Nordischer Mercurius: Des Nordischen Mercurij verbässerter Wegweiser von zehn Haupt-Reisen aus der Stadt Hamburg. Gedruckt daselbst / Anno 1674. und wird bey ihm allein, gegen der Börsche über verkaufft.³⁹⁷
Äußerst praktisch ist das 94 Seiten starke Viatorium angelegt, mit Karten und Tabellen versehen, die sowohl dem geschäftsreisenden Handelsmann nützlich sind, als auch demjenigen, der sich auf eine „Lust=Reise“ begibt. Die Orte, die man auf den Touren von Hamburg aus Richtung Venedig, Genf, Wien oder Polen passiert – Frankfurt, Nürnberg, Regensburg, Leipzig, Dresden, Danzig – kann der Autor zum Teil aus eigener Erfahrung beschreiben, reichert seine Darstellung aber mit aktuellen Tipps für Herbergen, Wirtschaften und Sehenswürdigkeiten an, die er von Vielreisenden erhalten hat. Eine ausführliche Passage beschreibt auch die Elbstadt, da wohl viele auszögen, um „fremde Städte zu besehen“ und doch „die libe Stadt Hamburg von innen und aussen nicht recht“ beschauen würden. Es folgt eine Beschreibung der Metropole, vor allem ihrer Umgebung, Bauwerke, Märkte, Sehenswürdigkeiten und Institutionen. Insbesondere über die einzelnen Weinhäuser und Wirtsstuben wird detailliert Bericht erstattet. Ohne Zweifel: hier liegt ein erster Hamburg-Baedeker vor! Der Wegweiser schließt mit einem 16-versigen Lobgedicht auf die Elbe und mit einer kürzeren laus urbis auf Hamburg.³⁹⁸ Hinter der rhetorischen Prägung des Textes, der die gängigen Topoi des humanistischen Stadtlobs aufgreift, spürt man die Sympathie des Verfassers für sein
397 Teile des Reisehandbuchs werden zitiert bei Christoph Walther: Georg Greflingers Hamburgisches Reisehandbuch und Beschreibung von Hamburg im Jahre 1674. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 9 (1894), S. 122–149. Vgl. auch die Teiledition: Hamburgisches Reisehandbuch und Beschreibung von Hamburg im Jahr 1674. In: Hamburg in alten und neuen Reisebeschreibungen. Ausgewählt von Henning Berekfeld. Düsseldorf 1990, S. 57–63. Das Reisehandbuch erlebte unter anderen Titeln mehr als 16 Auflagen, bis ins frühe 19. Jh. hinein. S. Winfried Siebers: Johann Georg Keyßler und die Reisebeschreibung der Frühaufklärung. Würzburg 2009, S. 76–79. 398 Die Texte sind zitiert ebd., S. 142. Zu dem Elbe-Gedicht, das sich auch in Greflingers Sammlung Poetische Rosen und Dörnern befindet, vgl. Kolze (Anm. 338), S. 252.
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Beschreibungsobjekt, das sich mit einer Prise Lokalpatriotismus und vielleicht auch Dankbarkeit verbindet. Das Büchlein scheint sich gut verkauft zu haben, wie überhaupt Greflingers einige Jahre nach seinem Umzug in die Elbmetropole gegründetes Verlagsunternehmen zumindest so viel abwarf, dass er sich und die Seinen ernähren konnte. Im Verlauf der Jahre ist er auch zu einer durchaus angesehenen Persönlichkeit im Hamburger Stadtleben avanciert – als gekrönter Poet und Kaiserlicher Notar, als Casual- und Lieddichter, als Journalist und Verleger. Bereits Jahre zuvor, im April des Jahres 1664 hat er das Bürgerrecht erworben, logiert zeitweise in einem Häuschen am Großneumarkt.³⁹⁹ Hamburger Kaufleute und Beamte, Künstler, Musiker, Gelehrte und führende Geistliche zählen zu seinem Freundes- und Bekanntenkreis. Vielleicht könnte man sagen, dass Greflingers Karriereweg paradigmatisch für die Möglichkeiten im frühneuzeitlichen Hamburg ist, wo „jeder Neue […] Aussicht [hatte], bis an die Spitze zu gelangen, wenn er sich durch seine Tüchtigkeit und bürgerliche Uneigennützigkeit dazu legitimierte.“⁴⁰⁰ Als Greflinger 1646, nachdem er zuvor Rist in Wedel einen Antrittsbesuch abgestattet und sich beim Hamburger Rat durch das umgearbeitete Danzig-Lob zu rekommandieren versucht hatte, in die Elbmetropole gelangt war, fand er eine vom Kriegsgeschehen weitgehend verschonte Stadt vor. Nach dem faktischen Zusammenbruch der Hanse 1629 war es Hamburg gelungen, sich durch geschicktes Lavieren zwischen den europäischen Großmächten im außenpolitischen Beziehungsgeflecht neu zu orientieren und Neutralität zu wahren. Hamburgs Bür-
399 Der Kauf eines Hauses geht in der Regel mit dem Erwerb des Bürgerrechts einher, da dies für den Besitzeintrag in der Stadt erforderlich war. Von Oettingen hat in den Hamburger Archiven recherchiert, dass Greflinger am 29. April 1664 das Hamburger Stadtrecht erwarb, um seinen Hauskauf eintragen zu lassen. Von Oettingen (Anm. 72), S. 13. 400 Percy Ernst Schramm: Hamburg. Ein Sonderfall in der Geschichte Deutschlands. Hamburg 1964, S. 20. Zur Kritik an Schramms Thesen vgl. z. B. Andreas Schulz: Weltbürger und Geldaristokraten. Hanseatisches Bürgertum im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 259 (1994), S. 627–670 und Jorun Poettering: „In die äusserste Welt Oerther“. Hamburger Kaufmannschaft und ihre frühneuzeitlichen Handelsbeziehungen. In: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen Früher Neuzeit und Aufklärung. Hg. von Johann Anselm Steiger, Sandra Richter. Berlin 2012, S. 781–791, hier S. 783. Letzterer Beitrag befindet sich in einem neuen Sammelband zur Hamburger Kultur- und Geistesgeschichte in der Frühen Neuzeit, dessen Beiträge Aspekte der Literatur-, Wissenschafts-, Musik-, Alltags-, Kunst- und Kirchengeschichte der Stadt im 17. und 18. Jahrhundert behandeln. Vgl. auch den Artikel „Hamburg“ von Martin Krieger im Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit (Hg. von Wolfgang Adam, Siegrid Westphal in Verbindung mit Claudius Sittig und Winfried Siebers. Berlin, Boston 2012, Bd. 2, S. 797–829) mit einer umfassenden Bibliographie zur Hamburger Kulturgeschichte.
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germeister und Syndici, die man wohl „zu den besten Diplomaten zählen [darf], die Deutschland im 17. Jahrhundert aufzuweisen hatte“,⁴⁰¹ schlugen während des Krieges Angebote des Kaisers aus, kooperierten aber auch nicht mit den Niederlanden oder England. Nichtsdestoweniger wirkte sich der Krieg auf die mit dem europäischen Handel eng verbundene Stadt aus, die sozialen Spannungen nahmen zu, interne Konflikte in der Stadtregierung steigerten sich, die Mächte in der Peripherie streckten ihre Hand nach dem norddeutschen Wirtschaftsund Informationszentrum aus. Westlich von Hamburg herrschten seit Ende des Krieges die Schweden im ehemaligen Territorium des Erzbistums Bremen, südlicher Nachbar war der in Celle residierende Welfenherzog von Lüneburg, dessen Hauptkonkurrent um die Vorherrschaft im norddeutschen Raum der Kurfürst von Brandenburg war. Die gefährlichsten Gegner Hamburgs waren die dänischen Könige aus dem Hause Oldenburg, die seit dem 15. Jahrhundert die Nachfolge der Holsteiner Grafen angetreten hatten. Mit der Gründung von Glückstadt und dem Ausbau Altonas, den der dänische König systematisch betrieb, sollte der alten Hansestadt Konkurrenz erwachsen. In kultureller Hinsicht bedeutete die politische Präsenz der Dänen in Holstein, dass sich ein Wechselspiel zwischen Hof und Stadt, wie wir es zum Beispiel in den Konstellationen Breslau–Liegnitz oder Leipzig–Dresden kennen, zwischen Hamburg und Kopenhagen entfaltete.⁴⁰² Die geopolitische Position als Nordeckstein des Reiches bedeutete für die Handelsstadt indes Segen und Fluch zugleich. Die prekäre Lage sicherte nämlich Hamburgs selbständigen Status, da die Fürsten der angrenzenden Territorien nolens volens die Rolle von Garantiemächten für Hamburgs Autonomie übernahmen und dafür sorgten, dass sich keiner der Konkurrenten die Reichsstadt einverleiben konnte. Aus wirtschaftlicher Sicht sind die spezifischen geographischen Gegebenheiten Hamburgs von jeher freilich ein Glücksfall gewesen. Dank der Elbe mit ihren Nebenflüssen verfügt die Stadt über ein großes Hinterland. Die Mark Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Böhmen sind auf dem Wasserweg gut zu erreichen. Vom Aufschwung des Atlantikhandels konnte Hamburg als quasi Küstenstadt ebenfalls profitieren. In dem Reisehandbuch berichtet Greflinger von den „unzählichen grossen und kleinen Schiffe[n]“, die aus
401 Schramm (Anm. 400), S. 12. 402 Klaus Garber: Hamburg – nicht nur ein Sonderfall der deutschen Geschichte. Eine Betrachtung zur Literatur der Frühen Neuzeit und ihren geschichtlichen Voraussetzungen. In: Steiger/ Richter (Hamburg, Anm. 400), S. 13–44, hier S. 31.
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Spanien, aus Portugal, aus Franckreich, Engeland, Schott- und Irrland, aus Dennemarck, Schweden, Norwegen, Holl- und See-Land, und aus der Ost-See, auch von Archangel und Grönland, ja Guinea und America kommen und eines jeden Landes Früchte und Wahren reichlich einbringen.⁴⁰³
Bereits seit der Mitte des 17. Jahrhunderts war die Stadt somit gleichsam zum „Packhaus und Magazin für ganz Deutschland geworden“⁴⁰⁴ und fungierte zudem als entscheidender Geldumschlagplatz für große Teile Nordeuropas. Schon kurz nach der Jahrhundertwende war nach Amsterdamer Vorbild eine Bank gegründet worden. Daneben befand sich die Börse, welche „des Mittags von Volckes [ist], das da handelt und wandelt“, wie Greflinger in seinem Reisehandbuch schreibt. Vom geschäftigen Markttreiben an diesem Ort gibt er ausführlich Bericht: Hier könne man auch die „herrlichen Osters [Austern] / frisch in ihren Schalen, die nahe Jütland gefangen werden“ einkaufen, außerdem „Citronen, auch Pomeranzen“, „Apffel de China, Granat-Apffels“ sowie „Krepsen, Muscheln, Hummers“ und auch an dem „wolschmäckenden Dorsche“ sei hier kein Mangel.⁴⁰⁵ Gegenüber der „Börsche“ – Greflinger verwendet stets diesen süddeutsch anmutenden Begriff – im „Brodtschrangen“ war auch der Verlagssitz seines Nordischen Mercurius.⁴⁰⁶ Die wirtschaftliche und politische Situation Hamburgs im 17. Jahrhundert steht im Zusammenhang und in Wechselwirkung mit seinen sozialgeschichtlichen Besonderheiten.⁴⁰⁷ Folgende Aspekte sind entscheidend: Die soziale Struktur Hamburgs war durch relativ große Durchlässigkeit gekennzeichnet, wenngleich das Hamburger Gemeinwesen nach dem Selbstverständnis des 17. Jahrhunderts eine Ständegesellschaft war. Es bestand jedoch keine feste Scheidewand beispielsweise zwischen Kaufmannschaft und Akademikern. Viele Söhne großer Handelsfamilien besuchten auswärtige Universitäten, wurden Advokaten und Ratsmitglieder. Andererseits gründeten Akademiker nicht selten erfolgreiche Handelsgeschäfte. Auch Handwerker konnten in den Kaufmannsstand aufsteigen. Ein gängiges Karrieremuster einer solchen Familie konnte also in etwa so aussehen: Vater Kupferschmied, Sohn Metallhändler, Enkel Im- und Exportkauf-
403 Zitiert nach Walther (Anm. 397), S. 129. 404 Schramm (Anm. 400), S. 8. 405 Zitiert nach Walther (Anm. 397), S. 133. 406 Johann Martin Lappenberg: Zur Geschichte der Buchdruckerkunst in Hamburg. Hamburg 1840, S. 76 f. 407 Im Wesentlichen werden hier die Thesen Schramms referiert (Schramm [Anm. 400], S. 16– 23). Es wurde darauf hingewiesen, dass Schramms Darstellung in der neueren Hamburg-Forschung nicht unumstritten ist.
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mann.⁴⁰⁸ Entsprechend bildeten sich im Unterschied zu anderen Stadtrepubliken keine Ratsdynastien heraus, vielmehr etablierte sich eine Art „Kaufmannshonoratiorentum“,⁴⁰⁹ das sich ständisch nicht völlig abschloss und in die politische Führungsposition eintrat. Diese Gegebenheiten erklären die anziehende Wirkung Hamburgs auf die Bevölkerung des Umlandes, wenngleich im 17. Jahrhundert die Einwanderung aus ferneren Gegenden überwog. So war es vor allem der Zustrom von Emigranten, die meist aus religiösen Gründen ihre Heimat verlassen hatten und in der norddeutschen Metropole Zuflucht fanden, der zu einem beachtlichen Anstieg der Bevölkerung führte: Während andere Landstriche des Reiches nach 1648 nahezu entvölkert waren, wies Hamburg schon wenige Jahre nach Kriegsende etwa 75 000 Einwohner (1662), gegenüber etwa 36 000 um 1600 auf.⁴¹⁰ Überhaupt war es zu allen Zeiten ein Hamburger Charakteristikum gewesen, Flüchtlinge und Emigranten großzügig zu empfangen. Schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts waren es vor allem niederländische Glaubensflüchtlinge, die sich an der Elbe niederließen. Fast alle kamen mit gutem Vermögen, verfügten über technische Kenntnisse, künstlerische Fertigkeiten und europaweite Handelsvernetzungen, so dass Hamburg gerade von diesen Einwanderern in kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht profitieren konnte. Männer, die sich zum lutherischen Glauben bekannten – 1603 hatte das Stadtrecht festgelegt, dass in Hamburg die reine lutherische Lehre verbindlich sei – konnten relativ schnell das Bürgerrecht erwerben, womit auch die Angehörigen den Status der Fremden verloren. Im 17. Jahrhundert standen etwa Dreiviertel der Gesamtbevölkerung damit im bürgerlichen Nexus. Die Hauptinstanz für Angelegenheiten der lutherischen Kirche bildeten der Rat und das Kollegium der Achtundvierziger, während das Geistliche Ministerium, das Kollegium aller Pastoren der Stadt unter der Leitung eines Seniors, beratende Funktion hatte. Hierbei ist zu betonen, dass man in Hamburg bei aller Bereitschaft zur Aufnahme von Glaubensflüchtlingen an der konfessionellen Einheitlichkeit festhielt. Der Hamburger Rat hatte schon Ende des 16. Jahrhunderts seinen Anspruch auf das geistliche Regiment voll durchgesetzt, die Identifizie-
408 Ebd., S. 17. 409 Heinz Schilling: Wandlungs- und Differenzierungsprozesse innerhalb der bürgerlichen Oberschichten West- und Nordwestdeutschlands im 16. und 17. Jahrhundert. In: Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland. Parallelen, Verknüpfungen, Vergleiche. Hg. von Marian Biskup. Wiesbaden 1983, S. 121–173, hier S. 132. 410 Hans-Dieter Loose: Das Zeitalter der Bürgerunruhen und der großen europäischen Kriege 1618–1712. In: Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner. Hg. von dems. und Werner Jochmann Bd. 1. Von den Anfängen bis zur Reichsgründung. Hamburg 1982, S. 259–348, hier S. 265.
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rung von Kirche und Staat verstärkte sich im Laufe der Zeit. Im Hintergrund stand die Annahme, dass eine religiöse Einheit auch Vertrauen und Frieden in politischen Konfliktsituationen stiften könne. „Eingeschworen auf die Verteidigung einer allein für wahr erachteten Religion, setzte die hamburgische Kirche alles daran, reformierte, katholische oder jüdische Lehren aus ihrem Bereich fernzuhalten und ihre Glieder unter den auf Luther zurückgeführten Interpretationen der Heiligen Schrift zu einen.“⁴¹¹ Somit war das religiöse Leben in Hamburg bis in das späte 17. Jahrhundert hinein von der lutherischen Orthodoxie geprägt. Zentrum des kirchlichen Lebens waren die vier Hauptkirchen, die zugleich Pflegestätten einer hohen Musikkultur darstellten. Neben den Kirchen und dem Johanneum war das mit diesem räumlich, aber auch hinsichtlich der Lehrinhalte eng verbundene Akademische Gymnasium ein wichtiger Hort der reinen Lehre. Trotz verhältnismäßig später Gründung im Jahr 1613 – das Lübecker Katharineum existierte bereits seit 1531, das Danziger Gymnasium seit 1558 – legte die Hamburger Lehranstalt, die ähnlich wie in Danzig oder Breslau die fehlende Universität ersetzte, einen ‚Senkrechtstart‘ hin und konnte ihr hohes geistiges Niveau über zwei Jahrhunderte halten.⁴¹² Das literarische Leben in Hamburg gestaltete sich im Vergleich zu den Danziger Gegebenheiten vielfältiger. Kulturelle Verbindungen bestanden auch zu den kleinen Städten und Adelshöfen an der Niederelbe.⁴¹³ Mit Rists „Elbschwanenorden“ und Zesens „Teutschgesinnter Genossenschaft“ existierten zwei einflussreiche, literarische Sozietäten. Eine besondere Bedeutung kam Hamburg ferner als Informationszentrum zu. Seit 1618 brachte der Frachtbestätter Johann Meyer die Wöchentliche Zeitung heraus, der kaiserliche Postverwalter Hans Jakob Kleinhans gründete zwölf Jahre später die Post Zeitung. In der zweiten Jahrhunderthälfte mehrten sich die Zeitungsgründungen. Befördert wurde diese Entwicklung durch ein produktives Druckwesen – ein Journalist und Gelegenheitsdichter wie Greflinger fand auch in dieser Hinsicht optimale Bedingungen vor. Als Musikstadt genoss Hamburg vor allem wegen seiner vortrefflichen Organisten und Orgelbauer einen über die Stadtgrenzen hinausreichenden Ruf. Eine
411 Ebd., S. 336. 412 Vgl. Garber (Hamburg, Anm. 402), S. 20–24, mit einer Bibliographie zur Geschichte der Hamburger Lehranstalten. 413 Die ältere Literaturgeschichtsschreibung hat dieser Verbindung zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Ferner wurden die Leistungen Hamburger Autoren des Späthumanismus nicht gewürdigt, so dass Hamburg und sein Umland als produktive Zentren des Frühbarocks wenig beachtet wurden. Vgl. Dieter Lohmeier, Klaus Reichelt: Johann Rist. In: Die Deutschen Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hg. von Harald Steinhagen, Benno von Wiese. Berlin 1984, S. 347–364, hier S. 347.
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besondere Vorliebe der Hamburger galt dem Wohlklang von Gambenensembles, die bevorzugt Stücke von John Dowland, die hier mehrfach nachgedruckt wurden, intonierten. Überhaupt fühlte man sich gerade zu Beginn des Jahrhunderts dem Musikgeschmack der Briten sehr verbunden; der englische Komponist William Brade (1560–1630), dessen Geigenspiel Rist in seiner Jugend bewundernd gelauscht hatte,⁴¹⁴ stand mehrere Jahre den Hamburger Ratsmusikern vor. Die Besoldung von acht bis zehn solcher Instrumentalisten, eine vergleichsweise hohe Zahl, lässt generell auf ein Interesse an gehobener Musikkultur schließen. Dafür spricht auch die hohe Qualität des 1655 vom Organisten Matthias Werckmann ins Leben gerufenen Collegium Musicum, einer Vereinigung von Berufsmusikern und versierten Laien, die mit der Pflege italienischer Musikformen nicht zuletzt den Weg für die Gründung der Hamburger Oper im Jahr 1678 ebnete, der ersten bürgerlichen Oper in Deutschland. Diese einführenden Bemerkungen sollen zur groben Orientierung im Hamburg des mittleren 17. Jahrhunderts, dessen Verhältnisse verglichen mit Danzig besser erforscht sind, zunächst genügen. Über drei Dekaden wirkte Greflinger in der Elbstadt und im Verhältnis zu den verschwommenen Konturen, die die biographischen Skizzen zu den frühen Jahren kennzeichnen, nimmt das Autorenportrait hier allmählich konkretere Züge an. Zwar sind archivarische Dokumente weiterhin kaum greifbar, doch entfaltet Greflinger in der zweiten Hälfte seines Lebens eine umfassende literarische und publizistische Tätigkeit, die vom Verfassen von Gelegenheitsdichtung über annalistische Darstellungen, Komplimentierbücher und Stadtführer, von Kochbüchern, Gartenpflegeanleitungen bis hin zu Übersetzungen von Corneille und Lope de Vega reichte. Anerkennung bei den Zeitgenossen als Literat, als Poeta laureatus, verschaffen ihm seine Liederbücher, von denen drei weitere in den Hamburger Jahren entstanden. Doch wird der Journalismus das Hauptbetätigungsfeld Greflingers und neben dem Verfassen von Casualgedichten sein eigentlicher ‚Brotberuf‘. Es erscheint angesichts der Fülle des Materials sinnvoll, sich von der chronologischen Ordnung der bisherigen Anlage zu lösen und stattdessen die folgenden Ausführungen zunächst nach personellen Konstellationen und dann systematisch nach Werkkomplexen zu gliedern. Die Lieddichtung, der zentrale Untersuchungsgegenstand des zweiten Hauptteils der vorliegenden Arbeit, soll dabei zunächst ausgeklammert werden.
414 S. Johann Rist: Das Alleredelste Nass. In: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Eberhard Mannack. Berlin 1967 ff., hier Bd. IV, 1972, S. 329.
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9.2 Im Kreis der Elbschwäne Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Hamburg auch in kultureller Hinsicht keineswegs als ein nach innen abgeschottetes Staatswesen verstanden werden kann. Die Vertreter der kleinen Kulturzentren im Umland der Metropole standen mit deren Literatur- und Musikszene in engem Kontakt und Austausch. Auch Johann Rist lebte und wirkte nicht in Hamburg, sondern bekleidete das Pastorenamt in dem holsteinischen Flecken Wedel, wo er „wohl nicht mehr als dreißig Jahre geblieben [wäre], wenn er nicht die Großstadt mit ihrem literarischen Publikum und ihren kulturellen Anregungen in unmittelbarer Nähe gehabt hätte; auch hätte er ohne die allgemeine Anziehungskraft Hamburgs und ohne das dort zusammenlaufende Kommunikationsnetz als Dorfpastor schwerlich eine führende Rolle im literarischen Leben seiner Zeit spielen und eine eigene Sprachgesellschaft, den Elbschwanenorden, gründen können.“⁴¹⁵ Rists ‚äußerer‘ Lebenslauf ist wenig aufsehenerregend,⁴¹⁶ abgesehen von der zweimaligen Flucht nach Hamburg, als Torstenssons Truppen 1643/44 über die Elbe nach Holstein eindrangen sowie während des Polnisch-Schwedischen Krieges, der in den Jahren 1658/59 auch das Gebiet an der unteren Elbe heftig in Mitleidenschaft zog. Nach seiner Rückkehr aus Hamburg fand Rist sein Häuschen beide Male verwüstet und geplündert vor, Manuskripte, Bücher und seine naturwissenschaftliche Sammlung – Rist verfügte über hervorragende Kenntnisse in Naturheilkunde, das Pfarrhaus muss einem Labor geglichen haben – waren verloren gegangen. Trotz dieser Erschütterungen gelang es Rist, den provinziellen ‚Mikrokosmos‘ Wedel zu einem idealen Lebens- und Wirkungsraum auszugestalten: „Als er nach mehr als dreißig Jahren segensreichen Wirkens starb, war Wedel nebst Pfarrhaus, Gärten und Poeten-Parnaß über die deutschen Lande hinaus mit einem klangvol-
415 Lohmeier/Reichelt (Anm. 413), S. 348. 416 Rists Lebenslauf weist ein in weiten Teilen nahezu paradigmatisches Grundmuster von Gelehrtenviten des 17. Jahrhunderts auf: Er entstammte einer Pastorenfamilie, studierte an der Universität Rostock Theologie sowie Naturwissenschaften und Medizin. Seit den 1630er-Jahren verfasste er Schauspiele (Irenaromachia. Das ist Eine Newe Tragico-comaedia Von Krieg und Fried 1630, Perseus 1634) und gab erste Gedichtsammlungen heraus (Musa Teutonica 1634), 1635 wurde er als Pastor in den Flecken Wedel berufen. Aus der Ehe mit einer Tochter aus einer Amtsmannfamilie gingen fünf Kinder hervor. 1667 starb Rist in Wedel, ein Sohn wurde Amtsnachfolger. Zu Rist vgl. die Bibliographie bei Lohmeier/Reichelt (Anm. 413), S. 361 f. sowie die Leichenpredigt von Johann Hudemann. Leichenpredigt auf Johann Rist. Kommentierte Edition, bearbeitet von Johann Anselm Steiger. In: „Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“. Gedenkschrift zum 400. Geburtstag des Dichters und Theologen Johann Rist. Hg. von Johann Anselm Steiger. Neuendettelsau 2007, hier S. 215 ff. Auf diesen Text werden wir zurückkommen.
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len Namen begabt. Die Örtlichkeit hatte sich gelehrtes und poetisches Renomee im Geiste humanistischer Akkulturation erworben.“⁴¹⁷ Als äußerst produktiver Literat genoss Rist überregionales Ansehen. Harsdörffer, der den Pastor schon 1645 mit dem Schäfernamen „Daphnis aus Cimbrien“ in den Pegnesischen Blumenorden aufnahm, schlug ihn 1647 als Mitglied für die Fruchtbringende Gesellschaft vor. Dass dieser Vorschlag seitens des Palmenordens Zustimmung fand, weist auf die hohe Wertschätzung hin, die die wichtigste kulturpolitische Vereinigung des Reiches Rist entgegenbrachte, denn laut Ordensstatuten war Geistlichen der Zutritt prinzipiell verwehrt. Konfessionelle Streitigkeiten sollten die Arbeit der Sozietät nicht behindern. Dennoch wurde der für seine irenische Gesinnung bekannte, der ‚Reformorthodoxie‘ zugewandte Rist⁴¹⁸ als „der Rüstige“ neben Johann Valentin Andreä als einziger Theologe in die Fruchtbringende aufgenommen. Im Jahr zuvor war Rist „mit dem adelichen Stande und freiheiten, wapen und kleinothen, wie auch dem Poetischen loorbeerkrantz von deroselben kaiserlichen hofe“ ausgestattet worden.⁴¹⁹ Sein Kröner war der Reichsgraf Hermann Czernin von und zu Chudenitz, für die Nobilitierung dankte Rist dem Kaiser in einer überschwänglichen Lobrede; damit war endgültig der „Status als Statthalter der Poesie im Norden“ gesichert.⁴²⁰ Zwei miteinander konvergierende Aspekte seines Wirkens sind für den hier zu beschreibenden Kontext besonders interessant: Rists Engagement als wichtigster Organisator des norddeutschen Kulturbetriebs sowie seine Affinität zu Musik und vor allem zum Lied. Neben Opitz, seinem Hamburger Gegenspieler Zesen und Sigmund von Birken kann Rist wohl als der „fruchtbarste Schöpfer verschiedenster dichterischer Formen der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts“ gelten.⁴²¹ Sein Œuvre gehört zu den umfangreichsten der deutschen Barockliteratur. Doch sind es vor allem seine Lieder, die Rists Ruhm begründeten,⁴²² zunächst
417 Klaus Garber: Literarischer und kulturpolitischer Statthalter im Norden Deutschlands. Ein Portrait Johann Rists. In: Steiger („Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“, Anm. 416), S. 9–36, hier S. 22. 418 Zu Rists frömmigkeitsgeschichtlicher Stellung vgl. Hans-Henrik Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Steiger („Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“, Anm. 416), S. 37–76, hier S. 61. 419 Brief Rists an Birken vom 8. 7. 1646 zitiert nach Schuster (Anm. 358), S. 580. De facto wurde Rists Krönung sowie seine Nobilitierung jedoch nicht vom Kaiser selbst, sondern von einem Stellvertreter vollzogen (ebd.). 420 Garber (Statthalter, Anm. 417), S. 28. 421 Ebd., S. 30. 422 Die Epicedien auf Rist (Anhang zu Hudemann, Leichenpredigt), heben die geistliche Lieddichtung Rists stets hervor: Daß der hochgeliebte Rist | Viel beliebte Himmels=Lieder | hat ertichtet / als ein Christ“ (Celadon=Greflinger), „Kein Leid ist jemals zu mir kommen / | Daß mirs sein Lied nicht flugs benommen.“ (Candorin (?)=Hövelen), „Der Gottes Reich gemehrt durch seines
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die frühe geistliche Sammlung Himmlische Lieder (1641/42) und deren weltliches Gegenstück Des Daphnis aus Cimbrien Galathee (1642). Doch auch in den folgenden Jahren ist der holsteinische Autor vor allem als Dichter von Liedern, im Laufe der Zeit nur noch geistlichen Inhalts, hervorgetreten.⁴²³ In seinen zwischen 1641 und 1664 erschienenen zehn geistlichen Liedsammlungen finden sich über 650 Lieder. Etwa 100 Stücke fanden Eingang in die zeitgenössischen Gesangbücher, wobei diese Werke wohl nicht vorwiegend im Gottesdienst, sondern während der häuslichen Andacht intoniert wurden.⁴²⁴ In der Überzeugung, dass das Wort erst in Verbindung mit einer musikalischen Umsetzung die Kraft entfalte, die Herzen der Gläubigen zu bewegen und somit die wahre Gotteslehre zu verbreiten,⁴²⁵ hatte Rist beinahe jedes seiner Lieder mit einer Melodie herausgebracht, sei es mit der Notation oder Nennung eines bekannten Chorals, auf dessen Cantus firmus der Text zu singen ist, sei es mit einer eigens komponierten Singweise. In vielen Vorreden der Liedsammlungen artikuliert Rist seine Intention.⁴²⁶ Exemplarisch, doch in einem sehr verschiedenen textuellen Zusammenhang, stehen hierfür auch die Ausführungen Palatins alias Rist, in den später noch einmal zu erwähnenden Monatsgesprächen. In geselliger Runde diskutieren die anwesenden Elbschwäne mit ihrem Ordensstifter in der „Aprilens-Unterredung“ die Frage, welche „die alleredelste Belustigung sei“:
Wortes Krafft / | Der reinen Himmels=Lehr’ / und tausend Lieder Safft“ (ConCorDen=Dedekind), „[…]Sein Himmlisch Liederbuch / | Das lehrt uns beyderley / von Höll und Himmel gnug“ (Georg Nicolai). 423 An weltlichen Sammlungen erschienen noch der Neue Teutsche Parnass (1652), zuvor bereits Florabella (1651) und Galathee (1642). Die Wende von einer ‚weltlichen‘ zu einer ‚geistlichen‘ Schaffensphase gehört zu den meistdiskutierten Aspekten der Rist-Forschung, wobei dem allgemein entgegengehalten werden kann, dass die Grenzen dieser Sphären im 17. Jahrhundert fließend sind. Vgl. Klaus Garber: Pétrarquisme pastoral et bourgeoisie protestante. In: Le genre pastoral en Europe du XVe au XVIIe siècle. Hg. von Claude Longeon. Saint Etienne 1980, S. 269–297, hier S. 275–277 sowie die kritische Position Konrad Küsters („O du güldene Musik!“ Wege zu Johann Rist. In: Steiger [„Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“, Anm. 416], S. 49–152, hier S. 136). 424 Vgl. Irmgard Scheitler: Das Geistliche Lied im deutschen Barock. Berlin 1982, S. 25–29; zum gottesdienstlichen Gebrauch der Lieder mit einer Kritik an Scheitler vgl. Küster (Anm. 423). So ließen sich die Texte der Sabbahtischen Seelenlust (1651) und der Musikalischen Fest-Andachten (1655) „problemlos auch in einen Gottesdienst einfügen“. Sie erfüllten eindeutig einen Evangelienbezug „und nichts zwingt dazu, sie von vornherein aus der Kirche heraus in den Rahmen einer Privatandacht zu verlagern.“ (Küster [Anm. 423], S. 105 f.). 425 Vgl. hierzu Krummacher: Lehr- und trostreiche Lieder. Johann Rists geistliche Dichtung und die Predigt- und Erbauungsliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Steiger („Ewigkeit, Zeit ohne Zeit“, Anm. 416), S. 37–76, hier S. 62 f. 426 Z. B. in der Vorrede zu den Fest-Andachten erklärt Rist die Wirkung von Wort und Ton im Hinblick auf die Kompositionen Thomas Selles. Vgl. ebd., S. 65.
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Und eben dieser Meinung bin auch ich / sagte DER RÜSTIGE / denn / was ich so offt und vielmahlen an mir selber erfahren / das muß ich ja billig glauben. O wie manches herrliches / geistreiches Lied habe ich gehöhret spielen und singen / das mir die Augen naß gemachet! Es versuche es einer nur (ich rede aber von einem / der ein rechter Mensch / zuforderst der ein guhter Christ ist) und lasse sich ein wolgesetztes Traur-Lied / als etwann einen BuhßGesang / einen Kreutz-Gesang / oder ein andächtiges Lied von dem Leiden unseres allersüssesten HErren Jesu / worauff auch eine gahr klägliche Melodia gemachet / Kunst- und beweglich für spielen und singen / er gebe acht auff die Hertzbrechende Wohrte und höhre mit Verstande die zwahr jämmerlich- aber künstlich gesetzete Melodien / was gilts / ob er sich die Thrähnen wird erweheren können? Auff ein anderes mahl / nehme er ein freudiges Lob- und Dank-Lied / dessen Text reich ist von frischen und frölichen Wohrten / die Sangweise aber auch lustig daher gehet / ich will ihn versichern / daß / wenn er auff beides guhte Acht hat / ihm solches ebenmässig die Thränen / nicht aber Traur- sondern FreudenThränen werde außtreiben. Eine so gar wunderbahre Krafft hat die edle Musik in sich / daß sie einen Menschen / bald auff das äuserste frölich / bald auff das äuserste traurig kan machen / und das geschiehet bißweilen durch den blossen Text allein / wenn derselbe wol und beweglich wird gesungen / bißweilen durch das kunstreiche Spielen eines fürtreflichen Musici, bißweilen durch beides / wann nemlich ein Musicant auff dem einen oder anderen Jnstrument künstlich spielet / und lässet einen füglichen Text recht anmuhtig dazu singen. Auff so mancherley Arth und Weise kan uns die edle Musik das Hertz rühren!⁴²⁷
Es mutet doch erstaunlich an, dass Rist sich als Dichter nicht nur für die Wortebene der Lieder interessiert. Vielmehr wird die Bedeutung der Interpretation durch den Sänger und die Kunst des Instrumentalisten sowie das Zusammenspiel hervorgehoben. Bisweilen versuchte sich Rist auch selbst als Komponist und er war musikalisch soweit geschult bzw. verfügte über eine hinreichende Sachkompetenz, „um für sich (oder auch für andere) Leitlinien der Arbeit zu formulieren.“⁴²⁸ Ein Blick auf Rists Eigenkompositionen verdeutlicht, dass die Schlichtheit, die diese Werke prima vista auszeichnet, keineswegs mit geringer Kunstfertigkeit einhergeht.⁴²⁹ Meist verließ er sich jedoch auf professionelle Komponisten, die vorwiegend aus der norddeutschen Region stammten, weil sie eine Musiktradition vertraten, die Rists Vorstellungen am meisten entgegenkam. Hamburg als hochkarätiges Zentrum barocker Musikkultur mit den hier wirkenden Tonkünstlern bot ihm für dieses Ansinnen exzeptionelle Möglichkeiten und so konnte er mit einer Reihe hervorragender Komponisten zusammenarbeiten, so dass die Musikwissenschaft sogar von einer „Hamburger Liederschule“⁴³⁰ spricht,
427 Johann Rist: Die AllerEdelste Belustigung Kunst= und Tugendliebender Gemühter […] Beschrieben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg 1666 [Sämtliche Werke V, S. 327 f.]. 428 Küster (Anm. 423), S. 112. 429 Ebd., S. 112 f. 430 Jürgen Rathje: Art. „Johann Rist“. In: MGG², Personenteil 14, Sp. 187–189, hier Sp. 189.
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die Rist mit seinen Komponisten begründet habe: Zu nennen sind der Hamburger Ratsmusikus Johann Schop, der ebenfalls ‚weltliche‘ Musiker Peter Meier, der Kantor des Johanneums Thomas Selle – wohl der bedeutendste der Hamburger Komponist dieser Zeit – sowie die Hamburger Organisten Heinrich Scheidemann, Jacob Praetorius (Schultze) und Jacob Kortkamp, ferner deren Lüneberger Kollege Christian Flor und Rists Schwager, der in Altona wirkende Heinrich Pape.⁴³¹ Auch der Lüneburger Kantor Michael Jacob war bei mehreren Liederbüchern als Komponist beteiligt. Die Sachsen Constantin Christian Dedekind in Dresden und der Organist Andreas Hammerschmidt in Zittau zählen ebenso zu Rists musikalischen Mitarbeitern wie der Braunschweiger Kapellmeister Martin Coler und der Nürnberger Organist Gottlieb Staden (der Sohn Johann Stadens).⁴³² Nebenbei bemerkt ist es durchaus bezeichnend, dass von den genannten Musikern ein Großteil Organisten sind: Diese standen der Entwicklung des neuen Sololiedes weitaus aufgeschlossener gegenüber als die Kantoren, die offenbar tendenziell eine Konkurrenz für ihre Domäne, die kirchliche Chormusik, fürchteten. Nicht zuletzt waren es Organisten – Johann Stade und vor allem Heinrich Albert –, die das solistische Lied in Deutschland einführten und populär machten.⁴³³ Die Kooperation und Vernetzung mit Musikern sowie anderen Poeten betrieb Rist systematisch. Von seiner holsteinischen Pfarre aus koordinierte er weite Bereiche des Kulturbetriebs im benachbarten Hamburg, wo er den regelmäßigen Austausch mit Amtskollegen, Musikern und Dichtern pflegte.⁴³⁴ In seinem Portrait des „kulturpolitische[n] Statthalter[s] im Norden Deutschlands“ weist Klaus Garber nach, wie sich Rist mittels einer äußerst geschickten und wohldurchdachten Dedikationsstrategie ein sich stetig „verbreiternde[s] Netz der Widmungsempfänger“⁴³⁵ strickte, in das die einflussreichsten Hamburger
431 Vor allem Scheidemann, Prätorius und Flor gelten als wichtige Vertreter der sogenannten „Nordeutschen Orgelkultur des 17. Jahrhunderts.“. Vgl. Küster (Anm. 423), S. 80. 432 Zu Rist und seinen Komponisten vgl. ebd., S. 116–121. 433 Wilhelm Krabbe: Johann Rist und das deutsche Lied. Berlin 1910, S. 58 f. 434 In der Alleredlsten Belustigung schildert Rist seine regelmäßigen Konzertbesuche in Hamburg und an Fürstenhöfen der Umgebung (S. 329). In seinem arkadisch angelegten Garten inklusive Musenplätzchen lud Rist gerne zu geselligem Beisamensein ein und viele Künstler und Literaten genossen die inspirierende Atmosphäre des ländlichen Pfarrhauses. Durch seine Studienzeit war er mit den akademischen Milieus in Rostock und Rinteln (hier wurde 1621/22 die Landesuniversität der Grafschaft Schaumburg gegründet) vernetzt, auch nach Helmstedt und Herborn pflegte er gelehrte Kontakte. Für die tägliche literarische Praxis war außerdem die Nähe zu den umliegenden Adelssitzen bedeutsam, doch Rists Verbindungen reichten auch bis an die Höfe von Stockholm und Kopenhagen. (Vgl. Garber, Statthalter, Anm. 417). 435 Garber (Statthalter, Anm. 417), S. 29; vgl. auch Günter Dammann: Johann Rist als Statthalter des Opitzianismus in Holstein. Aspekte seiner literaturpolitischen Strategie anhand der Wid-
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Potentaten ebenso integriert wurden wie beispielsweise der Herzog von Braunschweig-Lüneburg oder der dänische König. Dass eine erfolgreiche Widmung je nach Adressat auch mit einer entsprechenden Gratifikation verbunden war, versteht sich dabei von selbst. Doch Rist war auch literarisch über die norddeutsche Region hinaus gut vernetzt: Schon seit Ende der 1630er-Jahre stand er mit Opitz in Verbindung, dessen Reform er in die norddeutsche Provinz trug. Es gelang ihm zudem, bedeutende Autoren in sein Beziehungsgeflecht einzubinden, von denen viele zum Gesichtskreis der Fruchtbringenden Gesellschaft und des Nürnberger Blumenordens gehörten, denn Rist war nach seinem Selbstverständnis, bei aller regionaler Bindung, „zugleich ein Bürger der alle territorialen Grenzen und Institutionen formlos übergreifenden respublica litteraria“.⁴³⁶ Sogar mit Heinrich Schütz stand Rist in Kontakt, der ihn vermutlich auf der Reise nach Dänemark 1642 – wohl kurz nach Erscheinen der Himmlischen Lieder – in Wedel einen Besuch abstattete.⁴³⁷ In der Rolle des geehrten und angesehenen ‚Literaturpatriarchen‘ sah sich Rist gerne und inszenierte seine Bedeutsamkeit und seinen Umgang mit den Großen der Zeit,⁴³⁸ andererseits gefiel er sich auch in der Rolle des ‚Talentscouts‘. So förderte er beispielsweise den jungen Sigmund von Birken, empfing ihn 1646 in Wedel und unterstützte dessen literarische Karriere finanziell und durch Empfehlungsschreiben.⁴³⁹ Mit den gleichen Erwartungen wird Greflinger ebenfalls 1646 von Danzig aus die Reise in das holsteinsiche Dorf angetreten sein und auch er profitiert in der Folgezeit zumindest von Rists ideeller Unterstützung. Zu den Fördermaßnahmen des „Rüstigen“ gehörte beispielsweise, dass er die ihm zugeeigneten Ehrengedichte seiner Protegés in seinen Lyriksammlungen veröffentlichte. Vor allem im Anhang des Neuen Teutschen Parnass (1652) platziert Rist auch Gedichte einiger Nachwuchstalente, die somit als dem Umfeld des prominenten Literaturorganisators zugehörig präsentiert wurden. Hier finden wir auch Greflingers oben besprochenes Gedicht, mit dem er sich bei Rist empfohlen hatte.
mungsbriefe und Vorreden. In: Literaten in der Provinz – Provinzielle Literatur? Schriftsteller einer norddeutschen Region. Hg. von Alexander Ritter. Heide 1991, S. 47–66, hier S. 50 f. 436 Ebd., S. 60. 437 Vgl. das Gedicht im Poetischen Schauplatz S. 269 f. „An Herrn Hinrich Schützen [… ]. Als ihn derselbe auff seiner Reise nach Dennemark zu Wedel besuchte.“ 438 So endet er ein Schreiben an Birken mit folgenden Worten: „Ich hette zwahr noch viel zuschreiben, aber Ihre hochfürstliche durchlaüchtigkeit der herr Ertzbisschoff zu Bremen, welcher nebenst Ihrem Gemahl gleich itz in hamburg fähret, lässt mich geleich itz gnädigst zu sich dahin fodern [!], muß deswegen schliessen.“ Zitiert nach Schuster (Anm. 358), S. 382. 439 Zu dem literarischen „Konkurrenzdenken“, das letztlich das gute Verhältnis zerstörte, vgl. Schuster (Anm. 358).
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Natürlich verfuhr Rist, wie bereits erwähnt, hier nach der Maxime ‚do ut des‘, denn die Ehrengedichte trugen ihrerseits zur Steigerung seines eigenen Ruhmes bei. Die Bezeichnung „Nebenbergelein“, die er dem Anhang des umfangreichen Bandes verpasste, demonstriert dabei Rists Selbstverständnis und es nimmt nicht Wunder, dass mancher Autor diesen Begriff und die Konzeption der Sammlung als Degradierung und Provokation empfand.⁴⁴⁰ Was Greflinger angeht, sind wir von Empfindlichkeiten, wie sie Birken an den Tag legte, nicht unterrichtet. Vielmehr akzeptierte er offenbar die von Rist eingerichtete Hierarchie und bemühte sich stattdessen verstärkt um eine Verdichtung des eigenen Kommunikationsnetzes, wohlwissend, dass er hierfür von den Kontakten des Pastors profitieren konnte. War Rist also durch seine zahlreichen Veröffentlichungen, seine Nobilitierung und seine Poetenkrönung sowie als Mitglied der beiden wichtigsten Sprachgesellschaften längst zu einer etablierten Persönlichkeit des deutschen Kulturlebens avanciert, steigerte die Bestallung zum Hofpfalzgrafen (1653) nochmals sein Ansehen und seine Einflussmöglichkeiten. Kraft dieses imperialen Amtes war er nämlich unter anderem befugt, selbständig Laurierungen durchzuführen. Zwar hatte die humanistische Tradition der Dichterkrönung längst nicht mehr die Bedeutung, die man ihr in den vorausgehenden Epochen beigemessen hatte, doch war sie noch mit einem gewissen Prestigegewinn verbunden, so dass den Barockautoren durchaus an dieser Anerkennung gelegen war. Zugleich gebot es der Anstand, dass die Gekrönten sich für diese Ehrerweisung ihrem Kröner auf poetischem und somit öffentlichkeitswirksamem Wege dankbar erwiesen – eine weitere Möglichkeit seinen Ruhm zur Schau zu stellen, die Rist kräftig zu nutzen wusste. Mit 15 Laurierungen rangiert der Pastor in einer Liste der aktivsten Hofpfalzgrafen des 17. Jahrhunderts nur hinter Sigmund von Birken, der 25 Poeten den Lorbeer aufsetzte.⁴⁴¹ Auch Greflingers Loyalität gegenüber Rist wurde belohnt: Er ist der erste Autor, den „der Rüstige“ krönte. Darauf hatte der ehrgeizige Neuhamburger durchaus gezielt hingearbeitet. „Das ist ein alter Brauch, bevor bey den Poeten. O Herr! Ich muss wohl recht ob diesem Wort erröthen, Dass ich mich in die Zahl von den Poeten schreib, Und habe keine Krohn, es sey dann Kind und Weib,“
440 So fauchte Birken, pikiert über die Plazierung seines Ehrengedichts „DAfnis / zier und preiß der Dichter“ als Abschlussgedicht des „Nebenbergelein“: „Er hat mich zum Pförtner hinter seinen Parnaß gesetzt.“ S. Schuster (Anm. 358), S. 592 f. Schuster vermutet, dass Rist die Gedichte ohne Zustimmung der Autoren abdruckte (ebd.). 441 John L. Flood: Geschichte der kaiserlichen Dichterkrönungen. In: Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich. Hg. von Anette Baumann, Peter Oestmann, Stephan Wendehort, Siegrid Westphal. Köln u. a. 2003, S. 353–378, hier S. 367.
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klagt Greflinger in einem Epithalamium 1653,⁴⁴² kurz nach Rists Beförderung zum Comes palatinus. Offenbar instrumentalisierte Greflinger also das Medium des Gelegenheitsgedichts, um sich für die Poetenwürde bei Rist zu bewerben bzw. um an sein eigenes Hamburger Umfeld als Vermittler zu appellieren. Greflingers Rechnung ging auf. Die Rolle eines Fürsprechers könnte der spätere Ratsherr Eberhard von Kampen übernommen haben, ein Verwandter der Braut. Greflinger spricht ihm auf dessen eigener Hochzeit Dank dafür aus, bei der Dichterkrönung als Zeuge fungiert zu haben.⁴⁴³ Ein schönes Zeugnis für die Zeremonie der Krönung findet sich bei Rist selbst: in der Vorrede zu seiner Liedersammlung Neue Himmlische Lieder, die Rist dem Dekan des Hamburger Doms, seinem „vielvertraute[n] / sehr wehrte[n] Brüderliche[n] Freunde“ Joachim Gödersen (1610–1677) widmete. Gödersen, damals noch Canonicus, stellte nämlich für die Feierlichkeit die „Cura oder Hof“ des Domes zur Verfügung, wo Rist, wie er schreibt, meinen [!] Aller Ersten Poeten / nemlich unserem Herren Greflinger / aus der / von Allerdurchläuchtigsten / unüberwindlichsten / Römischen Käyserlichen Majestätt / mir allergnädigst ertheileten / vollenkommenen Macht und Gewalt / die Poetische LorbeerKrohne habe auffgesetztet […].
Dabei habe Gödersen keine Kosten und Mühen gescheut und alle Anwesenden, „viele hochansehliche / hochgelehrte Zuseher / und fürnehmen Standes / Mannes und Weibes=Personen“, „bestermahssen bewihrtet / und mit einer / über alle mahssen herrlicher Music / auch annehmlichen Ehren= und Freudentrüncke reichlich hat versehen unnd beschencket.“⁴⁴⁴ Darüber hinaus bewahrte die Behrmannsche Sammlung der Hamburger Stadtbibliothek mehrere Drucke, die unter dem Titel Zur Krönung Georg Greflingers mit der poetischen Lorbeerkrone durch Johann Rist zusammengebunden waren und auf den 20. Februar 1654 datierten.⁴⁴⁵ Die erste dieser Publikationen stammt von Rist selbst und besteht aus zwei Gedichten, einem deutschen und einem lateinischen, mit dem deutschen Titel:
442 Epithalamium auf die Hochzeit von Heinrich Wördenhof und Barbara Friedrich, geb. von Campen. [Stadtbibliothek Hamburg, Kriegsverlust], zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 99. 443 Ebd. 444 Vorrede zur deutsch-lateinischen Ausgabe der Neuen Himmlischen Lieder von 1658. (Ed. Steiger/Küster), S. 395 f. 445 Der Sammeldruck ist zu den Verlusten der Hamburger Stadtbibliothek zu zählen. Die Zitate aus den Gratulationsgedichten sind wiederum Walthers Abhandlung entnommen (Anm. 85, S. 100 ff.). Kommata bei Walther werden hier durch Virgeln wiedergegeben.
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An den Ehrenvesten, Grosachtbahren und Wolgelehrten Herrn Georg Greflinger / Kaiserlichen offenbahren Notarium und Lobeswürdigen Dichter / Als Ihme / aus allergnädist verliehener / Dero Römischen Kaiserlichen Majestätt / Macht / Gewalt und Freyheit / Die Poetische Lorbeerkrohne / bey ansehnlicher Gegenwahrt fürtreflicher und hochberühmter Leute / mit gebührlichem Gepränge öffentlich aufgesetzet und Er hierauf für Einen Kaiserlichen / Gekröhnten Poeten mit aller Kunst- und Tugendliebenden Glückwünschendem zujauchtzen ward auffgeruffen und bestättiget / Welches glücklich geschehn und vollzogen in der Hochlöblichen Statt Hamburg / am 20. Tage des Hornungs / Im 1654. Jahre Ausgefärtigte Lob- und Ehren Gedichte.
Rist betont in seinen Gratulationsversen, Greflinger zähle zu den „gelehrten Dichtern“, die sich von den unkundigen Reimern unterschieden, die in Hamburg ihre „kahl[e] Dichterei“ betrieben. Der Gekrönte hingegen vertrete die „Kunst“ als „Kunsterfahrne[r]“, im reichspatriotischen Ton heißt es abschließend: Setzet Ihr die Feder an Gott und Ferdinand zu Ehren Helffet als Ein Teutscher Mann Unsrer Teutschen Ruhm vermehren Den so wird kein Teutscher sehn Eure Schrifften untergehn.
Rist zweites, lateinisches Gratulationsgedicht stellt Greflinger 1655 auch seinem Liederbuch Poetische Rosen und Dörner voran. Es hat folgenden Titel: Ad praestantissimum & literatissimum Virum, DN. GEORGIUM GREFLINGERUM. Sacræ Cæsareæ Majestatis authoritate Notarium publicum, Cum ipsius Capiti laurea serta solemniter imponerentur.
Die Vehemenz, mit der Rist in diesen Gedichten die Dignität seines Erstgekrönten hervorhebt, kommt nicht von ungefähr. Schon in seinem literarischen Debüt, der Musa Teutonica (1634), hatte Rist „Anspruch auf die Statthalterschaft des Opitzianismus im nördlichsten Deutschland angemeldet“⁴⁴⁶ und diesen mit einer „poetischen Disqualifikation von Mitbewerbern“⁴⁴⁷ verbunden. Letztere manifestiert sich kontinuierlich in den Vorworten seiner folgenden Werke, wo er konkurrierende Autoren in seinem topographischen Umfeld der poetischen
446 Damman (Anm. 435), S. 50. 447 Ebd., S. 51.
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Ignoranz bezichtigt.⁴⁴⁸ Rist moniert die große Anzahl handwerklich mangelhaft gearbeiteter Casualpoesien und fordert Qualitätsstandards im Sinne der neuen Literaturreform, die er selbst sowie sein literarischer Zirkel erfüllten. In diesem Zusammenhang ist also auch zu betonen, dass Rist, selbst ein äußerst produktiver Casualpoet, generell daran gelegen war, das Dichten bei Gelegenheit nicht zu diffamieren. Jedoch tummelten sich gerade auf diesem Feld wegen des großen Bedarfs die „Reimenmacher“ und „Bettelpoeten“ zuhauf, deren Machwerke dem wahren Könner, das heißt dem Verfechter des Opitzianismus, „das Hertz im Leibe davon möchte wehe thun.“⁴⁴⁹ Der Agendapunkt „Ausdifferenzierung des [literarischen] Professionalismus“⁴⁵⁰ wird so zu einem zentralen Anliegen des holsteinischen Literaturorganisators. Brisant wird diese Obliegenheit in dem Moment, in dem die „Hümpler und Kunstschänder“⁴⁵¹ auch die ‚wahren‘ Poeten in Misskredit bringen – so geschehen exakt zur Entstehungszeit des Neuen Musikalischen Seelenparadieses (1660) in Hamburg, als ein Senatsmandat das Verfassen von Casualia Ende 1658 untersagt hatte. Die umfangreichen polemischen Passagen gegen die „Hümpler und Kunstschänder“ in der Vorrede des geistlichen Liederbuchs stehen unverkennbar in diesem konkreten Kontext. Rist macht sich zum Anwalt seiner Kollegen und Protegés, zu denen auch Greflinger zu rechnen ist: Warum sollte ich begehren / das mir ein elender Linnenweber ein von Gold und Seiden gezierte Tapetzerei müchte verfärtigen / da es mir doch an kunstreichen Teppichmachern in der Statt doch nicht fehlete / und ich eines guthen Italiänischen und Niederländischen künstlers bemächtiget seien könnte. Nun haben wir gleichwol in Teutschland noch etliche (wiewol weinige [!]) recht guhte Poeten / welcher gelehrte Schriften und hochnützliche Bücher mit Lust und Verwunderung zu lesen / etlicher junger Dichter zu geschweigen / welcher trefflicher Verstand aus ihren erst herführbrechenden Sinn= und Geistreichen Gedichten auch stattsam erhellet. Sol man so grosse Leute wie auch feine / gelehrte Studenten darumb verachten / das nebst ihnen eine solche Menge elender Reimenmacher wird gefunden? Sol man um Solcher Idioten Unverstandes / und umb ihrer Saalbaderischen / Possen / Narren= und Liebes=Grillen halber / die sie lassen aufliegen / in den grossen Stätten / die edle Poesie gantz und gar verbiehten? Das dünkt Mich / heisset wol recht / das Kind mit dem Bade ausschütten. Kein Verständiger wird dises alzu hitzige Verfahren loben oder guht heissen.⁴⁵²
448 „Das es mit dem Vers= oder vielmehr Reimen machen / sehr gemein werde / also / dass auch die gröbesten Ignoranten, und nichteswissende Phantasten mit der Zeit wollen Poeten heissen / solches kann niemand läugnen / ja man mag bei diser Zeit wol recht und mit Wahrheit singen: Verschmähte Poesi! Das Betteln auf den Gassen Ist nicht so gahr gemein / als Verse drükken lassen.“ Neues Musikalisches Seelenparadis, Nützlicher und nothwendiger Vorbericht. 449 Vorrede zu Poetischer Lust=Garten (1636), zitiert nach Dammann (Anm. 435), S. 59. 450 Ebd. 451 Neues Musikalisches Seelenparadies, Nützlicher und nothwendiger Vorbericht. 452 Ebd.
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Wenn Rist in seiner Eigenschaft als Comes palatinus nun einem der aktivsten Gelegenheitsautoren die hohe Ehrerweisung der Poetenkrönung zuteilwerden lässt, gilt es, dessen Würdigkeit besonders herauszustreichen. * Doch zurück zu den weiteren Gratulationsgedichten, die zu Greflingers Dichterkrönung verfasst wurden. „Rist et Grefflinger mihi sunt pro mille poetis; Si Rist non esset, palmam Grefflinger haberet; Inferior nullis, dum sors magis aequa sequatur“, verkündet der nächste Gratulant in dem genannten Sammeldruck, der sich „JUST“ nennt. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich Johann Ulrich Strauss, ein dichtender Notar, dessen Distichorum Centuria prima et seconda mit Greflingers deutschen Übertragungen im selben Jahr erschienen.⁴⁵³ Überhaupt verband die beiden Kollegen eine gegenseitige Wertschätzung. So steuert Strauss als „JUStus Susart“ später auch ein Geleitgedicht zu Greflingers Verschronik über den Dreißigjährigen Krieg bei. Über den Dresdner „Jurium Cultor“ Christian Hoffmann, der seinem „vielgeehrten Herrn und lieben Freunde aus ungefärbter Teutscher Treu im durchreisen unter vielen Geschäfften in Eil“ Glückwünsche zur Poetenkrönung bestellt, ist nichts weiter bekannt, jedoch mag dieses Gedicht Greflingers anhaltende Kontakte zum sächsischen Hof dokumentieren. Hoffmann rühmt Greflingers Fleiß, Verstand und munteren Geist, versäumt es jedoch nicht, den Poetenkröner selbst, mit der Formel „Welt-brühmte[n] RJST, Der lengst vergöttert ist“ gleich siebenmal zu loben – wohl ein wenig subtiler Versuch, sich für eine Laurierung zu bewerben. Schließlich feiern die beiden Hamburger Casualdichter Christoph Hering und Johann Wolken, „in der gelegenheitspoesie G.s[Greflingers] hauptconcurrenten“,⁴⁵⁴ den Gekrönten mit lateinischen und deutschen Versen: Greflinger möge sich ob dieser Ehrung „Gräflich brüsten“. Wenige Monate später revanchiert sich Greflinger übrigens bei Wolken mit einem Gratulationscarmen anlässlich dessen Erhebung zum Poeta laureatus durch Rist. Ein interessanter Aspekt, der auf die literarischen Konkurrenzkonstellationen in Hamburg zu beziehen ist, wird in dem Gratulationsgedicht des Dresdener Juristen Hoffmann auf Greflinger angedeutet. Hier ist von dem „Neidischen Tadelgern, dem diese Bekröhnung missfället“ die Rede:
453 Joh. U. Strausi.| Not. publ. | Distichorium | Centuria prima & secunda | cum Versione Germanica Georgii Greflingeri | N. P. P. L. C. | Hamburgi Typis Rebenlinianis Anno 1654. Ein Teil von Greflingers deutschen Übertragungen sind in der Celadonischen Musa nochmals abgedruckt. Das Epigrammbuch, einst im Besitz der UB Hamburg, wird vermisst. [S. DÜNNHAUPT III, S. 1692, Nr. 23]. 454 Walther (Anm. 85), S. 101.
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Wie bist du so ergrollt, auff unsern Seladon Du alter Reimen-Schmied? Der du pflegst umzutäuffen Was längst getäuffet ist. […]
Der Seitenhieb bezieht sich eindeutig auf Philipp von Zesen, der für seine sprachpuristischen Aktivitäten (die Schmähverse referieren augenscheinlich auf Zesens Eindeutschungsvorschläge für Fremdwörter und antike Götternamen) und sozialen Exaltionen vom Rist-Kreis mit Skepsis beobachtet wurde. Bald schon bemühte sich Rist bei Neumark sogar um einen Ausschluss des „rotzige[n] Schulbuben[s]“ und „Bährenheuter“ aus der Fruchtbringenden Gesellschaft.⁴⁵⁵ Experimentierfreudigkeit hier, strengerer Klassizismus dort. Statusbewusster Pfarrer versus freier Schriftsteller (in dieser Hinsicht also Greflinger verwandt), der auch die Selbstnobilitierung nicht scheute und als „Erzschreinhalter“ schon zehn Jahre vor Rist als Oberhaupt einer selbstgegründeten Sprachgesellschaft amtierte. Zwar kann man in der Folgezeit nicht pauschal von einer Spaltung der Hamburger Literaturszene in eine Rist-Partei und eine Zesen-Partei sprechen, doch scheinen die örtlichen Autoren jeweils einer Fraktion näher gestanden zu haben. Doppel-Mitgliedschaften in Elbschwanenorden und Teutschgesinnter Genossenschaft sind nicht allzu häufig bekannt. Für Greflinger ist ein näherer Umgang mit Zesen nicht nachzuweisen.⁴⁵⁶ Möglicherweise kam es jedoch nach Rists Tod zu einer Annäherung, die sich beispielsweise in der Zusammenarbeit für ein Ehrengedächtnis auf den Verleger Johann Naumann (1668) manifestiert. Auf den Anlass seiner Dichterkrönung verfasste Greflinger vermutlich auch selbst ein Gedicht: Der gute Teutsche Halss Seladon Seinem vereinigten Greflinger / Als Ihm Von dem […] Herrn Johann Rist […] Die Poetische Lorberkrohn aufgesetzet wurde war den 20. Febr. 1654. Setze nachfolgendes aus gutem Hertzen.
455 Andreas Herz: Zesen und die Fruchtbringende Gesellschaft. In: Philipp von Zesen: Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008, S. 181–208, hier S. 181 f. Auch Harsdörffer, zunächst sogar Mitglied der Teutschgesinnten Genossenschaft, wandte sich von Zesen ab. So schreibt auch er an Neumark: „Dieser Tagen ist H. Zesen unbekanter weise bey mir gewesen, habe ihm auf begehren, was ich von ihm hielte, rund herausgesagt, daß er ein eitel und ruhmsichtiger, wanckelmütiger mensch seyn müsse […]. Habe seithero noch viel wunderliche Aufzüge von ihm gehöret.“ (Zitiert nach Herz, ebd., S. 183). 456 Walther (Anm. 85), S. 112.
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Den Hauptteil dieses Gedichts, eine Art ‚Sphragis‘, lässt Greflinger in seiner Liedersammlung Poetische Rosen und Dörner unter dem Namen „Columbin“ nochmals abdrucken – diese zu Beginn der vorliegenden Arbeit bereits besprochenen Verse handeln von seiner Kindheit am Flüsschen Asch in der Oberpfalz, den traumatischen Kriegserlebnissen, der Schulzeit in Regensburg und schließlich der ehrenvollen Zeremonie der Dichterkrönung durch Rist. * Es ist bezeichnend für Rists Geltungsbewusstsein und Geschäftigkeit, sich die Kompetenz, Dichter zu krönen, bald auch für ein großes Projekt dienstbar zu machen: Die Gründung einer literarischen Sozietät, deren Mitglieder „daferne es immer müglig / Käiserl: Gekrönete Poeten sein müssen.“⁴⁵⁷ So versammelte er nach und nach knapp 50 Literaten, die er selbst zu Poetae laureati gekrönt hatte, in dem 1658 ins Leben gerufenen „Schwahnen-Orden“ (oder „Elbische SchwahnenGeselschaft“ genannt)⁴⁵⁸ der offiziell als „Pflanzgarten“ für neue Mitglieder des Palmenordens fungieren sollte.⁴⁵⁹ Ein lockerer Kreis von Dichtern und Musikern hatte sich schon längere Zeit um den Rüstigen gescharrt. De facto sollte die Neugründung freilich eher die eigene Stellung in der societas literaria sichern, indem die Sozietät zu den bestehenden Dichterorden demonstrativ in Wettbewerb trat, auch wenn man sich nach außen hin gerade nicht als Konkurrenzunternehmen zu Zesens Teutschgesinnter Genossenschaft präsentieren wollte: „Unser Orden ist für sich / tuht keiner Gesel- oder Genosschaft Ingrif / noch affet ungeschikt andren Orden nach“, versichert Ordensmitglied Hövelen.⁴⁶⁰ Der „Swanen-Orden“ verpflichtete sich auf die „sieben völlige[n] vollenkommene[n] Freie[n] Künste / Wissenschaften / Haupt-Tugenden und H. Geistes Gaben“, zum namenstiften-
457 Hövelen, Des Hochlöblich-ädleligen Swanen-Ordens, zitiert nach Karl F. Otto: Die Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Stuttgart 1972, S. 54. 458 Das allereldelste Leben, S. 171. Eine lose Verbindung um Rist existierte möglicherweise bereits zuvor. So findet man im Neuen Teutschen Parnass mehrere Hinweise auf eine „Elbeschäffer Gesellschaft“, z. B. in dem Epithalamium auf Georg Reich (Neuer Teutscher Parnass, S. 190). 459 So stellt Conrad von Hövelen, selbst Gesellschafter des Schwanenordens, die Intention der Sozietät dar. Seine Schriften Des Hochlöblich-ädleligen Swanen-Ordens Deudscher Zimber-Swan Lübeck 1666, Candorins Deutscher Zimbern Swan Lübeck 1667 und Der Träu-flihssender ZimberSwan Lübeck 1669 sind die wichtigsten Quellen für die Organisation und Struktur des Ordens. Zum Elbschwanenorden vgl. Otto (Anm. 457), S. 52–57. 460 Hövelen, Des Hochlöblich-ädleligen Swanen-Ordens, zitiert nach Otto (Anm. 547), S. 53. Rist betont in den Monatsgesprächen, dass seine Gesellschaft keine „ungeschickte Nachaffung des unvergleichlichen Ordens der Fruchtbringenden“ sei. (Das alleredelste Leben [Werke IV], S. 167).
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den Wappentier wählte man den Schwan, der den Gesellschaftern als Symbol der Treue galt.⁴⁶¹ Über Details der Struktur und Organisation des Ordens sind wir jedoch nicht gut unterrichtet, das Ordensbuch mit den Namen der Mitglieder und deren Schriftenverzeichnis ist verloren gegangen, auch das Archiv des Schwanenorden wird vermisst.⁴⁶² Einige Aspekte lassen sich aus anderen Texten rekonstruieren. So heißt es in den Monatsgesprächen, dass es laut Ordenssatzung das „gäntzlich[e] Absehen“ der Gesellschaft sei, dass des allerheilgsten GOttes Ehre befodert / wahre Tugend vermehret / Kunst und Geschikligkeit fortgepflantzet / das Aufnehmen und Zuwachs unserer Edelsten / Teutschen Heldenund Mutter-Sprache / führnehmlich auch dero unvergleichlichen Poesie oder Dichtkunst / so wol mündlich / als auch durch Herausgebung hochnützlicher Bücher und Schriften eiferigst müge befodert werden [.]⁴⁶³
Die Mitglieder sollten sich dabei gegenseitig unterstützen, zum Beispiel durch das Zusenden von Ehrengedichten. Als Ordenszeichen bekam man bei seiner Aufnahme „einen güldenen Gekröhnten Schwahn / an einem breiten / himmelblauen Bande“.⁴⁶⁴ Was die Zusammensetzung des Elbschwanenordens betrifft, ist auffallend, dass ganz im Gegensatz zur Fruchtbringenden, aber auch beispielsweise zu den Pegnitzschäfern, der geistliche Stand dominiert. Das lutherische Bekenntnis scheint implizit eine Bedingung für die Aufnahme gewesen zu sein. In seinem Epicedium auf den Wedeler Pastor vergleicht Hövelen Rist, den „Elbischen Wädels Swahn“, bezeichnenderweise mit Luther, den „Wittenbärgischen Swan“.⁴⁶⁵ Die Mitglieder des Elbschwanenordens stammten zum Großteil aus Gegenden „nahe an dem Elbestrohme“,⁴⁶⁶ aus Hamburg, aus dem schleswig-holsteinischen Raum und aus dem Herzogtum Braunschweig-Lüneburg. Eine kleine preußische Fraktion, zu der die bereits im Danzigkapitel erwähnten Autoren Erbe, Knaust und Zahmel gehörten, stand weniger in direktem persönlichen Kontakt, das Gleiche gilt für die sächsischen Mitglieder. Hier ist vor allem der Kurfürstlich-Sächsische Konzertmeister Dedekind zu nennen, der im zweiten Teil seiner Aelbianischen Musen-Lust zehn weltliche Texte von Rist und ein Lied von Greflinger vertonte. Überhaupt scheint Rist bei der Auswahl seiner Ordensmitglieder Autoren bevor-
461 Hövelen, Des Hochlöblich-ädelen Swanen-Ordens, zitiert nach Otto (Anm. 457), S. 53. 462 Ebd., S. 57. 463 Das alleredelste Leben (Rist, Werke IV), S. 173. 464 Ebd., S. 170. 465 Hudemann, Leichenpredigt, S. 260 [Candore, Virtute, Honore. Epicedium von CANDORIN, (d.i. Konrad von Hövelen)]. 466 Das allereldelste Leben (Rist, Werke IV), S. 171.
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zugt haben, „denen eine Verbindung von Poesie und Musik besonders am Herzen lag.“⁴⁶⁷ So befanden sich unter den Mitgliedern ferner der Komponist Michael Franck und der Hamburger Lautenist Jeremias Erben. Greflinger, der sich schon seit 1646 im engeren Umfeld von Rist bewegte, erfüllte als Lieddichter auch diese Vorstellung des Pastors. * Blicken wir im Folgenden unter Zuhilfenahme zweier literarischer Quellen nochmals auf das Verhältnis Greflingers zu Rist: Ein Gelegenheitswerk aus dem Jahr 1648, eine Zuschrift des Jüngeren für das von Rist im Auftrag des Hamburger Domherrn Eberhard Möller aufgesetzte Lehrgedicht Holstein, vergiß es nicht, dokumentiert die bald nach Greflingers Ankunft in Hamburg beginnende Kontaktaufnahme.⁴⁶⁸ Anlass war in diesem Fall eine schreckliche Naturkatastrophe, die als „Fastelabendflut“ in die Hamburger Geschichte eingegangen ist. Orkanwehen und erdbebenartige Erschütterungen hatten in der in der Nacht auf den 14. Februar 1648, vor Fastnacht, das Gebiet an der Niederelbe verwüstet. Von Glückstadt bis Wedel und auch in Hamburg waren Häuser und Kirche eingestürzt, Mensch und Vieh zu Tode gekommen – für Rist und seine Zeitgenossen Zeichen des „feuerbrennenden Zorn Gottes“ wider „uns armen Sündern“. Rist stellt seinem Bußgedicht Ehrengedichte von Geistlichen und Theologen aus den betroffenen Gemeinden voran, doch auch Harsdörffer, Zesen und Greflinger kommen zu Wort. Dieser schildert die „Schrekkensvolle nacht“ in Hamburg als eine Art Augenzeugenbericht direkt im Moment des Geschehens, wobei das Gedicht eine Dramaturgie entfaltet, die zwischen autobiographischer Inszenierung, apokalyptischer Topik und theologischer Katastrophenexegese oszilliert: O Schrekkensvolle Nacht! Mir zittern alle Glieder / Was prasselt in der Lufft? Mein Leib fleugt auff und nieder / Die Erde balt in Mir / wo berg Ich mich noch hin / Da Ich vor disem Zorn deß Höchsten sicher bin? Ich halt es gantz dafür / diß sei daß letste Leben / Ach liebste fühlt Ihr nicht der Erde stetes beben?
467 Mannack (Anm. 293), S. 169. 468 Holstein vergiß eß nicht | Daß ist | Kurtze / iedoch eigentliche Beschreibung | Des erschreklichen Ungewit-|ters / Erdbebens und überaus grossen [ ] herausgegeben von Johann Risten. Hamburg 1648 [BSB München 4 P.o.germ. 174#Beibd.3]. Es wäre zu prüfen, ob der naturwissenschaftlich gebildete Rist in diesem Gedicht neben dem topischen Deutungsmuster von Naturkatastrophen im Sinne des göttlichen Strafgerichts auch naturwissenschaftlich-empirische Argumente anführt, die das Unglück erklären könnten.
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Wie krachet unser Hauß / wie tobt es in dem Dach Ich fürchte / fürchte sehr / es falle gahr hernach. Lass uns den Kellern zu / Ach nein / Sie sind voll Wellen / Und kann sich nirgends nicht ein Fuß darinnen stellen. So komt den auff den Plan eh uns daß Hauß erwürgt. Wer ist den auff dem Plan / der vor mein Leben bürgt? Gott hat Sich mehr als sehr ob unser Schuld erbittert / Hör an wie sausen doch die Steine durch die Lufft / Hör an wie iämmerlich ein Hauß daß ander rufft. Und Ach Waß hör Ich mehr? waß hör Ich für ein knalle(n)? Waß dondert / poltert so? waß ist so stark gefallen? Wer brennet in der Nacht deß Walls Karthaunen loß / Es ist noch etwas mehr / daß Krachen ist zu groß. Ach / unser schönster Thurm ligt langst dem schönen Tempel In tausend Stükken da. Erschreckliches Exempel! Die Krohne dieser Statt / fällt die / waß schliess Ich hier Diß wird ein Zeichen sein daß Gott: Ach still mit Mir / Da werden andre sein diß Unglük außzulegen. Waß hör Ich mehr / es sol in Cymbern allerwegen Also ergangen sein / wen es geschehen ist / So weiß Ich es gewiß / mein hoher Freund Herr Rist Der Elbe Nachtigal wird solches nicht verschweigen Ja aller Welt vielmehr deß Herren Zorn anzeigen / Wie dieses strengen Sturms und Wassers Tyrannei Von einem grossen Zorn deß Höchsten Vortrab sei. Geschrieben in Hamburg In der Zeit dieses Unglükkes war | Der 14. deß Hornungs 1648 und seinem hochgeerten Herren Gefattern dem Edlen Herren Risten nach | Wedel gesendet. Von Georg Grefflinger auß Regenspurg
Das Verswerk ist als ein Monolog eines Ichs angelegt, das sich mit seiner Geliebten in der Katastrophennacht in einem Haus im Zentrum Hamburgs aufhält. Es sind apokalyptische Motive, vor allem akustische Eindrücke, die das Ich in seiner Todesangst mitteilt, wodurch eine beklemmende Atmosphäre evoziert wird: Regen prasselt unaufhörlich (V. 2), man hört Steine durch die Luft fliegen (V. 14) und Menschen, die aus ihren Behausungen zu den Nachbarn um Hilfe schreien (V. 15). In der Dunkelheit des einsturzgefährdeten Hauses spürt das Ich das Beben der Erde (V. 6), der Keller ist bereits überflutet, es bleibt nur die Rettung auf das Dach (V. 10). Mit dieser räumlichen Verlagerung des Geschehens geht eine Steigerung der Dynamik einher, die auf sprachlicher Ebene über zwei Verse hinweg durch ein Stakkato panikartiger Fragen erzeugt wird: „Und Ach Waß hör Ich mehr? waß hör Ich für ein knalle(n)? Waß dondert / poltert so? waß ist so stark gefallen?“ (V. 16 f.). Die Höreindrücke steuern nun in klimaktischer Reihung auf einen Höhepunkt zu, denn die chaotische Lärmkulisse aus Donner, dem Prasseln des Sturms,
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Menschengeschrei und Kartaunenschüssen wird durch ein knallendes und krachendes Geräusch übertüncht: Der Turm der Katharinenkirche ist eingestürzt (V. 20).⁴⁶⁹ Beim Anblick des zerstörten Gotteshauses erkennt das Ich sogleich das allegorische Potential der Katastrophe, fühlt sich zu einem Deutungsversuch herausgefordert und hebt zu einer theologischen Exegese an.⁴⁷⁰ Die nun folgenden anakoluthischen Satzkonstruktionen (V. 22 f.) unterstreichen jedoch die selbstbekundete Unfähigkeit des Ichs zu einer adäquaten Interpretation des Unglücks. Durch diese quasi reflexive Wende kann Greflinger in einer Pointe die eigentliche Funktion seines Beitrags benennen, indem er sein eigenes Unvermögen der Exegesekompetenz seines „hohe[n] Freund[es] Herr Rist“ gegenüberstellt. Dieser habe in „Cymbern“⁴⁷¹ die Sturmflut auch miterleben müssen, so dass man eine professionelle, straftheologische Deutung durch „[d]er Elbe Nachtigal“ erwarten dürfe. Die Rolle des Sittenrichters will Greflinger nicht übernehmen, sein Beitrag präsentiert sich vielmehr als ‚teaser‘ für das folgende Lehrgedicht. * Viele Casualwerke und Ereignisse wie Greflingers Poetenkrönung und seine Mitgliedschaft im Elbschwanenorden lassen vermuten, dass das gute Verhältnis zwischen ihm und Rist über die Jahre stabil blieb, was nicht auf alle Freundschaften des Pastors zutrifft.⁴⁷² In diesem Zusammenhang sind abschließend Rists Monatsgespräche zu erwähnen, ohne dass auf dieses hochinteressante Werk hier genauer eingegangen werden kann.⁴⁷³ Es sei nur angedeutet, dass jedes „Monatsgespräch“ in eine novellesk anmutende Rahmen-Erzählsituation gebettet ist, die das Eintreffen von jeweils drei Mitgliedern des Elbschwanenordens im Wedeler Pfarrhaus beschreibt. Unter den Versammelten entspinnen sich sodann – wohl
469 Es muss sich um die Katharinenkirche handeln, da in Hamburger Chroniken kein anderer Kirchturm erwähnt wird, der dem Sturm zum Opfer gefallen ist. Vgl. zum Beispiel: J. J. Ropelius: Chronik oder Geschichte von Hamburg 1832: „Im Jahr 1648 […] entstand des Abends ein schrecklicher Sturm mit heftigem Donner und Blitzen, welche die ganze Nacht dauerte, die Catharinen Thurmspitze, welche mit einer goldenen Krone geziert gewesen, herunter riß und große Verwüstungen in der Stadt anrichtete.“ (S. 151). 470 Auch im ersten Teil des Gedichts werden theologische Aspekte eingestreut. So erkennt das Ich bereits im vierten Vers die Naturkatastrophe als Strafgericht Gottes. Ebenso V. 11 f.; hier stellt sich das Ich als mutkränkelnd dar, sein Gottvertrauen ist erschüttert. Eine stoische Grundhaltung, die Freiheit von Affekten, fehlt ihm völlig. 471 Jütland unter Einschluss der Herzogtümer Schleswig-Holstein. 472 Man denke an das schwierige Verhältnis zu Zesen und Sigmund von Birken. 473 Vgl. hierzu die Studie von Alfred Jericke: Johann Rists Monatsgespräche. Berlin, Leipzig 1928.
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in Anlehnung an Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächspiele – rhetorisch durchdachte, doch spielerisch inszenierte Streitdialoge zu den unterschiedlichsten Sachfragen. Rist, der in der Maske des „Palatin“ selbst auftritt, präsentiert in den sechs Traktaten⁴⁷⁴ ein beachtliches polyhistorisches Wissen und rhetorische Spitzfindigkeit. Ihr spezifisches Gepräge erhalten die Monatsgespräche vor allem dadurch, dass Rist nicht wie Harsdörffer fiktive Personen diskutieren lässt, sondern sich in patriarchalischer Selbstinszenierung im Kreis seines Ordens darstellt und die Elbschwäne selbst gewissermaßen auf die Bühne bittet. Ort des Geschehens ist das Pfarrhaus in Wedel, das Rist mit seinem Garten und dem Musenplätzchen mit Tisch und Bank bei Quelle und Bäumen mit Blick über die Elbe tatsächlich ganz nach dem Vorbild antiker bzw. humanistischer Musenorte eingerichtet hatte, wie man sie auch in ähnlicher Gestalt zum Beispiel in Heinrich Alberts Königsberger Kürbishütte vorfand. Vielleicht könnte man in diesem Sinne von den Monatsgesprächen als von einem „Propagandawerk“⁴⁷⁵ für die Sozietät sprechen, um deren Ansehen es bereits nach wenigen Jahren nicht zum besten bestellt war. So verband Rist mit der Publikation unverkennbar die Absicht, Rechenschaft über Intention, interne Struktur und Organisation seines Unternehmens abzulegen.⁴⁷⁶ Der Rist-Orden stand – wohl nicht ganz zu Unrecht – beispielsweise im Verruf, auch mäßig talentierte Reimer bereitwillig aufzunehmen. Das Unternehmen war weniger straff organisiert als andere und konnte trotz der verhältnismäßig geringen Zahl seiner Mitglieder kaum Exklusivität beanspruchen. Nicht einmal eine esoterische Aura, wie sie der mit eigenartigen Ritualen und Statuten versehene Zesen-Bund ausstrahlte, haftete den Elbschwanen an. Wahrscheinlich trifft Klaus Garber den Sachverhalt, wenn er von einem recht „unschuldigen Treiben im holsteinischen Wedel“ spricht.⁴⁷⁷ Gleich im ersten Dialog, dem Jännergespräch (1662), tritt „Celadon“ in der Diskussion der Frage, was das „AllerEdelste Nass der gantzen Welt“ sei, auf. Seine Kontrahenten – der Lüneburger Kirchenlieddichter Franz Burmeister in der Maske des „Sylvander“ und „Kurander“ alias Balthasar Kindermann – votieren
474 Die Monatsgespräche waren auf 12 Bände angelegt, jedoch starb Rist nach Fertigstellung des sechsten Bandes. Die Fortsetzung besorgte Erasmus Francisci. Vgl. Jericke (Anm. 473), S. 192 ff. 475 Ebd., S. 166. 476 So schildert Rist beispielsweise in der Abhandlung Das alleredelste Leben detailliert die Ordensregeln. Immer wieder greift er dabei Kritik und Anschuldigungen auf, denen er sich ausgesetzt sieht. Die negativen Fehleinschätzungen rühren daher, so legt Rist „Kleander“ und „Concord“ in den Mund, dass „unsere Ordens-Gesetze und Regulen gantz und gahr unbekant“ seien. Das alleredelste Leben (Rist, Werke IV), S. 172. 477 Garber (Statthalter, Anm. 417), S. 30.
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für Wasser bzw. Milch, Celadon jedoch für Wein. Den Sieg trägt schließlich Rist selbst alias Palatin mit seinem Plädoyer für die „Dinte“ davon. Celadon ist, wie Palatin hervorhebt, „unter meinen liben Gästen der ältiste [!] / auch der allererste […] / welchem ich als ein Kaiserlicher Hoff-PfaltzGrafe / die Poetische LorbeerKrohne habe aufgesetzet“, so dass es sich auch gebühre „das ihr zum ersten eure Meinung hievon uns zu verstehen gebet.“⁴⁷⁸ Natürlich handelt es sich um ein rhetorisch inszeniertes Gespräch, doch mag Celadons Reaktion auf Palatins Anweisung die Struktur des Elbschwanenordens und in diesem Zusammenhang Greflingers Verhältnis zu Rist spiegeln: „Dises wird sich gahr nicht schikken / antwohrtete CELADON, das ich von diser Materi zu reden / den Anfang mache / billig mus dasselbe unser Kröhner thun / als welchen wir alle drei gleichsam für unseren Vater erkennen / wollen uns demnach hertzlich gern von ihme lehren und unterrichten lassen.“⁴⁷⁹ Im Folgenden belehrt Celadon in großer Ausführlichkeit und mit ausgesprochener Expertise die Gesprächsteilnehmer über die Vorzüge des edlen Getränks sowie die Beschaffenheit der verschiedenen Rebsorten. Dass er den Part des Weinverteidigers übernimmt, wundert die Mitgesellschafter indes kaum. So ruft Kurander entsprechend amüsiert aus: „Oho […] das gedachte ich wol / das ein solcher Außschlag von unserem Celadon würde erfolgen / ich wuste es schon vorher / das er dem Wein für allen Dingen den Vorzug würde geben.“⁴⁸⁰ Greflinger scheint seinerseits mit der Rolle, die Rist ihm in den Monatsgesprächen zuschrieb, durchaus einverstanden zu sein, inszeniert er sich in seinen Liederbüchern und auch in manchem Casualcarmen doch gerne als anakreontischer Poet mit Hang zum Rebensaft. Entsprechend gibt er sich auch in dem Ehrengedicht, das dem AllerEdelste Nass vorangestellt ist, als Weinliebhaber. Wie in einigen der vorgestellten Hochzeitsgedichte schildert Greflinger hier eine genrebildartige Weinschenkenszene: Celadon berichtet in leutseliger Runde im „grossen Keller“ – gemeint ist offenbar der Hamburger Ratsweinkeller, dessen Hauptmann Rist die Schrift gewidmet hatte⁴⁸¹ – von der Diskussion in Wedel, am nächsten Morgen jedoch „war das Heupt sehr schwer zu heben / Und da bedacht ich auch was Geld war ausgegeben“. Diese Erfahrung führt zur Bekehrung des Trinkfreundes: „Der Edle Rist hat recht / Die Dint’ ist edler Naß als alles Wein
478 Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt […]. Eine Jänners=Unterredung Beschrieben und fürgestellet von Dem Rüstigen. Hamburg / In Verlegung Joh. Naumanns Buchh. Im Jahre 1663 (Rist, Werke IV), S. 56. Tatsächlich ist Greflinger zur Erscheinungszeit der Monatsgespräche über 40 Jahre alt, Kindermann und Burmeister sind Mitte 20. 479 Ebd., S. 57. 480 Ebd. 481 Das alleredelstes Nass dediziert Rist drei Freunden, darunter Joachim Flagg, Hamburger Hauptmann des Weinkellers.
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Geschlecht.“ Doch wolle er „gleichwol kein Feind des Weines werden“ und nimmt sich auch für die Zukunft vor, nach geleisteter Schreibarbeit in seine Stammkneipe, „nach meinem Hansen zu schlendern“, um sich „dann ein Römmer Wein“ zu genehmigen.⁴⁸² Freilich unterschlägt man die traditionsgebundene, literarische Inszenierung des Textes, wenn man hier ein authentisches Selbstportrait Greflingers vermuten würde. (Ob er tatsächlich passionierter Weintrinker war, der gerne auch mal zu tief ins Glas geschaut hat, lässt sich aus literarischen Texten freilich nicht schlussfolgern). Aber dieses Ehrengedicht wie auch die Darstellung Celadons in den Monatsgesprächen, zeigen, welcher Dichterrolle Greflinger im Kreis des Elbschwanenordens übernahm. Er ist der Dichter, der mit seinem „freye[n] lustige[n] gemuete“ ganz im Opitz’schen Sinne zur „Lyrica“ taugt; zu den Liedern also, die „taentze / banckete / schoene Menschen / Gaerte / Weinberge / lob der maessigkeit / nichtigkeit des todes / etc. Sonderlich aber vermahnung zue froeligkeit“ thematisieren.⁴⁸³ Freilich ließ sich Greflinger nicht auf dieses Profil reduzieren. In eine völlig verschiedene Rolle schlüpft „Celadon“ beispielsweise als Verfasser der Verschronik vom Dreißigjährigen Krieg und als Künder von Rists Tod: Es scheint sich um Rists innercycle seiner letzten Lebensjahre zu handeln, der im Anhang an Hudemanns Leichenpredigt mit „Traur=Gedichten So Theils bei / theils nach der Beerdigung […] Herrn JOHANIS RISTII sind verfasset und herauß gegeben“ als Kollektiv der „getreuen Freund[e] und Bekandt[e]“ auftritt – neben dem langjährigen Amtskollegen aus Quickborn Andreas Gödeke⁴⁸⁴ und dem Dänischen Hofprediger Gerlach Siassius, sind es die Elbschwanen-Gesellschafter Konrad von Hövelen, Constantin Christian Dedekind und eben Greflinger.⁴⁸⁵ Letztere unterzeichnen mit ihren Ordensnamen Candorin, ConCorD und Celadon. Grefligers Beiträge – Kaldenbach, der sich bisweilen ebenfalls „Celadon“ nennt, hat
482 Ehrengedicht zu Das AllerEdelste Nass der gantzen Welt, S. 19 ff. 483 Martin Opitz: Das Buch von der deutschen Poeterey. Studienausgabe mit Dokumentenanhang, Anmerkungen und Nachwort. Hg. von Herbert Jaumann. Stuttgart 2002, S. 33. 484 Gödeke, der in seinem Trauergedicht von einer 29-jährigen Freundschaft zu Rist spricht, steuerte seit 1646 immer wieder Ehrengedichte zu dessen Werken bei, z. B. zur Alleruntertänigsten Lobrede auf den Kaiser Ferdinand III. Wedel 1646, zu dem erwähnten Lehrgedicht Holstein vergiß es nicht. Wedel 1646, zu den Liederbüchern Neue Musikalische Fest=Andachten (1655), Neues Musikalisches Seelenparadies (1660) und den Passions Andachten (1664). 485 Über den Beiträger Georg Nicolai konnte auch Steiger in seiner Edition keine Auskünfte geben, außer dass er in Hamburg gewirkt und sich als Übersetzer eines Epicediums betätigt hat. (Rist, Leichenpredigt, S. 271, Anm. 228).
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mit diesem Leichengedicht nichts zu tun⁴⁸⁶ – stehen an zweiter und dritter Stelle des Kollektivwerkes. Sie repräsentieren die beiden wichtigsten Eckpfeiler seines literarischen Werkprofils, indem das erste Gedicht als Trauerlied des Musenchors gestaltet ist, das zweite als eine poetisch überformte Zeitungsmeldung: Des Nordischen Mercurij Poetische Stunden Jn den Monathen Septembri und Octobri. Des Hochberühmten Herrn Johann Ristens Todes Verkündigung.
Greflinger präsentiert diesen Beitrag zunächst als Berichterstattung, indem er die Beerdigung in Wedel schildert: […] Was Leyd / was Trauer=Aug / was Winseln und was Ach Was Lob=Spruch folgte nicht Herr Ristens Leiche nach! Die greisen Geistlichen beklagten ihren Bruder / Die Wedler weineten umb jhres Kirch=Schiffs Ruder / Umb ihren Vater / Artzt / und treuen Prediger / Die Frembden welche sich / nicht etwann ungefehr / O nein / aus lauterm Leyd / in mehr als zwantzig Wagen Hierzu verfügten / um Herrn Risten Leid zu tragen / Die fülleten den Platz der Kirchen seufftzend an. Es klagten auch sehr viel umb diesen grossen Schwan […] Kurtz Predigt / Musick / Volck / und das beliebte Hauß War Klag und Traurigkeit. Die Reden in der Predigt / Vom Probst Herrn Hudemann / den Gott sehr groß begnädigt Wann Er solch Ambt bedient die werden zweiffels frey Jm Druck auch Zeigen seyn: Wie Er gestorben sey […].
Adressat der „Verkündigung“ sind offenbar die Ordensbrüder, die sich augenscheinlich an dem Begräbnis ihres Oberhaupts nicht ausreichend mit poetischen Trauerbekundungen beteiligt hatten. Greflinger sah sich vermutlich als Erstgekrönter und eines der ältesten Mitglieder des Schwanenordens in einer Art Sprecherfunkion zu der Annonce, verbunden mit einer Anmahnung, genötigt:
486 Es soll im Folgenden auch deutlich werden, dass nur der Dichter-Journalist als Autor zweier Epicedien in Frage kommt und keineswegs, wie Steiger in seiner Edition vermerkt, Christoph Kaldenbach. Hudemann, Leichenpredigt, S. 259, Anm. 150 und 155.
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Also ist unser Rist bey uns begraben worden. Jhr Teutschen Musen Jhr / und Jhr im Schwanen=Orden / Jch zeig euch diesen Todt durch diese Rede an / Thut nun hiebey die Pflicht / die noch nicht ist gethan / Und wünschet auch aus Treu zu diesem werthen Nahmen / Daß GOTT und König sich dem hinterlaßnen Saamen Genädiglich bezeug / und darumb weil Herr Rist Jn solchem allbereits wohl abgebildet ist. Apollo hat es mir also zu thun befohlen / Daß Euch Herr Ristens Todt nicht länger sey verhohlen / Es ist auch meine Pflicht sein Lob und übrig Blut Zu lieben / als ein Sohn / bey seinem Vater thut. Celadon
Festzuhalten bleibt also, dass Greflinger bis zu Rists Tod in freundschaftlicher Verbindung zu diesem stand. Er erblickte in dem Wedeler Pastor eine Autorität, der er viel zu verdanken hatte. Rist seinerseits sah auch in Greflinger einen seiner wichtigsten Vertrauensleute, wobei ihm das vielfältige literarische Programm seines Erstgekrönten durchaus sympathisch gewesen sein muss. Die Rolle, die Greflinger im Rist-Kreis somit spielte, wurde bislang von der Forschung unterschätzt. Auch auf einer jüngst abgehaltenen Tagung, die die sozialen Netzwerke sowie die Lieddichtung Rists ins Zentrum gestellt hatte, fand Greflinger keine Erwähnung, was nicht zuletzt mit der genannten Fehlzuschreibung in der jüngsten Rist-Forschung zu tun haben dürfte.⁴⁸⁷
9.3 Kontakte zur Hamburger Bürgerschaft: Casualia In den ersten Hamburger Jahren ist Greflinger als Gelegenheitsdichter sehr produktiv. Christoph Walther, seinerzeit Hamburger Stadtarchivar, erstellte 1883 in seiner Rezension zu von Oettingens Monographie eine Auflistung der in Hamburger Bibiotheken befindlichen Greflinger-Gelegenheitsdrucke. Der Großteil dieser Werke gehörte der Behrmannschen Sammlung (Georg Behrmann, 1704–1757) der Hamburger Stadtbibliothek an. Dem Untergang dieser Kulturschatzhüterin im Sommer 1943 fielen auch die großen Bestände des Hamburger Gelegenheitsschrifttums anheim, somit etwa auch ein großer Teil der Greflinger
487 Einen kurzen Tagungsbericht zu dem Symposion „Johann Rist – Profil und Netzwerk eines Pastors, Dichters und Komponisten der Barockzeit“ (Hamburg, 2.–5. Mai 2013) ließ mir Prof. Klaus Garber dankenswerterweise zukommen.
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Gedichte.⁴⁸⁸Aus diesem Grund ist man auf die Beschreibungen und Angaben bei Walther angewiesen, die jedoch einen sehr verlässlichen Eindruck machen. Aus dieser Aufstellung ergibt sich, dass Greflinger in seinem ersten Hamburger Jahr, 1647, (mindestens) siebzehn Gedichte auf Begräbnisse oder Hochzeiten verfasste und bis Ende der 1650er-Jahre seine Produktion von Casualgedichten auf jährlich nahezu fünfzig Carmina steigerte.⁴⁸⁹ Geht man von einer Dunkelziffer weiterer Gedichte aus, die aus verschiedenen Gründen in den von Walther untersuchten Beständen nicht enthalten waren, darf man mit mindestens 400 Gelegenheitswerken rechnen, die Greflinger in seiner Hamburger Zeit verfasst hat. Es nimmt daher nicht wunder, dass er gegenüber Vorwürfen, die man von verschiedenen Seiten gegen das Dichten bei Gelegenheit erhob, Selbstbewusstsein demonstrierte: Hört an / ich will euch was zu eurer Hochzeit schreiben Und zwar von freyer Faust Es solte wol verbleiben / Weil mancher spöttisch ist / Wann er ein Carmen sieht Und solches sehr gespitzt durch seine Hechel zieht. Ein andre / die gar klug will angesehen werden / Besihet so ein Carn [!] mit spöttischen Geberden Und fraget: Dient het ock tho eten? Warumb nicht? Wann Lust vorhanden ist / ist es ein glat Gericht Und macht nicht leichtlich ful. Was soll ich machen? lachen. Und an anderer Stelle: Trank / Speis und alle Sachen / Die auf der Hochzeit sind Vergehen den andern Tag / Ein Carmen aber bleibt […].⁴⁹⁰
Um so schockierender muss daher 1658 der Inhalt eines Erlasses gewesen sein, mit dem die Hamburger Obrigkeit sozialdisziplinierend in den grassierenden Brauch des Casualdichtens eingriff. Auf Hochzeiten oder „zur Leichen“ durften von nun an keine Carmina mehr verfasst und gedruckt werden⁴⁹¹ – eine durchaus existenzbedrohende Situation für den ‚freischaffenden‘ Autor, dem zunächst nichts anderes übrig blieb, als der Restriktion Folge zu leisten: Mit dem Jahr 1659 endet die Titelauflistung von Walther abrupt; erst Mitte der 1660er-Jahre finden
488 Vgl. Garber (Hamburger Stadtbibliothek, Anm. 87). 489 Walthers Liste (Anm. 85, S. 80–89) zählt für das Jahr 1647: 17 Carmina, 1648: 21 Carmina, 1649: 31 Carmina 1652: 46 Carmina;. Vgl. auch DÜNNHAUPT III, S. 1698–1750. 490 Zitiert bei Walther (Anm. 85), S. 115. 491 Zitiert bei ebd., S. 92.
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wir wieder einige Epicedien und wenige Epithalamien aus Greflingers Feder. Bis zu seinem Todesjahr 1677 weist das Verzeichnis weniger als ein Zehntel der Gesamtproduktion der Casualia auf.⁴⁹² Glückwunschgedichte waren von dem Verbot nicht betroffen, so dass Greflinger in den folgenden Jahren mehrere Gratulationscarmina verfasste und damit seine Einnahmen aufstocken konnte – zum Beispiel anlässlich der Berufung eines Professors am Akademischen Gymnasium (1660), der Promotion eines Hamburger Bürgerssohns an der Universität Straßburg (1660), von Ratsherrenund Bürgermeisterwahlen (1664, 1676) und der Rückkehr einer Gesandtschaft vom Wiener Kaiserhof, die dort eine Anerkennung Hamburgs Status als reichsunmittelbare Stadt erreicht hatte (1665). Nur in wenigen Fällen missachtete er das Verbot. So lässt Greflinger es sich nicht nehmen, den Tod des Hamburger Hauptpastors Johann Balthasar Schupp 1661 in einem Epicedium zu beklagen, das er aber vorsichtshalber nur mit „G. G.“ signiert. Gegen Ende des Jahrzehnts wurden die Auflagen offenbar gelockert und ab 1668 tritt Greflinger wieder verstärkt als Casualdichter in Erscheinung. In mehreren Texten lamentiert er über die Folgen des Mandats. Handelt es sich bei den Adressaten um Ratsmitglieder, zeigt er auch die Nachteile des Verbots für dessen Urheber auf, rühre es doch an die ureigenste Legitimität und Würde der Casualpoesie, deren Funktion darin besteht, den flüchtigen Augenblicken des menschlichen Lebens ein Stück Ewigkeit zu verleihen: Dass ich Herrn Petersen, den liebgewessnen Mann So ungeehret nicht zur Gruben lassen kann / Macht seine mier vor dem sehr offt bezeigte Güte / Sein Landbekannter Werth, mein danckbares Gemüthe […] Stirbt aber so ein Mann / als dieser Weise war So gebt ihm etwas mehr / als eine Todten-Baar /
492 Hintergrund des Verbots ist die Rückkehr des Kriegsgeschehens nach Norddeutschland seit 1657 (Dänisch-Schwedischer Krieg). In dieser Situation leistete sich Christoph Hering, Greflingers Hauptkonkurrent auf dem Hamburger Casualia-Markt, einen gehörigen Fauxpas, indem er sich in einem Hochzeitscarmen Unbotmäßigkeiten gegenüber dem dänischen König erlaubt hatte. Dies veranlasste die Hamburger Obrigkeit, einzugreifen, wie es in einer Hamburger Chronik heißt: „Am 20. März [1658] ward ein Poet, Christoph Hering, sammt dem Drucker Christoph Daelern auf den Baum gesetzt, wegen eines Gedichtes auf des Artillerieschreibers Pintzier Hochzeit, in welchem schimpflicher Weise von König Friedrich III. gesagt ward, er verstünde besser zu Hause Kinder zu wiegen, als Krieg zu führen.“ Schupp schaltete sich darauf hin ein und erlangte die Begnadigung Herings, jedoch hat der Rat „am 30sten durch ein Mandat bei Strafe alle Hochzeits= und Leichencarmina verbieten“ lassen, „was auch eine Zeitlang beobachtet worden ist.“ Johann Gustav Gallois: Chronik der Stadt Hamburg und ihres Gebiets. Hamburg 1862, S. 257.
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Damit / wenn nach der Zeit sein Fleisch und Hauss zerstäuben / Dass sein Gedächtnis mög’ auff Erden übrig bleiben / Ihm und den Seinigen zu gutem Ruhm und Lob. Ein guter Nahme siegt dem Tod und Schänder ob.⁴⁹³
Auch andere Autoren reagierten auf das Verbot. So stehen die umfangreichen polemischen Passagen gegen die „Hümpler und Kunstschänder“ in der Vorrede von Rists geistlichem Liederbuch Neues Musikalisches Seelenparadis unverkennbar in diesem konkreten Kontext. Rist macht sich hier zum Anwalt seiner Kollegen und Protegés.⁴⁹⁴ Es ist nicht auszuschließen, dass Rists kritischer Kommentar zu einer Lockerung des Verbotes beigetragen hat. Als es um die Mitte der 1660er-Jahre zu einer ‚Revision‘ gekommen war, schlägt Greflinger vorwurfsvolle Töne an: 1. Vermooste Musa von der Zeit / Darinnen du verschwiegen / Und in beschlossner Traurigkeit Viel Jahre mustest liegen, Davon du gleichsam moosig bist / Wie ein versäumtes Bäumlein ist. […].⁴⁹⁵
Dass auf diesen Zusammenhang etwas ausführlicher einzugehen war, hat folgende Bewandtnis: Greflinger musste sich infolge des Casualia-Verbotes um Alternativen bemühen und es gelang ihm gewissermaßen, aus der Not eine Tugend zu machen. So wandte er sich verstärkt der Zeitchronistik zu und gründete schließlich ein eigenes Zeitungsunternehmen, den später genauer zu betrachtenden Nordischen Mercurius. Doch vorerst noch einmal zurück zu den Gelegenheitsgedichten. Einige Greflinger-Casualia befinden sich heute in der Hamburger Commerzbibliothek. Vergleicht man diese mit den frühen Danziger Gedichten, fällt zunächst vor allem der größere Umfang der einzelnen Werke auf.⁴⁹⁶ Bereits in den
493 Epicedium auf den Hamburger Syndicus Joachim Petersen, bestattet am 20. August 1658 [ehemalige Stadtbibliothek Hamburg, Kriegsverlust]. Zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 92. 494 Neues Musikalisches Seelenparadis, Nützlicher und nothwendiger Vorbericht, C VIIIr. 495 Epthalamium für Eberhard vom Campe und Agneta Stampeel geb. Langwedel, 28. Mai 1666 (ehemalige Stadtbibliothek Hamburg, Kriegsverlust). Zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 92 f. 496 Hier kann infolge der Kriegsverluste nur auf einen sehr kleinen Teil des Gesamtkorpus Bezug genommen werden. Neben den Drucken aus der Hamburger Commerzbibliothek, die ich
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oben beschriebenen Casualia, die Greflinger von der Elbe an seine Danziger Bekannten sendet, war diese Tendenz zur Extension erkennbar. Demonstrative Gelehrsamkeit und eine zur ausufernden Amplifizierung neigende Darstellung zeichnen die langen Alexandrinergedichte auf Sterbefälle und Hochzeiten aus. Oft werden über lange Passagen hinweg Weisheiten antiker Autoritäten wie Heraklit und Demokrit rekapituliert. In einem Epicedium wird eine Übertragung des berühmten dilemmatischen Ausspruchs des Euripides (Frg. 638,1), dass das Leben Sterben, das Sterben Leben sei, in theologisch beflissener Manier mit dem christlichen Erlösungsgedanken verbunden, um den konsulatorischen Teil einzuleiten.⁴⁹⁷ Daneben stehen eine Reihe liedhafter Carmina. Bisweilen werden beide Formen kombiniert, Dialoge hinzugestellt und Rätsel beigefügt. Oft wechselt Greflinger zwischen gebundener Rede und Prosa. Diese formalen ‚Mischtypen‘, die einem bereits in den früheren Danziger Gedichten begegnen, findet man nicht nur bei Greflingers Hochzeitsgedichten, auch die Trost- und Trauergedichte kombinieren Alexandriner-Passagen mit liedhaften Odenstrophen, in denen zum Beispiel der hinterbliebene Ehegatte und die Kinder ihr Leid zum Ausdruck bringen, worauf der oder die Verstorbene in Form einer ‚oratio ficta‘ mit einem Trostgesang antwortet.⁴⁹⁸ Überhaupt zeichnen sich viele von Greflingers anlassbezogenen Gedichten – vor allem im Rahmen der lockeren Gattungskonventionen des Epithalamiums – durch Einfallsreichtum und formale Experimentierfreudigkeit aus. Hier findet man die verschiedensten Strophenformen und metrische Extravaganzen. Man begegnet aber Formexperimenten gelegentlich auch in Epicedien.⁴⁹⁹
vor Ort einsehen konnte, beziehe ich die von Walther beschriebenen, jedoch nicht abgedruckten Werke in meine Darstellung mit ein. 497 „Da sagt Euripides […]: So bald der Mensch kommt in die Welt | Alsbald er in viel Jammer fällt | Man weine / wann er Leben kriegt | Und jauchze wann er todt erliegt. Euripides sagt recht / | wann wir uns recht bedenken. […] So ist es Christlicher daß man das trauern schlüsse […].“ Grabgetichte Der Viel=Ehr und Tugendreichen Frauen Catharina […] Des […] Herrn Joachimi Mullz / JU. Licentiati. Ehelichen Hauszfrauen. […] Aufgesetzet von Georg Greflingern Regenspurgern. Hamburg / […] 1649. Commerzbibiothek Hamburg. S /281, Bd. III, 93. 498 Walther (Anm. 85), S. 118. 499 So wechselt das Trauergedicht auf Gertrud Sylm nach einer langen Einleitungspassage in jambischen Vierhebern, die mit einem schlichten Sprachduktus korrespondieren („Geliebter / Hochbetrübter Herr / | Euch billig geht zu hertzen sehr“ usw.), zu Alexandrinern, die nach jeweils vier Versen von zwei Versen in jambischen Dreihebern unterbrochen werden. Dabei wird im heroischen Metrum auf einer allgemeineren Ebene reflektiert, in den Kurzversen wiederum auf den Spezialfall: „Ist jemand in der Welt der seiner Liebsten sterben Als sein selbst eigenen Hertz / das jetzo sol verderben / Auffs eusserste beklagt / und meint er sey der Mann
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Diese Varianten beschreibt Walther zusammenfassend auf Grundlage einer heute nicht mehr zur Verfügung stehenden Materialbasis von etwa 400 Gedichten: „G. [Greflinger] hat jambische, trochäische und daktylische metren und strophen von sehr verschiedenen längen, er setzt aus lang- und halbzeilen neue masse zusammen, er bringt sonette und echonische oden, er verwendet nicht selten zu einem gedichte drei oder vier verschiedene versmasse.“⁵⁰⁰ In einem Trauergedicht macht Greflinger poetologische Vorgaben für das Verfassen von Epicedien selbst zum Thema, wobei eine schalkhafte Pointe nicht fehlen darf. Im Wesentlichen komme es darauf an, die menschliche Sterblichkeit generell zu behandeln und anschließend auf den konkreten Trauerfall einzugehen, indem man darüber berichtet, Wer dieser Leichnam war / den man zu Grabe träget Wobey man seines Lauffs wol zu gedencken pfleget; Was sein Gebrechen war (weil hier kein’ Engel seyn) Verschweiget man und legts mit solchen untern Stein.⁵⁰¹
Für die vanitas-Bildlichkeit, die in einem allgemeinen Teil auftreten kann, greift Greflinger konventionelle Topoi auf, ersinnt aber auch spezifische Metaphern und Vergleiche: Die Menschen sind „Thierlein, die am Hipanimer Fluss / Entspriessen und nicht mehr als wenig Stunden leben“, Alexander habe nicht durch seine Milde, Hektor nicht durch seine Tapferkeit, Cicero nicht durch seine Beredsamkeit den Tod abwenden können. In einem Leichengedicht wird zur Ausgestaltung des vanitas-Gedanken die Überlegenheit der Tiere reflektiert, wobei Greflinger ein breites naturkundliches Wissen ausbreitet, das interessanter Weise zum Teil sogar wörtlich mit dem 47. Kapitel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch („Von Verstand und Wissenschaft etlicher vernünftiger Tiere“) übereinstimmt.⁵⁰²
Dem Gott im Alter hab ein grosses Leyd gethan / So scheinet wahrlich Ihr Herr Syllm ein solcher hier […].“ (Zeugniß über das Leben und Sterben | Der | Viel Ehr und Tugendreichen | Frauen | Gerdruten Langebeckin / | Des Ehrvesten … Herrn | Hein Syllms | Hertzliebgewesenen Haußfrauen. | Welche den 13. August 1647. in Christo seelig | entschlaffen ihres Alters 52. | Jahre. Hamburg /| Gedruckt bey Jacob Rebenlein. [Unter dem Gedicht: „Zu letzten Ehren geschrieben von Georgio Greflinger aus Regenspurg]). Commerzbibliothek Hamburg. S /281, Bd. III, 172–175. 500 Walther (Anm. 85), S. 115. 501 Zitiert nach ebd., S. 116. 502 „Hat solche die Natur nicht reichlicher beschenket | Als uns? Hat nicht der Löv die Grufft / den Wald das Wild | Die Schneck ihr kunstlich Hauß / die Schildkrödt ihren Schild? | Wir aber
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An anderer Stelle mahnt er, dass wie „eurer Börsche [gemeint ist die Hamburger Börse] Bäum in Winterzeit vergreisen“ auch das menschliche Leben unaufhaltsam vergehe; „schleunig wird die Lust zum Leyde“, weshalb Hadrian stets die Totenbahre mit sich geführt habe. Aber man brauche den Tod nicht fürchten: Ich muss nicht wenig lachen / Dass mancher Mensch den Todt so sehr pflegt auszumachen. Dem heißt er Nimmersatt / Fraass / Würger / Klapperbein / Dem muss er Räuber / Dieb / Feind / Raser / Mörder seyn. Wer kann die Lapperey / womit sie sich zerkräncken / Dem Tode weh zu thun / zu hauffen so bedencken. Ich bin des Wiederspiels / ich sage stets / der Tod Sey unser bester Freund und Töhter unsrer Noth.⁵⁰³
Teile eines Gedichts werden meist individueller gestaltet, wenn Greflinger den Verstorbenen persönlich kannte. Bisweilen berichet er dann über gemeinsame Gespräche oder dankt der Familie, wenn es sich um Gönner handelt. „Besarkt“ – Greflinger ist ein Meister des Neologismus⁵⁰⁴ – er ein Mitglied aus einer bedeutenden Familie, rühmt er deren Leistungen für die Stadt und schildert familiengeschichtliche Hintergründe, beispielsweise wie Familienmitglieder als Kriegsflüchtlinge nach Hamburg gelangten oder aus religiösen Gründen ihre Heimat verlassen hatten. Bedichtet er eine ihm offenbar unbekannte Person, wirken die Formulierungen erwartungsgemäß stereotyper. Gespür für den ‚richtigen Ton‘
haben nichts […] | Die Amseln / wann sie voll von Feuchtigkeiten seyn / | So machen sie den Leib mit Lorberblättern rein. | Den Hirschen siehet man zum wilden Polch eilen | Wann er verwundet ist sich wieder zu heilen. | Und eh ein Wieselein mit einer Feldmaus kämpfft | So wird sein blödes Hertz druch Rauten vorgedämpfft. | Wann sich die Schlange blöd an dem Gesichte märcket | So isst sie Fenchel ein / der das Gesichte stärcket. | Wann sich der Storch verstopfft befindet / nimt der Mos | Von Bäumen / macht damit sich in dem Leibe los. | Sol das clystiren nicht von einem Storche kommen. […].“ Grabgetichte | Der Viel=Ehr und Tugendreichen | Frauen | Catharina […] Des […] Herrn | Joachimi Mullz / JU. Licentiati. | Ehelichen Hauszfrauen. | […] Aufgesetzet von | Georg Greflingern Regenspurgern. | Hamburg / […] 1649. Commerzbibiothek Hamburg. S /281, Bd. III, 93. 503 Zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 117 [Epicedium auf Hieronymus Caspar Möller, 1653. Stadtbibliothek Hamburg. Kriegsverlust]. 504 Bevorzugt kreiert er neue Verben mit dem Präfix „be-“, z. B. „bekinden“: „Ihr habt zuvor gehöret Wie Rom / Wo ihr nicht längst gewesen / die geehret / Die sie bekinderten“. (Getichte zum Hochzeitlichen Feste des Edlen und vesten Herrn Herrn Franz Heinrich Witzen=dorffs / Des edlen […] Herrn Statz Friederich Witzendorffs / Der Hochlöblichen Stadt Lüneburg Herrn Burgermeisters ehleiblichen Sohns […] und Der […] Jungfrauen Ilse Sofie Elvers […] Getrauet Lüneburg den 28. Aprilis 1651. Im Durchzog wohlmeinend überreicht vom Georg Greflinger / Regensburger Caesario Notario. Hamburg / Gedruckt bey Jacob Rebenlein.).
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zeigt Greflinger hingegen beispielsweise in einem Gedicht auf den Tod eines jungen Mädchens im November 1652: Aus Trauer habe „die Flora sich sehr hoch und theuer verschworen / Kein eintzigs Blümelein zu bringen an das Liecht / Biss dass die Sonne erst verwandelt ihr Gesicht / Umb ihrentwillen nur“.⁵⁰⁵ Dass Greflinger gerne auf Zeitereignisse anspielt, war bereits in den nach Danzig geschicketen Glückwunschgedichten bemerkt worden. Weitere Beispiele findet man auch in den Werken für Hamburger Adressaten. So referiert Greflinger in einem Gedicht aus dem Jahr 1653 auf die Seeschlacht zwischen Engländern und Niederländern im selben Jahr, bei der man „die See gantz roth gefärbt mit Menschen-Blut / die Leichen ohne Zahl dort schwimmen in der Fluth“ gesehen habe.⁵⁰⁶ Manche Casualia sind auch mit aufwendigen Bildelementen versehen: Das Epithalamium für den späteren Ratsherren Eberhard vom Kampe (1655) ist mit einem Kupferstich ausgestattet. Der Künstler ist Hans Martin Winterstein, welcher auch den Stich für Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg anfertigte. Pallas führt den Bräutigam, es folgt Cupido auf einem mit Löwen bespannten Wagen.⁵⁰⁷ Für einige Traueranlässe ersinnt Greflinger Figurengedichte, bei denen die Verse des ganzen Epicediums oder einer beigefügten Grabschrift in Form eines Kreuzes, eines Altars oder einer Pyramide angeordnet sind. Gerne schlägt er auch einen deftigen Ton an, so in einem Carmen auf die Hochzeit des Pastors und Lehrers an St. Jacobi, Vincent Kroll, in dem er zu seinem Glaubensbruder über den katholischen Zölibat lästert.⁵⁰⁸ Erfinderisch zeigt sich Greflinger, wenn es um die obligatorische Thematisierung des Zeitdrucks, unter dem ein Casualcarmen entsteht, geht: Mal plagt ihn das Fieber, mal die Melancholie, bisweilen hält ihn die Krankenwache bei seinen Kindern vom Schreiben ab, manchmal ist es schlicht das schlechte Wetter.⁵⁰⁹ Gilt es ein Trauergedicht auf ein totes Kind zu verfassen, erwähnt Greflinger selbsterlebtes Leid. So in einem Trostlied an die Eltern, die ihre Tochter verloren haben: […] Es ist ein grosser Schmertz Ein Bein, Hand oder Arm vom Leibe lassen schneyden, Doch ist ein Kinds Verlust fürwar kein minder Leyden / Ich hab es auch versucht. Es ist ein Schnitt ins Hertz / Ein mächtiger Verlust und unbeglaubter Schmertz.
505 Zitiert nach Walther (Anm. 85) S. 119. [Epicedium auf Gerdrudt Langermann. (1652). Stadtbibliothek Hamburg, Kriegsverlust]. 506 Zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 77. Kriegsverlust. 507 Kriegsverlust, beschrieben bei Walther (Anm. 85), S. 99, Anm. 1. 508 Commerzbibliothek Hamburg. S /279, 48. 509 Walther (Anm. 85), S. 93.
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Ich richt’ euch hier aus mier / ich weiß was ich betrieb / Da mier der Tod ein Pahr aus meinem Garten hieb.⁵¹⁰
Eine ähnliche Selbstaussage trifft Greflinger in einem anderen Epicedium, das er an einen guten Bekannten richtet: Dass seiner Tochter Tod / Herr Kay / ihm grosse Schmerzen Errege / weiss ich wohl aus meinem eignen Herzen. Es schmerzt ein kleines Kind / Wie ich auch zwey vermisse, Und eben diese sind / mier annoch Herzens-Risse.⁵¹¹
„Ich weiss was Donderknall / An unser Hertze schlägt wann wier ein Kind verlühren“ heißt es an anderer Stelle.⁵¹² Gewiss gehören derartige Bekundungen zum topischen Bestand von Kinder-Epicedien. Dennoch ist es durchaus anzunehmen, dass sie sich auf reale Gegebenheiten beziehen und sich hinter dem rhetorischen Gewand gerade in solchen Passagen ein Stück der Autorpersönlichkeit offenbart. Verlor Greflinger also mehrere seiner Kinder schon in jungem Alter, berichtet er 1664 in einem Gelegenheitsgedicht, eine „Rey von Kindern“ zu haben, kurz vor seinem Tod spricht er von den Seinigen „als einer guten Zahl.“⁵¹³ Feststeht, dass zwei Söhne, Conrad Friedrich und Franz Ludwig, das väterliche Zeitungsunternehmen nach Greflingers Tod weiterführten. In der Liedersammlung Poetische Rosen und Dörnern ist außerdem ein Gebetslied „Vor seine kleine Tochter“ betitelt und die Sammlung Celadonische Musa lässt Greflinger von seinem Sohn Johann Georg herausgeben. Über weitere Nachkommen sind wir nicht unterrichtet. Geheiratet hat Greflinger möglicherweise kurz nachdem er 1649 zum Notarius Publicus ernannt worden war. Die Behrmannsche Sammlung der Hamburger Stadtbibliothek bewahrte ein 1650 anonym publiziertes Hochzeitsgedicht auf, das laut Walther ein Epithalamium Greflingers auf seine eigene Heirat darstellt.⁵¹⁴ * Welche Vorbilder Greflinger, der durch den Besuch einer Lateinschule und sein Studium mit den antiken und humanistischen Autoren vertraut war, in seinen
510 Zitiert nach ebd., S. 97 [Epicedium auf Johanna Florentina Anckelman. 24. November 1652. Stadtbibliothek Hamburg. Kriegsverlust]. 511 Zitiert nach ebd. 512 Zitiert nach ebd. 513 Zitiert nach ebd. 514 Ebd., S. 94.
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Casualia im Einzelnen imitierte, kann an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachgewiesen werden. Erwähnt seien jedoch noch drei Gedichte, die Übertragungen aus Jacob Cats Trou-ringh darstellen.⁵¹⁵ So greift Greflinger mehrfach auf die von Cats popularisierte indische Legende der Mädchenversteigerung zurück (Vryster-Mart), gestaltet die Vorlage jedoch aus.⁵¹⁶ Auch Cats Maeghdenroof van de Benjamiten und Gront-houwelick verdeutschte Greflinger für Hamburger Epithalamien.⁵¹⁷ Schließlich übernimmt Greflinger von Cats das bukolische Alexandriner-Gedicht Roosen-krygh mit einer Liedeinlage. In einen umfangreichen Hochzeitsbeitrag, die Neptunische Masquerada,⁵¹⁸ in der der Meergott mit Venus ein amüsantes Streitgespräch führt, bindet Greflinger ein Epigramm ein, das seine literarische Bildung erneut unterstreicht:⁵¹⁹ Es lehnt sich sowohl an ein Stadtlob des Hamburger Humanisten Johann Huswedel an, legt aber auch die Kenntnis des berühtem Venedig-Lobs Sannazaros offen, das auch Huswedel seinerseits imitiert hatte.⁵²⁰ Die Synopse zeigt die drei Epigramme im Vergleich:
515 Eine Version sendet Greflinger an seinen Danziger Bekannten Daniel Oelhaff. Es müsste sich um denselben Oelhaff (Daniel Ölhafen/Ohlhaf) handeln, für dessen erste Hochzeit Greflinger bereits 1646 ein Gedicht verfasst hatte (HPG, 1293). Für zwei Hamburger Hochzeitsgedichte stellt er die pikant-exotische Geschichte abermals ins Zentrum. (Walther [Anm. 85], S. 122). Vgl. auch Sophie Schroeter: Jacob Cats’ Beziehungen zur deutschen Literatur. Teil I. Diss. Heidelberg 1905, S. 26–33. 516 Beschrieben wird das Gedicht aus der Danziger Bibliothek: In den am Ganges gelegenen Gegenden gibt es das Ritual der Jungfernauktion, bei der eine schöne Jungfrau, sobald sie heiratsfähig ist, in einer prächtigen Prozession den potentiellen Freiern vorgestellt wird. Der Meistbietende wird unter Jubelrufen des Volkes sogleich mit der glücklichen Braut getraut. Die Eheleute dürfen in eine freudevolle Zukunft blicken. Denn der hohe Versteigerungspreis garantiert, dass der Bräutigam die Jungfrau aufgrund ihrer Schönheit und Tugend wahrhaftig begehrt, denn „wo das Hertz hinträgt / da ist die beste Frey.“ Diese Pointe überträgt Greflinger sodann auf das Hochzeitspaar. So wie die schöne, tugendhafte indische Jungfrau ist auch die Braut „ein solches Bild / von Ehr und Sitt= / Von Jugend / Tugend / Zucht / und andern schönen Gaben“, an dem sich der Bräutigam erfreuen kann. 517 Der Grund aller Hochzeiten […] Auß Jac. Catsii Trauringe verteutscht. Zur Vermählung von Joachim Rump und Agnes Plöhn Hamburg 1652. S. DÜNNHAUPT III, S. 1722, Nr. 256 sowie Epithalamium für Wilken Wrede und Johanna Polemann. 1653. S. Walther (Anm. 85), S. 122. 518 Neptunische Masquerada auff dem Hochzeitlichen Feste des Ehrenvesten, Wolgeachten und Vornehmen Herrn Berend Jabobs Karpenfangers, Bürgers und Schiffers allhier / und der Viel Ehr= und Tugendreichen Jungfrauen Anna Harmens. Sehl. Herrn Johann Harmens, gewesenen Bürgers und Schiffers, hinterlassenen einigen ehlichen Tochter. Gehalten den 27. Februarii 1655. Aus guter Freundschafft praesentirt Von Georg Greflinger, CP & Notario. Hamburg gedruckt bey Jacob Rebenlein / im Jahr 1655. Zitiert nach Walther (Anm. 397), S. 145. 519 Geringfügig verändert auch abgedruckt im Anhang („kleinere Getichte“) der Poetischen Rosen und Dörner (Nr. 83). 520 Walther (Anm. 397), S. 146 ff.
Si Venetum spectes mediis in fluctibus urbem Hamburgum mediis aemula surgit aquis. Moenibus ambitur decorata Antwerpia celsis : Gambriviis par laus moenibus inde venit. Amstelodamum. Quam dives pontus inundat. Vidimus : Hamburgum pontus humusque beat. Urbem o felicem ! Quod si concordia regnet Dicam: praeferri jam tibi nulla potest.
Viderat Hadriacis Venetam Neptunus in undis Stare urbem et toti ponere jura mari. Nunc mihi Tarpeias quantumvis, Iuppiter, arces Objice et illa tui moenia Martis, ait. Si Tibrim Oceano praefers, urbem adspice utramque: Illam homines dices, hanc posuisse deos.
Zeigt der Venetier Stadt sich mitten in den Wellen / Hamburg wird fast also sich dir vor Augen stellen. Ligt Antorff schön umwällt und hat der Vestung Lob So ligt es Hamburg gleich, jedennoch niemals ob. Vergöldt sich Amsterdam aus des Neptunus⁵²¹ Reiche Hamburg hat des Neptuns und Ceres Reich zugleiche. O vil beglückte Stadt, bleib nur in Einigkeit. So nennt man dich mit Recht die Schönste diser Zeit.
G. Greflinger
521 In der Neptunischen Masquerada heißt es aufgrund der Sprechsituation (Neptun deklamiert): „meinem Reiche“ (ebenso im folgenden Vers).
J. Huswedel
J. Sannazaro
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Hamburg
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Eine Entsprechung der Pointe Sannazaros, dass Venedig von Göttern geschaffen sein müsse, während Rom nur Menschenwerk sei, fehlt den beiden HamburgGedichten. Greflinger scheint sich jedoch nicht nur an Huswedels Distichen orientiert zu haben, die ohne mythologische Einkleidung auskommen. Die Epiphanie des antiken Meergottes, aus dessen Mund in dem genannten Epithalamium der Lobspruch erklingt, lässt darauf schließen, dass er auch durch das berühmte Verswerk des Italieniers inspiriert wurde. Den concordia-Aufruf, „ein feste[r] Topos im humanistischen Hamburg-Lob“,⁵²² übernimmt Greflinger von dem deutschen Gelehrten. * Da zu vermuten ist, dass zeitweise drei bis vier Epicedien wöchentlich geordert wurden, nimmt es nicht Wunder, dass Greflinger das ein oder andere Gedicht recyclete, insbesondere, wenn es sich als Publikumserfolg erwiesen hatte.⁵²³ Darüber hinaus kann er wie in Danzig auch in Hamburg ‚Stammkunden‘ akquirieren. Häufig spielt Greflinger in den entsprechenden Gedichten darauf an, bereits mehrmals – sei es zur Lust oder zur Trauer – für eine Familie „gesungen“ zu haben. So hat er der Familie Sillem, die ihm von Beginn seiner Hamburger Zeit an wohl gesonnen war,⁵²⁴ mindestens achtmal ein Grabgedicht und dreimal ein Hochzeitscarmen dargebracht.⁵²⁵ Bei einem großen Anteil seiner Adressaten handelt es sich um wohlhabende Kaufleute, höhere Beamte und Advokaten. Denkbar, dass Greflinger durch sein Notariat den Kontakt mit diesen Personenkreises befördert hatte.⁵²⁶ Die Funktion eines Notars in Hamburg reichte „vom einfachen Schreiber,
522 Kolze (Anm. 340), S. 140. Kolze geht in ihrer Beschreibung des Huswedel-Epigramms (ebd., S. 135–144) nicht auf Sannazaros Lobspruch ein. 523 Auch Walther geht davon aus, dass Greflinger bestimmte Gedichte mehrfach (in leichter Abänderung) anfertigte, weil er von den Auftraggebern dazu veranlasst worden sei. Walther (Anm. 85), S. 118. 524 In einem Epicedium im Auftrag der Famile Sillem (Dezember 1655) rühmt er das Hamburger Geschlecht: „Es geht das zehnde Jahr, Gott Lob, nunmehr herein, Seyt ich der Syllmen Gunst sehr wohl genossen habe.“ Zitiert nach Walther (Anm. 85), S. 93. 525 Ebd., S. 90. 526 Ebd., S. 107. Das Amt des Kaiserlichen Notars hatte er bald nach seiner Ankunft in Hamburg übertragen bekommen. Diesen Akt vollzogen in der Regel Hofpfalzgrafen mit der sogenannten Comitiva, die also über eine Bevollmächtigung für verschiedene Rechtsakte verfügten (z. B. Legitimation unehelicher Kinder, Ernennung von Magistern, Erteilung von Wappen etc.); für Greflingers Erhebung könnte der Hamburger Hofpfalzgraf und Jurist Dietrich von Reinking (1590–1664) verantwortlich gewesen sein, doch lassen sich für diese Vermutung keine Dokumente ausfindig machen. Feststeht lediglich, dass Greflinger seit 1649 bei Publikationen seinen Namen mit dem Titel Notarius Publicus Caesarius versieht.
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der Diktiertes niederzuschreiben oder bloße Abschriften zu fertigen hatte, bis hin zum gewandten Übersetzer und […] Vertrags- oder Testamentgestalter“,⁵²⁷ wobei für letztere Aufgaben eine juristische Vorbildung vorausgesetzt wurde, über die Greflinger nicht verfügte. Auf jeden Fall handelte es sich um eine selbständige Tätigkeit, die den Lebensunterhalt nur bedingt sichern konnte und nicht zunftgemäß organisiert war. Dazu kam, dass vereinzelte Missbräuche des Amtes das Notariat in Verruf gebracht hatten und auch die Obrigkeit eher um eine Zurückdrängung der ‚Freiberufler‘ bedacht war.⁵²⁸ Dennoch hatten die kaiserlichen Notare gerade zur Hamburger Kaufmannschaft den engsten Kontakt, beispielsweise wenn es um die Beurkundungen und Beglaubigungen verschiedenster Art ging, die mit der Wirtschaft der großen Seehandelsstadt zu tun hatten. Freundschaften entwickelte Greflinger zu den Handelsfamlien Amsing und Henning; so manchen Kaufmann bezeichnet Greflinger als einen „sehr nahen Freind“. Freundschaftlich verbunden war ihm beispielsweise auch der schwedische Justizrat Andreas Schwarze, dessen zweite Ehefrau „bei ihm Gefatterin“ war. Die erwähnten Bande zu der einflussreichen Familie Sillem besiegelten ebenfalls Taufpatenschaften. Greflingers Kontakte reichten auch in die Kreise des Johanneums und des Gymnasiums, der städtischen Geistlichkeit und Künstler: die Hamburger Maler David Kindt und Gabriel Engels⁵²⁹ bezeichnet er als Gönner und Freunde, dem aus Straßburg stammenden Medailleur Sebastian Daddler widmet er ein Epicedium, in dem er ihn als väterlichen Vertrauten bezeichnet.⁵³⁰ Den Tod des Verlegers Johann Naumann, dessen Unternehmen um die Mitte des Jahrhunderts den Hamburger Buchmarkt beherrschte, beklagt Greflinger 1668 in einem Trauergedicht. Neben Werken von Rist, Zesen und Harsdörffer hatte Naumann auch mehrere Schriften des Oberpfälzers herausgebracht.⁵³¹ 32 Jahre habe er den Unternehmer gekannt, schreibt Greflinger in seinem Beitrag, woraus man schließen kann, dass
527 Hermann Schultze-v. Lasaulx: Geschichte des Hamburgischen Notariats seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. 2. erweitere Auflage der Jubiläumsausgabe der Hamburgischen Notarkammer anlässlich ihres 150jährigen Bestehens. Hamburg 1980, S. 28. 528 Ebd., S. 35. 529 Greflingers Epicedium auf Engels, den bedeutenden Perspektivmaler niederländischer Herkunft, befindet sich in der Hamburger Commerzbibliothek (nicht eingesehen). Vgl. auch die erste Zusammenstellung und Beschreibung seiner Werke bei Thomas Fuesing: Hamburg als Umschlagsort künstlerischer Ideen im 17. Jahrhundert. Der Perspektivmaler Gabriel Engels (1592– 1654). In: Steiger/Richter (Hamburg, Anm. 400), S. 703–726. 530 Offenbar kannten sich die beiden Zugereisten bereits aus Danzig, wo der Künstler in den 1640er-Jahren gewirkt hatte. Vgl. Paul Grotemeyer: Art. „Sebastian Dadler“. In: NDB 3, S. 467 f. 531 Bei Nauman erschienen unter anderem ab 1647 mehrere Auflagen des Complimentier=Büchleins, die Cid-Übersetzung (1650) und die Übersetzung von C. Ripas Iconologia (1659).
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sich die beiden bereits in Sachsen begegnet waren, da Naumann zu Greflingers Studienzeiten in Leipzig gewirkt hatte.⁵³² In Frankfurt hielten sich beide Mitte der 1640er-Jahre auf. Auch der Senior des Domkapitels, Eberhard Moller, aus einer einflussreichen Hamburger Familie stammend (Moller vom Hirsch), scheint Greflinger wohlgesonnen gewesen zu sein; manches Jahr sei er dem Dichter „Mecoenas“ gewesen. Moller gehörte auch zu dem engeren Bekanntenkreis von Rist.⁵³³ 1650 bedachte Greflinger den Pastor der Hamburger Jakobikirche Balthasar Schupp, den großen Rhetoriker, Satiriker und umstrittenen Reformorthodoxen,⁵³⁴ anlässlich des Todes dessen erster Gattin mit einer „Trost=Schrifft“⁵³⁵, ebenso „schnatterte den Tag Martini die Donauische Gans [also Greflinger] unter den Elbischen Schwanen“ bei Schupps Neuvermälung,⁵³⁶ im folgenden Jahr und ungeachtet des Casualia-Verbots verfasst er 1661 „Trauer-Verse“ auf den Tod des Geistlichen.⁵³⁷ Greflinger scheint Schupp persönlich, aber auch literarisch nahegestanden zu haben. Der satirische Schreibstil Schupps, in den grobianische, volkstümliche Ausdrucksmuster eingeflochten sind,⁵³⁸ könnte Greflinger bisweilen inspiriert haben. Auch die Skepsis gegenüber schulfüchsischer Gelehrsamkeit des Pastors, seine „bürgerliche Geisteshaltung“⁵³⁹ mag sich mit mancher Position Greflingers gedeckt haben. Jedenfalls tritt „Seladon“ in einem Band, den Schupps Sohn nach dem Tod des Vaters zu dessen Verteidigung gegenüber andauernden Schmähungen zusammengestellt hatte,⁵⁴⁰ in einem „Discours“ als Diskutant auf. Es handelt sich um ein bildungspolitisches Manifest, das augen-
532 An diesem Ehrengedächtnis beteiligten sich Zesen, der Quickborner Prediger und RistFreund Andreas Gödeke, V. R. [=Valentin Ruhl, als „Der Ruhige“ Mitglied in Zesens Sozietät], Daniel Bärholz, Franz-Joachim Burmeister, H. B. [?] und Naumanns Sohn Johann. (Letztes Ehrengedächtnüs Dem Ehrenvesten / Vorachtbahren / und Wohlbenahmten H. Johan Naumanne / vornehmen und weitberühmtem Buchhändlern / uam. in der hochlöblichen Stadt Hamburg / als Er / im 1668 jahre nach der Heilgebuhrt […] am 16 tage des meimohndes / der Seelen nach / aus diesem zeitlichen Jammertahle / in das ewige Freudenleben / durch einen sanft-seeligen tod / versetzet / und darauf am 21 tage […] beigesetzet worden; : aus freundschuldigster pflicht aufgerichtet durch etliche des Seelig Verstorbenen guhte Bekanten und Freunde. Hamburg: Pfeiffer, 1668. 533 Dammann (Anm. 435), S. 54. 534 Vgl. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat. Entwicklung und Kritik des deutschen Späthumanismus in der Literatur des Barockzeitalters. Tübingen 1982, S. 393 ff. 535 Walther (Anm. 85), Nr. 83. 536 Ebd., Nr. 124. 537 Ebd., Nr. 358. 538 Kühlmann (Anm. 534), S. 394 f. 539 Ebd., S. 396. 540 Zugab Doct: Joh: Balth: Schuppii Schrifften. [o. J. o. O.], S. 202–248 (= „Der unterrichtete Student / oder ein Academischer Discurs zwischen zwey Freunden, Seladon und Damon“). Vgl. auch Niefanger („Die Welt vol Schrecken“, Anm. 40), S. 264 f.
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scheinlich im Zeichen von pädagogischer Realia-Bewegung, Pedantismus-Kritik und ‚Anti-Aristotelismus‘ steht:⁵⁴¹ Seladon expliziert in diesem Sinne ausführlich Schupps kritische Haltung gegenüber dem gegenwärtigen Universitätswesen. Plädiert wird stattdessen für Welterfahrung, Pragmatismus und Empirie. Es kann nicht zweifelsfrei geklärt werden, ob Greflinger diesen Text verfasst hat. Dafür spricht, dass sich im Anhang des Buches „Seladon“ als Verfasser des Traktats zu erkennen gibt (S. 459 f.). Auch das die Abhandlung einleitende Kriegsgedicht mutet ‚Greflingerisch‘ an.⁵⁴² Zudem verdeutlicht Seladon das neue Bildungsideal an unspezifischen Einzelbeispielen, die zum Teil auf Greflinger selbst zu referieren scheinen. So heißt es an einer Stelle, dass ein abgebrochenes Studium in Wittenberg nicht zwangsläufig auf mangelnde Gelehrsamkeit verweise.⁵⁴³ * Noch einmal tritt Greflinger um 1650 eine längere Reise an:⁵⁴⁴ Nach Frankfurt, wo er sechs Jahre zuvor Aufnahme in den illustren Kreis um seinen Landsmann, den Merian-Journalisten Georg Schleder, gefunden hatte. Vermutlich wollte Greflinger die Drucklegung seiner Liedersammlung Seladons Weltliche Lieder organisieren, die hier schließlich 1651 im Verlag von Caspar Wächtler erschien. Die Reisekosten müssen ein tiefes Loch in die ohnehin schwach bestückte Kasse des Autors gerissen haben. Ein handschriftlich erhaltener Brief, der einzige, der bisher ausfindig gemacht werden konnte, von dessen Inhalt „man nicht recht weiß, ob man ihn amüsiert oder melancholisch aufnehmen soll“,⁵⁴⁵ dokumentiert seine prekäre
541 In Schriften wie diesen manifestiert sich eine denkgeschichtliche Traditionslinie, die für das Wissenschaftsverständnis der Frühaufklärung (Thomasius) von zentraler Bedeutung wird. Vgl. hierzu Friedrich Vollhardt: „Die Finsternüß ist nun vorbey.“ Begründung und Selbstverständnis der Aufklärung im Werk von Christian Thomasius. In: Christian Thomasius (1655–1728): Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von dems. Tübingen 1997, S. 3–13 („Immerhin bleibt festzuhalten, daß die von Thomasius so wirkungsvoll vorgetragene Traditionskritik ihrerseits bereits eine beachtliche Tradition besaß.“ S. 6). 542 Es wird in Auszügen auch bei Niefanger (Anm. 105, S. 265) zitiert. 543 „Er [Antenor=Schupp] sagt nicht, daß auf Universitäten keine Hochgelahrrte Männer gefunden werden / sondern er kann nicht leyden / sondern daß man sagt was kan der Kärl wissen oder verstehen / er ist nicht länger als ein Jahr zu Wittenberg gewesen. Quasi vero.“ Der unterrichtete Student, S. 226. 544 Zwischen April und Juni sowie zwischen August und Oktober 1651 gibt es zwei größere Lücken in Walters Aufstellung der Hamburger Gelegenheitsgedichte. In diese Zeit könnte die Frankfurtreise gefallen sein. Vgl. Walther (Anm. 85), S. 83. 545 Blühm (Neues, Anm. 77), S. 93. Blühm veröffentlicht in seinem Beitrag den Brief, der sich im „Riksarkivet“, Stockholm, befindet. (Ebd., S. 92 f.). Dem Riksarkivet danke ich für die Zusendung einer Kopie der Handschrift (in „Dahlbergska samlingen“ volym 13 [E 3481]).
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finanzielle Situation. Empfänger ist der zu diesem Zeitpunkt etwa 25-jährige, später sehr bedeutende schwedische Militär Erik Jonsson Dahlbergh, der 1650 zur Eintreibung von Satisfationsgelder, die die Schweden im Westfälischen Frieden zugesichert bekommen hatten, nach Frankfurt geschickt worden war. Möglicherweise stand der kunstsinnige Dalbergh auch mit Merian in Verbindung, so dass sich die beiden im Umfeld des prominenten Verlegers trafen. Aus dem Schreiben geht zunächst hervor, dass Greflinger mit dem Schweden offenbar die Nacht zuvor durchgezecht hatte: Edler Herr, Kaum, daß ich meinem Kopf kann in die Höhe bringen So schwer ist das Gehirn von nechst verbrachten Dingen, Dennoch ermuntern mich Zwey Stücke dieses an meinen Hochgeehrten Herrn und Wolthäter zu schreiben. Erstlich vor die hohe Ehre, die mier gestern geschehen höchlich zu dancken und Zwar nüchern, weil mier gestern durch die Vielheit des Trunckes die Zunge sehr gelähmet gewesen.
Dann formuliert Greflinger ebenfalls in flüchtig aufgesetzten Reimen sein eigentliches Anliegen: Für die Rückreise nach Hamburg seien ihm „die meisten Mittel entgangen“, so dass „genöthigest werde / eines bei meinem Wolthäter zu wagen und höchlich zu bitten mit / Zween Ducaten Bey Zuspringen“. Sobald er wieder in Hamburg sei, wolle er seine Schulden begleichen. Auch sei ihm das ganze sehr peinlich, er schreibe „beschamt“ und „wäre es nicht nöthig“, hätte er auf diesen Bettelbrief verzichtet. * Zum Beschluss dieses Abschnittes gilt es, noch einen Blick auf die Widmungsempfänger von Greflingers Werken der Hamburger Zeit zu werfen.⁵⁴⁶ Während die Forschung jedoch beispielsweise bei Rist eine durchdachte Strategie hinter
546 Die Funktion einer barocken Widmung ist darin zu sehen, „daß ein Autor mit diesem literarischen Mittel um ideellen Beistand oder materielle Unterstützung wirbt, daß er sich mittels eines Widmungsschreibens um ein Druckprivileg für sein Buch bemüht oder daß er sein geistiges Erzeugnis mit dem schillernden Namen eines ruhmreichen Buchpaten schmückt.“ Burkhard Moennighoff: Die Kunst des literarischen Schenkens. Über einige Widmungsregeln im barocken Buch. In: Die Pluralisierung des Paratextes in der Frühen Neuzeit. Hg. von Frieder von Ammon, Herfried Vögel. Berlin, New York 2008, S. 337–352, hier S. 338.
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der Wahl der zahlreichen Buchpaten feststellen konnte,⁵⁴⁷ ist Greflinger in dieser Hinsicht weniger umtriebig oder erfolgreich. Obwohl in den Jahren von ca. 1646 bis 1677 – abgesehen von den okkasionellen Auftragsarbeiten – etwa 40 Greflinger-Schriften in Hamburger Offizinen durch die Druckpressen liefen, weisen nur zwei Werke eine vom Autor explizit beigefügte Widmung an konkrete Personen auf:⁵⁴⁸ Dem schwedischen Kriegskommissar in Hamburg Johan Hoffstetter von Kühnberg und seiner Gattin ist die Übersetzung des Lope de Vega-Stücks Verwirrter Hof oder König Carl (1652) dediziert, die Liedersammlung Celadonische Musa (1665) übereignet Greflinger dem dänischen Kriegsrat Paul Tscherning. Dieser, ein Verwandter des Rostocker Professors und Poeten Andreas Tscherning, gehörte auch zu den Widmungsempfängern des Rist’schen ‚Dedikationsnetzes‘ und stand mit mehreren Hamburger Autoren in Verbindung, verfügte also gewiss über den Ruf eines spendablen Förderers. Tscherning gehört mit Greflinger auch zu den Beiträgern, die Georg Neumark Propemptica anlässlich seiner Abreise aus Hamburg senden.⁵⁴⁹ Über Hoffstetter von Kühnberg ist bekannt, dass er einer der wichtigsten Informanten Wrangels in Hamburg war und diesen auf Verlangen mit Zeitungen aus der Metropole versorgte – vermutlich entstand der Kontakt also durch Greflingers journalistische Tätigkeit. Die Cid-Übersetzung (1650) eignete Greflingers Verleger Naumann, also nicht der Autor selbst, den „hochgeborenen […] Fräulein Elenora Hedwig und Fräulein Anna Dorothea / Hertzoginnen zu Schleswig Holstein“, den 16- und 10-jährigen Töchtern des Herzogs Friedrich III., zu. Schließlich ist noch eine handschriftliche Widmung zu erwähnen, die sich auf einer der Reimchronik vom Dreißigjährigen Krieg beigefügten chronologischen Tabelle befindet. Sie scheint von Greflinger selbst zu stammen:
547 Dammann (Anm. 435); Stefanie Stockhorst: Dichtungsprogrammatik zwischen rhetorischer Konvention und autobiographischer Anekdote. Die funktionale Vielfalt poetologischer Vorreden im Zeichen der Reformpoetik am Beispiel Johann Rists. In: von Ammon / Vögel (Anm. 546), S. 353–374, hier S. 356 f. 548 In beiden Fällen handelt es sich um Widmungstafeln, Widmungsgedicht oder -brief fehlt. Zu diesen Formen sowie zum barocken Dedikationswesen im Allgemeinen vgl. Moenninghof (Anm. 546). 549 Greflinger feiert darin Neumark als „der Ehrenkron / im süssen Tichten werth.“ Glükwündschende Reiseverse Welche Dem Tugendedlen /… H. Georg Neumarken … aufgesetzet / und / … von Hamburg nachgesendet worden. Von etlichen Guten vertrauten Freunden. Bibliothek Seehausen, zitiert nach Ludscheidt (Anm. 23), S. 176. In Neumarks Poetisch-und Musikalischem Lustwäldlichen (Hamburg 1652) ist Greflinger mit einem Ehrensonett vertreten („Was schallt aus diesem Wald“).
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Dem Edlen Ehrnvesten wolacht[baren] Vornehmen und hochgelehrten Herrn Barthold Twestreng j.u. Licentiato. Meinem hochgeehrten Patroni praes. vom Authore. Georg Gref auß Re.⁵⁵⁰
Der Empfänger ist ein Hamburger Honoratior, der 1663 Bürgermeister wurde (die Widmung ist nicht datiert). Rist brachte ihm 1664 seine Neue Hoch-heilige Paßions-Andachten dar, zuvor hatte Greflinger für die Familie Twestreng bereits zu verschiedenen Anlässen zum Federkiel gegriffen. Während einige weitere Schriften ganz allgemein dem „Leser“ gewidmet sind, wurde das Gros von Greflingers Œvre jedoch undediziert verbreitet, was mit der geringen Geltung einer Vielzahl dieser Texte im barocken Literatursystem zusammenhängen dürfte. Es wäre gewiss eine grobe Verletzung des Decorum gewesen, ein Kochbuch oder eine Schrift über Gartenbepflanzung einem Hamburger Honoratioren oder gar einem Adeligen zu widmen. Hier jedoch liegt gewissermaßen der Knackpunkt: Greflinger ist ein Autor, der vom Verkauf seiner geistigen Erzeugnisse seine Existenz bestreitet und von hohen Verkaufszahlen mehr profitiert als von der einmaligen Gratifikation eines Gönners. * Zusammenfassend ist also zu sagen, dass Greflinger in Hamburg fest in die Bürgerschaft integriert war. Er steht mit Personengruppen aus verschiedenen Berufsfeldern der weltlichen Oberschicht in Kontakt, auch die bekanntesten Künstler der Stadt, die wichtigsten Verleger und Geistlichen wie Balthasar Schupp gehören zu seinem Freundeskreis, der sich in Teilen mit dem Rists deckt. An die Frankfurter Kontakte knüpft er seit den 1650er-Jahren wieder verstärkt an. Das Amt des Notarius Publicus war zwar wohl wenig ertragreich, erleichterte aber die Kontaktaufnahme gerade zur Kaufmannsschicht. Durch seine journalistische Tätigkeit war er auch mit in Hamburg ansässigen ausländischen Vertretern und Korrespondenten bekannt, über die er Informationen aus Europa bezog. Die Casualia, die die Kontakte stablisierten und zugleich eine Einnahmequelle für die inzwischen gegründete Familie bedeuteten, weisen in gesteigertem Maße einen gelehrten Gestus auf und sind insgesamt umfangreicher als die der Danziger Zeit. Finanzielle Nöte plagen Greflinger gleichwohl. Erst die Unternehmensgründung wird eine relative Unabhängigkeit ermöglichen.
550 Zitiert nach Blühm (Neues, Anm. 77), S. 92.
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10 Werk Bislang standen soziokulturelle Aspekte im Mittelpunkt der Darstellung. Es wurden die regionalen Zentren beschrieben, in denen Greflinger wirkte, wir haben seine Adressaten, seine Kollegen, Konkurrenten und Förderer kennengelernt. Auch von einzelnen Titeln war bereits die Rede, die Faktur der Casualia wurde umrissen, einige Schriften sind charakterisiert. Schließlich gilt es, das Gesamtwerk in den Blick zu nehmen. Ziel des folgenden Abschnittes ist es jedoch nicht, Einzelanalysen des umfangreichen und vielseitigen Schrifttums vorzunehmen, das der bislang von der Forschung kaum beachtete Barockautor hinterlassen hat. Es bleibt die vorrangige Aufgabe und Herausforderung, einen von Greflinger paradigmatisch verkörperten Schriftsteller-‚Typus‘ zu beschreiben. Das Greflinger’sche Œuvre wird im Folgenden nach Gattungen sortiert. Mit dieser Vorgehensweise verknüpft sich die Annahme, dass durch eine Beschreibung der bedienten Textsorten ein frühneuzeitliches Autorenprofil schärfer konturiert werden kann als beispielsweise durch die Analyse des ‚Schreibstils‘. Dabei wird jedoch eine zentrale Werkgruppe ausgeklammert: Greflingers Lieddichtung. Sie ist Gegenstand des Analyseteils der vorliegendenen Studie und wird in Teil III ausführlich behandelt. Die übrigen Texte werden knapp vorgestellt und kommentiert. Liegt zu einzelnen Werken Forschungsliteratur vor, wird darauf hingewiesen; die entsprechenden Befunde werden in die Kurzbeschreibung integriert.
10.1 Zeitchronistische Schriften und Historiographisches Das Zeitgeschehen prägt Greflingers Schaffen bereits von dem Moment an, in dem er Ende der 1630er-Jahre als Wittenberger Student die literarische Bühne betritt: Zentrale Themen der Frühwerke wie die der Weihnacht-Gedancken oder der Querela Germania sind Kriegsklage und Friedenssehnsucht. Greflinger gehört schließlich der Kriegsgeneration an, deren Lebensweg direkt oder indirekt von den Ereignissen zwischen Prager Fenstersturz und Westfälischem Frieden bestimmt wurde. Somit spricht der Chronist zugleich als Zeitzeuge, der von mancher Begebenheit aus eigenem Erleben zu berichten weiß, oder dies zumindest glaubhaft vorgeben kann. Als „unansehentlicher Bote, welcher durch diß oder Jenes Kriegslager daher reiset“ beschreibt er sich selbst in dem Vorwort einer undatierten Fassung seiner Reimchronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg⁵⁵¹
551 Zitiert nach Blühm (Neues, Anm. 77), S. 90. Jedoch artikuliert Greflinger nur an zwei Stellen seine unmittelbare Beteilung explizit: Seinen Aufenthalt im eingeschlossenen Nürnberg zur Zeit
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und fährt fort: „Fürwahr diß Wetter hat mich und die Meinige von seinen Anfang biß auff diese Zeiten berühret, und uns nicht mehr übrig gelassen als das Gedächtnis, daß wir und unsere Nachkömmlinge desselben Lebenslang nicht vergessen.“ Er wisse, dass der zeithistorische Gegenstand eher in ungebundener Rede dargelegt werden solle, was er aber selbst gesehen habe,⁵⁵² lasse sich nicht in Prosa „ausschwatzen“. Auch betont Greflinger, mündliche und schriftliche Berichte von anderen Zeitzeugen hinzuzuziehen. Zweifellos ist Greflingers Darstellung des Großen Krieges in über 5000 Alexandrinern als eine besondere Leistung zu würdigen, handelt es sich doch um die „einzige bisher bekannte poetische Beschreibung des ganzen Krieges aus Sicht eines Zeitgenossen“,⁵⁵³ deren Bedeutung bereits Lessing konstatierte und die bis heute einer gründlichen Untersuchung harrt.⁵⁵⁴ Der versifizierte Kriegsbericht setzt mit dem Böhmischen Ständeaufstand ein und schildert in 12 „Theilen“ detailreich und weitgehend chronologisch⁵⁵⁵ die Ereignisse bis zum Frieden von Münster und Osnabrück bzw. bis zum Nürnberger Exekutionstag (1650). Den Schwerpunkt legt Greflinger auf die Schilderung der Feldzüge Gustav Adolfs, dem die Sympathie des Autors gilt („der Gesalbte“, „der tapfre Schweden-Mann“, „des Israels sein Josua“, „der Helden Held“). Seinen protestantischen Standpunkt verhehlt Greflinger auch an anderen Stellen nicht. Er manifestiert sich in der Charakterisierung der Akteure⁵⁵⁶ und in der Kommentierung bestimmter Ereignisse wie der oberösterreichischen Bauernaufstände (S. 16 und S. 28) oder der Zerstörung
der Schlacht an der Alten Veste bei Fürth (August/September 1632), den er nur kurz andeutet („Ich hatte selber da mehr Gold als liebes Brod“ DDK, S. 71) sowie seine Anwesenheit bei der Belagerung Pirnas durch Banérs Truppen (DDK, S. 118 f.). 552 Zu bedenken ist gleichwohl der seit der Antike in Geschichtswerken präsente Augenzeugentopos. Vgl. Irmgard Männlein-Robert: Art. „Prooemium“. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. von Gerd Ueding. Bd. 7. Tübingen 2005, S. 247–256, hier S. 250. 553 Ehrle (Nachwort, Anm. 131), S. 254. 554 Zumindest liegt eine von Ehrle kommentierte Reprint-Ausgabe vor (Anm. 131), die der ungedruckten Dissertation von Gunther H. S. Mueller, einer transkribierten Neuausgabe der Verschronik, vorzuziehen ist. Eine neuere Beschäftigung mit dem Text stammt von Niefanger, der das Greflinger-Werk als „das wichtigst[e] historisch[e] Epos der Barockzeit“ bezeichnet („Die Welt vol Schrecken“, Anm. 40, S. 256). Er untersucht die Inszenierung des Autor-Ichs in der Schilderung der Schlacht von Wittstock und zeigt Aspekte der Poetik und Historik auf. Dabei werden auch andere (zeitchronistische und lyrische) Texte Greflingers einbezogen. 555 „Hilff mier Calliope, du Göttin der Geschichte / Daß meine Rede sich nach dem Verlauffe richte“, heißt es im ‚Musenanruf‘, DDK, S. 11. 556 Ein positives Licht fällt auf die schwedischen Generäle Banér, Torstenson und Karl Gustav Wrangel. Gegenüber den französischen Alliierten ist hingegen eine ähnliche Abneigung wie gegenüber Maximilian I. erkennbar, der meist mit abschätzigem Unterton als „der Beyer“ bezeichnet wird. Besonders unsympathisch wirkt Wallenstein, der „Bähr und Fuchs“ (DDK, S. 31; vgl.
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Magdeburgs (S. 39 f.) – eine der wenigen Passagen, die sich unter Rückgriff auf Philip von Chemnitz⁵⁵⁷ durch einen ‚emotionaleren‘ Schreibduktus auszeichnet – bei der er Gustav Adolf von jeder Schuld freispricht (S. 40). Den Einzug des Schwedenkönigs in München nutzt Greflinger für eine Abrechnung mit dem Papsttum: Die „arm verführte Schar“ des katholischen „Pöfel[s]“ ist über die Worte eines von Gustav Adolf instruierten Predigers „sehr groß verwunder[t]“, […] das wir / als Lutheraner An Christum gläubeten / weil ihre Kriegsvermahner Und Priester ihnen uns so schändlich bilden ein / Als sollten wir auf sie pur=lautre türcken seyn / Die weder GOttes Wort noch eine Tugend liebten / Die sich alleine nur in Lust und Lastern übten. So scheußlich werden wir im Pabsthum abgemahlt. Daher gesengt / gebrennt / gesotten und gepfahlt / Geköpfet und erhenckt / und ob schon dieses Morden Nunmehr gestillet ist / ists doch begangen worden.⁵⁵⁸
Doch erfolgen diese tendenziösen Passagen eher punktuell und wirken, eingebettet in einer insgesamt um ‚Objektivität‘ bemühten Gestaltung, nicht aufdringlich, so dass man tatsächlich von einem „nüchternen Realismus“ in der Darstellung sprechen könnte.⁵⁵⁹ Greflinger nennt seine Quellen nicht, doch bezieht er seine Informationen offenbar aus der berühmten antihabsburgischen Kriegschronik des in schwedischen Diensten stehenden Borgislaff Philip von Chemnitz, aus Merians Theatrum Europaeum,⁵⁶⁰ mit dessen Redakteuren er seit seinem Frankfurter Aufenthalt in Verbindung stand, sowie aus zeitgenössischen Relationen und Avisen. Das ‚Innovative‘ des Textes besteht darin, dass Greflinger unter dem Namen
z. B. auch S. 82, 29 f.). Verurteilt wird vor allem das „Pabsthum“ (vgl. z. B. den kurzen Exkurs zur Protestantenverfolgung im Kapitel über die Eroberung Münchens: DDK, S. 68). 557 Die Quelle identifiziert von Oettingen (Anm. 72), S. 70. 558 DDK, S. 68. 559 Ehrle (Nachwort, Anm. 131), S. 254, von Oettingen (Anm. 72), S. 67. Da anzunehmen ist, dass Greflinger auch durch die Wahl eines eher schmucklosen Stils tatsächlich eine ‚neutrale‘ Haltung einnehmen möchte, scheint die Kritik von Oettingens verfehlt, der Autor sei „nicht im Stande [gewesen], ein gedankenvolles und tiefdurchdachtes Kunstwerk zu schaffen.“ Von Oettingen (Anm. 72), S. 70. 560 Königlichen Schwedischen In Teutschland geführten Kriegs […] Theil / Aus Glaubwürdigen […] Acten / Documenten / und Relationen Zusammengetragen / und in Vier Bücher abgefasset Durch Itziger Königl. Mayt. zu Schweden Historiographum Bogislaff Philip von Chemnitz [Theil 1 von 1653 ist eine Titelauflage der Ausgabe von 1648]. Vgl. Ehrle (Kommentar, Anm. 131), S. 267, Anm. 3.
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„Celadon von der Donau“ den Stoff „poetisch erzählet“. Eine eindeutige Gattungszuordnung der Reimchronik fällt somit schwer, so dass man sie wohl zwischen historiographischem Kompendium in Versen und Geschichtsepos ansiedeln müsste.⁵⁶¹ Teile einer ersten Fassung erschienen bereits 1647 unter dem Titel Der Teutsche Krieg / Poetisch / Auff das kurtzeste beschrieben. Vermutlich noch vor der ersten ‚Gesamtausgabe‘ von 1657 (ohne Orts- und Druckerangabe) wurde eine undatierte Version mit dem Titel Die graumsam-blutige Tragoedia vom Deutschlande / Ist eine Erzehlung deß Deutschen Krieges / Von 1618 biß 1648 publiziert, die die sechs ersten sowie das letzte Buch der 1657-Ausgabe enthält.⁵⁶² Es ist anzunehmen, dass das Werk zwischen 1647 und 1657 partienweise herausgegeben wurde.⁵⁶³ Den beiden ersten Ausgaben war zudem eine chronologische Tabelle beigefügt,⁵⁶⁴ die offenbar aber auch als Flugschrift separat verbreitet wurde.⁵⁶⁵ Die Version von 1657 wird durch ein aufwendig gestaltetes Titelkupfer geziert, angefertigt vom Hamburger Stecher Johann Martin Winterstein.⁵⁶⁶ Es zeigt links im Bild den Autor im Moment der Niederschrift seines Werkes. Er wird als unmittelbarer Beobachter der Ereignisse inszeniert, verkörpert durch eine im Bildzentrum stehende geharnischte Kriegsfurie. Auf einem springenden Ross reitend, schwingt diese Allegorie in der Rechten das Schwert, in der Linken ein brennen-
561 Als epische Elemente wären beispielsweise der Musenanruf zu Beginn der Chronik zu nennen, auch Erzähltechniken wie Analepsen und Prolepsen. Mit Gustav Adolf gibt es sogar eine Art ‚Heros‘. Auf keinen Fall präsentiert Greflinger sein Werk als Lehrgedicht in Anlehnung an Opitz’ großes Trostgedicht, das andere Intentionen verfolgt. Daher ist es auch problematisch, einen ‚qualitativen‘ Vergleich beider Texte anzustellen, um wie Ehrle zu dem Schluss zu kommen, dass Greflingers Reimchronik generell „den literarischen Rang anderer Barockdichtungen über den Krieg“ nicht erreiche (Ehrle [Nachwort, Anm. 131], S. 254). Für von Oettingen stellt Greflingers Werk „ein Geschichtscompendium“ dar, das „ohne besondere Sorgfalt in die metrische Form gekleidet“ sei, „um der Belehrung auch die Ergetzung hinzuzufügen“. Die Gattungsbezeichnung „Epos“ sei entsprechend unzutreffend. Von Oettingen (Anm. 72), S. 74. Niefanger („Die Welt vol Schrecken“ Anm. 40, S. 267) sieht in Homers Ilias das wichtigste Vorbild für Greflingers Kriegschronik. 562 Vgl. auch den kurzen Kommentar bei Niefanger (Anm. 40), S. 260. 563 Vgl. Walther (Anm. 85), S. 124–127. 564 Blühm (Neues, Anm. 77), S. 91. 565 Von dem Dreißig-Jährigen Deutschen Kriege / Welcher sich Anno 1618. angefangen und durch Gottes Gnad Anno 1648. geendiget hat: Eben alß wann Gott durch den 1618 erschrecklich leuchtenden Cometen / welcher Dreßig Tage über Europen gesehen worden / einen Dreißig-Jährigen Krieg verkündigt hätte […] Ein Aufzug / wie viel Schlachten diese Jahre über in Deutsch=Land und dessen Nachbarschafft geschehen / […][1648]. 566 Vgl. dazu auch Richard Erich Schade: Zur Deutung des Titelkupfers von Greflingers „Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg“ (1657). In: Simpliciana XV (1993), S. 261–272.
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des Holzbündel. Eine zu Boden geworfene weibliche Figur (eine Allegorie der Germania?) blickt mit Entsetzen auf die grausame Reiterin hinauf, während der Poet eine ruhig-distanzierte Haltung einnimmt. Zerstreut herumliegende, zerbrochene Prunkgefäße alludieren den vanitas-Topos. Auffällig ist das Portrait des Dichters, das hinsichtlich einiger physignomischer Merkmale wie der dunklen langen Locken Ähnlichkeit mit der männlichen Figur auf Furks Kupfer von Seladons Beständige Liebe aufweist. Liegt hier vielleicht also wirklich ein Portrait des Autors vor?⁵⁶⁷ Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg ist das einzige Werk Greflingers, in dem der Dichter-Journalist einem (zeit-)historischen Ereignis das Gewand eines Epos verleiht. Das Weltgeschehen steht jedoch neben dem Dichten bei Gelegenheit im Zentrum seiner Alltagsarbeit. Spätestens seit den 1660er-Jahren bindet die Journalistentätigkeit nahezu seine gesamte Schaffenskraft. Auf das Unternehmen Nordischer Mercurius wird später einzugehen sein. Doch bereits seit den 1650er-Jahren häufen sich die zeitgeschichtlichen Schriften. Das Bedürfnis über „der Welt Zustand“ informiert zu sein, war in der norddeutschen Handelsmetropole besonders ausgeprägt. Für einen Hamburger Kaufmann war es freilich von großem Belang, welche Entwicklung die turbulenten Ereignisse in CromwellEngland nahmen, wie der Nordische Krieg momentan verlief, selbst, welche Neuigkeiten es aus Übersee gab. Es ist aller Leute Reden: Sagt, was hält man von den Schweden? Fallen sie in Polen ein? Hat man Landrechis genommen? Hat man Cuba einbekommen? Soll Britannien einig sein?⁵⁶⁸
Das waren die Fragen, die bewegten, und Greflinger wollte sie beantworten. Einen Schwerpunkt bilden zunächst die englische Geschichte und das aktuelle Geschehen auf der Insel, an dem das Hamburger Publikum quasi naturgemäß besonderes
567 Winterstein schuf neben Stadtansichten auch Bildnisse von Balthasar Schupp und Rist (Hamburgisches Künstler-Lexicon. Hg. vom Verein für Hamburgische Geschichte, Bd. 1, Hamburg 1854, S. 294). 568 Aus einem Greflinger-Epithalamium für den Hamburger Licentiaten Kellinghusen, 1655 (zitiert nach Percy Schramm: Neun Generationen. 300 Jahre deutscher „Kulturgeschichte“ im Lichte der Schicksale einer Hamburger Bürgerfamilie [1648–1948]. Bd. 2. Göttingen 1964, S. 25). Frankreich bedrohte das spanische Cuba. Zugleich führten die Franzosen 1655 im eigenen Land Kämpfe um die spanisch besetzte Festung Landrechies.
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Interesse hatte.⁵⁶⁹ 1651 veröffentlichte Greflinger das Diarium Britannicum,⁵⁷⁰ eine annalistische Beschreibung des Bürgerkrieges, Der zwölff gekröhnten Häupter von dem Hause Stuart, eine Chronik der Stuarts⁵⁷¹ (1652) und eine Geschichte des Englisch-Holländischen Krieges (1653).⁵⁷² Dennoch zeigt sich Greflinger in diesen nüchternen Geschichtsabhandlungen auch immer wieder als Poet, indem er kommentierende oder illustrierende Zeitgedichte hinzufügt, die die sichtlich um Objektivität bemühte Darstellung der Historia kontrastieren – gewissermaßen ein Zeugnis dafür, dass um die Mitte des 17. Jahrhunderts Publizistik und Poesie noch keine streng von einander abzugrenzenden ‚Systeme‘ darstellen. Ein Beispiel für ein integriertes Zeitgedicht findet man in der Stuart-Chronik. Die Abhandlung schließt mit einem choralartigen „Danck-Lied“ Charles II. (ohne Noten).⁵⁷³ Aus dem Mund des englischen Thronfolgers erklingt hier die berühmte Anekdote von seiner wundersamen Rettung nach der Niederlage von Worcester (1651), laut der er sich in einem Eichenbaum vor Cromwell und seinen Mannen verbergen und anschließend in Frauenkleidern ins französiche Exil flüchten konnte. Dieses Gedicht wurde auch als Zeitungslied separat publiziert.⁵⁷⁴ Noch enger in die annalistische Darstellung verwoben ist ein Kurzgedicht im Anzeiger / Der denckwürdigsten Krieges- und anderer Händel.⁵⁷⁵ Hier wird der Bericht über
569 Vgl. Gerhard Schilfert: Zur Geschichte der Auswirkungen der englischen bürgerlichen Revolution auf Nordwestdeutschland. In: Beiträge zum neuen Geschichtsbild. Festschrift für Alfred Meusel. Hg. von Fritz Klein, Joachim Streisand. Berlin 1956, S. 105–130. 570 Diarium Britannicum. Das ist: Kurtze und unpartheyische Erzählung derer Dinge / Welche sich von Anno 1637. biß auff den 1. Octobr. 1651. in den dreyen Königreichen Engeland / Schottund Irrland zugetragen haben. Die Schrift ist anonym erschienen, doch weist der Kommentar in Der zwölff gekröhnten Häupter von dem Hause Stuart („[…] wie es hierauf ergangen […] lese man in meinem newlich außgegebenen Diario Britannico“) auf Greflingers Autorschaft hin. Vgl. DÜNNHAUPT III, S. 1691. 571 Der zwölff gekröhnten Häupter von dem Hause Stuart unglückseelige Herrschafft / in kurtzem Aus glaubwürdigen Historien Schreibern zusammen getragen von Georg Grefflinger / Regenspurger / Käyserl: Notario. 572 Vgl. Berghaus (Anm. 102), S. 6–12. 573 König Karls II. Dank=Lied / Als er mit noch einem Herrn Nahmens Willmuht aus seiner Feinde Hände nach Frankreich kam.“ („Dem König über Erd und Meer | Sol ewig Dank und ewig Ehr’ | aus meinem Mund erschallen“). 574 Zu weiteren Zeitungsliedern, Gedichten und Epigrammen, in denen Greflinger Ereignisse des englischen Bürgerkrieges verarbeitet vgl. Berghaus (Anm. 102), S. 6–12. 575 Anzeiger Der denckwürdigsten Krieges- und anderer Händel zu unsern Zeiten Im Römischen Reiche und dessen angrentzenden Ländern: von 1618. biß Septemb. 1660. Im Königreiche Pohlen auch dessen angrentzenden Ländern / von 1655. biß Septembr. 1660. und Im Königreiche Den[n]emarck von 1657. biß August. 1660. beschehen / Unpartheyisch ausgegeben von G. G. C. N.
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das schwedisch-dänische Herrschertreffen im März 1658 kurz für einen Sechszeiler unterbrochen, da Greflinger offenbar durch die sprachspielerischen Möglichkeiten des Ereignisses (in Bezug auf Akteure, Ort und Gegenstand) inspiriert wurde, um anschließend zügig im nüchternen Duktus des Chronisten fortzufahren: 3. Marcio: Waren beyde Könige vertraulich zu Friedrichsburg zusammen Ach daß in Friedrichsburg dem König Friederich Der Friede von dem Gott des Friedens wird ertheilet Und dessen Reich hiedurch Von Wunden neu geheilet Wündscht’ ihm ein jeder Freund / des Friedens und auch Ich Aber ach! Was folgt danach! Nunmehr legten sich die Schweden in Seeland / Fühnen / Jütland und Holstein wie auch in den kleinen Insuln zur Ruh. Die Verpflegung sollte bis 1. Maij dauern […].
Auch das am Ende des Anzeigers (1660) plazierte Diß ist ein Wunder=Jahr und wunderns werther Mey, erschien als Separatdruck. Gefeiert wird hier der spanisch-französische Pyrenäenfrieden, der Einzug Charles’ II. in London und das Ende des Polnisch-Schwedischen sowie des Dänisch-Schwedischen Krieges: „Erfreuet / Erfreuet Euch nun / daß ein jederman | Sein Feld und Vaterland mit Ruh bewohnen kann!“ In geeinigter Kraft ist nun ein Kampf der Christenheit gegen die Türken möglich: Sol aber jeder Mars die Lantze länger schwingen / So laß ihn seinen Stoß an Mahmets Völcker bringen / Daß unre Friedens-Sonn ihm seinen MondenSchein Verdunckel und sein Reich mög unsre Beute seyn.⁵⁷⁶
Bei der genannten annalistischen Schrift handelt es sich um eine Version der zwischen 1653 und 1660 in ständig erweiterten Fassungen und neuen Auflagen erschienen Abhandlung, in der Greflinger die Haupt- und Staatsaktionen in ganz Europa in den Blick nimmt. Sein Hauptinteresse gilt dabei dem politischen Geschehen im Reich und in den nordischen Ländern (vor allem im Zusammenhang mit dem Nordischen Krieg), also den Gebieten, die für sein Hamburger
576 Anzeiger (Anm. 575), [unpaginiert] letzte Seite. Vgl. auch Sebastian Olden-Jørgensen: Ein paar Greflinger-Kleinigkeiten. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 7 (1985), S. 39–43. Hier wird das Flugblatt beschrieben, das auch bei Dünnhaupt fehlt.
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Publikum von besonderem Interesse waren. Beabsichtigt wird – wie schon der Titel verkündet – eine „unpartheyisch[e]“ Berichterstattung. Häufig setzt Greflinger entsprechend diesem Diktum an das Ende eines Drucks auch ein versifiziertes Bekenntnis zur objektiven Darstellung: „Ich habe keinem was mit Schmeicheln wollen schreiben | Der von Geschichten schreibt / muss bei der Wahrheit bleiben.“ Es wäre allerdings eine eigene Studie nötig, um zu prüfen, ob Greflinger nicht doch – was stark zu vermuten ist – bestimmte politische Standpunkte favorisiert und seine Nachrichten entsprechend präsentiert. Damit wäre zugleich die Aufgabe verbunden, die Quellen dieser annalistischen Kompilationen zu eruieren. Spezialstudien zur politischen Literatur und Publizistik im 17. Jahrhundert wären hierfür erforderlich, wie sie Günter Berghaus mit seiner Untersuchung zur Aufnahme der Englischen Revolution in Deutschland (1640–1669) vorgelegt hat, in der auch Greflingers Beiträge zu diesem Thema besprochen werden. Man darf in diesem Zusammenhang vermuten, dass wiederum das Theatrum Europaeum eine wichtige Informationsquelle für Greflinger darstellt. Bisweilen gibt er auch konkrete Hinweise auf die Herkunft der Angaben. So teilt Greflinger zu Beginn des Anzeiger-Kapitels über „Der Nordischen Löuen verbitterter Krieg“ mit, dass die folgenden Darlegungen auf das „Manifest Jus feciale armatæ Daniæ intitulavit“⁵⁷⁷ referieren. Weitere Informationen habe er außerdem von einem „abgeschickten Herold nach Schweden“ bezogen.⁵⁷⁸ * Neben den „denkwürdigste[n] Sachen“, die sich im „Römischen Reiche“ und „zwischen den Schweden / Polen / Moscowittern und derer allijrten“ sowie „zwischen den Nordischen Königen vorgefallen seyn“, bildet die Berichterstattung über den Türkenkrieg 1663/64 einen weiteren Schwerpunkt. Ein Zeit=Büchlein hält den norddeutschen Leser über den Kampf des Kaisers mit dem osmanischen Erbfeind in Ungarn und Siebenbürgen auf dem Laufenden. In diesem Zusammenhang muss man wissen, dass die Hamburger Anteilnahme an räumlich scheinbar so weit entfernt liegenden Vorgängen einen konkreten Hintergrund
577 Gemeint ist eine dänische Propagandaschrift, die in verschiedenen Sprachen in Nordeuropa starke Verbreitung fand: Ius feciale Armatae Daniae: Nebenst Kurtzem Entwurff / Vieler hocherheblichen Bewegnüssen / Dadurch Die zu Dennemarck … Königliche Maytt: hochgenötiget worden / König Carll Gustaffen und der Cron Schweden / nach zugefügten / unerträglichen Beschwerden / und von Ihnen zerschlagener Güte / offenbahre Fehde zu Wasser und Lande / durch dero Herold gebührlich anzukündigen und alle nachbarliche Freundschafft auffzuheben (u. a. Kopenhagen 1657). 578 Anzeiger (VD17 14:083802E), Der Nordischen Löuen verbitterter Krieg, Ar.
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hatte. Denn wenn die Kräfte des Kaisers, des obersten Herrn und Beschützers der Freien Stadt, durch die Kämpfe mit den Osmanen gebunden waren, konnte bei Gefahr mit seiner Unterstützung möglicherweise nicht gerechnet werden. Einer Interpretation der Ereignisse möchte sich Greflinger indes enthalten. Es werde, so schreibt er im Vorwort, viel über die Ursachen des neuen Türkenkrieges spekuliert. So hielten manche den Angriff des siebenbürgischen Grafen Ragotz für den Auslöser („Etliche halten dafür / er habe sich durch die Ragotzische actiones, die er Anno 1657. ohne des Türckischen Käysers Consens in Pohlen gehabt hat / angesponnen.“), er selbst „und die meisten“ jedoch sähen den Krieg als ein göttliches Strafgericht für „unsere gehäuffte Sünden von allerley Arten“ an. Doch diese Deutung fällt nicht in den Kompetenzbereich des sachlichen Berichterstatters: Wohin! Es ist mein Vorhaben nicht von den Ursachen dieses Krieges zu schreiben / sondern allein zu notiren und jedem Liebhaber der kurtzen Anmerckungen oder Tituln der Historien mitzutheilen / was dieser grausame Feind wider Ungarn und andere angräntzende Länder vorgenommen und verrichtet habe.
Geschäftssinn beweist Greflinger, wenn er den Lesern, die sich für die „Ragotzischen actiones in Pohlen“ interessieren, abschließend sein „Polnische[s] Diario“ ans Herz legt, welches in Kürze erscheinen werde.⁵⁷⁹
10.2 Schauspiele 1644 erscheint in Frankfurt, verlegt von Eduard Schleich, der auch Greflingers erstes Liederbuch herausgibt, ein Verswerk mit dem Titel Ferrando Dorinde Zweyer hochverliebtgewesenen Personen erbärmliches Ende. Greflinger selbst bezeichnet den Text als „Trawer-spil“, die Forschung spricht von einem „eigenartigen Werk“, einer „bürgerlich-höfische[n] Mischform“ oder vermutet hinter der tragischen Liebesgeschichte in Versen ein Opernlibretto.⁵⁸⁰ Dass diese Dichtung für eine musikalische Umsetzung der strophischen Passagen geeignet oder eine solche sogar intendiert war, beweist die Tatsache, dass die Danziger Offizin Hünefeld im folgenden Jahr im Poetischen Lust-Gärtlein unter anderem „etliche
579 Zeit-Büchlein. vom jetzigem Türcken-Krieg / wider Das Königreich Ungarn / Siebenbürgen und die Käiserliche Erb-Länder / Kürtzlich / was von Monat zu Monat darin passirt ist / abgefasset von G. G. C. N. P., A ijr. Das genannte „Polnische Diario“ ist bislang bibliographisch nicht nachgewiesen. 580 Vgl. DÜNNHAUPT III, S. 1683.
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newe Lieder von Ferrando und Dorinde“ mit Noten „gestellet vom Seladon“ veröffentlicht.⁵⁸¹ Im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit wollen wir auf diesen Text nochmals zurückkommen. In die Kategorie Schauspiel bzw. „Drama“ fallen zwei andere Werke. In diesen Fällen handelt es sich um Übersetzungen von Theaterstücken europäischer Geltung, die der deutsche Autor vermutlich durch niederländische Schauspieltruppen, die häufig in der Elbstadt und in Altona gastierten, kennengelernt hatte:⁵⁸² 1650 erscheint in der Naumannschen Buchhandlung Die Sinnreiche Tragi-Comoedia genannt Cid […] verdeutscht vom Georg Greflinger Regenspurgern / Kays. Notar.
1652 druckt die Offizin Rebenlein Des hochberühmten Spannischen Poeten Lope de Vega Verwirrter Hof oder König Carl / In eine ungebundene Hochdeutsche Rede gesetzet von Georg Greflinger Regensp.
Der Cid beruht dem Titel der Greflinger-Bearbeitung nach auf der gleichnamigen tragicomédie Corneilles (1637), der Verwirrte Hof ist eine Prosaübertragung von Lopes de Vega El palacio confuso (1635?).⁵⁸³ Tatsächlich fertigte Greflinger seine Übertragungen jedoch vorwiegend nach niederländischen Versionen der beiden Dramen an. So griff er für das Lope-Drama auf Leonard de Fuyter Verwerde-hof (Amsterdam 1647), für den Cid auf Johan van Heemskercks Fassung (Erstdruck 1641)
581 Ebd. 582 So beschreibt Rist in den Monatsgesprächen den Auftritt einer niederländischen Truppe in Altona: „Es ist meinen hochgeliebten Herren Gesellschafftern nicht unbewust / das wie wir etwann für vierzehn Tagen in der weitberühmten Stadt Hamburg sind angelanget / man uns gesagt hat / das in der allernähest dabey gelegenen / königlichen Stadt Altonah etliche Niederländische Komedianten wären ankommen / derer Haupt oder Führer Jean Baptista genennet würde / und / das diese Geselschafft ihre Komedien und Tragedien so wol fürstelleten / daß sie deßwegen von allen Kunstverständigen hoch gepriesen wurden. […]“ (Die Alleredelste Belustigung, Rist, Werke V, S. 275). Vgl. auch S. 310 f.: Hier zählt der Rüstige die Autoren auf, deren Stücke die Truppe von „Jean Baptista“ im Repertoire hat, nämlich Hooft, Drost zur Müyden, Baliutu von Goyeland, Gerhart von Velzen und Bredero. 583 Die Verfasserschaft Lopes de Vega ist umstritten. Vgl. Klaus Reichelt: Barockdrama und Absolutismus. Studien zum deutschen Drama 1650–1700. Frankfurt am Main 1981, S. 284. Außerdem scheint 1672 in Königsberg eine Greflinger-Übesetzung von Lopes El amigo por fuerza gedruckt worden zu sein (Die Geschichte vom gezwungenen Freund Printzen Turbino), die allerdings als verschollen gilt (Johann Bundschuh-van Duikeren: Niederländische Literatur des 17. Jahrhunderts. Berlin u. a. 2011, S. 619). Dünnhaupt schreibt das Stück hingegen Kampe zu.
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zurück.⁵⁸⁴ Letzteres konnte Godwin in einer Detailstudie belegen.⁵⁸⁵ Eine entsprechende komparatistische Untersuchung zum Verwirrten Hof steht zwar noch aus, doch widmet Reichelt Greflingers Lope-Adaptation ein Kapitel in seiner Abhandlung „Barockdrama und Absolutismus“. Reichelt interpretiert das Stück in der Fassung des deutschen Autors (ohne Berücksichtigung des Originals bzw. der niederländischen Version) als historisch-politisches Schauspiel, wobei die Offenlegung der staatstheoretischen Implikationen des Dramas Greflingers Intention erhelle, mit der er den Verwirrten Hof dem frisch nobilitierten schwedischen Rittmeister Hoffstedter von Kühnberg gewidmet habe: So stelle Lopes Drama einen für das Barockdrama charakteristischen Konflikt dar, nämlich die „Auseinandersetzung zwischen Vertretern der alten und neuen Adelsethik“.⁵⁸⁶ Evoziert werde dieser bei Lope durch das Eindringen eines Dienstadligen in ein ständestaatliches System: Der sich durch Tapferkeit und Leistung verdient gemachte Fremdling Carl („Meine Verdienste machen mich genugsam edel“⁵⁸⁷) erobert durch seine gewandte Verhaltens- und Redeweise das Herz der sizilianischen Thronerbin. Auch die Bürgerschaft kann er für sich gewinnen. Doch kaum die Macht erlangt, entwickelt der Regent tyrannische Züge und verkündet, dass der „gantze Sicilianische Adel vor der Sonnen Untergang diß Reich / bei Straffe Gutes und Blutes“⁵⁸⁸ zu verlassen habe. Das Souveränitätsverständnis des Autors verbietet den Tyrannenmord, so dass nur eine kluge Intrige in dieser brenzlichen Situation helfen kann: Der Graf Pompejo vermag es, mittels einer List dem zügellosen Carl in Gestalt des Hirten Heinrich „ein Korrektiv an die Seite zu setzen, das den Übergang zu einem absolutistischen Regiment wesentlich staatsklüger vollzieht.“⁵⁸⁹ Der ‚Clou‘ des Manövers besteht darin, dass der Hirte dem Tyrannen „von Gestalt gantz gleich ist / daß auch der weiseste einen vor den andern zu kennen fählen sol.“⁵⁹⁰ So entfaltet sich mit Anklängen an den ‚Bauer-als-Fürst‘-Topos eine ‚Spiel-im-Spiel‘-Situation. Dem Doppelgänger gelingt es nämlich, während der König schläft oder reist, den aufgebrachten Adel durch Vergabe prestigeträch-
584 Diese Vermutung äußerte bereits Bolte in Bezug auf den Verwirrten Hof. Bolte (Anm. 84), S. 109. Dass Greflinger auf die niederländische Cid-Version zurückgriff, vermutete zuerst Lutz Mackensen. „Ich bin ein Deutscher, das ist: frey“. In: Ostbriefe. Monatsschrift d. Ostdt. Akademie 6 (1960), S. 61–66. 585 Weldon Russell Godwin: Greflinger and van Heemskerck: A comparative exegesis of the earliest German and Dutch translations of Corneille’s “Le cid”. Tulande University 1974. 586 Reichelt (Anm. 583), S. 294. 587 Verwirrter Hof, Aiiij r. 588 Verwirrter Hof, Bv r. 589 Reichelt (Anm. 583), S. 295. 590 Verwirrter Hof, B vir.
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tiger Hofämter zu besänftigen. Schließlich fliegt der Betrug zwar auf, doch wird durch Zufall zugleich auch die wahre Identität der Doppelgänger enthüllt: Carl und der Hirte Heinrich sind Zwillingsbrüder und Söhne des verstorbenen Königs, die als Säuglinge wegen eines unheilvollen Orakelspruchs vom Hof verstoßen worden sind. Carls Königtum ist somit dynastisch legitimiert, auch legt er seine tyrannische Herrschaftsweise ab. Es kommt zur Versöhnung, die mit einer Dreifachhochzeit besiegelt wird. „Am Ende des Dramas begegnet am sizilianischen Hof ein polititsches System, in dem die maiestas ausgeht von einem in seinen Machtbefugnissen kaum eingeschränkten Souverän und in dem der für die Zeit charakteristische Statuskonflikt zwischen den Vertretern der alten und neuen Adelsethik beseitigt ist.“⁵⁹¹ Die Wahl des Widmungsempfängers scheint angesichts des politischen Gehalts des Stücks wohl durchdacht zu sein: Der in schwedischen Diensten stehende Oberkriegskomissar war 1651, also ein Jahr vor der Veröffentlichung des Verwirrten Hof, für seine militärischen Verdienste vom schwedischen König geadelt worden, repräsentierte somit wie der Protagonist des Dramas (dessen köngliche Herkunft sich am Ende allerdings herausstellt) den neuen Dienstadel. Dass Hoffstedter die Übersetzung in Auftrag gegeben hat, ist fraglich. Eher wäre zu vermuten, dass Greflinger den frisch Nobilitierten als Gönner zu gewinnen suchte, indem er ihm eine Art ‚Fürstenspiegel‘ zueignete. Neben einer Gratifikation wird sich der journalistisch ambitionierte Autor erhofft haben, durch den Kontakt zu Hoffstedter in Zukunft neueste Nachrichten aus dem nordischen Königreich aus erster Hand zu ergattern. Außerdem werden sich Autor, Drucker und Verleger mit einer Übersetzung eines Stücks des bereits über die spanischen Grenzen hinaus populären Comedia-Dichters kommerziellen Erfolg versprochen hatten. Doch verfolgt der Übesetzer neben den Intentionen ‚networking‘ und ‚Kommerz‘ auch einen dezidiert literarischen Anspruch, den er in der Vorrede artikuliert: Unlängst reyhmete ich die berühmte Comoedia Cid in unser Deutsch / hier aber gebe ich den gereyhmten König Carl oder Verwirrten Hof in ungebundener Rede / umb zu sehen / welche Art am besten beliebe. Viel Comoedien sind mehr in das Aug als in das Ohr / viel sind mehr in das Ohr als in das Aug / diese sol deine Augen nicht wenig belustigen. Wäre es meine Müglichkeit des Autors zierliche Reden etwas zu erreichen / sollte ich auch das Ohr nicht wenig bekützeln. Ein jeder thut nach seinem Vermögen / kann es der großsprächende Zoilus⁵⁹² verbässern / so thue er mier ein grosses Gefallen / dann ich es gerne verbässern sehe. Wo nicht / und es ist sein Maul nur vol Winde / so setzen wir ihn unter die Zahl dieser
591 Reichelt (Anm. 583), S. 297. 592 Der topische Nörgler, ein schmähsüchtiger Kritiker Homers.
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Spielenden und geben ihm dem Nahmen des Großsprächers Barlovento⁵⁹³. Ich aber bin meines Deutschen Freundes. dienstwilliger Seladon.
Hervorstechend ist hier die Bermerkung zur formalen Gestalt des Textes. Denn während er in der Corneille-Übertragung die französischen Verse in Opitz’sche Alexandriner wandelt, stellt Greflinger mit dem Verwirrten Hof eine alternative Übersetzungsoption vor, nämlich die Prosaübertragung eines Versdramas. Damit präsentiert Greflinger seine Übertragung als Abschluss eines zweiteiligen poetischen Versuchs, dessen erster Part zwei Jahre zuvor mit der Cid-Translation durchgeführt wurde. Das ‚Übersetzungsexperiment‘ erweist sich somit als Beitrag zu der alten poetologischen Debatte, welche formale Gestalt das Drama haben sollte. Sie wurde aktuell auch im Rist-Kreis aufgegriffen. So wird in den Monatsgesprächen die Frage diskutiert, „[o]b es besser sey / daß man die Traur- und Freudenspiele in gebundener oder ungebundener Rede fürbringe“, wobei der Rüstige selbst der Ansicht ist, dass die ungebundene Rede für das Drama in deutscher Sprache geeigneter sei – aus theaterpraktischen, ästhetischen und didaktischen Gründen.⁵⁹⁴ Greflinger überlässt dem Leser das Urteil. Mit seinen beiden Werken bietet er den Direktvergleich an. In der zwei Jahre zuvor verfassten Vorrede zum Cid hebt Greflinger stärker auf die Absicht seiner Übersetzungsarbeit ab: An den günstigen Leser. Meinen Gruß und Vermögen. Dieses Leyd in Freud außgehendes Spiel oder Tragi Comoedia genahmt CID. Ist nichts anders als ein Streit der Ehr und Liebe. Der Franzoß und Niederländer⁵⁹⁵ meynet / daß über dieses Spiel Erfindung noch nichts bässers gekom(m)en sey. Der Erfinder heisset Cornelius ein Franzoß. Seine Worte sind kurz aber sehr Sinnreich / und ist ein Zweifel / daß es ein Deutscher / die Reyhmen ungemartert / so kurtz geben kön(n)e. Ich gebe nur den Schatten davon / das rechte Bild mag an dem Französischen gesehen werden. Will sich jemand weiter darüber machen der thue es / meines sol ihm gerne weichen / dann es nicht zur Pralerey / sondern zur Ubung der Sprachen gesezet worden. Man wird Wercks genug finden. Der Schatte[!] wurde mir sauer genug / geschwiegen das Bild zugeben. Im übrigen hoffe ich / es werde mier es niemand verärgen / alß eben ich der nüchternste unter
593 Der Diener Carls im Stück. 594 So lästert Rist über die ‚Texthänger‘ der holländischen Schauspieler. Diese störenden Darbietungsfehler würden sich bei der Deklamation von Prosatexten verringern, denn ein Prosadrama erlaube dem Darsteller zur Not eine sinngemäße Textwiedergabe. Außerdem könnten die Akteure bei ungebundener Rede authentischer gestikulieren. Ferner sei es möglich, Liedeinlagen elegant zu integrieren. All diese Aspekte trügen dazu bei, dass das Hauptziel des Schauspiels, die moralische Besserung und Erbauung des Zuschauers, besser erreicht werden könne. Rist, Alleredelste Belustigung, (Werke IV) S. 310 ff. 595 Greflinger deutet also an, dass ihm auch eine niederländische Fassung vorgelegen hat (auch in V. 15).
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den Bezechten von dem Castalischen Bronnen dergleichen verdeutschet habe. Ich bin ein Deutscher / das ist / frey / habe die Freyheit mich in meiner und andern Sprache zu üben als der Gelehrteste / wann ich nur schreibe was ehrbar und keinem nachtheilig ist. Ich bin bey den Versen geblieben gleich der Franzoß und Niderländer.⁵⁹⁶ / habe nicht mehr nicht weniger / mehr aber den Verstand als die Worte. Jede Sprache hat ihre Art zu reden / muß man sich also darein schicken / wie es am bästen stehet. Gefällt dier dieses / so erwarte noch drey andere / nämlich den bekläglichen Zwang / die Laura und den Andronicus mit dem Aron.⁵⁹⁷ Gefallen sie / so bewürdige mich auch mit deiner Gunst / wo nicht so hab ich gleichwol diesen Nutzen / daß ich mier hiedurch die Sprache bekannt mache. Lebe wol / und deute alles zum bästen. Hamburg den 1. August Ann 1650. Ich bin dein Dienstergebender G. G.R. K.N.⁵⁹⁸
Zunächst wird mit den Passagen, in denen Greflinger den propädeutischen Charakter seiner Übersetzungsarbeit hervorhebt – die Übung in der Muttersprache einerseits, die Möglichkeit des Fremdsprachenerwerbs andererseits – direkt an die zeitgenössischen Theorieangebote zum „Verdolmetschen“ angeknüpft.⁵⁹⁹ Dabei sollte man die apologetischen und bescheidenheitstopischen Gesten trotz der Vehemenz, mit der sie vorgetragen werden, nicht allzu wörtlich nehmen. Sie sind seit der Antike Bestandteil des Exordiums und haben die Aufgabe, das Wohlwollen des Lesers zu evozieren, wenngleich Greflinger gewiss nicht grundlos tiefstapelt: Corneilles Stück verdankte bekanntlich seine künstlerische Wertschätzung – bei aller Kritik, die man dem Stück in anderer Hinsicht entgegenbrachte – insbesondere der Qualität seiner Verse. Dass der deutsche Autor dennoch mit hochambitioniertem Anspruch auftritt, verdeutlicht indes bereits die Wahl dieser Vorlage.
596 Greflinger gibt die französischen Alexandriner in der von Opitz kodifizierten Gestalt des deutschen Alexandriners (als jambischen Sechsheber) wieder. 597 Greflinger kündigt also Übersetzungen von Lopes Dramen La fuerza lastimosa (= „Der beklägliche Zwang“) und Laura perseguida an. Mit dem Titus-Drama könnte Jan Vos’ Titus en Aran gemeint sein. S. Bolte (Anm. 84), S. 112. Hermann Tiemann (Lope de Vega in Deutschland. Kritisches Gesamtverzeichnis der auf deutschen Bibliotheken vorhandenen älteren Lope-Drucke und -handschriften; nebst Versuch einer Bibliographie der deutschen Lope-Literatur 1629–1935. Hamburg 1939, S. 168) geht davon aus, dass Greflinger die „Laura“ geliefert hat und zwar nach der niederländischen Fassung Vervolgde Laura von Adam Karelsz Zjermes. Bibliographisch ist die Übersetzung jedoch nicht nachweisbar. 598 Greflinger, Cid, Aij r–Aij v. Zitiert nach dem Exemplar der FB Gotha: Poes 8° 2531 /2 (2) [1679, das Vorwort ist identisch mit dem der Erstauflage von 1650]. 599 Sedlarz weist die zum Teil wörtliche Anlehnung an Harsdörffer nach (Anm. 329, S. 28). Zu Harsdörffers Übersetzungstheorie vgl. Jörg Robert: Im Silberwerk der Tradition. Harsdörffers Nachahmungs- und Übersetzungstheorie. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem Uomo Universale des Barock. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki, Ursula Kocher. Berlin, New York 2011, S. 1–22.
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Seine erste Dramenübersetzung stellt immerhin die imitatio eines Textes dar,⁶⁰⁰ der zu den erfolgreichsten und meistdiskutierten (‚Querelle du Cid‘) der europäischen Gegenwartsliteratur zählte und dessen Aufführung das vielleicht „größt[e] Bühnenereignis des 17. Jahrhunderts überhaupt“⁶⁰¹ darstellte. Kein deutscher Autor hatte sich bislang mit einer Übersetzung an die Öffentlichkeit gewagt.⁶⁰² Greflingers Versuch, der sich vor allem an der niederländischen Zwischenübersetzung orientiert,⁶⁰³ stellt somit die erste gedruckte Version des Corneille-Dramas in deutscher Sprache dar.⁶⁰⁴ Von dieser Warte aus betrachtet, überrascht die markante Aussage des kurzen übersetzungstheoretischen Textes, die gleichsam demonstrativ aus dem Dickicht der Demutsbekundungen und Rechtfertigungen hervortritt und auch formal in etwa im Zentrum der Vorrede plaziert ist, nicht. Sie ist als kulturpatriotisches Bekenntnis zu werten, das zugleich von einer sehr selbstbewussten Haltung des Autors zeugt: „Ich bin ein Deutscher / das ist / frey / habe die Freyheit mich in meiner und andern Sprache zu üben als der Gelehrteste / wann ich nur schreibe was ehrbar und keinem nachtheilig ist.“⁶⁰⁵
600 Zur Übersetzung als Form der imitatio vgl. Peter Hess: Poetik ohne Trichter. Harsdörffers „Dicht- und Reimkunst“. Stuttgart 1986, S. 171 f. Dass Greflinger seine Übertragung im wahrsten Sinne als ‚Nachbildung‘ versteht, wird auch durch die Formulierung „Ich gebe nur den Schatten davon / das rechte Bild mag an dem Französischen gesehen werden“ deutlich. 601 Pierre Corneille: Le Cid / Der Cid. Tragicomédie en cinq actes / Tragikomödie in fünf Aufzügen. Frz. / Dt. Hg. u. übers. von Hartmut Köhler. Stuttgart 1987, Nachwort S. 320. 602 Eine handschriftliche Übertragung wurde 1636 angefertigt. Die Versifikation ist hier nicht sehr elegant gelöst, da auf den natürlichen Wortakzent keine Rücksicht genommen wird. Vgl. Rudolf Raab: Pierre Corneille in deutschen Übersetzungen und auf der deutschen Bühne bis Lessing, ein Beitrag zur Literatur- und Theatergeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts. Diss. Heidelberg 1910, S. 6 –13. 603 Eine komparatistische Studie müsste im Einzelnen klären, ob Greflinger auch den Originaltext vorliegen hatte. 604 Schäfer irrt also, wenn er die Übersetzung des Straßburgers Isaac Clauß von 1655 für die erste deutsche, gedruckte Cid-Übertragung hält. (Walter Ernst Schäfer: Isaac Clauß Le Royaume de la Coquetterie, Oder Beschreibung des Neuentdeckten Schnäblerlandes [1659]. In: Daphnis 21 [2002], S. 317–348, hier S. 317). 605 Mackensen hat sich in einer kurzen Abhandlung mit dieser auffallenden Bemerkung der Cid-Vorrede beschäftigt. Er rekonstruiert den breiten Bedeutungshorizont des Freiheitsbegriffs zur Zeit der Abfassung des Textes: „Die vielen Belege im ‚Deutschen Rechtswörterbuch‘ (III 683 ff., 756 ff.) zeigen, wie nahe es dem Sprecher des 17. Jahrhunderts lag, seinen Anspruch, etwas zu tun oder zu lassen, ‚Freiheit‘ zu nennen. […] Gerade diese breite Streuung machte das Wort vielbödig.“ Mackensen vermutet, dass Greflinger Miltons „speech for the Liberty of Unlicensed Press“ gekannt hat, und dass sich sein Statement als „ein früher Widerhall der ‚modernen‘ Stimmen, die damals aus England nach Deutschland drangen“, zu verstehen sei. Zudem würden „soziale Ressentiment[s] gegen die Akademiker seiner Umwelt“ mitschwingen. Mackensen (Deutscher, Anm. 584), S. 62. Wichtig dürfte in diesem Zusammenhang die Beobachtung
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Neben der Aussicht, dass sein schriftstellerisches Ansehen durch eine anspruchsvolle Übersetzungsarbeit gesteigert werden könnte, werden sich Greflinger und sein Verleger Naumann auch in diesem Fall finanziellen Erfolg erhofft haben. Die drei Auflagen der niederländischen Cid-Version innerhalb weniger Jahre sprachen für sich.⁶⁰⁶ Und doch konnten die Hamburger den Erfolg der Amsterdamer Kollegen wohl nicht wiederholen. Immerhin erscheint 1679, zwei Jahre nach Greflingers Tod, eine Neuauflage, jedoch nicht bei Naumann, sondern im Wolffschen Verlag. Noch eine Randbemerkung: Eine späte Anerkennung wird Greflingers Arbeit durch niemand Geringeren als Gottsched zuteil, der die erste deutsche Übersetzung des Cid als Aufhänger eines ganzen Kapitels in seinen Beyträgen zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit heranzieht. Die Entdeckung der deutschen Übertragung des Corneille-Stücks inspirierte den ‚Leipziger Literaturpapst‘ gar zu seiner Auseinandersetzung mit den dramentheoretischen Schwierigkeiten der französischen Tragikomödie. Abschließend widmet er sich „nunmehro unsere[r] kleine[n] Übersetzung“, um zu prüfen, „wie Herr Greflinger seine Pflicht in acht genommen habe.“⁶⁰⁷ Zwar findet er zahlreiche Übersetzungsfehler und inhaltliche Abweichungen kritikwürdig. Doch fehlt es nicht an einem lobenden Wort, so dass er Greflinger attestiert, durch die Wahl seines Prätextes zumindest einen treffsicheren Geschmack bezeugt zu haben: Denn „ob sie [Greflingers Übersetzung] zwar bey jetzigen Zeiten alt und verächtlich ist“, demonstriere sie doch, „daß man vor 80 Jahren auch unter den Deutschen einen Unterscheid unter guten und schlechten Schauspielen habe machen können.“⁶⁰⁸ Abschließend sei erwähnt, dass der Verwirrte Hof auch den Weg auf die Schulbühne gefunden hat, zumindet führt das Zittauer Gymnasium 1661 ein Stück mit dem Titel „Der Verwirrte Sicilianische Hoff“ auf. Inhaltsangabe und Personenverzeichnis auf dem Programmzettel lassen darauf schließen, dass die Übertragung Greflingers als Text der Aufführung gedient hat. Noch 1680 scheint das Stück im Schloss zu Bevern von einer Wandertruppe, 1683 am Dresdner Hof von Hofkomödianten aufgeführt worden zu sein.⁶⁰⁹
sein, dass die Kombination der Begriffe „Freiheit“ und „Deutsch“ in Texten aus dem Umfeld der Sprachgesellschaften häufig anzutreffen ist. 606 Ebd., S. 61. 607 Gottsched, Beyträge (Anm. 48), S. 311. 608 Ebd., Kap. VI. S. 294. Bei der neueren deutschen Übersetzung, die Gottsched kurz erwähnt und die der Greflingerschen vorzuziehen sei, handelt es sich wohl um die Arbeit von Gottfried Lange („Der Cid | Ein Traurspiel in fünf Aufzügen“, 1699). 609 Tiemann (Anm. 597), S. 169 und S. 173–175. Möglicherweise handelt es sich bei dem Stück „Von den verwirten Hoff von Cicilien“, das 1666 in Lüneburg aufgeführt wurde, ebenfalls um die Greflinger-Übertragung (ebd., S. 170). Zu weiteren Aufführungen vgl. ebd. S. 182 f.
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10.3 Pragmatische Literatur Betrachtet man die Quanitätsverhältnisse in Greflingers Gesamtwerk, dominiert neben dem Gebiet der Casualia und der journalistisch-chronistischen Arbeiten ein spezifischer Bereich pragmatischer Literatur, der für Greflinger offenkundig eine wichtige Einnahmequelle darstellte: Kochbücher, Anleitungen zum Gartenbau, ökonomische Ratgeber und sogenannte ‚Komplimentierbüchlein‘. Letztere haben im Kontext von Konversationstheorien und der Beschäftigung mit frühmoderner Gesellschaftsethik neuerdings ein gewisses Forschungsinteresse erfahren.⁶¹⁰ Im Allgemeinen handelt es sich bei Komplimentierbüchlein um gut verkäufliche Druckschriften, die neben allgemeinen Fragen des Anstands vor allem das Komplimentieren [behandeln], indem sie rein theoretisch, theoretisch mit Beispielen unterstützt, oder rein exemplarisch Komplimentieranleitungen geben. Der zeitgenössische Leser sollte befähigt werden, seine Glückwünsche, Bitten, Grüße, Kondolenzen oder andere Sprechakte in einer der aktuellen gesellschaftlichen Norm angepassten Form vorzubringen.⁶¹¹
Der immense Erfolg, der Greflingers Ethica Complementoria, Das ist: Complementir-Büchlein beschieden war, manifestiert sich in den 44 Auflagen, die zwischen 1643 und 1727 erschienen,⁶¹² so dass der Buchtitel sogar den Gattungsnamen schuf.⁶¹³ Hinzukommen mehrere Übernahmen in andere Werke.⁶¹⁴ Die Ethica Complementoria präsentiert sich als moralphilosophisch fundierter Leitfaden, der dem jungen Mann anhand unterhaltsamer Exempel Empfehlungen für situationsadäquate Konversation und angemessene Verhaltensweisen ausspricht. Damit unterscheidet sie sich beispielsweise von stärker theoretisch angelegten Komplimentierwerken. So wird im Kapitel „Von Jungfern complementen“ anhand eines Negativbeispiels vorgeführt, wie man sich bei Konversation mit „vornemen Frawen oder Jungfrawen“ durch die Wahl eines falschen Gesprächsthemas schnell in eine peinliche Situation manövrieren kann: Der der rechten Komplimentierkunst unkundige „Jung Gesell“ leistet sich nämlich einen
610 Manfred Betz: Art. ‚„Komplimentierbuch.“ In: RLW 2, S. 321 ff. Die neuesten Arbeiten zur Gattungsgeschichte des Komplimentierbuchs legte Cathrin Hesselink (Das Komplimentierbuch. Entwicklung und Kontexte einer vermittlenden Gattung. Diss. München 2013; Der Zusammenfall von Rhetoriktradition und Gesellschaftsethik in den Komplimentierbüchern des 17. Jahrhunderts. In: Jahrbuch für Rhetorik 31 [2012], S. 47–60). 611 Hesselink (Rhetoriktradition, Anm. 610), S. 47. 612 Vgl. die Angaben bei Hesselink, ebd.. Zur Frage der Autorschaft s. unten. 613 Betz (Anm. 610), S. 321. 614 Ebd.
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völligen Fauxpas, wenn er die „Jungfer“ nach ihrer Einschätzung der aktuellen politischen Lage befragt, woraufhin er erwartungsgemäß geradewegs „abgewiesen / und von den andern Anwesenden hönisch gehalten war.“⁶¹⁵ Es ist jedoch nicht eindeutig zu klären, ob das Komplimentierbüchlein originär tatsächlich aus der Feder Greflingers stammt. Die erste bislang nachweisbare (anonyme) Fassung datiert 1643 in Nürnberg, wo ansonsten keine Greflinger-Werke gedruckt wurden. Ab 1647 publiziert Greflingers Hamburger Hausverlag Johann Naumann die Ethica Complementoria. Doch auch in diesen Ausgaben tritt kein Verfasser in Erscheinung. Bis 1665 werden alle weiteren Auflagen anonym herausgegeben, dann erst taucht Greflinger als Überarbeiter („an vielen Orten gebessert und vermehret / durch Georg Grefflingern / gecrönten Poeten / und Not. Pub.“) im Titel auf und zwar zuerst in einem Amsterdamer Druck.⁶¹⁶ Die Texte aller Ausgaben sind dabei seit dem ersten nachweisbaren Druck von 1643 nahezu identisch, lediglich die Anhänge variieren. So befinden sich in den Naumannschen Ausgaben der Ethica im Anhang modische Sprichwörter, der Hannoveraner, Kopenhagener und Amsterdamer Druck fügen ein sogenanntes Tranchir-Büchlein⁶¹⁷ sowie „züchtig[e] Tisch- und Leber-Reime“ bei. Ab 1648 erscheint das Komplimentierbüchlein auch als Anhang der Cochleatio Novissima. Das ist / Ware Abbildung der heut zu Tag zu viel ublicher Kunst der Löfflerey, als dessen Autor ein „David Seladon OSNAbruggensem“ ausgegeben wird und ein Gerhard Vogel aus Münster als Überarbeiter auftritt.⁶¹⁸ Die beigegebenen ‚Sprichwörter‘ stammen aus dem Neumannschen Komplimentierbuch. Aufgrund dessen sowie wegen des Pseudonyms schreibt Dünnhaupt die Cochleatio Novissima Greflinger zu.⁶¹⁹ Die Verbindung David-Seladon ist jedoch singulär und wird von Greflinger in keiner weiteren Schrift verwendet. Noch eigenartiger mutet für Greflinger das Herkunftsepitheton „Osnabruggensem“ an – es gibt keine
615 Georg Greflinger: Ethica Complementoria, Darinn Ein richtige Art vnnd Weise grundförmlich abgebildet wird, wie man so wol mit hohen Fürstlichen, als nidrigen Personen, auch bey Gesellschafften, Jungfrawen vnd Frawen Hofzierlich conversiren, reden, vnd vmbgehen müsse, Erstlich gedruckt, Hamburg, [1646?] Zitiert nach dem Exemplar der BSB München, Das sechste Kapitel, D r. 616 Ethica Complementoria, Das ist: Complementir-Büchlein: In welchem enthalten / eine richtige Art / wie man so wol mit hohen als nidrigen Standes-Personen: bey Gesellschafften und Frauen-Zimmer Hofzierlich reden / und ümgehen solle / Neulich wider übersehen / und an vielen Orten gebessert und vermehret / durch Georg Grefflingern / gecrönten Poeten / und Not. Pub. Mit angefügtem Trenchir-Büchlein / auch züchtigen Tisch- und Leber-Reimen. Amsterdam 1665. 617 Dünnhaupt schreibt das Tranchir-Büchlein Harsdörffer zu. (S. 2686, Nr. 7.16). 618 Der Druckort „Liebstadt“ ist fingiert. 619 DÜNNHAUPT III, S. 1689, Nr. 12.1–12.5.
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weiteren Hinweise für eine Verbindung zu der Stadt (Besteht ein Zusammenhang mit dem Erscheinungsjahr, in dem Sinne, dass 1648 die westfälischen Städte sozusagen in aller Munde waren und auf Grund dessen ein Autor bzw. Bearbeiter aus den Friedensstädten den Verkaufserfolg steigern konnte?) Der Verkauf des Buches war auf jeden Fall mit Risiken behaftet. So löste ein Emdener Buchhändler mit der öffentlichen Veräußerung der anstößigen und „der catholischen Religion“ höchst nachteiligen Cochleatio Novissima, die „under erdichtetem Nahmen des Auctoris, Buchtrückers und Orts, an welchem es getruckt“ erschienen war, während des Friedenskongresses in Münster einen regelrechten Skandal aus.⁶²⁰ Zwei weitere Indizien (neben den von Dünnhapt genannten) sprechen dafür, dass Greflinger an der Verfasserschaft des Erotik-Handbuches zumindest beteiligt war: Die Cochleatio Novissima steht nämlich in der Tradition von Ovids Ars Amatoria, die Greflingers Frankfurter Verleger Mathäus Kempfer, in einer Überarbeitung der alten Übersetzung von Paul von Aest (1604) 1644 erneut herausgab.⁶²¹ Den Druckort der Ovid-Übersetzung nennt Kempfer „Liebstatt“ – denselben fingierten Ortsnamen finden wir auf dem Titelblatt der Cochleatio Novissima. Damit darf vermutet werden, dass der Frankfurter Buchhändler auch diese herausgegeben hat. Von Kempfer ist der Weg zu Greflinger nun nicht weit. Und tatsächlich gibt es einen weiteren Gesichtspunkt, der für seine Beteiligung spricht: In beide Liebestraktate ist ein Lied aus Seladons Beständige Liebe integriert, die „Unterweisung heimlich zu lieben.“⁶²² Es ist auch im Anhang der Naumannschen Komplimentierbücher abgedruckt.⁶²³ Die Attribution der Cochleatio Novissima an Greflinger wird durch dieses Faktum erhärtet, einen Beweis liefern die genannten Indizien nicht.
620 Der Vorfall wird in den Akten des Domkapitels Münster geschildert. Vgl. Gerd Dethlefs: Friedensappelle und Friedensecho. Kunst und Literatur während der Verhandlungen zum Westfälischen Frieden. Ungedruckte Dissertation, Universität Münster 1998; http://miami.uni-muenster.de/servlets/DerivateServlet/Derivate-2170/diss_dethlefs.pdf, S. 130. 621 De Arte Amandi. Das ist / Die Kunst der Liebenden: In Latein beschrieben durch den … Poeten Ovidium Nasonem, der vorzeiten under dem Käyser Augusto zu Rom gelebt und floriert hat. Erstlich in Nieder: nun aber in Hoch-Teutsch ubersetzt […] und an vielen Orten verbessert / Ovidius Naso, Publius. Getruckt zu Liebstatt. 1644. Franckfurt bey Matthäo Kempffer zu finden. 622 Cochleatio Novissima, S. 183–188, De arte amandi, S. 422–427, hier schließt sich noch das Gedicht „Ach wie soll ich dich verlassen / die du meine Seele bist“ an. 623 Es wird hier „zu Erfüllung des übrigen Raums“ als Lied „aus des Seladons Getichten“ vorgestellt und ohne Noten abgedruckt. Es ist, so die Anweisung, auf die Melodie „Wer fragt danach etc.“ zu intonieren – eine Arie von Heinrich Albert (I, 25), die auch in den Weltlichen Liedern mit Greflingers Text verbunden wird, dort allerdings ohne Thonangabe, ferner ohne Hinweis auf Albert mit dem vollständigen Generalbass-Satz. (Komplimentierbüchlein darin eine richtige Art abgebildet wird, wie man sowohl mit hohen … als niedrigen Personen … umbgehen soll. Dabey ein Anhang Etlicher alamodischer Damen Sprichwörter / und itzt üblichen Ryhme. Hamburg /
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Bedenkenlos konnte Greflinger seinen Namen hingegen auf die Titelblätter verschiedener Garten- und Küchenhandbücher setzen, die seit Mitte der 1650erJahre in Hamburg erschienen. Wiederum handelt es sich um Übersetzungen, wobei man Greflinger hinsichtlich der Wahl seiner Vorlagen gewohntermaßen einen treffsicheren Sinn für potentielle Verkaufserfolge attestieren kann. 1651 hatte der Kammerdiener Ludwig XIV., Nicolas de Bonnefons, ein an bürgerliche und adelige Landbesitzer gerichtetes Ratgeberbuch publiziert, in dem Gartenbautechniken beschrieben werden und zum Konservieren der Ernte angeleitet wird. Innerhalb kurzer Zeit avancierte Le gardinier françois (1651) in Frankreich und bald auch in England zum Bestseller. Greflinger konsultierte für seine 1655 unter dem Titel Der verständige Gärtner Uber die zwölff Monate des Jahres publizierte Version des Gardinier françois, die er später nochmals in drei separaten Teilen (Der Frantzösische Baum- und Stauden-Gärtner, Der Frantzösische KüchenGärtner und Der Frantzösische Confitirer, 1663–1664) herausbrachte, die niederländische Fassung (Pieter van Engelen, Der verstandige hovenier). Der verständige Gärtner erlebte zahlreiche Auflagen, wurde bald schon in Hannover und Frankfurt am Main gedruckt und bis Ende des 18. Jahrhunderts in leichten Bearbeitungen neu herausgegeben oder im Anhang an andere Handbücher publiziert.⁶²⁴ Gerade die Metropolregion Hamburg mit ihrer „unaufhörliche[n] Gartenlust“⁶²⁵ bot für diesen Ratgeber den idealen Absatzmarkt. 1665 erhofft sich Greflinger mit der Übersetzung des zweiten Bonnefons-Ratgebers, des Kochbuchs Les délices de la Campagne, den Erfolg fortzusetzen (Der französische Becker bzw. Der französische Koch, beide 1665). Aufgrund ihrer Themenkreise sind die genannten Ratgeber, was ihre Gattungszugehörigkeit betrifft, in der Randzone der frühneuzeitlichen Oikonomik oder ‚Hausväterliteratur‘ zu situieren.⁶²⁶ Die typischen Materien dieser Textsorte wie soziale Beziehungen, religiöse und moralische Pflichten sowie die Lehre vom ‚Ganzen Haus‘ (Otto Brunner) bleiben hingegen ausgespart. Im Zentrum stehen ausschließlich Techniken der Hauswirtschaft, nämlich der Gartenbau und das Kochen. Die Darstellung an sich ist meist nüchtern, gelegentlich werden jedoch im Der verständige Gärtner vergnügliche Verse eingebaut, die als Merksprüche fungieren.
bey Johann Naumann / Buchh. 1654, F vjv- Fvjiiiir. Zitiert nach dem Exemplar der BSB München: Ph.pr. 305. 624 Vgl. DÜNNHAUPT III, S. 1693 (Nr. 25.I–25.IV). 625 Vgl. Claudia Horbas (Hg.): Die unaufhörliche Gartenlust. Hamburgs Gartenkultur vom Barock bis ins 20. Jahrhundert. Hamburg 2006. 626 Vgl. Paul Münch: Art. „Hausväterliteratur“. In: RLW 2, S. 14–17.
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In diese Kategorie hausväterliterarischer Texte ist ein weiterer kurzer Traktat einzuordnen, nämlich der 1655 in Hamburg bei Rebenlein erschienene ökonomische Ratgeber Schatz über Schatz. Das ist: Was ihr alle lang verlanget habt. nähmlich Das Mittel bald reich zu werden,⁶²⁷ der ebenfalls auf einer französischen Vorlage beruht (Discours oeconomique des ‚Prudent Le Choyselat‘, Erstausgabe 1569)⁶²⁸ und auch in England stark verbreitet war.⁶²⁹ Zu vermuten ist, dass Greflinger sich an eine in Amsterdam erschienene Fassung anlehnte.⁶³⁰ In Form eines Briefes bietet der „Schreiber“ seinem „Freind“, der in den Wirren der Huggenottenkriege Hab und Gut verloren hat, einen genau durchkalkulierten Businessplan für die Gründung einer Hühnerfarm dar. Dabei werden die klassischen Werke der Agarliteratur (Columella, Cato etc.) sowie der Tierkunde (Plinius etc.) zur Argumentation herangezogen. Gleichzeitig wird die Abhandlung mit amüsanten Anekdoten und derben Kommentaren angereichert, so dass das delektierende Moment breiten Raum einnimmt – „so lustig als nützlich“ heißt es ‚gut horazisch‘ bereits im Titel. 1661 erscheint in Nürnberg ein Nachdruck, der im Wortlaut leicht variiert und Greflinger nicht als Übersetzer anführt, während ihn eine 1716 in Glückstadt erschienene Fassung im Titel nennt.
627 Schatz über Schatz. Das ist: Was ihr alle lang verlanget habt. nähmlich Das Mittel bald reich zu werden. als Von fünffhundert auf einmalangelegten Gülden Jährlichs / sonder Wucher / Viertausend und fünffhundert Gülden zu gewinnen / Erst in Frantzösischer Sprache geschrieben. izt verdeutscht von Georg Greflinger. Hamburg 1655. 628 Discours oeconomique, non moins utile que récréatif, monstrant comme, par le mesnagement de poulles de cinq cens livres, pour une foys employées, l’on peult tirer par an quatre mil cinq cens livres de proffict honneste [Texte imprimé], par M. Prudent Le Choyselat. 629 A discourse of housebandrie, no lesse profitable then delectable: declaryng how by the housebandrie, or rather housewiferie of hennes, for fiue hundreth Frankes or Frenche poundes (making in Englishe money lv.£i. xi.s̄. i. d.) once emploied, one maie gaine in the yere, fower thousande and fiue hundreth Frankes (whiche in Englishe money, maketh fiue hundreth pou[n] des) of honest profite: All costes and charges deducted. Written in the Frenche tongue by Maister Prudent Choselat. And lately translated into English by R. E. London 1577. 630 Newe und nutzbahre Kunst in Hausshaltung / auss dem frantzösischen in unsere teutsche Mutter-Sprache transvertirt und übersetzet; in welchen gelehret, berichtet, und unterrichtet wird wie man mit fünff hundert Gülden auff einmahl anzulegen jährlich vier tausent fünff hundert Gülden ohne Schinden, Schaben und unredlichen Wucher mit Ehr und guten Rahmen gewinnen kan […] Amsterdam (1615?).
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10.4 Epigramme und Emblematik Während seines Aufenthalts in Danzig erscheint hier 1645 Greflingers Epigrammsammlung Georgen Grevlingers Deutscher EPIGRAMMATVM.⁶³¹ Es ist das einzige Greflinger-Werk, das abgesehen von den Casualia in Danzig gedruckt wird. Kollektionen von Sinnsprüchen waren durch Opitz’ 1639 bei Hünefeld erschienenen zweiteiligen FLORILEGII VARIORVM EPIGRAMMATVM in Danzig besonders präsent. Titz publizierte 1643 ebenfalls bei Hünefeld seine FLORILEGII OVVENTIANI CENTURIA, eine zweite Centuria erschien 1645. Simon Schultz’ Centuria Epigrammatum e Martialis et Ovveni Libris sectorum wurde hier 1644 veröffentlicht, Michael Albinus’ Sibenmahl Sibentzig EPIGRAMMATA erschienen 1648. Der Titel der Greflinger-Sammlung deutet an, dass er wie Opitz eine Fortsetzung vorlegen wollte, von der aber nichts bekannt ist. Doch sind Epigramme Bestandteile weiterer Werke. So befinden sich „Schimpff- und Ernsthaffte Gedichte“ im Anhang der Weltlichen Lieder und der Celadonischen Musa. Außerdem fertigte Greflinger eine Übersetzung der lateinischen Epigramme seines Hamburger Freundes, des Juristen Johann Ulrich Strauss, an, die dessen Distichorum Centuria beigefügt sind und die Greflinger teilweise in der Celadonischen Musa wiederverwendet.⁶³² Insgesamt verfasste Greflinger etwa 650 Epigramme.⁶³³ „[O]ft kurtz, jedoch nicht unlieblich noch unkernhafft,“⁶³⁴ lautet Schottels Urteil hierzu. Die Danziger Sammlung enthält 98 Epigramme. Mit einem Anteil von mehr als einem Drittel stellen satirische Epigramme den dominierenden Typus dar, gnomische und panegyrische Texte sind ebenfalls vertreten, aber in verhältnismäßig geringerer Anzahl. Eröffnet wird die Sammlung von einem Ensemble panegyrischer Verse auf Personen und Städte, beginnend mit einem Lob „Auff den großmächtigsten König in Polen“, in dem Greflinger den Waffenruhm Wladislaws und gleichzeitig den Friedenswillen des Wasa hervorhebt. Bezeichnenderweise ist gleich das zweite Gedicht Gustav Adolf gewidmet: Auff deß tapffern Königs Gustavus Grabstein Alhier liegt Calchas in dem rathen / Achilles wegen seiner Thaten / Nestor von dem weisen reden / Hector vor sein liebes Schweden.
631 Georgen Grevlingers Deutscher EPIGRAMMATVM Erstes Hundert. Danzig 1645. 632 Vgl. Sedlarz (Anm. 329), S. 29; von Oettingen (Anm. 72), S. 26. 633 Von Oettingen (Anm. 72), S. 59. 634 Ausführliche Arbeiten, S. 1204 zitiert nach von Oettingen (Anm. 72), S. 11.
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Die argutia dieses Epigramms liegt zum einen in der vierfachen Identifizierung des Schwedenkönigs mit Homerischen Helden aus dem Trojakrieg,⁶³⁵ zum anderen in seiner Positionierung direkt hinter dem Lobvers auf den katholischen Konkurrenten aus demselben Geschlecht (der Polnische König war auch ein Wasa). Eine irenische Grundhaltung des Verfassers mag durch dieses Arrangement hindurchscheinen und zugleich auf den andauernden Waffenstillstand in diesem Zeitalter der beständigen schwedisch-polnischen Spannungen referieren. Es folgt ein weiteres Epigramm „Auff das Bildnis des grossen Torsten Sohns [sic]“. Es schließt sich ein Block mit Stadtlob-Epigrammen an, denen drei mit Bezug auf Dresden – Greflingers einstigen Aufenthaltsort – folgen. Ein autobiographischer Bezug zeigt sich in dem Epigramm auf den Kupferstecher Sebastian Furck aus dem Merian-Kreis, den Greflinger in Frankfurt kennengelernt hatte und der unter anderem den Stich für das Liederbuch Seladons Beständige Liebe anfertigte. Die übrigen Epigramme, unterschiedlicher Länge⁶³⁶, greifen in gängiger Manier mythologische und petrarkistische Topoi auf, behandeln historische Ereignisse, weisen typensatirische und gnomische Motive auf, karikieren Laster und preisen Tugenden. Das unbegrenzte Themenspektrum der Gattung, dem die Vielzahl der Epigramm-Arten entspricht – „Epigrammatum autem genera tot sunt quot
635 Jutta Weisz (Das deutsche Epigramm des 17. Jahrhundert. Stuttgart 1979, S. 124) vergleicht dieses Epigramm mit einem Sinngedicht auf Gustav Adolf von Hoffmannswaldau, wobei sie Greflingers „vielschichtiger[e]“ Argumentation hervorhebt. Auch an anderen Stellen, so bei einem Vergleich verschiedener Aneignungen eines Owens-Epigramms, kommt Weisz zu dem Ergebnis, dass sich die „freieste Bearbeitung – von Greflinger – als gleichzeitig geglückteste“ erweise. Ebd., S. 149. 636 Neben vielen Zweizeilern und Quatrains findet man den üblichen Umfang sprengende Epigramme wie das 16-versige „Gespräch eines Reisenden mit einer Turteltaube“, das eine bekannte ‚Legende‘ (christlich aufgeladen durch den Physiologos) aufgreift: Nach dem Tod des Täubers bleibt die Turteltaube keusch und sehnt hungernd ihren eigenen Tod herbei. Als Sinnbild der Gattentreue findet man dieses Motiv auch in der Emblematik. Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, S. 859 f. Bei Greflinger entspinnt sich ein Gespräch zwischen einem Turteltauben-Witwer, dessen Ehefrau ermordet wurde („Ach gräulicher Tyrann / der ihm sein Hälßchen brach“) und der sich nun einsam auf einem Zweig sitzend „durch den durst und hunger […] entleiben“ will, und einem Reisenden von diesem Vorhaben berichtet. Der Reisende ist von dem „Beständige[n] Geschlecht“ ergriffen. 26 Alexandriner umfasst das Epigramm „Auff einen unerhörten Springer / Nahmens Moritz aus Engellandt“. Jeweils ein Sonett (viele Poetiken rechnen scharfsinnige Sonette zu den Epigrammen, vgl. Weisz [Anm. 635], S. 28) widmet sich dem Hussitenführer Ziska und der Schlacht von Lützen („Eines tapfren Deutschen letzte worte vor Der Lützner Schlacht“). Zum epigrammatischen Charakter des Sonetts in der Frühen Neuzeit vgl. Thomas Borgstedt: Topik des Sonetts: Gattungstheorie und Gattungsgeschichte. Tübingen 2009, v. a. S. 211–267.
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rerum“ wie Scaliger schreibt⁶³⁷ – nutzt Greflinger aus, wobei die auch von Opitz postulierten Merkmale „kürtze“ und „spitzfindigkeit“ nicht immer anzutreffen sind. Einige Epigramme gibt Greflinger durch entsprechende Überschriften direkt als imitationes aus („Auß dem Taubmann“, „Auß dem Melisso“, „Auß dem Petrarcha“), andere lehnen sich an Opitz’ Danziger Florilegium an.⁶³⁸ Das wichtigste Vorbild für Greflinger waren die lateinischen Epigramme John Owens. Mehr als 100 Epigramme konnten als Owenus-imitationes identifiziert werden.⁶³⁹ Es wurde darauf hingewiesen, dass sich bei Greflinger eine „ausnehmend enge Beziehung zwischen Epigramm und Emblem dokumentiert.“⁶⁴⁰ 1644 erschien während seines Frankfurter Aufenthalts bei Johann Ammon das Andachtsbuch DAVID VIRTUOSUS […] in schönen Kupferstichen abgebildet,⁶⁴¹ für das Greflinger deutsche, epigrammatische Verse zu Kupferstichen Theodor de Brys schuf.⁶⁴² Ebenfalls von dem Verlagshaus Ammon erhielt Greflinger den Auftrag, für eine Kollektion von Portraits türkischer Herrscher und ihrer Gemahlinnen die lateinischen Verse des Jean Jaques Boissard ins Deutsche zu übertragen.⁶⁴³ Zu „Zwei-
637 Auch Opitz zitiert dieses Diktum Scaligers als Motto seiner Epigramm-Sammlung (Florilegi variorum, S. 6). 638 Von Oettingen (Anm. 72), S. 59. So findet man mehrere Epigramme, die das ‚Geizhals‘Motiv aufgreifen („An einen geitzigen Zäncker“, „An einen kargen Filtzhut“, „An einen alten Geitzhals“, „An einen Geitzgen“), ein Laster, das in Opitz’ Florilegium im Anschluss an humanistische bzw. antike Traditionen ebenfalls häufig thematisiert wird. Auch die gesellschaftliche Rolle des Dichters bzw. die Apologie der Poesie wird von Greflinger epigrammatisch aufgegriffen („Auff einen Schmachredner“). 639 Vgl. dazu die umfangreiche Liste bei Erich Urban: Owenus und die deutschen Epigrammatiker des XVII. Jahrhunderts. Berlin 1900, S. 38–42. Urban konnte jedoch nur den Anhang zu Greflingers Liederbüchern auswerten, die Danziger Sammlung lag ihm nicht vor. 640 Weisz (Anm. 635), S. 69. 641 DAVID VIRTVOSVS […] in schönen Kupferstichen abgebildet. Das ist: Deß Frommen vnd Tapfferen Königs vnd Propheten Davids Ankunfft / Leben / vnd Ende / in schönen Kupfferstichen abgebildet / von Ioh. Theodoro de Bry. p.[ost] m.[ortem] vnd mit zierlichen Versen erkläret durch Georg Greblinger / alias Seladon genant. Gedruckt zu Hanau / In Verlegung Joh. Ammon. 1644. Die recto-Seite zeigt den Kupferstich, eine Szene aus dem Leben des biblischen Königs, links mit je einem deutschen und einen lateinischen Epigramm bzw. kurzen Gedicht (die Vorrede nennt sie „Summarien“), die den Stich kommentieren. Zwischen diesen beiden verschiedensprachigen subscriptiones ist ein entsprechendes Zitat aus der Vulgata eingefügt. 642 Matthäus Merian war der Schwiegersohn de Brys und hatte gemeinsam mit Johann Ammon, ebenfalls ein Schwiegersohn de Brys, dessen Frankfurter Buchhandlung und Verlag übernommen. 643 Wahre Abbildungen der Türckischen Kayser und Persischen Fürsten / so wol auch anderer Helden und Heldinnen: von dem Osman / biß auf den andern Mahomet; Auß den Metallen / in welchen sie abgebildet / genommen / und in gegenwertige Kupffer gebracht / [Jean Jacques Bois-
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hundert Ausbildungen“ der Iconologia des Caesare Ripa übersetzte Greflinger für das Naumannsche Unternehmen 1656 die subscriptiones sowie zu einer Ergänzung mit weiteren 100 Sinnbildern, aus dem Alciato, Jovio, Ruscelli, Cappaccio, Sambuco vnd anderen gesammlet (ebenfalls 1656).⁶⁴⁴ Schließlich übersetzte Greflinger die Bildunterschriften für die editio ultima von Zincgrefs Emblematum ethico-politicorum Centuria mit den Stichen Matthäus Merians (d. Ä.).⁶⁴⁵ Zu den genannten emblematischen Werken, insbesondere zu den in Frankfurt erschienen Werken (Wahre Abbildungen der Türckischen Kayser und DAVID VIRTVOSVS) liegen keine Forschungsarbeiten vor.
10.5 Das Greflinger’sche Unternehmen Nordischer Mercurius Vieles spricht dafür, dass Greflinger schon geraume Zeit im Bereich des Nachrichten- und Zeitungswesens tätig war, ehe er Mitte der 1660er-Jahre den Entschluss fasste, selbst ein Zeitungsunternehmen zu gründen. So weisen beispielsweise Bemerkungen in Epithalamien an Danziger Familien in der Mitte der 1650er-Jahre daraufhin, dass Greflinger Novellen aus ganz Europa sammelte und redaktionell aufbereitete. Vermutlich war er für die Hamburger Wöchentliche Zeitung in einer solchen Funktion tätig und koordinierte für dieses Blatt insbesondere die Auslandskorrespondenz.⁶⁴⁶ Greflingers Epicedium auf die Witwe des Gründers der Wöchentlichen Zeitung, die das Unternehmen mit ihrem zweiten Ehemann fortsetzte, belegen diese Verbindung.⁶⁴⁷ Greflinger verfügte also sowohl über jahrelange journalistische Erfahrung als auch über die nötigen Kontakte – man denke
sard.] Wie dann auch vorher eines jeden wandel kürtzlich mit Versen Beschrieben Durch Georg Greblinger alias Seladon von Regenspurg. 644 Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf die kunsthistorische Magisterarbeit von Claudia Sedlarz (Anm. 329; mittlerweile auch online) – in der die Verfasserin darlegt, dass Greflinger auch für diese Übersetzungstätigkeit nicht auf das Original, sondern auf eine niederländische Version der Iconologia zurückgegegriffen hat. So lasse sich auch erklären, warum die erste deutsche Fassung der Iconologia ausgerechnet in Hamburg erscheint, das „nicht gerade als ein Zentrum der Beschäftigung mit italienischer Literatur bekannt ist […] und auch nicht als Verlagsort für emblematische Literatur“, während die kulturellen Verbindungen zu den Niederlanden eng waren. Ebd., S. 93. 645 Die Ausgabe von 1664 nennt Greflinger nicht, sie ist aber nahezu identisch mit der Ausgabe von 1681, bei der er ausdrücklich als Autor der Unterschriften angeführt wird. 646 Reinken (Anm. 385), Bd. 1, S. 143–146. 647 Das Epicedium ist aufgeführt bei Walther (Anm. 385), S. 87. Demnach starb Ilsebe [Ilsabe] Schumacher 1656.
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auch an seine Bekanntschaft mit den Frankfurter Journalisten – um ein eigenes Unternehmen zu gründen. Dem Publikum war darüber hinaus seine Expertise bereits durch mehrere zeitchronistische Schriften bekannt, und Hamburg als Nachrichtenzentrum, wo sich die Informationswege aus den nordischen Ländern, aus England, den Niederlanden und dem Reich kreuzten, schien ohnehin der ideale Ort für ein derartiges Gewerbe. Vor allem existierte in Hamburg ein Lesepublikum, das in besonderem Maße daran interessiert war, „über die Ereignisse seiner erregten Zeit unterrichtet zu werden, mit einer immer stärker auf das Diesseits bezogenen – wie man damals sagte – ‚Neubegierde‘“.⁶⁴⁸ Elger Blühm hat die sozialhistorischen Bedingungen, die das Aufblühen des Hamburger Zeitungswesens und die Etablierung eines professionellen Journalismus an diesem Ort vor allem ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begünstigten, wie folgt zusammengefasst: Keine Residenz, sondern eine Freie Stadt, nicht der Hof, sondern die Börse, waren der geeignete Umschlagplatz von Informationen und Gedanken. Hier in Hamburg, im Wirkungsfeld städtischen Bürgertums, wurde dem Literaten die Möglichkeit geboten, sein Brot durch das Aufzeichnen und Verbreiten von Neuigkeiten zu verdienen, konnte der Dichter zum Journalisten werden.⁶⁴⁹
Bereits zu Beginn des Jahrhunderts hatte der Frachtbestätter Johann Meyer die Wöchentliche Zeitung aus mehrerley örther gegründet, der der kaiserliche Postmeister Hans Jakob Kleinhans mit seiner Post Zeitung bald ein Konkurrenzunternehmen zur Seite stellte. Seit den 1660er-Jahren wurden in Hamburg sowie im dänischen Altona zahlreiche weitere Periodika gegründet, in den 1680er-Jahren konkurrierten acht gleichzeitig erscheinende Zeitungen,⁶⁵⁰ so dass man von einer „Doppelhauptstadt des deutschen Zeitungswesens“ sprechen kann, die ihre führende Position auf diesem Gebiet bis Ende des 18. Jahrhunderts behaupten konnte.⁶⁵¹ Als vermutlich 1664 die ersten Exemplare des Nordischen Mercurius in
648 Else Bogel, Elger Blühm: Die deutschen Zeitungen des 17. Jahrhunderts. Ein Bestandsverzeichnis mit historischen und bibliographischen Angaben. Bd. l. Bremen 1971, S. 8. 649 Elger Blühm: Zeitungen und literarisches Leben im 17. Jahrhundert. In: Stadt – Schule – Buchwesen und die deutsche Literatur im 17 Jahrhundert. Hg. von Albrecht Schöne. München 1976, S. 492–505, hier S. 502. 650 Holger Böning: Welteroberung durch ein neues Publikum. Die deutsche Presse und der Weg zur Aufklärung. Hamburg und Altona als Beispiel. Bremen 2002, S. 93. 651 Blühm (Anm. 649), S. 502. Zu den Voraussetzungen und der Entwicklung des Pressewesens in Hamburg und Altona vgl. umfassend Carsten Prange (Anm. 102) mit weiteren Literaturhinweisen sowie die Studie von Böning (Anm. 650) sowie ders.: Eine Stadt lernt das Zeitungslesen. In: Steiger/Richter (Hamburg, Anm. 400), S. 391–415.
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Greflingers Zeitungskontor an der Hamburger Börse zum Verkauf auslagen (Zeitungen wurden nur zum Teil im Abonnement verkauft), musste sich das Greflinger-Blatt gegen die beiden schon existierenden Zeitungen behaupten. Dennoch ging der Neuhamburger offensichtlich davon aus, dass der Zeitungsmarkt in der Handelsstadt noch nicht gesättigt war. Greflinger setzte dabei auch auf ein möglichst breites Publikum. Sichtlich bemühte er sich darum, „mit seiner Zeitung intensiver als seine beiden Vorgänger Leser und Abonnenten aus den mittleren Bevölkerungsgruppen der Stadt anzusprechen, zu denen er auch als Dichter und Verfasser von Gelegenheitsgedichten enge Beziehungen unterhielt“.⁶⁵² Greflinger befand sich seit den 1660er-Jahren wieder in einer existenzbedrohenden Situation: Von seinen Einkünften, die sich aus Honoraren vom Naumann-Verlag, freier journalistischer Tätigkeit, Gratifikationen für Gelegenheitswerke und möglicherweise hin und wieder einer Vergütung für Notarstätigkeiten zusammensetzten, konnte er die Familie nicht ernähren. Als die Hamburger Obrigkeit 1658 ein Casualiaverbot erließ, bedeutete das den Wegbruch einer Einkommensquelle. Es liegt nahe, dass Greflingers ‚Sprung in die Selbständigkeit‘ nicht zuletzt in diesem Kontext steht. Dabei ließ ihn sein Gespür für das Lesebedürfnis des Hamburger Publikums nicht im Stich – seit 1666 erschien das neue Blatt, das mit dem Bezug auf den antiken Gott des Handels und der schnellen Berichterstattungen einen werbewirksamen Namen erhielt, bereits zweimal wöchentlich, ab 1672 informierte der Nordische Mercurius die Hamburger viermal pro Woche über die wichtigsten Neuigkeiten aus ganz Europa. Heute nachweisbare Exemplare in Bibliotheken v. a. Nordeuropas (u. a. Kopenhagen, Stockholm, Uppsala, Stettin, Stralsund) zeugen von einem breiten Verbreitungsgebiet auch außerhalb der Hansestadt. Wie aber konnte Greflinger das Hamburger Publikum im Kampf gegen die Konkurrenzblätter gewinnen? Die Presseforschung hat in einer Reihe von Beiträgen die Spezifika des Greflinger-Blattes herausgestellt und ihm hinsichtlich seiner formalen wie inhaltlichen und sprachlichen Gestaltung ein großes innovatives Potential attestiert.⁶⁵³ Zweifelsohne steht im Mercurius wie in allen frühen
652 Ebd., S. 48. 653 Blühm spricht von dem Blatt als „eine der bedeutendsten journalistischen Leistungen des 17. Jahrhunderts“. Ders.: Nordischer Mercurius (1665–1730). In: Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts. Hg. von Heinz-Dietrich Fischer. Pullach 1972 (Publizistik-Historische Beiträge 2), S. 91–102. Vgl. auch Böning (Anm. 650), S. 40 (das Kapitel zum Nordischen Mercurius in diesem Band enthält allerdings mehrere Fehlinformationen bzw. ungesicherte Angaben. Z. B. studierte Greflinger gewiss nicht Jura in Regensburg, wahrscheinlich auch nicht in Wittenberg, wie Böning [S. 40] behauptet. Die lateinischen Beihefte des Mercurius stammen nicht, wie es ferner heißt [S. 43], aus dem Jahr 1766. Zu dieser Zeit existierte das Greflinger-Blatt gar nicht mehr). Vgl.
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periodisch erscheinenden Zeitungen, in Hamburg wie anderen Orts, die faktenorientierte Berichterstattung im Vordergrund. Dennoch übertrifft Greflingers Zeitung zeitgleich erscheinende Periodika in seinem Anspruch auf authentische und differenzierte Berichterstattung: Allein im Jahr 1666 weist der Nordische Mercurius 83 verschiedene Korrespondenzorte auf.⁶⁵⁴ Während also beispielsweise die Postzeitung ihre Informationen über den Zweiten Englisch-Niederländischen Seekrieg in diesem Jahr vornehmlich aus Köln bezieht, kann der Nordische Mercurius direkt auf die Nachrichten seiner Korrespondenten in London und den Generalstaaten zurückgreifen. Freilich stößt die Neutralität der Berichterstattung spätestens an ihre Grenzen, wenn es um die Reichsverteidigung geht oder konfessionelle Fragen hineinspielen: In den ausführlichen Nachrichten beispielsweise über den Devolutionskrieg Ludwigs XIV., in den Jahren 1667/68 ein zentrales Thema des Mercurius, tritt die reichspatriotische Haltung der Zeitung offen zu Tage.⁶⁵⁵ Spott und ironische Kommentare gelten der römischen Kurie. Den Berichten seiner Korrespondenten über Fälle von Misswirtschaft und Korruption am päpstlichen Hof gibt Greflinger viel Raum.⁶⁵⁶ ‚Sensationelles‘ spielt bei der Berichterstattung auch eine gewisse, wenngleich untergeordnete Rolle. So ist es Greflinger zum Beispiel durchaus eine Notiz wert, dass kürzlich aus Neuguinea „allerhand Viehzeug“ importiert worden sei, darunter ein „Crocodill“, das „in einem grossen Fasse / mit trübem Wasser erfüllt / gehalten und mit Fleische gespeiset“ werde (September 1669, S. 580: Niederelbe oder, dass in einem Dorf vor den Toren Hamburgs ein Wirtsehepaar grausam ermordet worden ist: Januar 1675, S. 56). Ein auffälliges Spezifikum sind die bisweilen ‚feuilletonistisch‘ anmutenden Elemente des Nordischen Mercurius. Ganz offensichtlich will Greflinger seine Leser nicht nur durch die Darbietung einer enormen Faktenfülle gewinnen, sondern sie
zudem den kurzen Überblick bei Jan Gieseler und Elke Kühnle-Xemaire: Der ‚Nordische Mercurius‘ – eine besondere Zeitung des 17. Jahrhunderts? Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der Hamburger Zeitung. In: Publizistik 40 (1995), S. 163–185, hier S. 165 ff. Gieseler/Kühnle-Xemaire kommen zu dem Ergebnis, dass der Mercurius auffällig leserfreundlich gegliedert ist und Zusammenhänge zwischen den Beiträgen hergestellt werden. Die Einzelanalyse des Jahrgangs 1667 ergibt, dass diese Zeitung durch ihre „journalistischen Prinzipien über andere Zeitungen des Jahrgangs weit hinaus“ rage. Ebd., S. 184. 654 Lutz Mackensen: Über die sprachliche Funktion der Zeitung. In: Worte und Werte. FS für Bruno Marquardt. Hg. von Gustav Erdmann, Alfons Eichstaedt. Berlin 1961, S. 232–247, hier S. 236. 655 Die Brisanz der osmanischen Bedrohung wusste der Unternehmer zudem durch die Herausgabe von sogenannten „Türkischen Brifen“, die als Supplement erschienen, kommerziell zu nutzen. Auch die Ereignisse auf den britischen Inseln waren seit der Mitte des Jahrhunderts von großem Interesse. Greflinger verkaufte z. B. Zusatzausgaben der Parlamentsreden. 656 Vgl. Prange (Anm. 102), S. 166 f.
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auch gut unterhalten. Man hat dem Nordischen Mercurius auch deshalb ‚literarischen Ehrgeiz‘ bescheinigt, denn Greflinger demonstriert sein poetisches Talent, beispielsweise indem die nüchterne politische Berichterstattung hin und wieder von kurzen Reflexionen in gebundener Rede unterbrochen wird:⁶⁵⁷ Politische Ereignisse werden lyrisch kommentiert, Neujahrsverse an den Leser gerichtet oder auch moralische Belehrungen in Gedichtform unter die nüchtern-sachliche Berichterstattung gemischt. Ferner erachtet es Greflinger als nützlich und ergötzlich, in der jeweils ersten Zeitung eines neuen Jahres der „Christlichen Reiche und Länder Zustand“ mit „kurtzen Versen zu entwerffen / und also wie in einem kleinen Spiegel fürzustellen.“⁶⁵⁸ Vorgeschaltet wird dieser poetisch-journalistischen Zusammenfassung des Weltgeschehens häufig eine Art Editorial, in dem der Chefredakteur Greflinger sich persönlich an seine Leser wendet, um auf das vergangene Jahr zurückzublicken. Oft schließen sich Neujahrswünsche in gebundener Rede an, die sich häufig mit Elementen des Stadtlobs verbinden:⁶⁵⁹ Nach dem wier wiederum ein Neues Jahr beginnen: So dancken wier / O Gott / mit Zungen / Schrifft und Sinnen / Daß du uns gnädiglich biß her geholffen hast / Daß wier / wie manches Volck / nicht Pest / nicht Krieges=Last / Noch Fluht / noch Brand / noch auch der Erden Bruch und beben Erlitten! Laß uns auch noch länger also leben / In Ruh’ in Einigkeit und Segen / so vom Land= Als Wasser. Kröhne stets der lieben Elbe=Strand Und dessen schöne Stadt / gezihrt von hohen Spitzen / Mit allem was für Sie und alle wol kan nüzen. Es fluhten Glück und Heyl / es ebben Haß und Neyd / Es blühe Blut und Gut und Muht mit Fried und Freud’ In Jedem Stand’ und Haus. Also wündscht meine Seele / Womit ich mich der Gunst von allen tief empfehle.⁶⁶⁰
Auch auf seine anderen literarischen Aktivitäten weist Greflinger gelegentlich hin, bewirbt sie oder führt Beschwerde über Nachdrucker „meiner kleiner Büchlein als des Gärtner / Kochs und andere zu ihren Vortheil mit weniger Müh in die Buch=Läden gebracht / unnd solche daselbst zu meinem Schaden verkaufft
657 Vgl. ebd., S. 149 f. 658 Nordischer MERCURIUS. Welcher kürtzlich erzählet / was von Monat zu Monat in Europa denckwürdig geschehen sey. Januar 1665. 659 Vgl. die bei Böning (Anm. 650), S. 49 angeführten Beispiele. 660 Nordischer Mercurius, Januar 1669.
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werden“. Daher bittet er seine Kunden, „mir für meine Müh und Kosten das wenige dafür zu gönnen / umm mich damit anzufrischen / dergleichen Dinge mehr an den Tag zu bringen.“⁶⁶¹ Wie später die „Moralischen Wochenschriften“ wurde der Mercurius auch als jährliches Zeitungsbuch publiziert, wobei die einzelnen Zeitungsnummern keine eigenen Titel besitzen und durchpaginiert wurden.⁶⁶² Die Jahrbände empfiehlt Greflinger auch für den Schulunterricht bzw. zur politischen und geographischen Bildung der Jugend.⁶⁶³ Bereits seit 1665 bot der Nordische Mercurius darüber hinaus fremdsprachige Zeitungsausgaben an – in fünf Sprachen (deutsch, lateinisch, französisch, italienisch und englisch) konnte man „Relationen“ erwerben, „Zu keinem anderen Ende / als der in solchen Sprachen sich übenden Jugend damit dienlich zu seyn.“⁶⁶⁴ Gerade für die Söhne der Kaufleute, so wird an anderer Stelle betont, sei das Erlernen moderner Fremdsprachen essentiell und die Supplemente des Mercurius böten hierfür das ideale Lernmaterial.⁶⁶⁵ Als weitere Besonderheiten des Blattes sind Rubriken wie „Grosse Todes-Fälle“, meteorologische Berichte und Abdruck von amtlichen Bekanntmachungen zu nennen. Wahrscheinlich griff Greflinger redaktionell in die Berichte seiner Korrespondenten ein; zumindest hat die Presseforschung auf die für ein Periodikum dieser Zeit eher ungewöhnliche einheitliche Stilistik der Korrespondentenberichte hingewiesen. Zudem werden häufig Bemerkungen eingestreut, hinter denen man die Handschrift Greflingers vermuten kann.⁶⁶⁶ An manchen Stellen kommentiert der Redakteur das Weltgeschehen kurz, gelegentlich ironisch, bisweilen den zeithistorischen Kontext oder fremdsprachige Begriffe knapp explizierend.⁶⁶⁷ Auch als
661 Nordischer Mercurius 1665, S. 86 f. 662 Böning (Anm. 650), S. 134. 663 Vgl. Prange (Anm. 102), S. 135, Anm. 50. 664 Nordischer Mercurius (1669), S. 154, zitiert nach Böning (Anm. 650), S. 49. 665 Böning (Anm. 650), S. 49. Diese Verkaufsstrategie scheint sich jedoch als wenig lukrativ erwiesen zu haben. Die regelmäßige Publikation fremdsprachiger Ausgaben wurde Endes des Jahres 1669 wieder eingestellt. Stattdessen sattelte der geschäftstüchtige Greflinger auf ein anderes Modell um: Die Berichte in Fremdsprachen wurden nun „auff einem halben Bogen / wie die Deutschen in Form eines Buches / compreß gedruckt außgegeben werden.“ Zitiert nach ebd., S. 50. 666 Die ‚Redaktion‘ erklärt dem Leser beispielsweise kurz (Jg. 1671), warum in der vorliegenden Ausgabe „die Novellen aus dem Westen in jetzigen Tagen etwas reichlicher / als aus anderen Orten / einkommen“. Zitiert nach Böning (Anm. 650), S. 44, Anm. 92. Weitere Beispiele für redaktionelles Eingreifen ebd. 667 Ebd., S. 46; Prange (Anm. 102), S. 143 ff.
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Casualpoet tritt Greflinger gelegentlich auf, um besondere Anlässe poetisch zu verkünden.⁶⁶⁸ All diese Auffälligkeiten weisen auf die Sonderstellung des Mercurius hin, denn in der „Periode des korrespondierenden Journalismus“⁶⁶⁹ sind – wie Dieter Paul Baumert in seinem Standardwerk zur Entstehung des Journalismus schreibt – „schriftstellerische und redaktionelle Leistungen so gut wie gar nicht als journalistische Funktionen hervorgetreten“.⁶⁷⁰ Das literaturhistorisch interessanteste Element des Nordischen Mercurius stellt jedoch der in drei Fortsetzungen erschienene ‚Zeitungsroman‘ Entdeckung der Insul Pines (1668) dar. Erzählt wird die äußerst pikante Geschichte eines Engländers, der sich nach Schiffsbruch mit „vier Frauen-Personen / deren eine eine Mohrin war“ auf eine einsame Insel retten kann. Recht unverblümt und detailliert werden die sexuellen Praktiken in dieser polygamen Konstellation geschildert und da sich die ‚ménage à cinq‘ als äußerst fruchtbar erweist, wird der gestrandete Engländer im Laufe der Zeit zum Stammvater einer sich auch in der zweiten Generation rasch vermehrenden Inselbevölkerung. Als nach vielen Jahren Handelsreisende zufällig auf die „Insel der Fruchtbarkeit“ gelangen, schätzen sie die Bevölkerungszahl des Eilands auf mehrere Tausend. Die satirische Utopie von der Insel Pines (freilich ein Anagramm) war wenige Wochen zuvor in England als Fortsetzungsroman gedruckt worden und von dort in die Niederlande gelangt. Es ist bezeichnend, dass Greflinger der erste deutsche Zeitungsverleger ist, der den sensationellen Bericht innerhalb kürzester Zeit aus dem Niederländischen übersetzt, abdruckt und dabei – wiederum mit Pioniergeist – das marktstrategisch raffinierte Format des episodenhaft erscheinenden ‚Zeitungsromans‘ adaptiert. Bald schon kursiert die Greflinger-Fassung der Geschichte von der Porno-Insel (deren fiktionaler Status, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, nicht von jedem erkannt wurde) in zahlreichen deutschen Zeitungen. Eine interessante Verbindung ergibt sich zu Grimmelshausens Continuatio des Abentheuerlichen Simplicissimi. So vermutet Breuer einen Zusammenhang zwischen der Drucklegung des Simplicissimus-Fortsetzers und der Geschichte von der Insel Pines, ohne jedoch auf die Greflinger-Übersetzung der englischen Satire hinzuweisen:
668 Beispielsweise veröffentlicht Greflinger ein Epicedium auf den Hamburger Bürgermeister Barthold Moller, vgl. Blühm (Zwei Mitteilungen, Anm. 166). 669 So die Bezeichnung für das Zeitungswesen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts nach der Periodisierung von Dieter Paul Baumert (Die Entstehung des Journalismus. Eine sozialgeschichtliche Studie. München, Leipzig 1928, S. 29–35). 670 Ebd., S. 29.
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Daß es trotz der Jahresfrist bis zur Ostermesse 1669 bei der Drucklegung zu hektischen Verhältnissen kam, liegt an einer literarischen Neuerscheinung vom Herbst 1668, der deutschen Übersetzung von Henry Nevilles satirischer Reisebeschreibung The Iles of Pines […]. Neville […] nötigte Grimmelshausen allem Anschein nach zu einer nachträglichen Bearbeitung und Fortsetzung; bei Neville fand er im Motiv der holländischen Seefahrer, die die wie im Paradies lebenden europäischen Inselbewohner entdecken, die Möglichkeit, die Überlieferung des Buches seines Helden wahrscheinlich und dessen immer noch eingeschränkten Stand an Selbsterkenntnis aus anderer Perspektive kenntlich zu machen; d. h. aber: die Möglichkeit zur ironischen Überformung der Continuatio und zugleich zur Überbietung der konkurrierenden Vorlage Nevilles. Die Drucklegung mußte dadurch unter Zeitdruck geraten, für gründliche Korrekturen war keine Zeit mehr.⁶⁷¹
* Der Kulturhistoriker Johannes Arndt hat den ‚Prototyp‘ eines Zeitungs- und Zeitschriftenmachers im Barockzeitalter als „verkrachte Existenz“ beschrieben; häufig handle es sich entweder um Postmeister, Drucker oder um „Personen im beruflichen Zwischenstadium zwischen einer akademischen Ausbildung und einer erhofften vollen Stelle im Sinne der frühneuzeitlichen Berufsverfassung.“⁶⁷² Für Greflinger trifft diese Charakteristik nur teilweise zu. Der Journalismus bleibt für ihn keinesfalls eine Übergangslösung. Trotz des ökonomischen Drucks, der auf ihm wie auf anderen Zeitungsmachern lastete, brachte er es zu gesellschaftlicher Anerkennung. Er wurde Bürger seiner neuen Heimatstadt, konnte ein Haus am Neumarkt erwerben. Den Vertrieb seines Periodikums organisierte er direkt an der Börse in einem eigenen Comptoir, also im Zentrum des Hamburger Stadtlebens. Dass der Nordische Mercurius eine begehrte Lektüre darstellte, zeigen die zahlreichen Nachdrucke, die bald kursierten und zum geschäftlichen Risiko des Verlegers gehörten. Greflinger war über diese Praktiken äußerst erbost und forderte seine Leser auf, „selbige zu meyden / weil die rechten und censurirten bey der Börsche zu kauffe [!] sind“.⁶⁷³ Dass der Mercurius sich Originalberichterstattung
671 Dieter Breuer: Kommentar. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen Werke I.1. Hg. von dems. Frankfurt am Main 1989, S. 701–1082, hier S. 987 f. Vgl. auch Jörg Fohrmann: Abenteuer und Bürgertum: Zur Geschichte der deutschen Robinsonaden im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1981, S. 56, S. 238; Paul Ries: Die Insel Pines: Philosophie, Pornographie und Progaganda? In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Hg. von Wolfgang Brückner, Peter Blickle, Dieter Breuer. Bd. II. Wiesbaden 1985, S. 753–776. Mackensen (Anm. 101). 672 Johannes Arndt: Verkrachte Existenzen? Zeitungs- und Zeitschriftenmacher im Barockzeitalter zwischen Nischenexistenz und beruflicher Etablierung. In: Archiv für Kulturgeschichte 88 (2006), S. 101–115, hier S. 109. 673 Juni 1671, zitiert nach Prange (Anm. 102), S. 142.
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leisten konnte⁶⁷⁴, unterstreicht den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens. Von der rein relatorischen Gestaltung der Avisenzeitungen unterschied sich der Mercurius durch die redaktionellen Eingriffe und ‚literarischen‘ Beifügungen des Zeitungsherausgebers. Hin und wieder gab es wohl auch Probleme mit der Zensur, was sich jedoch nicht allzu stark auf den Erfolg des Periodikums auswirkte. Friedrich Conrad (gestorben 1717) übernahm 1677 das Unternehmen seines Vaters und erweiterte es um eine eigene Offinzin in der Hamburger Neustadt am Großmarkt:⁶⁷⁵ Ab 1697 sind Werke aus der Druckerei Greflinger nachzuweisen. Sein Bruder Franz Ludwig folgte ihm, bis das Erscheinen des Nordischen Mercurius 1730 nach fast 70jährigem Bestehen eingestellt wurde,⁶⁷⁶ als neue Pressegattungen wie die Moralischen Wochenschriften und gelehrte Journale an Einfluss gewannen. Zwar hatte der Mercurius auf diese Entwicklungen reagiert,⁶⁷⁷ doch war das Unternehmen mit den neuen Medien offenbar nicht mehr konkurrenzfähig. Greflinger bereitete die neuen Genres in gewisser Weise vor, wenngleich er weniger die „Botschaft der Tugend“ verkünden, sondern, wie er selber schrieb, in erster Linie „der Welt Zustand“ bekannt machen wollte. Blühm geht weiter: Ihr [= der Zeitung] Leser wird sich seiner Lage bewusst. Die Zeitung erzeugt Selbstbewusstsein. Das jedenfalls ist von Anfang an ihr oberster, wenn auch nur selten proklamierter Leitsatz gewesen. Daher steht sie unter einem moralischen Gesetz. Dichter des 17. Jahrhunderts haben dies erkannt, kritisch, warnend, ermutigend, aktiv handelnd. Zeitung ist Aufklärung. Von Greflinger und Frisch führt der Weg zu Lessing.⁶⁷⁸
674 Für die Mehrzahl der Zeitungsdrucker kam im 17. Jahrhundert eine entgeltliche Originalberichterstattung nicht in Betracht. Man griff indessen meist auf existierende Nachrichten zurück und druckte sie nach. Somit konnten die Kosten für die Nachrichtenbeschaffung auf die Finanzierung der Abonnements für auswärtige Zeitungen beschränkt werden. Baumert (Anm. 669), S. 32. 675 Dass Georg Greflinger bereits selbst die Druckerei gegründet hat, kann nicht nachgewiesen werden. 676 Blühm (Nordischer Mercurius, Anm. 653), S. 97. Dünnhaupt gibt an, dass der Mercurius schon 1698 eingestellt worden sei (DÜNNHAUPT III, S. 1696). 677 Philosophisch-moralische Betrachtungen und didaktische Erzählungen, die den Leser in einem fiktiven Gespräch in die Handlung einbinden, häufen sich seit den späten1670er-Jahren im Mercurius. 678 Blühm (Zeitungen, Anm. 649), S. 505.
Zusammenfassung
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11 Zusammenfassung „Der von seiner Feder lebende freie Schriftsteller, ob allgemeiner Literat oder vorwiegend schon Journalist, taucht als Sozialfigur erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vereinzelt auf. Lessing und Schubart sind die bekanntesten frühen Namen, Hunderte versuchten seither wie sie ihr Glück mit dem Schreibhandwerk“, konstatierte Hans-Ulrich Wehler.⁶⁷⁹ Mit Blick auf die intellektuelle Biographie Greflingers könnte dieses Urteil neu diskutiert werden. Die Untersuchung hat gezeigt: Als einer der wenigen Autoren seiner Zeit machte Greflinger das Schreiben tatsächlich zur Profession. Greflingers Möglichkeiten waren zunächst jedoch beschränkt: Als Flüchtling aus einer kriegsversehrten, ländlichen Gegend Süddeutschlands⁶⁸⁰ kann er jedoch immerhin die Lateinschule besuchen und ein Studium antreten. Die Entscheidung für Wittenberg unterstreicht dabei Greflingers konfessionelle Orientierung sowie seine literarischen Ambitionen, zumal an der Leucorea mit Buchner einer der Exponenten der neuen Literaturreform wirkte. Hier beginnt Greflinger auch erste Grundlagen für ein im Laufe der Zeit expandierendes soziales Kontaktnetz zu legen. Über eine persönliche Bekanntschaft aus dem universitären Kontext gelingt es ihm, einflussreiche Beamte des Dresdner Hofes, auch die kurfürstliche Familie selbst, mit Gelegenheitswerken auf sich aufmerksam zu machen. Greflinger verlässt aber dann, vermutlich in erster Linie aus finanziellen Gründen, die Universität. In Dresden kann er wohl vorübergehend Beschäftigung in einer Amtsstube oder als Kriegsberichterstatter finden. Ob er auch als Soldat diente, bleibt ungewiss. Wendet sich Greflinger auch bald an schlesische Höfe, wo er sich noch bessere Optionen erhoffte, blieben doch die Verbindungen zum Dresdner Hof bestehen. Dazu nutzt Greflinger die zwar nicht neueste, doch äußerst effektive Form persönlicher Kommunikation und intellektueller Netzwerkbindung geradezu mustergültig: das Verfassen von Casualia. Noch Jahrzehnte später sendet der inzwischen in Hamburg sesshafte Journalist anlassbezogene Gedichte nach Dresden und kurfürstliche Hofbeamte gratulieren dem alten Bekannten ihrerseits zu literarischen Neuerscheinungen. Gleichwohl zeigte sich, dass der Hof – weder der Dresdener Hof noch die vom Krieg gebeu-
679 Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bd. 1: Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära, 1700–1815. München 1987, S. 313. 680 Geht man bei Greflingers sozialer Herkunft davon aus, dass er tatsächlich ein Bauernsohn war, gehört er bereits in dieser Hinsicht zu einer Randgruppe (etwa 10 %) der Autoren des 17. Jahrhunderts. Vgl. Anke-Marie Lohmeier: ‚Vir eruditus‘ und ‚Homo politicus‘. Soziale Stellung und Selbstverständnis der Autoren. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München, Wien 1999, S. 156–175, hier S. 158.
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telten schlesischen Fürstenhöfe – Greflinger dauerhafte Erwerbsmöglichkeiten, geschweige denn Karrierechancen eröffnen konnten. Gerade in Hinblick auf potente Mäzene kann er von der vom Krieg verschonten, außerhalb der Reichsgrenzen gelegenen Handelsmetropole Danzig mehr erhoffen, zumal hier eine finanzstarke bürgerliche Stadtelite in Formen repräsentativer Kunst investiert. Darüber hinaus lockt das akademische Niveau Danzigs: Greflinger beabsichtigt, hier im Umfeld des berühmten Rhetorikprofessors Mochinger mit Hilfe eines Stipendiums sein Studium fortsetzen zu können. Über einen gewissen Zeitraum kann er sich mit seiner literarischen Produktion, zeitweise zusätzlich durch ein Hofmeisteramt und Subventionen durch Patronagen finanziell über Wasser halten. Eine Integration in den inneren Akademikerzirkel um Mochinger bleibt Greflinger jedoch ebenso verwehrt wie eine nähere Verbindung zur orthodoxen Geistlichkeit. Er steht also mit den maßgeblichen Personengruppen Danzigs in engerem Kontakt – verfasst Gelegenheitsgedichte für die städtische Elite und wird als Beiträger zu Sammeldrucken eingeladen, auch findet er Mäzene und Förderer – wird aber selbst nicht Zugehöriger der literaturproduzierenden akademischen bzw. kirchlichen Kreise: Interaktion ja, Integration nein. Aufgrund der festgefahrenen Sozialstrukturen Danzigs kann also auch dieser Ort Greflinger auf Dauer keine Perspektive bieten, so dass er nach etwa sieben Jahren den Ortswechsel nach Hamburg anvisiert und diesen Umzug sorgfältig plant: Vorab führt er Gespräche mit dem Literaturorganisator Rist in Wedel und rekommandiert sich literarisch beim Hamburger Stadtrat. Er weiß, dass die soziokulturellen Gegebenheiten hier einem Autor, der von seiner schriftlichen Produktion seine Existenz bestreiten muss, bessere Möglichkeiten offerieren. Wichtig wird die Verbindung zu Rist: Mit ihm wird Greflinger fortan bis zum Tod des Pfarrers in freundschaftlicher Beziehung stehen. 1653 folgt die Krönung zum Poeta laureatus, ein Jahr später die Aufnahme in den Elbschwanenorden. Auch die Verbindungen nach Danzig pflegt Greflinger über mehrere Jahre. Weiter wiederum über das Medium der Casualdichtung hält Greflinger Kontakt zu der akademischen und politischen Führungssicht der Weichselmetropole, bis sein Engagement in politischen Fragen im Kontext der polnisch-schwedischen Konfrontation zu Dissonanzen und schließlich zum Kontaktabbruch führt. Ein anderes Netzwerk hält Greflinger indes zeitlebens aufrecht: Bereits während der Danziger Jahre war er wohl durch Vermittlung einflussreicher Danziger Familien nach Frankfurt am Main gelangt. Hier entwickelt sich eine enge freundschaftliche wie geschäftliche Verbindung zu den Journalisten, Verlegern und Künstlern im Umfeld Mattäus Merians d. Ä. Den entscheidenden Schritt zur Unabhängigkeit von Mäzenatentum und unregelmäßigen Gratifikationen unternimmt Greflinger schließlich, indem er sich auf das Terrain des aufkommenden Journalismus begibt. Durch die hohe Aktuali-
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tät der Berichterstattung, das breite inhaltliche Spektrum abgehandelter Themen und Rubriken – von Tagespolitik bis Unterhaltungsroman – verbunden mit stilistischer Innovation, journalistischer Expertise und unternehmerischem Geschick des Herausgebers avanciert Greflingers Nordischer Mercurius in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts zu einer der maßgeblichen Zeitungen des nordeuropäischen Raums. Dieser Bereich wird von einer kontinuierlichen literarischen Produktion flankiert, die sich ihrerseits in mehrere Felder mit verschiedener Intention und Ambition unterteilt: Auf der einen Seite nimmt Greflinger Hamburger Verlagsangebote zur Übersetzung von ‚Ratgeberliteratur‘ an oder gibt diese Werke selbst heraus – hier spielen in erster Linie finanzielle Interessen eine Rolle –, auf der anderen Seite bemüht er sich, in der ‚Poesie‘ zu reüssieren. Zu diesen Projekten gehört die zwischen Journalismus und Literatur stehende Zeitchronistik und Historiographie, deren Höhepunkt die Publikation einer umfangreichen Verschronik (Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg, 1657) darstellt. Auch die literarischen Übersetzungsarbeiten (Corneille, Lope de Vega) demonstrieren vor allem in ihren programmatischen Vorreden den literarischen Ehrgeiz und die kulturpatriotischen Ambitionen des Autors. Schließlich ist es die weltliche Lieddichtung, die Greflinger seit den 1640er-Jahren bis in die späten 1660er-Jahre begleitet, und die sein Ansehen – unter der Protektion Johann Rists – in der deutschen Gelehrtenrepublik begründet. Nicht unerwähnt bleiben darf schließlich abermals die Casualdichtung, die allein quantitativ über Greflingers gesamte Schaffenszeit sein literarisches Hauptbetätigungsfeld bleibt. Ungefähr achthundert Texte dieser Art wird er in etwa vier Jahrzehnten verfasst haben, wobei die Produktion im Laufe der Jahre abnimmt, als das Zeitungsunternehmen mehr Kräfte absorbiert. * Greifen wir schließlich noch einmal die Frage auf, wie man den Autortypus, den Greflinger repräsentiert, abstrakt charakterisieren könnte. Die Bezeichnung ‚Intellektueller‘ scheint vor dem Hintergrund des Gesagten angemessen. Aber wie steht es um den Terminus ‚freier Schriftsteller‘⁶⁸¹? Dabei ist zu unterstreichen, dass es nicht das Anliegen der vorliegenden Studie war, „in der Zeit vor dem Auftreten Klopstocks und Lessings nach ‚Vorläufern‘ des freien Schriftstellers zu for-
681 Zur Situation im 18. Jh. vgl. Hans-Jürgen Haferkorn: Der freie Schriftsteller. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 5 (1964) S. 523–711 und Herbert Jaumann: Emanzipation als Positionsverlust. Ein sozialgeschichtlicher Versuch über die Situation des Autors im 18. Jahrhundert. In: LiLi 11 (1981), S. 46–71. Der Begriff wird zur Beschreibung eines Barockautors als problematisch empfunden vgl. z. B. Jaumann (ebd.), S. 60, Anm. 49 in Bezug auf Zesen.
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schen“, wovor Herbert Jaumann in Anbetracht einer verschiedenen historischen Situation gewarnt hat.⁶⁸² Vielleicht könnte man aber sagen, dass Greflinger einen Autortypus repräsentiert, der gewissermaßen in der ‚Inkubationsphase‘ eines soziokulturellen Prozesses auftritt, welcher – ohne dass hier eine lineare Fortschrittsperspektive suggeriert werden soll⁶⁸³ – im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer vollständigen Ausdifferenzierung eines selbständigen ‚Sozialsystems Literatur‘ führt und den Berufsschriftsteller hervorbringt.⁶⁸⁴ Warum sollte man Greflinger daher nicht als ‚freien Schriftsteller avant la lettre‘ bezeichnen können, als Repräsentanten eines literarischen Typus, der sich zwangsläufig dem Erwerbsleben aussetzen muss, der nicht fernab vom literarischen Markt produziert und dessen Biographie und Werk sich daher nicht in das Passepartout einer Darstellung frühneuzeitlicher Literaturpraxis fügen will, die als communis opinio der Literaturgeschichte gelten kann?: Im 17. Jahrhundert war die Beschäftigung mit Literatur in die Nebenstunden verdrängt. Nur wirtschaftlich unabhängige Autoren konnten sich diesen Luxus leisten. So finden sich unter den barocken Autoren umfangreicherer Romane und Dramen nicht zufällig Aristokraten, Verwaltungsbeamte und Geistliche. Und wer sonst sich der Literatur widmete, benutzte sie nicht, um damit den Lebensunterhalt zu bestreiten.⁶⁸⁵
Das literarische und biographische Profil Greflingers ist freilich nur mit dem sehr wenigen Autoren seiner Generation vergleichbar; vermutlich nicht einmal mit dem Zesens und Sigmund von Birkens,⁶⁸⁶ für die das Problem der Existenzsicherung durch literarische Produktion zwar ebenfalls virulent war, die dieser
682 Ebd., S. 61. 683 Ebd., S. 49 f., der auch in Hinblick auf sozialgeschichtliche Entwicklung der Autorrolle vor teleologischen Konstruktionen warnt. 684 Vgl. Jörg Schönert mit Rückgriff auf Luhmann: Vom gegenwärtigen Elend einer Sozialgeschichte der deutschen Literatur. In: Ders.: Perspektiven zur Sozialgeschichte der Literatur: Beiträge zu Theorie und Praxis. Tübingen 2007, S. 5–22, der die „Ausdifferenzierung eines relativ selbständigen ‚Sozialsystems Literatur‘ für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts“ (S. 16) ansetzt. 685 Gunther E. Grimm: Einleitung. In: Metamorphosen des Dichters. Das Rollenverständnis deutscher Schriftsteller vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. von dems. Frankfurt 1992, S. 8. 686 Vgl. dazu die Studie von Garber, der die Autorenprofile Opitz’, Birkens und Weises vergleicht. Auch wenn sich wohl mit Birken die meisten Übereinstimmungen ergeben, sind Greflingers Lebensumstände, seine Aktionsräume, sein Werkprofil und sein Publikum von denen Birkens deutlich verschieden. (Der Autor im 17. Jahrhundert. In: LiLi 11 [1981], S. 29–45). Biobibliographische Paralleln ergeben sich auch zu dem Hamburger Journalisten Werner Eberhard Happel. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Art. „Werner Eberhard Happel“. In: KILLY 4, S. 653–655; Uta Egenhoff: Berufsschriftstellertum und Journalismus in der Frühen Neuzeit. Eberhard Werner Happels ‚Relationes Curiosae‘ im Medienverbund des 17. Jahrhunderts. Bremen 2008.
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Herausforderung aber auf jeweils verschiedene Art und Weise begegnet sind. Insofern müssen biographische Studien zu anderen, bislang wenig und gar unbekannten Barockautoren klären, ob Greflinger repräsentativ für einen ‚Autortypus‘ ist oder doch nur sich selbst vertritt. * In den wenigen Gelegenheitsgedichten, die Greflinger in den 1670er-Jahren verfasst, thematisiert er immer häufiger sein Alter und Krankheitserscheinungen. Er schildert sich selbst als müde und melancholisch, seine Hand sei geschwächt und bebend, sein Geist betrübt. Es passt aber irgendwie zu Greflinger, dass sein letztes überliefertes Gedicht ein Epithalamium, datiert auf den 22. Mai 1677, ist: Zwar ist es „aus einem krancken Gemühte gesetzt“, aus Dankbarkeit den Familien der Brautleute gegenüber fühle er sich jedoch verpflichtet, sich „des Dancks auch todtkranck nicht [zu] entäussern“. Doch bei dem Gedanken, dass er den beiden Häusern, für die er so oft Trauerdienste geleistet habe, nun noch einmal zu einem freudigen Anlass gratulieren könnte, wird er „nun heiter“ und nimmt die eigene Lage auf die Schippe:⁶⁸⁷ Der Bacchus streicht den Bahrt und reichet volle Gläser Zu Freuden-Trüncken um. Ich alter krancker Mann! Mir bitet mein Herr Artzt kein Römrichen [?!] nicht an! Verbitet mir dazu das Kühl-Bier von der Weser. Ich fasse bald den Muth und lasse mir was holen! Was Krafft kann endlich mehr vor alte Leute seyn, Bey aller Artzeney, als ein recht edler Wein. Trinck ich nicht offenbahr, so sey es als gestohlen.
Ein letztes Mal verwünscht er den Kriegsgott Mars und verweist ihn zu „Mohren und Machmetisten“, bis sein „Geist wird etwas müd’“ und er „nicht länger tichten“ kann. Das Gedicht schließt mit einer Bitte an Gott und das Brautpaar, sich um seine Frau und Kinder zu kümmern: So ist mein Schluss und Wundsch. Schlüss ich dann auch darneben Mein Leben, ey so bleibt, wie Ihr gewesen seyt, An meine Kleine noch mit aller Freundlichkeit Geneigt. Der Himmel wird Euch alles widergeben. Dann der den Wittwen und den Waysen Hilff erweiset, Der hat des Höchsten Gand’ in allem was Er thut.
687 Hochzeitsgedicht für David Junge und Anna Kanne (Commerzbibliothek Hamburg. S /279, Bd. VIII, 51 f.). Zitiert auch bei Walther (Anm. 85), S. 108.
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Das Mittel bald reich zu werden – so heißt ein Titel aus dem Sortiment der Greflinger’schen Ratgeberliteratur, in dem erklärt wird, wie man mit effizienter Hühnerzucht zu Vermögen gelangen kann. Mit seiner ‚Schriftstellerei‘ ist Greflinger freilich dergleichen nicht gelungen. Sein wirtschaftlicher Status blieb prekär, auch wenn er durch unternehmerisches Geschick und ein gutes Gespür für den Publikumsgeschmack zeitweise zu bescheidenem Besitz gelangen konnte. Greflinger endete jedenfalls keineswegs als ‚verkrachte Existenz‘. 1677 übergibt er sein Zeitungsunternehmen an seinen ältesten Sohn Friedrich Conrad, der das Geschäft noch viele Jahre erfolgreich weiterführen wird. Neben dem Nordischen Mercurius werden um 1700 Musikdrucke ein Schwerpunkt des Greflinger-Verlages: Werke Händels, Matthesons und Reinhard Keisers erscheinen hier. Der Altonaer Prediger Johann Frisch würdigte den „Sehl. Herr[n] Grefflinger“ ein Jahr nach dessen Tod als einen Mann, „dessen Meriten bey seinen Lebzeiten nicht erkennet / viel weniger sein Esprit recht emploiret worden“ sei.⁶⁸⁸
688 Johann Frischen Erbaulicher Ruh=stunden oder Unterredungen […] Hamburg 1678, S. 586. Nachzulesen auch bei Blühm (Zeitungen, Anm. 649), S. 504.
III Greflinger und das weltliche Barocklied Im folgenden Teil gilt es nun, einen Bereich von Greflingers literarischem Schaffen herauszugreifen, von dem bislang noch wenig die Rede war, der aber ein wesentliches Segment seines Gesamtwerkes darstellt: die Lieddichtung. Sie wird zunächst überblicksartig vorgestellt. Schließlich soll anhand der Analyse der Liedersammlung Seladons Weltliche Lieder ein interdisziplinärer Ansatz erprobt werden. Gerade was die lebensweltliche Verankerung dieser Lieder angeht, wird dabei auf die Ergebnisse des biographischen Teils zurückzugreifen sein.
1 Bemerkungen zum Stand der Barocklied-Forschung Das Barocklied,⁶⁸⁹ insbesondere das weltliche, gehört nicht von ungefähr zu den Stiefkindern der Germanistik und Musikwissenschaft⁶⁹⁰ – der beiden Disziplinen, in deren Aufgabenfeld die Beschäftigung mit ihm fallen würde. So war bzw. ist für die Musikwissenschaft die Auseinandersetzung mit dem künstlerisch vermeintlich oder tatsächlich weniger wertvollen musikalischen Material weitgehend unattraktiv⁶⁹¹ – Riemann sprach seinerzeit hinsichtlich der Qualität der musikalischen Substanz gar von einem Tiefpunkt der Liedkomposition im 17. und 18. Jahrhundert.⁶⁹² Widmen sich Musikologen jedoch diesem Gegenstand, ist meist „das Fehlen einer gründlichen Erkundung des Textes“ feststellbar.⁶⁹³
689 Der folgende Forschungsbericht legt den Schwerpunkt auf die Erfassung jener literatur- und musikwissenschaftlichen Werke, die das (geistliche oder weltliche) Barocklied monographisch behandeln, sowie auf gattungsgeschichtliche Gesamtdarstellungen. Die Ausführungen folgen im Wesentlichen einer chronologischen Anordnung. Sie schließen an Ferdinand van Ingens Bericht (Anm. 39) an und ergänzen diesen. Zu Problembereichen der Liedforschung generell vgl. Krämer (Anm. 37), speziell zum Barocklied S. 25 ff. 690 Vgl. Irmgard Scheitler: Rezension zu Anthony Harper, German Secular Song-Books und ders.: David Schirmer. Singende Rosen. In: Arbitrium 21 (2003), S. 302–306, hier S. 302. 691 „Orientiert man sich an qualitativen Kriterien, so wirkt zumal das barocke Lied kaum sonderlich anziehend.“ Friedhelm Krummacher: Die geistliche Aria in Norddeutschland und Skandinavien. Ein gattungsgeschichtlicher Versuch. In: Lohmeier/Olsson (Anm. 39), S. 229–264, hier S. 229. 692 Hugo Riemann: Handbuch der Musikgeschichte, 2. Bd., 2. Teil: Das Generalbasszeitalter. Die Monodie des 17. Jahrhunderts und die Weltherrschaft der Italiener. Leipzig 1912, 2., von Alfred Einstein durchgesehene Auflage. Leipzig 1922, S. 638. 693 Scheitler (Rezension zu Harper, Anm. 690), S. 302. Vgl. auch Harper (Anm. 112), Introduction.
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Bei einer Germanistik, die sich an einer klassischen Ästhetik orientierte, stießen die weltlichen Barocklieder ebenfalls selten auf Beachtung. Traten sie ins Gesichtsfeld der Literarhistoriker, wurde oft verallgemeinernd konstatiert, dass es sich um Trink- und Liebeslieder mit ‚natürlicher Frische‘ und „frechen Unverfrorenheiten“⁶⁹⁴, jedoch ohne Kunstanspruch handle, die „pausbäckig geschwellt von sattelsicherem Studenten- und Vagantenton“⁶⁹⁵ das von humanistisch-gelehrter Dichtung geprägte Epochenbild gewissermaßen hin und wieder auflockerten.⁶⁹⁶ Diesen Vorstellungen von der Gestalt und der Funktion des Barockliedes im Allgemeinen und des weltlichen Liedes im Speziellen muss sogleich widersprochen werden: Das Lied präsentiert sich in der Frühen Neuzeit nämlich als eine vielgestaltige und bedeutende Form der Gebrauchsliteratur, deren Allgegenwärtigkeit sich sowohl auf inhaltlicher (als geistliches bzw. weltliches Lied) und funktionaler (zum Beispiel Kirchenlied, Studentenlied, Hochzeit- und Begräbnislied etc.) als auch auf formaler Ebene, beispielsweise in unterschiedlichen Vertonungsmöglichkeiten (Generalbassmonodien, polyphone Chorsätze, Kantaten u. v. m.), manifestiert. Diese Vielfalt spiegelt sich zudem in den Verbreitungsformen des Liedes: Flugblätter und Flugschriften,⁶⁹⁷ gedruckte Liedersammlungen, Liederhandschriften, Lieder in Romanen und theatralen Aufführungen. Es reicht durch alle Schichten der Gesellschaft, ist Bestandteil höfischer Feste, gehört zur Kultur der städtischen Bürger- und Studentenschaft, aber auch des alltäglichen Lebens (Wanderlieder, Bänkelsang, Trink-, Jagd-, Tanzlieder etc.).⁶⁹⁸ Das Lied stellt somit die vielleicht wichtigste Schnittstelle zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit der Frühen Neuzeit dar. Vor diesem Hintergrund steht insbesondere dem 17. Jahrhundert das Etikett einer ‚großen Liederzeit‘ durchaus zu.⁶⁹⁹
694 Richard Newald: Die Deutsche Literatur vom Späthumanismus zur Empfindsamkeit 1570– 1750. 4., verbesserte Auflage mit einem bibliographischen Anhang. München 1963, S. 191. Der Kommentar bezieht sich auf Gottfried Finckelthaus. 695 Cysarz (Anm. 88), S. 129. 696 In Bezug auf die Leipziger Dichter wurden diese Klischees in besonderem Maße tradiert. Sie sind angelegt in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts wie den maßgeblichen Darstellungen von Gervinus (Anm. 59) und Heinrich Kurz (Anm. 57). Zu diesen literaturgeschichtlichen Klichees vgl. Harper, Lyrik Leipzigs (Anm. 106), S. 47 ff. In der Einleitung zu „German Secular Songbooks“ (Anm. 112) bietet Harper eine kritische Besprechung der älteren Forschung, S. 9 ff. 697 Vgl. Albert Classen, Michael Fischer, Nils Grosch (Hg.): Kultur- und kommunikationshistorischer Wandel des Liedes im 16. Jahrhundert. Münster 2012. 698 Jahn/Krämer (Lied im süddeutschen Barock, Anm. 37), Einleitung. 699 Werner Braun: Die Musik des 17. Jahrhunderts. Laaber 1981, S. 168.
Bemerkungen zum Stand der Barocklied-Forschung
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Bemerkenswerterweise hat aber auch eine an sozialen Bezügen und der Funktionalität von Dichtung interessierte Germanistik wenig zur Erforschung des (weltlichen) Barockliedes beigetragen,⁷⁰⁰ obschon es als primär zweckbestimmte Gattung gerade unter funktionsästhetischen Maßstäben betrachtet werden muss und diesbezüglich einen wichtigen und interessanten Forschungsgesgenstand darstellt. Erst in jüngerer Zeit wurde das weltliche Barocklied in Hinblick auf diese Fragestellungen entdeckt. Oftmals stellt jedoch bereits die erforderliche Kompetenz zur Analyse des Notenmaterials ein Hindernis dar,⁷⁰¹ andererseits kann jedoch nur eine interdisziplinäre Forschung, die musik-, literaturund sozialgeschichtliche Aspekte integriert, dem Gegenstand wirklich gerecht werden.⁷⁰² *
700 Im entsprechenden Band der Reihe Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur (Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier) gibt es beispielsweise keinen Artikel zum „Lied“. 701 Die Vernachlässigung des musikalischen Aspekts wird verschieden begründet: Harper weist auf seine fehlende Sachkenntnis hin („At the outset it should be emphasized that the qualifications of the author are in the analysis and history of literature, not music. The study does not therefore pretend to offer any new critique or technical insights into musical matters […].“ Harper [Anm. 112, S. 3]). Prätorius („Liebe hat es so befohlen“. Liebe im Lied der Frühen Neuzeit. Köln u. a. 2004, Einleitung) geht davon aus, dass bei notenlos gedruckten Liederbüchern des 17. Jahrhunderts „an einen musikalischen Vortrag […] gar nicht mehr“ gedacht worden sei (S. 15). Diese These steht der differenzierteren Ansicht van Ingens (Stand der Barocklied-Forschung, Anm. 39) gegenüber, von der sich Prätorius abgrenzen will (S. 7 f., Anm. 19). Eine erhellende Untersuchung Brauns zu diesem Thema (Lieder ohne Worte [Anm. 39]) hat Prätorius nicht zur Kenntnis genommen. Davon abgesehen ist die Behauptung (die die Konzentration auf die inhaltliche Ebene rechtfertigen soll) schwer nachvollziehbar, dass sich „im musikalischen Rezeptionsakt das Textverständnis auflös[en]“ würde und daher die Berücksichtigung der musikalischen Ebene eines Liedes für eine literaturwissenschaftliche Betrachtung sogar gewissermaßen destruktiv sei (ebd.). 702 Natürlich gibt es auch eine Reihe von Frühe-Neuzeit-Wissenschaftlern, wie die Germanistin Irmgard Scheitler, die ihre interdisziplinären Kompetenzen zur Erforschung musikalisch-literarischer Grenz- bzw. Überschneidungsgebiete nutzen. Auch die Musikwissenschaftlerin Elisabeth Rothmund verbindet in ihrer Promotionsschrift zu Heinrich Schütz’ weltlicher Vokalmusik musik- und literaturwissenschaftliche Fragestellungen, um an der „Schnittstelle zwischen diesen verschiedenen Bereichen inter- oder transdiziplinär etwas herauszuarbeiten, wofür anderswo nicht genügend Raum bleibt.“ Elisabeth Rothmund: Heinrich Schütz (1585–1672): Kulturpatriotismus und deutsche weltliche Vokalmusik. Bern 2003, S. 7. Darüber hinaus wären aus germanistischer Richtung z. B. verschiedene Studien von Jörg Krämer und Bernhard Jahn zu nennen.
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Die Gattungshistoriographie des deutschen Liedes und somit auch das Bild des Barockliedes werden von Forschungsarbeiten bestimmt, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts entstanden sind. Aus musikwissenschaftlicher Sicht gilt Hermann Kretzschmars Geschichte des neuen deutschen Liedes (1911) als wegbereitende Studie.⁷⁰³ Kretzschmar lässt seine Liedgeschichte im 17. Jahrhundert mit einer knappen gesamteuropäischen Perspektive auf die Gattung (Italien, Frankreich, England) beginnen, um dann den Blick auf verschiedene deutsche „Schulen“ zu konzentrieren, weshalb seine Darstellung in erster Linie regional gegliedert ist. Den Wert seines Buches sieht Kretzschmar selbst in der Berücksichtigung eines umfangreichen Quellenmaterials. In der Tat werden neben den prominenten Protagonisten wie Albert und Rist auch weniger bekannte Dichter und Komponisten abgehandelt, darunter Greflinger, der als Autor des „Frankfurter Reviers“ vorgestellt wird. Diese Zuordnung ist fragwürdig, Verbindungen zu Frankfurter Liedautoren lassen sich für Greflinger nicht nachweisen und überhaupt ist Frankfurt trotz literaturhistorischer Bedeutung in unserem Beobachtungszeitraum nicht als ausgesprochene ‚Liederstadt‘ hervorgetreten. Dem Versuch Kretzschmars, eine epochenübergreifende Darstellung des deutschen Liedes zu erarbeiten, stellt Walther Vetter seine Spezialstudie Das frühdeutsche Lied (1928) an die Seite.⁷⁰⁴
703 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 12. Die Bedeutung Kretzschmars für die Musikwissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts beschreibt Alfred Einstein: „Die Generation, der ich angehöre, hat sich ganz allgemein zur Schülerschaft Hermann Kretzschmars zu bekennen: bevor wir von Musikwissenschaft etwas wussten, hat uns sein ‚Führer durch den Konzertsaal‘ die ersten künstlerischen, geschichtlichen und interpretatorischen Begriffe vermittelt […], seine Bücher, vor allem seine ‚Geschichte des neuen deutschen Liedes‘, aber auch die späteren […] waren jedes Mal für uns Erlebnisse.“ Alfred Einstein: Hermann Kretzschmar. In: Zeitschrift für Musikwissenschaft 6 (1924), S. 481–484, hier S. 481. Die Geschichte des neuen deutschen Liedes konnte Kretzschmar nicht vollenden. Die Darstellung endet im späten 18. Jahrhundert noch vor Haydn und Mozart. 704 Als Vertreter einer musikwissenschaftlichen Epoche, in der Forschung und Praxis noch eng zusammenhingen, gilt Vetter sein Untersuchungsgegenstand „als einer der wichtigsten realen Grundlagen musikalischer Kultur“. Er möchte folglich sowohl wissenschaftlichem Anspruch genügen, sich aber auch an Musikausübende, vor allem an musizierende, junge Menschen wenden (S. XIII). Der Ergänzungsband mit notierten Beispielen, der neben „Edelsteinen“ auch „manche gewöhnlich Kiesel“ berücksichtige, wird in diesem Sinne in den Dienst der musikalischen Praxis gestellt. Wichtige generelle Fragen betreffs Entwicklung und Charakteristika des einstimmigen Liedes, Abgrenzung der Sphären weltlich/geistlich, Fragen hinsichtlich der Agogik, Notation und Harmonik sowie allgemeine kulturgeschichtliche Aspekte verhandelt Vetter in der Einleitung. Interessant ist für uns v. a. der zweite Abschnitt mit Bemerkungen zu den Liedern Weichmanns, Rists, Schwiegers und Stielers. Der literarische Aspekt spielt nur in Verbindung mit der musikalischen Umsetzung z. B. hinsichtlich der Metrik eine Rolle. Zu hinterfragen wäre Vetters Begriff von Monodie. Wenn er selbst beispielsweise Weichmanns Musik in der Sorgen=Lägerin
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Als literaturwissenschaftliches Pendant zur Kretzschmar-Studie kann die Geschichte des deutschen Liedes von Günther Müller gesehen werden, die immer noch als eine grundlegende liedhistoriographische Darstellung aus germanistischer Feder gilt⁷⁰⁵ und dabei ein prominentes Beispiel für das aufkommende Interesse der Literaturwissenschaft an Gattungsgeschichte in den späten 1920er-Jahren darstellt. Als musikwissenschaftlicher Co-Autor steuerte Alfred Einstein den Anhang mit Musikbeispielen bei. Das Streben nach Interdisziplinarität ist erkennbar. Auf Müllers Bemerkungen zu Greflinger wurde bereits im Forschungsüberblick oben hingewiesen. Nach Müllers wegweisender Studie lag die Barockliedforschung lange Zeit brach. Nach 1945 schien sie – wie die Beschäftigung mit dem Lied überhaupt – ideologisch vorbelastet, vielleicht auch, weil Liedforscher wie Müller und Vetter dem NS-Regime nahegestanden waren. Dem Lied und seiner Erforschung haftete darüber hinaus lange ein ‚völkischer‘ Beigeschmack an, so dass eine Distanzierung von diesem Gegenstand angebracht erschien. Hinzu kommt, dass gerade heitere, weltliche Lieder für eine werkimmanente Interpretation wenig zu bieten hatten. Erst mit Suppans musikethnologischen Methoden verpflichteter Habilitationsschrift Deutsches Liedleben zwischen Renaissance und Barock (1973) setzte erstmals wieder von musikwissenschaftlicher Seite ein Interesse am Lied in der Vormoderne ein (allerdings ohne Einbezug der Barockzeit); bereits in Wioras zuvor erschienenen, systematischen Überblicksdarstellung Das deutsche Lied (1971) wird das Lied des 17. Jahrhunderts nur am Rande berücksichtigt.⁷⁰⁶ Dabei bewertet Wiora das Barocklied negativ: In literarischer wie in musikalischer Hinsicht sei es minderwertig. Auch die bedeutenden zeitgenössischen Komponisten hätten sich abschätzig über die Gattung geäußert und die Liedautoren selbst hätten die Gattung gering geachtet.⁷⁰⁷ Offenbar ist sich Wiora nicht der bescheidenheitstopischen
„keine Hinneigung zur eigentlich italienischen Koloratur“ attestiert (S. 191) und daher vereinzelte Melismen als Akzentuierung der folgenden Klausel und nicht als Wortausdeutung im Sinne der seconda prattica verstehen kann, lässt sich nur noch sehr bedingt von „Monodie“ sprechen. 705 Dieter Lohmeier: Die Verbreitungsformen des Liedes im Barockzeitalter. In: Ders./Olsson (Anm. 39), S. 41–65, hier S. 41; Harper (Greflinger, Anm. 138), S. 237; Siegfried Kross: Geschichte des deutschen Liedes. Darmstadt 1989, S. 3; Krämer (Anm. 37), S. 26. 706 Der gattungshistoriographische Teil dieser Studie („Zur Gattungsgeschichte des deutschen Liedes“) behandelt das Barocklied im Kapitel „Die beiden Jahrhunderte des einfachen Strophenliedes für eine Singstimme und akkordische Begleitung“ auf etwa einer halben Seite und bietet daher wenig Anknüpfungspunkte. 707 Walter Wiora: Das deutsche Lied. Zur Geschichte und Ästhetik einer musikalischen Gattung. Wolfenbüttel, Zürich 1971, S. 96.
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Gesten bewusst, mit denen so gut wie jede Vorrede barocker Liederbücher ausgestattet ist, was gerade den künstlerischen Rang dieser Werke unterstreicht. Unverkennbar herrschen auch hier „künstlerische Verantwortlichkeit und Autorschaftsbewußtsein.“⁷⁰⁸ Den erneuten Versuch einer Gesamtdarstellung der Gattung unter stilgeschichtlichen Gesichtspunkten unternahm Siegfried Kross mit seiner knappen Geschichte des deutschen Liedes (1989). Einige Punkte im Kapitel „Die Anfänge des neueren deutschen Liedes im 17. Jahrhundert“, das sich anfangs eng an Vetter anzulehnen scheint, sind fragwürdig.⁷⁰⁹ Berechtigt ist hingegen seine Kritik an einer strikten Einteilung der deutschen Liederlandschaft des 17. Jahrhunderts in regionale ‚Schulen‘. Die germanistische Liedforschung hinkte indes der Musikwissenschaft gewissermaßen hinterher, Impluse kamen bezeichnender Weise aus dem Ausland: Der Germanist Gary C. Thomas veröffentlichte 1963 seine umfangreiche Studie Poetry and Song in the German Baroque. John Herschel Baron untersucht in seiner Dissertation Foreign Influences on the German Secular Solo Continuo Lied of the Mid-Seventeenth Century (1967) das deutsche weltliche GeneralbassSololied von Schein bis Krieger in Hinblick auf musikalische und literarische Einflüsse vor allem aus Frankreich und Italien. Diese seien meist über das niederländische Repertoire vermittelt worden. Seine These ist, dass sich diese Einflüsse mit den autochthonen Traditionen zu einem ‚Amalgam‘ verbunden hätten. Erste neuere Versuche zu einer interdisziplinären Erforschung des Liedes in der Frühen Neuzeit lieferten schließlich die in größeren Zeitabstand erschienenen Tagungssammelbände von Dieter Lohmeier und Berndt Olsson (1979), von Anthony Harper und Gudrun Busch (1992) sowie von Jörg Krämer und Bernhard
708 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 6. Vgl. auch die Kritik an Wiora ebd. 709 Beispielsweise, ob die geographische Isolierung Königsbergs in den Begräbnisliedern des Kürbishüttenkreises eine größere Affinität zum Volkslied zur Folge gehabt habe und vor „mythologischem Schwulst, der sich auch in der Opitz-Nachfolge rasch breit machte“, bewahrt habe (Anm. 705, S. 26). Diese Aussagen sind undifferenziert und überspitzt: Mythologisches Personal wie Nymphen usw. treten auch in den Albert-Liedern auf und der Kürbishüttenkreis identifizierte sich selbstverständlich mit den Opitzschen Reformen. Darüber hinaus fällt Kross fragwürdige ästhetische Werturteile, indem er den ‚Maßstab Albert‘ an diverse Liedkompositionen des Jahrhunderts anlegt. Vor diesem Hintergrund hinterlassen zum Beispiel die Lieder Kittels einen eher „gekünstelten als liedhaften Eindruck“, die „mechanistische Sequentierung“ zeige, „wie schwer sich Komponisten taten, das Stilangebot der Zeit in der neuen Gattung zu verschmelzen.“ (S. 30). Zu hinterfragen ist auch die Behauptung, dass einem Musiker bei der Vertonung von Schäferpoesie „nur noch gekünsteltes einfallen“ könne (S. 31). Braun kritisiert Kross’ Projektion der Ästhetik der Berliner Liederschule auf das Barocklied. Braun (Thöne, Anm. 237, S. 7).
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Jahn (2003).⁷¹⁰ Die Schwerpunkte liegen hier auf den Komplexen Wort-Ton-Verhältnis, kulturelle Standortfaktoren und Wirkungsmechanismen, Popularisierung der Lieddichtung und Verwendungsformen von Liedern in der städtischen Kultur. Aus musikwissenschaftlicher Sicht veröffentlichte Werner Braun mit dem Band Thöne und Melodeyen, Arien und Canzonetten. Zur Musik des deutschen Barockliedes (2003) ein neues Standardwerk, das die Gestaltenfülle des Barockliedes detailliert darlegt. Braun bietet eine Gesamtdarstellung der Gattung von 1630 bis 1680 unter Berücksichtigung sämtlicher Ausprägungen (geistlich/weltlich, einstimmig/mehrstimmig, bürgerlich/höfisch) und unter Einbeziehung germanistischer, volkskundlicher und hymnologischer Forschung. Im Vorwort unterstreicht Braun das „Novum“ der „Aufnahme einer musikwissenschaftlichen Abhandlung in eine literaturwissenschaftliche Reihe“⁷¹¹ und weist damit auf den Mangel interdisziplinärer Forschungsarbeiten zum Lied hin. Diesem Defizit wollte auch Hermann Danuser beikommen.⁷¹² In den von ihm verantworteten Teilbänden 8,1 und 8,2 des Handbuch der musikalischen Gattungen (2004) führt er schon im Titel einen Gegenbegriff zum traditionellen Terminus ‚Lied‘ ein: „Musikalische Lyrik“.⁷¹³ Damit beabsichtigt Danuser zum einen, den Aporien der Liedhistoriographie, wie sie sich beispielsweise noch in den nationalphilologisch bzw. -historisch gefärbten Artikeln des Reallexikon deutscher Literaturgeschichte und des alten Die Musik in Geschichte und Gegenwart manifestieren, auszuweichen. Ferner sei der Liedbegriff zu eng mit den Liedvertonungen des 19. Jahrhunderts verbunden und daher so stark ästhetisiert worden, dass er nicht mehr als adäquate Bezeichnung für Lieder älterer Epochen und anderer Kulturen tauge. Vor allem aber eigne sich
710 Stärker als von der Frühneuzeitforschung gingen in den vergangenen Jahrzehnten von mediävistischer Seite, v. a. von der Spätmittelalterforschung, Impulse zur interdisziplinären Untersuchung des Liedes aus. (Vgl. z. B. die Tagung „Gattungen und Formen des europäischen Liedes vom 14. bis zum 16. Jahrhundert“, Münster 2001 bzw. den entsprechenden Tagungsband: Hg. Michael Zywietz, Volker Honemann, Christian Bettels u. a. Münster 2005; Wegweisend sind auch die Studien und Werkausgaben von Christoph März, beispielsweise ders. [Hg.]: Die weltlichen Lieder des Mönchs von Salzburg. Tübingen 1999). 711 Braun (Thöne, Anm. 237), Vorwort, VI. 712 Vgl. auch den von Danuser herausgegebenen Tagungsband: Musik als Text. Bericht über den internationalen Kongreß der Gesellschaft für Musikforschung. Freiburg im Breisg. 1993. 2. Bde. Kassel 1998, v. a. den Bereich „Intertextualität im Lied des 14. und 15. Jahrhundert“. Bd. 1, S. 287–363. 713 Hermann Danuser: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Berlin 2004.
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der Terminus ‚Lied‘ nicht, um die zwei Ebenen dieser Form, nämlich die sprachliche und musikalische, zu erfassen.⁷¹⁴ Folglich rufe „musikalische Lyrik geradezu zwingend Musik- und Literaturwissenschaft zu transdisziplinär gemeinsamer Arbeit auf“.⁷¹⁵ Dementsprechend werden den verschiedenen Abhandlungen zu einzelnen Epochen aus musikwissenschaftlicher Feder literaturwissenschaftliche Beiträge gleichsam kontrapunktisch beigefügt.⁷¹⁶ Die Beiträge dieses Bandes zum 17. Jahrhundert liefern Susanne Rode-Breymann (Musikwissenschaft) sowie Achim Aurnhammer und Dieter Martin (Literaturwissenschaft). Rode-Breymann behandelt ein internationales Spektrum und bezieht dabei, neben Formen des deutschen Liedes und der deutschen Arie, das französische Air de cour, die italienische Monodie und Arie sowie den Court song und das Lute ayre aus England ein. Aurnhammer und Martin beschränken sich auf die deutsche Liedproduktion, die als „Spiegel internationaler Entwicklungen gelten“ könne (S. 334), weil die Anschlussversuche an die Romania, an England und an die Niederlande zu einer breiten Rezeption der neulateinischen und volkssprachlichen Poetik dieser Länder geführt und somit auch die Einführung musikspezifischer Gattungen befördert hätten. Schließlich ist noch auf die Beiträge des bereits mehrfach erwähnte Germanisten Anthony Harper zum Barocklied hinzuweisen, vor allem auf seine Monographie German Secular Song-Books of the Mid-Seventeenth Century (2003). Hier stellt er Liedersammlungen des Nordostens, Mitteldeutschlands und Hamburgs in den Mittelpunkt, deren Dichter jeweils portraitiert werden; es folgt eine Beschreibung der Sammlungen und die Analyse der Liedtexte. Auch Greflinger ist ein eigenes,
714 Ders.: Einleitung. In: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert. Hg. von dems. Berlin 2004, S. 11–33, hier S. 11 f. Vgl. hierzu die Rezension von Bernhard Jahn („Lied“ oder „musikalische Lyrik“? Zu einem neuen Entwurf einer musikoliterarischen Gattung. Rezension über Hermann Danuser: „Musikalische Lyrik“. In: IASLonline, 25. 07. 2006), der den Begriff „musikalische Lyrik“ für eine neue „musikoliterarische Gattung“ zwar begrüßt, aber die „Asymmetrie zwischen Adjektiv und Substantiv als zu stark“ empfindet (§ 7). Sein Vorschlag „Lyrik und Vertonung“ trifft jedoch gerade für die Lieder des Barock den Sachverhalt nicht immer, da hier häufig parodistisch oder kontrafaktisch verfahren wird: auf bekannte Melodien werden also Texte gemacht – nicht umgekehrt, wie Jahns Vorschlag suggerieren könnte. 715 Danuser (Einleitung, Anm. 714), S. 27. 716 Ob die literaturwissenschaftlichen Beiträge für ein Handbuch-Format immer günstig gewählt sind, kann diskutiert werden. Der mediävistische Aufsatz von Thomas Cramer repräsentiert jedenfalls mit seiner These, die mittelalterliche Lyrik sei aufgrund der marginalen Melodieüberlieferung Leselyrik gewesen, nicht den common sense der gegenwärtigen Mediävistik. Vgl. Jahn, Rezension (Anm. 714), § 22.
Bemerkungen zum Stand der Barocklied-Forschung
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größeres Kapitel gewidmet. Die musikalische Ebene bleibt jedoch bewusst unberücksichtigt.⁷¹⁷ * Festzuhalten bleibt, dass die ganze Gattung Barocklied seit mehr als 100 Jahren stark vernachlässigt worden ist. Dieser Befund bezieht sich auch auf bibliographische Erschließung und Editionsarbeit.⁷¹⁸ Ein Blick auf die Situation in Großbritannien, in den Niederlanden und Skandinavien demonstriert den enormen Forschungsrückstand der Germanistik.⁷¹⁹ Gleichwohl sind erste Anzeichen eines Wandels festzustellen: Seit etwa zehn Jahren hat das Interesse gerade an einer interdisziplinären Barockliedforschung dezent zugenommen. Dieser Trend zeigt sich beispielsweise im Fall der Rist-Forschung, die sich in Editionen, auf Tagungen und in Sammelbänden fächerübergreifend verständigt.⁷²⁰ Davon abgesehen sind jedoch detaillierte Fallstudien immer noch ein Desiderat der (Barock-)Liedforschung. Außerdem erschienen die wichtigsten neuen Darstellungen (Harper, Danuser, Braun, Jahn/Krämer) alle nahezu zeitgleich in den Jahren 2003/2004 und konnten somit nicht systematisch aufeinander Bezug nehmen. Diese ver-
717 Vgl. Anm. 112. 718 Die wichtigen Editionen des inzwischen verstorbenen Harpers von Liederbüchern Brehmes und Schirmers, die auch das Notenmaterial berücksichtigen, sind gewissermaßen Tropfen auf dem heißen Stein; gebraucht werden dringend weitere kritische Ausgaben, wie sie jüngst von Achim Aurnhammer, Nikolas Detering und Dieter Martin für Homburgs Clio vorgelegt wurden. Auch bibliographische Nachschlagewerke wie der Katalog von Eberhard Nehlsen (Berliner Liederflugschriften. Katalog der bis 1650 erschienenen Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Bearb. v. E. Nehlsen. Hg. von Gerd-Josef Bötte u. a. 3 Bde. Baden-Baden 2009) bieten erste entscheidende Voraussetzungen für die Erforschung des Gegenstandes. 719 Zum englischen Liedgut liegen seit Langem umfangreiche, beschreibende Bibliographien vor (Cyrus L. Day und Eleanore B. Murrie: English Song-Books 1651–1702. London 1940; David Hunter: Opera and song books published in England 1703–1726. A descriptive bibliography. London 1997). Vgl. Krämer (Anm. 37), S. 27. Während die niederländische Liedforschung längst über eine umfangreiche Datenbank verfügt, www.liederenbank.nl., in der systematisch nach Strophenformen, Melodien und Incipits von 150 000 Liedern gesucht werden kann, stehen der deutschen Liedforschung abgesehen von Zahns und Franks Nachschlagewerken kaum Hilfsmittel zur Verfügung, um beispielsweise Thonangaben auf die Spur zu kommen. 720 Vgl. die Neuedition der Himmlischen Lieder und der Neuen Himmlischen Lieder, die mit musik- und literaturwissenschaftlicher Expertise (Küster/Steiger) erstellt wurde (2012 und 2013), sowie die jüngst stattgefundene Hamburger Tagung „Johann Rist. Profil und Netzwerke eines Pastors, Dichters und Komponisten der Barockzeit“ (2.–5. Mai 2013), auf der Musikwissenschaftler wie Germanisten zu Wort kamen.
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schiedenen aktuellen Befunde zu vergleichen und zu synthetisieren, stellt eine weitere Aufgabe einer interdisziplinären Barockliedforschung dar. Die vorliegende Studie versucht hier anzusetzen.
2 Greflinger als Lieddichter Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass Greflinger eine besondere Affinität zur Musik hatte: Schon als Schüler erfuhr er am Regensburger Gymnasium eine überdurchschnittlich intensive musikalische Ausbildung, während seiner Studentenzeit in Wittenberg wird er die Gepflogenheiten studentischer Musikpraxis kennengelernt haben, am Dresdner Hof konnte er vielleicht sogar Bekanntschaft mit Heinrich Schütz machen. Entscheidend war seine Nähe zum musikpraktizierenden Bürgertum in Danzig und Hamburg und vor allem die enge Verbindung zu dem musikaffinen Kreis Johann Rists. Greflingers Neigung zur Musik, besonders zum Lied, manifestiert sich auch deutlich in seinem Gesamtwerk. Es liegen Gelegenheitswerke mit Notendruck vor, zu seinem Singoder „Liederspiel“⁷²¹ Ferrando Dorinde existierte offenbar (verlorengegangenes) musikalisches Material, Liedeinlagen finden wir in dem Schauspiel Cid⁷²² und selbst in den historiographischen Werken und den Komplimentierbüchern. Als ein separater Druck erschienen zwei geistliche Lieder mit Noten. Politische Lieder, wie Greflingers Lieder, die auf die Englische Revolution Bezug nehmen und die auch als Einblattdrucke kursierten,⁷²³ könnten von Zeitungssängern
721 Irmgard Scheitler: Harsdörffer und die Musik. Seelewig im Kontext deutschsprachiger Musikdramen. In: Georg Philipp Harsdörffers Universalität. Beiträge zu einem Uomo Universale des Barock. Hg. von Stefan Keppler-Tasaki und Ursula Kocher. Berlin, New York 2011, S. 213–236, hier S. 227. 722 Vgl. dazu die Hinweise bei Irmgard Scheiter: Schauspielmusik. Funktion und Ästhetik im deutschsprachigen Drama der Frühen Neuzeit. Band 1: Materialteil. Tutzing 2013, S. 248: „Greflinger lässt wie Corneille an den beiden monologischen Stellen [Rodigo in I,7 und Monolog der Infantin in V,2] den Text zur Liedform wechseln.“ Corneilles Lieder wurden gesungen, es liegen z. B. Vertonungen von Charpentier vor. Da Greflingers Cid-Lieder metrisch analog zu den französischen Vorlagen gestaltet sind (Scheitler, ebd.), konnten sie auch auf diese Melodien gesungen werden. 723 Z. B. Jhrer Königl. Majestät von Engelland Carls / Klag- oder Sterb-Lied Aus Dem Englischen in Hollandisch / und Hollandisch ins Deutsch versetzt. Jn der Melodey. Wol dem der sich nur lässt vergnügen An dem was jhm das Glück gibt Jm Jahr 1649 sowie Königlicher Diskurß Vund Gespräch zwischen Jhr Königl. Mayest. Carol Stuart Vnnd Herrn Protectoren Cromwel in EngelLand. Sampt einem tröstlichen Lied Der geistliche Amor genannt. Jn grossen Trüebsaalen gantz
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vorgetragen worden sein.⁷²⁴ Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe, alle diese Lieder systematisch, insbesondere in Bezug auf ihre jeweils kontextspezifische Funktion, zu untersuchen. Hier müssen wir uns wiederum auf einige Hinweise beschränken, um den Schwerpunkt auf die Analyse der Liederbücher legen zu können.
2.1 Lieder in verschiedenen Kontexten Das erwähnte Singspiel Ferrando Dorinde – Greflinger selbst spricht von „trawer spiel“ – besteht aus 16 Liedern, die in einen Handlungszusammenhang gebracht sind: Der mittellose Poet Ferrando und die Bürgertochter Dorinde lieben sich. Diese soll jedoch nach dem Willen der Eltern den alten, reichen Chremes heiraten, der „seine Brunst gegen der Dorinde“ entdeckt. Ferrando tötet Chremes im Affekt und wird in den Kerker gesperrt, wo ihm Themis seine nahende Hinrichtung verkündet. Um mit dem Geliebten im Tod vereinigt zu sein, erdolcht sich Dorinde, nachdem sie einen Abschiedsbrief verfasst hat, am Grab des mittlerweile hingerichteten Ferrando. Damit besteht Dorinde also als gewissermaßen ideale barocke Heldin diese Prüfung ihrer constantia und entsagt der zerstörischen Macht des Geldes. Dorindes Vater Simo findet den Brief und „wird rasend“. Die einzelnen Lieder sind in verschiedenen Strophenformen verfasst, die der jeweils vorherrschenden Affekthaltung der dramatischen Situation angemessen sind. Das Liebesbekenntnis Ferrandos folgt beispielsweise dem verbreiteten formalen Schema der Schäferlyrik (4a4b4a4b4c4c) mit weiblichen Kadenzen in den a-Reimen und entspricht damit dem Modell des Modeschlagers „Daphnis gieng vor wenig Tagen“. Seine Klage und Todesgedanken im Kerker stehen hingegen in heroischen Alexandrinern. Das Schicksal der Liebenden wird dabei in den Liedern der Figuren permanent mit dem bekannter Helden und Heldinnen der Mythologie parallelisiert – mit Pyramus und Thisbe, Hero und Leander, auch mit Dido und Iphis. Dass die tragische Liebesgeschichte in ein quasi ‚bürgerliches‘ Milieu verlagert wird, mag besonders publikumswirksam gewesen sein. Hinzukommt, dass Greflinger in
heylsam vnd nutzlich zu lesen vnd zu singen. Erstlich gedruckt zu Cöln bey Johann Sauren / Anno 1659. 724 Rolf Wilhelm Brednich: Die Liedpublizistik im Flugblatt des 15. bis 17. Jahrhunderts. BadenBaden 1973, Bd. S. 187 ff.; Günter Berghaus: Die Aufnahme der Revolution in Deutschland 1640– 1669. Wiesbaden 1989, S. 52 ff.
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der Maske des „Seladon“, in der er die Widmung an Frankfurter Kaufleute verfasst, die Geschichte als eine wahre Begebenheit ausgibt.⁷²⁵ Gattungsgeschichtlich gehört das kleine dramatische Werk in den Kontext von Liederspielen, also Schauspielen, die sich aus einer Aneinanderreihung von Liedern bilden und die im 17. Jahrhundert sehr verbreitet waren.⁷²⁶ Dem bei Schleich in Frankfurt verlegten Text sind zwar keine Noten beigegeben, jedoch gibt es Hinweise auf existierendes Material.⁷²⁷ Aufführungen sind nicht belegt. * Es ist gewiss auch davon auszugehen, dass die Lieder, die anlässlich von Hochzeiten geschrieben wurden, gesungen werden konnten. Allerdings sind nur äußerst selten Noten überliefert. Für eine Danziger Hochzeit verfasste Greflinger einen „Braut=Dantz“⁷²⁸, ein Generalbasslied. Ansonsten ist nur noch zu einem Hamburger Epithalamium die Vertonung erhalten.⁷²⁹ Das Danziger Epithalamium lässt Rückschlüsse auf die Aufführungssituation zu, da es als ‚interaktives‘ Spiel zwischen mehreren Instanzen konzipiert ist: Das im Lied namentlich genannte Brautpaar von der Linde ist passiv beteiligter Protagonist, es wird lobpreisend angesungen bzw. umtanzt, aber zugleich auch an seine zukünftigen ehelichen Pflichten erinnert. Als zweite Instanz sind die Hochzeitsgäste integriert. Sie sind einerseits Teil des Publikums, das wie das Brautpaar eine moralisch-ethische Lektion erteilt bekommt und andererseits zugleich performativ durch Tanz beteiligt ist. Das ist freilich nur möglich, wenn der musikalische Part abgedeckt wird; mindestens ein Instrument ist nötig, um den Bass zu realisieren. Vielleicht hat
725 „Das Nachdencken über dieser zweyer Personen erbärmliches Ende hat mich als einem dabey gewesenen jederzeit so hoch betrübt / daß ich nicht unterlassen können solches mit wenigen Versen zubeschreiben […].“ S. 3. 726 Scheitler (Harsdörffer, Anm. 721), S. 227. 727 Im anonym erschienenen Poetischen Lust-Gärtlein (Danzig 1645) gibt es einen Abschnitt „Folgen etliche newe Lieder von Ferrando und Dorinde […] zum singen gestellet vom Seladon“. Es handelt sich um einen nicht autorisierten Druck. Hinweis bei DÜNNHAUPT III, S. 1683. Das von mir eingesehene Exemplar der UB Regensburg (64 / GH 2376 P74.645) enthielt keine Noten. 728 Der Braut Dantz Auff des WolEdlen und Vesten Herrn Valentin von der Linde / Jungf: Catharinae Königin / Sehl. Herrn Hans Königs hinterlassenen Eheleiblichen Tochter Hochzeit. So gehalten in Danzig den 24. Aprilis 1646. HPG, 1646. 729 Hochzeitlicher Ehren=Wuntsch. Als Der Edle […] H. Andreas Schwartz / Der Beyden Rechten vornebmer Licentatus, Mit der […] Jungf. Anna Maria Beckmans […] 1648. Commerzbibliothek Hamburg. S27 / Bd. 1, 180.
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Greflinger auf der Feier des ihm gut bekannten Paars selbst den Gesangspart übernommen?⁷³⁰ * Als Autor geistlicher Texte ist Greflinger kaum hervorgetreten. Natürlich hat er – wie oben dargestellt – Epicedien verfasst, die sozusagen naturgemäß geistlichen Charakter haben. In seiner Jugend, während des kurzen Aufenthalts am Dresdner Hof, widmete er außerdem seinen dortigen Gönnern den kleinen Gedichtzyklus (Weihnacht=Gedanken), an anderer Stelle (im Vorwort zu Seladons Weltliche Lieder) kündigte er eine Übersetzung von Johannes Gerstens De Imitatione Christi an, die aber wohl nie erschienen ist. Darüber hinaus verfasste er wohl ein geistliches Liederbuch (Geistliche Liederlein über die jährlichen Evangelien. Hamburg 1648) sowie eines speziell für Kinder (Jnbrünstige Seufftzer nach Anleitung der Sonn- und Festtäglichen Evangelien den lernenden Kindern zum beten und singen auffgesetzt. Hamburg 1655) – diese beiden Titel werden in älteren Bibliographien aufgeführt, sind aber heute in keiner Bibliothek mehr nachweisbar.⁷³¹ Kein Epicedium von Greflinger ist mit Noten versehen, auch der Dresdner Zyklus gibt keine Hinweise auf eventuell zugehörige Musik. Somit ist nur ein geistliches Werk dieses Autors musikalisch überliefert, nämlich der Einzeldruck Zwey Sapphische Lieder / Von der Geburt und von dem Leyden Unsers getrewen Heylandes Jesu Christi / gesungen von Georg Greblinger auß Regenspurg. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn bey Mattheo Kempffern / im Jahr Christi 1644.⁷³²
Auffällig ist die Angabe „gesungen von Georg Greblinger“⁷³³ – es wird nicht deutlich, ob Greflinger auch der Komponist ist, aber ein weiterer Name fällt nicht und
730 Den Versuch einer Analyse dieses Hochzeitsliedes unter Berücksichtigung rezeptionsgeschichtlicher Fragen und der gattungstypischen Merkmale eines Epithalamiums hat die Verf. in einem Aufsatz unternommen (Georg Greflinger in Danzig. In: Literatur im Preußenland von der ausgehenden Ordenszeit bis ins 20. Jahrhundert. Hg. von Bernhart Jähnig. Osnabrück 2012, S. 63–78). 731 Anzunehmen ist, dass diese Werke zum Hamburger Kriegsverlust gehören. Vgl. die Angaben bei DÜNNHAUPT III, S. 1689. 732 Zitiert nach dem einzigen nachweisbaren Exemplar, das sich in der Württembergischen Landesbibliothek befindet. Signatur: D. D. ql.K.101. [12 Seiten]. Das Titelbild trägt unter dem Titel das Signet Matthäus Kempffers, einen Ritter zu Pferde mit dem Spruch „Milita Bonam Militiam“. Ohne Noten erscheint das erste Lied nochmals 1655 im Ensemble der Eröffnungsgedichte der Sammlung Poetische Rosen und Dörner. Das zweite Lied ist mit dem in der Sammlung nicht identisch (die Angabe bei DÜNNHAUPT III, S. 1683, Nr. 5.2 stimmt also nicht ganz). 733 Greflinger nennt sich in seiner Jugend gelegentlich „Greblinger“.
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in der Widmung an seine Frankfurter Gönner bezeichnet er sich als „Authore“. Metrisch folgen die Lieder dem sapphischen Odenmaß, das Greflinger in Danzig kennengelernt haben könnte; auf die Bedeutung des Danzigers Plavius für diese metrische Form wurde oben verwiesen.⁷³⁴ Der Notensatz ist in Partitur gedruckt (Notenbeispiel I im Anhang) und ist mit „Aria à due Voci Co’l Basso Continoo“ überschrieben – ein Generalbass-Duett⁷³⁵ im Dreiganze-Takt, wobei der Notensatz jedoch nur dem ersten Lied beigegeben ist. Satztechnisch ist das Lied ‚korrekt‘. Dabei laufen die beiden Sopranstimmen in Terzabständen fast durchgängig parallel, in Takt 7/8 kommt es zu Stimmkreuzungen. Der instrumental zu realisierende Bass liefert das harmonische Fundament, man kann von einer homophonen Anlage sprechen. Die Deklamation erfolgt syllabisch (jedoch ist die Textzuordnung im Druckbild nicht eindeutig erkennbar), wobei auf die achte Silbe ein fünftöniges Melisma fällt. Der vierversigen Strophe im sapphischen Odenmaß entsprechen auf musikalischer Ebene 15 Takte. Dem ersten Vers ist eine fünftaktige Periode (mit dem Melisma) zugeordnet, auf den zweiten fallen nur drei Takte – was auf Textebene mit dem drängenden Imperativ „weiche / weiche“ korrespondiert – der dritte Vers beansprucht erneut fünf Takte, dem Adoneus sind zwei Takte zugeordnet. Im Druckbild folgen 28 Strophen. Dabei beginnt das Lied mit einem emphatischen Imperativ: „Weichet ihr Fabeln von den neun Göttinnen“ – der antike Mythos hat keine Bedeutung mehr, wenn es um „höher[e] Ding[e]“, die Verkündigung der Kerninhalte des christlichen Glaubens geht. Im Zentrum stehen nämlich das Mysterium der Jungferngeburt und die Menschwerdung Gottes („Göttlich geboren bistu von dem Grossen / | Menschlich gebohren bistu von dem Weibe“) – Wunder, die „geglaubet / nicht ergründet“ werden können und die auch ein Dichter mit den Mitteln der Poesie nicht zu erfassen vermag. Allein seine eigene Glaubenskraft kann die richtigen Worte hervorbringen („Mach die Zunge tüchtig auszusprächen“). Es folgen ausführliche Reflexionen über die menschliche Glaubenskraft, bis der Blick sich schließlich auf das Kind in der Krippe richtet. In den Mittelpunkt rücken hier, implizit mit Zeitbezug (Weihnachten 1643!), die christliche Friedensbotschaft
734 Plavius’ Hochzeitscarmen „Lustige Sappho / laß die Saiten klingen“ (1630) galt vielen Autoren als Muster des deutschen Sapphicums. Frank (Anm. 284), Nr. 4.83. s. auch Aurnhammer (Anm. 259), S. 807. 735 In diesem Stil hat Greflinger offenbar noch ein weiteres Stück angefertigt, ein Hochzeitslied für einen Kieler Kantor aus Rists Bekanntenkreis. Das Stück „Liebe nun, wer lieben kann“ aus dem Jahr 1650 ist mit „Celadon“ unterzeichnet. Braun (Thöne, Anm. 237, S. 27, S. 64) weist auf es hin. Der ungewöhnliche Standort, die Kirchenbibliothek im kleinen Ort Seehausen in der Mark, macht den Zugang schwierig.
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sowie das Lob der Gottesmutter, wobei auch Leidensweg und Kreuzestod bereits angedeutet werden.⁷³⁶ Gleichsam kontrapunktisch zu dem Weihnachtstext folgt ein Passionsgedicht. Nach einem wortgewaltigen Natureingang, der die Finsternis bei der Kreuzigung Jesu schildert (Strophe 1 „Sehet die Sonne gehet in dem Leyden / | Stecket in einem schwartzgefärbtem Kleyde […]“)⁷³⁷ wird offenbar aus Perspektive des Longinus, der den sündigen Menschen an sich repräsentiert, (Strophe 16: „Bluten und Wunden / Ich und sonst keiner | Peutschet den Rücken / öffnet deine Länden | Füsse mit Händen“) der Anblick des gekreuzigten Gottessohnes in mystisch-affekthafter Weise beschrieben und davon ausgehend eine Meditation über die Sündhaftigkeit des Menschen und die Erlösungstat Christi entfaltet. Am Ende steht der Aufruf an das Individuum, durch die imitatio Christi zum Heil zu gelangen.⁷³⁸ Das Passionslied ist im gleichen Strophenmaß wie das Weihnachtslied verfasst, so dass „Von dem Leyden unsers Herrn Jesu Christi“ ganz offensichtlich mit der Musik des ersten Stücks verbunden werden soll. Dieser kontrafaktische ‚Kunstgriff‘ impliziert eine theologische Aussage: die Menschwerdung Christi steht in engster Verbindung mit seinem Sterben. Die gleiche Strophenform deutet es im Druckbild an, doch die Musik erst unterstreicht diesen Zusammenhang und lässt im Moment der Aufführung den jeweils komplementären Text palimpsestartig hindurchschimmern. Greflingers Intention war es also, dass, wenn bei der
736 Das Gedicht ist durchsetzt mit Bibelzitaten und Anspielungen auf theologische Schriften und Lehren (Luthers Christologie etc.), auf die hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann. Viele Hinweise bietet Paul Derks: Die Sapphische Ode in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts. Eine literaturgeschichtliche Untersuchung. Diss. Münster 1969, S. 120–132. Interessant könnte ein Vergleich mit Gryphius’ Sonett „Über die Geburt Jesu“ sein. Auch hierzu stellt Derks einige Überlegungen an: „Beide Dichter [Gryphius und Greflinger] arbeiten mit ähnlichen Antithesen, beiden geht es um das unausdenkbare Paradoxon. Bei beiden gibt es kein ‚Ich‘, sondern nur die umfassende Verbindlichkeit des Glaubens. Greflinger und Gryphius schreiben in strengen, kunstvollen Strophen, die der geglaubten Objektivität Form verleihen, hier in der sapphischen Ode, dort im Sonett.“ Ebd., S. 127. 737 Derks (ebd., S. 128) identifiziert den pseudo-bernhardinischen Zyklus „Rhythmica oratio ad unum quotlibet membrorum Christi patientis et a cruce pendentis“ als Prätext von Greflingers Lied. Er ist auch Vorbild von Paul Gerhardts „O Haupt voll Blut und Wunden“. Zu dieser Tradition vgl. auch Sven Grosse: Johann Rists Übertragung der lateinischen Passionssalven als Beispiel für die lutherische geistliche Dichtung des 17. Jahrhunderts. In: Steiger/Richter (Hamburg, Anm. 400), S. 77–89. 738 Vgl. Gerhard Hahn: Die Passion Christi im geistlichen Lied. In: Die Passion Christi in Literatur und Kunst des Spätmittelalters. Hg. von Walter Haug, Burghart Wachinger. Tübingen 1993, S. 297–319.
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häuslichen Andacht – die Lieder sind wahrscheinlich für diesen Rezeptionsrahmen gedacht⁷³⁹ – an Weihnachten „Von der Geburt Jesu Christi“ gesungen würde, die Musik sogleich an die Passion erinnern sollte und umgekehrt. Die Musik transportiert folglich die Aussage eines ebenfalls mit ihr verbundenen Textes und fungiert als Auslöser von intellektuellen und in diesem Fall vor allem affektiven Rezeptionsprozessen. Das Kontrafazieren hat hier nicht nur eine technische, sondern zugleich eine entscheidende sinnstiftende Funktion. Man könnte in der Terminologie der Intertextualitätsforschung folglich von „kalkulierter Hypertextualität“⁷⁴⁰ sprechen und konstatieren, dass Lieder wie die beiden geistlichen Greflingers durch ihre Verbindung mit Musik jeweils eine ‚doppelte Textualität‘ aufweisen – der eine Text ist unmittelbar präsent, weil er im Moment der Rezeption mit der Musik verbunden ist, der zweite ist der Musik gleichsam kryptogrammatisch eingeschrieben. Wird dieser ‚Code‘ in der Rezeptionssituation nicht entschlüsselt, geht eine Bedeutungsschicht verloren. Der Begriff ‚doppelte Textualität‘ soll beibehalten werden, wenn in den Analysen bei anderen Liedern Ähnliches zu beobachten ist.
2.2 Die Liederbücher im Überblick Wenden wir uns nun dem zentralen Korpus zu, denn als Liedautor kann Greflinger schließlich vor allem deshalb gelten, weil er vier umfangreiche Liederbücher verfasst hat. Bei einem Großteil der darin enthaltenen Texte handelt es
739 Vgl. Scheitler (Lied, Anm. 424), S. 90–103. 740 Diesen Terminus schlägt Nicole Schwindt (Einleitung. In: Die Kunst des Übergangs. Musik aus Musik in der Renaissance. Hg. von ders. Kassel, Basel u. a. 2007, S. 9–20) unter Rückgriff auf Genettes Begrifflichkeit vor, um den Bedeutungswandel musikalischer Transformation in der Renaissance in Hinblick auf Kontrafaktur und Parodie zu beschreiben. Zwar gehöre das Kontrafazieren und Parodieren „zum Archetypischen musikalischen Tuns“, ohne dass „damit sogleich ein poetologisches oder gar ästhetisches Programm verfolgt werden würde.“ Gleichwohl habe sich die Situation in der Frühen Neuzeit verändert (S. 9). In der „Parodiepraxis des 16. Jahrhunderts […] ging dieser arglose Zustand verloren, ja er wurde zum Teil abgelöst von einem Zustand kalkulierter Hypertextualität.“ (S. 14) Wenn Josquin Desprez seinem „Stabat Mater“ den Tenor eines Liedes mit dem Titel „Comme femme desconfortée“ oder Johannes Prioris der Kreuzklage der Gottesmutter „La belle se siet“ zugrunde legt, könne nicht einfach von Melodie-‚Recycling‘ die Rede sein; die „Melodie, die einst einen bestimmten Text transportiert hat, [trägt] diesen als Kryptogramm in sich“. Der Prätext sei präsent, auf diese Weise wirke die Melodie sinnstiftend (S. 13). In Schwindts Beispielen wären also in Genettes Terminologie die Chansons als Hypotexte, die Marienlieder als Hypertexte zu beschreiben. Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt am Main 1993, S. 14 f.
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sich um Gedichte, die zum Gesang bestimmt waren, auch wenn nur eine dieser Sammlungen mit Notenmaterial überliefert ist. Nochmals muss hervorgehoben werden: Seinen Lebensunterhalt konnte Greflinger als Zeitungsmacher bestreiten, seine Anerkennung in der res publica literaria erwarb er jedoch als Verfasser von Liedern. So war, wie oben gezeigt wurde, die mit Noten versehene Sammlung Seladons Weltliche Lieder die ‚Qualifikationsarbeit‘ für die Dichterkrönung und das Entrebillet für den Elbschwanenorden. Übrigens: Ein kleines biographisches Detail, das uns niemand Geringerer als Johann Mattheson in seinem Musikerlexikon Grundlage einer Ehren-Pforte (1740) berichtet,⁷⁴¹ verdeutlicht, dass Greflingers Hamburger Netzwerk auch in die wichtigsten Musikerkreise der Stadt reichte. Im Artikel zu dem Sänger „Franciscus de Minde“ schildert Mattheson dessen Aufstieg zum gefeierten Tenor in Hamburg: Ein schwedischer General habe dem „Herrn Gräflinger“ einen jungen, noch unbekannten Sänger, besagten de Minde, anvertraut und zwar mit der Bitte, diesen in die Hamburger Gesellschaft einzuführen. Greflinger habe sich bereitwillig des Niederländers angenommen und ihn „mit den vornehmsten Kaufleuten an der Börse bekannt“ gemacht, worauf man den Sänger schon alsbald „in der Vesper zu S. Michaelis“ habe hören können. Wenige Zeit später gehörte de Minde offenbar fest zur Hamburger Musikszene, pflegte unter anderem Kontakt zu dem „großen Flor“ und Johann Kortmann – mit beiden Organisten arbeitete auch Johann Rist zusammen. * Greflingers Liederbücher aus den Jahren 1644, 1655 und 1663 sollen im Folgenden überblickartig vorgestellt werden, besondere Merkmale herausgearbeitet und Themen sowie die musikalischen Aspekte dieser Sammlungen kursorisch untersucht werden, bevor das Augenmerk in einem eigenen Kapitel auf die interessanteste und wichtigste Sammlung aus dem Jahr 1651 zu richten ist. Die erste Sammlung Seladons Beständige Liebe ist quasi ein Jugendwerk des Autors und Produkt seiner Danziger Jahre. Sie erschien 1644 in Frankfurt im Verlagshaus Schleich, die zweite Sammlung Seladons Weltliche Lieder (1651) verlegte Schleichs Nachfolger Wächtler ebenfalls in Frankfurt. Ein Jahr nach seiner Poetenkrönung tritt Greflinger 1655 abermals als Lieddichter in Erscheinung:
741 Johann Mattheson: Grundlage einer Ehren-Pforte. Vollständiger, originalgetreuer Neudruck. Hg. von Max Schneider. Berlin 1910, S. 227. Braun gibt einen kurzen Hinweis auf diese Episode (Thöne, Anm. 237, S. 64, Anm. 293).
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Seine Poetischen Rosen und Dörner / Hülsen und Körner werden in Hamburg bei Naumann publiziert, der auch Liederbücher von Zesen und Rist herausgab. Die letzte Sammlung Celadonische Musa erschien 1663, vermutlich abermals in Hamburg, jedoch ohne Hinweise auf Verlag, Drucker oder Druckort. Insgesamt versammelte Greflinger in seinen Büchern 151 verschiedene Lieder. Eine von Harper zusammengestellte (und auf Korrektheit geprüfte) Tabelle⁷⁴² zeigt, dass der Autor in den beiden mittleren Liederbüchern einige Stücke übernahm, jedoch größtenteils neue hinzufügte. Die letzte Sammlung stellt hingegen eine Ausgabe letzter Hand, eine Art ‚Best-of-Album‘, dar. Jahr
Anzahl der Lieder
Davon bereits zuvor erschienen
Neue Lieder in %
1644 1651 1655 1663
40 48 50 100
– 6 12 69
100 87,5 76 31
Betrachten wir die erste Sammlung, Seladons Beständige Liebe. Folgende Aspekte sind besonders bemerkenswert: Erstens: Sie ist mit einem sehr aufwändig gestalteten Frontispiz ausgestattet, das mit dem Buchtitel und den folgenden Liedern eine emblematische Einheit bildet und sich dadurch als programmatisch präsentiert (Abb. 2). Zweitens: Bezug genommen wird im Bild auf die den folgenden Liedern zugrunde liegende Liebesgeschichte, deren Protagonisten Seladon und Flora sind. Seladon, der zugleich als Autor firmiert, manifestiert sich in den Texten als IchSprecher, wodurch eine autobiographische Inszenierung angelegt ist. Der Name des Titelhelden ist mit Bedacht gewählt: „Celadon“ ist Protagonist des berühmten französischen Schäferspiels Astrée des Honoré d’Ufré (gest. 1625) und repräsentiert als ewig verliebt schmachtender, treuer Schäfer den Gegentypus zu dem flatterhaften Hylas. D’Ufrés Text war im 17. Jahrhundert europaweit so bekannt,⁷⁴³ dass „Celadon“ bald schon gleichsam als Sinnbild des beständig Liebenden galt. Auch Flora ist ein verbreiteter Name in der Schäferpoesie, steht aber mit keinem Werk in eindeutiger Verbindung – Greflinger könnte durch seinen Wittenberger Studienfreund Augspurger zu diesem Namen inspiriert worden sein. Drittens: Die 40 Lieder der beiden Teile sind ohne Noten abgedruckt. Sie können jedoch auf
742 Harper (Anm. 112), S. 281. 743 Die erste deutsche Übersetzung erschien 1624/25 in Leipzig: Die Schäfferinn Astrea / Durch H. Honorat. von Urfe erstlich in Frantzösisch beschrieben: Jetzo newlich In hochteutzsche Sprach versetzet etc. (VD17 23:285305P).
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gängige Melodien gesungen werden. So liegt beispielsweise dem ersten Lied „Sein erstes an Floren“ das metrische Modell des verbreiteten Voigtländer-‚Schlagers‘ „Einstmals als ich Lust bekam“ zugrunde.⁷⁴⁴ Viertens: Stilistisch schwanken die Lieder zwischen mittlerem und niederem Stil, der hier stärker hervortritt als in den späteren Sammlungen.⁷⁴⁵ Wird „Flora“ beschrieben, bedient sich Greflinger einer schlicht-eleganten Ausdrucksweise, ansonsten fehlt es nicht an flotten Sprichwörtern („Frisch geliebt / ist halb gewonnen“, S. 34) und deftigen volkstümlichen Ausdrucksweisen; Vulgarismen sind jedoch kaum anzutreffen.
Abb. 2: Sebastian Furck: Titelkupfer zu Seladons Beständige Lieder (Frankfurt 1644), Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Signatur: 8 P GERM I, 1273 (5).
744 Mit dieser Thonangabe finden wir das Lied in der folgenden Sammlung abermals abgedruckt (Seladons Weltliche Lieder, S. 160). Auf das Thema ‚Sangbarkeit‘ von Strophenliedern, die nicht mit Noten ausgestattet sind, wird später ausführlich zurückzukommen sein. 745 Vgl. hierzu die knappe Stilanalyse bei Harper (Anm. 112), S. 281 ff.
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Auf die Punkte 1 und 2 soll näher eingegangen werden: Als Stecher des Frontispizes lässt sich anhand der Initialen (S. F. fec[it]) der Frankfurter Kupferstecher Sebastian Furck (um 1600–1655) identifizieren, der zum Künstlerkreis um Merian gehörte.⁷⁴⁶ Im Zentrum der anspielungsreichen pictura steht ein Palmenbaum als Bild für die Tugend der Beständigkeit,⁷⁴⁷ wodurch sogleich ein Zusammenhang mit der constantia des Titelhelden hergestellt wird. Rechts und links des Baumes sind zwei Figuren in zeitgenössischer, modischer Tracht positioniert, die sich im Laufe der Lektüre der Lieder als die Protagonisten der Sammlung – Seladon und Flora – erweisen. Die gesamte Szenerie spielt sich in einem umhegten Hortus, einem Venusgärtlein, ab, wodurch der locus amoenus als Ort des ungestörten Liebesglücks genauso alludiert wird wie der biblische Garten Eden. Auch mit der Anordnung der Figuren rechts und links des Baumes wird ein altes Grundschema für die Darstellung des Sündenfalls aufgegriffen. Doch Flora und Seladon scheinen drohende Gefahren und Verführungen zu ignorieren, ihre Liebe ist unantastbar, rein und keusch, was durch das auf Beinhöhe der Figuren flatternde, schnäbelnde Turteltaubenpärchen versinnbildlicht wird. Die beiden Figuren reichen einander die rechte Hand, mit der linken krönen sie sich gegenseitig mit Kränzen, so dass die sich berührenden Hände genau auf die Mittelachse der Komposition fallen, welche sich mit dem Stamm des Palmenbaums deckt. Es ist nicht genau erkennbar, um welche Kränze es sich handelt. Die sich in der Sammlung anschließende „Erläuterung des Kupffertitels“ spricht von einem Vergissmeinnicht-Kranz, den Flora Seladon reicht, bzw. einem Eichenkranz, den Flora als Sinnbild ihrer Treue erhält. Lässt man den Blick entlang der Mittelachse weiter nach oben wandern, gelangt man auf Höhe der Palmenblätter an eine rund gerahmte Kartusche mit dem Titel der Sammlung: „Seladons beständige Liebe“. Auf der Baumkrone, direkt über der Kartusche sitzt schließlich ein flammendes Herz, das die gegenseitige Zuneigung des Liebespaares symbolisiert, aber zugleich auf drohende Gefahren anspielt. Zu den Boten des nahenden Un-
746 Furck stammte aus dem Hunsrück und war seit 1617 bei seinem Landsmann Eberhard Kieser in Frankfurt am Main in die Lehre gegangen. 1642 wurde er Bürger der Stadt. Er war beteiligt an der Illustrierung des Thesaurus philo-politicus (Frankfurt 1623 ff.) sowie an dessen Vergrößerung zur Sciagraphia cosmica. Dabei handelt es sich um bildliche Darstellungen, die einen Moralspruch erläutern. Darüber hinaus fertigte er topographische Stiche an. Sein wichtigstes Arbeitsgebiet war der Portraitstich. Er fertigte vor allem Bildnisse Frankfurter Bürger, auch einen Stich Merians d. Ä., an. (V. Ansidei: Art. „Sebastian Furck“. In: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler. Von der Antike bis zur Gegenwart. Begr. von Ulrich Thieme und Felix Becker. Hg. von U. Thieme. Leipzig 1909, Bd. 12, S. 594). 747 Henkel/Schöne (Anm. 636), S. 192–195.
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heils gehört der gewittrige Himmel in der Bildhälfte Seladons, der die strahlende Sonne im Bildfeld Floras allmählich zu verdrängen scheint. Noch aber trägt der Palmenbaum die Last der beiden an seinen Zweigen befestigten Steine mit der Aufschrift „Neid“ – gemeint ist Anfechtung der tugendhaften Lebensführung von ‚außen‘ – ohne Mühe. Eine weitere Bedrohung schleicht sich vom unteren Bildrand aus an: Eine Schlange – die in einer Garten-Eden-Kontrafaktur nicht fehlen darf – streckt ihr Haupt gierig, jedoch vergeblich in Richtung Flora, wie auch der am Boden liegende Degen Seladon nicht zum Erwerb weltlichen Ruhms verlocken kann. Aus dem untersten Bildrand schließlich faucht ein dreiköpfiger Cerberus das Paar an, das jedoch, mit sich selbst beschäftigt, all dieser Gefahren gar nicht gewahr wird. Das symmetrische Bildarrangement spiegelt die Anlage der Sammlung, denn diese besteht aus zwei Teilen, die sich genauso antithetisch gegenüberstehen wie der sonnige und der wolkenbehangene Himmel in beiden Hälften der pictura. So behandelt der erste Teil, bestehend aus 30 Liedern, die auf Gegenseitigkeit und Treue beruhende Liebe zwischen Seladon und Flora.⁷⁴⁸ Doch es gibt kein ‚Happy Ending‘: Seladon ist bäuerlicher Herkunft, hat nur „etwas schlecht studiert“ und ist vollkommen besitzlos. Seine Liebe zu Flora, die manchmal auch „Elisa“ heißt, wird gesellschaftlich nicht akzeptiert. Im Laufe der Geschichte kann das unglückliche Liebespaar den Anfeindungen von außen, vor allem durch die Mutter der Protagonistin, nicht standhalten. Schließlich heiratet Flora in Abwesenheit Seladons einen reichen, alten Mann, wodurch sie ihr Treueversprechen gebrochen hat.⁷⁴⁹ Das im Titelkupfer angedeutete Unglück hat seinen Lauf genommen. Diese Handlungsreihe wird gleichwohl nicht konsequent verfolgt, sondern eher fragmentarisch, immer wieder durch satirische Lieder unterbrochen. Bisweilen hat man den Eindruck, dass man es mit durcheinander geratenen Szenen eines Liederspiels in der Art des obengenannten Stücks Ferrando Dorinde zu tun hat. Eine kleine Sequenz epigrammatischer, größtenteils petrarkistischer Texte schlägt die Brücke zum zweiten Teil. Dieser ist überschrieben mit „SELADONS Wanckende Liebe“ und setzt sich im Wesentlichen aus einer Reihe von Schmähgedichten auf die abtrünnige Geliebte und misogynen Texten zusammen. Abgerundet wird die Sammlung abermals durch eine Sequenz von Epigrammen,
748 Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Harper (Greflinger, Anm. 138), S. 221–229, der inhaltliche und stilistische Parallelen zu Finkelthaus aufzeigt. 749 Hier liegt ein bekanntes Aufbaumuster von Liebeslyriksammlungen zugrunde: So substitutiert Tasso den Tod der Geliebten, der bei Petrarca ja die Zweiteilung des Canzoniere motiviert, durch die Heirat der Dame mit einem anderen. Vgl. Gerhard Regn: Torquarto Tassos zyklische Liebeslyrik und die petrarkistische Tradition. Studien zur Prima Parte der Rime. Tübingen 1987, S. 126 ff.
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„Schertz und Ernsthaffte Gedichte“, die häufig Bezug auf den Hauptteil der Sammlung nehmen. Für die Inszenierung des Narrativs ist es dabei entscheidend, dass die Geschichte eine (scheinbar) biographische Dimension erhält. So ist der Autor der Sammlung, Seladon (der Name Greflinger taucht nie auf), zugleich der Ich-Sprecher der Lieder. Dieses männliche Ich hat bestimmte charakterliche und äußerliche Merkmale, die mit denen des Autors übereinstimmen, was in der Schlussund Vorrede hervorgehoben wird.⁷⁵⁰ Es handelt sich um eine Strategie, die aus zahlreichen Schäferspielen und -romanen sowie aus petrarkistischen Lyriksammlungen des Cinquecento (mit dem Canzoniere selbst als ‚Urbild‘) bekannt ist. Auf diese Tradition greift Greflinger offenbar zurück.⁷⁵¹ Zwischen Titelei und Liedteil befindet sich eine Allegorese des Titelkupfers durch Johann Georg Schleder („I. G.S. Ratisp.“), den Merian-Journalisten und Regensburger Landsmann Greflingers, der den Jüngeren in Frankfurt wohl bei den wichtigen Druckern und Künstlern eingeführt hatte. Die „Erläuterung deß Kupfertituls“ ist „statt einer Vorrede / Vor den abwesenden Erfinder“, gemeint ist Greflinger, aufgesetzt. Schleder legt die einzelnen Elemente der pictura allegorisch aus und unterstreicht dabei den didaktischen Wert der Lieder, denn am Exemplum des Seladon könne man lernen, was es hieße, „beständig [zu] lieben“. Im „Beschluß“, dem letzten Teil der Sammlung, wendet sich Greflinger als Seladon (bzw. Celadon, die Schreibweise wechselt) an seine Frankfurter Freunde. Er offeriert dem Verleger Schleich seine Lieder zum Druck, möchte aber selbst namentlich nicht als Autor genannt werden, was anbetracht der Textsorte ‚Liebeslieder‘ nicht ungewöhnlich ist. Kurz ruft der „schwarze Celadon“ einige Szenen
750 So haben Autor und Sprecher-Ich schwarzes Haar und dunkle Haut (Vgl. „Beschluss“ und „Sein erstes an Floren“ S. 2, vgl. auch S. 17, 26, 33, 41, 75), er ist treu und beständig, solange Flora auch ihm die Treue hält. (Vorrede, z. B. „Eine haben ist Laben“, „Flora sol sich Seladons Armuth nicht anfechten lassen“, S. 17). Das Lied „Auff die zurück=Reise“ (S. 41 f.) beschreibt die Rückreise nach Preußen, wo auch laut Auskunft der Nachrede Seladons Geliebte wartet. Ein weiteres ‚biographisches‘ Lied ist „Als er auff der Weyxel in grossem Sturm war / an seine FLORA“ (S. 23–25), das von einer gefährlichen Schiffsfahrt nach Danzig berichtet. 751 Vgl. Regn (Anm. 749), S. 35, dessen Bemerkungen zur biographischen Inszenierung bei Tasso sich in gewisser Weise auf Greflingers Selbstinszenierung übertragen ließen. Werden solche möglichen Traditionsbezüge nicht berücksichtigt, besteht jedenfalls die Gefahr, unmittelbar auf die Lebensgeschichte des Autors zu schließen. So bezog die ältere Forschung (v. a. Gruppe und von Oettingen) die Geschichte von Flora und Seladon eindeutig auf Greflingers Biographie. Vielleicht hat die Geschichte tatsächlich (mangels Quellen nicht mehr rekonstruierbare) Realitätsreferenzen. Die literaturgeschichtlichen Traditionsbezüge müssen aber berücksichtigt werden, um die literarische ‚Gemachtheit‘ an sich zu entschlüsseln.
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aus der Frankfurter Zeit in Erinnerung und kündigt schließlich seine Rückreise nach „Preussen“ an, wo seine Verlobte auf ihn warte. * An dieser Stelle erfolgt ein chronologischer Sprung zu den beiden späteren Liederbüchern, die ebenfalls ohne Notenmaterial überliefert sind. Die Sammlung Poetische Rosen und Dörner gibt Greflinger, mittlerweile Poeta laureatus, mit Selbstbewusstsein unter seinem eigenen Namen „Georg Greflingers / Gekröhnten Poeten und Notarii P. […]“ heraus. Der große Lorbeerkranz, der die Titelei schmückt und diesen poetischen Rang symbolisiert, kündigt den gelehrten Anspruch der neuen Sammlung an. Auf Vorrede und Ehrengedicht von Rist (s. oben) folgt ein Ensemble geistlicher Texte. Daran schließt sich der so bezeichnete Teil der „Lieder“ mit 50 Stücken an. Den abschließenden Part bildet eine umfangreiche Epigrammsammlung (241 Texte unterschiedlicher Länge und Themen, die zum Teil als imitationes [z. B. „Aus dem Alciato“ Nr. 139] ausgewiesen sind). Was den Liedteil betrifft, mutet die Zusammenstellung zwar heterogener an – verbindende Elemente sind nur innerhalb kleiner Textgruppen feststellbar –, doch präsentieren sich die einzelnen Texte gelehrter und ‚reifer‘ als die der ersten Bände. Auch die biographische Inszenierung ist zurückgenommen, „Flora“ wird fast durchgehend durch andere Namen oder neutrale Frauenbeschreibungen ersetzt. Derbe Ausdrücke werden zurückgenommen.⁷⁵² Ohne eine ‚Entwicklung‘ in der Lyrik Greflingers konstatieren zu wollen, ist gleichwohl Harper zuzustimmen, der tendenziell „an increasing sense of bourgeois status in the poet“ feststellt.⁷⁵³ So dominieren in der ersten Hälfte gnomische Texte, meist mit lateinischen Lemmata (I bis IX) überschrieben, dazu kommen reichlich solche satirisch-burlesken Charakters. In den Liebesgedichten tritt verstärkt mythologisches Personal und petrarkistische Motivik auf, Gelehrsamkeit wird ostentativ zur Schau gestellt. Immer wieder werden aber auch volksliedartige Elemente untergemischt. Insgesamt wirken die Texte dabei pointenreicher, zugespitzter, epigrammatischer. So begehrte der alte Freier (XVIII), nicht wie sonst üblich, eine schöne Jungfrau, sondern eine reiche Alte, denn „schrumpelt schon ihr Fell / ihr Beutel schrumpelt nicht“ (Str. 5.). Doch verfällt er in den letzten drei Strophen in Melancholie und hebt zu einer keineswegs ironisch anmutenden meditatio mortis an. Das Lied „An die schöne Blume Susanne“ (XXI) erinnert in seiner erotischen Metaphorik schon fast an die Lyrik des ausgehenden Jahrhunderts. In Lied XV stellt sich die petrarkistische
752 Vgl. Harper (Anm. 112), S. 292 f. 753 Ebd., S. 292.
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Dame, deren vortreffliche Schönheit in allen Einzelheiten beschrieben wird, am Ende als die Geliebte des Freundes heraus:⁷⁵⁴ 4. Der die Sonne viel besieht / Schadet seinen guten Augen / Also will es mier nicht taugen / Deine Schönheit deine Blüth / Edles Mariannichen Übermässig anzusehen. 5. O mein Freund / wie wol ist dir / Der du ihre Gunst genüssest / Sie nach Lust vnd Willen küssest / Thue es doch nicht mehr vor mier Dann ich bin also gesitt / Wo man küsset / küss ich mit. 6. Und ich förchte sehr dafür / So ich sie einmahl beküsse / Daß ich dann mein Hertze misse. Schmertzet mich die blosse Zier / Bringt das sehen mich in Pein / Was muss erst ihr küssen sein.
Ein Schwerpunkt der Sammlung bleibt der Themenkomplex Treue-Liebe-Ehe, auf den bei der Detailanalyse von Seladons Weltliche Liebe näher eingegangen werden soll. Gerade die Lieder dieser Thematik weisen einen starken moraldidaktischen Gestus auf und erinnern an entsprechende niederländische Dichtungen vor allem aus der Feder Jacob Cats. Tatsächlich finden wir hier bei dem Niederländer die Vorlage für eines der Lieder, Nummer 17 „Die betrogene Jungfrau“ – das Original steht in Cats Sammlung Klagende Maeghden (1633) unter dem Titel De Vryster, Geraeckt in haer Maeghde-kransjen, klaeght.⁷⁵⁵ Es handelt sich um eine topische Mädchenklage, eine Textsorte mit langer Tradition. Entwickelt wird der nächtliche Monolog einer entehrten Jungfrau: 1. Hat schon die Sonne sich verborgen Und hat auch schon die stille Nacht
754 Was die Überschrift freilich schon andeutet: Nr. XV. „An seines Freundes Freundin“. [B]. 755 Jacob Cats: Klagende Maeghden en raet voor de selve / Beneffens eenige andere soo stichtige als innige gesangen. Schipper: Amsterdam 1658 [1633], S. 21 [Lied 2]. „VAn alle die hier komen klagen / En heeft’er niemant grooter not / Enleet’er niemant harder stoot / Als ick die meest geheele dagen / Versmelte door een droef gemoet / Als in een staegen tranen-vloet.“
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Die gantze Welt in Schlaff gebracht / So hab ich gleichwohl / voll von Sorgen / Und mit rundumbenagter Brust Im Schlaffen nicht die minste Lust.
Im Folgenden berichtet das Rollen-Ich dem direkt angesprochenen ZuhörerKollektiv von seinem Schicksal – zunächst anakoluthisch, zögerlich („Mir ist / ey mir! Mier ist genommen | Ein Ding / das ich nicht sagen mag“ Str. 2), dann direkt („Ich spielete mit einem Manne / | Und setzte meinen Ehren Krantz | Gantz unbedachtsam in die Schantz | Den er mier listig abgewanne“ Str. 4). Die wollüstige Sünde bereitet der Entehrten nun höllische Qualen, sie trägt „im Gewissen einen Wurm“, der ihr den Schlaf raubt (Str. 7 f.). Ständig muss sie sich übergeben („ich rültz und spey“), das „fremd Gewühl“ in ihrem Leib verursacht unerträgliche „Hertzens Schmertzen“. Der einstige Geliebte, nachdem er „verübet / was mier und ihm nach Willen kam“, ist nun zum „Länder schauen“ in die Ferne gezogen. Das erhoffte Eheversprechen hingegen sei ausgeblieben (Str. 10 f.): „Mein Ehr und Freyer sind dahin“, ihr werde der „geile Brand“ nun zu „Spott und Schand“ gereichen. In der letzten Strophe wendet sich das Mädchen an seine Zuhörerinnen: 11. Ihr Mägdlein / die noch ehrlich leben / Die meiner Bürden ledig seyn / Ey lasst euch in kein Unzucht ein Die sich der Ehr einmahl begeben / Die setzen Schlangen an die Brust. Die Unlust folgt der gailen Lust.
* Übrigens fiel auch Achim von Arnim die Qualität dieser Sammlung auf. In einem Brief an Brentano (15. Februar 1815) bemerkt er: Merkwürdig ist eine andere Sammlung von Greflinger Rosen und Dörner, Hülsen und Körner Hamburg 1655, weil darin viele von den Formen vorkommen, die ich von Göthe eigner Erfindung glaubte, ja bis zur Täuschung geht dies in dem Schluss eines Gedichts […].⁷⁵⁶
Der Text, von dem hier speziell die Rede ist, („Zweyer Personen Liebes Gespräch / mit der Mutter Einrede“, XXXI)⁷⁵⁷ knüpft an die Thematik des Schauspiels Fer-
756 Achim von Arnim: Briefwechsel 1805–1806. Text. Hg. von Heinz Härtel. Berlin 2011, Nr. 366. 757 Das Rollenlied ist bereits in der ersten Sammlung, Seladons Beständige Liebe, abgedruckt, S. 36.
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rando Dorinde an, nimmt jedoch einen glücklichen Ausgang: Nachdem die Liebenden die um die Ehre der Tochter besorgte Mutter überzeugen, umgehend heiraten zu wollen, willigt diese ein. Interessant ist dabei die metrische Gestalt dieses semi-theatralen Liedes, denn jeder der drei Akteure spricht in einem jeweils spezifischen Metrum, das die Figur bzw. ihre Affekthaltung charakterisiert. So artikuliert sich die aufgebrachte Mutter in hektisch anmutenden Daktylen, der Freier in schlichten schäferlichen Trochäen und die Tochter trägt ihre Argumente in ruhigen Alexandrinern vor, womit sie die Mutter schließlich überzeugt. Die Schlussverse, die Arnim wohl wegen des „Synkretismus antiker […] und biblischer Sprechweise“⁷⁵⁸ beeindruckten, nahm er auch in Des Knaben Wunderhorn unter dem Titel „Verlobung“ auf.⁷⁵⁹ Sie lauten: Mutter: Haben die Götter es also versehen / Liebet euch lieblich ich willige zu Wollet euch ehrlich und ehlich begehen. Mehren und ehren in lieblicher Ruh.
Es ließen sich weitere Beispiele für Tugendlieder dieser Art anführen, die vor Unzucht und außerehelichem Sexualkontakt warnen und diesen Verwerfungen das ‚Ehlich-und-ehrlich-Sein‘, verbunden mit Treue und Beständigkeit, gegenüberstellen. Wie verhält es sich aber nun mit der Liedhaftigkeit der Texte? Greflinger selbst unterstreicht im Vorwort „An den Günstigen Teutschen“ die Sangbarkeit der Stücke, die er im Namen Seladons herausgebe: „Die Melodeyen hierzu / meist Frantz: und Italianisch / hat er / ob er schon auff jedes Lied eine hat / wegen Ungelegenheit nicht beyfügen können.“ Sobald dieses Buch vergriffen sei und eine Neuauflage anstehe, sollen diese ergänzt werden, verspricht Greflinger. Benutzt er hier nur eine Floskel, um die Attraktivität der Lieder zu steigern? Oder waren die Melodien tatsächlich gerade nicht ‚greifbar‘? Denkbar ist auch, dass der Druck zu teuer geworden wäre. Auf jeden Fall stellt es heute eine Herausforderung dar, diese ‚nicht sichtbaren‘ Melodien zu identifizieren. Für ein Beispiel wollen wir uns auf die Suche begeben: „Die betrogene Jungfer“ konnte bereits als Übersetzung aus Cats Liederbuch Klagende Maeghden bestimmt werden. Tatsächlich gibt Cats als „stemme“, also
758 S. Härtel (Briefwechsel, Kommentar, Anm. 56), S. 567, der den Kommentar Röllekes zu dieser Briefstelle zitiert. Rölleke vermutet, dass Arnim sich an den Schluss von Herrmann und Dorothea erinnert gefühlt habe. Ebd. 759 Des Knaben Wunderhorn (Anm. 56), III. Teil, S. 72.
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als Melodiehinweis, einen Titel an, nämlich „Faut-il qu’une beauté mortelle“.⁷⁶⁰ Dieser Titel kann nun als ein Air de Cour des französischen Hofkomponisten Antoine de Boësset aus dem Jahr 1633 identifiziert werden.⁷⁶¹ Damit haben wir für zwei von Greflingers notenlosen Liedern⁷⁶² die Melodien gefunden, die der Dichter ihnen zugedacht hatte. Es ist also zu vermuten, dass hinter jedem Lied tatsächlich, wie Greflinger in der Vorrede schreibt, eine Melodie gestanden hat. Nicht bewiesen werden kann jedoch, ob die zeitgenössischen Rezipienten den Bezug zu dem französischen Air de Cour herstellen konnten. Für andere Lieder wird ihnen das leichter gefallen sein, nämlich für jene, die bereits in Seladons Weltlichen Liedern einige Jahre zuvor mit Noten veröffentlich worden waren und für die Lieder, die solchen in der vorgehenden Sammlung metrisch nachempfunden waren.⁷⁶³ Überhaupt ist das Spektrum der Strophenformen im Verhältnis zur vorhergehenden Sammlung reduziert: Fast die Hälfte der Lieder sind Sechszeiler und ein Großteil davon sind nach dem gleichen Schema gebaut. Für diese Form hatte man sozusagen schnell eine Melodie parat.⁷⁶⁴ Festzuhalten bleibt, dass es sich bei den Poetischen Rosen und Dörnern um ein Liederbuch handelt, dessen Texte gesungen werden konnten, selbst wenn kein Notenmaterial vorliegt. Es ist dabei unbedingt davon auszugehen, dass die Rezipienten bekannte Strophenformen sofort mit Melodien in Verbindung bringen konnten. * Erwähnt werden soll schließlich noch ein Lied, das Greflinger nahezu in der Mitte der Sammlung plaziert (XXVI) – ein Lob der Musik, wie es in dieser Art typisch für
760 Als Alternative wird „Quellque beauté que la nature“ angegeben. Das Lied „Die Mannistische Jungfrau“ ist ebenfalls eine Cats-Übersetzung aus der gleichen Sammlung (Nr. 1 „Die magd in de borst getroffen klagt“.) Auch für dieses Lied gibt Cats „Faut-il qu’une beauté mortelle“ an. 761 Dies ist durch eine hilfreiche und umfangreiche Datenbank des niederländischen Volkliedarchivs möglich (www.liederenbank.nl.). Airs de cour avec la tablature de luth de Anthoyne Boesset, Surintendant de la Musique de la Chambre du Roy, & de la Reyne. Quinziesme livre. [1633]. Der Refrain lautet: „Non non, c’est vivre laschement / D’estre plus long-temps son amant.“ 762 Also für „Die betrogene Jungfer“ und „Die Mannistische Jungfrau“. 763 Z. B. greift Lied XIX das formale Schema von IV,1 aus Seladons Weltliche Lieder (bereits ohne Melodie in Seladons Beständige Liebe) auf und kann somit auf den dort angegebenen Tonsatz, der von Albert (I,25) übernommen wurde, gesungen werden. Das Lied XXIII. („Wieder einen Bier=Taback= und Brandwein=säufer“) entspricht formal exakt dem Ehelied II,4 aus Seladons Weltliche Lieder. 764 Vgl. die kurze Zusammenstellung bei Harper (Anm. 112), S. 291.
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die protestantische Tradition seit Luther ist:⁷⁶⁵ Die Musik gilt hier als eine außerordentliche Gabe, in der sich der Mensch ausdrückt, die zugleich auch „aller bewegung des Menschlichen hertzens […] eine Regiererin sei“ – wie es bei Luther heißt.⁷⁶⁶ Den Gedanken, dass sie gleichsam exorzistische Kraft habe und Trübsal bannen könne, greift Greflinger direkt auf (Str. 2).⁷⁶⁷ Ihre größte Kraft entfaltet die Musik dabei – auch hier folgt er dem protestantischen Gedankengut – in Verbindung mit dem Wort, im menschlichen Gesang (Str. 7).⁷⁶⁸ Das Lied endet mit einer Pointe, denn bei der Geliebten, der „Reine[n] / Feine[n]“, der das Stück gewidmet ist, handelt es sich freilich um ‚Frau Musica‘ selbst: Der Music Freund⁷⁶⁹ 1. Es ist gewiß ein albrer Mann Und ohne Menschen Sinnen Der nicht die süsse Musik kann Lieb gewinnen. Sie treibt vom Hertzen / Alle Sorg vnd Schmertzen / Kann erfreuen / Und verneuen / Gleich dem Meyen. 2. Mein Hertze hanget gantz an Ihr / Ich kann sie nicht begeben. In ihr ist alle Lust vnd Zier / Lieb vnd Leben. Bin ich in Nöhten / Sie kann sie mir tödten.
765 Vgl. Joachim Stalmann: Art. „Martin Luther“. In: MGG², Personenteil 11, Sp. 636–654, hier Sp. 465 f. (VI. Der besondere Stellenwert der Musik). Die Gedanken Luthers basieren ihrerseits auf Anschauungen von Boethius und Augustinus sowie auf antiken Lehren vom Ethos der Musik (vgl. ebd.). 766 So in der Übersetzung Joh. Walters, zitiert nach Stalmann (ebd.), Sp. 465. 767 Luther zeigt dies am Beispiel Davids, der durch sein Harfenspiel den depressiven König Saul heilt. Stalmann, ebd. 768 Die Musik als Sprache des Evangeliums und des Glaubens, der zentrale Punkt bei Luther, spielt in dem Greflinger-Lied hingegen keine Rolle. 769 Luther wendet sich in seinem (später so genannten) Encomion musices, der lateinischen Vorrede zu G. Rhaus Symphoniae iucundae (1538), die als wichtigste Stellungnahme des Reformators zur Bedeutung der Musik gilt (Stalmann [Anm. 765], Sp. 465), an die „musicae studiosi“ (in der verbreiteten Übersetzung von Joh. Walter, 1554, an die „Liebhaber der freien Kunst Musica“).
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Sie erquicket Und ersticket Was uns drücket. […] 7. Wann ein geübter Sänger singt Vnd die Viole schallet / Wann man die Laute künstlich zwingt Daß sie hallet Wann die Cornetten / Stort⁷⁷⁰ Posaun vnd Flötten / Lieblich schallen / Künstlich hallen / O gefallen! 8. Wann alles wird / was dort und da / Durchs Feuer gantz versteuben / Wird doch die süsse Musica Ewig bleiben. Wer soll sie hassen / Oder gar verlassen? Diß / O Meine / Feine / Reine / Schreibt der Deine.
* Die letzte Sammlung Celadonische Musa Inhaltende Hundert Oden vnd Etlich Hundert EPIGRAMMATA (1663 ohne Verlagsnamen und Druckort) stellt in zehn Kapiteln mit je zehn Texten Lieder aus den vorhergehenden Sammlungen thematisch zusammen. Dabei wartet Greflinger in den Paratexten mit einem neuen Kunstgriff auf: Sein jugendlicher Sohn Johann Georg Greflinger stellt sich als Herausgeber der Werke des Vaters vor. In der Widmungsrede, datiert „Hamburg den Tag Martini An. 1663“, an den Kriegsrat Paul Tscherning behauptet Greflinger Junior, ein Konvolut von Texten des Vaters gefunden zu haben, die dieser wegen „Momisch= und Neydischen Bedrückungen“ habe „der Vergessenheit übergeben“ wollen, es sei denn „ein junger Greflinger“ würde sich ihrer annehmen. Diesen Auftrag habe er beflissentlich angenommen, sodass er dem Gönner nun „diese Celadonische Musam“ vorlegen könne. In der anschließenden Vorrede, in der Greflinger selbst spricht, fügt er der topischen Apologetik der Liebeslyrik ein
770 Vermutlich ist ein „cornetto storto“, also ein Tenor-Zink gemeint.
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musikalisches Argument hinzu: Er hätte gar keine Veranlassung gesehen, seine Texte zu veröffentlichen, aber er habe beobachtet, dass „theils gute Musici etliche seiner Oden unter ihre lieblichen Melodeyen zu setzen gewürdiget / auch noch zu thun gesonnen […].“ Greflinger gibt also vor, dass seine Lieder die Aufmerksamkeit von geachteten Komponisten gefunden hätten. Eine musikalische Adaption empfanden Textautoren der Barockzeit generell als Ehrung, man wartete und hoffte sogar darauf, dass die eigenen Lieder durch Vertonung eines anerkannten Musikers ästhetisch aufgewertet und auch raschere Verbreitung finden würden. Doch hat Greflinger mit seiner Behauptung recht? Zumindest in zwei Fällen kann sie verifiziert werden: Der sächsische Hofmusiker Constantin Christian Dedekind, selbst Mitglied des Schwanenordens, vertonte in seiner Aelbianische Musen-Lust (Dresden 1657) ein Lied seines Ordensbruders („Die unsern Ruhm beflekken / seind Schänder oder Jäkken“⁷⁷¹), zwei Lieder Greflingers versah Adam Krieger 1657 in seinen Arien mit einem neuen Tonsatz und fügte diesen Ritornelle bei: „An eine unbemannte Reiche“ (III,7=Krieger Aria V) und „Eine übelbemannte an eine Jungfrau“ (III,5=Krieger Aria X).⁷⁷² Insgesamt betrachtet handelt es sich bei der Celadonischen Musa um eine Ausgabe letzter Hand. Zwei Drittel der Lieder stammen aus den drei ersten Büchern. Auffällig ist, dass die Texte nun thematisch geordnet und in Dekaden zusammengestellt sind: Die drei ersten Zehnergruppen versammeln „Liebes= Lieder“, gefolgt von einem Zehnt „Frauen=Zimmer Klag=Lieder“, zwei Einheiten „Stachel=Lieder“, einem Zehnt „Lust=Lieder“, die achte und neunte Zehnergruppe heißt „Von allerley“, eine letzte Einheit ist überschrieben „Von absonderlichen Oden / theils auff hohe Persohnen theils auff andre Fälle“. In dieser Gruppe sind Greflingers politische Lieder zusammengestellt, darunter auch zwei, die unmittelbar auf ein Zeitereignis eingehen: Die Eroberung Neuhäusels durch die Türken im Sommer 1663. Durch Verfahren einer variierenden Reihung wird besondere Kunstfertigkeit demonstriert, denn es wird – anders als in der narrativen Anordnung der Lieder in Seladons Beständige Liebe – vorgeführt, dass der Autor dasselbe Sujet auf unterschiedliche Art und Weise – in verschiedenen metrischen Formen, mit
771 Aelbianische Musen-Lust, III-d-10 (Ed. Thomas); Seladons Weltliche Lieder IV,2. Der Text ist nicht vollständig identisch. 772 Helmuth Osthoff: Adam Krieger (1634–1666). Neue Beiträge zur Geschichte des deutschen Liedes im 17. Jahrhundert. Nachdruck der Erstausgabe mit Ergänzungen und Berichtigungen hg. vom Verfasser. [1929] Wiesbaden 1970, S. 58 f. Eine eigene Untersuchung müsste Kriegers Umgang mit den Texten gelten. Kriegers Sammlung von 1657 gilt als verschollen, jedoch lässt sich ein Teil aus Liederhandschriften und Tabulaturen rekonstruieren.
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unterschiedlichem Wortmaterial usw. – gestalten kann. Das Augenmerk des Rezipienten soll sich womöglich mehr auf die verba als auf die res richten, das ‚wie‘ ist wichtiger als das ‚was‘. * Zusammenfassend ist zu sagen, dass Greflinger in seinen Liederbüchern in thematischer und formaler Hinsicht auf die Konventionen barocker Rhetorik und auf topische Bildlichkeit zurückgreift, dabei aber auch Freiräume nutzt, um mit bemerkenswerter metrischer Formenvielfalt und gedanklicher ‚Originalität‘ aufzuwarten. Im Zentrum stehen (bisweilen biographisch inszenierte) Liebeslieder, derb-komische Lasterschelten und moraldidaktische Lieder. Ermahnt wird zu Tugend und Züchtigkeit, Ehe und Heirat werden gelobt, auch wenn hin und wieder ein misogyner Hylas oder eine „mannistische Jungfer“ zu Wort kommen – gerade diese Lieder haben bei hohem Unterhaltungswert einen didaktischen Impetus und sind in dieser Hinsicht unter anderem an den Liedern des niederländischen Autors Jacob Cats orientiert, dessen Dichtung sich durch „die praktische, auf die Verhältnisse der bürgerlichen Mittelschicht zugeschnittene Lehrhaftigkeit“⁷⁷³ auszeichnet. Auffällig, aber nicht untypisch für Lieder des mittleren 17. Jahrhunderts, ist die Stilmischung, bei der gelehrte Topoi, unter anderem aus dem Motivarsenal des Petrarkismus und der antiken Mythologie, mit grobianischer ‚Deftigkeit‘, also den Ausdrucksmitteln der älteren autochthonen Tradition, kombiniert werden. Ins Vulgäre gleitet Greflinger dabei nie ab, das Derbe verleiht den Sammlungen vielmehr eine gewisse ‚exotische‘ Würze, was dem Bedürfnis des bürgerlichen Publikums nach einem Kontrastprogramm zu der gelehrten Poesie entsprochen haben dürfte. Ein Vergleich böte sich in dieser Hinsicht insbesondere mit Gabriel Voigtländers Oden, Jacob Schwiegers Liebes=Grillen (1654–1656) und Flüchtigen Feld=Rosen (1655) und Kaspar Stielers Geharnschte Venus (1660) an – Autoren, die in den Hamburger Kontext gehören und denselben Rezipientenkreis ansprachen. Außerhalb Hamburgs stehen vor allem die Sammlungen des Leipzigers Gottfried Finckelthaus (Deutsche Oden oder Gesänge 1638 ff.) Greflingers Liederbüchern stilistisch nahe.
773 Van Gemert, zitiert nach Jörg Jungmayr: Jacob Cats und seine deutschen Bearbeiter. In: Niederländisch-Deutsche Kulturbeziehungen 1600–1830. Hg. von Jan Konst u. a. Göttingen 2009, S. 133–147, hier S. 140.
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Greflinger und das weltliche Barocklied
3 Die bedeutendste Sammlung: Seladons Weltliche Lieder (1651) Greflingers zweites Liederbuch kann in mehrerer Hinsicht als sein wichtigster Beitrag zum Barocklied gewertet werden: Aus Sicht der Zeitgenossen etablierte sich Greflinger mit diesem Liederbuch endgültig als angesehener Dichter, so war es nicht zuletzt ausschlaggebend für seine Poetenkrönung durch Rist. Auch gehörte die Sammlung wohl zu den beliebtesten Liederbüchern der 1650er-Jahre; Übernahmen in handschriftliche Liedersammlungen und verbreitete Anthologien zeugen von dieser Popularität – es wird darauf zurückzukommen sein. Aus literatur- und musikwissenschaftlicher Sicht ist diese Sammlung wegen des beigefügten Notenmaterials besonders interessant. Dabei geht es nicht nur um die musikalische Faktur der Lieder, es wird sich zeigen, dass musikalischliterarische Spiele, Intertextualitätsbezüge, sammlungsinterne Zusammenhänge u. v. m. nur durch die Berücksichtigung beider Ebenen erkannt werden können. In Verbindung mit historischer Kontextanalyse, für die auf die biographische Darstellung im ersten Teil zurückgegriffen werden kann, lassen sich darüber hinaus durch Analyse des musikalischen wie literarischen Materials Aussagen über die Aufführungszusammenhänge und Funktion dieser Lieder treffen.
3.1 Gestaltung und Paratexte Gedruckt wurde das Buch wie bereits die 1644 erschienene Sammlung Seladons Beständige Liebe in Frankfurt, dieses Mal jedoch als Verlagswerk Caspar Wächtlers bei Matthäus Kempffer, dessen Offizin vor dem Krieg mit großen Ambitionen in den musica practica-Druck eingestiegen war, nach den kriegsbedingten Unterbrechungen sich jedoch auf diesem Feld nicht erfolgreich hatte etablieren können.⁷⁷⁴ Kempffer verkörpert den Typus des „von verlegerischer Initiative gänzlich abhängigen Lohndruckers ohne eigenen Einfluß auf die Auswahl der Produktion.“⁷⁷⁵ Der Verleger der Greflinger-Sammlung, Caspar Wächtler, hatte nach dem Tod Eduard Schleichs, der in den 1640er-Jahren zu Greflingers Frankfurter Freundeskreis gehört hatte, dessen Witwe geheiratet und das Unterneh-
774 Kempffers wichtigste Musikdrucke sind ein geistliches Konzert von Johann Andreas Herbst (1646) sowie ein Chor- und Figural-Gesangbuch des Frankfurter Kantors Lorenz Erhard. Vgl. Hartmut Schaefer: Die Notendrucke und Musikverleger in Frankfurt am Main von 1630 bis um 1720. Bd I. Kassel, Basel u. a. 1975, S. 126 ff. 775 Ebd., S. 124.
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men übernommen.⁷⁷⁶ Greflinger schloss durch die Zusammenarbeit mit Wächtler also an die alten Frankfurter Verbindungen an. Der gehobene Anspruch der neuen Sammlung im Vergleich zu Greflingers Erstlingswerk manifestiert sich bereits darin, dass der Autor – vielleicht auch der Drucker oder Verleger, denn über Greflingers Editionstätigkeit lässt sich nichts sagen – eine klare Einteilung des Buches in zwei größere Abschnitte vornimmt, deren erster Teil seinerseits eine sehr ebenmäßige Untergliederung in vier Kapitel mit je zwölf Liedern aufweist. Auch die paratextuellen Beigaben sind professioneller, wenngleich der Notendruck nicht perfekt ist, orthographische Fehler zu finden sind und die Anordnung der Seiten manchmal durcheinandergeraten ist. Zu Titelkupfer und Titelblatt, deren bildliche Elemente von der ersten Sammlung übernommen werden, treten nun auch eine Vorrede des Autors sowie eine Reihe von Ehrengedichten hinzu. Für die graphische und typographische Gestaltung wird darüber hinaus einiger Aufwand betrieben. So dekoriert eine breite Schmuckleiste mit verschlungenen floralen Ornamenten, in denen Vögel und ein Gefäß verwoben sind, die Vorrede, während die Ehrengedichte durch schmale Zierleisten in verschiedener abstrakter Gestaltung voneinander getrennt sind. Die so gestalteten Zierleisten bilden auch in der Sammlung gelegentlich die Trennlinie zwischen den Liedern. Kunstvoll gestaltet ist ferner die Initiale jedes mit Noten ausgestatteten Liedes. Sie ist in diesen Fällen vor der ersten Zeile der Diskantstimme positioniert und hat genau dieselbe Höhe wie das fünflinige Notensystem. Man gewinnt den Eindruck, dass der Wert des Notendrucks auf diese Weise besonders hervorgehoben werden soll. Die Offizin Kämpffer verwendete für den Notendruck den charakteristischen Frankfurter Typensatz „A“⁷⁷⁷. Singstimme und Generalbass der 34 mit Tonsatz ausgestatteten Stücke sind zur Partitur vereinigt, wie es um 1650 bei einer Vielzahl von Generalbasslieddrucken der Fall ist.⁷⁷⁸ Der Text der ersten Strophe steht dabei zwischen den Systemen. Der Bass ist anders als beispielsweise in sämtlichen Rist-Sammlungen nicht textiert, der vollständige Textabdruck mit allen (durchnumerierten) Strophen inklusive dem erneuten Abdruck von Strophe 1 folgt, so dass der Text als Einheit deutlich herausgestellt ist. Im Vergleich etwa zu Alberts Arien, die ebenfalls im Partiturdruck (im Folioformat) erschienen sind, ist
776 Musikalien gehörten eigentlich überhaupt nicht in das Verlagsprogramm Wächtlers. Lediglich fungierte er, wie Eintragungen im Messkatalog zeigen, für drei Werke von Constantin Christian Dedekind und ein Werk von Christoph Bernhard als Kommissionär. 777 Dieser beliebte Typensatz wurde von den meisten Frankfurter Musikaliendruckern für musica practica verwendet und wurde auch von auswärtigen Druckern benutzt. Vgl. Schaefer (Anm. 774), S. 61 ff. 778 Vgl. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 59 f.
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das Oktavformat – in dem zum Beispiel auch Rists Galathee publiziert wurde – der Greflinger-Sammlung eher klein.⁷⁷⁹ Dadurch ergibt sich hier ein Missverhältnis zwischen Notentypen und dem Format, das augenscheinlich daher rührt, dass die Frankfurter A-Typen, die eher für das Quartformat von Stimmbüchern konzipiert waren, für das wohl vom Verleger bestellte, handlich-praktische Oktavformat schlichtweg zu groß waren. Dies hat zur Konsequenz, dass der Drucker eine optimale Raumnutzung versuchen muss – zu Lasten der Lesbarkeit: Oft wirkt das Notenbild unübersichtlich zusammengedrängt, die Systeme lassen sich schwer parallel lesen, da es zu Vertikalverschiebungen kommt. Manchmal verteilen sich aufeinander bezogene Stimmen sinnwidrig auf Vorder- und Rückseite – bei der Aufführung stellt dies natürlich ein Problem für einen Sänger dar, der sich selbst begleitet. Erschwerend kommt hinzu, dass die textliche Unterlegung des Cantus nicht exakt erfolgt, so dass die Verteilung der Silben auf die Noten oft Interpretationssache ist (Abb. 3). Dies hängt auch mit der Wahl der Schrifttypen zusammen, die bei dem unterlegten Text genau so groß sind wie bei den Folgestrophen. Für eine bessere Lesbarkeit hätte der Drucker jedoch einen weiteren, kleineren Typensatz verwenden müssen, was einen zusätzlichen Aufwand bedeutet. Das Titelkupfer zu Seladons Weltlichen Liedern übernimmt Greflinger bzw. sein Verleger wie gesagt von der vorausgegangenen Sammlung (Seladons Beständige Liebe, 1644). Darauf folgt ein Titelblatt mit dem vollständigen Namen des Buches: SELADONS Weltliche [Zierleiste] LIEDER. Nechst einem Anhang Schimpf= vnd Ernsthaffter Gedichte. [Holzschnittvignette] Franckfurt am Mayn / In Verlegung Caspar Wächtlern / Gedruckt bey Matthæo Kämpffern / Im Jahr Christi / M. DC. LI.
Die Holzschnittvignette, die Druckermarke Kempffers, die wir auch in Seladons Beständige Liebe finden, zeigt eine Sonne, deren Strahlen von einer Kartusche begrenzt werden und mit der Umschrift „FOVET ET. ORNAT“ versehen ist. Möglicherweise wird auf dieses Weise ein Bezug zu Apollon als Sonnengottheit sowie als Gott von Dichtung, Musik und Gesang hergestellt. Wie das Titelbild muss auch die auf den 24. Januar 1650 datierte und in Hamburg verfasste Vorrede (S. 5–8) genauer betrachtet und interpretiert werden, zumal sie offenkundig vom Autor selbst stammt und nicht, wie im Fall von Seladons Beständiger Liebe, vom Verleger angefertigt wurde. Zunächst fällt auf, dass sie sich an den „Freundliche[n] Lands=Mann“ richtet, nicht direkt an den Leser.
779 Im Duodezformat erschienen u. a. die Liederbücher von Zesen, Neumark und Finckelthaus.
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Abb. 3a: Aus: Seladons Weltliche Lieder. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Signatur: Wa 1227 (2).
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Greflinger und das weltliche Barocklied
Abb. 3b: Aus: Seladons Weltliche Lieder. Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Signatur: Wa 1227 (2).
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Mit der angesprochenen Person ist der aus Regensburg stammende Merian-Journalist Johann Georg Schleder gemeint, der bereits im Frankfurt-Kapitel vorgestellt wurde. Greflinger inszeniert seine Vorrede also als Prosaepistel, als briefliche Kommunikation mit einem alten Bekannten – eine probate Option für eine praefacio, die den Aussagen auf diese Weise den Anschein besonderer Unmittelbarkeit und Authentizität verleiht. Der Text mutet extemporiert und heterogen an, man gewinnt den Eindruck einer spontanen Aneinanderreihung von Gedanken und Aussagen, die auf die für weltliche Dichtung typische, apologetische Exordialtopik zurückgreifen, diese mit autobiographisch inszenierten Aussagen anreichern und dabei poetologische Gesichtspunkte integrieren. Das Vorwort lässt sich in drei größere Sinnabschnitte untergliedern. In einem ersten Teil beschreibt Greflinger seine Gedichte, die nun in Frankfurt gedruckt werden sollen, in pastoralen Metaphern: Es handle sich um seine umherirrenden „Schäfflein“, die er nun endlich „in eine Heerde gebracht“ habe, um sie „jetzund an die Sonne“ zu treiben. „[E]in guter Theil“ sei in der Vergangenheit schon verloren gegangen, was jedoch aufgrund ihrer mäßigen Qualität nicht bedauert werden müsse. Auch unter den verbleibenden Gedichten würden „etliche sehr unrein vorkommen“, so dass gewiss mit Kritik zu rechnen sein werde, wogegen sich Greflinger mit einer sentenzartigen Wendung sogleich vorgreifend verteidigt: „Niemand hat noch allen | Gäntzlich wolgefallen.“ Die Hirtenbildlichkeit geht also mit topischer Apologetik und Bescheidenheitsfloskeln einher, wobei ein ironischer Ton nicht zu überhören ist. Auch der Topos von den desperaten Gedichten entspricht den Erfordernissen des Argumentationssystems ‚Vorrede‘ und ist im 17. Jahrhundert so verbreitet, das er im 18. Jahrhundert satirisch umgemünzt wurde.⁷⁸⁰ Im Folgenden steigert sich Greflinger in seiner Rechtfertigungsrhetorik von Bescheidenheitsbekundungen hin zu einem aggressiv-selbstbewussten Ton, der sich gegen potentielle Kritiker, die „Wölffe“ (die schäferliche Bildlichkeit wird also beibehalten), richtet. Die sich anschließende Passage nimmt Bezug auf Seladons Beständige Liebe. Greflinger erinnert an den mittlerweile verstorbenen Verleger Schleich, seinen „Herzensfreund sel.“, der diese erste Sammlung „under deß Seladons Namen“ veranstaltet hatte. Typischerweise distanziert er sich von seinem lyrischen Erstlingswerk, dessen Gedichte ihm aus gegenwärtiger Perspektive literarisch minderwertig vorkommen. Er deutet an, dass er eigentlich eine
780 Vgl. Uwe-K. Ketelsen: Nur kein Spaßmacher und Schmarutzer! Zum Verständnis der Rolle des Schriftstellers bei Barthold Heinrich Brockes und seinen Zeitgenossen. In: Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Dichter von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Hg. von Gunter E. Grimm. Frankfurt am Main 1992, S. 16–34, hier S. 21.
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Überarbeitung dieser frühen Werke ins Auge gefasst habe, das Material stehe ihm aber nun angeblich nicht mehr zur Verfügung.⁷⁸¹ An dieser Stelle setzt ein zweiter Gedankengang ein, in dem über das Wesen der Liebesdichtung räsoniert wird. Greflinger bezieht sich dabei wörtlich auf Opitz’ Diktum von der erotischen Poesie als „Wetzstein des Verstandes“⁷⁸², um zu unterstreichen, dass die in Seladons Beständige Liebe beschriebene Liebesbeziehung zu „Flora“ bzw. „Elisa“ rein fiktiv sei; jedes Lob auf sie sei unbedingt als „Poetisches Lob“ zu verstehen. Die Liebeslieder dieser Sammlung hätten also lediglich der Einübung der poetischen Fertigkeiten, dem „training in poetic diction“⁷⁸³ gedient, denn – so Greflinger apologetisierend weiter – „[ich] habe noch keinen gefunden / welcher den Anfang seines Poetisirens von Geistlichen oder grossen Reichs=Sachen gemachet“. Wie passt jedoch diese Akzentuierung des Fiktionsstatus zu einem unmittelbar daneben plazierten ‚Affektausbruch‘, der die Koinzidenz von Faktualem und Fiktivem paradoxer Weise abermals zu bestätigen scheint?: „Wir narriren ja so was daher / wenn wir in blinder Liebe kranck ligen / vnd gehet viel Zeit darauff biß man klug wird.“ Hieß es nicht zugleich, die tragische Elisa-Episode sei nur poetische Spielerei gewesen? Den humanistisch gebildeten, zeitgenössischen Greflinger-Leser werden diese vermeintlichen Unstimmigkeiten vermutlich nicht irritiert, sondern amüsiert haben, stellt das Rollenhafte und Theaterartige doch traditionell geradezu ein Wesensmerkmal von Liebesdichtung dar.⁷⁸⁴ So ruft der Autor hier zwei seit der Antike bekannte poetologische Argumente auf, die Jürgen Stenzel als ‚Affekt-Topos‘ und ‚Fiktions-Topos‘ bezeichnet hat. Letzterer, „das selbst formulierte Gesetz der erotischen Dichtung schlechthin“⁷⁸⁵, leugnet unter Betonung des sittlichen Lebenswandels des Verfassers die Identität von Sprecher-Ich und Autor einer Liebesdichtung, während der ‚Affekt-Topos‘ dies gerade suggeriert, wobei beide Topoi auch zusammen bzw. nebeneinander auftreten
781 Dies trifft in der Realität sicher nicht zu, denn Greflinger druckt einige Texte der ersten Sammlung abermals ab. Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass ihm seine eigene Sammlung nicht zur Verfügung stand. 782 Opitz (Anm. 483), S. 21. 783 Leonard Forster: European Petrarchism as Training in Poetic Diction. In: Italian Studies 18 (1963), S. 19–32. 784 Vgl. Jörg Robert: Konrad Celtis und das Projekt der Deutschen Dichtung: Studien zur Humanistischen Konstitution von Poetik, Philosophie, Nation und Ich. Tübingen 2003, S. 442. 785 Jürgen Stenzel: „Si vis me flere …“ – „Musa iocosa mea“. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: DVjs 48 (1974), S. 650–671, hier S. 654, Anm. 16 (Zitat Schlaffer: Musa iocosa, S. 138). Damit sei jedoch freilich nicht ausgeschlossen, dass Greflinger tatsächlich eine unglücklich endende Liebesbeziehung zu überwinden hatte.
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können. Zudem muss der „autobiographische Sog der Literatur seit Petrarca“, sprich die verbreitete Tendenz frühneuzeitlicher Liebeslyrik im Anschluss an den Canzoniere, „die kalkulierte Ambivalenz von inszenierendem und inszeniertem Ich, die sich von Fall zu Fall annähern, berühren und wieder trennen“⁷⁸⁶, auch in diesem Kontext in Rechnung gestellt werden. Ein weiteres altbekanntes Argumentationsmuster, das Greflinger aufgreift, ist die Behauptung, dass die Veröffentlichung seines Buches nur aufgrund ausdrücklicher Nachfrage und auf Kosten seiner Freunde durchgeführt wurde.⁷⁸⁷ Er selbst sei schließlich lediglich „Liebhaber der Poeterey vnd kein Poet“. Im kulturpatriotischen Geist wolle er jedoch durchaus ambitioniert aktiv werden: „Demnach stehet es mir frey als einem freyen Teutschen mich in meiner Muttersprache zu üben / vnd solche Ubung auff meiner Freunde Begehren vnd Kosten herauß zu geben.“ Diese Verbindung von bekennendem literarischem Dilletantismus und nationalem Eifer bei besonderer Hervorhebung eines schwer zu fassenden ‚Freiheitsbegriffs‘⁷⁸⁸ führt zu einem eigenartigen Gemisch von Selbstverkleinerung, Anspruch und Selbstbewusstsein – ein Duktus, der auch Greflingers Vorrede zu seiner Cid-Übersetzung prägt (1656). Die programmatische Kontinuität deutet darauf hin, dass Greflinger seine verschiedenen Arbeiten als Bestandteile eines Gesamtwerks verstanden wissen wollte, das alle Gattungen umfasst und somit als Leistung eines Poeta doctus gewürdigt werden sollte. Genauer geht er im Folgenden auch auf seine „Art zu schreiben“ ein, indem er Skepsis gegenüber literarischem Avantgardismus zum Ausdruck bringt. Diese eher konservative Zurückhaltung interpretiert er gleichsam als süddeutschen Charakterzug, in dem sich die alten deutschen Tugenden manifestierten: Belangend die Art zu schreiben / so kehre ich mich an das newe nicht groß / weil sich die meisten nit daran kehren vnd vor auß meine Oberländer / wir sind so von den Alten / vnd nicht à la modo Teutschen. […] Allem neuen nach zu ahnen [!] / dienet nicht / weil ich es noch ohne Grund vnd sehr Wetterwendisch sehe.
Dennoch sei er Innovationen gegenüber nicht prinzipiell verschlossen: „Was ich aber für thunlich erachte / dem folge ich sehr gerne.“ Die „Art zu schreiben“ scheint sich dabei auf inventio und elocutio zu beziehen. Denn in der Tat bedient sich Greflinger des probaten Mittels, Themen, Motive und Wortschatz der Sphäre des ‚Derben‘, ‚Humoresken‘ und ‚Volkstümlichen‘ zu entlehnen, um diese gleich-
786 Robert (Celtis, Anm. 784), S. 446, Anm. 40 mit Bezug auf Hempfer. 787 Die Publikation aufgrund von „Begehren“ ist freilich auch ein gängiger Topos. 788 Vgl. hierzu Mackensen (Deutscher, Anm. 584).
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sam in den Bereich der hohen Kunstliteratur zu überführen. Damit stellt er sich in eine Reihe mit beispielsweise den Leipziger Autoren um Finckelthaus, die gewissermaßen ein Gegenprogramm zur intellektuellen Poesie der Opitzianer entwickelt hatten, wobei sich diese Werke freilich in keiner Weise an untere Schichten richteten oder als naturalistisches Abbild von Lebenswirklichkeit missverstanden werden dürfen.⁷⁸⁹ Vielmehr handelt es sich um ein Phänomen, das zwar freilich jeweils mit spezifischem historischem Index, aber dennoch epochenübergreifend in der Kulturgeschichte zu beobachten ist.⁷⁹⁰ Nach dem ‚programmatischen Exkurs‘ wendet sich Greflinger in einem dritten gedanklichen Abschnitt mit Grüßen und Wünschen wiederum an den Adressaten der Vorrede. Dieser möge „fröhlich unter [seinem] Rebenstock singen“ – ein Hinweis auf die anakreontische Tendenz der Sammlung und wohl auch darauf, dass Greflinger mit der Aufführung seiner Lieder im geselligen Kreis rechnet. Schließlich wird angekündigt, Schleder „mit nächster Messe was bessers als diese gegenwärtigen [Lieder] zu singen [zu] geben“, eine Neuerscheinung, die als geistliches Gegenstück zu den vorliegenden Liedern konzipiert werde: „nemblich deß sehr Andächtigen Ioannis Gersen de Canabaco Ordinis S. Benedicti, Abbatis Vercellensis vier Bücher De Imitatione Christi“,⁷⁹¹ die er gerade ins Deutsche übersetze und „mit den anmüthigsten Melodyen“⁷⁹² versehe. Bibliographisch ist das Werk nicht nachweisbar, vermutlich ist es nie erschienen. Gleichwohl unterstreicht diese abschließende Passage abermals, dass weltliche Lyrik einer Rechtfertigung bedarf – Greflinger argumentiert mit der kulturpatriotischen und der
789 Vgl. hierzu die Arbeiten von Anthony Harper. 790 In Hinblick auf die Wiederentdeckung des Volksliedes um 1800: „Die Eliten [ahmten] Habitus und Kunstformen der Unterschicht nach. Die Verklärung des Schlichten erschien ihnen sublimer als der Genuß des Erlesenen. Was Herder in der Programmschrift Von deutscher Art und Kunst am Ausdruck des Wilden lobte, ‚unvorbedachte Festigkeit, Sicherheit und Schönheit‘, das fand er, mitten in der europäischen Zivilisation, in den Volksliedern wieder.“ Heinz Schlaffer: Die kurze Geschichte der deutschen Literatur. 3. Auflage. München 2008, S. 71. 791 Die Autorschaft dieses in der Frühen Neuzeit weit verbreiteten Traktats war umstritten. Heute wird im Allgemeinen von Kempen als Verfasser angenommen; im 17. Jh. und noch später gab es jedoch einen philologischen Streit um diese Frage; Cajetan beispielsweise erklärte 1615 den Benediktiner Johann Gersen aus Vercelli (13. Jh.) zum Verfasser. Vgl. Uwe Neddermeyer: Radix Studii et Speculum Vitae. Verbreitung und Rezeption der ‚Imitatio Christi‘ in Handschriften und Drucken bis zur Reformation. In: Studien zum 15. Jahrhundert. Festschrift für Erich Meuthen. Hg. von Johannes Helmrath, Heribert Müller. München 1994, S. 457–483. 792 „Anmuthig“ ist im Sinne von „gefällig“, „attraktiv“ (venustus) zu verstehen vgl. Werner Braun: „Kunstmäßig“ und „anmuthig“. Zur Dichotomie des musikalischen Hörens im 17. Jahrhundert. In: Perspektiven einer Geschichte des abendländischen Musikhörens. Hg. von Wolfgang Gratzer. Laaber 1997, S. 137–148.
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propädeutischen Intention des Werkes sowie mit Nachfrage. Gewiss blinzelt auch ein wenig Ironie durch diese Vorrede, in der nahezu sämtliche Aspekte des Argumentationssystems der Textsorte vorkommen. Ein spezifischer Gesichtspunkt muss im Zusammenhang mit der Schlusspassage noch angesprochen werden: Der Autor präsentiert sich hier zugleich als Übersetzer wie als Tonsetzer. Er selbst übernehme bei der im Entstehen begriffenen geistlichen Sammlung nicht nur die literarische Aufgabe, sondern parallel auch den musikalischen Part. Suggeriert Greflinger an dieser Stelle somit nicht, dass auch die Tonsätze der vorliegenden Sammlung von ihm stammen? Ein bemerkenswerter Gesichtspunkt, zumal ein Großteil der Tonsätze – wovon später ausführlicher zu handeln sein wird – als Fremdmaterial identifizierbar ist. Die Vorrede wird mit zwei epigrammatischen Motti beschlossen. Der deutsche Sinnspruch stellt eine freie Übertragung eines zuvor zitierten Martial-Distichons dar,⁷⁹³ die mit „Cato“ den auch bei Martial immer wieder auftretenden Typus des sittenstrengen Moralwächters hinzufügt. Gewarnt wird abermals vor einer autobiographischen Lektüre der scherzhaften, d. h. lasziven Verse – der ‚Fiktions-Topos‘ in seiner Reinform:⁷⁹⁴ Innocuos Censura potest permittere Sales Improba si qua mihi est pagina, vita proba est. Wie Cato? willst du mir mein Schertzen nicht erlauben? Ich bin vom Leben fromm / vnd schertzhafft in dem schreiben.
Auch die folgenden drei Ehrengedichten kreisen um ‚Affekt‘- und ‚Fiktions‘Topoi. Das erste kurze Gedicht reißt dabei dem sich hinter dem Pseudonym „Seladon“ verbergenden Autor Greflinger gewissermaßen die schäferliche Maske vom Gesicht:
793 Das Martial-Zitat stammt aus der praefacio seines ersten Epigrammbuchs (I,4). 794 Neben dem Epigramm bei Martial findet man ähnliche Verse bekanntlich z. B. bei Catull (carmen XVI: „nam castum esse decet pium poetam / ipsum, versiculos nihil necesse est.“). Homburg (Schimpff und Ernsthaffter Clio) setzt vor den Beginn seiner Gedichte eben dieses CatullZitat und überträgt es anschließend: „Ob gleich meine Clio singet / Venus Strenge Liebes=Glut / Ist der Geist / das Hertze gut / Jenes schlechten Schaden bringet: Falsch sind die so aus dem Dichten / Fälschlich unser Leben richten!“. (Schimpff und Ernsthaffter Clio. Erster Theil […] Jena 1642 […] Verlegt Zacharias Hertel Hamburg, unpaginiert [=überarbeitete Fassung der Sammlung von 1638]). Vgl. auch die zahlreichen Beispiele bei Stenzel (Anm. 785).
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Singestu nun wider her / Falsch benamter Seladon / Deutscher Pierinnen Sohn / Sonst George Greflinger Auß der wolberühmten Statt / Die die stärckste Brücken⁷⁹⁵ hat? […].
Der Verfasser, der den Autor ermuntert, sich namentlich zu der leichten Muse zu bekennen, und diese Entlarvung dabei auf Textebene selbst performativ durchführt, gibt seine eigene Identität jedoch seinerseits nicht preis, sondern unterzeichnet mit „Dein ehrlicher Verrähter J. G. K. S. B.“⁷⁹⁶ Das dritte Ehrengedicht ist ein Sonett eines „J. E. B. v. B. D. N.“ Es rekapituliert noch einmal in einer Art Rückblende die Geschichte von der untreuen Flora, das zentrale Thema der vorausgehenden Sammlung. Daraufhin wird ein misogyner Ton angeschlagen, das Ich solidarisiert sich mit dem betrogenen Seladon gegen das „leicht[e] Volck“. Während Greflinger also in seiner Vorrede für ein abstraktes Verständnis seiner Lyrik wirbt, unterminiert das Ehrensonett diese Vorgabe wiederum. Es lässt sich nur mutmaßen, ob Greflinger für dieses Arrangement, das den autobiographischen Realitätsbezug in der Schwebe lässt, selbst gesorgt hat. Auf jeden Fall entsteht erneut eine Spannung zwischen behaupteter Koinzidenz von Fiktion und Wirklichkeit auf der einen Seite und der Schutzbehauptung, die diesen Zusammenhang wiederum vehement abstreitet, auf der anderen. Das dritte Ehrensonett stellt darüber hinaus eine Verbindung zwischen Seladons Beständiger Liebe und Seladons Weltlichen Liedern her; der Bezug wird gleich im ersten Vers hervorgehoben: „Ist dieses / Seladon / der Reste deiner Lieder / | Die du gesungen hast von deiner FLORA lieb?“⁷⁹⁷ Der Verfasser des mittleren Ehrengedichtes, „J. G. S. Geborn in Regenspurg“ ist der Adressat der Vorrede: der bereits mehrfach genannte Johann Georg Schleder. Neben den biographischen Anspielungen, die Einblick in den geselligen Frankfurter Künstlerkreis gewähren⁷⁹⁸ und auch wiederum auf die abtrünnige Flora in Dichtung und Wahrheit verweisen, rühmt das umfangreiche Gedicht vor allem die Qualität der Greflinger’schen Verse:
795 Gemeint ist Regensburg. 796 Das Kürzel konnte nicht entschlüsselt werden. Vermutlich verbirgt sich dahinter auch ein Frankfurter Bekannter. 797 Greflinger selbst schreibt in der Vorrede, die vorliegenden Gedichte seien der „Rest meiner Liebes=Possen“ (S. 6). 798 Vgl. hierzu das Frankfurt-Kapitel.
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Was du pflegst in Reyhm zu binden Seladon / das thönet süsse / Das hat alles Händ’ vnd Füsse / Saltz vnd Würtz / die sich gebühren / Worte / die das Reden zieren; Schimpff vnd Ernst in allen Sachen / Weinen vnd bald wider lachen. Kurtz. Was Seladon geschrieben / Wil vnd muß ein jeder lieben. Lieben / sag ich / vnd auch loben. Seladon sey hoch erhoben / Wegen seines süssen Singen / Wegen seiner Reyhme Klingen / Wegen seiner Lieder Schertzen Mit den heißverbuhlten Hertzen: Seladon / der Musen Sohne / Seladon / die Zierd vnd Crone Vieler Tichter. Ewig bleibet / Seladon was dieser schreibet.
Im Folgenden hebt Schleder mit großer Emphase den lehrreichen und vor allem auch den unterhaltenden Wert von Seladons Liedern hervor, um mit Nachdruck das Anliegen zu unterstützen, das Greflinger und seine Förderer mit der Publikation der Weltlichen Lieder ganz offensichtlich verfolgt hatten – die Krönung zum Poeta laureatus: Musen / es gebührt zu Lohne Seladon / die Lorbeer Crone. Schenckt ihm die / vnd krönt den Lieben / Der manch schöns Gedicht geschrieben / Föbus dir / vnd euch drey Dreyen. Führet ihn auch an den Reyhen Der von euch gewöhnten Dichter / Vnd was sonst der Künste Liechter. Seladon / viel Glück zur Krone / Die sey deines Dichtens Lohne!
Aus der Untersuchung der Paratexte ergibt sich für weitere Analyse und Interpretation von Seladons Weltiche Lieder also, dass Verleger, Drucker, Beiträger der Ehrengedichte und Autor diese Lyriksammlung als anspruchsvolles, programmatisch fundiertes Werk verstanden wissen wollen. Die Themen werden angekündigt, ein autobiographischer Bezug in gelehrter Tradition bisweilen dementiert, bisweilen lanciert. Der Unterhaltungswert wird somit insgesamt hoch veranschlagt, schließlich kam es allen Beteiligten gewiss nicht nur auf die ideelle
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Anerkennung des Autors an, sondern auch auf gute Verkaufszahlen. Hervorzuheben ist auch, dass ein thematischer Zusammenhang mit dem sieben Jahre zuvor erschienenen Liederbuch hergestellt wird und die Lieder der neuen Sammlung hierbei als reifere Leistung mit gehobenem Kunstanspruch präsentiert werden.
3.2 Aufbau Was den formalen Aufbau der Sammlung betrifft, ist die ordnende Hand des Herausgebers (oder vielleicht auch des Autors selbst) erkennbar. So ist die Grobstruktur des Buches folgendermaßen beschaffen: Es besteht aus zwei großen, klar voneinander separierten Teilen. Der erste Teil, der auf die vorausgehenden Paratexte (Titelkupfer, Titelseite, Vorrede, Ehrengedichte) folgt (S. 14–184), umfasst den mit Notendruck versehenen Liedteil, der wiederum in vier Kapitel mit je zwölf Liedern sehr akkurat disponiert ist. Die Kapitel werden durchgezählt und verweisen auf die Einteilungsgröße: „Das erste Dutzend“, „Das zweite Dutzend“ etc. Innerhalb dieser Abschnitte werden die Lieder mit jeweils vor dem Titel stehenden Ordinalzahlen durchgezählt, das Ende jeder Einheit wird deutlich markiert („Ende des ersten Dutzend“ etc.). Ähnliche Einteilungen nahm zum Beispiel Greflingers Ordensbruder Dedekind in seiner Aelbianischen Musen-Lust (Dresden 1657) vor, auch Adam Krieger, Stieler und Rist untergliederten ihre Werke, wobei bei allen Genannten die Einteilungsgröße „zehn“ (die Greflinger später für seine letzte Sammlung ebenfalls wählt) ist. Anders als in seiner letzten Sammlung Celadonische Musa, in der die Lieder unter bestimmten thematischen Kapitelüberschriften zusammengestellt werden, oder dem ersten Liederbuch, Seladons Beständige Liebe, in dem ein Narrativ der Anordnung zu Grunde liegt, ist ein Prinzip, nach dem die Zusammenstellung der „Dutzend“ in jedem Kapitel erfolgen würde, in Seladons Weltliche Lieder nicht ersichtlich, was keineswegs als unbedachte Willkür zu bewerten ist. Diese Gestalt entspricht vielmehr dem rhetorisch-poetischen Prinzip der variatio: Lieder verschiedenen Inhalts, unterschiedlicher formaler Gestalt und musikalischer Faktur folgen aufeinander, was nicht zuletzt den Unterhaltungswert steigert und auch der Gesangspraxis entspricht. Gleichwohl sind z. B. thematische Verbindungsstrukturen über die Kapitelgrenzen hinweg feststellbar, so dass sich Gruppierungen aufgrund des Inhalts abzeichnen (dazu unten mehr). Manchmal sind auch kleine thematische Blöcke erkennbar: So konstituieren die Lieder V bis VIII (mit einer Unterbrechung durch das in dieses Reihe nicht passende Lied VI) im ersten Dutzend eine Einheit, die um das topische Sujet der Abwesenheit des Geliebten kreist – im Lied V wird die Sehnsucht nach dem Verreisten artikuliert, in VII rügt ein männliches Sprecher-Ich „die abtrinnige Flora“, die ihr Treueversprechen
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während seiner Abwesenheit gebrochen hat, und in VIII wird ein anderes Mädchen zu Treue und Beständigkeit ermahnt. Lied XI schließlich nimmt abermals auf die „ungetreue Flora“ Bezug. Die Kohärenz dieser Stücke wird dabei, für den Rezipienten schnell erkannbar, durch die ‚argomenti‘-artigen Liedtitel indiziert, durch die entweder die Situation, in der das Ich des Stücks sich befindet, oder seine Gemütsverfassung vorgestellt wird; manchmal sind die Titel auch nach dem sprechenden Protagonisten benannt („Hylas will kein Weib nicht haben“) oder nach dem fiktiven Adressaten („An Flora“, „An eine hässliche Jungfrau“). Bisweilen wird die Zusammengehörigkeit auch durch formale Entsprechung hergestellt. Eine besonders wichtige Rolle kommt in diesem Zusammenhang der musikalischen Gestaltung zu, die Verbindungen zu sammlungsinternen Texten schaffen kann, aber auch intertextuelle Bezüge zu anderen Texten generiert. Der zweite Teil, bei dem die Paginierung neu ansetzt und dem keine Noten beigegeben sind, wird als „Anhang Schimpff und Ernsthaffter Gedichte“ bezeichnet.⁷⁹⁹ Er weist eine Dreiteilung auf: An 191 durchnumerierte Epigramme unterschiedlicher Länge (S. 1–31) schließt sich eine Sequenz von längeren Texten, bei denen es sich zum Großteil um Gedichte und Lieder auf bedeutende zeithistorische Ereignisse und Personen handelt, an (S. 32–69). Die letzten drei Gedichte bilden eine eigene Gruppe (S. 69–71). Sie präsentieren sich als persönliche Casualia: ein Epicedium auf den Tod des „vielgeliebten Herrn Vettern S. M. P. zu Nürnberg“, gefolgt von einem „Trost / an meine vielgeliebte Fraw Mume“. Möglicherweise handelt es sich bei diesen beiden Gedichten um übernommene Casualia, die Greflinger an Nürnberger Verwandte gerichtet hatte; hier hatte er in seiner Jugend für einige Zeit Aufnahme gefunden (s. Kap. II, 2). Das Sonett „Vber den Tod seiner Liebsten“ (S. 70) beschließt die Sammlung – einen ‚in-morte‘-Teil gibt es nicht. Nochmals wird der Fiktions-Topos aufgegriffen: Stirbt die Geliebte, verstummt auch der Dichter, der für dieses letzte Stück auf die kunstvolle, doch unsangliche (da nicht nichtstrophige) Sonett-Form zurückgreift. Auffällig ist dabei, dass weder hier, noch in den beiden vorausgehenden Trauergedichten christliche Trostargumente eingebaut werden. Seladons Weltliche Lieder bleiben im Irdischen verhaftet: Vber den Tod seiner Liebsten. Ach kan es auch noch seyn? Wie kann ich auch noch leben? Dann dieses ist dahin / das meinem Hertzen Schrein Das Allerliebste war / es liegt gescharret sein /
799 Auch z. B. Ernst Christoph Homburgs Sammlung Schimpff= und Ernsthaffte Clio (1638/45) beginnt mit einem ‚Liedteil‘ (ohne Noten!), woran sich ein Epigramm- und Sonett-Teil anschließt.
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Wohin? Ach saget nur wohin ich sol begeben Mich für der Traurigkeit? Ich setze mich darneben / Wo ihres Liebsten Tod ein Turteltäubelein / Beklaget / welche Noht / O welche Hertzenspein / Ist zweyer Liebe Riß; die Traube von der Reben / Wann die geschnitten wird / so ist die Zierd dahin Der Reben / also ich der Zierd beraubet bin / Ich lebe sonder Schmuck / ich lebe sonder Leben / Ich bin der Zuversicht ihr Irinneen Pöreen [?!] ihr / Dieweil ich nichts mehr bin / ihr werdet ehest mir Das Leben kürtzen / mich der Liebsten wider geben. ENDE
3.3 Aspekte der Topik Das Themenspektrum der Greflinger’schen Sammlung stimmt im Wesentlichen mit den anakreontischen und erotischen Sujets überein, die Opitz im gattungspoetischen Kapitel der Poeterey im Anschluss an Horaz (Ars Poetica V, 83–85) für die „Lyrica oder getichte die man zur Music sonderlich gebrauchen kann“ vorgeschrieben hat: „buhlerey / täntze / banckete / schöne Menschen / Gärte / Weinberge / lob der mässigkeit / nichtigkeit des todes / etc. Sonderlich aber die vermahnung zue der fröligkeit“.⁸⁰⁰ An dieser Vorgabe haben sich die meisten weltlichen Liederautoren orientiert, so dass die bunte Palette der behandelten Themen und Sujets mit der Vielfalt vieler anderer weltlicher Sammlungen vergleichbar ist.⁸⁰¹ Es könnte eine verdienstvolle Arbeit sein, sich auf die Suche nach direkten textlichen Vorbildern zu begeben. Dieses Unterfangen sähe sich aber bald mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert, denn es ist kaum möglich zu sagen, ob es sich bei einem entsprechenden Text um eine direkte Vorlage handelt oder nicht vielmehr um eine Parallelstelle. Denn als Autor des 17. Jahrhunderts bedient sich Greflinger aus einem großen ‚Pool‘ an Themen und Motiven weltlicher Lyrik, deren (humanistische) Traditionen meist bis in die Antike reichen. Daher erscheinen Hinweise auf entsprechende topische Motive und Themen an dieser Stelle sinnvoller, denn Greflingers Lieder zeichnen sich eher durch ‚Systemreferenz‘ als
800 Opitz (Anm. 483), S. 33. 801 David Schirmer erklärt, was „die Materie oder derer Inhalt“ seiner Singenden Rosen (1654) betrifft, dass „Sitten= und Tugend=Lieder“, die der Lasterschelte dienen sollen, neben die „Amourösen“ gestellt werden. (Schirmer, Singende Rosen, b1v). Homburg deutet bereits mit dem Titel Schimpf- und Ernsthaffte Clio eine große Themenvielfalt an.
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durch konkrete imitationes bzw. Übersetzungen aus. Wenn man dennoch direkte Vorbilder sucht, müssten die Lieder systematisch mit den Sammlungen niederländischer Autoren, vor allem Jacob Cats’ abgeglichen werden. Wie oben bereits erwähnt, lassen sich einige der Mädchenklagen als Übersetzungen von Liedern aus einer Sammlung des Moraldidaktikers nachweisen, im ersten Teil der vorliegenden Arbeit wurde außerdem auf Cats-Adaptionen in den Casualia hingewiesen. Desweiteren konnten einige Greflinger-Lieder durch Forschungsarbeiten der niederländischen Philologie als Übersetzungen von Texten Jan Jansz. Starters⁸⁰² und Gerbrand Brederos identifiziert werden.⁸⁰³ Zieht man als Vergleichsmaterial das deutsche Repertoire des mittleren 17. Jahrhunderts heran, kann eine große Nähe zu den Hamburgern Schwieger, dessen erste Sammlung 1654 – also nach Seladons Weltliche Lieder – erschien, und Göring sowie zu dem Leipziger Finckelthaus festgestellt werden – sie entstammen alle der Generation der etwa zu Kriegsbeginn Geborenen. Gleiches gilt für die Werke der jüngeren Leipziger wie Brehme und Schirmer. Es ist zu vermuten, dass man von den Publikationen gegenseitig Kenntnis nahm. Von der älteren Generation scheint Ernst Christoph Homburg mit seiner Schimpff- und Ernsthaffte Clio 1642/44 und vor allem Gabriel Voigtländer von besonderer Bedeutung für Greflinger gewesen zu sein, Voigtländer auch in musikalischer Hinsicht.⁸⁰⁴ Natürlich kannte Greflinger auch die Werke der prominentesten Autoren sehr gut und man könnte Ähnlichkeiten zu den Königsbergern, zu Flemings Lyrik (z. B. in Bezug auf das ‚Treue‘-Motiv), zu Rists Liederbüchern (was in musikalischer Hinsicht evident ist; darauf wird zurückzukommen sein) und zu Zesens Werken (z. B. hinsichtlich formaler und klanglicher Experimentierfreude) genauer untersuchen, was an dieser Stelle jedoch nicht geschehen kann. * Blicken wir nun auf die zentralen Themen, Topoi und Motive des Buches. Innerhalb der vier „Dutzend“ sind die Lieder nicht systematisch oder ‚syntagmatisch‘ – also im Sinne einer einigermaßen stringenten Handlung wie in der oben beschriebenen Sammlung – angeordnet. Dennoch können thematische Binnengruppierungen beschrieben werden. Nimmt man eine grobe Einteilung vor,
802 Ulrich Bornemann: Der „Friesche Lusthof“ und die „Teutsche Muse“. Beispiele der Jan Jans /. Starter-Rezeption in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts. In: Neophilologus 60 (1976) S. 89–106, hier S. 89 f. 803 Vgl. die Hinweise zu Greflinger in der Bibliographie von Bundschuh-van Duikeren (Anm. 583). 804 Darauf wird später genauer einzugehen sein.
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lassen sich die 48 Stücke des Liederteils den Kategorien ‚Liebeslieder‘, ‚Typensatire und Schwankhaftes‘ und ‚Trink- und Tanzlied‘ zuordnen. Zu der ersten Kategorie können etwa ein Viertel der Lieder gezählt werden. Bereits die formal und inhaltlich aufeinander bezogenen Eröffnungsgedichte („Von seiner Dorinde“ und „Von der Liebsten Gegen=Liebe“) – sie werden sinnreicher Weise auf die gleiche Melodie gesungen – gehören zu dieser Kategorie und präsentieren zugleich die der Sammlung zugrunde liegende Liebeskonzeption: Nach gegenseitigem Treueschwur der beiden Verliebten (Str. 2) – es handelt sich um das Sprecher-Ich sowie um „Dorinde“, die ihr sprödes Verhalten und die kokette Kussverweigerung (Str. 1) bald aufgibt – und ausgiebigem „küssen und hertzen“ steht die Hochzeit an. Die Freude des Ichs über diese Entwicklung steht im Zentrum des zweiten Liedes. Die baldige Eheschließung, das Segeln zum „gewünschten Port“, führt dazu, dass dem Sprecher-Ich „auß Freuden die Aederlein buffen“ (Str. 2). Vor allem die bevorstehenden Liebesfreuden evozieren gerade in Anbetracht der körperlichen Vorzüge der künftigen Ehefrau Hochstimmung. Die in der Sammlung dargestellten Liebesbeziehungen beruhen, wie in diesem Eröffnungsgedicht programmatisch vorgestellt wird, auf gegenseitiger Zuneigung. „Sie hat mich / ich sie gefangen“, bekennt beispielsweise der verliebte Schäfer (IV,6) in einem anderen Lied. Wichtig ist dabei stets der gegenseitige Treueschwur. Seine höchste Erfüllung findet das Liebesglück in der Ehe, sie ist das Ziel aller Liebenden. Hingegen begegnet die petrarkistische Liebeskonzeption nur in einem Lied („An seine harthertzige Liebste“ II,3) und wirkt im Ensemble der übrigen Stücke beinahe ‚fehl am Platze‘ bzw. ironisch. Das Modell einer auf Gegenseitigkeit beruhenden Liebe liegt auch den Abschiedsklagen zugrunde („Eine Jungfraw uber ihres Liebsten Abreyse“ I,5; „Die Ferne trennet treue Hertzen nicht“ IV,8; „Dorinden Abscheyd von dem Reyßfertigen Amynthas“ III,3). In einigen Liedern stehen dem Liebespaar soziale Schranken im Wege. Vor allem Seladon und Flora, die bereits bekannten Protagonisten der ersten Sammlung, müssen wiederum den Widerstand der Eltern überwinden, weil Seladon ein mittelloser Bauernsohn ist. Diese Herkunft stellt jedoch freilich nur in materieller Hinsicht ein Manko dar, vielmehr spricht sie gemäß dem topischen Lob des Landlebens für körperliche und charakterliche Qualitäten, die dem dekadenten Höfling und dem lüsternen, reichen Greis fehlen. Diese Vorzüge werden in dem Lied „An eine liebe Jungfrau“ (IV,5) ausgebreitet, das Greflinger unter dem Titel „Sein erstes an Flora“ als autobiographisches Eröffnungsstück bereits in seinem ersten Buch veröffentlicht hatte. Liebeslieder dieser Art (ähnlich auch III,1 „Dorinden Bekanntnüß ihrer Liebe“) sind in einem wenig sentimental-schäferlichen Ton verfasst, sondern wirken dem Herkommen des Sprechers gemäß tatsächlich rustikal und ungeschliffen, was natürlich nicht auf
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mangelnde poetisch-rhetorische Fähigkeiten des Autors zurückgeführt werden darf. Vielmehr zeigt Greflinger, dass er dieses stilistische Register vorzüglich zu ziehen versteht. Dass er auch andere Stilebenen beherrscht, demonstrieren die genannten Abschiedslieder, die in einem zierlichen Sprachduktus gehalten sind, sowie das charmante Liebeslied „Unterweisung heimlich zu lieben“ (IV,1). Es besticht durch seine interessante metrische Gestalt – Gottsched führt es als gelungenes Beispiel für ein Gedicht mit „12. [z]weyfußige[n] Jamben“⁸⁰⁵ an – mit der auffälligen Dominanz der kurzen, zweihebigen Verse, die sich durch die Mischung von Paar-, Binnen- und Schweifreimbildung, Assonanzen, hellen Vokalreihen sowie weichen Lauten zu einem kleinen Klangkunstwerk verbinden. Diese Effekte untermalen die intime Atmosphäre, die der Text in zwölf Strophen entfaltet: 1. Weil wir zerstreut / Durch Neyd vnd Zeit / Uns heimlich müssen meynen / Weil du für mier / Und ich für dir / Gantz feindlich muß erscheinen / Weil mir dein Liecht / Das Hertze nicht / Von Augen wird gerissen / So höre zu / Du meine Ruh / Was dieses sol versüssen.
Das Ich, Seladon, beschreibt seiner Geliebten Elisa im Folgenden ‚Geheimcodes‘, „Band vnd manche Zeichen“ (Str. 7), um auf diesem Wege unbemerkt mit ihr kommunizieren zu können. Offizielles Treffen ist nämlich untersagt, weil eine voreheliche Liebesbegegnung beide in Verruf bringen könnte: „Wann wir allein / | Nicht können seyn / | Daß wir nicht schuldig werden.“ (Str. 2), bedauert Seladon. Durch Lockrufe und Schattenfiguren an der Hauswand will er daher seine Ankunft ankündigen und ein Band, das er bei sich trägt, soll je nach Farbe eine Botschaft vermitteln („Wann ich mit grün | gebunden bin / | Ists Hoffnung dich zu
805 Johann Christoph Gottsched: Grundlegung einer deutschen Sprachkunst, nach den Mustern der besten Schriftsteller des vorigen und jetzigen Jahrhunderts. 2. Auflage. Leipzig 1749, „Von den jambischen Versen“, S. 575. Gottsched zitiert aus der Celadonischen Musa, in der das Gedicht abermals vorkommt. Es ist metrisch-formal einem Trinklied Heinrich Alberts nachempfunden. Den Tonsatz dieses Liedes aus den Arien (I,15) fügt Greflinger in der vorliegenden Sammlung seinem Gedicht bei.
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sehen […] Schwartz sol für Wehmuth stehen […]“ Str. 11.). Auf diese Weise sollen geheime Rendezvous verabredet werden. Die letzte Strophe birgt noch eine kleine Pointe – das Lied selbst ist der Liebesbrief mit der „Unterweisung heimlich zu lieben“. * Von dieser Textgrupppe hebt sich das große Ensemble satirischer Texte ab, zu denen etwa die Hälfte aller Lieder gehören und deren Markenzeichen man als grotesken Realismus bezeichnen könnte. Sie rekurrieren auf Topoi, die Elemente volkssprachiger Traditionen, z. B. des Schwanks und Fastnachtspiels, der italienischen commedia dell’arte und der niederländischen Kluchten sind und bereits zum Motivarsenal der antiken Komödie und Satire gehörten. Zu den in diesen literarischen Kontexten und Traditionen stehenden Typen,⁸⁰⁶ die auch bei Greflinger ihren Auftritt haben, gehören lüsterne Greise und mannstolle alte Witwen. Aus dem Bereich der Reformationssatire gesellt sich die „weltliche Nonne“ hinzu, auch der „Ruhmredige“ mit dem Alamode-Gebaren wird verspottet. Besonders der „senex amator“, wie der tolle Alte bei Plautus heißt, bzw. Pantalone, der reiche Geck auf Freiersfüßen aus der commedia dell’arte, hat es Greflinger angetan. Dieser Typus fungiert als Gegenspieler des mittellosen jungen Liebenden (z. B. III,1 „Dorinden Bekanntnüß ihrer Liebe“), in manchen Liedern kann er aufgrund seines Vermögens als Sieger im Liebeswettkampfs die Jungfer gewinnen, was diese dann später bitter bereut (III,5 „Eine Ubelbemannte an eine Jungfrau“), meist wird er jedoch mit beißendem Spott bedacht und der Lächerlichkeit preisgegeben. Einen besonders hohen Unterhaltungswert haben das Lied „Eine junge Wittbe zu einem Lüstren Greisen“ (II,11) und das Dialoglied „Ein Alter Mann mit einer Jungfrauen“ (III,6). Im erstgenannten (II,11) weist ein weibliches SprecherIch, die „junge Wittbe“, den Alten, der ihr Avancen macht, keck zurück und zwar
806 Zum Verfahren der Typisierung als zentrales Moment des Komischen in der barocken Komödie vgl. Kühlmann (Anm. 534), S. 400–422, insb. S. 406: „Die Klischees der Stegreifkomödie müssen als Mittel betrachtet werden, die in den Personen gemeinte historisch-soziale Wirklichkeit in das dramatische Spiel so einzuführen, daß zugleich und von Anfang an in der satirischen Verzerrung der Charaktermaske das Harmlosigkeitspostulat des komödiantischen Spiels erfüllt ist. Nur so ist das Vergnügen an dem komischen Helden gewährleistet, nur so können diese mit der Erfahrung der Realität identifiziert, im selben Augenblick aber als Spielfiguren des ästhetischen Scheins rezipiert werden. Die Lust des Verlachens beruht auch hier […] auf der Gleichzeitigkeit von Identifizierung und Distanzierung. […] [E]rst der transparente Wirklichkeitsbezug der Figuren macht diese zu Exponenten von Normen und Erwartungen des Publikums bzw. in diesem Fall zu Gegenbildern oder in ihrer Insuffizienz bloßgestellten Scheinrepräsentanten.“
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mit einer Paraphrase des berühmten Ovid-Zitat „Turpe senex miles, turpe senilis amor“ (Ovid, Amores 1,9,1–4).⁸⁰⁷ 1. Ein Alter sol den Krieg vnd auch die Liebe lassen / Weil Mars vnd Venus ihn als einen Todten hassen / Es ligt nicht nur am Muht’ / Er muß auch Krafft erweisen / Sonst ist er nicht für gut In seinem Thun zu preisen.
Im Folgenden führt die Sprecherin ihrem greisen Freier unverblümt vor Augen, dass seine Manneskraft nicht mehr ausreichen werde, um an einem „Weib“ das „zu verrichten“, „was ihr gehört“ (Str. 3).⁸⁰⁸ Hinzu kommt die abstoßende Gestalt des „ausgedorrte[n] Hahn[s]“, so dass sie ihn mit grellem Aufschrei „I / I es müsste mich sehr wunderlich gelüsten“ davonjagt (Str. 4). Das Stück III,6 verhandelt die gleiche Thematik, hat jedoch durch die dialogische Struktur einen stärkeren theatralen Charakter und mutet tatsächlich wie eine kleine Komödienszene an. Der alte Lüstling versucht, das vorbeigehende Mädchen, das er mit plumpen Komplimenten und Kosenamen („mein Huhn“, „mein Rosenstrauch“) überhäuft, vor allem durch ständigen Hinweis auf seine Reichtümer zu gewinnen. Doch die resolute Jungfrau ist an diesen Angeboten nicht interessiert. Wie sie in dem refrainartigen Vers „Was ihr sucht / such ich auch“ betont, schwebt ihr ein Gleichaltriger von „zwantzig Jahren“ (Str. 8) vor. Dass sie die Avancen des Alten ablehnt, hat dabei offenkundig wenig mit einer tugendhaften Haltung zu tun, vielmehr legt sie auf äußere Attraktivität und sexuelle Potenz großen Wert – beides kann der „alt[e] Gaul“ ihr nicht bieten. Die Melodie-Angabe weist das Lied als Kontrafaktur aus, wir finden die Vorlage im Groot lied-boeck (1622) des Niederländers Bredero.⁸⁰⁹ Dessen Text folgt Greflinger fast wörtlich. Es wird darauf zurückzukommen sein. Der Greis-Jungfrau-Topos spielt noch bei einer Reihe weiterer Lieder eine Rolle. In „Der Werber führet die Braut heim“ (III,9), das im Gegensatz zu den meisten anderen Stücken kein Rollengedicht ist, wird eine schwankartige Ge-
807 Ovid: Liebesgedichte. Amores. Lateinisch und deutsch von Walter Marg und Richard Harder. Kempten ³1968, S. 32. 808 Zum diskurshistorischen Bezug dieses Topos vgl. Rüdiger Schnell: Sexualität und Emotionalität in der vormodernen Ehe. Köln u. a. 2002, S. 210–224. 809 Gerbrand Bredero: Boertigh, Amoreus, en Aendachtigh Groot lied-boeck. Door-mengeld met Sin-rijcke Beeltenissen. Alles totvermaeck en nut der Ieughet, Sampt allen Lievers der Rijmkonst. 3 delen. Hg. von G. Stuiveling u. a. Culemborg 1975, S. 63 f. Auf die Spur von Bredero kommt man durch einen Hinweis in der Bibliographie von Bundschuh-van Duikeren (Anm. 583), S. 100.
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schichte erzählt: Hylas soll im Auftrag seines reichen alten Herrn der jungen Philis einen Heiratsantrag machen, entschließt sich aber, die Situation zu seinen Gunsten zu nutzen und selbst um das Mädchen zu freien. Philis äußert zunächst Bedenken („Ist es lobenswerth / wann ein Knecht ein Weib begehrt?“ Str. 3), Hylas Schönheit und sein rhetorisches Geschick, durch das er dem Mädchen den Alten madig macht, führen zum Erfolg. Bald schon wird publik, dass Philis „Umb Martini Mütterlein“ sein wird (Str. 6). Der Knecht geht also als ‚Sieger‘ hervor, der alte Reiche wird düpiert und hat das Nachsehen. Das Lied endet mit einer moralischen Reflexion, in der ein Sprecher sich direkt an das Publikum wendet: 7. Ist nun das für gut zu halten? Ist es billich? Ist es recht? Vrthelt [!] doch / was vor den Alten Vor den Herren / nimmt der Knecht.
Die beiden epigrammatischen Schlussverse verdeutlichen jedoch, dass der Sprecher sein Urteil bereits gefällt hat und die moralische Frage eher ironisch gemeint war: Geht es so / so will ich fein Selber Frey- vnd Werber seyn.
Zur Kategorie der satirischen Lieder gehört auch die Klage der „Weltlichen Nonne“ (II,7), die ihre Unbemanntheit bedauert – ein Topos, der seinen Ursprung in der protestantischen Satire der Reformationszeit hat.⁸¹⁰ Ihr folgt unmittelbar als Gegenstück „Die Nönnische Jungfrau“ (II,8), die ihrerseits das Joch der Ehe beklagt und sich nach einem Klosterleben sehnt. Damit ist ein Themenkomplex angesprochen, der gewissermaßen den thematischen Nukleus der Sammlung ausmacht: Fast alle Lieder haben im weiteren oder engeren Sinne etwas mit ‚Geschlechterbeziehung‘ und dabei v. a. mit ‚Ehe‘ zu tun. Während aber die meisten Liebeslieder die Vollendung des Liebesglücks im Stand der Ehe sehen, kommen in zahlreichen, über die ganze Sammlung verstreuten Stücken dezidierte Ehehasser zu Wort. Diese Antithetik von Ehelob und Misogamie kann sogar als ein Strukturelement der Sammlung gelten. Konzentriert und gleichsam programmatisch wird diese Antithetik in den ‚Zwillingsgedichten‘ I,3 und I,4 vorgestellt. So wie die beiden Eröffnungsstücke sind diese Lieder nicht nur inhaltlich, sondern auch formal aufeinander bezogen, das heißt, dass beide Texte auf die
810 Vgl. Harper (Greflinger, Anm. 138), S. 231. Dazu auch: Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 1992, S. 423.
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gleiche Melodie gesungen werden – ähnlich wie bei den oben erwähnten geistlichen Liedern ist das Phänomen der ‚doppelten Textualität‘ erkennbar.⁸¹¹ Das achtstrophige „Hylas will kein Weib nicht haben“ mit dem Incipit „Schweiget mir vom Frauen [oder: Weiber] nehmen“ (I,3) führt in satirisch-burleskem Duktus die Nachteile des Ehestands vor;⁸¹² es ist übrigens eines der bekanntesten und erfolgreichsten Greflinger-Lieder, mit dem wir uns noch genauer beschäftigen werden. Der dazugehörige, direkt folgende „Wieder=Ruff“ – hier wird auf die antike Tradition der Palinodie zurückgegriffen – präsentiert sich hingegen als Plädoyer für das Heiraten. Eine auffällig große Rolle kommt im Hylas-Lied wie auch in den anderen ‚Ehehasser-Liedern‘ der Sammlung finanziellen Implikationen zu⁸¹³ – ein Aspekt, der auch in vielen zeitgenössischen Texten begegnet, in denen das Für und Wider der Ehe verhandelt wird. In Grimmelshausens Springinsfeld, um ein prominentes Beispiel aus einer anderen Gattung zu nennen, wird in einem eigenen Kapitel thematisiert, „warum Springinsfeld kein Weib haben wollte“. Der vom Inseldasein geläuterte Simplicius übernimmt dabei unter Verwendung theologischer Argumente⁸¹⁴ die Rolle des Eheverteidigers⁸¹⁵ gegenüber dem Hagestolz Springinsfeld.
811 In der Analyse des Liedes im Kapitel 5.1. wird dies zu erläutern sein. 812 In Voigtländers Allerhand Oden und Lieder wird in den Liedern Nr. 16 und 17 sowie 18 und 19 ebenfalls jeweils ein Lied, das vor den Plagen und Nöte des Ehestandes warnt (16 „Weiber nehmen ist kein Pferde kauff“ und 18 „Allerley bedencken in Heurahten“), je einem Lob auf die Ehe gegenüber gestellt (17, 18 beide mit dem Titel „Dieser helt das Wiederspiel“). 813 Vgl. Hans-Georg Kemper, der kurz auf das Greflinger-Lied hinweist (Komische Lyrik – Lyrische Komik: Über Verformungen einer formstrengen Gattung. Tübingen 2009, S. 79). 814 Simplicius zitiert 1. Mose 1,27 f. („dem heyligen […] Ehestand“), S. 211; Sprüche 31, 10–31 („und gleich wie eine […] Zierd des Manns ist“), ebd. Grimmelshausen, Werke I,2, S. 209–211 (s. dazu Stellenkommentar von Breuer). 815 Grimmelshausen, Werke I,2, S. 209–211: In einem „Nacht-Gespräch“ erklärt Springinsfeld Simplicius, warum er sich mit einer „solchen Beschwärung“, also der Ehe, nicht beladen wolle, während sich Simplicius als Ehebefürworter präsentiert: „Jch hätte gleichwol vermeint / antwortet Simp: Wann ich in deiner Haut steckte / es wäre mir Rathsamer / wann ich ein Weib hätte / die mir in meinem gebrechlichen Alter vermittelst ehrlicher Lieb und Treu mit Hilff und Rath zu Trost und Statten käme […]. „O Bruder / sagte Springinsfeld / diser Schuh ist an meinen Fuß nicht gerecht; dann hätte ich eine Alte / so müste ich vielleicht mehr an ihr als sie an mir Apothekern; wäre sie jung / so wäre ich nur / der Deckmantel; wäre sie mittelmässig so wäre sie vielleicht bös und zanksichtig […] Simplicius: Rede doch nicht so grob und unbescheyden / […] aber höre / wann dich eine etwann betroben / vermeinestu darumb es sey kein ehrlich Weib mehr die treulich mit dir hausen werde? Springinsfeld antwortete / daß will ich nicht läugnen; gleichwohl aber ists gewis / das alle Wolthaten die ein Weib dem Mann zuerzeigen plegt [!] theur genug bezahlt werden müssen; […] ihre allerbeste Arbeiten die sie verrichten / verkindigen dem Mann eytel Kösten und beschwerliche Außgaben; dadurch das jenig was der Mann mit Mühe und
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Dessen Hauptargumente gegen das Heiraten wie auch diejenigen des misogamen Ichs des Greflinger-Liedes referieren vor allem auf die finanziellen Belastungen, die Hochzeit und Eheleben mit sich brächten. Bereits die Vermählungsfeier, heißt es bei Greflinger, verursache immense Kosten, auch die Versorgung von Kindern sei teuer (beides Str. 3), ganz zu schweigen von den Aufwendungen für Hausstand, Personal, Möbel und vor allem die Verköstigung von Mensch und Vieh (Str. 4 und 5). Wenn man dann noch an eine herrische Frau gerate, bleibe dem gebeutelten Ehemann nur noch der Trost im Alkohol (Str. 7). Aus diesen Gründen erklärt sich das Ich zum dezidierten Ehehasser, der jedoch keineswegs auf Liebesfreuden zu verzichten gedenkt („Ich will kein’ alleine lieben / Buhlen, buhlen ist mein Sinn“ Str. 8). In der darauf folgenden Palinodie wandelt der Sprecher jedoch seine Meinung und wird zum Ehebefürworter.⁸¹⁶ Thematisch steht das Lied III,4, „Beschwerde deß Weibernehmens“, dem Hylas-Lied sehr nah. Es ist jedoch umfangreicher (14 statt acht Strophen), beschreibt zusätzlich die Mühen der Brautwerbung (Str. 2 bis 5), beißender Schimpf und Spott werden über die weibliche Entourage der Braut ergossen (Str. 9 und 10) und die finanziellen Aufwendungen einer Hochzeit werden noch ausgedehnter dargestellt (Str. 12 und 13). Wie Hylas präferiert das Ich dieses Liedes ‚freie Liebe‘ – „Heute die / vnd morgen sie / | Das bringt Lust vnd keine Müh“ (Str. 1) – Heirat kommt nicht in Frage: „Freye wer da freyen will / | Freyen ist für mich zu viel.“ (Str. 14).⁸¹⁷ Die misogamen Lieder mit männlichem Sprecher greifen stets gängige frauenfeindliche Topoi auf, wobei die Tradition misogyner Lyrik so breit und vielschichtig ist, dass an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen werden kann. Auch der Misogynie-Diskurs in der Frühen Neuzeit ist ein eigenes Forschungsfeld, zu dem Studien aus verschiedenen Disziplinen vorliegen.⁸¹⁸ Einige Schlag-
Arbeit erworben / zum öfftern unnützlich verschwendet wird; hab ich ein Weib / so ist nichts gewissers / als daß mir ein jede von meinen Ducaten hinfort nit mehr als ein Thaler gilt; spinnet sie mir und ihr ein Stück Tuech an Leib / so mus ich Flachs / Woll und Weberlohn bezahlen; […] wer zahlt Holtz / Saiff und Wäscherlohn […] und wie geht’s allererst / wann man mit einem Hauffen Kinder beladen wird? […].“ 816 Dieses ‚Zwillingsgedicht‘ wird später noch einmal behandelt (Kap. III, 5. 2.), daher soll an dieser Stelle nicht näher auf die Funktion der Palinodie eingegangen werden. 817 Harpers Vermutung, dieses Lied könnte durch ein verwandt anmutendes des Danziger Dichters Plavius inspiriert sein ([Anm. 138], S. 232), ist generell durchaus plausibel, wenngleich es sich freilich auch lediglich um eine Parallelstelle handeln könnte. 818 Aus kulturgeschichtlicher Perspektive vgl. z. B. Claudia Ulbrich: Unartige Weiber. Präsenz und Renitenz von Frauen im frühneuzeitlichen Deutschland. In: Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung II. Hg. von Richard van Dülmen. Frankfurt am Main 1990, S. 13–43 sowie der Sammelband von Andrea Geier und Ursula Kocher: Wider die Frau.
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lichter sollen nur auf die entsprechende Texte der Sammlung geworfen werden, in denen Greflinger genüsslich die Register der diesem Themenbereich entsprechenden Rhetorik zieht: In Lied I,6 wird der übertriebene Aufputz eines Mädchens verspottet (s. Analyse Kap. III, 5.3. c), in II,5 hat sich das Sprecher-Ich vom Reichtum einer hässlichen Alten blenden lassen, der „Übelbeweibte“, der eine Witwe geehelicht hat, muss die Launen dieses zänkischen Weibes ertragen (II,10). Die hässliche, naseweise Gretha – auch eine Figur aus der niederländischen Kluchten-Tradition – versucht vergeblich, durch das Studium von Erotikbüchern, übertriebenen Aufputz und bodenloser Angeberei einen Freier zu finden (II,12). Dagegen rühmt das Ich im vorletzten Lied der Sammlung seine unansehnliche, alte Geliebte – anders als junge Frauen versteht sie sich aufs Haushalten und vergeudet ihre Zeit nicht mit Schönheitspflege (Str. 1), sie ist nicht eifersüchtig und dem Ich untertänig ergeben „weil sie sonst kein andrer mag“ (Str. 2), bewachen muss er das „Murmelthier“ auch nicht, denn „ihr ungestaltet Angesicht / | Dient mehr / als keine Festung nicht“ (Str. 3). Besonders sticht schließlich abermals ein ‚Zwillingsgedicht-Paar‘ hervor (I,9; I,10), in dem zunächst die „vortreffliche schöne und Tugend begabte Jungfrau“ gemäß dem petrakistischen Summationsschema dargestellt wird: 1. Gelbe Haare / Güldne Stricke Tauben=Augen / Sonnen=Blicke / Schönes Mündlein von Corallen / Zähnlein / die wie Perlen fallen.
Auch im Folgenden werden die konventionellen Schönheitsattribute litaneiartig aneinandergereit, wobei – wie bereits in der ersten Strophe – der ironische Unterton evident ist. Er wird nicht zuletzt durch die Diminuitiva erzeugt („Lieblichs Zünglein“, „Weisses Hälslein“, „Brüstlein wie zween Zuckerballen“). Auf die
Zur Geschichte und Funktion misogyner Rede. Köln u. a. 2008. Zur Ikonographie vgl. z. B. Maria Warner: Altes Weib und alte Vettel. Allegorien der Laster. In: Allegorien und Geschlechterdifferenz. Hg. von Monika Wagner, Sigrid Weigel. Köln u. a. 1994, S. 51–63. Mit komparatistischem Schwerpunkt: Miroslawa Czarnecka: Misogyne Lachgemeinschaft. Barocke Frauensatire im deutsch-polnischen Vergleich. In: Anthropologie und Medialität des Komischen im 17. Jahrhundert (1580–1730). Hg. von Stefanie Arend, Thomas Borgstedt, Nicola Kaminski, Dirk Niefanger. Amsterdam, New York 2008, S. 357–370. Zum Motiv der Frauensatire im 17. Jahrhundert vgl. JörgUlrich Fechner: Der Antipetrarkismus. Studien zur Liebessatire in barocker Lyrik. Heidelberg 1966. Zur Tradition der Alterssatire vgl. Frank-Rutger Hausmann: Das Thema der häßlichen Alten in der neulateinischen Lyrik Italiens im Quattrocento und seine volkssprachigen und klassichlateinischen Quellen. In: Sprachen der Lyrik. FS für Hugo Friedrich zum 70. Geburtstag. Hg. von Erich Köhler. Frankfurt am Main 1975, S. 264–286.
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gleiche Melodie wird das unmittelbar folgende „An eine sehr häßliche Jungfrau“ gesungen: 1. Graues Haar vol Läuß vnd Nisse / Augen von Scharlack / vol Flüsse Blaues Maul vol kleiner Knochen / Halb verrost vnd halb zerbrochen.
Mit sichtlich großer Sprachlust gestaltet Greflinger auch in den Folgestrophen in grotesken Metaphern die unüberbietbare Hässlichkeit der Jungfrau aus: 2. Blatter=Zunge / krank zu sprachen / Affischs=Zörnen, Narren=Lachen / Runtzel volle magre Wangen / Die wie gelbe Blätter hangen. 3. Hals=Haut gleich den Morianen⁸¹⁹, Arme / die mich recht gemahnen / Wie ein Kind ins Koth gefallen / Brüste wie zween Druckerballen. 4. Du bist so ein Alabaster / Als ein wolberegntes Pflaster / Aller Ungestalt ein Spiegel / Aller Schönen Steigebügel.
Schließlich mündet das Lied in einer Pointe: Während die blonde Schönheit des ersten Stücks, wie es dort heißt, dem Sprecher-Ich „das Herz bestritten“ hat, aber vermutlich – sonst wäre sie ja keine ‚richtige‘ petrarkistische Dame – den schmachtenden Verehrer nicht erhören wird, sind die Chancen, die Hässliche zu erobern, gegeben. Daher wagt das Ich, nachdem es das ungestalte Mädchen nach allen Regeln der antipetrarkistischen Kunst verspottet hat, diesem völlig unerwartet einen Heiratsantrag zu machen: 5. Schimpff der Jungfern vnd der Jugend / Vnhuld aller lieben Tugend / Einöd aller plumpen Sitten / Lästu’ dich zum freyen bitten?
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819 Moriane: „gelehrte weiterbildung des 16. jahrh. zu mohr“. DWb 12, Sp. 2587.
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Eine kleine Gruppe könnte man schließlich unter der Rubrik ‚Trink- und Tanzlieder‘ subsumieren: Das Lied IV,1 „An seine Gesellschaft“ scheint in seiner Eigenschaft als heiteres Tanzlied und zugleich didaktisches Ehelied dabei gleichsam eine Schlüsselrolle innerhalb des Werkes einzunehmen. Es soll in einer Einzelanalyse (Kap. III, 5.1.) später eingehend untersucht werden. Die drei Trinklieder II,2, IV,3 und IV,12 (die übrigens auch metrisch sehr interessant gestaltet sind,⁸²⁰ s. Tabelle im Anhang) entfalten jeweils eine Wirtsstubenszenerie – der paradigmatische Schauplatz von Texten dieses Genres. Da zwei der Lieder – beide haben den gleichen Titel „Ein Bissen zum Trunck“ (II,2 und IV,2) – in dem handschriftlichen Liederbuch eines Leipziger Studenten aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nachgewiesen werden können,⁸²¹ ist anzunehmen, dass hier das textuell inszenierte Setting dem der realen Aufführungssituation entsprechen konnte. Die Lieder breiten die Themen und Motive, die für das Trinklied seit der Antike paradigmatisch sind, aus: Lob des Weines, Herbeirufen des Wirts und der Wirtin, die Aufforderung zum Zuprosten und Trinken, das gesellige Singen, Musizieren und Tanzen sowie die Folgen des Rausches.⁸²² Der Weingenuss steigert die Lebenslust und wirkt erotisch stimulierend: Das Ich in „An eine nasse Compagny“ (IV,3) plant sogar ausdrücklich, seine gesellige Trinktour mit einem Liebesabenteuer zu verbinden („Lasst uns gehen / | Laß uns sehen / | Wo der bäste Wein / | vnd wo auch Jungfern seyn“ Str. 1), doch die Annäherungsversuche an die Wirtin scheitern. Dabei spiegelt sich der gestiegene Alkoholpegel auch in der Artikulationsweise des Sprechers. So ist er nach vier Strophen schon so betrunken, dass er das soeben eintretende Mädchen nur noch lallend und albernd begrüßen kann, um es sogleich ungestüm auf die Tanzfläche zu zerren. * Ein Lied der Sammlung fällt gewissermaßen aus der Rolle: „Der Mars ist nun im Ars“ (IV,9)⁸²³ ist nämlich das einzige Lied, das eine tatsächlich vulgäre Note
820 Insbesondere Nr. IV,3: Die Form ist komplexer, als sie auf den ersten Blick anmutet: Die sieben Verse unterschiedlicher Länge variieren zwischen jambischem und trochäischem Metrum. Hinzu kommen klangliche Finessen (Alliterationen, Anaphern, Assonanzen), so dass tatsächlich „ein sorgfältiger formuliertes Endprodukt, als der behandelte Gegenstand es vielleicht erwarten ließ“, vorliegt. Harper (Anm. 138), S. 237. 821 Wilhelm Krabbe: Das Liederbuch des Johann Heck. In: Archiv für Musikwissenschaft. 4 (1922), S. 420–438. 822 Vgl. Armin Schulz: Art. „Trinklied“. In: RLW 3, S. 686–688. 823 Auch abgedruckt in Poetische Rosen und Dörner, Nr. L.
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hat. Die Obszönität des Textes versteckt sich jedoch hinter einem sehr subtilen, wortartistischen Spiel mit den lateinischen Vokabeln lex-mars-ars, die aufgrund ihrer lautlichen Ähnlichkeit mit volkssprachigen Grobianismen in entsprechende Redensarten integriert werden (so bereits im Titel, oder Str. 7 das ‚Götz-Zitat‘ „Lex mich im Mars“). Dabei wird der humanistische Gedanke, dass sich Kunst und Krieg gewissermaßen gegenseitig befruchten können – der ‚Arte-MarteTopos‘⁸²⁴ – auf drastische Weise verkehrt. Dafür personifiziert und stilisiert Greflinger die drei Begriffe gemäß ihrem grammatischen (lateinischen) Geschlecht – Lex und Ars sind weiblich („O Lieblichkeit im Ars“, „So sonnenklar und lieblich sind Lex, Ars“, „Ars ist so wunder fein“), Mars ist natürlich männlich. Führt nun Mars sein grausames Regiment, versucht er Lex und Ars zu bedrängen und vergewaltigt Ars schließlich. Doch genau im Moment ihrer Vergewaltigung kann Ars ihren Peiniger bezwingen: „Mars befriedigt seine Lust nämlich nicht im fruchtbaren Schoß der Kunst, sondern – und hier darf man den Text ruhig genau lesen – im Anus. […] Der Mars ist nun im Ars, kann daher als drastisches Bild für die Beendigung des Krieges und […] als Ausdruck der unfruchtbaren Verbindung von Mars und Ars verstanden werden.“⁸²⁵ Mars ist somit Opfer seiner eigenen Begierden geworden, nach dem sündigen Geschlechtsakt halten „Lex und Ars den Mars im Zaum“ (Str. 2). Dieses Lied hat in der germanistischen Frühneuzeit-Forschung bereits eine gewisse Aufmerksamkeit erfahren, so dass auf eine ausführliche eigene Interpretation an dieser Stelle verzichtet werden kann.⁸²⁶ Allerdings sollte darauf hingewiesen werden, dass die vorliegenden Deutungen und Lektüren der „Kriegssatire“ den Text als isolierte poetische Äußerung auffassen, da er auch als Flugblatt verbreitet wurde,⁸²⁷ und nicht als Bestandteil einer Liedersamm-
824 Vgl. Claudia Brink: Arte et Marte. Kriegskunst und Kunstliebe im Herrscherbild des 15. und 16. Jahrhunderts. Zur Geschichte eines Topos. Stuttgart 1992. 825 Dirk Niefanger: Lex mich im Mars. Kriegssatire im 17. Jahrhundert. In: Mars und die Musen. Das Wechselspiel von Militär, Krieg und Kunst in der Frühen Neuzeit. Hg. von Jutta Nowosadtko, Matthias Rogg unter Mitarbeit von Sascha Möbius. Münster 2008, S. 75–88, hier S. 78. 826 So unter diskursgeschichtlichen Gesichtspunkten bei Nicola Kaminski: Ex Bello Ars oder Ursprung der „Deutschen Poeterey“. Heidelberg 2004, S. 13 f. Im Kontext der Flugschriftenliteratur, in der die satirische Zusammenführung von ars, lex und mars ebenfalls eine Rolle spielt, vgl. die Hinweise von Jörn Münckner: Eingreifen und Begreifen: Handhabungen und Visualisierungen in Flugblättern der Frühen Neuzeit. Berlin 2008, S. 113 f. 827 Vgl. Niefanger (Lex mich im Mars, Anm. 825), S. 76. Ein Exemplar des Flugblatts in der HAB Wolfenbüttel verzeichnet das VD17: 23:301587A. Die Datierung des VD17 auf „um 1700“ scheint mir nicht plausibel. Der Einblattdruck wird vielmehr aus dem mittleren 17. Jahrhundert stammen, geht es hier doch um das Ende des 30-Jährigen Krieges.
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lung. Vielleicht hat das Lied in dieser textuellen Umgebung programmatischen Charakter – dann wäre die drei Jahre nach Kriegsende erschienene Sammlung selbst als der Beweis für das neue Regiment der heiteren, „lieblichen“ Kunst zu sehen.
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Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Lieder in Seladons Weltliche Lieder weder systematisch nach Themenkreisen angeordnet sind (wie später in der Celadonischen Musa) noch syntagmatisch im Sinne einer zugrundeliegenden histoire (wie in Seladons Beständige Liebe). Vielmehr stellen sie ein bunt zusammengestelltes Potpourri verschiedener Sujets dar, die für das weltliche Lied der Zeit sehr typisch und auch durch die Poetiken legitimiert sind. Die mittlere Stilebene, derer sich Greflinger bedient, indem er Elemente der autochthonen Tradition mit gelehrten Anspielungen und Traditionsbezügen verbindet, dürfte dabei den Geschmack des Zielpublikums (auf das gleich näher eingegangen wird) getroffen haben. Indes ist es fraglich, ob von ‚Volkstümlichkeit‘ die Rede sein kann, was die alte Forschung als Qualitätssignum der Greflinger’schen Lyrik, bisweilen im positiven, bisweilen im negativen Sinne, konstatiert hat. Sujets wie die Frauensatire haben eine gelehrte Tradition und man wird die Vorbilder Greflingers vermutlich eher bei den antiken Satirikern als im ohnehin schwer definierbaren ‚alten Volkslied‘ suchen müssen, was nicht heißt, dass ihm diese Tradition nicht auch bekannt war und dass er sich ihrer produktiv zu bedienen wusste. Einen Kunstanspruch wird man bei Greflinger jedenfalls nicht vermissen. Geht man außerdem von einer performativen Rezeptionssituation aus, entspricht die lose Anordnung der Praxis des Liedgesangs. Keine gesellige Runde singt die Lieder einer Sammlung streng in der abgedruckten Reihenfolge, sondern man entscheidet sich spontan, findet neue Bezüge zwischen entfernt liegenden Liedern, schätzt die Abwechslung von Sujets und der ihnen zugrunde liegenden Affekthaltung. Ein übergeordneter Aspekt, der dennoch fast alle Lieder in irgendeiner Weise berührt, ist das Verhältnis der Geschlechter zueinander. Das mag angesichts der Tatsache, dass es sich um ein weltliches Liederbuch handelt, zwar wenig verwundern. Dennoch ist es interessant zu verfolgen, wie Greflinger gleichsam ein Panoptikum an Bearbeitungsmöglichkeiten dieses basalen Stoffs liefert. In diesem Abschnitt haben wir uns dabei nur auf inhaltliche Aspekte beschränkt. Es hat sich gezeigt, dass viele Lieder dem Bereich der Liebeslyrik zuzuordnen sind. Hier dominiert eine auf Gegenseitigkeit und Treue basierende Liebeskonzep-
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tion,⁸²⁸ während das petrarkistische Modell ironisch bzw. in seiner satirischen Spielart (Antipetrakismus⁸²⁹) aufgegriffen wird. Heimliche Liebe, innige Liebesschwüre und Treueversprechen, Abschiedsszenen, Liebe eines Mädchens zu einem einfachen, aber attraktiven und charaktervollen Jüngling – auf diese Stichpunkte lassen sich Themen dieser Liedgruppe im Wesentlichen bringen. Ein Großteil der Stücke steht demgegenüber im Zeichen von Satire und Burleske. Sterotype Figuren aus der europäischen Typensatire wie der lüsterne Greis, die weltliche Nonne, die nönnische Jungfrau, der alamodische Prahlhans, die naseweise Grethe und vor allem der Hagestolz treten hier auf. Auch bei ihnen geht es stets um Fragen, die Liebe und Ehe betreffen, natürlich im derberen Ton und manchmal die Zone des Vulgären streifend. Zentral sind hier die Topoi der (literarischen) Misogamie- und Misogynietradition. Dennoch hält sich Greflinger aufs Ganze gesehen mit Obszönitäten stark zurück und versteigt sich nie in allzu gewagte Sphären der ‚musa iocosa‘. Wenn es gewissermaßen ‚unter die Gürtellinie‘ geht, dann im eleganten Rahmen eines humanistischen Sprachspiels („Der Mars ist nun im Ars“). Eindeutig ist der Unterhaltungswert schon allein aufgrund dieses Themenspektrums hoch zu veranschlagen. Hervorzuheben sind auch das durchaus innovative Wortmaterial und die gelungenen Pointengestaltungen. Charakteristisch ist außerdem die ‚Vielstimmigkeit‘ der Lieder. Das Spektrum der Sprecher hat sich im Vergleich zu der personalen Begrenzung in Seladons Beständige Liebe (im Wesentlichen auf Flora und Seladon) maßgeblich erweitert, was den heterogenen Eindruck, den die Sammlung vermittelt, verstärkt. Da es sich außerdem fast ausschließlich um Rollenlyrik handelt, konnten die Ausführenden dabei die entsprechenden Charaktere wie in einer Theaterszene singend darstellen und ein größeres Vergnügen als das Rollenspiel gab es für den ‚homo ludens‘ der Barockzeit wohl nicht. Es bleibt zu fragen, ob sich die Lieder aus rezeptionshistorischer Sicht mit der Funktion
828 Zu dieser Konzeption und ihrem ideengeschichtlichen bzw. konfessionellen (protestantischen) Kontext im petrarkistischen Diskurs bzw. in Hinblick auf die Sonettistik vgl. Borgstedt (Anm. 636), S. 332–340, der in diesem Zusammenhang die Bedeutung des protestantischen Eheverständnisses und des neostoizistischen Gedankenguts diskutiert. Das Treuemotiv bzw. eine Liebeskonzeption, die die Gegenseitigkeit ins Zentrum stellt, hat natürlich auch andere Traditionsbezüge. Hier ist vor allem an das Volkslied zu denken. 829 Der Begriff ist umstritten. Im Zentrum der Studie Fechners (Anm. 818) steht die Frauensatire, die jedoch von der neueren Forschung als außerpetrarkistisches Motiv gesehen wird. Vgl. Borgstedt (Anm. 636), S. 299. Zur Kritik an Fechners weitem Begriff des ‚Antikpetrarkismus‘ vgl. aus romanistischer Sicht Ulrich Schulz-Buschhaus: Antipetrarkismus und barocke Lyrik. Bemerkungen zu einer Studie Jörg-Ulrich Fechners. In: JbR 19 (1968), S. 90–96. Vgl. auch die Diskussion der Positionen von Fechner, Schulz-Buschhaus und Jochen Schmidt bei Borgstedt (Anm. 636), S. 298 f.
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der Unterhaltung auf durchaus avanciertem literarischem Niveau begnügen. Die meisten weltlichen Liederbücher der Zeit geben als ihr Programm an, Sitten und Tugend zu fördern und warten entsprechend mit einer Vielzahl von Tugendliedern auf. Dieser prodesse-Anspruch ist bei Greflinger vielleicht weniger ostentativ herausgestellt, doch ist das moraldidaktische Potential der Sammlung nicht zu übersehen. Manche Lieder muten sogar wie die Poetisierung polizeilicher Verordnungen an. So wird zum Beispiel der übermäßige Aufputz einer Jungfrau, der in mehreren Liedern dem Spott anheim fällt, auch in den offiziellen Verkündigungen der Obrigkeit angeprangert und zu Mäßigung aufgefordert. Die heikle Situation einer Jungfrau, die sich heimlich ohne Wissen der Eltern verlobt hat und schließlich entehrt verlassen wird, verhandeln die Lieder genauso wie die zeitgenössischen Verordnungen.⁸³⁰ Parallelen ließen sich freilich auch in christlichen Moraltraktaten, in Flugschriften u. v. m. aufzeigen. Der zentrale Aspekt wird in Liedern wie „Lasset uns Schertzen“, in den tändelnden Eröffnungsliedern und sogar in den Hylas-Liedern bzw. ihren Widerrufen manifest: Das eigentliche irdische Glück findet man abseits von Unzucht und Lasterhaftigkeit im gottgewollten Stand der Ehe, die auf Grundlage von gegenseitiger Zuneigung und Treue zwischen zwei jungen Menschen geschlossen werden soll.⁸³¹ Insofern berücksichtigt Greflinger auch die Vorgaben seines Lehrers August Buchner, der in seinen Anweisungen zur Lyrica gefordert hatte, die „Menschen zur Tugend aufzumuntern / als auff Leichtfertigkeit zu führen“.⁸³²
830 Aus entsprechenden Verordnungen ließen sich zahllose Beispiele anführen. In Bezug auf Greflingers Aktionsradius sind die Ausführungen für das Herzogtum Lüneburg interessant. Fürstlich Braunschweig-Lüneb. Zellischen Theils Polizey-Ordnung und andere zu deren Erläuterung dienende […] Verordnungen, Mandata und Constitutiones nunmehro auff Fürstl. Verordnung wieder auffgelegt und zusammen gedrucket […] Hannover 1700, Kap. XXV (Von Kleidungen, Ketten, Kleinodien), Kap. XXX (Eheschließung). 831 Ein weiteres Beipsiel für die zentrale Ehethematik: „Bleib mein Du edle Rosimund Halt fest an unseren Bund Gott wird bald unser Helffer seyn Rosimund halt gute Prob Es ist dein Ruhm und grosses Lob Bleib mein ich bleibe dein Der Todt soll Scheyd mann seyn Gedenck an unsern Liebes-Bund Du allersüste Rosimund“ (An die getreue Rosimund, I,8). 832 August Buchner: Anleitung zur Deutschen Poeterey. (Ed. Szyrocki), S. 40 f.
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3.4 Aspekte der musikalischen Gestaltung Um die musikalische Seite der Sammlung adäquat beschreiben zu können, muss ein wenig ausgeholt werden. Beginnen wir daher mit einem kleinen Exkurs zur Begrifflichkeit: Was ist überhaupt ‚das Lied‘ in der Barockzeit? Und daran anschließend: In welcher Gestalt präsentiert es sich in dieser Epoche allgemein und dann im Speziellen bei Greflinger? Der Terminus „Lied“⁸³³ – die Bezeichnung für eine, in ihren historischen Erscheinungsformen äußerst variable musikoliterarische Gattung⁸³⁴ – bezieht sich im
833 Das Lied als Gattung wird weder in der Musiktheorie noch in den Poetologien der Zeit definiert, wenngleich der Begriff „Lied“ in zahlreichen Titeln von Druckwerken erscheint und ebenso in Theorietexten genannt wird. Martin Opitz bestimmt im antiken Sinne (griech. lyra = Leier) und mit Rückgriff auf Scaliger Gedichte, die mit Musikbegleitung vorgetragen werden können, als „Lyrica“, dazu zählt er auch die „Hymni oder lobgesänge“ und die „Sapphischen Gesänge“. Statt von „Lied“ spricht er von „Ode“, was wohl im Kontext seiner dezidierten Abkehr von der älteren volkssprachlichen Dichtungstradition des 15. und 16. Jahrhunderts zu verstehen ist, denn der Begriff „Ode“ unterstreicht den gelehrten Kunstanspruch der neuen deutschen Dichtung. Diese terminologische Trennung verläuft sich im Laufe des Jahrhunderts: Justus Georg Schottel, um ein weiteres prominentes Beispiel zu nennen, definiert in seiner Abhandlung Von der Teutschen HaubtSprache (1663) recht weitgreifend: „Die Oden / sind die Lieder / Gesänge oder Gedichte / derer Anstellung / Ordnung / Einrichtung und Verschrenkung schlechter dings frey und nach beliebung zu erwehlen ist.“ (Justus Georg Schottel: Von der Teutschen HaubtSprache. [Ed. Hecht], S. 992). Auch andere Theoretiker, z. B. Buchner, Titz, Zesen, Harsdörffer, Kindermann und Neumark verwenden „lyrische Gedichte“, „Lied“ und „Ode“ weitgehend synonym. Vgl. Aurnhammer/Martin, (Anm. 80), S. 335. Das grundlegende Werk der zeitgenössischen deutschen Musiktheorie, Michael Praetorius’ Syntagma musicum (1619), in dem unter anderem die wichtigsten Termini der aus Italien einströmenden Musica Nuova definiert werden, erläutert den Begriff „Lied“ nicht, sondern fügt ihn ohne terminologische Begriffsbestimmung der übergeordneten Kategorie „Aria“ bei. (Michael Praetorius: Syntagma musicum. Bd. 3: Termini Musici. Wolfenbüttel 1619. (Ed. Gurlitt), S. 16 ff.; vgl. auch Krummacher (Geistliche Aria, [Anm. 691] S. 231 ff.). Noch die wichtigsten Theoretiker des frühen 18. Jahrhunderts, Johann Mattheson und Johann Gottfried Walther, definieren zwar „Aria“, „Lied“ wird jedoch nicht als eigene Gattung aufgefasst (ebd., S. 235); zur Begriffsgeschichte von „aria“ und Verwandten vgl. Wolfgang Ruf: Art. „Aria / air / ayre / Arie“. In: Handbuch der musikalischen Terminologie. Hg. von Albrecht Riethmüller. Stuttgart [1993/Artikeljahr, da Loseblattslg.], S. 20 f. Die Definition der weltlichen Gattungen ist dabei meist im Kontext der Behandlung der verschiedenen musikalischen Stile anzutreffen und daher unter Berücksichtigung möglicher Modelle aus der Literatur zu untersuchen. Vgl. den Überblick zur „Stil-Lehre“ von Werner Braun: Deutsche Musiktheorie von Calvisius bis Mattheson. Darmstadt 1994, S. 376–379. 834 Argumente gegen eine epochenübergreifende Verwendung des Liedbegriffs führt Danuser (Musikalische Lyrik, Anm. 714, S. 11–33) auf.
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17. Jahrhundert zunächst auf strophisch gebaute Texte, deren metrische Gestalt an Modellweisen orientiert ist und die sich bis zu einer Neuvertonung gewissermaßen „in Warteposition […] mit bekannten Melodien“ begnügen.⁸³⁵ Die schlichte textuelle Faktur lud also gleichsam zur (Neu-)Vertonung ein.⁸³⁶ Doch blieben viele Dichtungen der Zeit unvertont bzw. waren nicht mit Notenmaterial ausgestattet, was nicht bedeutet, dass es sich um Leselyrik handelt. Dieser Umstand hat gleichwohl noch in jüngerer Zeit zu der sachlich schlicht unzutreffenden Behauptung geführt, dass „in der Dichtung des Barock […] das Lied als rein literarisches Gebilde gepflegt worden“⁸³⁷ sei. Vielmehr waren Modelltöne bekannt und auf eine bestimmte Aria oder „Melodey“ konnten diverse Texte gesungen werden bzw. anhand des Strophenschemas konnten entsprechend gebildete Menschen sofort erkennen, welche Melodie zu dem vorliegenden Lied gesungen werden konnte. Das ist auch ein Grund dafür, warum das Barocklied ungleich reicher literarisch als musikalisch überliefert ist.⁸³⁸ Der Status musikalischer Notation ist in der Frühen Neuzeit einfach ephemerer als der des Worttextes, man denke zum Beispiel auch an die Überlieferungssituation der frühen (deutschen) Oper.⁸³⁹ Ist einer Sammlung Notenmaterial beigefügt, wird dieses durch Präpositionalergänzung im Titel explizit hervorgehoben.⁸⁴⁰ Zweifelsohne bedeutet das Vorhandensein musikalischen Materials eine Wertsteigerung gegenüber Liedersammlungen, die zum Beispiel nur mit Thonangaben versehen sind. Jedenfalls herrschte die Auffassung vor, dass Musik zum Gedicht hinzukommen müsse,
835 Braun (Anm. 699), S. 167. Diese Modellweisen können annonciert sein oder waren für den zeitgenössischen Rezipienten aufgrund der Strophenform leicht identifizierbar. 836 Vgl. dazu Harpers Untersuchung zu Hammerschmidts Fleming- und Homburg-Oden. Zur Verbreitung und Rezeption des weltlichen Liedes um 1640 in Mittel- und Norddeutschland. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Gudrun Busch, dems. Amsterdam, Atlanta 1992, S. 33–52, hier S. 39–44. 837 Wiora (Anm. 707), S. 70. Weiter heißt es hier: „Solche literarischen Gedichte sind Lyrik ohne Lyra“, auch wenn sie in diesem Namen auf den Gesang zurückwiesen. 838 Braun (Anm. 699), S. 167. 839 Nur etwa 5 % des musikalischen Materials sind von der frühen deutschen Oper erhalten; die Libretti sind hingegen nahezu vollständig überliefert. Jahn (Anm. 714), § 25. 840 Braun (Anm. 699), S. 167. Man denke zum Beispiel an Gabriel Voigtländers Allerhand Oden vnd Lieder welche auff allerley […] Melodien und Arien gerichtet oder Caspar Stielers Die Geharnschte Venus oder Liebes=Lieder […] mit neuen Gesangsweisen gesezzet. Mit „Liedern“ sind bei Albert die strophischen Texte gemeint, zu denen der Komponist die Musik – die „Arien oder Melodeyen“ – beisteuert. David Schirmer will seinen „ungeschmackten Liedern eine Liebligkeit durch die Musik“ verleihen (David Schirmer: Singende Rose oder Liebes- und Tugend-Lieder. Dresden 1654. [Ed. Harper], Vorrede an den Leser, b.).
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damit man überhaupt von einem „Lied“ (oder einer „Ode“) sprechen könne. Mehrfach bedienen sich Autoren der Metaphorik, dass die Musik den an sich toten Buchstaben erst „rechtes Leben“ einhauche oder die Worte „beseelet“;⁸⁴¹ der Rekurs auf Luthers Musikverständnis ist (nicht nur) bei dem protestantischen Pfarrer Rist evident,⁸⁴² auch die alte Idee einer mythischen Einheit von Singen und Sagen schwingt wohl mit. Die generalisierende Behauptung, dass im 17. Jahrhundert „Liedmelodien […] im Grunde nicht mehr als ein aufgesetzter Schmuck“⁸⁴³ seien, sollte nicht zuletzt vor dem Hintergrund solcher Bekenntnisse hinterfragt werden. Interessanterweise galt manchen Poeten übrigens auch umgekehrt eine textlose „Melodey“ als ‚seelenlos‘: Was ist ein gutes Lied, wann daß es nicht erklinget? Was ist ein guter Ton, wann er nit etwas singet? / Du gibest der Musik die Seel, sie dir den Mund / So wird erfreut die Welt durch euren süssen Bund,
schreibt Sigmund von Birken.⁸⁴⁴ Doch wie kam es zur ‚Beseelung‘? Die Möglichkeiten klangen bereits an: Zum einen entstand das deutsche Barocklied „aus der Kooperation von Fachleuten des Worts mit solchen des Tons.“⁸⁴⁵ Manchmal
841 Johann Rist: Neue Himmlicher Lieder Sonderbahres Buch. Lüneburg 1651, Vorbericht, S. 3 f.; Neues Musikalisches Seelenparadis, Theil I, S. 38. Auch Opitz schreibt in den Deutschen Poemata, dass er sich geehrt fühle, dass Schütz und Nauwach seine Texte vertont hätten. (An. H. Johann Nauwach. […] „Was aber soll nun mir / o Nachwach / von dir ahnen / | Mir / der ich eine gans bin bey gelehrten schwanen / | Das du mein Kinderspiel mit solchem Eyfer liebst / | Vnd durch dein singen jhm erst seine Seele giebst?“ Martin Opitz: Gesammelte Werke. Teil IV /2: Die Werke von Ende 1626 bis 1630. Hg. von George Schulz-Behrend. Stuttgart 1990, S. 495 f.). Schon im Buch von der deutschen Poeterey werden die „saphischen [!] Gesänge“ als sangbare Lyrik betrachtet; auch hier ist die Rede von den Tönen als dem „leben und [der] Seele der Poeterey“, wenngleich die folgende Sappho-Darstellung – wie Braun wohl zurecht bemerkt – Opitz’ „Bekenntnis weiter ins Zwielicht [rückt]“ (Thöne, Anm. 237, S. 92). Opitz: „[…] gantz verzucket, mit uneingeflichtenen fliegenden haaren unnd liebllichem anblicke der verbuhleten augen, in jhre Cither, oder was es gewesen ist, gesungen […]“. Ed. Jaumann, S. 61 f. Zum ‚Topos‘ der Beseelung durch Töne, der im 17. Jahrhundert von vielen weiteren Autoren aufgegriffen wird, vgl. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 90–93. 842 Man denke zum Beispiel an diverse Äußerungen in den Tischreden, den Gesangbuchvorreden und an das „Encomion musices“. Vgl. Stalmann (Anm. 765), Sp. 645–649. 843 Heinrich W. Schwab: Sangbarkeit, Popularität und Kunstlied. Studien zu Lied und Liedästhetik der mittleren Goethezeit. 1770–1814. Regensburg 1965, S. 23. 844 Birken Wälder zitiert nach Braun (Thöne, Anm. 237), S. 92. 845 Ebd., S. 93. Als ein soziologischer Unterschied ist zu betonen, dass es sich bei den Musikern im Gegensatz zu den Literaten tatsächlich um professionelle Künstler handelt, denn ‚Musiker‘ ist im Gegensatz zu ‚Poet‘ ein Berufsstand.
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wurde die Zusammenarbeit abgesprochen und die Ergebnisse wurden diskutiert und modifiziert, wie beispielsweise im Fall von Rist und seinen musikalischen Mitarbeitern.⁸⁴⁶ Häufig war man sich dabei – analog zur topischen Geschwisterschaft der Künste – auch persönlich in enger Freundschaft verbunden (man denke an Dach und Albert oder Rist und Pape, die sogar verschwägert waren). Vielleicht ähnlich wie später Goethe seinen Komponisten dankt, schreibt Rist über die Vertreter der Schwesterkunst: „[…] ihr seid die eigentlichen Brüder / rechtgeschaffener Poeten / durch euch leben unsere Lieder und Gesänge“.⁸⁴⁷ Einige Textautoren ohne entsprechende Kontakte hofften auch einfach, mit ihren Werken das Interesse eines namhaften Vertoners zu wecken. Andere wiederum waren in der Lage, ihre Texte selbst zu vertonen, wobei das Spektrum der musikalischen Leistung hier breit war: von kurzen Angaben, auf welche Weise ein Lied zu singen sei (Christian Brehme⁸⁴⁸), bis hin zu ausgearbeiteten Partituren (Christoph Kaldenbach⁸⁴⁹). In der Regel war aber seit Opitz üblich, dass die Poeten sich um den Liedtext, die Musiker um die Aria kümmerten. Dichtende Musiker – der Typus des Liedautors wie wir ihn bis ins frühe 17. Jahrhundert vorwiegend antreffen (besonders zu erwähnen ist Jakob Regnart⁸⁵⁰) – treten mit dem Erfolg der Poetikreform in den Hintergrund.⁸⁵¹ Die Tendenz geht zu Ausdifferen-
846 Vgl. hierzu Krabbe (Anm. 433). 847 Johann Rist: Neues Musikalisches Seelenparadis, I. Theil. Lüneburg 1660, Vorbericht, S. 38. 848 Christian Brehme: Allerhandt Lustige / Trawrige / vnd nach gelegenheit der Zeit vorgekommene Gedichte (1637). Mit einem Nachwort, Bibliographie und einem Neudruck der „Weltlichen Gedichte“ (1640). Hg. von Anthony J. Harper. Tübingen 1994. Vgl. auch Braun (Anm. 39). 849 Christoph Kaldenbach: Deutsche Sappho oder Musicalische Getichte, so wol mit lebendiger Stimme, als unter allerhand Instrument, auch wol von einer Person allein zugleich zu spielen und singen, gesetzt. Königsberg 1651. Auswahl aus dem Werk. Hg. und eingeleitet von Wilfried Barner. Tübingen 1977. 850 Zur literatur- und musikwissenschaftlichen Bedeutung des Dichtermusikers vgl. Ludwig Finscher, Silke Leopold: Volkssprachige Gattungen und Instrumentalmusik. In: Die Musik des 15. und 16. Jahrhunderts (2. Teil). Hg. von Ludwig Finscher. Wiesbaden 1990, S. 437–607; Walter Brauer: Jakob Regnart, Johann Herrmann Schein und die Anfänge der deutschen Barocklyrik. In: DVjs 17 (1939), S. 371–405. Zu den dichtenden Musikern des späten 16. Jh. vgl. auch Katharina Bruns: Das deutsche Lied von Orlando di Lasso bis Johann Hermann Schein. Zürich 2006, S. 57 ff. – eine wichtige neuere Studie zu mehrstimmigen Formen und italienischen Adaptationen. 851 Diese kultursoziologisch bemerkenswerte Kompetenzverschiebung müsste näher untersucht werden: So trugen noch bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein Musiker die Hauptverantwortung für Liedersammlungen. Sie bedienten sich einfach anonym überlieferter Texte, zum Beispiel aus den Sammlungen Georg Forsters, oder griffen unbesorgt selbst zum Federkiel. Spätestens in der Generation nach Opitz ändert sich das Verhältnis d. h. „Aufstieg der Poetenzunft und Spezialisierung der Musiker auf das Komponieren“. Braun (Musik, Anm. 699), S. 231.
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zierung und Professionalisierung. Bei Greflinger liegt ein weiterer Modellfall vor: Wir finden hier bei 34 der 48 Stücke vollständige Tonsätze, die zum Großteil als unmarkierte Übernahmen aus populären, aktuellen Sammlungen identifiziert werden können. Diese Tonsätze übernimmt Greflinger und textiert sie neu – ein an sich durchaus verbreitetes Verfahren, gewissermaßen die zeitgemäße Entsprechung der alten Methode der „Bereimung von Tönen“.⁸⁵² Doch legen die meisten Autoren, die fremde Tonsätze – eine ausgereiftere musikalische Form als eine bloße einstimmige ‚Weise‘ – übernehmen, im Gegensatz zu Greflinger auf Herkunftshinweise wert.⁸⁵³ Einige Liedsätze können nicht in Sammlungen anderer Autoren nachgewiesen werden. Es ist also durchaus denkbar, dass Greflinger einfache Kompositionen selbst anfertigen konnte. * Betrachtet werden soll nun zunächst jedoch die musikalische und metrische Faktur der 34 Lieder, die mit Tonsatz versehen sind, und zwar ohne Berücksichtigung von Übernahmen, sondern so, wie sie vorliegen. Auf Aspekte, die das Produktionsverfahren betreffen, wird später eigens einzugehen sein. Die Musik, mit der die erste Strophe verbunden ist (graphisch deutlich markiert durch Textunterlegung), wird auch zu allen Folgestrophen intoniert. Anderer musikalischer Alternativen bedient sich Greflinger nicht: kein Lied der Sammlung ist zum Beispiel ‚durchkomponiert‘. Auch die italienischen Techniken wie der Rezitativstil⁸⁵⁴ oder die strophische Variation über ein fixes Bassmodell, die sog. „Strophenmonodien“⁸⁵⁵, die im deutschen Barocklied vor allem von Caspar Kittel und Johann Nauwach angewandt wurden,⁸⁵⁶ sind bei Greflinger genauso wenig anzutreffen wie das u. a. von Schütz⁸⁵⁷ angewandte Prinzip der Wechselstrophigkeit.⁸⁵⁸ Hierin spiegelt sich in gewisser Weise auch Greflingers
852 Ebd., S. 172. 853 Zu Albert in diesem Kontext s. Leopold Hermann Fischer: Fremde Melodien in Heinrich Albert’s Arien. In: VfMw 2 (1886), S. 467–481. Auch Caspar Stieler weist auf Übernahmen hin. Vgl. Braun (Musik, Anm. 699), S. 168. 854 Hierfür gibt es im deutschen Lied des 17. Jahrhundert ohnehin nur sehr wenige Bespiele. Voigtländers „Ihr Jungfer höret“ (Oden und Lieder, XXVI) ist eine Ausnahme. 855 Braun (Musik, Anm. 699), S. 157–159. 856 Caspar Kittel: Arien und Cantaten. Dresden 1638. Hg. von Werner Braun. Winterthur 2000 u. a. Nr. 1–5. Es ist umstritten, ob Kittels und Nauchwachs Arien als Lieder gelten können. Es handelt sich wohl doch eher um Monodien im italienischen Stil. 857 Ein bekanntes Beispiel: die konzertante Kanzonette „Tugend ist der beste Freund“ SWV 422. 858 Bei dieser Vertonungsmöglichkeit werden, wie der Name schon sagt, zwei eng miteinander verwandte Vertonungen des jeweiligen Gedichtschemas abwechselnd gesungen. Schütz stellt
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musikalische Sozialisation vor allem in protestantischen (Reichs-) Städten, wo der italienische Stil generell weniger stark präsent war. Außerdem handelt es sich bei den genannten Autoren natürlich um professionelle Musiker, die von Berufs wegen schon einen höheren Anspruch erfüllen. Die strophische Vertonung eines Liedes stellt im Vergleich dazu freilich eine sehr schlichte Variante dar.⁸⁵⁹ Gleichwohl ist auch hier ein sachkundiger Umgang bei der Vereinigung beider Kunstformen vonnöten – sowohl, was die Performanz (auch dazu später) als auch, was die Produktionsseite betrifft. So funktioniert das strophische Prinzip – dass also alle Strophen auf dieselbe Melodie gesungen werden können – bei Greflinger zunächst einmal gut, weil er auf die strukturelle Übereinstimmung aller Strophen eines Liedes achtet. Für einen Dichter, der über musikalische Sachkompetenz verfügt, muss das Erfordernis dieser Korrespondenz ohnehin evident sein, wie Harsdörffer schreibt: Es sollen die Lieder in allen Gesetzten [d.i. Strophen] […] gleiche Bindungen haben / daß ich in dem ersten Satz einsylbige Wörter gebraucht / in den folgenden gleichfals einsylbige Wörter halten soll […]. Dieses wird von denen / so der Music kundig sind / leichtlich verstanden werden.⁸⁶⁰
Dabei hält sich Greflinger an die Regeln der Opitz-Reform, so dass in seinen Versen Versakzent und natürlicher Wortakzent zusammenfallen. Das Hinzutreten der musikalischen Dimension erschwert jedoch die regelkonforme Gestaltung der Lieder. Es muss nämlich zusätzlich vermieden werden, dass der „Singe-toon (accentum melicum) auff die sylbe / da der verß-accent (accentus metricus) nicht steht “⁸⁶¹ gesetzt wird, da doch beyde gleich fallen sollen; also / welche sylbe im reden lange ausgesprochen und erhoben wird / die soll auch hernach in versen und singen erhoben und lang gebraucht
beispielsweise in „Tugend ist der beste Freund“ einfach die beiden Strophenvertonungen nach dem Muster ABAB hintereinander. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 371; ders. (Musik, Anm. 699), S. 147–150. Zu weiteren alternativen Vertonungsmöglichkeiten von strophischen Texten im Barock vgl. Braun (Anm. 237), S. 371 ff. 859 Zur ‚Grundform‘ des „einfache[n] Strophenlied[es]“ vgl. die Ausführungen bei Wiora (Anm. 707), S. 22 ff. 860 Poetischer Trichter. Die Teutsche Dicht= und Reimkunst […] Nürnberg 1648, 1650, 1653. Nachdruck Darmstadt 1969, I, S. 53. Auch andere Poetiker wie Zesen in seinem Deutschen Helicon fordern die Isometrie strophischer Texte in Hinblick auf ihre Vertonbarkeit. Vgl. Philipp von Zesen: Deutsches Helikons Erster und Ander Theil […] Wittenberg 1641. (Sämtliche Werke IX, S. 59–69 [„Von der Zusammen=ordnung der Verse“]). 861 Ebd. „Von art / maß und zugeör der Deutschen Verse“, S. 26.
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werden; ists also unrecht / wie in alten Liedern sehr offt vorgeht / da zwar in der ersten strophe des Lieds der Vers recht Jambisch und eine rechte melodey (da der sing= und vers=accent auf gleiche sylben fallen) bekömpt / die andern strophen schon bißweilen Trochäos mit untergemischet haben / da sich denn die meolodey des accents halben nicht schicket. […] muß also ein trochäischer Vers auff lautern reinen Trochäis / und ein Jambischer auff lautern reinen Jambis bestehen / welches die Componisten auch wissen und in acht nehmen sollen.⁸⁶²
Die „mildernde Kraft der Melodie“⁸⁶³, die eine unregelmäßige Metrik im Volkslied quasi kaschiert (Opitz’ großer Kritikpunkt an der älteren Dichtung), darf ein moderner Autor folglich nicht in Anspruch nehmen.⁸⁶⁴ Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die Schwierigkeit besteht darin, sicherzustellen, dass die sprachliche Deklamation nicht nur ‚autonom‘, sondern auch im Verbund mit der Musik korrekt bestehen bleibt, dass also auf metrische Akzente ‚schwere‘ Taktzeiten – in zeitgenössischer Terminologie ‚nobiles‘ – treffen müssen.⁸⁶⁵ Die qualifizierende Prosodie des Deutschen muss mit dem quantitativen Ordnungsmaß der Musik kompatibel gemacht werden. Das Problem lässt sich an einem ‚Fehler‘ verdeutlichen, der im Lied I,5 festzustellen ist. Die erste Strophe lautet: Weil mein Schatz ist weggezogen / Durch die ungestümme Wind’ Und die grossen Wasser=Wogen / Die dem Menschen untrew sind / Darumb ist mein junges Leben Aller Traurigkeit ergeben.
862 Ebd., S. 26 f.. 863 Wolfgang Kayser: Geschichte des deutschen Verses. Bern, München 1960, S. 28. 864 „Lose[r] Gruppenbau mit unregelmäßigem Umfang der Strophenkörper“ können als Merkmale des deutschen Volksliedes bezeichnet werden. Dietz-Rüdiger Moser: Metrik, Sprachbehandlung und Strophenbau. In: Handbuch des Volksliedes. Bd. 2. Hg. von Rudolf Wilhelm Brednich u. a. München 1975, S. 113–174, hier S. 114. 865 Zur Analogie zwischen musikalischer und poetischer Metrik im Barock vgl. Braun (Anm. 237), S. 316–319 auch mit Bezug auf die zeitgenössische Musiktheorie (Printz). Auffällig ist, dass diese hinsichtlich metrischer Fragen die worttextlichen Bedingungen jedoch nur knapp und lediglich in Bezug auf biblische Prosa behandeln. (Ebd., S. 319). Siehe auch Wilhelm Seidel: Art. „Rhythmus, Metrum, Takt.“ In: MGG², Sachteil 8, Sp. 257–317. Zum Problem überhaupt unter besonderer Berücksichtigung Schützens vgl. Thrasybulos Georgiades: Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Musik. Dargestellt an der Vertonung der Messe. Berlin 1954.
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Das Metrum ist ein regelmäßig alternierender trochäischer Vierheber, auf eine im Kreuzreim verschränkte Versgruppe (abab) folgt ein Paarreimvers (cc), der der Strophe einen gewichtigen, epigrammatischen Abschluss verleiht.⁸⁶⁶ Interessanterweise wird nun auf musikalischer Ebene das intakte Metrum in den b-Versen zerstört, indem der zweite Teil des ‚trochäischen‘ Wortes „ún-ge-stúmme“ der Folge Viertelnote-Halbenote entspricht. Deshalb wird beim Singen falsch betont: „ún-ge-stüm-mé“. Die gleiche Betonungsverschiebung findet in Vers vier auf das Wort „untreu“ statt.⁸⁶⁷ Es ist schwer zu sagen, ob diese Auffälligkeit auf Unachtsamkeit beim Kontrafazieren zurückzuführen ist. Andererseits lässt sich für dieses sarabandenartig anmutende Lied, „Eine Jungfraw uber ihres Liebsten Abreyse“, keine konkrete musikalische Vorlage identifizieren – es könnte sich also auch um eine Originalvertonung bzw. die Anverwandlung einer (anonymen) Tanzweise handeln. Vor diesem Hintergrund ist unbedingt an eine textausdeutende Intention an diesen Stellen zu denken: Die bedrohlichen Meeresstürme können zwar in die regelmäßige Gedichtform gebannt werden, die Musik jedoch unterminiert die beruhigende Ebenmäßigkeit und holt die Gefahr gewissermaßen wieder in die Präsenz – für eine effektvolle Interpretation wird eine Sängerin die rhythmischen Verschiebungen dementsprechend besonders akzentuiert haben. Die Betonungsverschiebung des trochäischen Wortes „untreu“ passt ebenfalls zu dieser Überlegung. Und ein Blick auf das gesamte Stück zeigt, dass Greflinger auch in den sechs Folgestrophen an den korrespondierenden Positionen im zweiten und vierten Vers mehrmals Begriffe wählt, die sich in das semantische Feld ‚Unberechenbarkeit‘, ‚Naturgewalt‘, ‚Leid‘ fügen („Uber meinem Ach únd
866 Opitz wählt die Form für die Hohelied-Paraphrase „Liebster, sagt in süßen Schmerzen“; in der Folge wird er auch für Liebeslyrik beliebt. Vgl. Frank (Anm. 284), S. 473 f. Flemings Lied „Elsgens treues Herz“ („Ein getreues Herze wissen“), das dem gleichen Schema folgt, könnte inhaltlichen Vorbildcharakter für das Greflinger-Lied gehabt haben. 867 Genau diese Probleme werden in den 1640er- und 1650er-Jahren immer wieder thematisiert. So kritisiert Zesen im Deutschen Helicon (1641) den berühmten Liedvers „Wie schön leuchtet der Morgenstern“ und schlägt stattdessen u. a. „Wie schön leucht doch der Morgenstern“ oder „Wie schön leucht uns der Morgenstern“ vor. (Sämtliche Werke IX, S. 26). An der zweiten Ausgabe von Homburgs Schimpff- und Ernsthaffte Clio lässt sich beobachten, wie der Autor genau solche Fehler der Erstausgabe korrigiert. In der Tat hat die Zunahme an theoretischen Reflexionen in diesen Jahrzehnten zu einer erhöhten Sensibilität hinsichtlich metrischer Probleme seitens der Autoren geführt. Auch die Lieddichtung bekommt dadurch mehr ‚Schliff‘. Allerdings barg die Furcht davor, metrische Fehler zu begehen, auch die Gefahr allzu ‚polierte‘ Verse zu verfassen. Vgl. dazu Ferdinand van Ingen: Die singende Muse und der „Kunst-Verstand“. Zu Ernst Christoph von Homburg. In: Virtus und Fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. FS für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag. Hg. von Joseph P. Strelka, Jörg Jungmayr. Bern u. a. 1983, S. 406–426.
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Weh“ 2. Strophe, „bald kommt mir die Nord=Sée für“ 4. Strophe, „Donner / Blitz und Hagél ziehen“, 5. Strophe, „Nie von Weinen truckén sein). Bei einem anderen Stück scheint hingegen kein vitium zugunsten einer Wortausdeutung vorzuliegen, sondern tatsächlich eher Unachtsamkeit:⁸⁶⁸ Im Lied II,3 entspricht das ‚trochäische‘ Wort „Göttin“ der Folge Achtelnote-Viertelnote, was zu einer falschen Betonung der zweiten Silbe führt („Steh auf du Irdische Göttín“). Doch hier hat sich schon auf der Textebene ein metrischer Fehler eingeschlichen: Richtigerweise hätte an diese Stelle ein einsilbiges Wort gestellt werden müssen (wie es in den Folgestrophen auch geschieht, z. B. Strophe 2: „Zeit“), der Versakzent kollidiert mit dem natürlichen. Auch das eigentlich daktylische Wort „irdische“ wirkt unelegant in das jambische Metrum gepresst (Steh áuf du Írdisché Göttín). Die Schwächen der Textunterlegung weisen auf Kontrafaktur hin: Das metrische Schema entspricht beispielsweise exakt dem vorhergehenden, nach dem ‚Schlager‘ von Voigtländer gebildeten Lied „Einstmal als ich Lust bekam“.⁸⁶⁹ Betrachtet man die Sammlung jedoch insgesamt, ist festzustellen, dass sich der Autor an den Erkenntnissen der Reformpoetik orientiert – auch hinsichtlich der Reinheit des Reimes und der Vermeidung des Hiats – und darauf achtet, dass der musikalische Taktschwerpunkt mit Vers-, Sinn-, und Wortakzent des Textes zusammenfällt. Hierbei ist es wichtig, hervorzuheben, dass bei Greflinger die Taktstriche schon wie im modernen Gebrauch die metrischen Schwerpunkte markieren. „Durch ihn wird die […] Hierarchie von Betonungen, die von der Sprache herkommen, in ein sichtbares System gebracht. Diese Hierarchie ist […] für die Musik des 17. und 18. Jahrhunderts das vielleicht Elementarste und Wichtigste.“⁸⁷⁰ Auch hierin manifestiert sich der Anspruch der Sammlung, denn die Beachtung dieser formalen Aspekte stellt „wichtige Schritte auf dem Weg zum modernen Vers, der immer entschiedener vom Volkslied wegstrebt,“⁸⁷¹ dar: Erst „das zeitliche Zusammentreffen des Wandels im Melodieverständnis mit der Entstehung des modernen Taktsystems und der Opitzschen Metrik ermöglichte den Zusammenschluß von Dichtung und Musik in einer so neuartigen Weise, daß es berechtigt ist, von einer neuen musikalischen Gattung zu sprechen.“⁸⁷²
868 Vgl. Kretzschmars Hinweise, wie man eine „gestohlene“ Melodie erkennen könne (Anm. 93, S. 121). 869 Bei Johannes Zahn (Die Melodien der deutschen evangelischen Kirchenlieder aus den Quellen geschöpft und mitgeteilt von Johannes Zahn. 6 Bde. [1890] Reprint Hildesheim u. a. 1997; in Frage kommen metrisch die Nr. 24296a bis 2555) ist die Melodie nicht nachgewiesen. 870 Nikolaus Harnoncourt: Musik als Klangrede. Salzburg 1982, S. 40. 871 Van Ingen (Singende Muse, Anm. 867), S. 417. 872 Kross (Anm. 705), S. 17.
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Dabei muss beachtet werden, dass die Autoren, die sich von den modernen Regeln leiten ließen, nicht nur aus ästhetischen Gründen an ihren Versen feilten, sondern auch „ – und zum Teil sogar vordringlich – [aus] nationalpatriotischen Interessen“.⁸⁷³ Es ist in diesem Zusammenhang an Greflingers programmatische Aussagen in der Vorrede zu erinnern. * Greflinger verwendet ein relativ breites Spektrum an Strophenformen, die er teilweise sogar neu kreiert, so dass eine große metrische Kombinations- und Experimentierfreude erkennbar wird. Die Tabelle im Anhang, die die wichtigsten formkonstitutiven Gestaltungsmittel jedes Liedes aufführt, zeigt, wie der Autor die Lizenzen, die die Poetiken hinsichtlich der Versgestalt der ‚Lyrica‘ einräumen,⁸⁷⁴ variationsreich zu nutzen weiß. Auffällig ist, dass Greflinger für die metrische Gestaltung der 48 Lieder ein nahezu ausgewogenes Verhältnis zwischen trochäischen und jambischen Metren schafft: 19 Lieder sind trochäisch, 20 sind jambisch, acht weisen gemischte Metren auf, während nur ein Stück rein daktylisch ist. Diese Präferenz für die ‚Opitz-Versfüße‘ und die zurückhaltende Verwendung des Daktylus zeugen von Greflingers Orientierung an den Maßstäben des ‚orthodox-opitzianisch‘ gesinnten Rist-Kreises: Sowohl in Rists Galathee als auch in seiner Florabella finden sich nur je zwei daktylische Gedichte, während beispielsweise in den Liedern Zesens oder der Nürnberger Autoren der ‚Buchner-Vers‘⁸⁷⁵ viel häufiger verwendet wird. Dennoch ist ausgerechnet das heitere Eröffnungsstück metrisch heterogen gestaltet – daktylische und jambische Verse wechseln hier einander ab. Was die Taktarten betrifft, variiert Greflinger ebenfalls, wobei ein binäres Metrum keineswegs einer geraden Taktart entsprechen muss. Die Musik kann sowohl alternierende Sprachbetonung im dreiteiligen Takt (als Folge von Länge
873 Van Ingen (Singende Muse, Anm. 867), S. 419. 874 Vgl. Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008. 875 Buchner weist in einem Brief an das Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft (1639) auf die musikalische Bedeutung des Daktylus hin: „Die Dactylisches gesänge belangende, werden E. F.G. mihr gnedig erleuben nur dieses anietzt zu gedencken, daß der berühmete Musicus Herr Henrich Schütze Churfürstl. Durchl: zu Sachsen Cappelmeister […] gegen mihr sich vernenehmen lassen, es könne kaum einige andere art Deutscher Reime, mit besserer und anmuthigerer manier in die Musick gesetzt werden, alß eben diese Daktylische.“ Zitiert nach Elisabeth Rothmund: Musikalische Elemente in Zesens Theorie der Lyrik. In: Philipp von Zesen. Wissen – Sprache – Literatur. Hg. von Maximilian Bergengruen, Dieter Martin. Tübingen 2008, S. 35–54, hier S. 39.
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und Kürze) als auch daktylische und anapästische Metren im geraden Takt umsetzen und erweist sich somit in dieser Hinsicht als äußerst flexibel.⁸⁷⁶ Das Verhältnis zwischen ungeraden und geraden Takten ist bei Greflinger in etwa ausgeglichen; 15 Stücke stehen in Dreiermetren, darunter freilich auch die ‚teildaktylische‘ Nummer I,1 (=I,2) und das daktylische Stück „Lasset uns schertzen“ (II,4). Hinsichtlich der Auftakte ist zu sagen, dass bei Greflinger Lieder mit jambischem Metrum tendenziell eher volltaktig beginnen, so dass das im Jambus enthaltene Auftaktprinzip also meist nicht realisiert wird.⁸⁷⁷ Diese Stücke präferieren dabei den Dreiertakt (3/1, 3/2), die trochäischen den geraden Takt. Wie die Tabelle zeigt, kommen Texte der Form ab (1. Stollen) ab (2. Stollen) cc (Abgesang) sehr häufig vor, wie überhaupt der Sechszeiler als typisch für das Barocklied – das geistliche wie das weltliche – bezeichnet werden kann.⁸⁷⁸ Für die Strophe mit angefügtem Reimpaar an einen Vierzeiler im Kreuzreim ist die metrische Zweiteilung signifikant. Sie ermöglicht es, einen Abgesang (die c-Verse) „mit einem deutlichen Nachdruck zusammenfassend, epigrammatisch oder refrainartig“⁸⁷⁹ zu gestalten. Auf musikalischer Ebene kann sich diese Form spiegeln: Beispielsweise in Lied III,3 – hier werden die Textteile abab so abgebildet, dass der ab-Teil auf eine achttaktige Periode gesungen wird, der auch für die beiden Folgeverse gilt. Dies wird graphisch durch Binnen-Wiederholungszeichen und doppelte Textunterlegung markiert. Die beiden reimenden Abschlussverse bekommen ebenfalls eine achttaktige (plus ein Takt für den Schlusston) Periode, die sich aus zweimal zwei rhythmisch und melodisch verwandten Takten zusammensetzt. Die musikalische Form wäre also AAB; man kann von „Stollenliedern“ sprechen.⁸⁸⁰ Dies trifft zum Beispiel auch auf Lied III,1 und Lied IV,2 zu. Doch Texte der Form ababcc entsprechen nicht immer der musikalischen Form AAB. So präsentieren sich die ‚Stollen‘ beispielsweise in Lied I,6 ‚durchkomponiert‘ – jeder Vers hat eine eigene melodische, harmonische und rhythmische Beschaffenheit. Gerade bei komplizierteren poetischen Strukturen finden wir auch auf Strophenebene ‚durchkomponierte‘ Lieder, z. B. das aus neun Versen bestehende, metrisch heterogene Lied I,8. Auch im Fall des Stollenliedes lässt sich also das Prinzip der varietas beobachten. Generell ist eine enge Verknüpfung von poetischer und metrischer Form für die Greflinger-Lieder zu konstatieren. Alle Lieder weisen ebenmäßige Gruppie-
876 Vgl. Kross (Anm. 705), S. 17. 877 Zum Auftaktproblem vgl. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 349–352. 878 Frank (Anm. 284), S. 407. 879 Ebd. 880 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 384.
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rung, meist zu Achttaktern oder Viertaktern, auf. Dabei wird die Versgliederung auf musikalischer Ebene durch Kadenzen oder Pausen angezeigt. Ein Vers wird also in der Regel auch als eine musikalische Einheit abgebildet. Daher verzichtet Greflinger in seinen Liedtexten auf Enjambements, die diese Korrespondenz zerstören würden. Anders als in Madrigalen werden Textteile nicht im Dienste der musikalischen Gestaltung wiederholt. Die Kadenzendpunkte fallen meist auf das Reimwort eines Verses, oft werden auch Tonformeln entwickelt, die an der entsprechenden Textstelle wiederholt werden und so den Reim musikalisch artikulieren (der „musikalische Reim“ korrespondiert hier also mit dem Wortreim). Periodische Struktur, Wiederholungen und Sequenzen prägen somit den musikalischen Aufbau innerhalb der Lieder, der Einfluss von Tanzsätzen ist evident.⁸⁸¹ Bei manchen Stücken lassen sich wegen der Verwendung typischer rhythmischer Formeln auch Aussagen darüber machen, welche Tanzformen zugrunde liegen: Es sind Modetänze der Zeit, die auch in ihren Ursprungsländern Italien und Frankreich oft gesungen wurden, vor allem die gradtaktige Allemande und die ungeraden bzw. dreiertaktigen Sarabande, Courante und Galliarde. * Blicken wir nun auf die ‚Vertikale‘: Bei den Liedern der Sammlung handelt es sich um Generalbasslieder bzw. Generalbasssololieder. Sie repräsentieren eine musikalische Modegattung des mittleren 17. Jahrhunderts,⁸⁸² deren Blütezeit in der Liedhistoriographie vom Erscheinen von Alberts Arien (Teil I, 1638) bzw. Rists Galathee und Voigtländers Oden oder Lieder 1642, bis zum Erscheinen der ersten deutschen Opernlieder und -arien 1680 gesehen wird.⁸⁸³ Insgesamt entstehen in diesem Zeitraum etwa 40 Sammlungen mit Liedern dieses Typus, die zum Teil von Musikern (z. B. Albert, Weichmann, Hammerschmidt), zum Teil von Textdichtern (z. B. Zesen, Rist, Göring, Schirmer), zum Teil von ‚Doppelbegabungen‘ (z. B. Stieler Geharnschte Venus, Kaldenbach Deutsche Sappho) herausgegeben werden. Greflingers Liederbuch wird 1651 zu einem Zeitpunkt publiziert, als die Gattung auf dem Höhepunkt ihrer Popularität stand.
881 Heinrich Besseler sieht mit Rückgriff auf Descartes (Compendium musicae, Abschnitt III) in der rhythmischen und melodischen „Wiederkehr des Gleichen oder Ähnlichen“, wie man sie in den schlichten Tanzsätzen und Arien des 17. Jahrhunderts beobachten kann, geradezu ein Signum der Musik der Neuzeit. (Das musikalische Hören der Neuzeit. Berlin 1959, S. 35 ff.). 882 Rist unterstreicht in der Vorrede („An den Christlichen Leser“) zu seinen Himmlischen Liedern (1641/42), dass die Notierung von „zweyen Stimmen / als einen Baß vnd Discant“ zeittypisch („dero heut zu Tage üblic[h]…“) sei. Rist, Himmlische Lieder (Ed. Steiger/Küster), S. 14. 883 Braun (Musik, Anm. 699), S. 179.
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Es würde zu weit führen, an dieser Stelle genauer auf die Entwicklung des Generalbassliedes in Deutschland und auf seine verschiedenen Ausprägungen sowie Erscheinungsformen⁸⁸⁴ näher einzugehen. Interessant wäre es beispielsweise, die verschiedenen europäischen Einflüsse genauer nachzuvollziehen und diese im Kontext politisch und konfessionell motivierter Kulturtransferprozesse zu beleuchten.⁸⁸⁵ Hier müssen wir uns mit wenigen Hinweisen begnügen: Zu den italienischen Einflüssen ist neben bestimmten Stilmerkmalen der seconda prattica die Tradition der tanzhaften Frottola und Villanellen zu nennen.⁸⁸⁶ Aus Frankreich wurde das deutsche Generalbasslied durch Psalmlieder (Hugenottenmelodien), airs (sérieux et à boire) und Tanzlieder beeinflusst. Das französische Repertoire gelangte dabei meist durch niederländische Vermittlung nach Deutschland.⁸⁸⁷ Das englische Lautenlied spielte hingegen eine geringere Rolle.⁸⁸⁸ Die autochthone Tradition wirkte durch das (polyphone) Gesellschaftslied des 16. Jahrhunderts, das seinerseits auf Volkslieder zurückgegriffen hatte (z. B. Forster, Senfl), sowie vor allem durch das deutsche Kirchenlied. Der italienische Stil kam dabei stärker im höfischen Kontext zu tragen, vor allem in Dresden, wo unter anderem mit Schütz, Nauwach und Christoph Bernhard eine starke italienische ‚Fraktion‘ wirkte. Der Schütz-Schüler Albert importierte diese Stilelemente in den Nordosten. Für den norddeutschen Raum ist ansonsten die Bedeutung des protestantischen Kirchenliedes stärker spürbar sowie die durch die Niederlande vermittelten französischen Einflüsse. Festzuhalten bleibt, dass das Generalbasslied, wie es sich auf dem Höhepunkt seiner Verbreitung in Deutschland geradezu exemplarisch in Greflingers Sammlung präsentiert, eine Konvergenz unterschiedlicher stilistischer Strömungen jeweils spezifischer soziologischer und regionaler Provenienz darstellt.
884 Vgl. hierzu Braun (Musik, Anm. 699), S. 179, der eine Typologisierung vornimmt, nach der Tanzlied, monodisches Lied, choralartiges Lied, kontrapunktisches Lied und Kanzonetten-Lied unterschieden werden können. Greflingers Lieder stehen dabei den Kategorien ‚Tanzlied‘ und ‚kontrapunktisches Lied‘ am nächsten. Vgl. auch die kurze Zusammenfassung zu musiktheoretischen Überlegungen der Zeit von Thomas Schlage: Die Vokalmusik J. E. Kindermanns (1616– 1655). Neckargemünd 2000, S. 129–131. 885 Erste wichtige Ansätze zu diesem Forschungsfeld bietet John H. Baron: Foreign Influences on the German Secular Continuo Lied of the Mid-Seventeenth Century. Brandeis University 1967. 886 Gerade letztere hatten in Deutschland zu Beginn des Jahrhunderts eine große Rezeption erfahren (z. B. Regnart, Schein) und trugen (vor Opitz) durch eine deutsche Adaption italienischer Mustertexte zur Entwicklung volkssprachlicher Kunstdichtung bei. 887 Vgl. hierzu John H. Baron: Dutch Influence on the German Secular Solo-Continuo-Lied. In: Acta musicologica 43 (1971), S. 43–55. 888 Rist, Krieger und Voigtländer eigneten sich jedoch Airs von Dowland an. Vgl. Richard Hinton Thomas: Poetry and song in the German baroque. A Study of the Continuo Lied. Oxford 1963, S. 38.
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Der musikwissenschaftliche (natürlich nicht zeitgenössische) Terminus ‚Generalbasslied‘ verdeutlicht die Bedeutung der Unterstimme für die Gattung – bekanntlich steht der Generalbass im Zentrum der gesamten Musikauffassung des 17. Jahrhunderts und prägte das Bild des musikalischen Barocks so grundlegend, dass Riemann mit dem Begriff des „Generalbasszeitalters“⁸⁸⁹ die gesamte Epoche umschrieb. Jedenfalls kann davon ausgegangen werden, dass „der Generalbaß ab 1650 in Deutschland als Struktur- und Kompositionsprinzip selbstverständlich verwendet wurde und ihm eine fundamentale Bedeutung zukam“.⁸⁹⁰ Vor allem von deutschen Autoren wurde der Generalbass außerdem in allegorisch-spekulative und theologische Musikbetrachtungen integriert: Er repräsentiert in seiner Anlage den göttlichen ordo-Gedanken, der durch den Basston begründete Grundakkord wird als Sinnbild der Trinität begriffen, bisweilen wird Generalbassmusik als Präfiguration der himmlischen Musik verstanden.⁸⁹¹ Die barocke „Einheit von Kunst- und Lebenseinstellung“⁸⁹² manifestiert sich hierin eindrücklich. Die Tonsätze in Seladons Weltlichen Liedern bestehen dementsprechend aus einer (oft bezifferten) Bassstimme und einer textierten Diskantstimme, sie bilden in der zeitgenössischen Begrifflichkeit zusammen die „Melodey“.⁸⁹³ Die Vokalstimme ist im c-Schlüssel (‚Sopran-Schlüssel‘) – bei einigen wenigen Liedern auch im g-Schlüssel (auf der zweiten Linie), wenn die Hilfslinien nach oben nicht ausreichen – auf der untersten Linie notiert, der Bass steht im f-Schlüssel. Durch die Setzung von ‚Takt-Strichen‘ wird eine gegenseitige Zuordnung der Partien signalisiert. Ein Sänger oder eine Sängerin könnte sich theoretisch also auch selbst begleiten (auf die Unzulänglichkeiten des Drucks wurde bereits hingewiesen). Mit diesem Arrangement stehen Seladons Weltliche Lieder ebenfalls auf der Höhe der Zeit. Der Partiturdruck für Liederbücher war unlängst in Mode gekommen. Bis ins frühe 17. Jahrhundert hinein lagen deutsche Lieder in linear verlaufenden
889 Handbuch der Musikgeschichte, 2. Bd., 2. Teil: Das Generalbasszeitalter. Die Monodie des 17. Jahrhunderts und die Weltherrschaft der Italiener, Leipzig 1912, 2., von Alfred Einstein durchgesehene Auflage. Leipzig 1922, 2. Bd., 2. Teil: Das Generalbasszeitalter. Die Monodie des 17. Jahrhunderts und die Weltherrschaft der Italiener. 890 Jörg-Andreas Bötticher, Jesper B. Christensen: Art. „Generalbass“. In: MGG², Sachteil 3, Sp. 1194–1256, hier Sp. 1201. 891 Solche Aussagen findet man u. a. bei Kepler (1619), Kircher (1650), J. Lippius (1610), Kindermann (1665). Vgl. Bötticher/Christensen (Anm. 890), Sp. 1242. 892 Harnoncourt (Anm. 870), S. 50. 893 So lobt Schütz in seinem musikalischen Gutachten über Dedekinds Aelbianische Musenlust, dass „die Melodei nicht alleine nach den Regulis und modis Musicis kunstmässig“ seien, sondern auch die „modulationes anmuthig übersäzzet und geführet sein“. C. C. Dedekind: Die Aelbianische Musen-Lust. Faksimile. (Hg. und eingeleitet von Gary C. Thomas. Bern 1991), Heinrich Schütz: An Herrn Constantin Christian Dedekinden, unpaginiert.
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Stimmen vor. Im neuen Lied jedoch galt der Bass nicht mehr zwangsläufig als ‚Stimme‘ – eine Entwicklung die ihren Ursprung in Italien genommen hatte und sich erstmals dezidiert in den Ariendrucken der frühen Monodien, wie sie durch Giulio Caccinis Le nuove musiche (Florenz 1602) repräsentiert werden,⁸⁹⁴ manifestiert. Dabei wurden diese notationstechnischen und musikalischen Neuerungen als erstes in Deutschland rezipiert.⁸⁹⁵ In der Regel weist in den Stücken von Seladons Weltliche Lieder die Bassstimme genauso viele oder weniger Noten als die Melodiestimme auf. Das Modell ist somit 1:1, der Contrapunctus simplex des Tanzes und des Kantionalsatzes, oder 2:1, was der um 1630 modischen Kanzonette entspricht. Im Lied I,7 zum Beispiel ist das Verhältnis Diskant zu Bass teilweise 3:1. Hier gibt die Unterstimme nur den Grundton und prägt in keiner Weise ein ‚Eigenleben‘ aus. In vielen anderen Stücken, besonders ausgeprägt in I,8, hingegen bildet der Bass nicht nur ein Akkordfundament, sondern läuft in lebhaften Gegenbewegungen oder kleinen ‚konzertanten‘ Einheiten. Dies bewirkt eine Beschleunigung und ein dynamisches Vorwärtsdrängen – äußerst passend zum Text, der die Ermahnung der Geliebten zur Tugendhaftigkeit mit „tempus fugit“- – und „carpe diem“-Motiven kombiniert („Ein tapfer Hertze steht / | Auch wann der Sturm angeht / | Raubt mir die Zeit dein Angesicht / | So laß ihr drumb das Hertze nicht“. Str. 1). Bei sehr vielen Liedern bildet eine in Terzabstand – eigentlich müsste man freilich von Dezimabstand sprechen, denn die Stimmen liegen ja eine Oktave auseinander – zum Diskant verlaufende Basslinie die Unterstimme, Solostimme und Bass ergeben also einen intervallisch regulären zweistimmigen Satz, so wie er aus der volkstümlichen Mehrstimmigkeit bekannt ist. Interessanterweise bildet der Bass dabei zugleich stets das harmonische Fundament. Die ‚sangliche‘ Zweistimmigkeit wird jedoch in keinem Lied durchgehend beibehalten, sondern der Bass zieht sich spätestens in den Passagen, in denen ein Kadenzpunkt erreicht wird, auf seine fundierende Aufgabe zurück. Er ist jedenfalls in erster Linie eine Funk-
894 Im Kontext der italienischen Diskussion über die Kunstwürdigkeit der volkssprachlichen Dichtung um 1600 erfuhr auch das strophische Lied („Aria“) eine Aufwertung. Gerade von Komponisten, hier ist in erster Linie Caccini zu nennen, wurde diese vor allem von Gabriello Chiabrera forcierte Form dankbar angenommen, so dass sich seit 1600 „eine Vorstellung der Arie als geschlossener musikalischer Form im Gegensatz zu ‚offener‘ [rezitativischer] Deklamation“ etablierte. Silke Leopold: Art. „Arie. (II. 17. Jahrhundert)“. In: MGG², Sachteil 1, Sp. 814–816; dies.: Chiabrera und die Monodie: Die Entwicklung der Arie. In: Studi musicali 10 (1981), S. 75–106. 895 Praetorius (Syntagma musicum, III. Teil) machte durch eine ausführliche Stellungnahme und zahlreiche Beispiele sowie durch Übersetzung der wichtigsten italienischen Quellen (Viadanis, Caccini u. a.) den Generalbass in Deutschland bekannt. Vgl. Bötticher/Christensen (Anm. 890), Sp. 1199 f.
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tion der Melodie, nicht umgekehrt. Auch bei Liedern mit ausgestaltetem Bass, der zum Beispiel kleine imitatorische Figuren ausprägt, begibt sich dieser nie in einen ‚Wettstreit‘ mit der tragenden Melodie. Der pulsierende Taktrhythmus wird also nicht zugunsten eines ‚Stimmgewebes‘ aufgegeben oder überformt.⁸⁹⁶ Unter anderem hierin unterscheidet sich das Barocklied von der generellen Gleichberechtigung aller Stimmen in Motette und Madrigal⁸⁹⁷ oder auch von späteren Liedformen – die freilich ohnehin nur sehr schwer mit den barocken Generalbassliedern vergleichbar sind – wie dem romantischen Kunstlied, wo das auskomponierte Accompagnement auf den Text Bezug nehmen kann; man denke an Schuberts Gretchen am Spinnrade, wo die Klavierbegleitung permanent das Drehen des Spinnrades gleichsam mimetisch nachbildet. Das Tonsatzmodell der Greflinger-Lieder kann somit insgesamt betrachtet als ‚kompakt‘ beschrieben werden. Dabei geht es dem Autor gewiss um eine möglichst geringe Beeinträchtigung des Textverständnisses. Zudem ist zu bedenken, dass ihm die Professionalität auf diesem Terrain fehlte und ein ‚homophoner‘ Satz sich letztlich leichter erstellen bzw. adaptieren ließ als ein fugierter. Was die Harmonik betrifft, ist in diesem Zusammenhang festzustellen, dass die Greflinger-Lieder nur noch sehr latent Anklänge an die Kirchentonarten aufweisen. Gelegentlich schimmert z. B. das Dorische hindurch (z. B. III,11; III,12), ansonsten bewegen sich die Lieder bereits im neuzeitlichen Dur-Moll-System. Daher scheint es auch nicht notwendig, im Folgenden von vorsichtigen Bezeichnungen (‚Modus‘ etc.) Gebrauch zu machen. Zur Beschaffenheit der Oberstimmen, die durch Textunterlegung explizit als Gesangsstimme ausgewiesen sind, ist Folgendes zu sagen: Generell können sie als schlicht und formelhaft, häufig sequenzartig und dadurch sehr prägnant charakterisiert werden. Die Melodik entwickelt sich in klaren rhythmisch-periodischen Gruppierungen, die symmetrisch wiederkehren – man könnte von „Korrespondenzmelodik“⁸⁹⁸ sprechen. Stufenweises Fortschreiten, einfache Intervallsprünge, Korrespondenz oder Wiederholung einzelner Taktgruppen, stets in enger Anlehnung an die Zeilenordnung der Strophe, lassen sich als Merkmale
896 Vgl. Wiora (Anm. 707), S. 49, der gegen Besseler zeigt, dass leichte kontrapunktische Elemente noch keinen Gegensatz zur Liedstruktur bedeuten. 897 Vgl. Braun (Musik, Anm. 699), S. 169. 898 Besseler versteht unter diesem Begriff „ganz allgemein das, was sich gegenüber der Prosamelodik des 16. Jahrhunderts geändert hat. War damals der Verlauf unregelmäßig und unberechenbar, so herrscht nun eine gewisse Bindung. Isolierte Glieder, die einst die Hauptrolle spielten, gibt es nicht mehr. Jedes Motiv wird mindestens einmal wiederholt und gehört in einen kadenzmäßig abgeschlossenen Harmonieverlauf. So besteht die Musik aus lauter kleinen Gliedern, die trotzdem eine Einheit bilden.“ Besseler (Anm. 881), S. 35.
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der meisten Melodien beschreiben. Der Ambitus übersteigt dabei selten den Umfang einer None und bewegt sich vornehmlich im Bereich f’ bis f’’. * Kommen wir schließlich noch einmal auf die Schwierigkeiten zurück, die das strophische Prinzip in sich birgt. Es besteht darin, dass die Musik gut zur ersten, aber möglicherweise nicht zu den folgenden Strophen passt, was den musikalisch denkenden Textautoren durchaus bewusst ist. Für Rist hat die musikwissenschaftliche Forschung jüngst den Umgang mit dem schwierigen Wort-TonVerhältnis im Strophenlied genauer analysiert und dabei feststellen können, dass Rist […] eine Art ‚Sinnkurve‘ aus[prägt], deren Verlauf von einer Strophe zur nächsten gleich bleibt, in jeder ist im dritten und sechsten Vers⁸⁹⁹ ein Höhepunkt der Aussage erreicht. Bald erscheint hier wiederum etwas bildlich Verwertbares […]. Auch dann, wenn eine bestimmte Strophe des Textes keine konkret-inhaltliche Fortsetzung in der strophisch wiederkehrenden Musik zu erfahren scheint, darf deren kompositorische Grundfaktur nicht in Widerspruch auch zu jenem Detail stehen. Darauf ist aber der Verlauf einer ‚Sinnkurve‘ (also: eines ideal strophisch wiederkehrenden Prinzips auch im Textsinn) anzulegen.⁹⁰⁰
Am Beispiel des Liedes I,5 („Weil mein Schatz ist weggezogen“) wurde oben bereits kurz dieses durchaus heikle Problem für die Textdichter aufgezeigt. Hier korrespondierte die synkopenartige rhythmische Verschiebung in fast allen Strophen mit dem Textsinn. Die Tatsache, dass Greflinger seine Texte – was später im Einzelnen zu zeigen ist – zu einem Großteil auf existierende Tonsätze verfasst, spezifiziert das strophische Problem abermals. Denn die Herausforderung besteht nun darin, dass beim Dichten auch auf die Eigenheiten der musikalischen Faktur Rücksicht genommen werden muss. * Die musikalischen Merkmale der Greflinger-Lieder sind im Folgenden kurz zusammenzufasssen: Es handelt sich um Generalbasslieder mit textiertem Cantus. Die bisweilen bezifferte Bassstimme hat vor allem die Funktion, die Oberstimme harmonisch zu fundieren. Dennoch ist der Bass in vielen Liedern auch gemäß den kontrapunktischen Regeln dezent ausgestaltet und passagenweise ‚sanglich‘;
899 Küster bezieht sich hier auf ein von Rist gedichtetes und offenbar selbst vertontes Hochzeitscarmen. S. Küster (Güldene Musik, Anm. 423), S. 112. 900 Ebd., S. 113 f.
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häufig ist eine Dezimenkopplung zwischen beiden Stimmen erkennbar.⁹⁰¹ Weitere Kennzeichen sind eine symmetrische, tanzliednahe Periodik der melodischen Struktur. Viele Lieder scheinen an Tanzmodellen orientiert oder sind vermutlich textierte Tänze. Der Ambitus des Cantus überschreitet selten eine None. Die Textdeklamation erfolgt syllabisch nach rhythmischen Mustern zu einer unkomplizierten Melodik. Auf die expressiven Wortausdeutungen, reiche musikalische Ornamentik und unregelmäßige Periodenbildung im Stil der seconda prattica wird verzichtet, so dass auf dieser ‚semantischen‘ Ebene das Text-Ton-Verhältnis ‚locker‘ ist. Indes ist als signifikantes Merkmal die Kongruenz von sprachlichen und musikalischen Formprinzipien erkennbar. Musikalische und textliche Syntax stimmen weitgehend überein: die Versgliederung wird z. B. durch Binnenkadenzen abgebildet, Endreime korrespondieren mit musikalischen Reimen. Auf diese Weise bilden Text und Musik eine Einheit, jedoch: den Primat hat der Text. Manche dieser Merkmale mögen stark an die Charakteristika erinnern, die gut 130 Jahre später der von Herders Volkslieder-Sammlung inspirierte Johann Abraham Schulz zur Beschreibung seines ästhetischen Liedideals aufführt: Durch eine Melodie, […] die wie ein Kleid dem Körper, sich der Declamation und dem Metrum der Worte anschmiegt, die ausserdem in sehr sangbaren Intervallen, in einem allen Stimmen angemessnen Umfang und in den allerleichtesten Modulationen fortfließt, und endlich durch die höchste Vollkommenheit der Verhältnisse aller ihrer Theile […] erhält das Lied den Schein des Ungesuchten, des Kunstlosen, des Bekannten, mit einem Wort, den Volkston, wodurch es sich dem Ohre so schnell und unaufhörlich zurückkehrend einprägt,
schreibt er in der programmatischen Vorrede zu den Liedern im Volkston (1785).⁹⁰² Bezeichnender Weise haben sich schon die Vertreter der (Ersten) Berliner Liederschule für Barocklieder interessiert und Ramler ist dabei auch auf Greflinger aufmerksam geworden – allerdings mit größerem Interesse am Literarischen als am Musikalischen: Bey unseren Alten haben wir nur wenige Lieder gefunden, die neben den Stücken der Neuern einen Platz verdieneten. Opitz hat uns etliche geliefert. Ein einziges haben wir aus dem Tscherning, eines aus dem Flemming, eines sogar aus dem Hofmannswaldau, dem Grefflinger, dem Rist, und Reinbaben hervorgesucht.⁹⁰³
901 Diese Dezimenkopplung der Stimmen in den zweistimmigen Tonsätzen weisen darauf hin, dass die Sätzchen auch ohne akkordische Ausführung des Generalbasses sing- und spielbar sein sollten – was nun eben nur dann gut klingt, wenn die Terz häufig auch so schon präsent ist. 902 Johann Abraham Schulz: Lieder im Volkston. Erster Theil. Berlin ²1785 (erste Auflage 1782 ohne Vorbericht), Vorbericht. 903 Ramler (Anm. 53), Vorbericht, S. 2 f.
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Natürlich ist der Vergleich der Generalbasslieder, wie sie durch Greflingers Stücke repräsentiert werden, mit den im ‚Volkston‘ gehaltenen Liedern des Schulz-Kreises („Der Mond ist aufgegangen“ etc.) nicht zulässig. Beide ‚Liedtypen‘ müssen selbstverständlich in ihren jeweils spezifischen entstehungsgeschichtlichen bzw. kulturhistorischen Kontexten betrachtet werden. Und doch hilft die Gegenüberstellung zum Abschluss des Kapitels noch einmal, eine wichtige Differenz hervorzuheben: Die modischen Barocklieder um 1650, wie die vorliegenden von Greflinger, bestehen konstitutiv aus Oberstimme und Generalbass. Im „Charakter des Einklangs“, die „keiner zusammenklingenden Harmonie bedürfen“, so dass sie „für sich ohn’ alle Begleitung stehen können“, sieht Reichardt die Eigenheit des Volkslieds⁹⁰⁴ und die Vertreter der Berliner Liederschule forderten von Musikern singend zu komponieren, „ohne daran zu denken, daß noch ein Baß hinzukommen soll“.⁹⁰⁵ Das Generalbasssololied des 17. Jahrhunderts benötigt demgegenüber den Bass zur klaren harmonischen Fixierung. Die reine Einstimmigkeit stellt für Lieder des mittleren 17. Jahrhunderts einen Anachronismus dar, von dem in avancierten Sammlungen kaum noch Gebrauch gemacht wird;⁹⁰⁶ aus dem Stimmverbund von Cantus und Bass „lässt sich keine Komponente herauslösen, ohne dass dies dem Kunstwerk Abbruch tut.“⁹⁰⁷ Darüber hinaus stellt es einen Fehlschluss dar, die schlichten musikalischen Elemente des Barockliedes pauschal auf ‚Volkstümlichkeit‘ zurückzuführen. Die stilistische Simplizität ergibt sich in erster Linie aus der Gattungskonvention, die ‚Sangbarkeit‘ vorsieht und mit der mittleren Stilebene der Texte korrespondieren muss. Wenn Greflingers Liebes-, Trink- und Tugendlieder also eine insgesamt unprätentiöse, einfache musikalische Faktur aufweisen, entsprechen sie auch auf der musikalischen Seite dem ‚aptum‘. In diesem Sinne manifestiert sich die Nähe zum Rist’schen Liedideal.⁹⁰⁸
904 J. F. Reichardt: Kunstmagazin I, S. 3; zitiert nach Heinrich W. Schwab: Zur Liedkunst Gabriel Voigtländers. In: Lohmeier/Olsson (Anm. 39), S. 183–207, hier S. 196, Anm. 45. 905 Ramler/Krause: Oden mit Melodien. Erster Theil. Berlin 1753, Vorrede. Zitiert nach Schwab (Anm. 904), S. 197. 906 Einige Autoren drucken zwar einstimmige Lieder ab, empfinden dies jedoch als Defizit. Vgl. Braun, (Thöne, Anm. 237), S. 62. Dass Autoren auch die einstimmige Wiedergabe vorschlagen (Weichmann, Vorrede zur Sorgen-Lägerin), scheint eher eine Ausnahme zu sein. 907 Konrad Küster: Kritischer Bericht zur Notenedition. In: Johann Rist: Himmlische Lieder. Hg. von dems., Johann Anselm Steiger. Berlin 2012, S. 580–619, hier S. 585. Was Küster für die Himmlischen Lieder Johann Rists konstatiert, kann auf die Greflinger-Lieder übertragen werden, zumal Greflinger den ästhetischen Liedvorstellungen Rists verpflichtet ist und zwei (weltliche) Rist-Lieder in seiner Sammlung adaptiert. 908 Es kann an dieser Stelle nicht näher auf die Kontroverse um Rists Stilideale, die die ältere Forschung auf den Begriff ‚Schlichtheit‘ gebracht hat, eingegangen werden. Mit seinen Stilidealen verhält es sich gewiss komplizierter, als es Krabbe darstellt, der die Lieder des Pfarrers im
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4 Überlegungen zur Aufführungspraxis und zur Funktion Die uns vorliegenden Noten in Seladons Weltlichen Liedern stellten in der historischen Aufführungssituation nur die musikalische Substanz dar, gewissermaßen als ‚Gerüst‘ mit den wichtigsten musikalischen Informationen: „Vielmehr ist die Notenpräsentation ein Rumpfgebilde: In ihm wird das Maximum dessen geboten, was – als Essenz des Kunstwerks – notierbar ist; wer die Musik aufführen will, hat zuvor noch eine Entscheidung unter mehreren gleichermaßen originalen Nutzungsformen zu treffen.“⁹⁰⁹ Wir haben es also sozusagen mit vormodernen leadsheets zu tun. Die Rekonstruktion von Aufführungssituationen stellt historische Studien freilich generell vor methodische Schwierigkeiten und erst recht, wenn es um Produkte einer „von visuellen und akustischen Reizen geprägt[en] okkasionell[en] Kultur [geht], die im Augenblick der Aufführung ihre höchste und einmalige Entfaltung erreicht, deren Flair nur sehr schwer in post festum erstellten Beschreibungen zu konservieren ist.“⁹¹⁰ Nikolaus Harnoncourt spricht in diesem Zusammenhang von dem für die Musik bis 1800 geltenden Prinzip der „Werknotation“, nach dem eine Komposition niedergeschrieben wird, die Wiedergabe aber aus der Notation nicht erkennbar ist. Es fehlt die konkrete „Gebrauchsanweisung“. Gespielt wurde nämlich, wie gesagt, keineswegs das, ‚was da steht‘: So sind zum Beispiel Vorhalte, Triller, Appoggiaturen und andere Verzierungen nicht ausnotiert. Notenmaterial aus dieser Epoche zu lesen, die „Spielweise“ einer Musik zu erkunden, deren Tradition völlig unterbrochen ist, verlangt also eine umfassende historische Kontextualisierung und auch hierbei stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten.⁹¹¹
Sinne eines Kontrastprogramms zu den „ärgsten Mißgriffe[n] in der Verwendung der Koloratur“ bei Kittel oder den „in der geschmacklosesten Weise“ eingearbeiteten Koloraturen bei Georg Weber versteht (Krabbe, Anm. 433, S. 6 f., S. 204). Auch der Behauptung, Rists ‚Schlichtheitsideal‘ habe oft zu Auseinandersetzungen mit seinen ambitionierten Komponisten geführt, ist jüngst von Küster widersprochen worden (s. u. a. Güldene Musik [Anm. 423], S. 136). „‚Den Typus‘ eines Rist-Liedes, der sich in musikalischer Hinsicht als ‚einfach‘, ‚liedhaft‘ oder ‚auf den Kirchenstil gerichtet‘ fassen ließe, hat es somit auch 1652 [Erscheinungsjahr der Neuen Himmlischen Lieder] nicht gegeben.“ Ebd., S. 140 f. 909 Küster (Kritischer Bericht, Anm. 907), S. 587. 910 Wolfgang Adam: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Einführung in die Konzeption der Tagung. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Hg. von dems. [2 Bde]. Bd. 1. Wiesbaden 1997, S. 1–16, hier S. 7. 911 Harnoncourt (Anm. 870), S. 33 ff. (Harnoncourt bezieht sich freilich nicht auf die schlichten Generalbasssololieder, sondern auf Werke wie solche Schützens. Dennoch sind die Bemerkungen auf das vorliegende Repertoire übertragbar.) Und an anderer Stelle: „Ich bin sehr skeptisch,
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Für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist die Quellenlage beispielsweise besonders ungünstig, denn bei Greflingers Liederbuch handelt es sich um Gebrauchsliteratur und das „Singen von Liedern gehört in die Sphäre des ‚otium‘ oder ‚loisir‘, das kein Randphänomen“, sondern einen „substantielle[n] Bereich der Lebensorganisation in der frühmodernen Gesellschaft“ darstellt.⁹¹² Gerade darin besteht die Schwierigkeit, denn über Praktiken, die fester Bestandteil einer Kultur sind und von den Zeitgenossen also als nichts Außergewöhnliches empfunden wurden, sind wir meist am schlechtesten unterrichtet.⁹¹³ Gleichwohl kann natürlich der Versuch unternommen werden, einige Aspekte der Aufführungssituation zu rekonstruieren. Bei Greflinger selbst finden wir hinsichtlich aufführungspraktischer Anweisungen, anders als in den Sammlungen vieler anderer Autoren (z. B. Weichmann, Albert, Rist), keine konkreten Vorgaben, zum Beispiel was die Wahl der Instrumente betrifft. Er konnte selbstverständlich damit rechnen, dass seine Rezipienten sich an den Vorschlägen, die in den verbreiteten Büchern gemacht wurden, orientierten. So wurde für die akkordliche Realisierung des Generalbasses um 1650 fast übereinstimmend ein „vollstimmiges Instrument“⁹¹⁴ wie Cembalo bzw. Clavicymbel empfohlen. Auch Spinett, Positiv, Theorbe und Harfe werden genannt.⁹¹⁵ Dabei war das Pfeiffenklavier, also das Positiv, wohl eher wenig verbreitet. Am populärsten war gewiss die Laute – günstig in der Anschaffung und leicht zu transportieren.⁹¹⁶ Die Basslinie wurde gern durch ein tiefes Melodieinstrument verdoppelt: beispielsweise durch eine Gambe oder ein Pandor, ein Bassinstrument aus der Familie der Cistern. Es stammte aus England und war in dem englandaffinen Hamburg beliebt.⁹¹⁷
ob ein volles Verständnis heute noch möglich ist. Man muß sich ja stets vor Augen halten, daß sämtliche Schulwerke für Zeitgenossen des Autors im 17. und 18. Jahrhundert geschrieben wurden, und daß der Autor einen großen Fundus von selbstverständlichen Kenntnissen voraussetzen konnte […]. Das Nicht-Geschriebene, das Vorausgesetzte wäre also wahrscheinlich noch wichtiger als das Geschriebene!“ Ebd., S. 38. 912 Adam (Anm. 910), S. 5. 913 Vgl. z. B. auch Kleinschmidt (Stadt, S. 67): „Lieder besaßen in der frühneuzeitlichen Kulturgesellschaft städtischen wie auch höfischen Zuschnitts, im Kreis von Handwerkern und Kaufleuten ebenso wie in der gelehrten Bildungsschicht eine hohe sozialkommunikative Funktion, deren Charakter und bedeutender Umfang nur schwer nachzuvollziehen sind.“ 914 Weichmann, Sorgen=Lägerin, Vorrede. 915 Rist (1652), Nauwach (1627), Albert (1638), Weichmann (1648). Vgl. Braun (Musik, Anm. 699), S. 169. 916 Ob die Spieler das Schriftbild eines Generalbasssololiedes jedoch ad hoc übersetzen konnten, ist nicht zu klären. 917 Vgl. Werner Braun: Britannia abundans. Deutsch-englische Musikbeziehungen zur Shakespearezeit. Tutzing 1977, S. 336–340.
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Das Grundgerüst, das die beiden notierten Außenstimmen bilden, konnte durch Melodieinstrumente, zum Beispiel Geigen und Flöten, beliebig ausgestaltet werden; die punktuelle Bezifferung des Generalbasses präzisiert dabei auch die harmonischen Vorgaben für das Improvisieren von Nebenstimmen.⁹¹⁸ Freilich mussten die allgemeinen Satzregeln beachtet werden.⁹¹⁹ Auch die Gesangsstimme wurde gewiss nicht so schlicht intoniert, wie sie im Notenbild aussieht. Gerade für die in der „Singekunst“ Geübten bot der Vortrag von Stücken im Stil der Greflinger-Lieder geradezu eine Spielwiese, durch Verzierungen und Ausschmückungen musikalische Fertigkeiten zu demonstrieren. Die Deklamation sollte darunter jedoch nicht leiden. Der Liedkomponist Johann Weichmann fordert im Vorwort seiner Sorgen=Lägerin, einer Sammlung, an der sich Greflinger musikalisch orientiert (s. S. 322 f.), zur Darbietung der Lieder den „einen und andern guten Sänger“, die „ihre Stimmen zu moderiren / und mit deutlicher vernehmung die Wörter fein hervorzubringen wissen.“⁹²⁰ So wird der sensibel Vortragende die formal fixierte Melodie nicht in allen Strophen gleich gesungen, sondern sie dem Textgehalt entsprechend ausgestaltet haben, so dass die jeweils spezifischen „Anmutungsqualitäten“⁹²¹ jeder Strophe zum Tragen kommen konnten. Gemäß ‚aptum‘ und ‚decorum‘ galt es dabei, eine dem Grundaffekt angemessene Spiel- bzw. Singweise zu treffen, auch was die Tempi betrifft. Satztechnische Kenntnisse waren hier wie beim instrumentalen Improvisieren wichtig, weil die Regeln der Kontrapunktik durch die Überformung einer syllabischen Vertonung nicht verletzt werden durften; die entstehenden Dissonanzen mussten ‚legitim‘ bleiben. Für den nicht allzu versierten Musenfreund ergab sich gleichwohl die Option, gemäß der Notation zu intonieren.⁹²²
918 Bötticher/Christensen (Anm. 890), V., S. 1210 ff. zur ‚Spielpraxis‘. 919 Was das Bass-Spiel betrifft, hatte Heinrich Albert seinem Publikum knappe Anweisungen für diejenigen gegeben, die „vom General Baß wenig oder gar nichtes wissen“: „Zuvördest müsset ihr einen haben, der nach Gelegenheit seines Instruments mit dem Genral-Basse recht wisse umzugehen, auch nicht auff jedwedere Note mit vollen Händen zufalle und selbigen als Kraut hacke; nachmals auch eines Sängers gebrauchen, der nebenst anderer Erfordernuss, die Worte deutlich wol herausbringe, und in derselben Aussprach in denen Syllaben, so auf Consonantes oder Diphtongo enden, nicht eher den Consonantem oder letzten Vocalem Diphtongi anschlage, denn es Zeit ist. Könnt ihr einen Violon dabei haben, werden solche Lieder umb so viel bessere Verrichtung thun.“ (Arien, Zweiter Theil, Vorrede). 920 Weichmann, Sorgen=Lägerin, Vorrede. 921 Wiora (Anm. 707), S. 38. 922 „Schlicht und deutlich“, schreibt Rist in seiner Vorrede zur Galathee (1642), sollten die Lieder sein, damit sie auch von „denjenigen, welche die schwere Weisen zu erlernen nicht genugsam geschickt seien“ gesungen werden könnten.
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Auf jeden Fall boten die Lieder ein breites Spektrum an Aufführungsoptionen je nach Möglichkeiten der Ausführenden – ganz gemäß der Funktion der Lieder als gesellige Unterhaltungskunst von Dilettanten. Theoretisch reichten die Bassstimme und eine Gesangsstimme, was gleichwohl doch als defizitär empfunden wurde.⁹²³ Eine schöne Beschreibung dieser extemporierenden Praxis finden wir in Rists Monatsgesprächen: So bald nun dise Einigkeit unter ihnen sämtlich war getroffen / verfügte sich Herr Concord [C. C. Dedekind, A. D.], als ein fürtrefflicher Musicus, bei das Jnstrument / Herr Kleander [der Rittmeister Heinrich Sage] ergrief sein Flöhtchen / und der Palatin [Rist] die Geige / Herr Kallorin [der Pastor Georg Schönberg] nebenst dem anwesendem [!] Frauenzimmer / nahm das Buch zur Hand / da sie den des Rüstigen freudiges Lied / dessen Anfang heißet: Lobet GOTT im Heiligthum / preiset seine Tahten / mit hertzlicher Andacht sungen und spieleten / und nach Endigung desselben / noch einen guhten Schlafftrunk / auf der gantzen Geselschaft Gesundheit liessen herüm gehen […].⁹²⁴
* Wir haben also nun eine grobe Idee davon, welche musikalischen Fertigkeiten man brauchte, um ein Greflinger-Lied zu singen, welche Instrumente in Frage kamen und wie sich die übliche ad-libitium-Praxis generell gestaltete. Ein Fragenkomplex bleibt zu beantworten: An wen richteten sich Greflingers-Lieder konkret? Wer führte sie auf und in welchem Rahmen?⁹²⁵ Zunächst ist davon auszugehen, dass der gesellschaftliche Kreis der Auftraggeber von Greflingers Casualia mit dem primären Zielpublikum seiner Lieder weitgehend identisch gewesen ist: Die betuchten Kaufleute, die städtischen Beamten und Patrizier, die anlässlich von Hochzeiten und Todesfällen Carmina bestellten, erwarben für die häuslichen Andachtsstunden geistliche Liederbücher und zur vergnüglichen und sinnvollen Freizeitgestaltung solche weltlichen Inhalts. Jedenfalls pflegten die Danziger und Hamburger Bürgerkreise, die Greflinger aus
923 So gibt der sich zur Gambe begleitende Schüler in Johann Beers Roman Teutsche Winternächte (1682) ein doch eher klägliches Bild ab: Er streicht „auf den Saiten das Fundament oder den bassus ad organum, wie ihn die Musici heißen / welches in der Not perfect genug kame / dann es ist besser eine Lauß im Kraut als gar kein Fleisch.“ Johann Beer: Teutsche Winternächte. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern 1994, S. 268 zitiert bei Braun (Thöne, Anm. 237), S. 400. 924 Das AllerEdelste Leben der gantzen Welt (Rist, Sämtliche Werke IV), S. 305. 925 Über die Funktion des Barockliedes in verschiedenen gesellschaftlichen Zusammenhängen konnte die Frühneuzeitforschung bislang kaum Ergebnisse vorlegen; vgl. die ‚Desiderate-Liste‘ zur Barockliedforschung bei Krämer (Anm. 37), S. 30.
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dem privaten Umgang kannte – das wurde im ersten Teil der Arbeit gezeigt – das musikalische loisir, das als Form des Kulturkonsums die Möglichkeit bot, kulturelle Fertigkeiten offen zur Schau zu stellen.⁹²⁶ Die erforderlichen gesanglichen Kompetenzen, vor allem das Notenlesen, hatten die männlichen Rezipienten in den Lateinschulen erlernt.⁹²⁷ Für die instrumentale Ausbildung bedurfte es freilich einer weiteren musikalischen Unterrichtung, denn zur Begleitung eines Greflinger-Liedes sind solide musikalische Kenntnisse vonnöten, um den Generalbass mit Bezifferung richtig und bestenfalls variationsreich zu realisieren, und das erfordert also wie auch die Gesangsstimme den versierten Amateur. In beiden Bereichen – Gesang und Instrumentalspiel – waren es nicht selten Frauen der gehobenen Bürgerschicht, die die erforderlichen Kompetenzen außerhalb der für sie nicht zugänglichen Lateinschulen erworben hatten.⁹²⁸ Gerade im zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts mehren sich die Belege für musikausübende Bürgermädchen und -frauen.⁹²⁹ Man denke in diesem Zusammenhang an die im Danzig-Kapitel erwähnte Ratsherrntochter Constantia Czirenberg.⁹³⁰
926 James S. Amelang: Der Bürger. In: Der Mensch des Barock. Hg. von Rosario Villari. Frankfurt am Main u. a. 1997, S. 321– 243, hier S. 328. In Deutschland (wie auch in den Niederlanden) nahm das Singen von Lauten- und Generalbassliedern in diesen Zusammenhängen eine viel größere Bedeutung ein als in der eher höfisch geprägten Kultur Italiens, Frankreichs und Englands, wo das Kunstlied eine Domäne der Aristokratie blieb. 927 Vgl. Konrad Küster: Theorie und Praxis im Musikunterricht der Lateinschulen. Die Musiklehre des Kantors Matthias Ebio (1651). In: Musik und Ästhetik 10 (2006), S. 70–88. 928 Die Bedeutung von Frauen in der vormodernen Musikkultur hat sich v. a. im Umfeld der Trossinger Musikhochschule sowie am „Forschungszentrum Musik und Gender“ an der Hochschule für Musik und Theater Hannover in den letzten Jahren zu einem interessanten Forschungsfeld entwickelt. Vgl. das Handbuch von Linda Maria Koldau (Anm. 236) sowie den von Susanne Rode-Breymann herausgegebenen Sammelband „Orte der Musik. Kulturelles Handeln von Frauen in der Stadt.“ Köln 2007. Zum Thema „Frauen und Musik in bürgerlichen Famlien“ vgl. Koldau (Anm. 236), v. a. S. 309–369. 929 Vgl. Heide Wunder: Frauen in der Musikkultur frühneuzeitlicher Städte. In: Rode-Breymann (Anm. 928), S. 9–34. 930 Auch aus anderen Städten sind Quellen überliefert, die die Musikausübung von Frauen in der Frühen Neuzeit belegen (z. B. Eintragungen in Haushaltsbüchern für den Musikunterricht von Bürgerstöchtern). In einem Reisetagebuch aus der Mitte des 17. Jahrhunderts wird von zwei „2 Döchtern“ eines Bamberger Bürgers berichtet, die „sehr künstlich auf der guitarren gespület und lieblich darein gesungen“ haben. Und ein Frankfurter Patrizier erzählt von einer Reise nach Tübingen; dabei lobt er die gesangsbegabte Tochter des dortigen Bürgermeisters, dessen Haus neben dem des musikliebenden Apothekers Gmehlin der einzige musikalische Ort in einer „sonst so musiklosen Stadt“ gewesen sei. (Diese und weitere Beispiele sind nachzulesen bei Koldau [Anm. 236], S. 328 f.).
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Greflinger und das weltliche Barocklied
Zeugnis für den weiblichen Rezipientenkreis des weltlichen Barockliedes liefern zudem Aufzeichnungen in Lauten- und Klavierbüchern höherer Töchter⁹³¹ und Widmungen von Liederbüchern an junge bürgerliche oder adelige Damen.⁹³² Man könne in fast jedem Zimmer eines Rotterdamer Bürgermädchens auf der Kommode zwischen Puderdöschen und „diergelijck tuyg om’t aengesicht te besmeere“ ein kleines Liebeslieder-Buch mit den verwerflichen Geschichten à la Hero und Leander finden, während man Erbauungsbücher oder gar die Bibel vergeblich suche, mahnt ein städtischer Pastor Mitte des 17. Jahrhunderts.⁹³³ Man wird annehmen dürfen, dass in den Schatztruhen höherer Danziger und Hamburger Töchter Ähnliches bewahrt wurde. Auch bildliche Darstellungen zeigen häufig musizierende Frauen – die symbolträchtigen Gemälde Jan Vermeers wie „Die Gitarrenspielerin“ (um 1670) oder „Junge Frau, am Virginal sitzend“ (um 1670) sind dabei freilich nicht als Abbilder von Lebenswirklichkeit zu verstehen, aber sie weisen auf die Bedeutung von Musik bzw. der weiblichen Musikausübung in bürgerlichen Gesellschaften der Frühen Neuzeit hin.⁹³⁴ Zum potentiellen Publikum sind ferner Studenten zu zählen – hier zeugen handschriftliche Liederbücher wie die der Leipziger Studenten Christian Clodius und Johann Heck von der Beliebtheit der Greflinger-Lieder im universitären Milieu in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts.⁹³⁵ Dabei zeichnet sich der Geschmack der Studiosi in der Auswahl der Stücke ab: Johann Heck notierte sich 1679/1680 aus Seladons Weltliche Lieder insgesamt 14 Lieder (insgesamt umfasst sein Büchlein 132 Stücke); neben einigen Liebesliedern vor allem Trink-
931 Vgl. Hans Christoph Worbs: Die Schichtung des deutschen Liedgutes in der zweiten Hälfte des 17. Jhs. In: Archiv für Musikwissenschaft 17 (1960), S. 61–70, hier S. 67. Eine Durchsicht weiterer handschriftlicher Liederbücher der Zeit wäre eine wichtige Aufgabe, die über die Verbreitung auch der Greflinger-Lieder genaueren Aufschluss geben würde. 932 Jacob Schwieger widmete seine Flüchtigen Feld=Rosen mit Melodien von Johann Schop (Hamburg 1655) den sieben Töchtern des Leipziger Ratsherrn Christian Lorentz. Vgl. auch die zahlreichen Beispiele bei Natascha Veldhorst: Pharmacy for the Body and Soul: Dutch Songbooks in the Seventeenth Century. In: Early Music History 27 (2008), S. 216–286, hier S. 250. 933 Zitiert nach Veldhorst (Anm. 932), S. 268, Anm. 114. 934 Im Sommer 2013 zeigte die Londoner National Gallery eine Ausstellung mit dem Titel „Vermeer and Music: The Art of Love and Leisure“. Vgl. dazu den Katalog zur Ausstellung von Marjorie E. Wieseman. 935 Jüngst ist übrigens darauf hingewiesen worden, dass der Rezipientenkreis des Barockliedes größer war als bislang angenommen. So sind zu weiteren Abnehmern von Liederbüchern darüber hinaus höhere Militärs sowie speziell im norddeutschen Raum das ‚Agrarpatriziat‘ zu rechnen. Vgl. Küster (Güldene Musik, Anm. 423), S. 130 mit konkreten Beispielen zur sozialgeschichtlichen Situierung des norddeutschen (geistlichen) Barockliedes.
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lieder sowie solche derben und komischen Charakters, darunter die misogynen Nummern „Zu Ehren einer betagten und Manngierigen Jungfrauen“ und „Graues Haar voll Läus und Nissen“ sowie das artistisch-vulgäre Mars-im-Ars-Lied. Andere Autoren, die Heck goutiert, sind Voigtländer (17 Lieder) und Adam Krieger (11 Lieder).⁹³⁶ Ähnlich ist die Auswahl Clodius’, der in seiner etwa 100 Lieder umfassenden Sammlung neben Liedern u. a. Zesens, Alberts und Voigtländers fünf Greflinger-Stücke zum Teil mit Noten aufschrieb. Er präferierte Liebeslieder, aber auch das berühmte „Schweiget mir vom Weibernehmen“ (ohne den Widerruf) ist dabei.⁹³⁷ * Mit dem Hinweis auf junge Bürgerfrauen und Studenten sind wir nun bei dem Publikum angelangt, das Greflinger bei der Konzeption seiner Liederbücher, insbesondere von Seladons Weltliche Lieder, unter marktstrategischen Gesichtspunkten primär im Visier hatte: Die musikalische Faktur sowie die theaterhafte Anmutung der meisten Lieder, die sich inhaltlich um die Themen Liebe, Treue, Ehe drehen und diese mit Lastersatire, Zotigem und Burleskem auflockern, weisen auf ein gemischtgeschlechtliches, jüngeres Zielpublikum – vermutlich etwa im heiratsfähigen Alter – hin.⁹³⁸ Die Bürgertöchter und -söhne der Oberschicht in den protestantischen Großstädten wie Hamburg gingen auf diese Weise im elterlichen Haus – dem zentralen Ort der Repräsentation und sozialen Interaktion des frühneuzeitlichen Bürgertums – oder unter Umständen auch in den Sälen der Wirtshäuser einem prestigeträchtigen und zugleich sinnvollen otium nach. Dabei dienten solche Musizierstunden nicht nur der Selbstdarstellung des Hauses vor der Stadtöffentlichkeit, der Vertreibung von ‚Grillen‘, der Einübung von exklusiven Kulturtechniken sowie der Unterhaltung und Erholung, sondern erfüllten zudem eine moraldidaktische Funktion: Den Liedtexten sind die ethischen Normen dieser sozialen Schicht gerade hinsichtlich Liebe, Heirat und Ehe eingeschrieben, zugleich wirken diese Konzepte auf die Rezipienten der Lieder zurück. So können weltliche Lieder wie die Greflingers zu einem „Lern- und Orientierungsfaktor in Liebesangelegenheiten“⁹³⁹ werden. Vorbild dieses Lieder-
936 Krabbe (Anm. 821). 937 Wilhelm Niessen: Das Liederbuch des Leipziger Studenten Clodius. In: Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft 7 (1891), S. 579–658, zu Greflinger v. a. S. 607 ff. 938 Vgl. auch Nils Grosch: Lied und Medienwechsel im 16. Jahrhundert. Münster u. a. 2013, S. 96–107. 939 Niklas Luhmann: Liebe als Passion: Zur Codierung von Intimität. [1982] Frankfurt am Main 2007, S. 12. Luhmanns vielzitierte Feststellung in Bezug auf die Funktion von Liebesromanen des
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buch-Typs waren wahrscheinlich Werke wie die des niederländischen Moralisten Jacob Cats. Dabei verstärkt die performative Rezeption nicht nur ein Gemeinschaftsgefühl und befördert die Internalisierung der in den Texten vermittelten Wertvorstellungen (Treue, Enthaltsamkeit vor der Ehe, Abstand von Lastern) – was durch die anzunehmende Wiederholung des Aufführungsaktes forciert wird –, sondern ermöglicht auch die zwanglose Konfrontation mit dem anderen Geschlecht, die sich ja im Rahmen der gesellschaftsspielartigen Aufführung in einer unverfänglichen ‚Als-ob‘-Sphäre abspielt:⁹⁴⁰ Junge Mädchen und Männer schlüpfen in Rollen von sehnsüchtigen Liebenden, schmachten sich in Duetten an, verlachen gemeinsam nönnische Jungfrauen, Hagestolze oder manngierige Witwen, hören lustige Argumente gegen und bessere für das Heiraten, spotten über alamodische Prahlerei und andere höfische Laster, loben Mäßigkeit und geben sich gegenseitig Liebes- und Treueversprechen. Kulturgeschichtliche Forschungsarbeiten zu Ehe und Heirat in der Frühen Neuzeit haben gezeigt, dass gerade Feste und gesellige Zusammenkünfte die Gelegenheit boten, Ehen zu stiften,⁹⁴¹ ja „[v]iele der Feste dienten gerade dem Kennenlernen.“⁹⁴² Sie waren also durchaus gebilligt, denn es wurde zumindest auch erwartet, dass nach einer Feier „die jungen Leute den Jungfrauen fein still und züchtig das Geleit nach Hause [geben] […] wie auch die Jungfrauen
17. und 18. Jahrhunderts kann an dieser Stelle auf die beschriebenen Lieder übertragen werden. Vgl. auch Nils Grosch: „Damit die jugent der bul lieder und fleyschlichen gesenge loß würde“: Zur Funktion von Liebesliedern in der Frühzeit der Populären Musik. In: Amor docet musicam. Musik und Liebe in der Frühen Neuzeit. Hg. von Dietrich Helms, Sabine Meine. Hildesheim u. a. 2012, S. 235–248, hier 242. 940 Gemeinsames Musizieren ist von alters her erotisch konnotiert. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an die zahlreichen bildlichen Darstellungen auch aus dieser Zeit, die freilich den Bildtopos aufgreifen, nach dem Liebe durch Musik entsteht und diese mit jener stets einhergeht, und die nur begrenzt Einsichten in lebensweltliche Bezüge ermöglichen. Vgl. z. B. Karel Moens: Musizierende Frauen in moralisierenden Bildquellen des 16. und 17. Jahrhunderts aus den alten Niederlanden. In: Frauen und Musik im Europa des 16. Jahrhunderts: Infrastrukturen – Aktivitäten – Motivationen. Hg. von Nicole Schwindt. Kassel u. a. 2005, S. 171–193. Interessant auch die Untersuchung von Edwin Bujse und Louis Grijp: Music and Painting in the Golden Age. Den Haag 1994. 941 Anette Baumann: Eheanbahnung und Partnerwahl. In: Venus und Vulkanus. Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit. Hg. von Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann. München 2011, S. 25–88, v. a. S. 26 und S. 47 f. 942 Richard van Dülmen: Fest der Liebe. Heirat und Ehe in der Frühen Neuzeit. In: Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung. Hg. von dems. Frankfurt am Main 1988, S. 67–106, hier S. 73.
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dermaßen mit dem Wissen und Erlaubnis ihrer Eltern zum Tanze geführt werden.“⁹⁴³ Der Rahmen gewährleistete darüber hinaus, dass die Beteiligten der gleichen sozialen Schicht angehörten – ein weiterer Faktor, der die Relevanz solcher Treffen als bewusst inszenierte ‚Dating-Events‘ steigerte, denn die Partnerwahl fand aus politischen und ökonomischen Interessen im gleichen sozialen Milieu statt.⁹⁴⁴ Singt also ein heiratsfähiger Mann in einem solchen Kreis zum Beispiel „Steh auff du Irdische Göttin / Ich fall bethränet vor dir hin / Dein Hertze zu erweichen“, kann wohl – bei allem Fiktionsbewusstsein, das die frühneuzeitlichen Akteure freilich hatten, so dass man in dem Sänger oder der Sängerin freilich primär einen reinen ‚performer‘ sah – mit einem gewissen Grad pragmatischer Verbindlichkeit gerechnet werden oder zumindest von „controlled interactive flirtation“⁹⁴⁵ die Rede sein. Studien zur niederländischen Liedkultur des 17. Jahrhunderts haben übrigens auch gezeigt, dass weltliche Liederbücher ein verbreiteter Geschenkartikel waren und häufig als Liebesgabe überreicht wurden,⁹⁴⁶ was die These, dass es sich bei den vorliegenden Liedern um das Relikt einer Jugendkultur handelt, untermauert. Aus marktstrategischen Gründen achtete Greflinger darauf, dass weibliche Rezipienten besonders angesprochen wurden, denn sie hatten an den neuen Liedern erfahrungsgemäß besonders Interesse⁹⁴⁷ und die erwähnten Lautenbücher bestätigen, dass er diesen Geschmack traf: So findet man in dem Büchlein der Thorner Bürgertochter Renata Gehema (ausgerechnet) das tändelnde Lied I,1 („Ich fragte Dorinden“) notiert.⁹⁴⁸ Die Übernahme des Titelkupfers von Seladons Beständige Liebe mit dem modisch gekleideten Liebespaar, das sofort Assoziationen zu einer unglücklichen Liebesgeschichte weckt, mag ebenfalls solchen Über-
943 Das berichtet zumindest ein Pfarrer Ende des 16. Jahrhundert. Zitiert bei Rudolph Voss: Der Tanz und seine Geschichte: Eine kulturhistorisch-choreographische Studie. Berlin 1869, S. 141. 944 Am Beispiel Danzigs konnten wir exemplarisch beobachten, wie eine kleine bürgerliche Elite durch entsprechende Heiratspolitik eine homogene Schicht mit wenigen Familien blieb. Vgl. auch Baumann (Anm. 943), S. 41. 945 Laura Macy: Speaking of Sex: Metaphor and Performance in the Italian Madrigal. In: The Journal of Musicology 14 (1996), S. 1–35, hier S. 35. 946 Veldhorst (Anm. 932), S. 249 f. Louis Peter Grijp: Do women sing more than men do? In: Rode-Breymann (Anm. 928), S. 235–246, hier S. 242. 947 Vgl. ebd. 948 Das Lautenbuch der Virginia Renata von Gehema. Faksimile nach der handschriftlichen Tabulatur der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. Leipzig 1984, Faksimile, Einführung S. 6. Den Hinweis liefert Kurt Fischer: Gabriel Voigtländer. Ein Dichter und Musiker des 17. Jahrhunderts. In: SIMG 12 (1910/11), S. 17–93, hier S. 70.
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legungen geschuldet sein. Denn für den kommerziellen Erfolg war es wichtig, für das junge Publikum Identifikationsangebote bereitzustellen. Außerdem kam das Greflinger-Repertoire dieser Zielgruppe auch hinsichtlich der Performanz entgegen,⁹⁴⁹ denn in verhältnismäßig vielen Stücken ist das Sprecher-Ich weiblich.⁹⁵⁰ Die Aufführungssituation der Greflinger-Lieder dürfen wir uns schließlich weniger als das Zusammentreffen humanistisch gebildeter Frauen und Männer des Stadtpatriziats, kostümiert im Schäfergewand, zur Pflege einer geselligen Konversationskultur vorstellen, wie sie in idealer Weise in Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspielen literarisch entworfen und im Umfeld der Pegnitz-Schäfer auch umgesetzt wurde.⁹⁵¹ Auch der Musengarten Rists, wo man – wie die Szene aus den Monatsgesprächen zumindest vorführt – in vergnüglicher Runde gelehrt diskutierte und fröhlich sang, scheinen nicht den primären Aufführungsrahmen unseres Repertoires zu konstituieren. Vermutlich ging es bei solchen Treffen nämlich recht ausgelassen zu (Abb. 4).⁹⁵² In diesem Zusammenhang ist unbedingt hervorzuheben, dass zu Liedern im Stil des Greflingerrepertoires auch getanzt wurde, zumal – wie oben angesprochen wurde und im Folgenden genauer zu zeigen ist – viele Lieder auf modischen Tanzmodellen fußen. Schließlich war das Tanzen die beliebteste Kurzweil der Frühen
949 Vgl. dazu Grijp (Anm. 946), der zwar die niederländischen Verhältnisse im Blick hat, die sich aber mit den Verhältnissen (nord-)deutscher Städte vergleichen lassen. Allerdings konnten die weiblichen Rollenliedern auch von Männern und umgekehrt männliche Rollenlieder von Frauen übernommen werden. 950 Natürlich wissen wir nicht, ob das junge Publikum selbst als Käufer in Frage kam, immerhin wird das Liederbuch Greflingers einen Preis gehabt haben, der dem Tageslohn eines promovierten Stadtbeamten entsprach. Vgl. die Zahlen bei Elfriede Moser-Rath: „Bürger-Lust“. Unterhaltende Gebrauchsliteratur im 17. Jahrhundert. In: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland. Teil II. Hg. von Wolfgang Brückner u. a. Wiesbaden 1985, S. 881–898, hier S. 890. 951 Vgl. dazu Irmgard Scheitler: Poesie und Musik im Umfeld der Nürnberger Pegnitzschäferinnen. In: Rode-Breymann (Anm. 928), S. 35–66. 952 Vgl. hierzu die Studie „Sex and Drugs before Rock ’n’ Roll. Youth Culture and Masculinity During Holland’s Golden Age. Amsterdam 2012“ von Benjamin Roberts, die auf Grundlage eines breiten Quellenmaterials argumentiert, welches einen interessanten Einblick in diese ‚Subkultur‘ in den Niederlanden der Frühen Neuzeit gewährt. Mit einem stärkeren Blick auf die süddeutsche, ländliche und städtische Jugendkultur, deren rituellen Eheanbahnungsbräuchen und Gemeinschaftsaktivitäten vgl. Norbert Schindler: Hüter der Unordnung. Rituale der Jugendkultur in der frühen Neuzeit. In: Geschichte der Jugend. Von der Antike bis zum Absolutismus. Hg. von Giovanni Levi, Jean-Claude Schmitt [Frz. Originalausgabe: Histoire des jeunes en occident. 1995]. Frankfurt am Main 1996, S. 319–382.
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Abb. 4: Illustration von Adriaen van de Venne. In: Gilles Jacobs Quintiin: De HollandscheLiis, met de Brabandsche bely:poeetischer wyse voorgestelt. Gravenhage 1629, Nr. 20. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart. Signatur: Fr.D.oct.6656.
Neuzeit⁹⁵³ und entsprach durch seine höfische Assoziation wie auch das Musizieren dem Distinktionsbedürfnis der städtischen Oberschicht. Es versteht sich freilich von selbst und ist keine überraschende Erkenntnis, dass das Tanzen in spielerischer Art physische Nähe zum anderen Geschlecht herzustellen ermöglicht und ein gesungenes und zugleich getanztes Lied einen enormen ‚Flirtfaktor‘ hat. Doch unterstreicht dieser Aspekt nochmals eine entscheidende gesellschaftliche Funktion, die diesen Liedern in der historischen Aufführungsituation zukam. * Dass Greflinger mit seinen Liedern genau den anvisierten Rezipientenkreis erreichte, bezeugt schließlich die Tatsache, dass seine Stücke in verbreitete Sammelbände von weltlichen Liedern der zweiten Jahrhunderthälfte aufgenommen wurden, deren Titel unmissverständlich auf das Zielpublikum verweisen. Zunächst ist hier zu nennen:
953 Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. II. Dorf und Stadt. München 1992, S. 129.
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Tugendhafter Jungfrauen und Junggesellen Zeit-Vertreiber Das ist: Neu-vermehrtes, u. von allen Fantastischen groben unflätigen u. ungeschickten Liedern gereinigtes Weltliches Lieder-Büchlein Bestehend in vielen, meistentheils Neuen zu vor nie im Truck ausgegangenen lieblichen u. anmuthigen Schäfereÿ- Wald- Sing- Tantz- und keuschen Liebes-Liedern. Alle, von bekannten annemichen Melodeyen, in ein ordentlich verfast Register zusammen getragen Durch Hilarium Lustig von Freuden-Thal. gedruckt im gegenwärtigen Jahr.⁹⁵⁴
Das Liederbuch ist auf etwa 1670 zu datieren und enthält ein ‚Mahnlied‘ aus Seladons Beständige Liebe („Trawt den blossen Worten nicht“, hier S. 71), das beliebte „Ich fragte Dorinden, mein einiges Leben“ (Seladons Weltliche Lieder I,1) sowie den ‚Schlager‘ „Schweiget mir vom Weibernehmen“, und die Sammlung wird sogar mit Greflingers Trinklied „Ein Bissen zum Trunck“, dem Schlussstück aus Seladons Weltlichen Liedern (IV,12), eröffnet. Diese Lieder sind auch übernommen in der Neuauflage des Zeit-Vertreibers mit dem Titel Hans guck in die Welt (Nürnberg um 1700), dessen Titelkupfer an der Ikonographie der Greflinger-Sammlung orientiert zu sein scheint.⁹⁵⁵ Doch es existiert noch ein weiteres Zeugnis, das die Verbreitung und Popularität der Greflinger-Lieder eindeutig dokumentiert: 18 Lieder,⁹⁵⁶ mehr als von jedem anderen Autor (unter ihnen Zesen, Rist, Dach, Göring), nahm der ‚Bestseller‘ mit dem Titel Das Venus=Gärtlein oder Viel schöne außerlesene weltliche Lieder: allen zücht. Jungfrauen und Jungen-Gesellen zu Ehren […]⁹⁵⁷
auf. Diese Sammlung gilt als das „charakteristischste und […] verbreitetste Liederbuch aus der Mitte des 17. Jahrhunderts“ und repräsentiert mit dem vielseitigen Repertoire wohl wie keine andere Sammlung mit Stücken verschiedener Autoren den Zeitgeschmack.⁹⁵⁸ Es erschien in mehreren Auflagen vermutlich seit 1655 (die erste nachgewiesene Sammlung datiert 1656),⁹⁵⁹ also wenige Jahre
954 Aus der Meusebachschen Sammlung. Hg. von Hugo Hayn. Köln 1890. 955 VD17 1:670241N. Die Ausgabe von 1656 zeigt ein anderes Bild, ein sich küssendes Liebespaar. 956 Es sind die Lieder I,9+10; II,2; II,3; II,4; II,7; II,8; II,11; III,1; III,2; III,3; III,4 [veränderter Text]; III,6; III,10; III,11; IV,4; IV,5; IV,6. 957 Es liegt eine Edition vor: Venus-Gärtlein: ein Liederbuch des 17. Jh. nach d. Drucke von 1656. Hg. von Max von Waldberg. Halle 1890. 958 Von Waldberg (ebd.), Einleitung S. V. Vgl. auch Albert Classen, Lukas Richter: Lied und Liederbuch in der Frühen Neuzeit. Münster 2010, S. 293 ff. 959 Bereits die Ausgabe von 1656 gibt vor, eine Neuauflage zu sein; eine frühere Ausgabe ist jedoch nicht nachgewiesen. Insgesamt ist von mindestens sechs Auflagen auszugehen! VenusGärtlein, S. VIII.
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Abb. 5: Titelkupfer der Liedersammlung Venus-Gärtlein. Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Signatur: Yd 5091.
schon nach dem Erscheinen von Greflingers Seladons Wetlichen Liedern ohne Nennung eines Herausgebers. Die Ausgabe von 1659 ist in Hamburg bei Georg Pape, mit dem Greflinger für die Cid-Übersetzung zusammengearbeitet hatte, erschienen; eine Auflage aus dem Jahr 1661 ging bei Greflingers ‚Hausdrucker‘ Rebenlein in die Presse.⁹⁶⁰ Die Auswahl hing also möglicherweise auch mit der persönlichen Bekanntschaft mit den Druckern zusammen, wobei die Sammlung auf Nennung der Lied-Autoren verzichtet. Am finanziellen Erfolg partizipierten
960 Das Exemplar ist nicht im VD 17 nachgewiesen. Die Angabe findet sich bei Max von Waldberg (Hg.): Venus-Gärtlein. Ein Liederbuch des XVII. Jahrhunderts. Nach dem Drucke von 1656. Halle 1890, S. XI. Zu der komplizierten Druckgeschichte vgl. ebd. Der ‚Legende‘ nach wollte Rebenlein durch Ankauf des Venus-Gärtleins verhindern, dass Rists Galathee, die bei ihm in zahlreichen Auflagen erschienen war, zu große Konkurrenz bekäme.
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sie freilich nicht. Der Holzschnitt auf dem Titelblatt (Abb. 5) zeigt eine Szene in einem Saal, vielleicht in dem Tanzsaal eines Wirtshauses. Die tanzenden jungen Paare im Zentrum sind in stilisierten, höfisch anmutenden – passend zum Titel „züchtigen“ – Tanzposen dargestellt, auch ihre modische Tracht weist sie als Bürger höheren Standes aus. Für die musikalische Untermalung sorgen von einer Galerie aus spielend ein Gambist, der vielleicht zugleich singt, und ein Flötist. Auch wenn es sich freilich um eine stilisierte Szene handelt, kann das Bild in Verbindung mit dem Titel als Quelle für den Aufführungskontext herangezogen werden: Ausdrücklich werden „Jungfrauen und Jungen=Gesellen“ angesprochen, die zur fröhlichen, moralisch unbedenklichen Freizeitgestaltung (vgl. das Motto) ein aktuelles Repertoire⁹⁶¹ goutieren. Freilich alludiert der Titel „Venus=Gärtlein“ zugleich werbewirksam die amouröse Tendenz der Lieder. Die abgebildeten Instrumente könnten als Besetzungsvorschlag verstanden werden und es wird den Rezipienten zugleich deutlich, dass sich diese Lieder auch zum Tanz eigenen. * Es kristallisieren sich also drei eng miteinander verbundene Aspekte heraus, die in sozialhistorischer Hinsicht die Funktion der weltlichen Barocklieder, die durch Greflingers Repertoire paradigmatisch repräsentiert werden, benennen könnten. Diese Lieder fungieren (1) als intermediale Kunstwerke für prestigeträchtige, gesellige Freizeitgestaltung der oberen Bürgerschichten⁹⁶² (Stichworte ‚Selbstrepräsentation‘; ‚otium‘ /‚loisir‘). Die primäre Zielgruppe sind Jugendliche bzw. unverheiratete junge Erwachsene dieser Schicht. (2) Dabei eignen sie sich durch eine vielschichtige, interaktive Rezeptionssituation zugleich vorzüglich als Medium ethischer Normvermittlung bzw. -bestätigung und wirken somit sozialintegrierend (Stichwort ‚Ehe- und Liebeslehre‘, ‚Lasterschelte‘). (3) Darüber hinaus fungieren sie im Rahmen der geselligen Kontexte, in denen sie aufgeführt und rezipiert werden (singendes Rollenspiel, Tanz), auch als Katalysator gesellschaft-
961 „Newe Lied“ ist freilich geradezu ein Topos. Dennoch sind viele Lieder wie die Greflingers relativ aktuell. Man findet aber auch alte Lieder, sogar das Hildebrandslied und der ‚Evergreen‘ vom „Schloss in Österreich“ sind dabei – eine doch auch seltsame Mischung. 962 In Kenntnis der Tatsache, dass der ‚Bürger‘-Begriff komplex ist und Bezeichnungen wie ‚obere Bürgerschicht‘ sozialhistorisch uneindeutig sind, wird hier auf eine ausführliche begriffsgeschichtliche Erläuterung verzichtet. Vgl. Michael Maurer: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formaiven Phase des deutschen Bürgertums (1680–1815). Göttingen 1996; Manfred Müller: Art. „Bürger, Staatsbürger, Bürgertum“. In: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1 (1972), S. 672–725.
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licher Zwänge und ermöglichen somit eine sozial kontrollierte und legitimierte Geschlechterbegegnung (Stichwort ‚Eheanbahnung‘). Im Horizont dieser Überlegungen sollen die folgenden Analysen stehen.
5 Annäherung: Exemplarische Einzelanalysen Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass Greflinger für die Herstellung seiner Lieder verschiedene Produktionsverfahren einsetzt, die für das mittlere 17. Jahrhundert paradigmatisch sind. Damit bieten Seladons Weltliche Lieder die Möglichkeit, anhand einer Sammlung diese Verfahren gewissermaßen en miniature zu studieren. So basieren einige Lieder auf Tanzmodellen, d. h., dass bestimmte instrumentale Modetänze textiert werden – ein Verfahren, das unter anderem von Voigtländer und Albert bekannt ist. Welche Bedeutung dies auch in performativer Hinsicht hat, wird im Kapitel 5.1. untersucht. Ein älteres Verfahren zur Musikalisierung von Liedern – das um 1650 zwar nicht mehr sehr modern war, aber gleichwohl von vielen Autoren angewendet wird – ist die Angabe von bestimmten Melodien, auf die ein Text zu singen ist (‚Thonangabe‘, Kapitel 5.2.). Wir werden uns mit elf „Melodeyen“ zu beschäftigen haben, d. h. die Aufgabe besteht darin, die ursprünglichen Singweisen mit ihren Texten nachzuweisen und dabei ihr Verhältnis zu Greflingers neuem Gedicht zu untersuchen.⁹⁶³ Darüber hinaus wird sich herausstellen, dass die meisten Tonsätze der Sammlung definitiv nicht von Greflinger selbst stammen, sondern Adaptionen von Liedern aus bekannten Sammlungen vorliegen. Herkunftshinweise liefert Greflinger nicht – es handelt sich also um nicht markierte Kontrafakturen –, doch können mit Rückgriff auf alte Forschungsarbeiten die meisten Prätexte identifiziert werden. Ein kurzer Exkurs zu den problematischen Termini ‚Parodie‘ und ‚Kontrafaktur‘ geht der Analyse zweier Beispiele voran, die auf Tonsätze Johann Rists und Heinrich Alberts zurückgreifen. Die Analysen sollen jedoch nicht nur unter dem Aspekt der Produktion, sondern auch der Rezeption erfolgen. Zu integrieren und zu überprüfen sind hierbei somit die in den oberen Kapiteln entwickelten Überlegungen zum Rezeptionsmilieu und den damit verbundenen Aspekten Funktion und Aufführung.
963 Van Ingen hat diesen Bereich als einen „anspruchsvollen Aufgabenbereich der neueren [Barocklied-]Forschung“ benannt, weil daraus Rückschlüsse auf die Verbreitung bestimmter Lieder gezogen werden können. Van Ingen (Anm. 39), S. 10.
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5.1 Textieren eines Tanzsatzes „Daß Lied und Tanz auf natürliche Weise zusammenhängen, bedarf keines neuerlichen Kommentars“.⁹⁶⁴ Für den Untersuchungsgegenstand ist es gleichwohl von Interesse, auf welche Weise sich die beiden Kunstformen begegnen und durchdringen können. (In den anschließenden, einführenden Bemerkungen bleibt das choreographische Moment zunächst ausgespart). So sind für Tanz wie für das Strophenlied strenge Periodik und Wiederholungsstrukturen konstitutiv, wobei letzteres gemeinsame Prinzip unterschiedlich ausgeführt wird: Das Lied variiert durch den neuen Text jeder Strophe, der Tanz nutzt die Möglichkeit musikalischer Variationen (Umspielungen, Tongebung, Instrumente etc.). Explizit drückt sich diese intermediale Beziehung in Fällen aus, in denen ein Lied mit einem Tanznamen bzw. ein Tanz mit einem Text versehen wird.⁹⁶⁵ Um 1600 kann man von einer Blütezeit des komponierten Singtanzes sprechen und durch Sammlungen wie Hasslers Venusgarten oder Newe lustige Liebliche Täntze teutscher und polnischer Art, auch Galliarden und Intraden mit 4.5.6. Stimmen mit und ohne Text (Nürnberg 1615) fand die Tanztextierung endgültig Eingang in die deutsche Kunstlied-Kultur.⁹⁶⁶ Die direkte Beziehung zwischen Tanz und Lied wird im Laufe des 17. Jahrhunderts allerdings wieder schwächer, die Instrumentalmusik kommt zu eigener Geltung und die stilisierten Tänze werden im Laufe des Jahrhunderts Bestandteile der instrumentalen Suite. Dennoch bleibt für ein breites Repertoire des deutschen Barockliedes der Einfluss der Tanzmusik bedeutend. Es kann dabei beobachtet werden, dass das deutsche Tanzlied aufgrund der geographischen Lage und politisch-konfessionellen Pluralität des Reiches Einflüsse aus ganz Europa aufnimmt. Adaptiert und stilisiert werden modische Tanztypen aus Frankreich, Italien, den Niederlanden, England und Polen, außerdem wird an die einheimischen Traditionen angeschlossen. So finden wir in den deutschen Liederbüchern des mittleren 17. Jahrhunderts vor allem das Galliarden-, Couranten- und Allemandemodell.⁹⁶⁷ Das beliebteste Modell der Jahrhundertmitte war jedoch zweifelsohne die Sarabande; in der Musikwissenschaft ist gar
964 Braun (Musik, Anm. 699), S. 179. 965 Zu den „[l]atenten und explizite[n] Beziehungen“ zwischen Tanz und Lied vgl. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 14–16. 966 Vgl. hierzu Bruns (Anm. 850), S. 143 f. 967 Opitz selbst textierte Tänze: Das Lied „O du Gott der süßen Schmerzen“ ist in der ZincgrefAusgabe der Deutschen Poemata von 1624 mit dem Hinweis „Auff die Courante: Si c’est pour mon pucellage“ versehen. Nr. 62.
Annäherung: Exemplarische Einzelanalysen
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von einem „Sarabandentaumel des fünften Jahrzehnts“ des 17. Jahrhunderts die Rede.⁹⁶⁸ Dabei können wir nicht im Einzelnen nachvollziehen, ob es sich bei Liedern, die Merkmale bestimmter Tänze aufweisen, um ein reines Parodieverfahren handelt – ob also ein Lied auf eine existierende Tanzweise geschrieben und dessen Struktur somit adaptiert wurde – oder ob ein „generischer Typus“⁹⁶⁹ vorliegt. Hier bedient sich der Autor lediglich bestimmter musikalischer Tanzformeln, die er an das bereits vorliegende Strophengerüst anpasst. Für diesen Fall bildet das Repertoire Gabriel Voigtländers das Paradigma.⁹⁷⁰ Beispiele finden wir auch bei Heinrich Albert, der die Aneignung eines Tanzes z. B. mit dem Hinweis „nach Art der Polen“ annonciert (Arien: II,22; III,13; V,19). Es stellt jedoch eine Schwierigkeit dar, jeweils einen bestimmten Tanztyp als Modell zu identifizieren, da jedes Modell eine Vielzahl von nebeneinander existierenden Ausprägungen bietet und auch im zeitgenössischen Musikschrifttum keine eindeutigen Definitionen fallen.⁹⁷¹ Viele Tänze können ohne Bezeichnung ohnehin nicht voneinander unterschieden werden.⁹⁷² Auch ihre Semantik ist nicht einheitlich – so konnte eine Sarabande um die Mitte des 17. Jahrhunderts heiteren wie gravitätischen Charakters sein.⁹⁷³ Da eine „aus drei Viertelnoten auf gleicher Tonhöhe bestehende Initialformel“⁹⁷⁴ als ein Merkmal der Sarabande gilt, könnten die Lieder I,7 („An die abtrinnige Flora“), III,3 („Dorinden Abscheyd von dem Reyßfertigen Amynthas“) und IV,8 („Die Ferne trennet treue Hertzen
968 Braun (Musik, Anm. 699), S. 180. 969 Thomas (Anm. 893), S. 44. 970 Vgl. Fischer (Anm. 948); Schwab (Anm. 904). Die Adaption von Tanzmustern wird von den Autoren auch bisweilen vermerkt: „Auf Sarab[andische] Art“ heißt es z. B. bei Neumark (Lustgarten, Nr. X). Vgl. Thomas (Anm. 893), S. 44, Anm. 8. Für die Lieder von C. C. Dedekind hat Gary C. Thomas eine Reihe von Stücken auf Tanzmodelle zurückgeführt. Ebd., S. 42–55. Bei Rist stecken hinter sieben Liedern der Galathee vermutlich Instrumentalsätze. Wilhelm Krabbe: Zur Frage der Parodie in Rists „Galathea“. In: FS Hermann Kretzschmar zum siebzigsten Geburtstag. Leipzig 1918, repr. Hildesheim 1973, S. 58–61. 971 Eine Charakterisierung der verschiedenen zeittypischen Tänze findet man z. B. bei Praetorius, Syntagma III, Kap. XIf. Hier werden „Paduana“, „Passamezo“, „Galliarda“, „Bransle“, „Couranten“, „Volte“, „Allemande“, „Mascherada“ jeweils kurz abgehandelt. Eine wichtige weitere Quelle stellt die Orchésographie (1588) von Thoinot Arbeau dar. 972 So sind die Merkmale der Gaillarde relativ unspezifisch, von der Volte und Courant kann man sie kaum unterscheiden. Michael Lutz: Art. „Gaillarde“. In: MGG², Sachteil 3, Sp. 989–998, hier Sp. 991. Aber auch die Sarabande kann rhythmisch nicht eindeutig von der Courante unterschieden werden. Im frühen 17. Jh. galt sie als eine Abart der Courante. Rainer Gstrein: Art. „Sarabande“. In: MGG², Sachteil 8, Sp. 991–1002, hier Sp. 993. 973 Vgl. Gstrein (Anm. 972), Sp. 995 f. 974 Gstrein (Anm. 972), Sp. 994. Typischerweise ist auch die Zählzeit punktiert.
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nicht“), die außerdem sarabandengemäß einen ungeraden Takt aufweisen, auf ein solches Modell zurückgeführt werden. Auffällig ist dabei die übereinstimmende Affekthaltung – Trauer und Abschied sind die Themen der Lieder.⁹⁷⁵ Auch metrisch-formal sind sie verwandt: Besonders trifft dies auf III,3 und IV,8 zu, die das gleiche metrische Schema aufweisen (s. Tabelle im Anhang) und auch im Melodieverlauf passagenweise übereinstimmen. * Durch die Untersuchung dieses ‚Herstellungsverfahrens‘ lassen sich auch Erkenntnisse hinsichtlich performativer Aspekte gewinnen, nämlich welche choreographischen Elemente in der historischen Aufführungssituation möglicherweise integriert waren.⁹⁷⁶ Denn nachgewiesenermaßen wurden Tanzlieder noch „Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur als Kunstmusik dargeboten, sondern auch zum Tanz verwendet“.⁹⁷⁷ Dieser Aspekt ist in der Barockliedforschung noch nie dezidiert berücksichtigt worden.⁹⁷⁸ Auch in der Tanzforschung spielt diese, wenn man so will, ‚dritte mediale Dimension‘ des Liedes der Frühen Neuzeit bislang kaum eine Rolle.⁹⁷⁹
975 Zum Ausdruck der Trauer wird die Sarabande allerdings ausdrücklich erst in der musikalischen Affektenlehre des 18. Jahrhunderts gezählt. Vgl. Gstein (Anm. 972), Sp. 996. Vgl. auch Braun (Thöne, Anm. 237), S. 264. 976 Dabei wurden textierte Tänze auch zu reinen musikalischen Werken, die mit einer Choreographie nichts mehr zu tun haben. Zahllose Beispiele ließen sich anführen – so ist die Eröffnung der Motette „Herr, unser Herrscher“ (SWV 343) aus den Symphoniae Sacrae (1647) von Schütz an eine Courant angelehnt. Vgl. Dianne McMullen: German Tanzlieder at the Turn of the Seventeenth Century: The Texted Galliard. In: Music and German Literature. Their Relationship since the Middle Ages. Ed. by James McGlathery. Columbia 1992, S. 34–50, hier S. 34. Auch das genannte geistliche Opitz-Lied war natürlich nicht zum Couranttanzen gedacht! 977 Lutz (Anm. 972), Sp. 992. 978 Manfred Kern und Otto Rastbichler sprechen den Aspekt an, ohne näher darauf einzugehen (Wie klinget mein Gethöne? Zur Intermedialität barocker Lyrik und zu Vertonungen von Flemings weltlichen Gedichten. In: Was ein Poëta kann! Studien zum Werk von Paul Fleming [1609–1640]. Hg. von Stefanie Arend, Claudius Sittig. Berlin/Boston 2012, S. 409–424, hier S. 410 f.). 979 Jedoch hat unlängst ein Beitrag zum Liebesdiskurs im höfischen Tanz der Renaissance darauf aufmerksam gemacht, dass die italienischen und französischen Musterchoreographien im 16. Jahrhundert zu beliebten Liebesliedern entwickelt und dabei die erotischen Textelemente durch bestimmte Bewegungen gleichsam pantomimisch umgesetzt oder auch dezidiert ‚domestiziert‘ wurden. So konzipiert der Choreograph Arbeau zu der berühmten lasziven Chanson Jouyssance vous donneray (1528, Text: Clément Marot, Musik: Claudin de Sermisy) eine bewusst verhaltene Bewegungsfolge für eine Bassedanse mit distanzierenden Referenzfiguren (also Verbeugungen etc.), wobei durch die (womöglich auch gesungene) Chansons der erotische Kontext präsent bleibt. In der Balletto-Choreographie des Italieners Negri auf eine Aria Orazio Vecchis
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Belegt ist indes, dass es in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in wohlhabenden bürgerlichen Kreisen deutscher Städte modern wurde, zur Erlernung der aktuellen französischen Choreographien Tanzmeister zu engagieren. Man versuchte also auch in diesem Bereich, höfischen Lebensweisen nachzueifern, wenngleich die städtische Tanzkultur realiter wohl eher weniger mit den hochstilisierten Choreographien am Versailler Hof zu tun hatte. Ähnlich wie in der Musik herrschte vielmehr eine ad-libitum-Praxis.⁹⁸⁰ So mokiert sich um 1700 ein Tanzmeister (wohl aus Selbstwerbegründen) über die unzivilisierte Tanzweise „honette[r] Frauenzimmer“, die in Unkenntnis des kultivierten Bewegungsvokabulars sich bei Festivitäten nach Art der „tölpishen [!] Bauerntänzen“ so unziemlich gebärden würden, wie man es eher von „canailleusen Dorff-Nympffen“ erwarten würde.⁹⁸¹ Doch die Begeisterung für die neuen Tänze war groß. Als der Herzog von Braunschweig-Lüneburg Georg Wilhelm 1666 in Lüneburg zu einem Maskenball die Bürgertöchter der Stadt einlud, bereiteten diesen die neuen französischen Tänze einen „bis dahin nicht gekannten Genuß.“⁹⁸² * Dem Lied II,4 („An seine Gesellschaft“, Notenbeispiel II im Anhang) liegt eine Gaillarde zugrunde, ein Tanz romanischen Ursprungs. Allein aus dem Zeitraum zwischen 1590 und etwa 1620 sind über 100 gedruckte Lieder im GaillardeRhythmus überliefert.⁹⁸³ Der rhythmische ‚Prototyp‘ weist sechs Schläge mit
wird die im Lied dargestellte Caccia d’Amore hingegen pantomimisch durch „ein erotisierendes Spiel von Drängen und Zurückweisen“ abgebildet. Vgl. Valeska Koal: Liebesdiskurse im höfischen Tanz. In: Amor docet Musicam. Musik und Liebe in der Frühen Neuzeit. Hg. von Dietrich Helms, Sabine Meine. Hildesheim 2012, S. 203–233, hier S. 231. 980 Vgl. Stephanie Schroedter: „Also kann nichts frecher und verwogener aussehen, als wenn ein Frauenzimmer viel Sprünge und Capriolen machet“ – Genderspezifische Bewegungskonventionen im Gesellschafts- und Bühnentanz um 1700. In: Rode-Breymann (Anm. 928), S. 247–267, hier S. 253 sowie dies: „… dass ein geschickter Teutscher eben so galant, als ein gebohrner Frantzose tantzen könne …“. Tendenzen deutscher Tanzkunst um 1700 im Spannungsfeld von Adaption und Kreation“. In: Morgenröte des Barock. Tanz im 17. Jahrhundert, Tagungsband des Rothenfelser Tanzsymposions vom 9.–13. Juni 2004. Hg. von Uwe Schlottermüller, Maria Richter. Freiburg 2004, S. 189–215. 981 Zitiert nach Schroedter (Anm. 980), S. 256. 982 So ein zeitgenössischer Bericht, den Voss ohne Herkunftshinweis zitiert (Anm. 943, S. 143). Zu weiteren Zeugnissen sowie zu diversen Verordnungen, die die Obrigkeiten im ganzen Reich seit dem 16. Jahrhundert gegen ausschweifende Tanzveranstaltungen erließen, vgl. die Quellensammlung ebd. 983 Zu erwähnen sind z. B. die Tanzsammlungen Christoph Demantius’ (LXXVII auserlesene liebliche Polnischer vnd Teutscher Art Täntze … neben andern künstlichen Galliarden 1601 u. a.),
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charakteristischer Punktierung auf, auf die sich das grundlegende Schrittmuster dieses Tanzes stützt.⁹⁸⁴ Typisch sind auch die Wiederholungen der beiden achttaktigen (bzw. vier- oder zwölftaktigen) Perioden, aus denen eine Gaillarde in der Regel besteht. Mit diesem Modell stimmt der Rhythmus des vorliegenden Liedes überein. Deutlich zeigt sich die Synchronisierung von musikalischer und metrischer Form: Jeder der acht daktylischen, zweihebigen Verse erhält genau einen 6/4-Takt, das Lied besteht also aus acht Takten (4+4). Die acht Verse der Textstrophe (Silbenzahl 5 5 5 5–5 5 5 5, Reimschema aabbccdd) werden mit drei musikalischen Gedanken verbunden, die jeweils sequenzierend weitergeführt werden ( /:AAʹBBʹ: / - /:CCʹCʹʹʹBʹʹ: /). Die d-Verse bekommen also keine ‚eigene‘ Melodie, der erste d-Vers führt stattdessen die Sequenz der c-Verse fort, während der zweite d-Vers mit dem zweiten b-Vers korrespondiert. Die a-Verse weisen eine fast stufenweise Abwärtsbewegung über eine Oktave (e’’-e’) auf, die durch die gaillardetypische Punktierung – die sinnreich auf das Wort „schertzen“ fällt – und eine kleine melismatische Verzierung auf „Hertzen“ aufgelockert wird.⁹⁸⁵ Auf diese Weise wird auch die drohende Eintönigkeit des Daktylus geschickt vermieden. Die Melodie wandert im ersten Takt bis zum ‚Mittelton‘ (h’) dieses Oktavraums, um im zweiten Takt in nahezu gleicher strikter Bewegung auf e’ zu einem ersten Abschluss zu kommen. Der Bass verläuft dazu – wie fast im gesamten Stück – parallel zur Melodie in Terzen (natürlich eine Oktave tiefer), ist also recht ‚sanglich‘, bildet jedoch zugleich das harmonische Fundament. Mit den b-Versen verbindet sich ein neues Motiv, ebenfalls eine diatonische Abwärtsbewegung; diesmal über einen Sextraum (a’-c’). Der zweite b-Vers variiert hier den Gaillardenrhythmus ein wenig (Halbenote statt punktierter Viertel+Achtel). Dadurch wirkt die Kadenz (C-G-C) besonders hervorgehoben und die Aufforderung, das ‚Lieben‘ nicht zu verschieben, bekommt einen besonders insistierenden Charakter. Der Bass verlässt in diesem Takt seine Terzbindung an die Melodie und markiert stattdessen durch Quintfall (g-c) deutlich die Kadenz.⁹⁸⁶ Wieder beschwingt präsentieren sich die rhythmisch analog zum zweiten a-Vers gebauten c-Verse sowie der erste d-Vers, wobei diesmal die
Hans Leo Hasslers (Lustgarten Newer teutscher Gesänge, Baletti, Gallairden etc. 1601) und Hermann Scheins (Venus-Kränzlein oder weltliche Lieder […] neben etlichen Intraden, Galliarden etc. 1619). 984 Franz M. Böhme: Geschichte des Tanzes in Deutschland. 2 Bde. Leipzig 1886. Nachdruck Hildesheim 1967, S. 129. 985 In den Folgestrophen fällt das Melisma nicht immer sinnfällig auf ein entsprechendes Wort, störend wirkt es jedoch nie. 986 Dieser Wechsel ist konstitutiv für das gesamte Lied. So löst sich der Bass am Ende einer Zweitaktperiode zur Markierung der Kadenz (Takt 2, 4, 6, 8) stets vom melodiösen Duktus.
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Melodie in einer dreitaktigen Sequenzkette nach oben strebt. Das kleine Melisma fällt hier – ebenfalls sehr passend – auf „Geigen“ und „(nicht) schweigen“, schließlich im ersten d-Vers auf „Dantze“. Im letzten Takt erreicht die Melodie auf d’-e’ („pflücket“) ihren Höhepunkt und mündet schließlich in einer Abwärtsbewegung (nach dem Modell des zweiten b-Verses) auf a’. Dieses schlichte, in seiner durchdachten, symmetrischen Faktur mit dem engen Text-Tonsatz-Verhältnis durchaus gelungene Gaillardenlied gehörte zu den erfolgreichsten Stücken Greflingers, wie seine Rezeptionsgeschichte zeigt. Indikator für seine Bekanntheit und Beliebtheit bei den Zeitgenossen ist die Aufnahme in die erwähnte Sammlung Das Venus=Gärtlein. Achim von Arnim und Clemens Brentano nahmen es später in Des Knaben Wunderhorn unter dem Titel „Ehestand der Freude“ auf.⁹⁸⁷ In der Folgezeit findet man es in zahlreichen Volksliedsammlungen: in Friedrich Haugs Poetischer Lustwald⁹⁸⁸, in Friedrich Erlachs Die Volkslieder der Deutschen III (1836), und Ramler übernahm es im Liederbuch des deutschen Volkes (1843). Der von Arnim und Brentano erfundene Titel gibt das Stichwort für eine nähere Betrachtung der inhaltlichen Ebene von „An seine Gesellschaft“. Ein Kollektiv appelliert in diesem Lied an sich selbst, bald zu heiraten. Entsprechend sind die Imperative, die das Lied durchziehen, in der ersten Person Plural formuliert – das Lied könnte also von einer Gruppe gesungen worden sein, der Titel mit dem Personalpronomen im Singular weist hingegen auf solistische Darbietung. Der Sänger würde dann das Kollektiv repräsentieren. Es lässt sich eine Dreiteiligkeit im gedanklichen Aufbau beschreiben: Die Strophen eins und zwei artikulieren eine Aufforderung zum Tanz, die sich mit dem Appell verbindet, die Freuden der Liebe zu genießen. Tanzen und Lieben werden somit eng aufeinander bezogen. Die in Strophe zwei gleichsam performativ beschriebenen Elemente des Tanzes – Hände drücken, Abklatschen, Küssen, Stampfen – stilisieren und präfigurieren gewissermaßen im heiteren, ausgelassenen ‚Spiel‘ den Liebesgenuss. Diese ‚choreographischen‘ Elemente könnten auch tatsächlich Teil der Aufführung sein. Erotisch aufgeladene Vokabeln und Metaphern aus der Volksliedtradition kommen zudem zum Einsatz: „Schertzen“ ist in den Liedern des
987 In einem Brief Arnims an Brentano zitiert jener die erste Strophe des Liedes mit Änderung einiger Wörter und fügt eine Strophe aus Poetische Rosen und Dörner (Nr. XXIII) hinzu, die im gleichen Metrum gedichtet ist: „Weine von Reihne [!] / Neckar und Maine / Stärken die Sinne“. Arnim (Anm. 756), Briefwechsel, Nr. 372. 988 Mit ‚modernisiertem‘ Text: z. B. Strophe 2: „Drücket die Hände / Fasset die Lende / Labt Euch mit Küssen / Schwelgt in Genüssen / Spornet Euch fröhlich! / Machet Euch ehlich […]“, Strophe 3: „Ehlich zu werden / ziemt sich auf Erden / Ledige finden / Lust nur in Sünden“.
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15. und 16. Jahrhunderts meist sexuell konnotiert,⁹⁸⁹ zu diesem semantischen Feld gehört auch die Aufforderung „Pflücket vom Cranze“, die an das alte Motiv des ‚Blümleinpflücken‘ erinnert. (Dabei könnte auch wiederum bei der Aufführung ein bestimmtes Ritual gemeint sein – vielleicht ein Hochzeitsbrauch). Die heitere Tanzstimmung wird jedoch durch das implizit stets mitschwingende carpe-diem-Motiv getrübt. „Lasset uns Lieben / Ohne Verschieben“ wird von den „Blühenden Hertzen“ gefordert, denn – so kann man schlussfolgern – was jetzt noch in voller Blüte steht, ist morgen verwelkt. Dazu passt auch, dass nicht nur der Tanz, sondern auch die Musik selbst thematisiert wird: „Lauten und Geigen / Sollen nicht schweigen“. Musik, repräsentiert durch Musikinstrumente, gehört zu den zeittypischen Vanitas-Motiven. In zahllosen Stillleben sind neben Blumen, Stundenglas und Kerzenständern Notenblätter, Geigen, Lauten oder andere Instrumente drapiert. Wie keine andere Kunst versinnbildlicht nämlich die Musik mit ihrem transitorischen Wesensmerkmal die Vergänglichkeit alles Irdischen – sie erklingt und stirbt gleichsam im selben Augenblick. Jetzt aber, so das Gedicht, im glücklichen Moment der Jugend, soll Musik erklingen. Doch bevor sie zu schweigen beginnt, gilt es, sich zu verheiraten, denn der Ehestand ermöglicht es, die Freuden der Jugend zu intensivieren und zu erhalten. Folglich können nur „Narren“ diesen rechten Moment versäumen. Musik steht also hier nicht nur für Vanitas, sondern auch für Liebesfreuden. Die dritte Strophe bildet nun eine eigene gedankliche Einheit. Sie artikuliert christliche (protestantische) Ehevorstellungen: Die Ehe ist nicht nur für das Individuum erstrebenswert, sondern „[d]ienet der Erden“ – sie ist in einer vormodernen Gesellschaft eine ‚totale Tatsache‘⁹⁹⁰ (van Dülmen), also auch Dienst an der Gemeinschaft und damit letztlich an Gott. Dabei ist es die wichtigste Aufgabe der Ehe, Nachkommenschaft zu zeugen. „Jeder muß sterben / Machet euch Erben“, mahnt das zu sich selbst sprechende Kollektiv. Nachkommen sichern dem „Gute / Namen und Blute“, sind somit die einzige Möglichkeit, der Irdischen Eitelkeit etwas entgegenzusetzen. Die letzte Strophe schlägt durch den anaphorischen Bezug („Lasset“) auf der Wortebene einen Bogen zurück zur Eingangsstrophe. Die Schlussverse portraitieren in burleskem Ton offenbar unverheiratet gebliebene Alte. Sie entsprechen den satirischen Typen der Nörgler und verbildeten Besserwisser, auf deren Rat lieber nicht zu hören sei. Diese Verse haben aber auch eine konfessionelle Stoßrichtung, denn nach protestantischem Verständnis ist die Ehe als göttliche Institution über jede Form zölibatären Lebens zu erheben. In chiastischer Stel-
989 Vgl. DWb 14, Sp. 2597 ff.: „vom tändeln, kosen im liebesverkehr, in derbem sinne“. 990 Van Dülmen (Anm. 942), S. 67.
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lung („Blühende Hertzen / Lasset uns schertzen“) bilden die Eingangsverse den Abschluss des Liedes, wodurch der Text als eine wohlgeordnete Einheit wirkt. Sprachlich ist das Stück durch den oben angesprochenen schlichten, volksliedartigen Duktus geprägt, das Vokabular stammt aus der Sphäre des Volksliedes. Helle Vokale und lautmalende Wendungen (l- und sch-Laute) dominieren in den Passagen, in denen die heitere Tanzstimmung herrscht (v. a. in Strophe eins und zwei), und kontrastieren mit dunklen Lauten, die auftreten, wenn es um die Eheverächter geht (Strophe zwei, V. 14–16, Strophe vier, V. 33 f., 36 f.). Es ginge nun bei der Interpretation des Liedes eine wichtige Bedeutungsschicht verloren, würde man nicht die Tatsache berücksichtigen, dass es sich bei diesem Lied womöglich um ein gesungenes und getanztes Stück handelt. Es wurde bereits erklärt, dass dem Greflinger-Lied ein Gaillardenmodell zugrunde liegt. Dass Galliardenlieder in der Barockzeit nicht nur gesungen, sondern auch getanzt wurden, ist belegt. So schreibt Kaspar Stieler noch Ende des 17. Jahrhunderts: „Galliarda […] est genus cantionis ad saltum compositae“.⁹⁹¹ Bei der getanzten Gaillarde handelt es sich, wie der Name andeutet, um einen fröhlichen Sprungtanz, mit abwechselndem Damen- und Herrensolo, für den Arbeau in seiner Orchésographie eine typische Choreographie beschreibt.⁹⁹² Denkbar, und vielleicht sogar wahrscheinlicher, ist es jedoch, dass bei dem vorliegenden Tanzlied eine der Gaillarde sehr eng verwandte Form vorliegt: die berüchtigte Volta (dafür würde auch der 6/4-Takt sprechen), die in dieser Zeit trotz, oder wahrscheinlich wegen ihres zwielichtigen Images sehr beliebt war und „mit größter Ausgelassenheit getanzt“ wurde.⁹⁹³ Sie ist ein Wirbeltanz, gekennzeichnet durch frivole Gebärden und Bewegungen, bei der „man einander an schamigen orten fasset“, wie es bei Praetorius heißt.⁹⁹⁴ Die Volta galt gar als Tanz der Hexen in der Walpurgisnacht.⁹⁹⁵ Bereits Tanzmeister Arbeau äußerte folglich Bedenken: „Je vous laisse à considerer si cest chose bien seante à une jeusne fille de faire de grandes pas & ouvertures de iambes“.⁹⁹⁶ In der Regel tanzte immer nur ein Paar, wobei nach einer Tanzeinheit durch abwechselnd Damen- und Herrenwahl die ganze Gesellschaft zum
991 Zitiert nach Lutz (Anm. 972), Sp. 992. 992 Abwechselnd wird fünfmal vom rechten auf das linke Bein gesprungen (cinque passi), wobei das frei werdende Bein nach vorne gestreckt angehoben wird. Auf die fünfte und sechste Note findet eine ‚cadence‘ statt: ein abschließender Luftsprung mit Landung auf beiden Beinen. Vgl. ebd. 993 Voss (Anm. 943), S. 144. 994 Zitiert nach Lutz (Anm. 972), Sp. 996. 995 Voss (Anm. 943), S. 97. 996 Zitiert nach Lutz (Anm. 972), Sp. 996.
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Zuge kam.⁹⁹⁷ Im performativen Vollzug wird also das tanzende Paar – vielleicht die künftigen Eheleute oder das Brautpaar selbst – als gleichsam ideale Form einer menschlichen Gemeinschaft effektvoll in Szene gesetzt. Dabei wäre die Aufführungssituation so zu denken, dass die nicht tanzenden Akteure sich singend beteiligten. Gleichzeitiges Singen und Tanzen ist jedenfalls bei einer Volta, und selbst schon bei der Gaillarde, wegen der anstrengenden Sprünge schwer vorstellbar. Diese Aspekte einer dritten medialen Dimension des Liedes sind nun mit dem Gesagten zu Worttext und Musik für den Versuch einer Gesamtinterpretation des Liedes zusammenzuführen: Tanz ist in Greflingers „An seine Gesellschaft“ strukturell und auch thematisch weitgehend dominierend, das Tanzlied inszeniert sich gewissermaßen selbst als solches (Strophe 1 und 2). Dabei ist freilich nicht von vorherein davon auszugehen, dass die textuelle und musikalische Referenz auf Tanz unmittelbar den Rückschluss auf eine pragmatische Vollzugsform erlauben würde. Gleichwohl kann – wenn die oben aufgestellten Thesen zur sozialhistorischen Situierung der Greflinger-Lieder zutreffen – von einer primär performativen Rezeptionssituation ausgegangen werden. Die oben aufgestellten Hypothesen ließen sich also an diesem Beispiel konkretisieren. Als gesellschaftlicher Rahmen für die Aufführung von „An seine Gesellschaft“ ist eine heitere Zusammenkunft, möglicherweise ein Hochzeitsfest vorstellbar.⁹⁹⁸ Die Akteure sind Jugendliche bzw. junge Erwachsene, ein Publikum anderen Alters kommt in Anbetracht des Textes kaum in Frage. Zur Realisierung sind mindestens ein Instrumentalist und ein Sänger vonnöten. Doch könnte das Lied von der gesamten Gemeinschaft intoniert werden, zumal die Melodie sehr eingängig ist und schnell erlernt werden kann. Der beschwingte Rhythmus lädt dabei sogleich zum Tanz ein, wozu der Text ja sogar dezidiert auffordert, wobei sich als Choreographie die Volta mit ihren erotisch-spielerischen Elementen eignet. Zugleich mahnt der Sänger zur Heirat. Denn die eheliche Liebe legitimiert nicht nur den körperlichen Liebesgenuss – wie er im Tanz und im Gesang gleichsam
997 Voss (Anm. 943), S. 145. 998 Dass Tanzen und Singen zu Hochzeitsfeiern gehört, wurde auch in den oberen Kapiteln ausführlich dargestellt und liegt ja auch gewissermaßen auf der Hand. Entsprechende Polizeiordnungen bezeugen das ausgelassene Treiben bei diesen Zusammenkünften. Vgl. auch die Zusammenstellung von obrigkeitlichen Verboten Tanzveranstaltungen betreffend bei Böhme (Anm. 984), Kap. VIII. „Bey Täntzen soll sich ein jeder, bey den Hochzeiten und sonsten, ehrbar und züchtig halten, und sich des ungebührlichen Verdrehens und Umwerffens dussern und zu keinem ungeziemenden Nachdenken, mit Gebehrden oder in andere Wege einige Ursache geben,“ heißt es in einer Verordnung des Herzogtums Lüneburg. Fürstlich Braunschweig-Lüneb. Zellischen Theils Policey-Ordnung, Band I, S. 78.
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präfiguriert wird – die Ehe und die mit ihr einhergehende Nachwuchszeugung ist überhaupt die eigentliche, gottgewollte Daseinsbestimmung, die vollkommene Ordnung, wie sie auch durch das ebenmäßig, schlicht, doch wohlgeordnete Tanzlied versinnbildlicht wird. * Ein anderes Lied der Sammlung, „Hylas will kein Weib nicht haben“ (I,3; Notenbeispiel III im Anhang), das auf einem Allemande-Modell beruht, erfuhr ähnlich wie „An seine Gesellschaft“ eine gewisse literarische Rezeption und wurde in der Folge von der Forschung als gewissermaßen paradigmatisches Greflinger-Lied aufgefasst.⁹⁹⁹ Ramler nahm das Hylas-Lied in die Lieder der Deutschen¹⁰⁰⁰ auf, jedoch anonym. Anonym erscheint es auch bei Hoffmann von Fallersleben.¹⁰⁰¹ Cysarz zitiert es als Beispiel Beleg für Greflingers „unbürgerliches Freiluftleben“¹⁰⁰², in einer frivolen Lyriksammlung von 1904 erscheint es unter Greflingers Namen mit dem Titel „Der Ehe-Hasser“¹⁰⁰³ und noch in einem zotigen Liederbuch aus dem Jahr 1930 ist es als „Der Hagestolz“ zu finden.¹⁰⁰⁴ Auch Albrecht Schöne bedachte das Hylas-Lied in seiner Anthologie.¹⁰⁰⁵ Jedenfalls erfreute sich „Hylas will kein Weib nicht haben“ schon beim zeitgenössischen Publikum größter Beliebtheit, wovon die Aufnahme in den Tugendhaften Jungfrauen und Junggesellen Zeit-Vertreiber, in das Venus=Gärtlein, in das Liederbuch des Johann Heck und in das Liederbuch des Studenten Clodius ein
999 Hinsichtlich des Themas hat sich Greflinger möglicherweise von Voigtländers Sammlung anregen lassen. In dessen Allerhand Oden und Lieder wird in den Liedern Nr. 16 und 17 sowie 18 und 19 ebenfalls jeweils ein Lied, das vor den Plagen und Nöte des Ehestandes warnt (Nr. 16 „Weiber nehmen ist kein Pferde kauff“ und Nr. 18 „Allerley bedencken in Heurahten“), je einem Lob auf die Ehe gegenüber gestellt (Nr. 17, Nr. 18 beide mit dem Titel „Dieser helt das Wiederspiel“). Vgl. Fischer (Anm. 948), S. 69. S. auch Kemper, der kurz auf das Greflinger-Lied hinweist (Anm. 813, S. 79). Simplicius zitiert 1. Mose 1,27 f. („dem heyligen […] Ehestand), S. 211; Sprüche 31, 10–31 („und gleich wie eine […] Zierd des Manns ist“), ebd. Vgl. Stellenkommentar von Breuer. 1000 Ramler (Anm. 53), S. 45 f. (zwei Strophen mit Palinodie). 1001 August Heinrich Hoffmann von Fallersleben: Unsere volkstümlichen Lieder. Hg. und neu bearb. von Karl Hermann Prahl. 4. Aufl. Leipzig 1900, Nr. 1014 und Nr. 914. 1002 Cysarz (Anm. 88), S. 135. 1003 Maximilian Bern: Dichtungen vom Brettl und fürs Brettl. Berlin 1904, S. 98 f. im Kapitel „Bunte Lieder“. Die Anthologie beinhaltet heitere und zotige Gedichte verschiedener Epochen. 1004 Richard Zoozmann: Unartige Musenkinder. Lose Lieder aus sieben Jahrhunderten. Leipzig 1915. 1005 Deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 3: Das Zeitalter des Barock. München 1963, S. 887 f.
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Greflinger und das weltliche Barocklied
aussagekräftiges Zeugnis ablegt. Auch die Palinodie dieses Liedes, der in der Greflinger-Sammlung unmittelbar folgende „Wider=Ruff“ (I,4), wurde gelegentlich mit abgedruckt (z. B. im Liederbuch von Johann Heck, später mit leicht ‚modernisiertem‘ Text auch bei Ramler). Dieser Text revidiert die Polemik gegen das Heiraten. Dabei wird zur Textbildung die Kompositionsform des widerrufenen Textes beibehalten, während die dominante Aussage – wie es für die poetologisch kodifizierte Form der Palinodie konstituierend ist¹⁰⁰⁶ – in ihr Gegenteil verkehrt wird: I,3
I,4
1. Schweiget mir vom Frauen¹⁰⁰⁷ nehmen / Es ist lauter Ungemach Geld außgeben / wiegen / grähmen / Einmal Juch vnd dreymal ach / Ist sie jung / so will sie fechten / Ist sie alt / so ists der Todt / Ist sie reich / so will sie rechten / Ist sie arm / wer schaffet Brodt.
2. Wer beschimpft das Frauen=nehmen? Wer benamt es Ungemach? Die sich keiner Sünde schämen / Lassen dieses nehmen nach. Ist sie jung / sinds Liebe Blicke Ist sie alt / dest’ eher Todt. Ist sie reich / ist das nicht Glücke? Ist sie arm / Gott schaffet Brodt.
Auch in den folgenden Antistrophen wird vor Augen geführt, welche Nachteile und Gefahren die „Buhlerey“ mit sich bringe: Sexuelle Zügellosigkeit bedeute dabei nicht nur Sünde und somit die Bedrohung des Seelenheils¹⁰⁰⁸ (Str. 2), sondern bereite auch konkrete Unannehmlichkeiten wie beispielsweise ständige Vaterschaftsstreitigkeiten vor Gericht (Str. 3) und gesellschaftlichen Spott (Str. 4). Außerdem sei das „grosse Sünden=Spiel“ auch eine finanzielle Belastung, da man bei ständigem Frauenwechsel viel Geld für Geschenke wie „Spiegel / Strümpffe / Flor / Favore / Band vnd Schue“ (Str. 5) brauche. Schließlich präsentiert sich das Ich als Bekehrter, der nun das „freyen“ dem „buhlen“ endgültig vorziehen wolle. Das oben erläuterte Phänomen der ‚doppelten Textualität‘ ist wiederum erkennbar, denn die Musik ‚konserviert‘ gewissermaßen die Argumente des Ehehassers, so dass diese als Kontrastfolie beim Gesang des Ehebefürworters unmittelbar präsent
1006 Zu dieser intertextuellen ‚Schreibweise‘ vgl. Theodor Verweyen, Gunther Witting: Parodie, Palinodie, Kontradiktio, Kontrafaktur. In: Dialogizität. Hg. von Renate Lachmann. München 1982, v. a. S. 202–236; Friedrich-Wilhelm Hoffmann: Die Palinodie als Gedichtform in der weltlichen Lyrik des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Klärung des Begriffs „Palinodie“. Diss. Göttingen 1956. 1007 Im Text, der den Noten unterlegt ist, heißt es „Weiber nehmen“. 1008 Hierbei handelt es sich um einen zentralen Aspekt der protestantischen frühneuzeitlichen Ehelehre. Vgl. Richard Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Das Haus und seine Menschen. München 1990, S. 157–198.
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sind. Für den Zuhörer bewirkt dieser Effekt ein intellektuelles wie ästhetisches Vergnügen – er wird zur Urteilsbildung herausgefordert und kann sich zugleich über die gelungene semantische Umbesetzung der Palinodie amüsieren. Die beiden Positionen werden in den Schlussstrophen dabei noch einmal besonders pointiert resümiert: Während die zentrale Aussage des Ehehassers „Buhlen, buhlen ist mein Sinn“ lautet, und der Zuhörer diese im Gedächtnis behält, heißt es in der Antistrophe im analogen Vers 4 „Freyen, freyen ist mein Sinn“. Dennoch wird in den letzten Versen leichte Skepsis artikuliert, ob das monogame Dasein wirklich lohne, so dass man den „Widerruf“ auch als eine nur scheinbare Revision auffassen könnte: Freyen ist mir Honigsüsse / Kompt die Galle dann darzu / Daß ich Leibesfreuden misse / Ey so hat die Seele ruh.
Auffällig ist ferner, dass trotz moraldidaktischem bzw. ehedidaktischem Gestus (der auch durch die satirische Pointe nicht völlig zurücktritt) die theologischen Argumente mit Bibelbezug im Vergleich beispielsweise mit den Begründungen, die Simplicius im Gespräch mit Springinsfeld anführt (darauf wurde oben verwiesen, Kap. III 3.3.), nämlich Heiligkeit des Ehestandes und die Frau als Zierde des Mannes, nicht genannt werden. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass Simplicius in einem unkanonischen Seitenstück des Simplizianischen Zyklus’, in dem Gesprächsspiel Rathstübel Plutonis oder die kunst reich zu werden, seinerseits die Position des Heiratsskeptikers einnimmt. Hier greift er fast wörtlich die Argumente Springinsfelds aus der oben erwähnten Episode auf, wobei die Vor- und Nachteile der Ehe im Kontext des für das Rathstübel Plutonis zentralen Gelddiskurses¹⁰⁰⁹ erörtert werden: 89. Simplicissimus: Jch aber sage / welcher Reich werden wolle / solle gar kein Weib nemmen […] Jch habe das junge Frauenvolk zwar niemals verachtet / thue es auch noch nicht / sondern sage / daß man ob besserer Prosperität willen gar kein Weib nemmen soll […].¹⁰¹⁰
1009 Vgl. Martin Stern: Geld und Geist bei Grimmelshausen. In: Daphnis 5 (1976), S. 415–464, bes. S. 432 ff. 1010 Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Rathstübel Plutonis. In: Ders.: Werke I,2. Hg. von Dieter Breuer. Frankfurt am Main 1992, S. 676 f.
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Im Folgenden zählt Simplicius die finanziellen Belastungen auf, die selbst für die nützlichen häuslichen Tätigkeiten einer Frau anfallen wie zum Beispiel der Kauf von Putzgerätschaften. So kommt er zu einer eindeutigen Conclusio: „Jch will mich auff mein altes Liedlein beruffen haben / Schweiget mir vom Frauen nemmen etc.“ Offenbar war also Greflingers Lied in den 1670er-Jahren, als das simplizianische Gesprächsspiel entstand, so bekannt, dass das Incipit sogar sprichwörtlichen Charakter hatte. Auch vor diesem Hintergrund wird man es also als eine Art barocken ‚Schlager‘ bezeichnen können. Dieser Bezug war der Forschung bislang nicht bekannt.¹⁰¹¹ Entscheidend für diese offensichtliche Verbreitung muss jedoch nicht nur der Text gewesen sein, sondern auch der musikalische Part, dessen Herkunft sich über Umwege ein Stück weit zurückverfolgen lässt: Johann Adam Reincken (1643–1722), der aus den Niederlanden stammende Organist, enger Freund Buxtehudes und Mitgründer der Oper am Gänsemarkt, verfasste vor 1700 die Klaviervariationen Partite diverse sopra l’Aria: Schweiget mir von [!] Weiber nehmen, altrimenti chiamata La Mayerin.¹⁰¹² Tatsächlich ist die dritte Partita nahezu identisch mit dem Satz des Greflinger-Liedes. Der Zusatz „chiamata La Mayerin“ weist darauf hin, dass die Melodie „Schweiget mir vom Weibernehmen“ auf ein möglicherweise volkstümliches Musikstück zurückgeht, das unter dem Namen „La Mayerin“ bekannt gewesen sein muss. Zum ersten Mal belegt finden wir es bei Johann Jakob Froberger (1616–1667): in seiner Kaiser Ferdinand III. dedizierten Suite VI, die aus sechs Variationen „Auff die Mayerin“ besteht.¹⁰¹³ Das Manuskript der Wiener Staatsbibliothek datiert 1649.¹⁰¹⁴ Es ist jedoch fraglich, ob wir hier
1011 Breuer datiert das Entstehungsjahr des simplicianischen Textes auf 1671. Vgl. Kommentar zu Rathstübel (Anm. 1010), S. 1023. Die Drucklegung erfolgte 1672. Breuer kann das Lied im Stellenkommentar nicht identifizieren: „Grimmelshausen spielt wiederholt auf solche populären Lieder (Gassenhauer) an; ob es sich um Fiktionen oder tatsächliche Zeitungslieder handelt, ist ungeklärt.“ Ebd. S. 1041. 1012 Adam Reincken: Collected Keyboard Works. Ed. by Willi Apel. American Institute of Musicology 1967 (Corpus of early Keyboard Music 16), S. 61–73. Die Partite erschienen 1710 in einem nicht autorisierten Druck: VI Suittes / Divers Aris avec Leurs Variations […] Amsterdam [1710]. S. Ulf Grapenthin: Art. „Johann Adam Reincken“. In: MGG², Personenteil 13, Sp. 1506–1512, hier Sp. 1508. Die Klavierkomposition müsste in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstanden sein. 1013 Johann Jakob Froberger’s Werke für Orgel und Klavier. Hg. von Guido Adler. II. Band. 30 Suiten und 7 Suitensätze für Klavier. Wien, Leipzig 1903 (DTÖ 13), S. 13–17. Auf die sechs Partiten folgt noch eine Courante „sopra la Mayrin“ mit Double, schließlich eine Sarabande „sopra Mayrin“, so dass die Variationsreihe zur Suite tendiert. 1014 Faksimile des Manuskripts: Vienna, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, Mus. Hs. 18706 (Froberger autographs). Introduction by Robert Hill. New York, London 1988.
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Greflingers Vorlage gefunden haben, da zu Lebzeiten Frobergers nur zwei Kompositionen, darunter nicht die Mayerin-Variationen, gedruckt worden waren.¹⁰¹⁵ Froberger bearbeitete in seinen Partiten „französische und englische Lautenwerke oder deren Adaptionen für Tasteninstrumente aus dem ersten Drittel des 17. Jh.“;¹⁰¹⁶ Greflinger greift also vermutlich unabhängig von Froberger auf eines dieser Werke zurück.¹⁰¹⁷ Bassmodell und Melodiestruktur sind in den schlichten Partiten bei Reincken und Froberger mit dem Greflinger-Stück jedenfalls nahezu identisch. * Werfen wir einen Blick auf die musikalische Substanz des Liedes, das also sogar Musikern ersten Ranges gefiel: Der Stollen, der wiederholt wird, stellt ein zweitaktiges Thema in G-Dur vor, dessen Melodie einen Sextraum in behäbig, fast monoton anmutenden Viertelnoten zunächst vom h’ bis zum tiefsten Ton des Liedes (d’) herabschreitet, um dann in kleinen Invervallsprüngen zu einer Aufwärtsbewegung zu tendieren. Die Achtelverzierungen in der ersten Hälfte des zweiten Taktes lockern den eher steifen Melodieduktus des Stollens auf und passen in mehreren Strophen gut zum Text (Strophe 1: „Einmal juch und dreymal ach“; Strophe 2: „Buhlen / buhlen stehet frey“, Strohe 8: „Buhlen / buhlen ist mein Sinn“). Der Bass verläuft im ersten Takt in einer parallelen Terz- bzw. Dezimbewegung (in Viertelnoten). Er wandert also ebenfalls stufenweise abwärts, folgt aber ab dem zweiten Takt der Melodie in ihrer Bewegung nicht mehr, sondern setzt die Abwärtsbewegung stur fort, um am Ende des zweiten Takts durch einen Quintsprung auf- und abwärts (g-d-g) die Kadenz in G-Dur deutlich zu markieren. Diese Faktur des Basses haben wir bereits bei „Lasset uns schertzen“ kennengelernt. Wiederholungsstrukturen in der Melodiebildung kennzeichnen den viertaktigen Abgesang: Der erste Takt (T 3) sowie der letzte (T 6) bilden durch eine fast identische Melodiestruktur eine ‚Klammer‘, die den Abgesang eng zusammenhält. Zugleich wird ein Bezug zum Stollen hergestellt, dessen Eröffnungstakt durch die tonleiterartige Abwärtsbewegung enge Verwandtschaft zu dieser Struk-
1015 Vgl. Siegbert Rampe: Art. „Johann Froberger“. In: MGG², Personenteil 7, Sp. 171–187. 1016 Rampe (Anm. 1015). 1017 August Wilhelm Ambros, der Greflingers Lied nicht kennt (Geschichte der Musik. Bd. IV. 3. Auflage Leipzig 1903, S. 767 f.), vermutet, dass es sich um ein Volkslied handelt oder „eine Lieblingsmelodie jener Ursula Meyer, genannt ‚die Meyerin‘, welche […] viele Jahre im Dienste Anna von Österreichs […] stand“ und Hofdame am polnischen Königshof wurde. Es würde sich also nach Ambros um eines von Frobergers „Dedikantenstücken“ handeln.
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tur aufweist. Der mittlere Teil des Abgesangs wirkt durch die Achtelbewegung über einen Quintraum aufwärts (g’-d’, T 5), der sogleich einen Ton höher sequenziert wird, indes dynamischer. In diesem Takt läuft der Bass in Terz- bzw. Dezimparallelen mit, ansonsten bietet er kaum melodiöse Strukturen, als vielmehr ein harmonisches Fundament mit eher unsanglichen Sprüngen. Die Faktur des Tonsatzes weist diesen als Allemande aus, mit den Merkmalen, die diesen Tanztypus zu Beginn des 17. Jahrhunderts kennzeichnen: „Zweiteiligkeit, gerader Takt in ausgeprägter Viertakt-Periodik, jeweils die ‚eins‘ und ‚drei‘ des Taktes stark akzentuierend und von etwas derbem Charakter“.¹⁰¹⁸ Wir haben es also hier ebenfalls mit dem Fall zu tun, dass ein existierender Tanzsatz, der vermutlich rein instrumental vorlag,¹⁰¹⁹ textiert wird. Auch zu diesem existierten bestimmte Choreographien, aber scheint es plausibler, hier von einer eher theatralen Aufführungssituation auszugehen, in der das Lied von einer männlichen Person vorgetragen wird. Wer aber intoniert den „Widerruf“? Dieselbe Person? Vermutlich ja, denn in der literarischen Tradition der Palinodie bedeutet diese eine ‚Entschuldigungshandlung‘¹⁰²⁰, wodurch die oben beschriebene Pointe besonders gut zum Tragen kommen kann. Um noch einmal die Rezeptionsgeschichte des Liedes aufzugreifen, ist es interessant zu beobachten, dass auch in der Folgezeit die „Mayerin“-Melodie mit dem Greflinger-Lied in Verbindung gebracht wurde. Dagegen konnte sich Rists Neutextierung dieses Satzes in der Florabella (1656), „Junges Herz, willstu dein Leben“, offenkundig nicht durchsetzen.¹⁰²¹ So dichtete Sperontes für seine Liedersammlung Singende Muse an der Pleiße (1745) ein dreistrophiges Lied („Nimmer kann ich mich bequehmen / Mir ein Weib an Hals zu nehmen“ IV,20) auf die „Mayerin“-Weise, wobei sich der Text an „Hylas will kein Weib nicht haben“ orientiert.¹⁰²²
1018 Braun (Musik, Anm. 699), S. 274. 1019 Für die Mayerin-Melodie konnte zumindest kein Text ausfindig gemacht werden, der vor Greflingers Lied entstanden ist. 1020 Hierzu ausführlich mit Beispielen aus der Antike und der Barockliteratur Hoffmann (Anm. 1006). 1021 Die Melodie hat Rist bereits 1653 für ein Hochzeitslied im Hause des Hamburger Prediger Neukrantz verwendet. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 206. 1022 Philipp Spitta: Sperontes „Singende Muse an der Pleiße“: Zur Geschichte des deutschen Hausgesanges im achtzehnten Jahrhundert. Berlin 1894, S. 218.
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5.2 Thonangabe Elf Lieder der Greflinger-Sammlung sind mit einer konkreten Thonangabe versehen,¹⁰²³ das heißt, dass durch Angabe eines Textincipits annonciert wird, auf welche Melodie der vorliegende Text zu singen ist bzw. welche Melodie der Autor beim Dichten des Liedes sozusagen „im Ohr hatte“.¹⁰²⁴ Die Vorlage liefert zugleich die metrische Struktur der Strophe, gelegentlich auch die Reimwörter. Oft wird auch die Affekthaltung der Vorlage übernommen oder ggf. konterkariert. Bei diesem Herstellungsverfahren handelt es sich also um eine Form der Kontrafaktur; in unserem Fall könnte man von expliziten Kontrafakturen sprechen, weil die Adaption durch das Incipit ausdrücklich markiert ist. Das Verfahren der Thonangabe an sich ist alt, man kennt es aus dem Mittelalter und der Folgezeit, vor allem aus der Tradition des Meistersangs, aus der Flugschriftenliteratur und dem Kirchenlied. Im 17. Jahrhundert bezieht sich die Angabe jedoch in der Regel nicht auf einen einstimmigen „Thon“, sondern auf einen Tonsatz, der neu bereimt wird.¹⁰²⁵ Doch die Autoren greifen mitunter selbst auf den eigentlich veralteten und unpassenden „Thon“-Begriff zurück, auch wenn sie eigentlich „Tonsatz“ meinen. (Greflinger benutzt ‚korrekt‘ den Terminus „Melodey“, der sich auf Melodie und Bassstimme bezieht.) In den meisten Fällen ist diesen Liedern dann kein notierter Tonsatz beigefügt, er wird ja schließlich durch den Hinweis substituiert. Jedoch weist Greflinger in Lied III,12 ausgerechnet auf den vielleicht bekanntesten Tonsatz des mittleren 17. Jahrhunderts – Rists „Daphnis gieng vor wenig Tagen“ – hin und lässt ihn aber zugleich mit dem neuen Text „Haha! Sol ich dann nicht lachen / daß das Volck so Hochzeit macht“ abdrucken. Nur als Redaktionsfehler erklärbar ist, dass die Lieder I,10 und II,12 mit Thonangaben ausgestattet sind, die auf sammlungsinterne Lieder referieren, dann aber der Tonsatz zugleich als ausdrückliche Alternative („Oder“) abgedruckt wird.¹⁰²⁶
1023 Der Terminus „Thonangabe“ wird auch in dieser Schreibweise in der Fachliteratur zum Barocklied verwendet, z. B. von Braun. Auch in der Terminologie der Zeit heißt es mitunter „im Thone …“ statt „in der Melodey …“. 1024 Harper (Verbreitung, Anm. 833), S. 37. Dass dies ein poetologisch legitimiertes Verfahren ist, bezeugt Birken: „[…] Um dieser Verwandtschaft willen von beiden Künsten / wird hier erinnert / daß der Poet / wann er ein Lied machet / eine Singweise oder Melodie im Gedächtnis oder vor augen habe / und also mit den Worten / nach dem Fallen und Steigen (cadenzen) der Singstimme / sich richte.“ Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind und Dicht-Kunst (Reprint Hildesheim 1973), S. 116. 1025 „Obwohl Mehrstimmigkeit der ‚Thon‘-Qualität widerspricht, war auch ein Großteil der Generalbaßsololieder notenlos zitierbar.“ Braun (Anm. 39), S. 24. 1026 Der Tonsatz ist eine unmarkierte Übernahme aus Weichmanns Sorgen=Lägerin (II,13).
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Die Aufstellung zeigt Greflingers Thonangaben im Überblick:¹⁰²⁷ (1) I,11: An die ungetreue Flora. In der Melodey. Wol dem der wett [!] von hohen Dingen etc. (2) II,2: Ein Bissen zum Trunck. In der Melodey. Einsmal / als ich Lust bekam etc. (3) II,10: Der ubel beweibte. In der Melodey: Flora meines Lebens=Leben etc. (4) II,12: An eine Naseweise Greth. In der Melodey. Was mögen doch die Mägdlein dencken? (5) III,4: Beschwerde deß Weibernehmens. In der Melodey. Daphnis gieng vor wenig Tagen (6) III,6: Ein Alter Mann mit einer Jungfrauen. In der Melodey: Dein Alter hat nur Wort und Wind / An Thaten taugt er nicht. (7) III,8: Verachte die Liebe nicht. In der Melodey: Es ist kein Mann so schlecht / er ist der bästen werth (8) IV,2: Wegen seiner Lästerer. In der Melodey. Wie kann ein solches Hertze wanken (9) IV,6: Liebe läßt sich nicht bergen. In der Melodey. Es ist alle Welt voll Narren. (10) IV,9: Der Mars ist nun im Ars. In der Melodey: Nach jedes Lust etc. (11) IV,10: An seine Ungeliebte. In der Melodey. Ihr schwartzen Augen ihr etc.
Bei den gewählten Modelltönen lassen sich drei Kategorien unterscheiden: Eine Gruppe bezieht sich auf sammlungsinterne Tonsätze (II,10; II,12; IV,2).¹⁰²⁸ Diese Lieder sind nicht nur formal, sondern zum Teil auch inhaltlich aufeinander bezogen: So versucht die „Naseweise Greth“ (II,12) nach Lektüre der „Löffeley“ durch prahlerische Präsentation ihrer dürftigen Habseligkeiten und übertriebenen Aufputz vergeblich, einen Freier zu finden, während das Rollen-Ich des Referenzliedes (II,8), eine „Nönnische Jungfrau“, die „Mägdlein“ vor dem Joch der Ehe warnt. Zwischen IV,8 und seinem musikalisch-formalen Partnerlied IV,2 besteht insofern eine Verbindung, als beide Lieder dem Tugendlob dienen, eines propagiert modestia, das andere Gattentreue.¹⁰²⁹ Eine zweite Gruppe von Thonangaben verweist auf sehr prominente Lieder von Opitz (I,11; IV,10), Rist (III,4) und Voigtländer (II,2). Eine dritte Gruppe schließlich bilden Stücke mit Hinweisen auf Lieder, die nicht von bekannten Autoren stammen und deren Provenienz sich nicht identifizieren lässt. Es können nur einige vage Hinweise hierzu gegeben werden: Die Melodie, die für das Dialoglied „Ein Alter Mann mit einer Jungfrauen“ (III,6) angegeben ist, kursierte im 17. Jahrhundert auch in Singspielen englischer Wandertruppen: Der Autor des Stücks Die seltzame Metamorphosis der Sutori-
1027 Gefolgt wird hier einer Aufforderung Brauns (Anm 39, S. 24) und van Ingens (BarockliedForschung, Anm. 39), S. 8. 1028 Hierzu könnte man eigentlich auch palinodischen Lieder zählen, bei denen es schlicht „auf vorige Melodey“ heißt (I,2; I,4; I,10). 1029 Der Tonsatz von IV,8 ist Weichmanns Sorgen=Lägerin entnommen (I,19).
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schen in eine Magistrale Person verweist auf eben die Melodie „Dein Alter hat nur Wort und Wind / An Thaten taugt er nicht“ und gibt als Referenz „Seladon“ an.¹⁰³⁰ Somit bewegt man sich beim Versuch, diese Melodie zu identifizieren, zunächst im Kreis, denn bei Greflinger findet man ja ebenfalls nur diese Thonangabe. Doch die Wandertruppen-Spur bringt einen weiter. Denn die theatrale Anlage des Dialogliedes legt den Verdacht nahe, dass Greflinger seinerseits eine Schauspielmusik im Ohr hatte. Dieser Verdacht erhärtet sich, sobald das Stück als direkte Übersetzung eines Liedes des niederländischen Autors Bredero identifiziert werden kann. Greflinger folgt seinem Vorbild tatsächlich nahezu wortwörtlich (außer, dass er z. B. die charakteristischen niederländischen Eigennamen neutralisiert). Bredero: Een oudt Bestevaertje, met een jong Meysjen
Greflinger: Ein Alter Mann mit einer Jungfrauen
Lammert: O Jannetje / mijn soete beck! Ey lieve / blijft wat staen. Jannetje: Wat schortje / seght jy ouwe geck? Ick raetje, laetme gaen. L: Al ’t gelt dat ghy hier leggen siet / Dat is voor u al ree. J: Wegh kael-kop / ick en soeck u niet / Dat jy soeckt / soeck ick mee. […]
Alter: Mein süsses Kind ich bitte harr / Bleib doch ein wenig stehen. Jungfrau: Was wollet ihr / ihr alter Narr / Geht / packt euch lasst mich gehen. Alter: Sie alles dieses geb ich dir / Mein schöner Rosenstrauch. J: Was wollt ihr alter Geck mit mir / Was ihr sucht such ich auch. […]
Bredero fügt seinem Stück nun seinerseits eine „stemme“, eine Thonangabe, bei. Diese zeigt uns nicht nur an, welche Melodie er für das Lied vorgesehen hat, sondern deutet darauf hin, dass es im Rahmen von sogenannten Kluchten, das sind Possenspiele, zur Aufführung kommen konnte, denn es handelt sich um die Melodie „Pots hondert duysent slapperment“ – die beliebteste Kluchen-Weise des 17. Jahrhunderts, die sich von den Niederlanden aus vor allem über Wandertruppen verbreitete.¹⁰³¹ Greflinger wird also die Kluchten-Melodie mit einem der
1030 Johannes Bolte: Die Singspiele der englischen Komödianten und ihrer Nachfolger in Deutschland, Holland und Skandinavien. Hamburg, Leipzig 1893, S. 36 f. 1031 Die Datenbank des niederländischen Volksliedarchivs verzeichnet allein 168 Treffer für Lieder, die auf diese Melodie gesungen wurden. Vgl. hierzu auch den Kommentar: „Engelse me-
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vielen Texte assoziiert haben, die sich mit ihr verbinden konnte, dazu gehörte eben wohl auch ein Lied mit den Anfangszeilen „Dein Alter hat nur Wort und Wind / An Thaten taugt er nicht“, das seinem Publikum bekannt gewesen sein wird. Zweifellos war jedenfalls das Lied „Eine Jungfrau mit einem Greis“ auf die Melodie von „Pots hondert duysent slapperment“ zu intonieren (Notenbeispiel IV, im Anhang). * Bestimmungsschwierigkeiten ergeben sich für die Lieder III,8, IV,6 und IV,9. Für sie könnte man sich aber auch Alternativmelodien vorstellen. Es ist nämlich davon auszugehen, dass die Rezipienten der Lieder bestimmte Strophenformen sofort erkannten und gängigen Melodien zuordnen konnten. Nur so lässt sich auch erklären, dass die Epoche eine Vielzahl von Liedern ohne Noten aufweist, die trotz dieses Erscheinungsbildes für den Gesangsvortrag in Frage kamen. Es kann vermutet werden, dass lyrische Texte in solchen Strophenformen nicht einmal den Untertitel ‚im Thone‘ oder Ähnliches brauchten, um es den Zeitgenossen leicht zu machen, sie nach einer bekannten Melodie zu singen […]. Aus diesem Grunde könnten auch literarische Lieder, d. h. Lieder, die ursprünglich in einem hochliterarischen Kontext, nämlich in der Gedichtsammlung eines gelehrten Dichters, erschienen waren, leicht zu Gassenhauern werden.¹⁰³²
So könnte das Lied IV,6 („Liebe lässt sich nicht bergen“) beispielsweise auf Alberts „Morgen-Lied“ („Gott des Himmels und der Erden“, Arien V,4) gesungen werden. Die Zeitgenossen konnten jedenfalls Strophenformen schnell identifizieren und hatten ein entsprechendes Repertoire an Liedern parat. Wie bereits angedeutet, wurden Thonangaben in dieser Zeit jedoch aus ästhetischer Sicht als defizitär und wohl auch schon als unzeitgemäß empfunden. Fehlende Melodien in einer Sammlung mussten erklärt werden. Entschuldigend schreibt Greflinger in der Vorrede zu Poetische Rosen und Dörner, dass er aus „Ungelegenheit“ die zugrunde liegenden „Französischen und Italianischen Melo-
lodie die door reizende kluchtgezelschappen aan het begin van de 17e eeuw in Nederland bekend raakte, onder de namen ‚Janneman en Alemoer‘, ‚Pekelharing‘ en ‚Pots hondert duysent slapperment‘. Een van die kluchten was die over de clowneske figuur ‚Singing Simpkin‘, in het buitenland ‚Pekelharing‘ genoemd, wiens favoriete uitdrukkking luidde ‚Pots honderdduizend slapperment‘. Al snel volgden Duitse en Nederlandse imitaties en vertalingen van de teksten en de melodie werd al gauw populair.“ www.liederenbank.nl [Stichwort: Pots honderdduizend slapperment]. 1032 Harper (Verbreitung, Anm. 833), S. 38.
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deyen“ nicht habe mitliefern können. Wertvoller war jedenfalls eine Sammlung, die für jedes Lied eine eigene, notierte Melodie bereitstellen konnte.¹⁰³³ Dennoch bedienten sich die Autoren nicht selten dieser Möglichkeit, wie man am Beispiel der erfolgreichen Liebes- und Meyen-Blühmlein Johann Christoph Görings sehen kann: Eine Thonangabe begleitet eine Vielzahl von Liedern. „Die Melodie ist hier nicht Interpretation des Textes, sondern Medium zu seiner Verbreitung.“¹⁰³⁴ Zesen nennt in seiner FrühlingsLust (1642) gleich viermal in Folge Opitz’ Wohldem-Thon.¹⁰³⁵ „Melodien gelten so als reine ‚formae‘“,¹⁰³⁶ sie liefern Metrum und Versstruktur, führen zu einer gewissen Traditionsfestigung und machen den Text auf recht ökonomische Art sangbar.¹⁰³⁷ Der potentielle Intertextualitätsfaktor der Kontrafaktur, den wir mit dem Begriff ‚doppelte Textualität‘ benannt haben, spielt eher keine Rolle.¹⁰³⁸ Das zeigt auch eine Durchsicht der entsprechenden Lieder in der Greflinger-Sammlung: Die Schelte der untreuen Flora scheint nichts mit dem berühmten Lob des einfachen Lebens in der besagten Opitz-Ode „Wol dem / der weit von hohen Dingen“ gemein zu haben. Aus musikgeschichtlicher
1033 Jacob Schwieger weist auf dem Titelblatt seiner Flüchtigen Feld=Rosen ausdrücklich darauf hin, dass seine Lieder mit „aller=hand köstlichen / neuen / noch unbekanten Melodeyen“ ausgestattet seien. 1034 Lohmeier (Anm. 705), S. 44. 1035 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 147. Das Wohl-dem-Modell gehört zu den verbreitetsten Strophenformen des 17. Jahrhunderts. Es wurde auch im geistlichen Bereich rezipiert. Die Angabe ist z. B. bei Johann Chr. Arnschwager zu finden: Heilige Psalmen und Christliche Psalmen. Das ist: Unterschiedliche Neue Geistliche Lieder und Gesänge. Welche mehrentheils nach bekannten Singweisen dennoch … von Kunstbelobten Musicis / wohlgesetze ganz Neue annehmlich beygefüget worden. Abgefasset und dafür gegeben / in dem hochlöblich Fruchtbringenden PalmenOrden. Der Unschuldige [=Johann Chr. Arnschwager]. Nürnberg 1680, S. 249: „Andachts=Lied / Von der Wohlthätigkeit gegen die Dürftige. Nach der Weise: „Wohl dem / der weit von hohen Dingen“ mit vorausgehendem Tonsatz. Das Verfahren hier ist paradigmatisch: Der Autor dichtet mit dem Wohl-dem-Thon im Ohr bzw. vor Augen (ob ihm nur das metrische Schema oder eine existierende Vertonung vorliegt, ist nicht zu sagen), der neue Text bekommt dann eine neue Melodie. 1036 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 63. 1037 Mit dem Improvisieren im Rahmen des ‚Bluesschemas‘ ist diese Verfahrensweise freilich kaum vergleichbar (Kern/Rastbichler Anm. 978, hier S. 412). Ein Bluesschema liefert jedenfalls in keiner Weise metrische Vorgaben für einen Text. Es wird daher nicht deutlich, worin Kern/ Rastbichler eine Analogie zu Thonangaben im Barocklied erkennen wollen. Auch ist der folgende Versuch, diese Idee anhand von Folia-Liedern zu exemplifizieren, schwer nachvollziehbar. Hier wird das typische harmonische Schema dieses Tanzes vorgestellt und dieses dann konkret für die Tonart g-Moll notiert (warum eigentlich ausgerechnet g-Moll?). Worin besteht nun die Analogie zu barocken Thonangaben? 1038 Bei den oben kurz angesprochenen Thonangaben mit sammlungsinternem Bezug kann eine gewisse inhaltliche Zusammengehörigkeit festgestellt werden.
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Sicht wäre es von Interesse, ob und wenn, an welche Opitz-Vertonung Greflinger für „An die ungetreue Flora“ gedacht hatte, denn die Ode ist wie alle Gedichte der Deutschen Poemata nicht mit Noten, versehen, und in den von Opitz selbst verantworteten Editionen fehlen sogar die in der Zincgref-Edition von 1625 noch vorhandenen Thonangaben „Je jamais“.¹⁰³⁹ Zu vermuten ist, dass Greflinger an Hammerschmidts Vertonung (1642) dachte.¹⁰⁴⁰ Nochmals verweist Greflinger für das Lied IV,10 („An seine Ungeliebte“) auf ein Werk des Reformers. Hier bildete Opitz’ Mustergedicht „Ihr schwartzen Augen ihr“ aus der Poeterey das formale Vorbild.¹⁰⁴¹ An die Vertonung von Caspar Kittel (1638) für zwei Soprane¹⁰⁴² wird Greflinger kaum gedacht haben. Auffällig ist, dass in „An seine Ungeliebte“ ein satirisches Spannungsverhältnis zu dem Prätext aufgebaut wird: Das zweistrophige Lied hat antipetrarkistischen Charakter; die für diese literarische Spielart typische Umkehrung der topischen Schönheitsattribute wird in der zweiten Strophe durch extravagante Farbmetaphorik und groteske Tiervergleiche auf die Spitze getrieben: Das Haar ist Rabenweiß / die Augen wie Rubin Der Mund ist Himmelblau so sticht die Nase hin Deß Elephanten Schnabel / Die Zähne sind wie Gold Und kurz wie eine Gabel / Ich bin euch trefflich hold.
* Mit der Angabe „Daphnis gieng vor wenig Tagen“ für Lied III,4 greift Greflinger eines der bekanntesten Liedparadigmen um 1650 auf. Es ist das Eröffnungsstück
1039 Zur Diskussion über Opitz’ Interesse an Musik vgl. van Ingen (Lieder, Anm. 39), S. 5 f., der mutmaßt, dass Opitz Thonangaben vermeidet, weil er sich „in dieser Hinsicht von der heimischen Tradition des Liederbuches distanzieren wollte, wie er überhaupt die deutsche volkstümliche Dichtung ignorierte.“ Den Anschluss an das Niveau der internationalen Literatur sah er durch eine Fortführung der autochthonen Tradition gefährdet. Vgl. dazu auch Jörg Robert: Manierismus des Niedrigen. Paul Schede Melissus und die deutsche Lyrik um 1600. In: Daphnis 39 (2010), S. 577–610. Zu verschiedenen zeitgenössischen Vertonungen von „Wol dem der weit von hohen Dingen“ vgl. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 147 f. 1040 Vgl. van Ingen (Anm. 39), S. 9, der vermutet, dass Zesen diese Melodie als Vorlage für ein Lied im Wohl-dem-Thon heranzog. 1041 Poeterey (Ed. Jaumann), S. 61. In den Deutschen Poemata (1625) ist das Gedicht nicht vollständig abgedruckt. Vgl. auch Braun (Thöne, Anm. 237), S. 150 mit Hinweisen zu AlexanderinerLiedern. 1042 Kittel (Anm. 856), S. 92.
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von Rists Liederbuch Des Daphnis aus Cimbrien Galathee. Mindestens sieben Neuauflagen sowie zahlreiche Übersetzungen und Kontrafakturen dokumentieren den Popularitätsgrad der Galathee. Braun spricht gar von einem „Welterfolg“¹⁰⁴³. Man darf annehmen, dass nicht nur der Text – eine melancholische Schäferklage – die enorme Beliebtheit des Daphnis-Liedes begründet hat, sondern auch seine gefällige Melodie, die vermutlich von Rist selbst stammt. Es liegt nahe, dass sich Greflinger die Beliebtheit des Liedes zu Nutze machen wollte. Mit einem neuen Stück auf die Melodie des ‚Daphnis-Schlagers‘ war der Geschmack seines Publikums sicher bestens getroffen. Die Wiedergabe des Tonsatzes könnte vor diesem Hintergrund als Entgegenkommen aufgefasst werden. Was lässt sich der Autor nun aber für die Neu-Bereimung der schäferlichen Liebesklage einfallen? Thematisch-inhaltlich steht das Lied mit dem Titel „Beschwerde deß Weibernehmens“ (III,4), dem oben beschriebenen Hylas-Lied sehr nah.¹⁰⁴⁴ Es ist jedoch umfangreicher (14 statt acht Strophen), beschreibt zusätzlich die Mühen der Brautwerbung (Str. 2 bis 5), beißender Schimpf und Spott wird über die weibliche Entourage der Braut ergossen (Str. 9 und 10) und die finanziellen Aufwendungen einer Hochzeit werden noch ausgedehnter dargestellt (Str. 12 und 13). Wie Hylas präferiert das Ich dieses Liedes folglich ‚freie Liebe‘ – „Heute die / und morgen sie / | Das bringt Lust und keine Müh“ (Str. 1) – Heirat kommt nicht in Frage: „Freye wer da freyen will / | Freyen ist für mich zu viel.“ (Strophe 14). Soll hier der sentimentale Prätext, der den Liebesschmerz eines Schäfers artikuliert,¹⁰⁴⁵ dem Rezipienten des misogamen neuen Liedes in den Sinn kommen, um dessen derb-humoresken Charakter zu unterstreichen und somit den satirischen Effekt zu steigern? Der durch die Thonangabe und den Notendruck zweifach herausgestrichene intertextuelle Bezug könnte aber auch dazu dienen, dass das Verhalten
1043 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 204. 1044 Eine vergleichbare Berühmtheit wie das Hylas-Lied erlangte es jedoch nicht, auch wenn wir es mit textlichen Abweichungen im Venus-Gärtlein finden. 1045 Die erste Strophe lautet: „Daphnis gieng für wenig Tagen über die begrühnte Heid’ / Heimlich fieng er an zu klagen Bey sich selbst sein schweres Leid / Sang aus hochbetrübten Hertzen Von den bittren Liebes=Schmertzen; Ach daß ich dich nicht mehr seh’ Allerschönste Galathe!“ (Johann Rist: Des Daphnis aus Cimbrien Galathee, Bir).
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beider Liedprotagonisten einem vergleichenden ‚moralischen‘ Urteil durch die Rezipienten unterzogen werden soll: Der Ehehasser ist zwar amüsant – besonders bei wirkungsvollem Vortrag hat er mit seinen topischen frauenfeindlichen Argumenten und seiner groben Sprache die Lacher auf seiner Seite – aber Empathie muss mit dem verliebten Daphnis empfunden werden, dessen verzweifelte Klage implizit präsent ist oder vielleicht auch gleichsam palinodisch anschließend oder vorausgehend intoniert werden konnte. Das Hylas-Lied weist durch den Bezug auf die Daphnis-Klage somit eine ‚doppelte Textualität‘ auf. Für die Wahl des Daphnis-Thons gab also sowohl die inhaltliche Ebene als auch der einprägsame Strophenbau sowie die musikalische Qualität des Stücks – die attraktive Melodie – den Ausschlag. Der Ihr-schwartze-Augen-Thon war vermutlich hinsichtlich des exotischen Strophenschemas sowie inhaltlich interessant, während für den Wohl-dem-Thon wohl lediglich die metrische Disposition der Vorlage relevant war.
5.3 Kontrafaktur Im folgenden Kapitel gilt es, das dominierende Produktionsverfahren der Sammlung vorzustellen. Auf eine Übersicht, in der dargelegt wird, bei welchen Liedern sich die Musik als Fremdmaterial identifizieren lässt, folgt ein kurzer Exkurs zum Problembereich ‚Kontrafaktur / Parodie‘ unter Berücksichtigung produktionsund rezeptionsästhetischer Fragen. Zwei Beispielanalysen schließen sich an, die zeigen, welche Möglichkeiten der Bedeutungsschichtung durch die semantische Umbesetzung im Kontrafakturverfahren generiert werden können.
a) Übernahmen aus anderen Sammlungen Greflinger adaptiert für sein Buch 32 Tonsätze aus fremden Liederbüchern, von denen drei als die wohl erfolgreichsten und bedeutendsten Sammlungen der mittleren Jahre des 17. Jahrhunderts gelten können: Heinrich Alberts Arien und Melodeyen, die bereits mehrfach genannte Galathee von Johann Rist und schließlich die Oden des dänischen Hoftrompeters Gabriel Voigtländer.¹⁰⁴⁶ Darüber hinaus sind Tonsätze des Königsberger Komponisten Johann Weichmann identifizierbar. Es gehört nicht zum Aufgabenbereich der vorliegenden Arbeit, diese
1046 An dieser ‚Trias‘ orientierte sich auch der dänische Beamte Sören Terkelsen, der übrigens auch unter dem Namen Celadon in Rists Ordensgemeinschaft verkehrte, für seine Astree SiungeChoer (1648, 1651, 1658).
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Sammlungen im Einzelnen zu portraitieren, zum Teil liegt zu ihnen auch schon Grundlagenforschung vor. Einige knappe Bemerkungen sollen reichen, um zu verdeutlichen, warum Greflinger auf diese Werke zurückgriff. Heinrich Alberts Arien und Melodeyen sind hier an erster Stelle zu nennen. Sie verkörpern zweifelsohne das reichste und wichtigste Repertoire der deutschen Liedkunst des 17. Jahrhunderts.¹⁰⁴⁷ Der Schüler und Vetter von Heinrich Schütz wirkte als Domorganist in Königsberg und gehörte zum Kreis der Musicalischen Kürbishütte um Simon Dach, dessen Gedichte er in seinen Sammlungen vorwiegend vertonte. Die Arien erschienen von 1638 bis 1650 in acht Bänden, ihr Erfolg war immens. Bereits ein erster Blick auf die rund 200 Vertonungen – bei den meisten Stücken handelt es sich um Gelegenheitswerke, einige auch mit politischem Gehalt – zeigt die enorme stilistische Vielfalt der Sammlungen: Das Spektrum reicht vom einfachen Strophenlied bis zur Kantate, Weltliches und Geistliches ist vertreten. Bemerkenswert ist nun die Auswahl, die Greflinger für seine Sammlung trifft:¹⁰⁴⁸ Neu bereimt werden die Nummern I,12 (Res est solliciti plena timoris amor, Incipit: „O ihr Auszug meiner Freuden“), I,14 (Officiosus Amor, Incipit: „Nymphe gieb mir selbst den Mund“),¹⁰⁴⁹ I,25 (Quid non ebrietas designat? Incipit: „Wer fragt darnach [!] / Aus dem Gelach“),¹⁰⁵⁰ II,9 (Divitiis cunctisque bonis ARS inclyta praestat, Incipit: „Wohl der sich nur läßt begnügen“)¹⁰⁵¹, III,16 (rata fert gaudia castus Hymen, Incipit: „Was zwingt mich auf der Welt“)¹⁰⁵², V,14 (Jung gefreyht / Hat nie gerewt, Incipit: „Wiltu nichts von Bräutgam hören“)¹⁰⁵³, V,17 (Klage eines verliebten Schäfers über die Untrew seiner Phyllis, Incipit: „Es fing ein Schäfer an zu klagen“)¹⁰⁵⁴, V,20 (Ohne Titel, Aria Polonica, Incipit: „Auf und springet“)¹⁰⁵⁵ und VI,24 (Utere laetitia, posthac venit aegra Senectus, Incipit: „Ich lobe die allehie der Zeit / In Fröhlichkeit ge-
1047 Vgl. Klaus-Jürgen Sachs: Heinrich Alberts Arien oder: „Die Würde der viel schönen Texte“ und die stilistische Vielfalt ihrer Vertonungen. In: Aneignung durch Verwandlung. Aufsätze zur deutschen Musik und Architektur des 16. und 17. Jahrhunderts. Hg. von Wolfram Steude. Leipzig 1998, S. 150–173. Kretzschmar (Anm. 93), S. 17–32.; Müller (Anm. 97), S. 77 ff.; Thomas (Anm. 888) S. 42–52. Einen Forschungsüberblick bietet Braun (Thöne, Anm. 237), S. 174–177. 1048 Identifiziert wurden die Vorlagen bereits von Fischer (Anm. 948), S. 70. 1049 Dieser Tonsatz ist bei Albert identisch mit I,9 (Quaere animas viles lascive, Incipit: „Was von mir dein lichter Sinn, Tyris, zu begehren scheinet“). Bei Greflinger: III,11 und III,12. 1050 Bei Greflinger: IV,1. 1051 Bei Greflinger: III,3. 1052 Bei Greflinger: III,7. 1053 Bei Greflinger: III,9. 1054 Bei Greflinger: II,7. 1055 Bei Greflinger: IV,3.
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nießen“).¹⁰⁵⁶ Diese Stücke gehören nicht zu den kunstvollsten Werken der Arien, es sind vielmehr schlichte weltliche Generalbasslieder, die in Alberts Sammlung keineswegs dominieren. Auch hatten diese Stücke keinen ‚Prominentenstatus‘, sonst hätte theoretisch ja auch ein Incipit-Hinweis als Thonangabe genügt. Es ist anzunehmen, dass Greflinger gezielt selektierte und zwar unter bestimmten produktions- und rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten: Aus produktionsästhetischer Sicht sind die gewählten Stücke für eine Neubereimung zum einen unkomplizierter zu handhaben als die vielstimmigen Stücke oder die monodischen Arien der Albert-Sammlung. Das Ausdrucksstarke „O der rauhen Grausamkeit“ (Arien II,18) im Stil der italienischen Monodie mit starker musikalischer Wortausdeutung beispielsweise würde das Neutextieren vor Probleme stellen (die dreimalige Wiederholung des ersten Verses müsste zum Beispiel wie bei Albert mit der Textaussage korrespondieren). Zwar wissen wir aus der Geschichte der Kontrafaktur, dass auch Musik mit starkem Wortbezug im Prätext mit neuen Texten völlig verschiedener Semantik bestens korrespondieren kann (man denke an die Kontrafakturen in Bachs Weihnachtsoratorium). Dennoch: Je ‚neutraler‘ und unspezifischer ein Musikstück ist, desto leichter ist es für den kontrafazierenden Autor, dieses mit dem einem neuen Wortlaut zu verbinden. Das betrifft auch metrische Aspekte, so bieten die gewählten Vorlagen gut adaptierbare formale Strukturen. Doch auch dies zu erkennen und die Vorlagen sich anzueignen, erfordert Sachverstand, musikalischen und poetischen. Vor diesem Hintergrund verortet Braun auf einer „musikalischen Leistungsskala“ der musikaffinen Barockpoeten Greflinger sozusagen im Spitzenbereich.¹⁰⁵⁷ Hinzukommt, dass Greflinger auch sein Publikum und die entsprechenden Rezeptionssituationen bei der musikalischen Konzeption der Sammlung im Blick hat. Für die beschriebenen Kontexte bieten Generalbasslieder die optimale musikalische Stilebene. Von Gabriel Voigtländer (um 1600–1643) sind Seladons Weltliche Lieder nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich und stilistisch beeinflusst.¹⁰⁵⁸ Voigtländers Aktionsradius war im Gegensatz zu dem Greflingers, Rists oder Alberts nicht die bürgerliche Großstadt, sondern die höfische Gesellschaft. Zunächst wirkte er einige Zeit an dem kleinen schleswigschen Hof zu Gottrop, schließlich in Kopenhagen, wo er als Hoftrompeter im Dienst des musikbegeisterten Christian IV. stand. 1642 erschien in Sohra sein Liederbuch Erster Theil Allerhand Oden vnnd Lieder (weitere Teile folgten nicht), das er dem dänischen Königspaar widmete
1056 Bei Greflinger: II,1. 1057 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 64. 1058 Fischer (Anm. 948), S. 69 ff.
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und dessen Stücke wohl als Unterhaltungsmusik für die Hofgesellschaft in Kopenhagen gedacht waren. Doch auch das gebildete städtische Bürgertum wird in der Vorrede als Adressatenkreis genannt.¹⁰⁵⁹ Die 100 Lieder umfassende Sammlung mit ihren zum Großteil derb-humoresken Texten ‚schlug ein‘. Die Melodien vieler Lieder wurden bald von anderen Autoren als Thonangabe herangezogen.¹⁰⁶⁰ Ein guter Indikator für die Popularität einer Liedersammlung sind im 17. Jahrhundert Raubdrucke – und von Voigtländers Oden kursierten im Nord-Ostseeraum in den 1650er-Jahren zahlreiche unautorisierte Editionen.¹⁰⁶¹ Es lag somit gewissermaßen auf der Hand, dass sich Greflinger für diese Sammlung interessierte. Denn die Beliebtheit der Voigtländer-Oden hatte auch etwas mit ihrer raffinierten musikalischen Gestaltung zu tun: Nur ein Tonsatz – eine Parodie auf den italienischen Rezitativstil¹⁰⁶² – stammt im Sinne einer ‚Originalkomposition‘ von Voigtländer selbst, die anderen sind als Adaptionen von instrumentalen Tänzen nachgewiesen worden.¹⁰⁶³ Diese verwendet Voigtländer gewissermaßen als Steinbruch, arrangierte, ‚glättete‘ und ergänzte sie entsprechend, um sie seinen Texten anzupassen. Formal fällt zudem das bunte Spektrum an verschiedenen Strophenformen auf (darunter wenig daktylische Verse), auch hiervon hat sich Greflinger inspirieren lassen. Drei Tonsätze dieser Sammlung übernimmt Greflinger ohne Herkunftshinweis. Den musikalischen Part von Lied 61, den Voigtländer selbst auch leicht modifiziert für Lied 67 verwendet, findet man bei Greflingers Lied II,9 („Untreu bringt Reu“). Bei Voigtländer handelt es sich um Frauenlob-Lieder: Eines trägt den Titel „Wozu die Jungfrawen nütze sein“ (61), das zweite („Dieser helts mit seinen redlichen BauersMägden“) breitet auf humorvolle Weise die Vorzüge eines einfachen Bauernmädchens gegenüber einer höfischen Dame aus. Greflingers Lied hingegen stellt eine Abrechnung mit einer untreuen Verlobten dar. Um den Satz seinem Lied anzupassen, nimmt er kleine Änderungen an dem schlichten und einprägsamen Stück vor.¹⁰⁶⁴
1059 Voigtländer, Oden, An den günstigen Leser. 1060 Z. B. von Terkelsen und Göring. 1061 Zum Erfolg der Oden s. Fischer (Anm. 948), S. 8 f.; Schwab (Anm. 904), S. 183–188. Mara R. Wade: Performance, Publication, Piracy. Gabriel Voigtländer’s Erster Theil Allerhand Oden vnnd Lieder … (1642). In: Musik und Szene. FS für Werner Braun zum 75. Geburtstag. Hg. von Bernhard Appel u. a. Saarbrücken 2001, S. 539–548. 1062 Vgl. Braun (Thöne, Anm. 237), S. 362. 1063 Fischer (Anm. 948). Neben anonymen Stücken findet man Adaptionen von Liedern Orazio Vecchis und John Dowlands. 1064 Da sein Gedicht (Reimschema: ababcc) in den a- und c-Versen eine Silbe mehr aufweist, wandelt er Voigtländers halbe Note in zwei Viertelnoten.
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Blicken wir noch auf eine zweite Voigtländer-Kontrafaktur, für die Greflinger das musikalische Modell des Lieds Nr. 60 der Oden, „Diese kann keinen Mann kriegen“, übernimmt.¹⁰⁶⁵ Hier hat sich der einfallsreiche Autor auch auf inhaltlicher Ebene ein Bezugsspiel überlegt und gleichsam ein Komplementärstück entwickelt: Bei Voigtländer trägt das Rollen-Ich, eine unverheiratete junge Frau, ihr Leid mit heiratsscheuen Männern vor („Ach ich armes Mägdlein klage“). Trotz ihrer körperlichen, geistigen und materiellen Vorzüge (Str. 1–11) diene sie den heiratsfähigen Burschen „nur umb Zeitvertreib“ (Str. 26). Sie werde mit Komplimenten überhäuft, man spreche zu ihr „von Liebes Sachen“ (Str. 21), die Küsse kämen aber nicht „von Hertzen grund“ (Str. 22). Obwohl sie sogar schon in falscher Hoffnung manches Mal „als ein Lämgen still“ gehalten (Str. 23) und somit auch eine Entehrung in Kauf genommen habe, sei es noch nicht zum erhofften Heiratsantrag gekommen: Aber mich einmahl zu nehmen Will kein Schlingel sich bequemen Geben viel des Abends vor / Morgen suchen sie das Thor.
In Greflingers Lied kommt erneut der „ungetreue Hylas“ (IV,4) zu Wort, der genau die von Voigtländers Mädchen beklagten Verhaltensweisen, das lasterhafte männliche Buhlverhalten, selbstgefällig vorträgt und somit den beschriebenen misogamen Hagestolzen-Typus repräsentiert. Hylas stellt sich dabei als geschickter Frauenverführer vor, der diese Kunst als Hofmann gelernt hat (Str. 11): Ich bin von Hofe kommen / Hab Hoffart angenommen / Was meine Zunge spricht Wil drumb das Hertze nicht.
Dieser hier exponierte Antagonismus von Herz und Zunge gehört im 17. Jahrhundert zu den zentralen Topoi der Hofkritik.¹⁰⁶⁶ Überhaupt charakterisiert Hylas seine Verführungskünste mit Vokabeln aus dem Begriffsfeld der politischen dissimulatio: er rühmt seine „List“ (Str. 2, 4), und um seine erotischen Ziele zu erreichen, bedient er sich „kluger Rencke“ (Str. 3). Die so umgarnten Frauen dienen
1065 Eine kurze musikalische Analyse des Liedes findet sich bei Schwab (Anm. 904), S. 196. 1066 Winfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen ²2002, S. 122 mit kurzem Hinweis auf das Greflinger-Lied.
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ihm zum „Tummelplatz“, denn „[d]er liebt und eine liebt / Ist Tag und Nacht betrübt“ (Str. 9). Interessanterweise wird also in dieser Kontrafaktur eine weitere Sinnebene durch die Musik transportiert, denn diese eröffnet das Assoziationsspiel mit dem Prätext, der übrigens auch als ein quasi barocker ‚Schlager‘ gelten kann.¹⁰⁶⁷ In diesem Fall stellt die Kontrafaktur also keinen Widerruf oder Kontrast dar. Vielmehr nimmt Greflingers „Genrebild erotischer Unabhängigkeit“¹⁰⁶⁸ einen Perspektivenwechsel vor, indem aus dem nicht konkretisierten Kollektiv der männlichen Negativexempla des Prätextes eine Figur hervortritt und das ethischmoralische Missverhalten performativ bestätigt – freilich auch mit hohem Unterhaltungswert. * Eine weitere Voigtländer-Kontrafaktur soll an dieser Stelle beispielhaft die internationalen Verflechtungen des deutschen Liedes im 17. Jahrhundert verdeutlichen. Denn ausgehend allein von Greflingers Liedern ließe sich ein Panorama der gesamten europäischen Liedkultur aufspannen – für die Cats-Übernahmen wurden oben bereits Überlegungen in diese Richtung entwickelt. Anhand eines weiteren Stücks wollen wir die Wanderung einer Melodie verfolgen: das Lied II,11, „Eine junge Witbe zu einem Lüstren Greis“ ist als Kontrafaktur zu Voigtländers possierlichem Lied „Cupidonis Wanderschaft“ (Nr. 37 der Oden und Lieder), das von einer Mission des antiken Liebesgottes in „Teutschland“ erzählt, identifiziert worden.¹⁰⁶⁹ Es fällt musikalisch-formal durch die eingefügten gefüllten Breven und Semibreven auf, die bewirken, dass innerhalb des Liedes ein Taktwechsel vom ungeraden zu einem geraden Takt erfolgt. Greflinger übernimmt den Tonsatz, gestaltet das Metrum aber ein wenig um, macht es ebenmäßiger und erweitert Voigtländers Vierzeiler zu einem Sechszeiler. Auf der Textebene ist beiden Liedern eine ungewöhnliche Liebessituation gemein, die jedoch unterschiedlich ausgestaltet ist. Voigtländers Musik zu diesem Lied lässt sich nun weiter zurückverfolgen: Man findet sie, leicht verändert, in einem niederländischen Liederbüchlein aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in der anonym erschienenen Sammlung ‘t Amsterdams Minne Beekje (1637) mit folgendem schäferlichen Text auf Französisch, dem auch eine niederländische Version beigefügt ist. Mit Voigtländers
1067 Zur Verbreitung von „Ach ich armes Mägdlein klage“ vgl. Schwab (Anm. 904), S. 196. 1068 Brauns Umschreibung für ein ähnliches Lied von Finckelthaus (Anm. 39), S. 29. 1069 Fischer (Anm. 948), S. 45.
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Gedicht hat dieser genauso wenig gemein wie mit Greflingers senex-amatorSatire. Aber alle haben die gleiche Melodie! Der französische Text lautet: Heureux sejour de Parthenisse et d’Alidor, Lieux plains d’amour et de plaisir un siecle d’or. Quand je vous vis dans vos appas je me perdis: Mais toutes-fois mon coeur vos nomme son Paradis.¹⁰⁷⁰
Offenbar liegt eine niederländische Adaption eines französischen Stücks vor; es lässt sich in einer Sammlung von Air de Cour (für Singstimme und Laute) des bereits erwähnten französischen Hofkomponisten Antoine de Boësset nachweisen.¹⁰⁷¹ Diese Melodie war in den Niederlanden bald sehr weit verbreitet: Fast 60 Lieder geben als „stemme“ den Parthenisse-Thon an bzw. folgen seinem Schema.¹⁰⁷² Dieses Lied ist somit auch ein weiterer Beleg dafür, dass die französische Liedmusik im 17. Jahrhundert vor allem über die Niederlande nach Deutschland vermittelt wurde. * Da auf die Rist-Adaption unten ausführlich eingegangen wird, sollen schließlich noch die Kontrafakturen von Liedern des Königsberger Kantors Johann Weichmann (1620–1652) genannt werden, der dem Kürbishütten-Kreis nahe stand. Ende der 1630er-Jahre hatte er in Danzig als Organist gewirkt – möglicherweise kannte ihn Greflinger also persönlich. Seine Sammlung Sorgen=Lägerin – die Lieder sollen also Betrübnis vertreiben – erschien 1648 in drei Teilen, sie beinhaltet weltliche und geistliche Generalbass-Sololieder, die Texte stammen von verschiedenen Autoren.¹⁰⁷³ Die Funktion seiner Stücke beschreibt Weichmann in der Vorrede an den „Music=liebhabenden Leser“: Es seien „zur Andacht / keusche Liebe und Ehrenlust dienende Lieder“. In ihrer Faktur sind Weichmanns Lieder den schlichten Stücken der Albert- und Rist-Sammlungen sehr ähnlich, doch finden sich auch einige monodisch anmutende und vielstim-
1070 Ebd., S. 45 ff. Der Dichter konnte nicht identifiziert werden. 1071 Airs de cour mis en tablature de luth: Réimpression de l’édition de Paris, Ballard, 1608. Genève 1985, (Livres 11–13. Anthoyne Boesset. Reprint 1623–1626), hier Air Nr. 11. Vgl. die niederländische Datenbank zum Stichwort „Heureux sejour de Parthenisse et d’Alidor“. 1072 Liste der Datenbank: www.liederenbank.nl/liedpresentatie.php?zoek=151988&lan=nl. 1073 Das benutzte Exemplar enthält übrigens eine handschriftliche Widmung des Autors an den „Collegae & amico suo“ Christoph Kaldenbach und stammt aus dessen Nachlass. Offenbar hatte er es aus Königsberg mit nach Tübingen genommen.
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mige Werke unter ihnen. Auch hier wählt Greflinger besonders eingängige und einfach gebaute Stücke aus.¹⁰⁷⁴ Das Lied I,19 ist ihm wahrscheinlich aufgefallen, weil es eine Parodie mitliefert: Die Freuden und Leiden des Verliebtseins werden gegenübergestellt (der Text stammt von Hans Heinrich Kolhans). Greflinger verwendet den Tonsatz für zwei neue Lieder, wobei in einem Fall „Wie kann ein solches Hertze wancken“ auch eine inhaltliche Orientierung festzustellen ist. An Weichmanns Lied II,8 gefiel ihm gewiss, dass es hier um den Schäfer Celadon geht (Text: Johann Francke). Greflinger formt die humoreske Schäferklage zu einem Liebesbekenntis von Dorinden an ihren Liebsten Amynthas, den sie dem alten Freier vorzieht (III,1). Den Text zu Weichmanns Lied „An die Neider und Verfolger seiner Wolfahrt“ ersetzt Greflinger im Lied III,2 durch einen Text, der sich für eine spezifische Aufführungssituation – aufgrund des Themas vielleicht für eine Hochzeitsfeier – eignet: „An eine Adeliche Dama / bey Uberreichung eines Apffels. Zur Mahlzeit gemacht“. Kurz wird die berühmte mythische Geschichte vom Streit um den goldenen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ auf der Hochzeit der Thetis rekapituliert. Das Ich des Liedes spricht sodann „unsere Nymphen“ an – wie die Überschrift vermuten lässt, also die anwesenden Damen beim Hochzeitsmahl – und wählt im Laufe des Liedes eine von ihnen aus. Die Überreichung des Apfels ist freilich gerade im Aufführungskontext eines (Hochzeits-)Spiels symbolisch stark aufgeladen und erinnert nicht nur an den mythischen Schönheitsstreit, sondern subtil auch an die entsprechenden christlichen Bedeutungsinhalte. Amüsant mag es sein, dass der Apfel, hier also Sinnbild der Verführung, einer Dame von einem Herrn gereicht wird, der Auslöser des Sündenfalls also umgekehrt wird. In Blick auf das Arrangement der Liedsammlung wird auf diese Weise auch ein Bogen zum Titelkupfer geschlagen, das in seiner Ikonographie ja auch auf den biblischen Mythos vom Garten Eden anspielt.
b) Exkurs: Kontrafaktur und Parodie Wenden wir uns abschließend nun zwei detaillierten Einzelanalysen zu. Dazu sei es erlaubt, nach den erfolgten, einführenden Bemerkungen und Beispielen an dieser Stelle einen knappen Exkurs zum Phänomen der Kontrafaktur bzw. Parodie nachzuschicken: Bei Kontrafaktur und Parodie handelt es sich um musikoliterarische Techniken, bei denen ein neuer Text unter eine präexistierende Vokalkomposition gelegt
1074 Die Weichmann-Vorlagen identifizierte abermals Fischer (Anm. 948), S. 73.
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wird bzw. bei der es zur (Neu-)Textierung einer übernommenen Lied- oder Tanzweise kommt. Begrifflich sind beide Phänomene jedoch bereits innerhalb der relevanten Disziplinen, also Literatur- und Musikwissenschaft, nicht klar voneinander getrennt und auch die historische Begrifflichkeit ist nicht eindeutig zu fassen.¹⁰⁷⁵ Die folgenden Ausführungen zielen auch nicht auf die Terminologie, sondern vielmehr auf die Funktion im Einzelzusammenhang.
1075 In der literaturwissenschaftlichen Forschung ist der Objektbereich der Kontrafaktur von dem der Parodie nicht abgegrenzt. Verweyen/Witting definieren Parodie als „Verfahren distanzierender Imitation“. Dabei verfolge diese Schreibweise „Komisierungs-Strategien“, mit der Intention, die gewählte Vorlage herabzusetzen, was dieses Verfahren von der Kontrafaktur unterscheide, welche das kommunikative Potential der Vorlage nutze, um eine andere Botschaft zu transportieren. (Art. „Parodie“. In: RLW 2, S. 23–27, hier S. 23 f. sowie dies.: Kontrafaktur. Konstanz 1987, S. 75). Problematisch ist die Definition, weil sie die historische Bedeutungsbreite des Begriffs auf eine Spezialform reduziert. Denn die komisch-kritische Dimension der Parodie wird erst durch eine neue Kunstauffassung seit dem 18. Jahrhundert akzentuiert. So definiert Scaliger ‚Parodia‘ im ersten Buch seiner Poetik im Sinne einer ‚komisierenden Inversion‘, während im dritten Buch die Definition neutraler ist; hier bedeutet Parodie nicht unbedingt ein polemisches Verhältnis von Modell und Nachbildung (Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Ed. Deitz/Vogt-Spira). Witting/Verweyen schlagen dennoch vor, beispielsweise frühneuzeitliche Texte, die dem imitatio-/aemulatio-Konzept folgen, fachterminologisch nicht als Parodie zu bezeichnen, wenngleich sie in der Begrifflichkeit der Zeit beispielsweise unter „Parodia Horatiana“ (u. a. Paul Melissus und Heinrich Meibom) oder „Parodia Opitziana“ firmieren. Vgl. hierzu auch Verweyen/Witting: Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 1979; dies.: Parodie, Palinodie (Anm. 1006). Zur Diskussion des ParodieBegriffs in den antiken und frühneuzeitlichen Poetiken vgl. Jörg Robert: Nachschrift und Gegengesang. Parodie und parodia in der Poetik der Frühen Neuzeit. In: ‚Parodia‘ und Parodie. Aspekte intertextuellen Schreibens in der lateinischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Reinhold F. Glei, Robert Seidel. Tübingen 2006, S. 47–66. Die Musikwissenschaft versteht unter Parodie eine v. a. in der Frühen Neuzeit angewandte Kompositionstechnik, die auf bereits vorliegendes musikalisches Material zurückgreift. Eine komisierende Komponente weist beispielsweise die Gattung der Parodiemesse (Lasso, Palestrina etc.) in aller Regel nicht auf. Vielmehr wird der Terminus „Parodia“ als gräzisiertes Äquivalent zu „ad imitationem“ aufgefasst. „The essential feature of parody technique is that not merely a single part is appropriated to form a cantus firmus in the derived work, but the whole substance of the source – its themes, rhythms, chords and chord progressions – is absorbed into the new piece and subjected to free variation in such a way that a fusion of old and new elements is acheved.“ (Michael Tilmouth, Richard Sheer: Art. „Parody (i)“. In: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians. Second Edition. Ed. by Stanley Sadie. Oxford u. a. 2001, Bd. 19., S. 145 ff., hier S. 145). Kontrafaktur wird verstanden als ein Verfahren im Bereich der Vokalmusik, bei dem ein Text durch einen anderen, ohne wesentliche Veränderung der Musik, substituiert wird. Robert Falck: Art. „Contrafactum (1)“. In: The New Grove. Bd. 6, S. 367 ff.
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Es lag wohl seit jeher auf der Hand, besonders gelungene und vor allem auch besonders einprägsame und populäre Melodien mit neuen Texten zu versehen, um diese Qualitäten der vorhandenen musikalischen Vorgabe für unterschiedliche Zwecke zu funktionalisieren; das Verfahren steht damit in der Vormoderne zum einen im Zeichen des (poetischen und auch musikalischen) imitatio-Konzepts.¹⁰⁷⁶ Die bekannteste Spielart der Kontrafaktur stellt ferner die geistliche Neutextierung einer Weise mit ursprünglich weltlichem Inhalt dar (seltener umgekehrt). Häufig ist mit diesem ‚Sphärenwechsel‘ eine semantische Aussage verbunden, indem bei der Neutextierung erotischer Lieder der Melodie nicht nur die Funktion einer gewissermaßen technischen Brücke zukommt, sondern, indem sie auch das Bindeglied für die intendierte inhaltliche Assoziation bildet. Besonders verbreitet waren solche Kontrafakturen im Zeitalter der Reformation.¹⁰⁷⁷ Das Verfahren wurde hier zum einen zur Ausweitung des Kirchenlied-Repertoires herangezogen. Zugleich sollte auch anzüglichen Texten sozusagen der Garaus gemacht werden.¹⁰⁷⁸Außerdem wurden Kontrafakturen auch konkret als Pro-
1076 Auf diese Weise ermöglichte das Verfahren beispielsweise eine Bereicherung des gregorianischen Gesangs und war auch für das Repertoire des Minnesangs von Bedeutung. Hierzu vgl. Dieter Mertens: Kontrafaktur als intertextuelles Spiel. Adaptation von Troubadour-Melodien im deutschen Minnesang. In: Le rayonnement des Troubadours. Hg. von Anton Touber. Amsterdam u. a. 1998, S. 269–283. Es ist in der Musikwissenschaft umstritten, ob das rhetorische imitatio-Konzept auf Kompositionsweisen (v. a. des 15., 16. und 17. Jahrhunderts) übertragen werden kann. Beispielsweise fällt das Prinzip der imitatio veterum für die Komponisten weg; auch im musiktheoretischen Diskurs spielt die imitatio im Vergleich zur zeitgleichen literaturtheoretischen Debatte kaum eine Rolle, während das musikalisch gängige Verfahren der Selbstparodie dem literarischen imitatio-Konzept fremd ist. Hinweise für die Existenz eines musikalischen imitatio-Konzepts findet man hingegen bei Burmeister. Honey Meconi geht vor diesem Hintergrund davon aus, dass „parody was not originally inspired by rhetorical imitatio […].“ Dies gelte jedoch vorwiegend für die Zeit vor dem 16. Jahrhundert. Vgl. dies.: Does imitation exist? In: The Journal of Musicology 12 (1994), S. 152–178, hier S. 172. 1077 Der Genfer Psalter verwendet zahlreiche Melodien weltlicher Lieder, auch die Lutherchoräle sind Kontrafakturen weltlicher Lieder. Bsp.: „O Welt ich muss dich lassen“ auf Heinrich Isaacs „Innsbruck ich muss dich lassen“. Beispiel für eine Gegenreformatorische Kontrafaktur: „Te Lutherum damnamus“ (Maistre Jhan) auf „Te Deum laudamus“. 1078 So ist es z. B. Jean Pasquier, dem Herausgeber einer hugenottischen Umtextierung von Lasso-Chansons – wie er im Vorwort der Sammlung Mellange d’Orlande de Lassus (2 Bde. 1576/76) kundtut – daran gelegen, die Süße der Lasso’schen Musik zu bewahren, die wollüstigen, schamlosen Texte, die jedes keusche Ohr erschrecken lassen müssten, hingegen zu bereinigen. Folglich wird durch den Austausch einiger Wörter eine Totenklage auf Clemens non Papa mit den Worten „O cantores incliti“ aus dem Prätext „Patatores incliti“ gebildet. Wie ernsthaft eine solche Totenklage gemeint sein kann, steht auf einem anderen Blatt, und „ein zur Totenklage umtextiertes Sauflied ergibt dann eine semantisch stimmige Konnotation, wenn dem Adressaten entsprechende Neigungen nachgesagt werden“ (Bernhold Schmid: Aspekte der Kontrafaktur im 15. und
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pagandamittel im politisch-konfessionellen Kontext bedeutend, indem man sich das „kommunikative Potential“ (Verweyen/Witting) der Vorlage zunutze machte.¹⁰⁷⁹ Diese politische Dimension spielt auch später und in anderen Zusammenhängen eine Rolle. Man denke beispielsweise an die Lieder der napoleonischen Freiheitskriege, die z. B. unzählige Male Schubarts populäres „Auf, auf ihr Brüder und seid stark“ aufgriffen.¹⁰⁸⁰ Dass es darüber hinaus freilich auch in der hochentwickelten Kunstmusik komplexe Formen von Parodien gibt, zeigt beispielsweise die Tradition der Parodiemesse. Ein Schwerpunkt der musikwissenschaftlichen Parodieforschung liegt dabei u. a. auf der Untersuchung der Werke Johann Sebastian Bachs, wobei sich ein artifizieller Anspruch mit diesem Verfahren insbesondere bei den späteren Parodien wie in der h-Moll-Messe und im Weihnachtsoratorium verbindet.¹⁰⁸¹ Aus der Qualität der Bachschen Musik ergebe sich – so die einschlägige Bachforschung – hier gewissermaßen ein „Überschuß“ an musikalischer Gestaltung, der sie parodierfähig mache und gerade die expressiven, wortausdeutenden Passagen dieser Werke erwiesen sich interessanter Weise häufig als „semantisch höchst flexibel“¹⁰⁸². Ein schlagendes Beispiel für dieses Phänomen ist die Tenorarie „Auf meinen Flügeln sollst du schweben“ aus der Herkules-Kantate („Lasst uns sorgen, lasst uns wachen“, Glückwunschkantate zum Geburtstag des Kurprinzen BWV 213),¹⁰⁸³ in der das Fugenthema und die extremen Koloraturen Flügelschlag und
16. Jahrhundert. In: TROJA 7 (2007), S. 39–62, hier S. 56 f.) – der berühmte Motettenkomponist soll ein veritabler Säufer gewesen sein. 1079 Vgl. Verweyen, Witting (Kontrafaktur, Anm. 1075), S. 75–86 (Kap. „Ausnutzung eines kommunikativen Potentials“). 1080 Vgl. Hartmut Schick: „Mehr Naturschrey als Kunst“. Zum Liedschaffen von Christian Friedrich Daniel Schubart. In: Musik in Baden-Württemberg 9 (2002), S. 11–22, hier S. 14 f. sowie ders.: Art. „Parodie und Kontrafaktur“ (Die Parodie in der Kunstmusik nach 1600). In: MGG², Sachteil 7, Sp. 1407–1410, hier Sp. 1406. Dass übrigens auch Chr. Fr. D. Schubart manchmal zuerst die Melodie und danach erst den Text verfasst hat, bezeugt sein Sohn Ludwig Schubart: „Er machte diese Lieder ganz mit der Leichtigkeit, die man ihnen ansieht – bald den Text, bald die Musik zuerst.“ (zit. Christian Friedrich Daniel Schubart: Sämtliche Lieder. Hg. von Hartmut Schick. München 2000 [Denkmäler der Musik in Baden-Württemberg 8], S. XXIX). 1081 Zur Tradition der Negativbewertung von Bachs Parodieverfahren vgl. Hans Joachim Schulze: Bachs Parodieverfahren. In: Die Welt der Bach-Kantaten. Hg. von Christoph Wolff. Stuttgart 1997, S. 167–188, v. a. 168–174 sowie S. 182. 1082 Schick (Anm. 1080), Sp. 1408. S. auch Ludwig Finscher: Zum Parodieproblem bei Bach. In: Bach-Interpretationen. FS für Walter Blankenburg. Hg. von Martin Geck. Göttingen 1969, S. 94–105. 1083 (Arie 7=WO 41). Neue Bach-Ausgabe (NBA I/36). Tenorarie der Tugend: „Auf meinen Flügeln sollst du schweben / auf meinem Fittich steigest du den Sternen wie ein Adler zu.“ (1733). Sechs Sätze der Kantate wurden umtextiert in das Weihnachtsoratorium überführt.
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Gleitflug des Adlers gleichsam musikalisch abbilden, während in der Parodie dieser Arie im Weihnachtsoratorium – „Ich will nur dir zu Ehren leben“ – eben diese intensive Wortausdeutung keine Rolle mehr spielt. Dafür jedoch korrespondiert der streng gearbeitete Fugensatz nun bestens mit der im Text apostrophierten Tugendhaftigkeit im Sinne der imitatio Christi. Nicht nur unter ästhetischen Gesichtspunkten wird gerade das Kontrafakturverfahren dennoch bereits (und ausgerechnet) seit Luther (der sich dieser Technik übrigens selbst selten bediente) auch skeptisch betrachtet, denn zwangsweise birgt dieses Verfahren die Gefahr der Verwässerung des Wort-Ton-Verhältnisses. Doch erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die Kritik deutlicher, was freilich im Zusammenhang mit dem aufkeimenden genieästhetischen Diskurs und dem Originalitätsgedanken zu betrachten ist. So unterscheidet Rousseau in seinem Dictionnaire de Musique (1768) die Parodie eindeutig von einem „gut gemachten Musikstück“: „Dans une Musique bien faite le Chant est fait sur les paroles & dans la Parodie les paroles sont faites sur le Chant.“¹⁰⁸⁴ In der Tat ließ im Laufe des 18. Jahrhunderts das „Streben nach immer engerer Einheit von Wort und Ton […] nachträgliches Textieren oder Umtextieren nicht nur die Komponisten der Berliner Liederschule zunehmend als ästhetisch fragwürdig erscheinen.“ Die deutsche Liedparodie beschränkte sich „immer mehr auf die Sphäre der Unterhaltungsmusik und der Gassenhauer. Auch den Versuchen Fr[iedrich] Silchers und anderer, sanghafte Sätze aus Symphonien und Sonaten durch Textunterlegung dem Chor-, insbesondere dem Männergesang zu erschließen […] war keine dauerhafte Wirkung beschieden.“¹⁰⁸⁵ Festzuhalten bleibt, dass Kontrafaktur und Parodie gerade für die Intertextualitätsforschung von besonderem Interesse sind, da der Prätext – in verschiedenem Grad und bisweilen mehr bisweilen weniger intendiert, palimpsestartig hindurchschimmert,¹⁰⁸⁶ wobei dieser Effekt verstärkt wird, sobald Musik beteiligt ist. Zugleich wird in diesem Fall das Bezugssystem komplexer und vielschichtiger.¹⁰⁸⁷ Es stellen sich Fragen hinsichtlich der Rezeption und Produktion, die auch Aspekte der Performanz einschließen. Es sei erlaubt, diese Überlegungen kurz an einem nicht-barocken Beispiel zu illustrieren: Für das Stiftungslied seines Mittwochskränzchens – ein wöchentliches, geselliges Beisammensein am Frauenplan, dem zum Beispiel auch Schil-
1084 Zitiert nach Schick (Anm. 1080), Sp. 1409. 1085 Schick (Anm. 1080), Sp. 1405. Die Schlagerindustrie des 20. Jahrhunderts war jedoch mit dem Kontrafakturverfahren sehr erfolgreich. Vielleicht könnte man hier Parallelen zwischen barocker und moderner Populärkultur ziehen. 1086 Vgl. Genette (Anm. 740), S. 21–76. 1087 An einigen der oben angeführten Beispiele konnte dies bereits gezeigt werden.
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ler beiwohnte (es werde hier „fleißig gesungen und pokuliert“, schreibt dieser an Körner) – wählte Goethe eine ausgesprochen bekannte Melodie: Nämlich Mozarts Papageno-Arie Ein Mädchen oder Weibchen, auf die Hölty zuvor das Gedicht Der alte Landmann an seinen Sohn (Üb immer Treu und Redlichkeit) geschrieben hatte. Goethe stellte dabei seine erotisch-humoresken Verse („Was gehst du, schöne Nachbarin / im Garten so allein“) mit Höltys Gedicht in ein bewusst ‚parodistisch‘aemulatives Verhältnis: Er habe versucht, „das kühle Grab mit einer Lebensposse auszustechen“, witzelte er zu einer Teilnehmerin des Kreises. In diesem Fall hätte also die Musik einen spezifischen Referenzcharakter („Üb immer Treu und Redlichkeit bis an dein kühles Grab“) mit besagter Intention, die durch das semiotisch-intertextuelle Spiel gerade im Moment pragmatischer Realisierung zum Tragen kommen kann. Doch kehren wir zurück in die Greflinger-Zeit: Denn gerade Parodien und Kontrafakturen sind in der Frühen Neuzeit beliebte Liedherstellungsverfahren. Wie sieht es nun hier mit dem Text-Ton-Verhältnis aus? Ist die Musik des Barockliedes fähig, einen Überschuss an musikalischer Gestaltung, eine gewisse Multivalenz gegenüber den Texten zu produzieren, die sie für Texte verschiedenen Charakters und Inhalts offen hält?¹⁰⁸⁸ Bei Bach kann „ein fallender Tritonus ebenso gut Schmerz wie Falschheit, zärtliches Verlangen oder Tändelei ausdrücken“¹⁰⁸⁹ – können wir ähnliche Phänomene, gewissermaßen en miniature bei den Generalbassliedern beobachten, so dass es auch bei Kontrafakturen, die sich in Greflingers Liederbuch finden, nicht reichen würde, von einer ‚naiven‘ Transformation zu sprechen oder gar generell – wie Armin Brinzing in der MGG schreibt – von einer Entartung des Kontrafakturprinzips zu „mechanischer und barbarischer Geläufigkeit“ in der Zeit nach 1600?¹⁰⁹⁰ Bereits mehrfach wurde in den oberen Kapiteln die Frage berührt, ob die Melodie, die vormals einen bestimmten Text transportiert hat, diesen auch in der Kontrafaktur gleichsam kryptogrammatisch in sich trägt und somit als Auslöser von intellektuellen, affektiven, symbolischen
1088 So Finschers Fazit zu seiner Analyse des Bach’schen Parodieverfahrens: „Der Reichtum und die Vielschichtigkeit auch der schlichtesten Komposition des Thomaskantors schaffen einen musikalischen Zusammenhang über alle Textinterpretation und über aller Parodie, einen ‚Überschuss‘ musikalischer Gestaltung jenseits der Textkomposition. Reichtum und Vielschichtigkeit – und nicht Unbestimmtheit – geben dem Werk eine Multivalenz, die es auch für sehr verschiedene Texte offenhält, ein Verständnis in verschiedenen Richtungen und mit wechselnder Akzentuierung des Sinngehalts ermöglicht. Die musikalische Größe der Bachschen Werke ist die Voraussetzung ihrer Parodierbarkeit.“ (Finscher, [Anm. 1082], S. 105). 1089 Schick (Anm. 1080), Sp. 1408. 1090 Arnmin Brinzing: Art. „Die Kontrafaktur von der Reformation bis 1600“. In: MGG², Sachteil 7, Sp. 1401 f., hier S. 1401.
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Vorgängen fungieren kann.¹⁰⁹¹ Diesen Fragen sollen abschließend noch einmal an zwei Lieder aus Seladons Weltliche Lieder nachgegangen werden.
c) Zwei Beispiele Aus Johann Rists Galathee wählt Greflinger zur Neubereimung den Tonsatz des Liedes „An die Thränen seiner allerliebsten Galatheen“, das Rist seinerseits im Titel als imitatio eines Gedichts des französischen Autors Jean Bonnefons (1554– 1614) markiert.¹⁰⁹² An die Thränen seiner allerliebsten Galathee / Auß dem hochgelahrten Frantzösischen Poeten Johann Bonefon.¹⁰⁹³ 1. Ihr hellen Tränen sagt mir doch Die ihr mit eurem silbern Regen Der Galatheen Mündlein noch So offtmals pfleget zu belegen Wie geschach für kurtzer Zeit Sagt wo ihr geboren seyd? 2. Die Augen so voll Flammen stehen Wie können die doch Wasser geben? Nun hab ich manchen Tag gesehen In ihnen tausend Funcken schweben O wie köstlich süß und teur Schätz ichs Wasser aus dem Feuer. 3. Ach nein ich irre gar zu sehr Denn was ich nasse Thränen nenne Das sind ja keine Tropfen mehr Noch Augen-Wasser das ich kene / Es sind Flammen Feur und Hitz Helle Funken Licht und Blitz.
1091 Vgl. Nicole Schwindt: „Nichts ist poëtischer, als alle Übergänge“ oder Recycling? Musikalische Transformationen in der Renaissance. In: Dies. (Anm. 740), S. 9–18, hier S. 13. 1092 Der Franzose war ein höherer Beamter im Dienste Heinrichs III. Seine Pancharis (Paris 1587) erfuhr bis ins 18. Jahrhundert zahlreiche Auflagen in ganz Europa. Nach dem Urteil Morhofs war Bonefonius der beste neuzeitliche Dichter catullischer Hendekasyllaben. Seine Bassia seien „omni melle suaviora“. Vgl. Walther Ludwig: Giovanni Pontano und das Privilegium Veneris des Jean Bonnefons. In: Mittellateinisches JB 4 (2002), S. 197–213, hier S. 197. 1093 Galathee, E iij [ff.]; Tonsatz: J[ohann] S[chop].
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4. Es sind die Tröpflein voller Gluth Die mir das schwache Hertz entzündet Ja auch gebrochen meinen Muth Daß er der Liebe Macht empfindet / Dies Wasser ist die Flamm So mier alle Kräffte nahm. 5. Wie kan doch nunmehr Hoffnung seyn Bey denen so in Liebe leben / Wie kann man ihrem falschen Schein Entfliehen und ihr wiederstreben / Weil das Wasser Feur gebiert / Und die Flamm ein Wasser wird. Dicit lachrymas Pancharillae non esse lachrymas, sed flammas & incendia amoris At mî dicite, lachrymae tenellae; Vos, quae candidulae meae puellae Os argenteolo rigatis imbre, Quî fas nascier his puellae ocellis, Qui toti igneoli undequaque spargunt, Tot incendia missilesque flammas? Verùm fallor ego, & tuae, Puella, Quae mihi lachrymae & putantur imbres, Non sunt hae lachrymae aut aquosus imber; Sunt incendia flammeáeque guttae, Quae me sic adeò intimè perurunt, Consumpta ut rapidi caloris aestu Jam mî pectora tota colliquescant. Quid jam non igitur miselli amantes Sperent aut metuant? quibus creare Undam flamma potest & unda flammam.¹⁰⁹⁴
Rist übernimmt die petrarkistischen Motive des neulateinischen Vorbilds: die Ansprache der Tränen der Geliebten und das sich daraus entwickelnde paradoxe Bild des Tränenflusses, der aus den flammenden Augen entspringt, wobei sich die tropfenden Tränen selbst als Blitze entpuppen, die das Herz des Ichs treffen. Das 16-versige, hendekasyllabische Carmen formt Rist zu einem fünfstrophigen Lied; die vier jambischen Vierheber formieren sich zu einem Vierzeiler im Kreuzreim mit alternierenden Kadenzen, der somit eine aus vielen Liedstrophen geläufige Auf- und Abbewegung einmal wiederholt. Dann wechselt das Metrum und
1094 Jean Bonnefons: Pancharis. Paris 1587, S. 22.
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ein epigrammatisch anmutender, männlich schließender trochäischer Zweizeiler im Reimpaar wird angefügt.¹⁰⁹⁵ Der Chef der Hamburger Ratsmusiker Johann Schop hält sich bei seiner Vertonung an die liedästhetischen Vorstellungen des Textautors: ‚Schlichtheit des Vokalparts‘ und ‚melodische Eindringlichkeit‘ bei ‚Sensibilität für das Wort-TonVerhältnis‘.¹⁰⁹⁶ Die Deklamation erfolgt weitgehend syllabisch, im dritten Takt auf „Galatheen“ und im fünften Takt auf „kurtze“ sind kleine Seufzerfiguren eingefügt. Schop beachtet bei seiner Vertonung auch die syntaktisch-semantische bzw. metrische Gliederung des Textes, indem er jedem Vers eine zweitaktige Periode zuteilt und dabei den Reim jeweils durch Kadenzierung markiert. Festzustellen ist auch, dass der Komponist es sich nicht so leicht macht, die beiden Teile des Stollens, also Vers 1/2 und Verse 3/4, einfach identisch zu vertonen (z. B. einfach durch ein Wiederholungszeichen). So wird das deklamatorische, gleichsam rezitativische Anfangsmotiv mit fünfmaliger Wiederholung des Anfangstons e’’ zu Beginn der dritten Mensur in leichter rhythmischer Variation zwar eine Quart tiefer zunächst angedeutet, melodisch, rhythmisch und harmonisch aber verschieden weitergeführt. Statt der schrittweisen Abwärtsbewegung über einen Quartraum, wandert die Melodie nun von h ausgehend („der Galatheen Mündlein noch“) eine Terz aufwärts, während der Bass (über eine Art QuintsextAkkord) nach d-Moll kadenziert. Auch bei der Vertonung des zweiten Verses bleibt Schop im recht engen Rahmen einer Quart, erreicht aber in dieser Passage über eine tonleiterartige Aufwärtsbewegung schließlich über den affektuosen Tonschritt der kleinen Sekunde den Hochton der Melodie (f’’). Dieser fällt auf die textlich wichtige Silbe „Silb“-er. Der metrische entsprechende Vers 4 variiert das bislang dominierende rhythmische Gleichmaß durch Punktierungen, kombiniert mit neuen Intervallsprüngen. Die relativ hohe Lage verbunden mit der wellenförmigen, sanft fließenden Bewegung der Melodie, die sich abwärts bis zum gis’ ergießt, scheint auf die kullernden, silbernen Tränen musikalisch einzugehen. Im Abgesang lässt Schop den gleichmäßigen Melodiefluss ein wenig durcheinander geraten. Besonders expressiv wirkt dabei der Oktavsprung, der die beiden Schlussverse trennt und den Imperativ heraushebt. Die Generalbasslinie kann übrigens, wie auch ihre Textierung nahelegt, fakultativ als Bassstimme gesun-
1095 Eine spezifische Strophenkreation, die in dieser Form zumindest nicht bei Frank (Anm. 284) nachgewiesen ist. 1096 Vgl. Ulf Grapenthin: Art. ‚Johann Schop d. Ä.‘ In: MGG², Personenteil 15, Sp. 2–5.
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gen werden.¹⁰⁹⁷ Sie führt dabei in einigen Passagen ein kurzes ‚Eigenleben‘, prägt also eine gewisse konzertante Gestaltung aus: insbesondere im Abgesang, wo die Basslinie durch drängendes Vorwärtsschreiten (Seitenbewegung) das abschließende Verspaar eng aneinander bindet. Diesen Tonsatz textiert Greflinger neu (Notenbeispiel V, Anhang), und bereits der Titel verrät, dass sich die Kontrafaktur im Motivkosmos des Antipetrarkismus, bewegt, der sich hier mit Elementen aus der volkssprachigen Tradition der burlesken Frauensatire verbindet: Das neue Lied heißt „An eine geschmückt und geschminckte armselige Jungfraw“. Die enumerative Beschreibung all dessen, was an dem apostrophierten Mädchen unecht zu sein scheint, bestimmt den Aufbau des Textes. Dabei wandert in petrarkistischer Manier der Blick von oben nach unten: Die Jungfrau trägt eine Perücke, die rosigen Wangen sind dem Rouge aus London zu verdanken, eine Prothese gaukelt schöne Zähne vor, Gesicht und Hals sind weiß geschminkt, die Brust ist mit einer Art selbstgebasteltem ‚Wonderbra‘, nämlich einem festgenähten Baumwollballen, in Form gebracht und die edlen Kleider sind wohl nur geliehen. Immerhin gesteht das lästernde männliche Ich, dass es sich seiner Anschuldigungen nicht ganz sicher ist und sollte ein Irrtum bzw. eine üble Verleumdung vorliegen, gebühre der Jungfrau freilich ein Lobpreis. Diese kleine Pointe sowie das bisweilen derbe Vokabular mit dem dazugehörigen Gestus der Invektive verfolgen dabei eine komisierende wie auch moraldidaktische Wirkungsabsicht, die sich auf das oben rekonstruierte ‚Idealpublikum‘, in diesem Fall die jungen Bürgertöchter, beziehen lässt. Maßhalten, Bescheidenheit üben, Abstand von der verkommenen höfischen Welt des schönen Scheins wahren, also die Laster der Selbstsucht und Eitelkeit verbannen – so lautet die ‚Botschaft‘. Metrisch ist das Lied mit dem Rist-Stück identisch, so dass auch hier die syntaktisch-metrischen Einheiten wiederum den musikalischen Abschnitten entsprechen. Darüber hinaus ist es offensichtlich, dass sich Greflinger die musikalische Faktur der Vorlage zu Nutze macht. So dient beispielsweise die tonwiederholende Textdeklamation in der ersten Strophe wie bei Rist zu einer direkten Ansprache. Die hohe Tonlage, die bei Rist mit den hellen, silberigen Tränen korrespondiert, passt auch gut zu dem höhnisch-investigativen Ton des Greflinger-
1097 In nahezu allen Rist-Drucken ist die Bassstimme textiert. Entsprechende Anmerkungen in Rists Vorreden lassen darauf schließen, dass – wie im Barocklied üblich – die Bassstimme fakultativ gesungen werden konnte, ein Generalbassinstrument, das das harmonische Fundament realisierte, kam jedoch eigentlich obligatorisch dazu. Vgl. dazu v. a. den „Vorbericht an den Gottlibenden Leser“ zur Sabbahtischen Seelen-Lust (1651), S. 26 f. sowie die Ausführungen von Küster (Güldene Musik, Anm. 423), S. 101 f. und 125 f.
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Liedes. Insbesondere die musikalische Gestaltung des durch den Oktavsprung ausnehmend exponierten letzten Verses nutzt Greflinger in allen Strophen für besonders pointierte Aussagen. Indem er dabei eine ‚Sinnkurve‘ ausprägt, deren Verlauf von Strophe zu Strophe gleich bleibt, passt der Text in jeder Strophe zur Musik. Das strophische Prinzip ist somit auch im Textsinn anzutreffen; die semantische Umbesetzung scheint gut zu funktionieren. Wenn man annimmt, dass den Rezipienten der Rist-Text beim Singen des Greflinger-Liedes präsent war, womit angesichts der Popularität der Galathee gerechnet werden kann, ergibt sich durch die ‚doppelte Textualität‘ des Stücks ein interessantes Verweisspiel: Die Melodie (bzw. der Satz), die so gut zu dem antipetrarkistisch-humoresken Text passt, mag zugleich Assoziationen mit einem Lied, das eine ‚klassische‘ petrarkistische Motivik aufgreift, wecken und das gerade im Moment des Vortrags gleichsam von der Musik in die Präsenz geholt wird.¹⁰⁹⁸ Dabei erweist sich die Musik als semantisch so flexibel, dass sie zwei (auf den ersten Blick) völlig konträre Texte adäquat zu transportieren vermag. Doch man kann noch einen Schritt weitergehen und der Greflinger-Kontrafaktur zugestehen, dass sie durch Sujet und Wortwahl einen Anspielungshorizont eröffnet, in den auch selbstreflexive Aspekte treten: So wie das Mädchen möglicherweise alles „entlehnt“ hat, was es „am Leibe pfleg[t] zu tragen“, so ist auch das Lied, zumindest seine äußere – sprich hier musikalische – Gestalt, nur „entlehnt“. Die Kontrafaktur, in der es also um Verkleidung, um dissimulatio geht, rückt sich selbst in die Nähe der Maskerade, des Theatralischen und Karnevalesken – genau in den Kontext, in dem auch die frühneuzeitlichen Poetiken die parodia iocosa verorten. So hebt Scaliger hervor, er habe die in seiner Poetik zitierte Parodie des Aeneis-Proöms anlässlich des Karnevals verfasst.¹⁰⁹⁹ Abschließend ist zu betonen, dass alle diese denkbaren Stufen des Verweisspiels eigentlich nur im Moment des gesanglichen Vortrags recht zum Tragen kommen können, zumal Greflinger seine Vorlage bezeichnenderweise verschweigt. Man könnte sich übrigens auch durchaus eine Aufführungssituation vorstellen, in der zunächst „An die Thränen seiner Galathee“ intoniert wurde und anschließend „An eine geschmückt und geschminckte armselige Jungfraw“.
1098 Vgl. Florian Mehltretter: „Atri canti di Marte“ – Pragmatik gesungener Lyrik und Präsenz. In: Sprachen der Lyrik. Von der Antike bis zur digitalen Poesie. FS Gerhard Regen. Hg. von Klaus W. Hempfer. Stuttgart 2008, S. 181–206, hier S. 198. 1099 Vgl. Robert (Anm. 1075), S. 50. Auch Bachtin sieht die frühneuzeitliche Parodie in der Tradition des Karnevals. Vgl. ebd.
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Festzuhalten ist, dass die Musik offenbar nicht untrennbar mit dem Text verbunden ist, sie ist – wenn man so will – für textliche Polygamie offen. Allenfalls kann sie auf etwas verweisen, sie kann bedeutungsgeladen sein, jedoch keine fixen Denotate generieren, sonst wären die beschriebenen Phänomene unmöglich. Für das Rist-Lied und die entsprechende Greflinger-Kontrafaktur ließ sich beobachten: Erstens, wie Johann Schop bei der Vertonung von Johann Rists Bonnefons-imitatio Semantik und Struktur des Liedtextes berücksichtigt und zweitens, wie Greflinger die musikalische Gestaltung (Tonlage, die Melodieführung etc.) des „Thränen“-Liedes für eine semantische Umbesetzung zu nutzen weiß. Indem diese antipetrarkistische Kontrafaktur nun das ‚Entleihen‘, das Verkleiden, die Maskerade selbst zum Thema macht, wird eine selbstreflexive Bedeutungsschicht offen gelegt: Das Mädchen verdankt seine äußere Gestalt Schminke und fremden Kleidern, so wie sich der Text mit dem fremden Tonsatz schmückt, dessen Herkunft nicht markiert ist, der jedoch im Moment der musikalischen Realisierung von einem entsprechenden Publikum aufgrund der Popularität des Prätextes erkannt werden kann. * In einer letzten Analyse soll der Blick noch einmal stärker auf die Produktionsseite gewendet werden. Betrachtet wird das satirische Lied XI im dritten Dutzend, „An einen Ruhmredigen“ (Notenbeispiel VI, Anhang). Die neun Strophen sind aus trochäischen Vierhebern in Paarreim mit durchgehend männlicher Kadenz gebaut, in dieser schlichten Gestalt mutet es volksliedartig an. Das prahlerische Alamode-Gebaren des angesprochenen, bezopften Kavaliers wird durch diese einfache Form gewissermaßen konterkariert und auch in Kontrast zu einer ebenso volkstümlich anmutenden, mit Sprichwörtern versehenen Sprache gesetzt. Die Zweiteiligkeit der Strophenform wird dabei inhaltlich genutzt: Die ersten beiden Verse jeder Strophe stellen den Habitus dieses „Ruhmredigen“ in Form einer desavouierenden Frage, eines Imperativs oder einer sprichwortartigen Redensart vor, die beiden folgenden Verse dienen der Verspottung des Alamode-Verhaltens. Dabei stellt die erste Strophe den leitenden didaktischen Lehrsatz sogleich vor: Prange nicht so sehr mit dir / Ziehe dich nicht allen für / Halte doch die rechte Maaß / Andre wissen auch noch was.
Die Lastersatire fordert also zu modestia, zu Maßhalten und Bescheidenheit auf, womit Greflinger dem von Opitz entworfenen Themenspektrum für die Lyrica
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(„[…]lob der mässigkeit“) entspricht. Im Folgenden werden die Accessoires des Kavaliers wie „Biberhut“, eine Art Zylinder, das „Band im Zopff“ und der „Degen“ verspottet, denn sie kaschieren nur die intellektuellen und charakterlichen Unzulänglichkeiten des Angebers (Str. 1 bis 3). Den Degen trägt er beispielsweise nur aus modischen Gründen, Tapferkeit im Krieg hat er hingegen noch nicht unter Beweis gestellt (Str. 5). Seiner chronique scandaleuse (Str. 5) wird ebenso wenig Bewunderung entgegengebracht wie der angeblichen Reise in die Neue Welt (Str. 7 und 8). Die letzte Strophe wiederholt die eingangs formulierte Weisheit nochmals und illustriert sie mittels eines volkstümlichen Sprichworts: Lieber / stell dein Prahlen ein / Laß auch andre Leute seyn / Hör / je völler als ein Faß / Hör / je minder klinget das.
Die syntaktisch-semantische Zweiteilung aller Strophen ist auch auf musikalischer Ebene zu beobachten. In der ersten Einheit (Takt 1–2) folgt nach dem Hochton d’’ (der durch einen exponierten Quintsprung erreicht wird) auf der Negationspartikel des treibenden Imperativs (Strophe 1: „Prange nicht“) eine tonleiterartige Abwärtsbewegung zurück zu g’; gefolgt von einer wiederum über einen Quintraum führenden Abwärtsbewegung zu d’. Die zweite Einheit (Takt 3–5) setzt wiederum mit dem Hochton d’’ ein und mündet in einer Wellenbewegung auf dem Grundton g’ – das Lied steht in g-Moll, hat jedoch eine dorische Anmutung. Stimmig zum Text fällt in Takt 4 die zentrale Tugendforderung des „Maßes“ genau auf das zwischen den beiden Außentönen d’’ und g’ stehende b’. Die Achtelwerte in der Melodiestimme ermöglichen eine deutliche Deklamation des Textes, jede Silbe bekommt eine Note zugeteilt. Von diesem Rhythmus hebt sich der ruhiger schreitende, rein funktional aufzufassende Bass ab. Die Kadenzen fallen auf das Ende des zweiten, dritten und vierten Verses und zwar harmonisch in Terzen gestaffelt, abwärts gerichtet nach d-b-g. Die letzte Kadenz nach g-Moll wird im Nachspiel mit leichter Variation im Bass wiederholt und bekräftigt die Aussage des letzten Verses somit instrumental. Stellt man sich eine Aufführungssituation vor, ermöglichen diese Takte, die ja im Ablauf des Strophenliedes auch die Funktion eines kleinen Zwischenspiels haben, den Scherz der Strophe nachzuvollziehen und bei gelungener Interpretation des Sängers vielleicht in das spöttische „ho ho“ der zweiten Strophe („Glänzt dein Haar wie Gold / ho ho / Eben so glänzt auch das Stro.“) einzustimmen. Auch könnten die Zuhörer dazu eingeladen werden, den Schlussvers bestätigend nachzusingen, was die Harmonik jedenfalls nahelegt. Eine Variation des Tonsatzes folgt im darauf folgenden Schlusslied des dritten Dutzends: „An die verschlossene Adelheit“. Geschickt ist sie hier der neuen Strophenform angepasst und entsprechend erweitert worden: Greflinger
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transponiert das Lied einen Ganzton nach oben (a-Moll), verdoppelt die Notenwerte (die Deklamation folgt also in Vierteln statt in Achteln) und fügt eine neue viertaktige Sequenz für das zusätzliche Reimpaar an. Auch das Lied „An einen Ruhmredigen“ ist eine Kontrafaktur: Im ersten Teil von Alberts Arien steht an 14. Stelle ein äußerst schlicht gehaltenes Generalbasssololied mit dem Lateinischen Lemma Officiosus Amor. Das Gedicht stammt von Simon Dach. Es handelt von Liebeswerbung, wobei sich mit der angesprochenen Nymphe und dem anzitierten Adonis-Venus-Mythos antikes Personal unter die Treue-Topoi – den Beginn der dritten Strophe wählt Albert im V. Band als Titel für das Hochzeitscarmen „Trew Lieb ist allezeit zu gehorsam bereit“ für die durch dieses Lied berühmte gewordene „Anke van Thraw“ – und osculogischen Motive mischen. Die „textgerechten ‚kompositorischen‘ Nuancen“ dieses Liedes wurden in einer Analyse dieses Liedes von Klaus-Jürgen Sachs herausgearbeitet.¹¹⁰⁰ Dieser Tonsatz ist, wie gesagt, identisch mit Greflingers „Auf einen Ruhmredigen“ (variiert in der „Verschlossenen Adelheit“). Greflinger borgt seine ‚Melodey‘ also unverkennbar bei Albert, ohne dies – wie bei allen Übernahmen aus den Arien, Voigtländers Oden und Weichmanns Sorgen=Lägerin – anzugeben. Es wurde hier schon in verschiedenen Zusammenhängen hervorgehoben, dass das kontrafazierende Verfahren in verschiedenen Spielarten für einen großen Teil barocker Lieddichtung geradezu signifikant ist. Es hat nicht nur produktionsökonomische Gründe, im Sinne einer relativ schnellen Herstellungsmethode, sondern auch ein ästhetisches Potential, da es zum intertextuellen Gedankenspiel einlädt. Die meisten Autoren nennen jedoch oder gerade deshalb ihre Vorlage. Zwar hatten wir auch gesehen, dass Voigtländer beispielsweise fremde Melodien ohne konkrete Herkunftsangabe übernimmt, allerdings handelt es sich hier um modifizierte, wohl anonym überlieferte Tanzmelodien. Auch Albert selbst greift auf bestehende Kompositionen zurück, aber nennt sorgsam den Komponisten bzw. fügt die Angabe „incertus autor“ bei, wenn er die nationale Provenienz bzw. den Komponisten nicht kennt. Daher sei noch eine kurze Schlussüberlegung erlaubt, die nicht als Behauptung, sondern nur als ein Diskussionsbeitrag verstanden werden soll: Auf die Idee, die Erfolgsmelodien Alberts für eigene Zwecke zu nutzen, waren vor Greflinger schon andere gekommen. Raubdrucke en masse kursierten im Nord- und Ostseeraum, was den Königsberger Domorganisten mit großer Besorgnis erfüllt haben muss. Albert hatte die Arien im Selbstverlag publiziert; die Raubkopien
1100 Sachs (Anm. 1047), S. 157.
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bedeuteten für ihn daher enorme finanzielle Einbußen. Hinzu kam, dass die erfolgreichste Raubkopie, das Poetisch-Musicalische Lustwäldlein, wegen zahlreicher Fehler in Tonsatz und Textabschrift seiner Reputation als professionellem Musiker schaden konnte. Albert schritt ein. Er erlangte ab 1646 zunächst ein kurfürstliches, dann ein königliches und schließlich noch ein kaiserliches Druckprivileg.¹¹⁰¹ Greflinger als einer der wenigen Autoren des 17. Jahrhunderts bestritt seine Existenz durch Schriftstellerei, das heißt, seine Werke sind marktorientiert. Er kannte die Melodien aus Königsberg und wusste um ihre Popularität. Mit einer Lied-Publikation im modischen Rist-, Voigtländer- und Albert-Stil konnte er hoffen, an den Erfolg dieser Bücher anzuschließen. (Dass er neben ökonomischen Absichten mit dieser Sammlung gewissermaßen auch seine poetische Qualifikationsarbeit vorlegte, wurde oben ausgeführt.) Verschwieg Greflinger die Herkunft seiner Tonsätze, weil die urheberrechtliche Absicherung durch Albert bekannt war? Auch Voigtländer wollte verhindern, dass seine Lieder „gemein“ würden und beklagt sich, dass auf diese Weise andere von seinen Liedern profitieren würden, „wobey meines Nahmens nicht einmahl gedacht worden“.¹¹⁰² Außerdem wurde bereits in der Analyse der Vorrede darauf hingewiesen, dass Greflinger sich durchaus als Textautor und Tonsetzer präsentiert, ohne nur einen kleinen Hinweis auf Fremdmaterial zu liefern und nur bei ganz offensichtlichen Melodien wie dem Daphnis-Schlager die Herkunft offenzulegen. War es also doch seine Absicht, durch Verschweigen der Kontrafaktur sich selbst als eine beachtliche Doppelbegabung zu inszenieren?¹¹⁰³
1101 In einer interessanten Studie konnte Hansjörg Pohlmann nachweisen, dass „Komponisten schon seit der Renaissance ein stark ausgeprägtes, modernen Vorstellungen nahekommendes Urheberrechtsbewußtsein entwickelt hatten und es wider Erwarten auch verstanden, ihre wertvollsten Urheberinteressen gegen alle Schwierigkeiten durchzusetzen“ (Geleitwort). In Albert sieht Pohlmann einen Pionier des Urheberschutzes. Die Frühgeschichte des musikalischen Urheberrechts (ca. 1400–1800). Neue Materialien zur Entwicklung des Urheberbewußtseins der Komponisten. Kassel u. a. 1962. 1102 Voigtländer, Oden, An den günstigen Leser. Vgl. dazu auch Wade (Anm. 1061). 1103 Vgl. die Überlegungen der Verf.: Lieder im Zeitalter der ‚Medienrevolution‘ – Georg Greflingers Seladons Weltliche Lieder (1651). In: Musik 2.0 – Die Rolle der Medien in der musikalischen Rezeption in Geschichte und Gegenwart. Beiträge zum 24. Internationalen Symposium des DVSM e. V. Hg. von Marleen Hoffmann, Joachim Iffland, Sarah Schauberger. München 2012, S. 34–45.
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Greflinger und das weltliche Barocklied
6 Originalvertonung Es bleiben schließlich noch die Lieder zu nennen, für die sich keine Vorlage finden ließ und die somit Kompositionen Greflingers darstellen könnten. Wie erwähnt, fügten auch andere Autoren, die keine professionellen Musiker waren, ihren Liedern selbst ‚Melodeyen‘ bei. Man denke an Rist oder an Christoph Kaldenbach, Laurentius von Schnüffis und Kaspar Stieler. Werner Braun kommt nach Sichtung der Greflinger-Lieder sowie eines Gelegenheitswerkes jedenfalls zu der Ansicht, das Greflinger auch als Komponist seiner Lieder in Frage kommt.¹¹⁰⁴ Diese wären: I,1 (= I,2)
Von seiner Dorinden
I,5
Eine Jungfraw uber ihres Liebsten Abreyse
I,8
An die getreue Rosimund. Vermahnung zur längerer Treu?
I,9 (= 1,10)
An eine vortreflliche schöne vnd Tugend begabte Jungfrau
II,4
An seine Gesellschaft
III,10
An die stolze Pavia
IV,11
Zu Ehren einer betagten und Manngierigen Jungfrauen
IV,12
Ein Bissen zum Trunck
Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird dieses Geheimnis nicht gelüftet werden können. Dennoch ist im Kontext der oberen Ausführungen gelegentlich die Sprache auf einige dieser Lieder gekommen, weil sie mit anderen Kompositionen vergleichbar sind oder weil sie tanzliedhafte Elemente aufweisen, die näher bestimmt werden konnten. Kretzschmars Behauptung, keines der Lieder würde von Greflinger selbst stammen, kann hingegen nicht bestätigt werden.¹¹⁰⁵
1104 Braun (Thöne, Anm. 237), S. 64. Hier weist er auf ein unter Greflingers Namen veröffentlichtes Glückwunschlied für zwei Soprane und Bass, das in der Kirchenbibliothek Seehaus (Altmark) liegt, hin, das er auf jeden Fall für eine Komposition Greflingers hält. Eine Anfrage in Seehaus wurde eingereicht, das Exemplar ist aber bislang vom zuständigen Kantor vor Ort noch nicht im Kirchenarchiv gefunden worden. 1105 Kretzschmar, Lied, S. 120.
Zusammenfassung
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7 Zusammenfassung Im zweiten Hauptteil der vorliegenden Studie wurde Greflingers Liedschaffen in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt. Einzelne Werke wurden unter literaturund musikwissenschaftlichen Gesichtspunkten sowie in Hinblick auf kulturgeschichtliche Fragestellungen untersucht. (1) Ein Überblick über die Funktion und Faktur von Greflingers Liedern in verschiedenen literarischen Kontexten wurde in Grundzügen erarbeitet, um den Fokus auf die Liederbücher legen zu können. Es konnte exemplarisch gezeigt werden, in welcher medialen und inhaltlichen Vielgestalt (Lieder in Schauspielen, Lieder in Flugschriften, Lieder als Einzeldrucke, Lieder in chronistischen Schriften, Lieder geistlichen und weltlichen Inhalts) sich das Lied in der Frühen Neuzeit präsentierte. Dabei wurde anhand der Zwey Sapphischen Lieder auch ein Blick auf Greflingers geistliche Lieddichtung geworfen. Um das in diesen Lieder spezifisch angelegte, kontrafaktische Element angemessen zu beschreiben, wurde mit dem Begriff ‚doppelte Textualität‘ ein neuer historisch-systematischer Terminus entwickelt, der auf einen bestimmten Modus intertextueller Bezugnahme durch Musik abhebt und sich auch in den folgenden Analysen als hilfreich erwiesen hat, um eine Möglichkeit der Bedeutungsschichtung in Kontrafakturen zu beschreiben. (2) Die vergleichende Analyse der Greflinger’schen Liederbücher hat ergeben, dass der Autor für diese Sammlungen insgesamt 151 Lieder verfasste. Dabei übernahm er in den beiden späteren Werken Lieder aus den früheren Sammlungen. Noten finden wir hingegen nur in Seladons Weltliche Lieder. Doch kann angenommen werden, dass auch die meisten Lieder der notenlosen Sammlung für den Gesang bestimmt waren bzw. ihnen, wie der Autor selbst schreibt, eine Melodie zugrunde liegt. Anhand des notenlosen Liedes „Die Mannistische Jungfrau“ aus Greflingers Celadonische Musa konnte dies exemplarisch nachgewiesen werden: Die dazugehörige Melodie ist ein Air de Cour des französischen Hofkomponisten Antoine de Boësset. Thematische Schwerpunkte setzt Greflinger in seinen Sammlungen im Bereich der Liebesdichtung, die häufig moral-didaktisches Potenzial aufweist, sowie im Bereich des Satirisch-Burlesken. Charakteristisch ist dabei eine mittlere bis niedrige Stilebene, zum Teil groteske Bildlichkeit und spitzfindige Wortschöpfungen sowie Diminuitiva. Bisweilen scheint er in dieser Hinsicht der Liedtradition des 16. Jahrhunderts näher zu stehen als dem Normierungsprogramm der ‚orthodoxen‘ Opitzianer. Dieser Befund deckt sich mit dem Programm, das Greflinger in der Vorrede zu Seladons Weltliche Lieder formuliert: Er lehne die
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Greflinger und das weltliche Barocklied
poetischen Reformideen nicht apodiktisch ab, möchte sich aber auch nicht vorbehaltlos den neuen Stilregularien unterwerfen. Was die Metrik betrifft, gibt sich Greflinger jedenfalls ‚opitzianisch‘. Ausgeprägt ist dabei die Experimentierfreudigkeit mit Strophenformen. Allein die Analyse der 48 Lieder in Seladons Weltliche Lieder offenbarte eine bemerkenswerte Formenvielfalt. Interessante Ergebnisse erbrachte ferner die Analyse der Anlage der Sammlungen, die in allen vier Fällen verschieden gestaltet ist: syntagmatisch im Sinne einer zugrunde liegenden histoire (Seladons Beständige Liebe), systematisch nach Themenkreisen (Celadonische Musa) oder bunt durcheinandergewürfelt mit kleinen thematischen Blöcken (Seladons Weltliche Lieder, Poetische Rosen und Dörner). (3) Die musikalische Substanz der überlieferten Tonsätze wurde ausführlich untersucht und in den Kontext der Liedgestaltung im 17. Jahrhundert gestellt. Bei dem vorliegenden Material handelt es sich um einfach strukturierte GeneralbassSololieder, so wie sie um 1650 modern waren. Die Melodik entwickelt sich schlicht und formelhaft, häufig sequenzartig und scheint an Tanzmodellen orientiert zu sein. Daher sind die Lieder in der Regel sehr einprägsam. Eine Korrespondenz zwischen Musik und Text ist vor allem auf formaler Ebene zu konstatieren. Musikalische Wortausdeutung konnte hingegen selten beobachtet werden. (4) Es konnte gezeigt werden, dass ein Großteil der Tonsätze aus den Sammlungen von Albert, Rist, Voigtländer und Weichmann übernommen wurde. Auch die meisten Thonangaben konnten identifiziert werden. An mehreren Beispielen wurde anhand dieser Befunde der Frage nachgegangen, wie sich dieses Verfahren auf das intermediale Verhältnis von Wort- und Musikebene auswirken kann und welche Kriterien Greflinger bei der Auswahl der musikalischen Vorlage zugrunde legte. Dabei wurde vorgeführt, dass bei den Liedern mit Thonangaben (‚explizite Kontrafakturen‘) und den übernommenen Tonsätzen (‚nicht markierte Kontrafakturen‘) der musikalische Part gerade im Moment der Aufführung in vielen Fällen nicht nur Transportmedium des Textes ist, sondern dass er als Auslöser von intellektuellen und affektiven Vorgängen fungieren kann (Stichwort ‚doppelte Textualität‘). (5) Die Befunde, die die Untersuchung der musikalischen Gestalt, des Text-TonVerhältnisses und der aufgegriffenen Themen und Topoi erbracht haben, wurden mit dem Wissen, das wir über Greflingers Aktions- und Kommunikationsradius aus dem ersten Teil der Studie haben, zusammengeführt. Daraus ließen sich Rückschlüsse auf den primären Rezipientenkreis und die Aufführungssituation dieser Lieder ziehen. Das anvisierte Publikum ist vermutlich die Jugend der städ-
Zusammenfassung
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tischen Funktionseliten – Männer und Frauen im heiratsfähigen Alter. Die Lieder wurden im Rahmen gemeinsamer Freizeitaktivitäten oder auf Festen aufgeführt, wo sie als Katalysator gesellschaftlicher Zwänge fungierten und eine sozial kontrollierte und legitimierte Geschlechterbegegnung ermöglichten. Diese Gelegenheiten dienten dezidiert der Eheanbahnung, wobei die Liebesdichtung sowie die Lasterschelten zugleich bestimmte Wertvorstellungen in Hinblick auf Ehe und ein tugendhaftes Leben überhaupt transportierten. Ferner konnte gezeigt werden, dass Lieder im Stil des Greflinger-Repertoires nicht nur gesungen, sondern auch getanzt wurden, worauf die musikalische Struktur, teilweise auch der Text hinweist und was durch sozialgeschichtliche und bildliche Quellen untermauert werden konnte. (6) Die These bezüglich des Rezipientenkreises gewinnt an Plausibilität, wenn man die Verbreitung der Greflinger-Lieder in entsprechenden Sammel-Liederdrucken und Liederhandschriften der Zeit überprüft. Hierfür wurden zwei exemplarische handschriftliche Studentenliederbücher und zwei populäre Sammeldrucke, die sich an „Jungfrauen“ und „Junggesellen“ richten, ausgewertet. Seladons Lieder sind gerade in dem ‚Bestseller‘ Venus=Gärtlein das am stärksten vertretene Repertoire, was ein Indikator dafür ist, dass Greflinger den Geschmack seines Publikums traf, auch wenn er von dem Sammeldruck freilich kaum finanziell profitieren konnte. Dass einige Lieder dabei im Laufe der Zeit sogar den Charakter von Gassenhauern erhielten, konnte die Untersuchung der ‚Geschichte‘ des Liedes „Hylas will kein Weib nicht haben“ zeigen, das mit Kompositionen Frobergers und des Hamburger Operngründers Reincken in Verbindung steht. Bald erlangte es eine solche große Bekanntheit, dass in den 1670er-Jahren Grimmelshausen das Incipit des misogamen Liedes bereits im sprichwörtlichen Sinn zitieren konnte. Die Neuvertonungen zweier Stücke durch Adam Krieger und die Erstvertonung eines Liedes durch Constantin Christian Dedekind zeigen darüber hinaus, dass andere Autoren von Rang Greflingers Lieder kannten und schätzten.
IV Ausblick „In richtiger erkenntnis der bedeutung Greflingers hat der verfasser sich eine dankbare aufgabe gestellt. […] So sehr er eine gründliche behandlung verdient hätte, so war ihm dieselbe doch nicht zuteil geworden. müssen wir daher dem verf. dank der vorliegenden monographie schon ob der wahl des themas dank wissen, so nicht minder wegen der fleissigen forschung und der erfolgreichen ausführung“,¹¹⁰⁶ urteilt der Rezensent über von Oettingens Greflinger-Monographie, der ersten Studie zu Leben und Werk des Barockautors, die 1882 veröffentlicht wurde. Mehr als 130 Jahre liegen zwischen jener Arbeit – ebenfalls einer Dissertation – und der vorliegenden Untersuchung, doch hat sich der Forschungsstand zu Greflinger in diesem Zeitraum aus verschiedenen, oben dargelegten Gründen, nur geringfügig weiterentwickelt. Das übergeordnete Ziel bestand folglich zunächst in einer schärferen Profilierung des Autorenbildes, um so die Greflinger-Forschung auf eine neue Basis zu stellen. Dazu wurde aus den literarischen Quellen eine Darstellung der intellektuellen Biographie des Autors erarbeitet, wobei sämtliche zur Verfügung stehenden Texte Greflingers gesichtet und zum Teil erstmals präsentiert und beschrieben wurden. Gerade durch eine sozialgeschichtlich perspektivierte Analyse des bislang weitgehend unbekannten Gelegenheitsschrifttums Greflingers konnten Aktionsräume skizziert, die Milieus, in denen er in Dresden, Danzig und Hamburg verkehrte, rekonstruiert und sozialen Kontakten und Verflechtungen nachgespürt werden. Was die Hamburger Jahre betrifft, wurde in diesem Zusammenhang eine enge persönliche Verbindung Greflingers zu Rist festgestellt, die in der aktuell recht forciert betriebenen Rist-Forschung bislang unbekannt war. Die neuen Erkenntnisse über die Biographie des Autors, der als ‚freier Schriftsteller avant la lettre‘ zu apostrophieren ist, wurden in eine kurze Charakterisierung des Gesamtwerkes integriert. In diesen Kapiteln konnten auch neuere und ältere Forschungsbeiträge in die Kommentierung der einzelnen Schriften einbezogen werden. Dabei hat sich gezeigt, dass viele Werke Greflingers für weitere Studien in verschiedensten Bereichen interessantes und kaum bekanntes Material bieten. Hier wäre vor allem die Zeitchronistik und der Journalismus zu nennen: Weder die große Verschronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg noch die Zeitung Der Nordische Mercurius sind bislang erforscht worden. Im Kontext solcher Studien könnte auch Greflingers Rolle in der Realia-Bewegung Konturen gewinnen und frührationalistischen Tendenzen dieses Periodikums nachgegangen werden. Auch die Kulturtransfer-
1106 Walther (Anm. 85), S. 73 f.
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Ausblick
forschung fände in den Übersetzungsarbeiten Greflingers reiches Material. Weitgehend unerforscht ist ferner Greflingers Beitrag zur barocken Emblematik. Die vorliegende Studie legte den analytischen Schwerpunkt in den Bereich der Lieddichtung. Hier wurden literatur- und musikwissenschaftliche Forschungsansätze verbunden, um die jeweiligen disziplinären Einschränkungen, die einen Grund für den unbefriedigenden Stand der Barockliedforschung generell darstellen, überwinden zu können. Durch die exemplarische Untersuchung von Seladons Weltliche Lieder, Greflingers bedeutendster Liedersammlung, konnten grundlegende Aspekte des deutschen weltlichen Liedes im Barock aufgearbeitet werden. Erstmals wurde das Repertoire eines Liedautors des 17. Jahrhunderts hinsichtlich der musikalisch-metrischen Faktur sowie der gewählten Themen und Topoi untersucht. Besondere Aufmerksamkeit wurde auf das Text-Ton-Verhältnis gerichtet, wobei auch Thonangaben und Übernahmen von Tonsätzen aus anderen Sammlungen identifiziert wurden. Darüber hinaus konnten Möglichkeiten der Bestimmung von Melodien, die das zeitgenössische Publikum zu Liedern ohne Noten präsent hatte, an Beispielen vorgeführt werden. All diese Gesichtspunkte wurden in Einzelanalysen vertieft, die zudem verschiedene Produktionsoptionen weltlicher Lieddichtung in der Barockzeit berücksichtigten. Greflingers Liedersammlung wurde schließlich auf Grundlage der Materialanalyse an sozialgeschichtliche, performative und funktionale Kontexte zurückgebunden. Hierzu konnte, gerade was das Zielpublikum der Lieder betrifft, auf Ergebnisse des ersten Teils der Arbeit zurückgegriffen werden. Mit dieser Studie ist jedoch auch das Thema ‚Greflingers Lieddichtung‘ keinesfalls vollständig abgehandelt. Es steht außer Zweifel, dass hier sowohl in der Gesamtperspektive als auch im Detail noch viel geleistet werden muss. So stellt das Liederspiel Ferrando Dorinde thematisch wie musikalisch einen interessanten Gegenstand dar, der hier nicht vertieft untersucht werden konnte. Eine wichtige Aufgabe und Herausforderung der deutschen Barockliedforschung bleibt es, nach dem Vorbild und System der niederländischen Liedforschung eine Datenbank aufzubauen,¹¹⁰⁷ die sämtliche Strophenformen der deutschen Barocklieder sowie alle Thonangaben erfasst und die bei der Identifizierung von Melodien, die sich hinter ‚Liedern ohne Noten‘ verbergen, ein dringend notwendiges Hilfsmittel darstellen würde. Da die zeitgenössischen Rezipienten der Barocklieder nicht nur Melodien von deutschen Autoren ‚im Ohr‘ hatten, sondern auch solche nieder-
1107 Louis Peter Grijp: Fußbank: Strophenvergleichung als heuristisches Verfahren, geprüft an einigen deutschen Barockliedern nach holländischen Mustern. In: Studien zum deutschen weltlichen Kunstlied des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Gudrun Busch und Anthony Harper. Amsterdam, Atlanta 1992, S. 107–125.
Ausblick
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ländischen, italienischen, französischen oder englischen Ursprungs, würde eine solche Datenbank, die mit der niederländischen verbunden werden sollte, auch Einblicke in musik- und literaturkulturelle Transferprozesse in der Vormoderne ermöglichen. Vor allem aber sind weitere interdisziplinäre Fallstudien nötig, auch um Greflingers Lieddichtung im Spektrum der barocken Liedkultur genauer verorten zu können. Es ist abschließend zu betonen: Das Lied ist für die frühneuzeitliche Kultur von kaum zu überschätzender Bedeutung und stellt die vielleicht wichtigste Schnittstelle zwischen Kunst und Lebenswirklichkeit dieser Zeit dar. Greflingers Werke hatten hier einen festen Platz. Was Lessing für die Chronik Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg konstatierte, kann auch für seine Lieder gelten: Sie hätten es „verdient, bekannter zu sein.“¹¹⁰⁸
1108 Lachmann (Anm. 49), Lessings sämtliche Schriften, Bd. 16, Kap.: Zur Gelehrten Geschichte und Literatur, S. 238.
Literaturverzeichnis Werkverzeichnis Greflinger Es ist an dieser Stelle hervorzuheben, dass Greflinger zu den produktivsten Autoren des 17. Jahrhunderts gehört. Wählt man als Messgrad für die Produktivität eines Autors das Verzeichnis der Drucke im entsprechenden Artikel von Dünnhaupts personalbibliographischer Zusammenstellung, rangiert Greflinger gar auf ‚Platz 3‘ – hinter Simon Dach und Sigmund von Birken, noch vor Rist und Opitz, wobei Dünnhaupt die Gelegenheitswerke sogar nur sehr sporadisch auflistet bzw. auflisten kann! Die folgende Bibliographie berücksichtigt die in der Arbeit besprochenen Werke. Nicht aufgeführt werden sämtliche Auflagen und Varianten des Komplimentierbüchleins (s. hierzu die Dissertation von Cathrin Hesselink) sowie der Kochbücher und Gartenanleitungen. Hierzu sei auf die bibliographischen Angaben bei Dünnhaupt (im Folgenden immer Bd. III) verwiesen. Auch werden nur ausgewählte Casualia aufgenommen. Die Texte, die in der Arbeit nicht genauer besprochen werden konnten, werden kurz kommentiert. Standortangaben sind nur bei Werken angeführt, die nicht bei Dünnhaupt oder im VD 17 verzeichnet sind. Für eine vollständige Zusammenstellung sind die bibliographischen Angaben bei Dünnhaupt, Garber (HPG), Harms (Flugblätter), Neubaur (Georg Greflinger), Nehlsen (Flugschriften) und Walther (Rezension) hinzuzuziehen.¹¹⁰⁹ Die Anordnung folgt chronologisch; zur besseren Übersicht wird das Erscheinungsjahr des jeweiligen Drucks der bibliographischen Angabe vorangestellt. Die bibliographische Zitierweise orientiert sich ansonsten am System des VD 17. Zwei handschriftliche Texte sind darüber hinaus nachweisbar: ein Brief an den schwedischen Militär Dahlberg (1650), der sich im Riksarkivet Stockholm befindet („Dahlbergska samlingen“ volym 13 [E 3481]), sowie das Stadtlob „Das blühende Danzig“ (Bibliotheka Gdańska, s. u.). 1638 Glücks=Krantz Dem Durchlauchtigsten / Hochgebornen / Fürsten vnd Herrn / Herrn Johann=Georgen / Herzogen zu Sachsen […] Meinem gnädigsten Fürsten / und Herren. An dero Hoch=Fürstl. Durchl. Sechs vnd Zwantzigsten mit GOtt vnd Glück gesund erlebten Geburts=Tag / Den 31. May / 1638. VD17 3:667332W. Glück-
1109 S. Sekundärliteratur-Verzeichnis. Walther und Neubaur verzeichnen Casualia aus Hamburg bzw. aus Danzig.
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Literaturverzeichnis
wunschgedicht an den Kurprinzen von Sachsen Johann Georg (II.). Faks.-Nachdr. bei Heiduk (Greflinger, Anm. 78), S. 199–205. 1638/39 Georgij Greblingerj. Weinacht-Gedancken / Mit angehengtem Newen Jahres wuntsch. [Dresden: Wolff Seyffert 1639] DÜNNHAUPT, S. 1698. 7 Gedichte: Weinacht Gedancken, Ode, An das undanckbare Bethlehem, Daß jhme das Jesulein was bescheren wolle, An die Mutter Jesu, Eben an Sie und An den Friede= Fürsten JEsum. Blühm (Neues über Greflinger, Anm. 77) S. 74 ff., beschreibt den Druck und zitiert einige Verse sowie die vollständige Vorrede. Der kleine Zyklus ist Dresdner Hofbeamten dediziert. 1639 Auff den Seeligen Todt Der Wolgebornen Frawen / Frawen Barbare Wachtelin / Geborner Bessin / Freyin von Cölln und Götzendorff / Frawen auff Mangschütz und Hertzogßwalda. Welche den 17. Augusti vesp. umb. 10. Uhr Anno 1639. seeliglich von dieser Welt geschieden. DÜNNHAUPT, S. 1698. In Privatbesitz. Vollständig zitiert bei Heiduk (Greflinger, Anm. 78), S. 195. Epicedium auf den Tod der Schwiegermutter des schlesischen Fürsten Otto von Nostitz. Es ist unterzeichnet von „Georg Greblinger Neoburgo Palatinus Phil. Studiosus“. 1639/40 Querela GERMANIAE. Dem Durchlauchtigen Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Georg Rudolffen / Hertzogen in Schlesien zur Liegnitz vnd Brieg / Meinem gnädigen Fürsten und Herren / ubergibts demüttigst GEORGIUS GREBLINGER. [Liegnitz 1639/40] DÜNNHAUPT, S. 1681. In Auszügen zitiert bei Neubaur (Anm. 44), S. 495 f.; 94 Alexandriner umfassendes, dem Piasten Georg Rudolf gewidmetes, patriotisches Zeitgedicht. Die Klage über Tod, Verwüstung und Zwietracht mündet schließlich in einem Appell der Mutter Germania, die Aggression gegen die osmanische Bedrohung zu richten. 1640 Grab=Gedichte Uber den seeligen Hintritt Des Weilandt Wol Edlen / Gestrengen / Hoch vnd Wolweisen Herrn Tideman Giesen / Der Stadt Danzig Hochverdienten Cammerer vnd Rathverwandten / Den 15. Novemb. Anno 1640. Dünnhaupt, S. 1698; HPG 2880. Erstes Casualgedicht Greflingers an einen Danziger Adressaten. 1643 Des jetzigen Deutschlandes erbärmliche Beschaffenheit. Anno 1643. DÜNNHAUPT, S. 1681. Abgedruckt bei Blühm (Neues über Greflinger, Anm. 77), S. 83–87. Im Tenor entspricht das patriotische Zeitgedicht der Querela Germaniae. 1643 Status Germaniae. Im Jahr 1643. DÜNNHAUPT, S. 1682; VD17 1:637814R. Nahezu identisch mit Des jetzigen Deutschlandes erbärmliche Beschaffenheit. Blühm (Neues über Greflinger, Anm. 77), S. 88 f.
Literaturverzeichnis
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1644 Das klagende Deutschland auffgesetztet vom Georg Greblinger / aus Regensburg. Gedruckt im Jahr 1644. DÜNNHAUPT, S. 1682; VD17 29:727311Q. Widmung an Danziger Bürger. 1644 Ferrando Dorinde: Zweyer hochverliebtgewesenen Personen erbärmliches Ende. Franckfurt am Mayn / Verlegt von Eduard Schleichen Buchhändlern M. DC. XLIV. DÜNNHAUPT, S. 1683; VD17 1:637642K. 1644 DAVID VIRTVOSUS. Das ist: Deß Frommen vnd Tapfferen Königs vnd Propheten Davids Ankunfft / Leben / und Ende / in schönen Kupfferstichen abgebildet / von Ioh. Theodoro de Bry. p.[ost] m.[ortem] und mit zierlichen Versen erkläret durch Georg Greblinger / alias Seladon genant. Gedruckt zu Hanau / In Verlegung Joh. Ammon. 1644. DÜNNHAUPT, S. 1682; Greflinger verfasste zu diesem emblematischen Erbauungsbuch „Summarien“, in Reim gefasste, epigrammartige Kommentare zu Kupferstichen Johann Theodor de Brys (1561–1623), die sich an den ebenfalls wiedergegebenen lateinischen Versen des spanischen Theologen Benedictus Arias, genannt Montanus, aus der Originalausgabe (David Virtutis Exercitatissimae probatum Deo spectaculum, zuerst 1575 in Antwerpen erschien, dann 1597 bei de Bry in Frankfurt und 1632 unter verändertem Titel bei Fitzer in Frankfurt) anlehnen. Gezeigt werden Szenen aus dem Leben des alttestamentarischen Königs. Vgl. Neubaur (Anm. 44), S. 488 f. und Sedlarz (Anm. 329). 1644 De Arte Amandi. Das ist / Die Kunst der Liebenden: In Latein beschrieben durch den […] Poeten Ovidium Nasonem, der vorzeiten under dem Käyser Augusto zu Rom gelebt und floriert hat. Erstlich in Nieder: nun aber in HochTeutsch ubersetzt […] und an vielen Orten verbessert / Ovidius Naso, Publius. Getruckt zu Liebstatt. 1644. Franckfurt bey Matthäo Kempffer zu finden. VD17 12:623518K. Überarbeitung einer Übersetzung von Ovids Ars Amatoria durch Paul von Aest (1604); die Autorschaft Greflingers ist ungesichert. Dem Erotiktraktat ist Greflingers Lied „Unterweisung heimlich zu Lieben“ beigegeben, auch Verleger und der fingierte Druckort weisen auf Greflinger hin. 1644 Seladons [= Georg Greflingers] Beständige Liebe Franckfurt am Mayn Verlegt von Edouard Schleichen Buchhändlern M. DC. XLIV. DÜNNHAUPT, S. 1683; VD17 1:634570V. 1644 Zwey Sapphische Lieder / Von der Geburt und von dem Leyden Unsers getrewen Heylandes Jesu Christi / gesungen von Georg Greblinger auß Regenspurg. Gedruckt zu Franckfurt am Mayn bey Mattheo Kempffern / im Jahr Christi 1644. DÜNNHAUPT, S. 1683. Zwei geistliche Lieder im sapphischen Versmaß („Von der
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Literaturverzeichnis
Geburt JESU Christi“ und „Zerstreute Gedancken Uber die Creutzigung Christi“). Dem Weihnachtslied sind Noten beigegeben („Aria à due Voci Co’l Basso Continoo“); das Passionslied wird ebenfalls auf diese Melodie gesungen. 1645 Georgen Grevlingers Deutscher EPIGRAMMATVM Erstes Hundert / Gedruckt zu Dantzigk 1645. DÜNNHAUPT, S. 1688; VD17 7:685963D. 98 Epigramme v. a. satirischen Charakters. Einige sind als imitationes ausgewiesen („Auß dem Taubmann“, „Auß dem Melisso“, „Auß dem Petrarcha“). Wichtigste Vorlage sind Opitz’ Epigramme sowie die des Owenus. 1645 ETHICA COMPLEMENTORIA Complementier-Büchlein / Darin ein richtige Art uund Weise grundförmlich abgebildet wird / wie man so wol mit hohen Fürstlichen / als niedrigen Personen / auch bey Gesellschafften / Jungfrawen / und Frawen / Hoffzierlich conversiren / reden und umbgehen müsse. Im Jahr / 1645. DÜNNHAUPT, S. 1683 ff.; VD17 23:279620U (etc.). Das Komplimentierbüchlein erschien in zahlreichen Auflagen mit leichten Variationen des Titels (allein Dünnhaupt verzeichnet 34 Varianten). Auch die Druckorte variieren. Erst in späteren Fassungen wird Greflinger als Autor genannt (laut Dünnhaupt ab 1665). Zu Datierungs- und Autorschaftsfragen wird die Dissertation von Cathrin Hesselink Aufschluss bringen. 1646 [1652] An Herrn Johann Rist / Den Fürsten der Teutschen Poeten / Geschrieben im Flekken Wedel auf der Reise nach der Glückstadt. In: Neüer Teütscher Parnass / Auff welchem befindlich Ehr’ und Lehr Schertz und Schmertz Leid- und Freüden- Gewächse / Welche zu unterschiedlichen Zeiten gepflantzet […] Von Johann Risten. Lüneburg 1652. DÜNNHAUPT, S. 1721. Das Gedicht verfasste Greflinger 1646, als er von Danzig nach Hamburg übersiedelte. Rist druckte das Ehrengedicht in den „Nebengärtlein“ des Neüen Teütschen Parnass ab. 1646 Beschreibung der mächtigen und prächtigen Stadt Hamburg [1646]. Anonym erschienen. Commerzbibliothek Hamburg Signatur S /1068. Die Autorschaft Greflingers wurde durch Kolze (Anm. 338) nachgewiesen. 1646 Das blühende Dantzig aufgesetzt vom Georg Greblinger aus Regenspurg A[nn]o 1646. DÜNNHAUPT, S. 1703. Laus urbis. Handschriftliches Manuskript in der Bibliotheka Gdańska. Teilabdruck bei Hertel (Anm. 206). 1646 Der Braut Dantz Auff des WolEdlen und Vesten Herrn Valentin von der Linde / Jungf: Catharinae Königin / Sehl. Herrn Hans Königs hinterlassenen Eheleiblichen Tochter Hochzeit. So gehalten in Danzig den 24. Aprilis 1646. HPG,
Literaturverzeichnis
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1646. Hochzeitslied, das Greflinger von Hamburg an Danziger Bekannte schickt. Es ist eines der wenigen Epithalamia mit Noten. 1646 Kurtze Poetische Beschreibung Des prächtigen vnd mächtigen Einzugs in Dantzigk / Des Großmächtigsten und Sieg=hafftigsten VLADISLAI IV. Königs in Pohlen vnd Schweden etc. etc. etc. Hertzgeliebten Braut / Der Durchleuchtigsten Princessin / LUDOVICÆ MARIÆ GONZAGÆ &c. &c. &c. / Gehalten den 11. Februarii 1646. DÜNNHAUPT, S. 1702 f. Kleinepos, das den Einzug der neuen polnischen Königin in Danzig schildert. Mit großer Wortpracht stellt Greflinger die Parade als einen römischen Triumphzug dar, wobei zugleich das Bild einer harmonischen politischen Ordnung, an der die Handwerker wie die Stadteliten und die Monarchin teilhaben, gezeichnet wird. Im Anhang findet sich ein weiteres Gedicht auf dieses Ereignis („Was rasselt, was prasselt, o thönen, o thönen“), das im Anhang von Seladons Weltlichen Liedern und der Celadonischen Musa nochmals abgedruckt ist. 1647 Zeugniß über das Leben und Sterben | Der | Viel Ehr und Tugendreichen | Frauen | Gerdruten Langebeckin / | Des Ehrvesten […] Herrn | Hein Syllms | Hertzliebgewesenen Haußfrauen. | Welche den 13. August 1647. in Christo seelig | entschlaffen ihres Alters 52. | Jahre. Hamburg /| Gedruckt bey Jacob Rebenlein. [Unter dem Gedicht: „Zu letzten Ehren geschrieben von Georgio Greflinger aus Regenspurg“]). Commerzbibliothek Hamburg. S /281, Bd. III, 172–175. 1648 Hoch Andeliche und Ansehlichen Begräbnis / Des HochEdelgebornen / Gestrengen und Mann-Vesten Herrn / H: Hansen Vitzthumb von Eckstedt / etc. Der Cron Schweden General-Lieutnants / etc. etc. […] Quedlinburg 1648. DÜNNHAUPT, S. 1706. Trauergedicht im Anhang einer Leichenpredigt des Quedlinburger Superintendanten D. Johannes Hofer (VD17 39:127594N) für den sächsischen General Hans Vitzthum von Eckstedt. Dokumentiert Greflingers Verbindungen nach Sachsen lange nach seinem Fortgang vom Dresdner Hof. 1648 Hochzeitlicher Ehren=Wuntsch. Als Der Edle […] H. Andreas Schwartz / Der Beyden Rechten vornebmer Licentatus, Mit der […] Jungf. Anna Maria Beckmans […] Den 7. Tag des May Monaths / Ehelich vertrauet und verbunden ward. Aufgesetzet von Georg Greflinger aus Regensburg. Hamburg [1648]. DÜNNHAUPT, S. 1706. Alexandrinergedicht, gefolgt von Hochzeitslied mit Noten. Bei dem Generalbasslied handelt es sich um den Tonsatz zu „Ich fragte Dorinden“ (Seladons Weltliche Lieder 1651, I,1). 1648 O schrekkensvolle Nacht / Mir zittern alle Glieder. In: Holstein vergiß eß nicht Daß ist Kurtze / iedoch eigentliche Beschreibung Des erschreklichen Unge-
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witters / Erdbebens und überaus grossen […] herausgegeben von Johann Risten. Hamburg 1648., E1r–Elv. DÜNNHAUPT, S. 1706. VD17 23:000357R. Widmungsgedicht zu Rists Lehrgedicht anlässlich der „Fastelabendflut“ vom 14. Februar 1648. 1648 Von dem Dreißig-Jährigen Deutschen Kriege / Welcher sich Anno 1618. angefangen und durch Gottes Gnad Anno 1648. geendiget hat: Eben alß wann Gott durch den 1618 erschrecklich leuchtenden Cometen / welcher Dreßig Tage über Europen gesehen worden / einen Dreißig-Jährigen Krieg verkündigt hätte […] Ein Aufzug / wie viel Schlachten diese Jahre über in Deutsch=Land und dessen Nachbarschafft geschehen / […] [1648]: Sampt einem Anhang. Diese chronologische Tabelle muss stark verbreitet gewesen sein. Das VD17 verzeichnet mehr als 20 Exemplare aus den Jahren 1648 bis 1650 mit verschiedenen Druckorten. Vgl. auch Blühm (Neues über Greflinger, Anm. 77), S. 91. 1648 Wahre Abbildungen der Türckischen Kayser vnd Persischen Fürsten / so wol auch anderer Helden vnd Heldinnen: von dem Osman / biß auf den andern Mahomet: Auß den Metallen / in welchen sie abgebildet / genommen / vnd in gegenwertige Kupffer gebracht / [Jean Jacques Boissard.] Wie dann auch vorher eines jeden wandel kürtzlich mit Versen Beschrieben Durch Georg Greblinger alias Seladon von Regenspurg. Franckfurt Bey Johann Ammon. M. DC. XLVIII. DÜNNHAUPT, S. 1688; VD17 23:237163U. Greflinger verfasste für diesen Druck versifizierte Bildkommentare zu Brustbildern, die de Bry nach Medaillons gestochen haben will. Diese Epigramme, die sich auf die Biographien der dargestellten Osmanenherrscher und deren Gemahlinnen beziehen, sind freie Übersetzungen von lateinischen Versen Jean-Jacques Boissards, die ebenfalls beigegeben sind. 1648. Geistliche Liederlein über die jährlichen Evangelien. Hamburg 1648. DÜNNHAUPT, S. 1689. Von Oettingen nennt diese Sammlung jedoch ohne Standortnachweis. Heute ist dieses Buch bibliographisch nicht mehr nachweisbar. 1649 Die graumsam-Blutige Tragoedia Vom Deutschlande / Ist eine Erzehlung deß Deutschen Krieges / Von 1618 biß 1648. DÜNNHAUPT, S. 1682. Enthält die sechs ersten sowie das letzte Buch der Ausgabe der Verschronik von 1657. 1649 Jhrer Königl. Majestät von Engelland Carls / Klag- oder Sterb-Lied Aus Dem Englischen ins Hollandisch / und Hollandisch ins Deutsch versetzt. Jn der Melodey. Wol dem der sich nur lässt vergnügen An dem was jhm das Glück gibt Jm Jahr 1649. DÜNNHAUPT, S. 1711. Liedflugschrift auf die Hinrichtung Karls I. 9-strophiges Lied, mehrere Nachdrucke mit geringen Variationen in Strophenfolge (bisweilen auch nur 8 Strophen) und Wortlaut. Auch im Anhang der Sammlung Sela-
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dons Weltliche Lieder (S. 39–41), womit Greflingers Autorschaft gesichert ist. Das Lied verurteilt unter Rückgriff auf die Symbolik und Argumentation verbreiteter royalistischer Schriften (Englisches Memorial, Eikon Basilike) die Hinrichtung des Königs. Karl wird als Blutzeuge dargestellt, der wie der Heilige Stephanus sein Martyrium im festen Gottesglauben auf sich nimmt. Die Thonangabe bezieht sich auf eine Arie Heinrich Alberts. Textincipit des Greflinger-Liedes: „Auff / König Carol zu dem Sterben“. Der bei Nehlsen, Berliner Liederflugschriften, Nr. 2065 nachgewiesene Druck enthält außerdem das Lied „Ach Gott wem soll ichs klagen“. 1649 Zwey Klage-Lieder / So nach König Carolus von Engeland kurtz nach seinem seligen Abschied gemacht seyn: Im Thon / Nach dem 65 Psalm. Oder / Hertzlich thut mich verlangen / [1649, Datierung nach Nehlsen / VD 17]. VD17 1:692484N. Nehlsen, Berliner Liederflugschriften, Nr. 2064. Das zweite Lied ist identisch mit „Jhrer Königl. Majestät von Engelland Carls / Klag- oder Sterb-Lied“ („Auff König Carol“), daher kann auch beim ersten Lied Greflingers Verfasserschaft vermutet werden. Die Thonangabe („Hertzlich thut mich verlangen“) bezieht sich auf ein Kirchenlied Christoph Knolls (Harmoniae sacrae, 1613) zu Hasslers Melodie „Mein Gmüt ist mir verwirret“ (Lustgarten neuer deutscher Gesäng, 1601). Das Incipit des Klage-Liedes lautet „Ach Gott wem sol ichs klagen“. Ein Holzschnitt zeigt den knienden König. [1649?] Der Mars ist nun im Ars. VD17 23:301587A. Flugschrift. Die Datierung des VD 17 auf 1700 scheint fragwürdig. Die wortartistische Kriegsparodie findet man auch in Seladons Weltliche Lieder (IV,9). 1650 Die Sinnreiche Tragi-Comoedia genannt Cid, ist ein Streit der Ehre und Liebe / verdeutscht vom Georg Greflinger Regenspurgern / Kays. Notar. Hamburg / Gedruckt bey Georg Papen / In Verlegung Johann Naumans Buchh. vor S. Joh. Kirchen. Im Jahr / 1650. DÜNNHAUPT, S. 1690; VD17 1:627142D. Eine Neuauflage erschien 1679 (VD17 39:120552R), also nach Greflingers Tod, bei Wolf (Hamburg). Für die Übersetzung – die erste gedruckte des Corneille-Dramas in Deutschland – griff Greflinger auf die niederländische Fassung Johan van Heemskercks (Erstdruck 1641) zurück. In der Vorrede artikuliert Greflinger ein poetologisches und kulturpatriotisches Programm. 1651 Seladons [= Georg Greflingers] Weltliche Lieder. Nechst einem Anhang Schimpf= vnd ernsthaffter Gedichte. Franckfurt am Mayn / In Verlegung / Caspar Wächtlern gedruckt / bey Mattho Kämpfern / Im Jahr Christi / M. DC. LI. DÜNNHAUPT, S. 1690; VD17 3:610239X. 48 Lieder, 36 davon mit Noten, ansonsten Thonangaben. Ein Anhang mit Schertzgedichten und politischen Gedichten folgt in einem neupaginierten zweiten Teil.
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1651 Diarium Britannicum. Das ist: Kurtze und unpartheyische Erzählung derer Dinge / Welche sich von Anno 1637. biß auff den 1. Octobr. 1651. in den dreyen Königreichen Engeland / Schott- und Irrland zugetragen haben Gedruckt in diesem 1651. Jahre [Hamburg]. DÜNNHAUPT, S. 1691; VD17 23:277059R. Annalistische Beschreibung des englischen Bürgerkrieges. Vgl. auch Joseph Leighton: Kleine Funde. Bibliographisches zu Georg Greflinger. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 5 (1978), S. 177 f. 1651 Gesprächlied zwischen dem König von Engeland und Cromwelln. Erstlich gedruckt zu Hamburg / 1651. VD17 1:639254T. Der Wiederabdruck in Celadonische Musa bestätigt Greflingers Autorschaft; Incipit: „Ey Cromwell zäume dich / du bist mein Unterthan“, ohne Noten. Diskutiert werden die in der Publizistik der Zeit artikulierten Positionen in Hinblick auf die Hinrichtung Karls I. Cromwell verkündet am Ende das Regicidium und tritt, indem er sozusagen das letzte Wort hat, als Gewinner aus der rhetorischen Auseinandersetzung hervor, doch ist der König in seiner stoischen, auf das Jenseits ausgerichteten Haltung der eigentliche Triumphator. Die metrische Gestaltung ist durchdacht: Der König spricht dem Status des Fürsten entsprechend in Alexandrinern, Cromwell artikuliert seine Rede in hektisch anmutenden Daktylen. Vermutlich kursierte dieses politische Lied auch unter dem Titel „Ey Fairfax zäume dich“. Unter diesem Namen ist es mit einer Melodie im Liederbuch das Studenten Clodius notiert. Entsprechend dem Versmaß des Alexandriners stehen die Strophen des Königs im mäßig schnellen 2/1-Takt, während die daktylischen Cromwell-Verse im ungeraden 3/2-Takt gesungen werden. Die Melodien beider Partien sind verwandt. Niessen (Anm. 937), S. 593. 1652 Des hochberühmten Spannischen Poeten Lope de Vega Verwirrter Hof oder König Carl / In eine ungebundene Hochdeutsche Rede gesetzet von Georg Greflinger. Caes. Notario. Hamburg / Gedruckt bei Jacob Rebenlein. Anno 1652. DÜNNHAUPT, S. 1691; VD17 23:273686C. Gewidmet dem schwedischen Kriegskommissar in Hamburg Johan Hoffstetter von Kühnberg und dessen Gattin Angelica Rebecca Bartin. Prosaübertragung von Lope de Vegas Komödie El palacio confuso (ca. 1635). Greflinger lag eine niederländische Übersetzung vor: Leonard de Fuyters Verwerde-hof (Amsterdam 1647). Dargestellt wird ein charakteristischer Konflikt des politischen Barockdramas, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Vertretern der alten und neuen Adelsethik (Reichelt [Barockdrama, Anm. 583], S. 294). Durch Verwechslungen und Intrigen entfaltet sich am Sizilianischen Hof eine ‚Spielim-Spiel‘-Situation, bis sich am Ende alle Verwirrungen aufklären und die alte Ordnung wiederhergestellt wird.
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1652 Glückwundschende Reiseverse Welche Dem Tugendedlen [… ] H. Neumarken […] Zu sonderbarer freundlicher Ehrbezeugung aufgesetztet / und / weil dessen unvermuhtete Reise nach Mühlausen in Thüringen / […] von Hamburg nachgesendet worden. Von etlichen Guten vertrauten Freunden. Kirchenbibliothek Seehausen. Darin ein Propemticum von Greflinger. Georg Neumark hielt sich 1651/52 in Hamburg auf, wo er geistigen Austausch mit den dortigen Gelehrten pflegte. In dem Sammeldruck sind auch Gedichte des Sprachprofessors Ägidius Gutbier, Andreas Buchholz’ und Paul Tschernings zu finden. Zitiert bei Michael Ludscheidt: Georg Neumark (1621–1681). Leben und Werk. Heidelberg 2002, S. 176. 1652 Was schallt aus diesem Wald. In: Georg Neumark: Poetisch- und Musikalisches Lustwäldlein. Hamburg 1652. DÜNNHAUPT, S. 1721. Sonett. 1652 Der zwölff gekröhnten Häupter von dem Hause STUART unglückseelige Herrschafft / in kurtzem Aus glaubwürdigen Historien Schreibern zusammen getragen Von Georg Grefflinger / Regenspurger / Käyserl: Notario. Gedruckt im 1652. Jahr [Hamburg]. DÜNNHAUPT, S. 1691; VD17 23:312725Q (mit einem Kupferstich); VD17 14:083991M. Chronik der Stuarts, mit „König Carls II. Danck-Lied / Als er mit noch einem Herrn Nahmens Willmuht aus seiner Feinde Hände nach Frankreich kam“ („Dem König über Erd und Meer | Sol ewig Dank und ewig Ehr’ | aus meinem Mund erschallen“) im Anhang. 1652 Kurtze Erzehlung Aller vornehmsten Händel / Welche sich Von Anno 1618. Biß den 1. Febr. 1653. Im Römischem Reiche Von Anno 1637. Biß den Decembr. 1651. In Engel- Schott- und Irrland. Von Anno 1652. Biß den 16 Maii, 1653. Zwischen Engeland und Holland zugetragen haben / Alles sonder einige Schmeichley zu guter Erinnerung auffgesetzet. Von G. G. N. P. DÜNNHAUPT, S. 1691. VD17 12:124866M. Annalistische Kompilation. Ab 1653 ständig im „Anzeiger“ aktualisiert. [1653] 1660 Anzeiger Der denckwürdigsten Krieges- und anderer Händel zu unsern Zeiten Im Römischen Reiche und dessen angrentzenden Ländern: von 1618. biß Septemb. 1660. Im Königreiche Pohlen auch dessen angrentzenden Ländern / von 1655. biß Septembr. 1660. und Im Königreiche Den[n]emarck von 1657. biß August. 1660. beschehen / Unpartheyisch ausgegeben von G. G. C. N. DÜNNHAUPT, S. 1692; VD17 23:252654G. Mehrere, aktualisierte Auflagen der annalistischen Kompilation seit 1653. In der Auflage von 1660 ist ein Lied angefügt, das auch als Separatdruck erschienen ist: „Diß ist ein Wunder=Jahr und wunderns werther Mey“. Gefeiert wird der spanisch-französische Pyrenäenfrieden, der Einzug Charles’ II. in London und das Ende des polnisch-schwedischen sowie des dänischschwedischen Krieges. Der Einzeldruck wird beschrieben bei Sebastian Olden-Jør-
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gensen: Ein paar Greflinger-Kleinigkeiten. In: Wolfenbütteler Barock- Nachrichten 7 (1985), S. 39–43. 1653/54 Abbildung Vnsers heutigen Deutschlandes und der höchstgewündschten Vereinigung Des Christen Reichs Haupt mit seinen Gliedern. [Frankfurt 1663/54]. Dünnhaupt, S. 1705 (datiert 1649); HARMS IV, Nr. 267. Politisches Flugblatt anlässlich des Regensburger Reichstages von 1653/54 mit einem Stich von Abraham Aubry nach Johann Toußin. Im Zentrum der Illustration sitzt Kaiser Ferdinand III. auf einem Thron, umringt von den Kurfürsten. Die personifizierte Germania küsst ihm die Hand. In dem Alexandrinergedicht wird Gott für die Einigkeit des Reiches und den Frieden nach dem Dreißigjährigen Krieg gedankt. Der Krieg treibe nun im Ausland sein Unwesen, wobei auf verschiedene Gefechte hingewiesen wird, die im Hintergrund auch auf der Bildebene dargestellt sind. Passagen erinnern an Des jetztigen Deutschlandes Erbärmliche Beschaffenheit (1643). Zum politischen Kontext vgl. HARMS IV, Nr. 267 (S. 358 f.). 1654 Christlicher Leichen-Sermon / So bey angestelter ansehnlicher und sehr Volckreicher Leich-Begängnüs Des […] H. Heinrich Freders / […] Burger-Meisters dieser Stadt Dantzig. Welcher im Jahr Christi 1654. den 19. Augusti zu Dreßden … verschieden / […] und […] Darauff den 7. Sept. […] beygesetzet ist worden / Aus den letzten Worten des 12. Cap. des Propheten Daniels […] gehalten / von Nathanael Dilgern / genanten Kirchen Pastore. HPG, 4688 [B 13]. Bibliotheca Gdańska. Greflingers Beitrag im Ehrengedächtnis des Danziger Bürgermeisters Heinrich Freder. Zu den Beiträgern gehören die einflussreichsten kirchlichen und akademischen Würdenträger der Stadt wie L. Eichsta[ä]d[dt / tt] und Joh. Peter Titz. 1654 Wolmeinendes Geticht / Auf das ansehenliche Hochzeitfest Deß WollEdlen / Gestrengen und Manvesten Herrn Johan von Bobart / Wollbstaltem Capitain in der Vestung Weyselmünde vor der hochlöblichen Stadt Dantzigk / Herrn Bräutigams / Und Der GroßEhr und Tugendreichen Jungfrawen Elisabeth Vphogin […] Braut. Gehalten in Dantzug den 31. Augusti Anno 1654. Geschrieben und übersandt auß Hamburg den 25. Julij von Georgio Greflinger Kayserl. Poeten und Notario. HPG (Thorn), 0725–103269 (Anm. 382). Gelegenheitsgedicht mit wichtigen biographischen Informationen. 1654 Joh. U. Strausi. Not. publ. Distichorium Centuria prima & secunda cum Versione Germanica Georgii Greflingeri N. P. P. L. C. Hamburgi Typis Rebenlinianis Anno 1654. DÜNNHAUPT, S. 1692. Epigrammbuch des Hamburger Notars Johann Ulrich Strauss mit deutscher Übersetzung Greflingers. Einige Epigramme übernahm Greflinger vermutlich in seine Sammlung Celadonische Musa. Kriegsverlust.
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1655 Inbrünstige Seufftzer / nach Anleitung Der Sonn- vnd Feiertäglichen Evangelien / Den lernenden Kinder zum besten und singen auffgesetzt. Hamburg 1655. DÜNNHAUPT, S. 1689. Heute ist dieses Buch bibliographisch nicht mehr nachweisbar. 1655 Der verständige Gärtner Uber die zwölff Monaten des Jahres. Ist eine Unterweisung / Bäume- Kräuter- und Blumen-Gärten auff das bäste zu bepflantzen und zu besahmen / dann auch alles Obst / alle Früchte / Blumen und Kräuter wol und lange zu bewahren / und aus denselben nützliche Confituren, Conserven, Ohle / Wasser und remedia zu distilliren […]; Es ist auch hierbey gefügt eine natürliche Speculation über die Grösse und Höhe des Himmels / der Sonnen / des Mondes und aller Planeten […] / In Holländischer Sprache beschrieben von P. V. Æengeln. und nun verhochdeutscht von G. G. C. N. P. [Hamburg 1655]. DÜNNHAUPT, S. 1693; VD17 29:718637R. Möglicherweise im Selbstverlag erschienen, da es einen Vermerk gibt: „Bey welchem [Georg Greflinger] es auch zu Hamburg bey der Börsche in dem Brodschragen außgegeben wird.“ In zahlreichen Auflagen erschienener Gartenratgeber; übersetzt aus dem Niederländischen (Pieter von Ængelen). Zu den verschiedenen Auflagen vgl. DÜNNHAUPT, S. 1693 f. 1655 Neptunische Masquerada auff dem Hochzeitlichen Feste des Ehrenvesten, Wolgeachten und Vornehmen Herrn Berend Jabobs Karpenfangers, Bürgers und Schiffers allhier / und der Viel Ehr= und Tugendreichen Jungfrauen Anna Harmens. Sehl. Herrn Johann Harmens, gewesenen Bürgers und Schiffers, hinterlassenen einigen ehlichen Tochter. Gehalten den 27. Februarii 1655. Aus guter Freundschafft praesentirt Von Georg Greflinger, CP & Notario. Hamburg gedruckt bey Jacob Rebenlein / im Jahr 1655. Umfangreiches Kasualwerk auf die Hochzeit eines Hamburger Seemanns. Unterhaltsam und vielseitig gestaltet. Mit Stadtlobepigramm, einer imitatio von Sarrazanos berühmten Distichen auf Venedig („Viderat Hadriacis Venetam Neptunus in undis“ 1535). Beschrieben bei Walther (Reisehandbuch, Anm. 397), S. 145. Kriegsverlust. 1655 [1661] Schatz über Schatz. Das ist: Was ihr alle lang verlanget habt. nähmlich Das Mittel bald reich zu werden. als Von fünffhundert auf einmalangelegten Gülden Jährlichs / sonder Wucher / Viertausend und fünffhundert Gülden zu gewinnen / Erst in Frantzösischer Sprache geschrieben. izt verdeutscht von Georg Greflinger. Hamburg / Gedruckt bey Jacob Rebenlein / im Jahr 1655. DÜNNHAUPT, S. 1694. VD17 23:279296P. Greflingers Übertragung des Discours oeconomique des ‚Prudent Le Choyselat‘ (Erstausgabe 1569); vermutlich lag eine niederländische Zwischenübersetzung vor (Amsterdam 1615). Vorgestellt wird ein ‚Businessplan‘ für
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die Gründung einer Hühnerfarm. Dabei werden die klassischen Werke der Agarliteratur (Columella, Cato etc.) sowie der Tierkunde (Plinius etc.) zur Argumentation herangezogen. 1655 Georg Greflingers / Gekröhnten Poeten und Notarii P. Poetische Rosen und Dörner / Hülsen und Körner. Hamburg / Gedruckt im Jahr 1655. DÜNNHAUPT, S. 1692 f. VD17 7:685957C. Liederbuch (ohne Noten) und Epigramme. 1657 Der Deutschen Dreyßig-Jähriger KRJEG Poetisch erzählet durch CELADON Von der Donau. Gedruckt im Jahr 1657. [o. O.]. DÜNNHAUPT, S. 1682; VD17 23:272349D. Erste Gesamtausgabe der Kriegschronik. Es liegen zwei Editionen vor: Guenther Herbert Siegfried: Georg Greflinger, Der Deutschen Dreyszig-Jähriger Krieg. Ausgabe und Kommentar. Diss. Univ. of North Carolina at Chapel Hill 1974 [Ann Arbor 1975]; Georg Greflinger: Der Deutschen Dreyßig-Jähriger Krieg 1657. Kommentiert und mit einem Nachwort von Peter Michael Ehrle. München 1983 (Deutsche Literatur in Reprints 2). 1657 Kurtze Anzeigungen / Der vornehmsten Kriegs-Händel und anderer denckwürdigsten Sachen Die sich von Anno 1650. biß 1658. im Römischen Reiche. Von Anno 1655. biß 1658. zwischen den Schweden / Pohlen / Moßkowittern und derer alliirten. Von Anno 1657. biß 1658. zwischen den Schweden und Dehnen begeben haben Auffgesetzt von G. G. N. P. Gedruckt im Jahre 1657. DÜNNHAUPT, S. 1692; VD17 23:272296H. 1659 Zwo Hundert / Außbildungen von Tugenden / Lastern / Menschlichen Begierden / Künsten / Lehren / und vielen andern Arten: Aus der Iconologia oder BilderSprache Deß Hochberühmten CAESARIS RIPA von Perusien, Ritters von SS. Mauritio und Lazaro. gezogen und verhochteutscht / vom Georg Greflinger / Käyserl. gekrönten Poeten und Notario. DÜNNHAUPT, S. 1694 f.; VD17 23:280382W. Vgl. hierzu die MA-Arbeit von Claudia Sedlarz (Der Beitrag Georg Greflingers zur Rezeption von Ripas Iconologia in Deutschland. München 1989, mittlerweile online verfügbar). 1659 Königlicher Diskurß Vund Gespräch zwischen Jhr Königl. Mayest. Carol Stuart Vnnd Herrn Protectoren Cromwel in Engel-Land. Sampt einem tröstlichen Lied Der geistliche Amor genannt. Jn grossen Trüebsaalen gantz heylsam vnd nutzlich zu lesen vnd zu singen. Erstlich gedruckt zu Cöln bey Johann Sauren / Anno 1659. VD17 1:692479U. Abgesehen von Titel und orthographischen Abweichungen identisch mit dem Gesprächlied. Das zweite Lied ist nicht von Greflinger. In einem weiteren Druck von 1663 folgt auf das Gesprächlied ein Trauerlied
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auf Gustav Adolph, das möglicherweise von Greflinger stammt; diese Flugschrift erschien auch 1670 in Basel. S. Berghaus (Greflinger, Anm. 102), S. 11. 1660 Von der Unnötigen Vorsorge Vor Kluges Frauenvolck / Auß dem Frantzösischen und Spanischen übersetzet Anno 1659. In Verlegung Johann Naumanns / Buchh. Im Jahr 1660. [1661; 1666 o. O.]. DÜNNHAUPT, S. 1695; VD17 23:287188M. Für Greflingers Verfasserschaft gibt es keine konkreten Hinweise. Vorlage ist ein franz. Text von Paul Scarron (La précaution inutile, 1655), der seinerseits auf einer spanischen Vorlage beruht (Maria de Zayas y Sotomayor: El prevenido engañado). 1662 Der unschuldige Ehebruch: Aus dem Frantzösischen und Spanischen übergesetzet / In Verlegung Johann Naumanns / Buchh. Im Jahr 1662. DÜNNHAUPT, S. 1695; VD17 23:287055P. Verfasserschaft Greflingers ist nicht gesichert. 1663 Zeit-Büchlein. vom jetzigem Türcken-Krieg / wider Das Königreich Ungarn / Siebenbürgen und die Käiserliche Erb-Länder / Kürtzlich / was von Monat zu Monat darin passirt ist / abgefasset von G. G. C. N. P. Gedruckt im Jahr 1663 [aktualisierte Fassung 1664]. DÜNNHAUPT, S. 1695; VD17 27:734542T. Beschreibt in Form einer kurzen Chronik den Kampf des Kaisers mit den Osmanen in Ungarn und Siebenbürgen. Mehrere Auflagen. 1663 Celadonische Musa Inhaltende Hundert Oden Vnd Etlich Hundert Epigrammata. Gedruckt im Jahr 1663. DÜNNHAUPT, S. 1696. Greflingers letzte Liedersammlung; ohne Noten. Herausgeberfiktion (Johann Georg Greflinger, ein nicht nachweisbarer Sohn G. Greflingers). 1663 Es ist der achte Tag / daß ich im grossen Keller. In: Johann Rist: Das AllerEdelste Nass. Hamburg 1663. In: Johann Rist: Sämtliche Werke IV. Hg. von Eberhard Mannack. Berlin, New York 1972, S. 19 f. Ehrengedicht auf Rist, das auf das Thema des ersten Monatsgesprächs Bezug nimmt. Unterschrieben von Celadon. 1664 Nordischer MERCURIUS. Jan. 1664–1677 [fortgeführt von F. C. Greflinger und F. L. Greflinger bis 1730]. DÜNNHAUPT, S. 1696. Von Greflinger gegründetes und von seinen Söhnen fortgeführtes Periodikum, v. a. tagespolitischen Inhalts. Exemplare finden sich verstreut in verschiedenen Bibliotheken, v. a. Nord-Europas. (Eingesehen wurden die verfilmten Bestände des Dortmunder Institut für Zeitungsforschung: IZs 53 /595).
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[1664]1681 Julius Wilhelm Zincgref: Emblemata ethico-politica […] In Kupffer entworfen von Mathaeo Merian vnd mit schönen Reymen gezieret Durch Georg Greflinger C. N. P. in Hamburg. Heidelbergae, Impensis Clementis Ammonii […] 1681. DÜNNHAUPT, S. 1697. Edition: Hg. von Dieter Mertens, Theodor Verweyen. 2. Teilbd. Erläuterungen und Verifizierungen. Tübingen 1993. 1664 erschien die editio ultima mit französischen und deutschen Versen bei Clemens Ammon in Heidelberg, doch erst die Ausgabe von 1681 nennt Greflinger als Übersetzer. Die Übertragungen sind frei, sie spitzen die Vorlage meist passend zu. Vermutlich griff Greflinger dabei auf Zincgrefs eigene, unveröffentlichte Übersetzungen zurück. S. Mertens / Verweyen (ebd.), bes. S. 40–46. 1664 (ca.) Polnisches Diario. Das Zeit-Büchlein. vom jetzigem Türcken-Krieg, A ijr, gibt einen Hinweis auf diese baldige Neuerscheinung. Das Diario ist jedoch bibliographisch nicht nachweisbar. 1665 Der Frantzösische Becker verdeutscht […] Frankfurt 1655. DÜNNHAUPT, S. 1696; VD17 12:621606K. 1665 [1669; 1684] Der Frantzösische Confitirier […] Von der Manier / die Früchte in ihrer natürlichen Art zu erhalten. Hamburg 1665. DÜNNHAUPT, S. 1696 f. VD17 547:653672T [Ex. o. O.]. 1665 Der Frantzösische Koch Verdeutscht […] von Georg Greflinger. Hannover 1665. DÜNNHAUPT, S. 1697. 1667 Als der Elbe grosser Schwan. […] und Des Nordischen Mercurij Poetische Stunden […] Des Hochberühmten Herrn Johann Ristens Todes Verkündigung. In: Traur=Gedichte / So theils bei / theils nach Beerdigung Des Weiland Wol= Ehrwürdigen […] Herrn Johannis Ristii […] Sind verfasset und herauß gegeben von etlichen desselben getreuen Freunden und Bekandten. Hamburg 1667. Anhang zu Hudemann, Leichenpredigt auf Rist. (Ed. Steiger, Nr. 2 und Nr. 3 sind beide mit „Celadon“ unterschrieben). Steiger schreibt beide Texte Kaldenbach zu. Das zweite Gedicht stammt aufgrund des Titels (Nordischen Mercurij […]) mit großer Wahrscheinlichkeit von Greflinger. Für den ersten Text kann kein Beweis erbracht werden, aber die Verfasserschaft Greflingers erscheint plausibler als die Kaldenbachs, da auch alle anderen Beiträger aus dem holsteinischen Raum stammen bzw. in den Kontext des Elbschwanenordens gehören. 1668 (ca.) Der unterrichtete Student / oder ein Academischer Discurs zwischen zwey Freunden, Seladon und Damon. In: Zugab Doct: Joh: Balth: Schuppii
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Schrifften. [o. J. o. O.], S. 202–248, S. 459 f. DÜNNHAUPT, S. 1697; VD17 12:103599B. Greflingers Autorschaft ist sehr wahrscheinlich – wegen des Geleitgedichts von „Seladon“ (S. 459 f.), Greflingers Bekanntschaft zu Schupp ist außerdem durch mehrere Casualia dokumentiert. Es handelt sich hier um ein bildungspolitisches Manifest, das im Zeichen von pädagogischer Realia-Bewegung und PedantismusKritik steht. 1668 Letztes Ehrengedächtnüs Dem Ehrenvesten / Vorachtbahren / und Wohlbenahmten H. Johan Naumanne / vornehmen und weitberühmtem Buchhändlern / uam. in der hochlöblichen Stadt Hamburg […]: aus freundschuldigster pflicht aufgerichtet durch etliche des Seelig Verstorbenen guhte Bekanten und Freunde. Hamburg 1668. DÜNNHAUPT, S. 1747; VD17 39:111385Y. Zu den Beiträgern des Ehrengedächtnisses für den Hamburger Verleger Naumann gehören auch Bärholz und Zesen. 1668 Der Wol-Edlen / Groß-Ehr und Tugendreichen Frauen / Frauen ANNA ROSINA Kühlweinen […] setzete nachfolgende Trauer- und Trostzeilen schuldigst Der Nordische Mercurius [=G. G.]. Stockholm 1668. Identifiziert von William A. Kelly: Ein unbekanntes Gedicht Georg Greflingers. In: Daphnis 28 (1999), S. 201 f. 1674 Des Nordischen Mercurii Verbaesserter Wegweiser, Von Zehen Haupt-Reisen aus der Stadt Hamburg. DÜNNHAUPT, S. 1697; VD17 18:723477N. Vorlageform des Erscheinungsvermerks: „Gedruckt daselbst, Anno 1674, und wird bey ihm allein, gegen der Börsche über, verkaufft.“ Reiseführer mit Landkarte und u. a. mit Beschreibung Hamburgs. Erschien in mindestens 16 Auflagen bis 1801/02 (unter dem Titel „Die vornehmsten europäischen Reisen“). Vgl. Siebers (Anm. 397). o. J. Eines Deutschen Gewesenes Leid und anwesende Freud / Uber Ihrer Königlichen Majestät von groß Britannien &c. Caroli Secundi Erlittenen Hohn und jetzige Kron : In zwoen Oden unter Ihr Königl. Maytt. Reden ausgedrücket / und allen Königs affectionirten Englischen in dieser löblichen Stadt Hamburg / In guter Meinung zugeeignet. VD17 23:314540N. Flugschrift. Identisch mit „König Carls Dank=Lied“. Incipit: „Dem König über Erd und Meer“. o. J. [1677?] Neu mit Fleiß eingerichtetes Hamburgisches Reise- und Hand-Büchlein: darinnen enthalten außerlesene geistreiche schöne Morgen- und Abendsegen / herrliche Reise- und Kirchen-Gebeter und Gesänge zu Wasser und Lande […] Auch des Herrn D. Schuppens frühtägiges Selb-Gespräch […]; Mit angeheffteten kurtzen Unterricht des Buchhaltens / Wechsel- und RechnungsSpiegel vor Kauff- und Handels-Leute / Sampt einen […] Wegweiser durch gantz
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Anhang Metrische Merkmale der Lieder in Seladons Weltliche Lieder (1651) Aufgeführt wird Reimschema und Anzahl der Hebungen (in eckigen Klammern) sowie Verteilung der Hebungen und Kadenzbildung (x-Schema).
Nummer, Titel
Strophenmaß
I,1 Von seiner Dorinde
[4a4b4a4b4c4c2c] xx́xxx́xxx́xxx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xxx́xxx́xxx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xxx́xxx́xxx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́
I,2 Von der Liebsten Gegen=Liebe
= I,1
I,3 Hylas wil kein Weib nicht haben
[4a4b4a4b4c4d4c4d] x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́
I,4 Wider=Ruff
=I,3
I,5 Eine Jungfraw vber ihres Liebsten Abreyse
[4a4b4a4b4c4c] x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x
396
Anhang
Nummer, Titel
Strophenmaß
I,6 An eine geschmückt vnd geschminckte armselige Jungfraw
[4a4b4a4b4c4c]
I,7 An die abtrinnige Flora
[4a3b4a3b2c2c2d2d3b]
xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́xx́x I,8 An die getreue Rosimund. Vermahnung zur längerer Treu?
[1a3b3b4a4c4c3d3d4e4e]
I,9 An eine vortreffliche schöne vnd Tugend begabte Jungfrau
[4a4a4b4b]
I,10 Gegensatz. An eine sehr hässliche Jungfrau
(=I,9)
xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x
Metrische Merkmale der Lieder in Seladons Weltliche Lieder (1651)
Nummer, Titel
Strophenmaß
I,11 An die vngetreue Flora. In der Melodey. Wol dem der wett [!] von hohen Dingen etc.
[4a4a4b4b4c4c]
I,12 An seine Liebste vmb einen Kuß. Sonder R. Hat keine Melodey
[4a4a4b4b]
II,1 Er vexiert seine Abtrinnige aber wider bereuende.
[4a3b4a3b4c3d4c3d]
II,2 Ein Bissen zum Trunck. In der Melodey. Einsmal / als ich Lust bekam etc.
[4a4a3b4c4c3b]
II,3 An seine harthertzige Liebste
[4a4a3b4c4c3b]
xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́x
xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x
xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x
x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́x
xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x
397
398
Anhang
Nummer, Titel
Strophenmaß
II,4 An seine Gesellschaft
[2a2a2b2b2c2c2d2d] x́xxx́x x́xxx́x x́xxx́x x́xxx́x x́xxx́x x́xxx́x x́xxx́x x́xxx́x
II,5 Der verbrandte Schnack
[4a4a4b4c4c4b] xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́
II,6 Die vielbediente Braut
[3a3b3a3b3c3c] xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́x
II,7 Die Weltliche Nonne
[4a2b4a2b4b4c4c] xx́xx́xx́xx́x xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́x
II,8 Die Nönnische Jungfrau
[4a4b4a4b4c4c] xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́
Metrische Merkmale der Lieder in Seladons Weltliche Lieder (1651)
Nummer, Titel
Strophenmaß
II,9 Untreu bringt Reu
[4a4b4a4b4c4c] x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
II,10 Der vbel beweibte. In der Melodey: Flora meines Lebens=Leben etc.
[4a4b4a4b4c4c]
II,11 Eine junge Wittbe zu einem Lüstren Greisen
[6a6a3b3c3b3c]
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
xx́xx́xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x II,12 An eine Naseweise Greth. In der Melodey. Was mögen doch die Mägdlein dencken?
[4a4b4a4b4c4c]
III,1 Dorinden Bekanntnüß ihrer Liebe
[4a4b4a4b4c4c]
xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x
399
400
Anhang
Nummer, Titel
Strophenmaß
III,2 An eine Adeliche Dama / bey Uberreichung eines Apffels. Zur Mahlzeit gemacht
[4a4b4a4b4c4c]
III,3 Dorinden Abscheyd von dem Reyßfertigen Amynthas
[4a4b4a4b4c4c]
III,4 Beschwerde deß Weibernehmens. In der Melodey. Daphnis gieng vor wenig Tagen
[4a4b4a4b4c4c4d4d]
III,5 Eine Ubelbemannte an eine Jungfrau
[3a3b3a3b3c3d3c3d]
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x
xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́x
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ III,6 Ein Alter Mann mit einer Jungfrauen. In der Melodey: Dein Alter hat nur Wort und Wind / An Thaten taugt er nicht
[4a3b4a3b] xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́
Metrische Merkmale der Lieder in Seladons Weltliche Lieder (1651)
Nummer, Titel
Strophenmaß
III,7 An eine vnbemannte Reiche
[6a6a6b6b] xx́xx́xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́xx́
III,8 Verachte die Liebe nicht. In der Melodey: Es ist kein Mann so schlecht / er ist der bästen werth
[6a6a3b3b3c3c]
III,9 Der Werber führet die Braut heim
[4a4b4a4b4c4c]
xx́xx́xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́x
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ III,10 An die stoltze Pavia
[4a2a4a4b2c2c2b] x́xx́xx́xx́ x́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́ x́xx́ xx́xx́x
III,11 An einen Ruhmredigen
[4a4a4b4b] x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
401
402
Anhang
Nummer, Titel
Strophenmaß
III, 12 An die verschlossene Adelheit
[4a4b4a4b4c4c] x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
IV,1 Unterweisung heimlich zu lieben
[2a2a3b2c2c3b2d2d3e2f2f3e] xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́ xx́xx́ xx́xx́xx́x
IV,2 (= IV,8) Wegen seiner Lästerer. In der Melodey. Wie kann ein solches Hertze wancken
[4a4b4a4b4c4c]
IV,3 An eine nasse Compagny
[2a2a3b3b4c4c4d3d]
xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́x xx́xx́xx́xx́x
x́xx́x x́xx́x x́xx́xx́ xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́
Metrische Merkmale der Lieder in Seladons Weltliche Lieder (1651)
Nummer, Titel
Strophenmaß
IV,4 Der vngetreue Hylas
[3a3a3b3b] xx́xx́xx́x xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́
IV,5 An eine liebe Jungfrau. Hier sticht er auff einen
[4a4b4a4b4c4c]
IV,6 Liebe läßt sich nicht bergen. In der Melodey. Es ist alle Welt voll Narren etc.
[4a4b4b4a4c4c]
IV,7 Flora sol sich seine Armuth nicht anfechten lassen
[4a4b4a4b4c4c]
IV,8 Die Ferne trennet treue Hertzen nicht
=IV,2
IV,9 Der Mars ist nun im Ars. In der Melodey: Nach jedes Lust etc.
[5a5a5b5b]
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́x
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́x x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́
403
404
Anhang
Nummer, Titel
Strophenmaß
IV,10 An seine Vngeliebte. In der Melodey. Ihr schwartzen Augen ihr etc.
[6a6a3b3c3b3c]
IV,11 Zu Ehren einer betagten vnd Manngierigen Jungfrauen
[6a6a4b4b4c4c3d5d4e4e]
IV,12 Ein Bissen zum Trunck
[4a3b4a3b7c4c(+1x)]
xx́xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́ xx́xx́xx́x xx́xx́xx́
xx́xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ xx́xx́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́
x́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́ xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́xx́xx́xx́ x́xx́xx́xx́xx́
Notenbeispiele
405
Notenbeispiele Vorbemerkung:¹¹¹⁰ Die Transkriptionen sollen ein Maximum der musikalischen Gestalt des originalen Drucks beibehalten. Die Partiturgestalt sowie die originale Schlüsselung werden übernommen, als Generalvorzeichen erscheint wie im originalen Druck nur ‚b‘ (hier: nur Notenbeispiel VI). Die Taktarten und die Taktstriche sowie die Notenwerte werden ebenfalls beibehalten. Die letzte Note wird in der Transkription so verändert, dass sie einen Takt ausfüllt (bzw. durch eine Pause ergänzt). Die Setzung der Generalbassziffern erscheint in den Quellen zuverlässig und wird übernommen. Das größte Problem der Transkription ist die Textunterlegung. Sie ist im Originaldruck nicht immer klar dargestellt. Versucht wird, eine möglichst ‚natürliche‘, d. h. dem Wortakzent gerecht werdende Deklamation wiederzugeben, da dies offenbar auch Absicht des Autors war. Der erneute Abdruck der ersten Strophe jedes Liedes entspricht ebenfalls den Vorlagen (beim Notenbeispiel I muss auf Abdruck der Strophen aus Platzgründen verzichtet werden).
1110 Es wird versucht, die editorischen Prinzipien Küsters (Johann Rist: Himmlische Lieder. Hg. von Johann Anselm Steiger, dems. Berlin 2012, S. 592–601) zu übertragen.
406
Anhang
Notenbeispiele
407
408
Anhang
Notenbeispiele
409
410
Anhang
Notenbeispiele
411
Namensregister Das Register verzeichnet nicht sämtliche in der Studie erwähnten Namen, sondern beschränkt sich auf die Angabe von (historischen) Autoren und Akteuren, die für die Darstellung eine konkrete Relevanz aufweisen. Mythologische, biblische und literarische Personen/Figuren werden nicht aufgeführt.
Ængelen, Pieter van 357 Aest, Paul von 178, 349 Albert, Heinrich 2, 13, 18, 75, 125, 138, 178, 202, 204, 225, 231, 247, 261–264, 271 f., 280 f., 285, 293, 295, 312, 316–318, 322, 336 f., 340, 353 Albinus, Michael 52, 54, 67, 71 f., 76, 78, 89, 99, 181 Alciato, Andrea 184, 221 Ammon, Clemens 88, 360 Ammon, Johann 85, 87 f., 183, 349, 352, 360 Amstern, Reinhold von 103–105 Anckelman, Johanna Florentina 150 Andreä, Johann Valentin 122 Anna Dorothea von Schleswig-HolsteinGottorf 158 Apelles von Löwenstein auf Langenhof, Matthäus 96–98 Arbeau, Thoinot 295 f., 301 Arnim, Achim von 18, 223 f., 299 Arnschwager, Johann Christoph 313 Aschenborn, Daniel 76 Aubry, Abraham 356 Aubry, Daniel 85 Aubry, David 85 Aubry, Johann 85 Augspurger, August 38–40, 216 Augustinus, Aurelius 42, 71, 226 Bach, Johann Sebastian 318, 326, 328 Banér, Johann 45, 161 Báthory, Stefan 51 f. Beckman, Anna Maria 210, 351 Beer, Johann 35, 282 Behr, Christoph 76 Benther, Johann 80 Bernhard, Christoph 64, 231, 272 Bernhardi, Georg 55, 74, 76, 80, 90 f.
Béthune, Maximilien de (Duc de Sully) 55 Bobart, Johan(n) (von) 77, 80, 101, 106–109, 356 Bodeck, Nikolaus von 99 Bodeck, Valentin von 99 Boësset, Antoine de 225, 322, 339 Boethius, Anicius Manlius Severinus 226 Boissard, Jean-Jacques 88, 183, 352 Bonnefons, Jean 329 f., 334 Bonnefons, Nicolas de 179 Borckmann, Johann 82 Botsack, Johann 70, 73 Brade, William 120 Bredero, Gerbrand 169, 245, 311 Brehme, Christian 29, 37, 40, 46, 95, 245, 263 Brentano, Clemens 18, 223, 299 Bretschneider, Heinrich 17 Brömmer, Sara 90 Bry, Johann Theodor de 183, 349, 352 Buchheim, Georg 76 Buchner, August 2, 37 f., 42, 44, 46, 193, 259 f. Burmeister, Franz 138 f., 155, 325 Bythner, Adam 74 Bythner, Andreas 74, 76, 90, 99 Caccini, Giulio 64, 272, 263 Calov, Abraham 73, 100 Campe, Eberhard von 145 Carl Eusebius von Liechtenstein 46 Castiglione, Baldassare 71 Cato (d.Ä.), Marcus Porcius Cato 180 Cats, Jacob 151, 22, 224 f., 229, 245, 286, 321 Catull, Gaius Valerius 4, 239, 329 Charles Stuart I. (Karl I. von England) 208, 352–354, 358 Charles Stuart II. (Karl II. von England) 165 f., 355 Charpentier, Marc-Antoine 208
414
Namensregister
Chemnitz, Bogislaw Philip(p) von 162 Christian IV. (König von Dänemark und Norwegen) 318 Christina (Königin von Schweden) 107 Cicero, Marcus Tullius 71, 147 Clauß, Isaac 147 Clodius, Christian 284 f., 303, 354 Coler, Martin 125 Columella, Lucius Iunius Moderatus 180 Conovius, Michael 76 Corneille, Pierre 16, 28 f., 120, 169–175, 195, 208, 353 Cramer, Johan(nes)-Jacobus 73 Croce, Giovanni 65 Cromwell, Oliver 101, 106, 164 f., 354 Crüger, Peter 70, 72 Crusius, Florian 72 Csombor, Márton 53, 55 Czernin von und zu Chudenitz, Hermann 122 Czirenberg, Constantia 63, 283 Dach, Simon 2, 27 f., 37, 102, 263, 290, 317, 336, 347 Daddler, Sebastian 154 Daelern, Christoph 144 Dahlberg(h), Erik Jonsson 157, 347 Dedekind, Constantin Christian 123, 125, 134, 140, 228, 231, 242, 273, 282, 295, 341 Demantius, Christoph 297 Descartes, René 271 Desprez, Josquin 214 Dilger, Nathanael 73, 356 Dowland, John 120, 272, 319 Dürrlebern, Sebald 40 Eichsta(e)dt, Lorenz 99 f., 356 Elenora Hedwig von Schleswig-HolsteinGottrof 158 Elvers, Ilse Sofie 148 Enders, Oswald 99 Engelen, Pieter van 179 Engels, Gabriel 154 Erasmus von Rotterdam 48 Erbe, Jeremias 75, 134 f. Erlach, Friedrich 299 Eßken, Simon 90 Ewert, Dorothea von 100, 104 f.
Fabricius, Jacob 70 Fabricius, Johannes 73 Feldhorn, Adam 59 Finckelthaus, Gottfried 25, 29, 200, 219, 229, 232, 238, 245, 321 Fleming, Paul 15, 30, 37, 46–49, 245, 261, 267, 296 Flor, Christian 125, 215 Förster, Caspar 59 Forster, Georg 263, 272 Francisci, Erasmus 138 Franck, Michael 135 Francke, Johann 323 Franckenberg, Abraham von 72 Freder, Heinrich 99, 356 Friedrich V. (Pfalz) 34 Friedrich III. von Schleswig-HolsteinGottorf 158 Friese, Maria Elisabeth 101, 105 Frisch, Johann 198 Froberger, Johann Jakob 307 f., 341 Furck, Sebastian 85, 89, 182, 217 f. Fuyter, Leonard de 169, 354 Gastoldi, Giovanni Giacomo 65 Gehema, Renata Virginia (von) 287 Georg Rudolf von Liegnitz 47, 49, 348 Georg Wilhelm (Herzog zu BraunschweigLüneburg) 297 Gerhardt, Paul 2, 20, 37, 213 Gersten, Johannes 211 Giese, Constantia 79, 99 Giese, Cordula 79 Giese, Rhaban 77 Giese, Tiedemann 77–79 Gödeke, Andreas 140, 155 Gödersen, Joachim 128 Goethe, Johann Wolfgang 263, 328 Göring, Johann Christoph 25, 245, 271, 290, 313, 319 Gottsched, Johann Christoph 16, 175, 247 Grass, Günter 2–4, 70 Green, John 61 Greflinger, Conrad Friedrich 150, 192 Greflinger, Franz Ludwig 150, 192 Greflinger, Johann Georg 227
Namensregister
Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 13, 33, 147, 190 f., 251, 305 f. Gryphius, Andreas 2, 20, 27, 30, 53, 67, 70, 75, 213 Gustav Adolf 36, 49, 52, 161–163, 181 f. Hakenberger, Andreas 58 Hammerschmidt, Andreas 125, 261, 271, 314 Händel, Georg Friedrich 198 Happel, Werner Eberhard 196 Harmens, Anna 151, 357 Harsdörffer, Georg Philipp 2, 9, 72, 95, 97 f., 122, 132, 135, 138, 154, 173 f., 177, 208, 210, 260, 265, 288 Hassler, Hans Leo 294, 298, 353 Haug, Friedrich 299 Heck, Johann 284 f., 303 f. Heemskerck, Johan van 28, 169, 353 Herbst, Johann Andreas 64, 230 Hering, Christoph 131, 144 Hevelius, Johannes 72, 99 Hofer, Johannes 44, 351 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 303 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 20, 53, 55, 67, 69–71, 75, 182 Hofstedter von Kühnberg, Johann 158, 170, 354 Hölty, Ludwig 328 Homberger Paul 35 Homburg, Ernst Christoph 15, 46, 207, 239, 243–245, 261, 267 Hövelen, Konrad von 122, 133 f., 140 Hudemann, Johann 95, 122, 134, 140 f., 360 Hünefeld, Andreas 69, 168, 181 Huswedel, Johann 151–153 Ibrahim I. (Sultan) 48 Isaac, Heinrich 325 Johann Georg II. (Kurprinz von Sachsen) 43 f. Johann II. Kasimir (König von Polen) 110 Junge, David 197 Kaldenbach, Christoph 140 f., 263 f., 271, 322, 338, 360 Kampen, Eberhard von 128, 149
415
Kämpffer (Kempf[f]er), Matthäus 36, 86, 178, 231 f., 353 Kanne, Anna 197 Karl X. Gustav (König von Schweden) 109 Karpenfanger, Berend Jacob 151 Keckerbart, Virginia 63 Keiser, Reinhard 198 Kepler, Johannes 71, 273 Kielmann von Kielmannsegg, Johann Adolph 36, 47 Kindermann, Balthasar 17, 138 f., 260 Kindermann, Johann Erasmus 272 Kindt, David 154 Kircher, Athanasius 273 Kittel, Caspar 279, 314 Klein (Salicetus), Johann 74 Kleinhans, Hans Jakob 119, 185 Knaust, Ludwig 74, 76, 134 Knoff, Georg 65 f. Knoll, Christoph 353 Kolhans, Hans Heinrich 323 Kongehl, Michael 16 Kortkamp, Jacob 125 Kortmann, Johann 215 Koschwitz, Georg Daniel 99 Krieger, Adam 204, 228, 242, 272, 285, 341 Kroll, Vincent 149 Lange, Gottfried 175 Langermann, Gerdrudt 149 Lasso, Orlando di 263, 324 f. Lechner, Leonhard 65 Lehenmann, Christoph 40, 42 Lessing, Gotthold Ephraim 17, 21, 161, 174, 192 f., 195, 345 Linde, Adrian von der 75 Linde, Johann von der 101 f. Linde, Valentin von der 210, 350 Lippius, Johannes 273 Logau, Friedrich von 2, 20 Lope de Vega y Carpio, Félix 2, 120, 158, 169 f., 173 f., 195, 345 Ludovika (Luisa) Maria Gonzaga (Königin von Polen) 60 f., 351 Luther, Martin 34, 119, 134, 213, 226, 262, 327
416
Namensregister
Manhardt, Bartholomäus 74, 76, 90, 99 Marenzio, Luca 65 Martial, Marcus Valerius 181, 239 Mattheson, Johann 198, 215, 260 Maukisch, Johann(es) 59, 74, 100 Meier, Peter 125 Merian, Matthäus d. Ä. 85 f., 87, 110, 157, 162, 182–184, 194, 218, 220, 235, 360 Meyer, Johann 119, 185 Minde, Franciscus de 215 Mochinger, Johannes 71 f., 80, 96–98, 108, 194 Moeresius, Johann(es) Georg 74, 76, 78, 80, 90, 100 Moller, Barthold 190 Möller, Eberhard 135, 155 Möller, Hieronymus Caspar 148 Moscherosch, Johann Michael 2, 95 Mozart, Wolfgang Amadeus 202, 328 Mullz, Catharina 146 Naumann, Johann 132, 139, 154 f., 158, 169, 175, 177 f., 184, 216, 361 Nauwach, Johann 262, 264, 272, 280 Negri, Cesare 296 Neumark, Georg 9, 95, 132, 158, 191, 232, 260, 295, 355 Neumeister, Erdmann 16 Nevill, Henry 191 Nicolai, Friedrich 17 Nostitz, Otto von 46 f. Oelhaf, Peter 69 Oelhaff (Ölhafen), Daniel 151 Ogier, Charles 52–54, 57–60, 63 f., 70, 91 Opitz, Martin 15, 18, 20, 23 f., 29 f., 49, 53, 59, 63 f., 67, 69–72, 76 f., 83, 93, 96, 122, 126, 140, 163, 173, 181, 183, 196, 204, 236, 244, 260, 262–268, 277, 294, 310, 313 f., 334, 347, 350 Pachelbel, Johann 35 Pape, Heinrich 125, 263, 291, 353 Pasquier, Jean 325 Petrarca, Francesco 47 f., 219, 237 Placcius, Vincentius 17 Plavius, Johannes 67, 72, 212, 252
Plinius (d. Ä.), Gaius Plinius Secundus 180, 358 Plöhn, Agnes 151 Polemann, Johanna 151 Praetorius (Schultze), Jacob 125 Prätorius, Michael 260, 274, 301 Preuß, Euphrosina 82 f. Preuß, Johann 83 Prioris, Johannes 214 Prudent Le Choyselat 180, 357 Puccitelli, Virgilio 60 Radlaw, Dorothea von 103 Ramler, Karl Wilhelm 17 f., 277 f., 299, 303 f. Rebenlein, Jakob 16, 147 f., 151, 169, 180, 291, 351, 354, 357 Regnart, Jakob 27, 263, 272 Reichardt, Johann Friedrich 278 Reichboldt, Christian 40 Reincken, Johann Adam 306 f., 341 Reinking, Dietrich von 153 Riccius, Christoph 69 Ripa, Cesare 16, 86, 154, 184, 358 Rist, Johann 2, 9,13,17,26 f., 36, 40, 51, 54, 75, 89, 95 f., 98, 108, 115, 119–142, 145, 154 f., 157–160, 164, 169, 172, 194 f., 169, 172, 194 f., 202, 208, 212, 215 f., 221, 228, 230–232, 242, 245, 262 f., 269–272, 276–282, 288, 290 f., 293, 295, 308–310, 315–318, 322, 329–334, 337–340, 343, 347, 350, 352, 359 f. Rompler von Löwenhalt, Jesaias 47 Rosenberg, Gualtherus 80 Rousseau, Jean-Jacques 327 Ruarus, Martin 72 Rühmkorf, Peter 3 f. Rump, Joachim 151 Sagenbard, Hartmann Ulrich 85 Sandter, Barbara 101 Sandter, Nikolaus 101 Sannazaro, Jacopo 151–153 Scaliger, Julius Caesar 38, 183, 260, 324, 333 Scarron, Paul 359 Schede, Paul Melissus 183, 314, 324, 350
Namensregister
Scheidemann, Heinrich 125 Schein, Johann Hermann 27, 204, 263, 272, 298 Schirmer, David 199, 207, 244 f., 261, 271 Schleder, Johann Georg 85, 87 f., 156, 220, 235, 238, 241 Schleich, Clemens 85 Schleich, Eduard 37, 85–88, 168, 210, 215, 220, 230, 235, 249 Schnüffis, Laurentius von 338 Schop, Johann 125, 284, 331, 334 Schottelius, Justus Georg 96–98, 181, 260 Schrader, Daniel 101 Schrader, Georg 101 Schubart, Christian Friedrich Daniel 193, 326, 366 Schubert, Franz 275 Schultz, Simon 181 Schulz, Johann Abraham 277, 366 Schumacher, Ilsebe 184 Schupp, Johann Balthasar 26, 144, 155 f., 159, 164, 360 f. Schütz, Heinrich 35, 43 f., 126, 201, 208, 262, 264, 266, 269, 272 f., 279, 296, 317 Schwartzwald, Carl 81 Schwarze, Andreas 154 Schwieger, Jakob 229, 245, 284, 313 Selle, Thomas 123, 125 Sermisy, Claudin de 296 Seyffert, Wolf 39, 43, 348 Siassius, Gerlach 140 Spencer, John 61 Sperontes (Johann Sigismund Scholze) 308 Staden, Gottlieb 125 Stampeel, Agneta (geb. Langwedel) 145 Starter, Jan Jansz. 245 Stieler, Kaspar 75, 202, 229, 242, 261, 264, 271, 301, 338 Strauß (Strauss), Johann Ulrich 131, 181, 356 Sylm, Gertrud 146 Taubmann, Friedrich 38, 183 Taut, Karl 75 Terkelsen, Søren 316, 319 Thomasius, Christian 156 Titz, Johan(nes) 37, 72, 46, 99 f., 181, 260, 356
417
Tönnies (Tönniges, Töngies), Michael 108 Torstensson, Lennart 121, 161, 182 Tscherning, Andreas 96–98, 158, 227, 277 Tscherning, Paul 158, 355 d’Ufré, Honoré 216 Vecchi, Orazio 296, 319 Venne, Adriaen van de 289 Vermeer, Jan 284 Vitzthum von Eckstedt, Hans 44 f., 351 Voigtländer, Gabriel 229, 245, 251, 261, 264, 268, 271 f., 278, 285, 287, 293, 295, 303, 310, 316, 318 f., 321, 336 f., 340 Vos, Jan 173 Vphogt, Elisabeth 101, 107 Wachtelin, Barbara 37, 46, 348 Wächtler, Caspar 36, 85, 88, 156, 215, 230–232, 353 Wagner, Friedrich 76 Wallenstein (Albrecht Wenzel Eusebius von Waldstein) 36, 161 Walter, Johann 101, 105 Walther, Johann Gottfried 260 Weckherlin, Georg Rodolf 2, 19 f. Weichmann, Johann 202, 271–281, 309 f., 316, 322 f., 336, 340 Werckmann, Matthias 120 Werder, Diederich von dem 48 Werner, Friedrich 101 Winterstein, Martin 110, 112, 149, 163 f. Witzendorff, Friederich 148 Wladislaw IV. (König von Polen) 52, 93, 181 Wolken, Johann 131 Wrangel, Karl Gustav 158, 161 Wrede, Wilken 151 Zahmel, Gottfried 134 Zesen, Philipp von 132–135, 137 f., 154 f., 195 f., 216, 232, 245, 260, 265, 267, 269 f., 271, 285, 290 Zetzkius, Jakob 74, 76, 90, 100 f. Zincgref, Julius Wilhelm 88, 184, 294, 314 Zjerms, Adam Karelsz 173