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German Pages 462 Year 2019
Simon Zeisberg Das Handeln des Anderen
Frühe Neuzeit
Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext Herausgegeben von Achim Aurnhammer, Wilhelm Kühlmann, Jan-Dirk Müller, Martin Mulsow und Friedrich Vollhardt
Band 216
Simon Zeisberg
Das Handeln des Anderen Pikarischer Roman und Ökonomie im 17. Jahrhundert
Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin e. V.
ISBN 978-3-11-046947-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-048663-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-048537-0 ISSN 0934-5531 Library of Congress Control Number: 2019933225 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Meta Systems Publishing & Printservices GmbH, Wustermark Druck: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Meinen Eltern
Vorwort Bei vorliegender Studie handelt es sich um die überarbeitete, um einige Unterpunkte erweiterte Fassung meiner Dissertationsschrift, die im September 2014 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommen wurde. Ohne die Unterstützung zahlreicher Personen aus dem akademischen Umfeld wäre die Entstehung des Buches nicht möglich gewesen. Es ist mir daher eine große Freude, mich bei ihnen bedanken zu können. Dies gilt zunächst für die Betreuer der Dissertation, Prof. Dr. Peter-André Alt (Berlin) und Prof. Dr. Claus Zittel (Stuttgart), die mir bei allen größeren und kleineren Herausforderungen des Promovendenalltags mit Rat und Tat zur Seite standen und meine Arbeit mit ihren klugen, kritischen Hinweisen aufmerksam begleitet haben. Dies gilt sodann für die vielen Vertreter*innen der GrimmelshausenForschung, mit denen ich auf diversen Tagungen über das Werk des Autors und meine Thesen diskutieren konnte und die ich hier, ohne den Rahmen zu sprengen, unmöglich alle namentlich erwähnen kann (und es daher beim kollektiven Dank belasse). Danken möchte ich schließlich auch Prof. Dr. Michael Waltenberger (München) und PD Dr. Jan Mohr (München), über die ich die inspirierende, für meine Arbeit besonders wichtige mediävistische Forschung zum frühneuzeitlichen Picaro-Roman kennengelernt habe, sowie den Herausgebern der „Frühen Neuzeit“ für die Aufnahme der Studie in ihre Reihe. Bei der Entstehung einer Dissertation kommt es außer auf Personen auch auf die vielseitige Unterstützung durch Institutionen an. Die Nachwuchsförderung des Landes Berlin (NaFöG) gewährte mir ein Promotionsstipendium, das mich auf dem ersten Wegabschnitt zur Promotion von finanziellen Sorgen freihielt. Ein Stipendium der Rolf und Ursula Schneider-Stiftung Wolfenbüttel ermöglichte mir die monatelange Arbeit mit den Beständen der Herzog August Bibliothek, wodurch ich erst die Möglichkeit bekam, den noch immer weitgehend im Dunkeln liegenden Kontinent der frühneuzeitlichen Ökonomie-Literatur für meine Zwecke zu erkunden. Die Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freien Universität Berlin förderte die Herstellung dieser Dissertationsschrift mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss. Ihnen allen gebührt mein großer Dank. Berlin, im September 2018
https://doi.org/10.1515/9783110486636-203
Inhalt Vorwort 1 1.1 1.2 1.3
2 2.1 2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3 2.3 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
4 4.1 4.1.1
VII 1 Einleitung Markt und Literatur: Cervantes beobachtet die novela 1 picaresca Die Ordnung des Eigenen: Oeconomia in der Frühen 13 Neuzeit Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss 38 der Untersuchung 53 Aufstieg des Parasiten: Historia von Lazarillo de Tormes Transfer pikarischer Alterität: Die Historia 56 und ihre Vorlagen 66 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener 68 Ökonomie und Un/Gerechtigkeit: Lazarillos Eltern Hunger in Leib und Seele: Lazarillo und seine geizigen 77 Herren 92 Ruinöse Ökonomie: Lazarillo und der verarmte Junker 105 Vom Markt ins Rathaus: Lazarillos Aufstieg Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman Täuschende Zeichen: Alemáns Guzmán als Buchhalter 122 seines Lebens Unökonomische Zeugung: Genealogie des Pikarischen 140 bei Alemán Ein gottloses Kind: Hybridität von Text und Figur 150 bei Albertinus 161 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler Schuld und Erlösung: Albertinus’ Pilger als Figur 176 der Heilsökonomie Vom Bauernhaus zum Weltmarkt: Grimmelshausens 189 Simplicianischer Zyklus Die Häuser des Simplicissimus 195 Architektur des simplicianischen Romans: Knans Haus im Spessart 195
117
X
Inhalt
4.1.2
Die Spur der Sackpfeife: Bub als Hirte oder Das Andere 207 der Bukolik Gewalt und Invention: Simplicissimus und die Ökonomie 222 des Kriegs Orte des Erzählens: Simplicianisches Haus 239 und Kreuzinsel Der Autor auf dem Markt: Simplicissimus 257 und die Gaukeltasche Exkurs: Der Ewig=währende Calender 268 als simplicianisches Hausbuch Prosperität, Zirkulation und Kommerzien 285 im Simplicianischen Zyklus Paradoxien der Prosperität: Simplicissimus und der Stein 286 der Sylphen Im Geflecht der Kommerzien: Der Lebenslauf 300 des Schermessers Abgrund der Souveränität: Macht, Ökonomie und Geld 319 im Vogel-Nest
4.1.3 4.1.4 4.1.5
4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3
5 5.1 5.2 5.3
6
354 Der Andere als Kameralist: Beers kluge Picaros Un/Grund der Dinge: Poetik und Ökonomie bei Beer Postpikarisches Erzählen: Beers Picaros und 366 der adlige Besitz Der Andere als Kameralist oder Die Verbergung 379 der ‚Raison‘ Offenes Ende: Pikarisches Erzählen vor und nach 1700
417 Literaturverzeichnis Textausgaben und Quellen 423 Forschungsliteratur Register
356
406
417
449 Historische Autoren und Personen, anonyme Werke
449
1 Einleitung Stehen wir hier vor der Pathologie der Systeme oder vor ihrer Entstehung und Entwicklung? Michel Serres: Der Parasit
1.1 Markt und Literatur: Cervantes beobachtet die novela picaresca Im ersten Teil seines Don Quijote lässt Cervantes Quijote auf eine Figur treffen, die in vielerlei Hinsicht die Aufmerksamkeit des Lesers erregt. Schon die Umstände der Begegnung tragen dazu bei. In Begleitung Sancho Pansas durchquert Don Quijote die Sierra Morena, als er auf eine in Ketten gelegte Gruppe von Sträflingen stößt. Neugierig fragt er die Wächter, was die Männer denn verbrochen hätten. Auf die Antwort, es handele sich um zum Galeerendienst Verurteilte, erbittet Quijote das Recht, jeden Einzelnen zu befragen. Es wird ihm gewährt, und Quijote wendet sich an die Gefangenen, die ihm bereitwillig von ihren „Schelmenstücken [...] erzehlen“.1 So hört Quijote allerlei Schauriges von Diebstahl, Bestechung, Zuhälterei, Hexerei und Inzest, bis die Reihe schließlich an einen kommt, der „uff eine besondere Art / als die andern / gebunden und verwahrt“ 2 ist. Staunend erkundigt sich Quijote nach dem Grund dieser Maßnahme und erfährt, dass der Mann „allein mehr mißhandlungen vnd Vnthaten vff sich hette / als die andern zugleich allzusammen“, außerdem sei er „also gar ein verruchter Schelm“, dass die Wächter „sich jmmer befahen vnnd in furchten stehen müsten / daß er jhnen etwa entrinnen vnd davon lauffen möchte.“ 3 Wie berechtigt die Furcht ist, wird am Ende der Episode deutlich. Aus einer katastrophalen Fehlinterpretation ritterlicher Ethik heraus verlangt Quijote die Freilassung der Gefangenen. Als ihm diese verwehrt wird, zettelt er ein Handgemenge an, in dessen Verlauf die Gauner sich befreien können und – nachdem sie ihren
1 Ich zitiere den Roman des Cervantes nach der ersten deutschen Teilübersetzung von 1648. Miguel de Cervantes Saavedra: Don Kichote de la Mantzscha, Das ist: Juncker Harnisch auß Fleckenland / Auß Hispanischer Spraach in hochteutsche vbersetzt. Kauff mich: Vnd liß mich. Rewts dich: So friß mich. Odr ich Bezahl dich. Frankfurt a. M.: Thomas Götze 1648, S. 280. Soweit bestimmbar werden bei Drucken vor 1800 die Verleger mit angegeben. Dies soll eine präzise Zuordnung der durch Nachdrucke, Raubdrucke etc. häufig in mehreren Ausgaben kursierenden frühneuzeitlichen Texte ermöglichen. 2 Ebd., S. 287. 3 Ebd., S. 288. https://doi.org/10.1515/9783110486636-001
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1 Einleitung
verwirrten Helfer mit Steinen niedergestreckt haben – „alleine / voneinander abgetheilet / vnd ein jedweder nur absonderlich vor sich selbs“ in den Untergrund der cervantinischen Diegese entschwinden.4 So entkommt schließlich auch der ‚verruchte Schelm‘, dessen Auftritt Cervantes nicht ohne poetologische Hintergedanken in seinen Roman einbaut. Denn wie sich im Gespräch mit Quijote herausstellt, ist der Gefesselte, den die Wächter als den „weit beschriehene[n] Gines von Passamont“ vorstellen,5 nicht nur ein gerissener Gauner. Er ist auch Autor eines Buches, das seine Lebensgeschichte enthält. Anders als die anderen Sträflinge sieht er sich daher nicht bemüßigt, Quijote Auskunft über seine Taten zu geben: „Wolt jhr ja meines Lebens wissenschafft vnd erkundigung einziehen / so wisset / daß ich Gines von Passamont bin / dessen Leben durch diese meine Daumen ist beschrieben vnd zu Papier gebracht worden.“ 6 Das Buch, so erfährt Quijote, habe Ginés vor Antritt seiner Strafe „vmb zwey hundert halbe Orthe [Silbertaler, S. Z.]“ 7 im Gefängnis versetzt, wo er es – sobald die zehn Jahre Galeerendienst vorüber seien – um jeden Preis auszulösen gedenke. Ja antwortete Gines, vnnd hoff es auch wider an mich zu lösen / vnnd wann es schon uff zwey hundert Ducaten verpfändet stünde. Ists dann so gut? fragte Don Kichote. Ja freylich so gut / antwortete Gines, daß der Lazarillo von Tormes schlecht Werck dagegen ist / vnd zwar ins gemein alle andere / welche von derogleichen Sachen jemahls Bücher geschrieben / oder auch ins künfftige schreiben werden.8
Die Forschung hat diese Stelle als Kernstück cervantinischer Romanreflexion identifiziert.9 Beruft sich Ginés auf den Lazarillo de Tormes (1554) als Referenztext seiner Vida, so stellt er diese in eine literarische Reihe, die zu Beginn des
4 Ebd., S. 297. 5 Ebd., S. 288. 6 Ebd., S. 289. 7 Ebd., S. 290. 8 Ebd. 9 Die seit über sechzig Jahren anhaltende Forschungsdebatte zum Verhältnis von cervantinischem Roman und novela picaresca lässt sich anhand folgender Beiträge nachvollziehen: Claudio Guillén: Literature as System. Essays toward the Theory of Literary History. Princeton, NJ 1971, S. 147–158; Ann Wiltrout: Ginés de Pasamonte: The Pícaro and His Art. In: Anales Cervantinos 17 (1978), S. 11–17; Peter N. Dunn: Cervantes De/Re-Constructs the Picaresque. In: Cervantes. Bulletin of the Cervantes Society of America 2.2 (1982), S. 109–131; Sabine Schlickers: Don Quijote im Kampf mit den pícaros: Cervantes und die poetologische Herausforderung des spanischen Schelmenromans. In: Castilla – La Mancha. Wege der Universalität. Hg. von Rafael Sevilla u. a. Bad Honnef 2006, S. 174–183; Chad M. Gasta: Cervantes and the picaresque: A question of compatibility. In: The Picaresque Novel in Western Literature. From the Sixteenth Century to the Neopicaresque. Hg. von J. A. Garrido Ardila. Cambridge 2015, S. 96–112.
1.1 Markt und Literatur: Cervantes beobachtet die novela picaresca
3
17. Jahrhunderts, nicht zuletzt durch Mateo Alemáns zweibändige Vida de Guzmán de Alfarache (1599/1604), in Spanien und Europa rasant an Bedeutung gewinnt. Dass andere, ältere Formen romanhaften Erzählens damit ins Hintertreffen geraten, macht Cervantes am Ausgang der Episode diegetisch augenfällig: Don Quijote, der fanatische Leser von Ritterromanen, liegt am Boden; Ginés, der schreibende Picaro, zieht triumphierend von dannen.10 Die Ironie, die Cervantes der Begegnung der beiden unterlegt, entfaltet sich auf allen Ebenen des Erzählens. Sie ist präsent auf dessen Oberfläche, wenn Ginés in einer Fesselung vor den Leser tritt, die alle Maßstäbe exekutiver Praxis sprengt.11 Sie beherrscht aber auch die Tiefenschichten des poetologischen Diskurses. Eine besondere Rolle kommt dabei dem Buch zu, das Ginés als nonplusultra seiner Gattung anpreist. Wie die Forschung betont hat, legt Cervantes großen Wert darauf zu zeigen, dass das pikarische Buch von seinem Autor nicht zu trennen ist: „In the picaresque [...] book and author become one, as in the case of Ginés, whose reductio ad absurdum of this textual strategy has been noted many times.“ 12 Geht es in dieser Hinsicht bei der Vida de Ginés de Pasamonte nicht nur um ein (fiktives) Buch, sondern gewissermaßen um das Konzept pikarischer Literatur schlechthin, so kommt dem Umstand, dass Cervantes dieses Buch mit einer eigenen Geschichte ausstattet, gesteigerte Bedeutung zu. Es lohnt sich, diese Geschichte genauer zu betrachten. Wie zitiert, erzählt Cervantes von einem Pfandhandel mit dem pikarischen Manuskript, aus dem Ginés zweihundert halbe Silbertaler bezogen hat.13 Dass das Geschäft zustande gekommen ist, setzt einen Akt der Spekulation auf die
10 Zur Entstehung eines Gattungsdiskurses um das Pikareske in Spanien um 1600 vgl. Claudio Guillén: Luis Sánchez, Ginés de Pasamonte y el descubriemento del género picaresco. In: ders.: El primer Siglo de Oro. Estudios sobre géneros y modelos. Barcelona 1988, S. 197–211. Im Bezug auf Guillén außerdem Hanno Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion. Pilger und Pícaros in der spanischen Literatur der Frühen Neuzeit. München 2010, S. 206 f. 11 Cervantes: Don Kichote, S. 287 f.: „Dann an dem Fuß führte er eine so grosse Kette / daß sie jhm gantz vmb den Leib herumb gieng / vnd vmb die Kehle hatte er zwey grosse Halsbänder / deren eins an der Ketten hieng / das ander von denen eins ware / welche man nennet: Freund / sieh dich für [...]. An diesem hiengen zwey Eisen herab / welche biß an die Gürtelstett hinunter reichten / vnd an dieselbe wahren zwo Handschrauben geschmiedet / welche jhm vmb die Fäuste giengen / vnd mit einem grossen starcken Schlosse verwahret vnnd zugeschlossen waren / solche maß / daß er weder mit den Händen zum Mund reichen / noch auch mit dem Kopff sich unter sich bücken / vnd biß an die Fäuste damit gelangen konte.“ 12 Roberto González Echevarría: Cervantes’ ‚Don Quijote‘. New Haven, London 2015, S. 91. 13 Auf diesen Aspekt der Episode gehen überraschenderweise die wenigsten der einschlägigen Forschungsarbeiten ein. Eine von wenigen Ausnahmen: Edward C. Riley: ‚Sepa que yo soy Ginés de Pasamonte‘. In: ders.: La rara invención. Estudios sobre Cervantes y su posteridad literaria. Barcelona 2001, S. 51–71, hier S. 66–71.
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1 Einleitung
Wertbeständigkeit des verpfändeten Objektes voraus. Nur unter der Bedingung, dass die Vida de Ginés de Pasamonte – dann wohl als Druck – auf dem Markt reüssieren wird, ist der Tausch für den anonymen Pfandnehmer lukrativ. Von vornherein steht das Buch damit im Zusammenhang einer monetären Wertbestimmung, in deren Folge sich die Axiologie vom literarischen in den merkantilen Bereich verschiebt. Deutlich wird dies, wenn Ginés sein Buch anpreist, indem er ihm einen virtuellen Preis zuschreibt, den er jederzeit zu bezahlen gewillt wäre („vnnd wann es schon uff zwey hundert Ducaten verpfändet stünde“). Sein Gegenüber Don Quijote durchschaut diese rhetorische Taktik nicht. Das macht ihn anfällig für deren persuasive Wirkungen. Mit seiner Frage „Ists dann so gut?“ beweist er nicht nur seine Ahnungslosigkeit in merkantilen Dingen, sondern bestätigt auch die von Ginés vorgegebene Identifizierung literarischer und monetärer Axiologie. Ob er will oder nicht, im Gespräch mit Ginés wird Quijote selbst zum Teilnehmer eines literarischen Marktes; er verfällt dessen Rhetorik, ohne zu ahnen, dass damit letzthin sämtliche der sozialen (und poetologischen) Geltungen auf dem Spiel stehen, die er als Ritter repräsentiert. Schreibt Cervantes seinem Diskurs von der novela picaresca auf diese Weise eine Struktur des Kommerziellen ein, so lässt sich dies in einen größeren Zusammenhang der Beobachtung von Literatur und Markt im cervantinischen Œuvre einordnen.14 Der von Cervantes polemisch beleuchteten Position des Pikaresken kommt man dabei näher, betrachtet man sie im Kontrast zu der im Don Quijote an anderer Stelle entfalteten Konzeption ‚hoher‘ Poesie. Im zweiten Teil des Romans lässt Cervantes Quijote ein weiteres Mal zum Teilnehmer eines Literaturgespäches im Irgendwo des spanischen Hinterlandes werden. Diesmal allerdings sind die Vorzeichen andere. Im Vorgriff auf den Durchbruch zur Klarsichtigkeit, der ihm auf dem Totenbett gelingen wird, spricht Quijote vernünftig und versteht es, seinen Gesprächspartner, einen um seinen passioniert dichtenden Sohn besorgten Edelmann, zu überzeugen.15
14 Über die sozialgeschichtlichen Bedingungen der ‚Entdeckung‘ des Literaturmarktes in Spanien um 1600 informiert Donald Gilbert-Santamaría: Writers on the market: Consuming Literature in Early Seventeenth-Century Spain. Cranbury, NJ 2004. Zu Cervantes vgl. hier S. 149–213. 15 Die geistige Klarheit Quijotes wird im Text eigens hervorgehoben. So zweifelt der Edelmann zunächst an Quijotes Zurechnungsfähigkeit, kommt nach dessen Rede jedoch zu einer ganz anderen Einschätzung. Da die deutsche Don Quijote-Übersetzung von 1648 den Zweiten Teil nicht umfasst, zitiere ich aus der neuen Übersetzung Langes: „Der Grünbemäntelte staunte so sehr über Don Quijotes kluge Erörterungen, dass er von der Meinung abkam, einen Toren vor sich zu haben.“ Miguel de Cervantes Saavedra: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Hg. und übersetzt von Susanne Lange. 2 Bde. München 2008, Bd. 2, S. 142. Im spanischen Wortlaut: „Admirado quedó el del Verde Gabán del razonamiento de don Quijote, y tanto, que fue perdiendo de la opinión que con él tenía de ser mentecato.“ Miguel de Cervantes
1.1 Markt und Literatur: Cervantes beobachtet die novela picaresca
5
Im Kern seiner Rede entfaltet Quijote dabei ein Lob der Poesie, das deren Anderes, das Geld und den Markt, schonungslos mitbenennt: Die Dichtung, Herr Hidalgo, ist meiner Meinung nach wie eine zarte Jungfer, noch arm an Jahren und reich an Schönheit, zu deren Zierde, Putz und Schmuck eine Vielzahl anderer Jungfern bereitstehen, das heißt, die anderen Wissenschaften, und sie muss sich ihrer aller bedienen, und alle werden erst durch sie geadelt. Aber diese Jungfrau will nicht betatscht, nicht durch alle Gassen gezerrt, will nicht auf Marktplätzen oder in Palastwinkeln vorgeführt werden. Sie ist aus einer so feinen Alchimie-Essenz, dass der Eingeweihte sie in feinstes Gold von unschätzbarem Wert verwandeln kann. […] Keineswegs darf sie käuflich sein […].16
Das Bild von der poesía, die von den Wissenschaften als Zofen umringt ist, schließt an ein allegorisches Erzählprogramm an, das dem gelehrten frühneuzeitlichen Leser aus der Lehrsatire De nuptiis Philologiae et Mercurii des Martianus Capella (5./frühes 6. Jh. n. Chr.) geläufig gewesen sein dürfte.17 Im Sinne seines Gegenstandes wandelt Quijote das Modell des Martianus jedoch in wesentlichen Punkten ab. Zum einen tauscht er die Figur der Philologia durch die der Poesie aus – spitzt den Diskurs also auf die Dichtung zu –, zum anderen greift er in Martianus’ Darstellung der inneren Ökonomie der Wissenschaften und Künste ein. In De nuptiis Philologiae et Mercurii begegnen sich die allegorischen Figuren in einer höfischen Haushaltung, die den Schauplatz der titelgebenden Hochzeit darstellt. Philologia und Mercurius treten bei Martianus in eine – mutmaßlich fruchtbare – societas coniugalis ein und werden damit zu Kronzeugen einer Ökonomie des Wissens, in der es nicht zuletzt auf das commercium artium, den „Wechselverkehr der Künste“, ankommt.18 In Quijotes Entwurf
Saavedra: El Ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha. Kritisch hg. und kommentiert von Vicente Gaos. 2 Bde. Madrid 1987, Bd. 2, S. 246. 16 Cervantes: Der geistvolle Hidalgo Don Quijote, Bd. 2, S. 140. Die Passage im spanischen Text: „La poesía, señor hidalgo, a mi parecer, es como una doncella tierna y de poca edad, y en todo estremo hermosa a quien tienen cuidado de enriquecer, pulir y adornar otras muchas doncellas, que son todas las otras ciencias, y ella se ha de servir de todas, y todas se han de autorízar con ella; pero esta tal doncella no quiere ser manoseada, ni traída por las calles, ni publicada por las esquinas de las plazas ni por los rincones de los palacios. Ella es hecha de una alquimia de tal virtud, que quien la sabe tratar la volverá en oro purísimo de inestimable precio [...]; no ha de ser vendible […].“ Cervantes: El Ingenioso Hidalgo Don Quijote, Bd. 2, S. 242 f. 17 Martianus’ einflussreicher Text liegt in moderner deutscher Übersetzung vor: Martianus Capella: Die Hochzeit der Philologia mit Merkur. Übersetzt, mit einer Einleitung, Inhaltsübersicht und Anmerkungen versehen von Hans Günter Zekl. Würzburg 2005. 18 So Hans Günter Zekl in der Einleitung zu seiner Übersetzung. Vgl. Martianus: Die Hochzeit, S. 12.
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1 Einleitung
dagegen fehlt das Motiv der Hochzeit. Seine poesía ist keine Braut, sondern eine unverheiratete Jungfrau, die sanft, doch souverän über die Wissenschaften herrscht (bei Martianus kommen die artes liberales anlässlich der Hochzeit bloß zu Besuch). Aus dem Bild gedrängt ist damit das Prinzip des Mercurius, dessen mythologisch wie etymologisch gegebene Nähe zur Sphäre des Marktes (merx, mercatus, commercium etc.) mit Quijotes Poesie-Auffassung nicht vereinbar ist. Diese nämlich speist sich aus einem genuin antichrematistischen Impuls.19 Dort, wo in Quijotes Sicht das Geld regiert – in den Gassen, Winkeln und auf den Marktplätzen –, läuft der jungfräuliche body enclosed 20 der poesía Gefahr, zum Opfer niederster Affekte zu werden. Entsprechend deutlich dient die von Quijote entworfene Ökonomie von Dichtung und Wissen(schaften) der Vermeidung dieser Bedrohung. An die Stelle der auf horizontale Wechseldynamiken ausgerichteten Logik des Austausches (commercium) rückt Quijote das vertikale Prinzip einer Herrschaft der Dichtung über die Wissenschaften, wobei erstere letzteren erst zu ihrem Adel verhilft. Leitend sind dabei Begriffe und Denkmuster aus der hermetischen Tradition.21 Wie die Alchemie (alquimia) soll die Dichtung das Material, das sie vorfindet, läutern, bis es in ihr zu vollkommener Reinheit gelangt: zu „feinste[m] Gold von unschätzbarem Wert“ wird. Was sich in diesem
19 Dieser Impuls entspricht einer allgemeinen Tendenz cervantinischer Poetik, die sich auch in anderen Texten niederschlägt. Insbesondere zu nennen ist hier die Erzählung La gitanilla aus den Novelas ejemplares (1613). In ihr lässt Cervantes die Dichtung in Gestalt einer Jungfrau namens Preciosa auftreten. In einer eindrücklichen Rede wehrt diese sich dagegen, von ihrem Verehrer, einem dichtenden Knaben, mit Geld beschenkt zu werden: „[A]ls Dichter seid ihr mir lieb und wert, doch nicht als Geldgeber. Daran müßt Ihr Euch halten, wenn unsere Freundschaft dauern soll […].“ Miguel de Cervantes Saavedra: Das Zigeunermädchen. In: ders.: Gesamtausgabe in vier Bänden. Bd. 1: Exemplarische Novellen, Die Mühen und Leiden des Persiles und der Sigismunda. Hg. und neu übersetzt von Anton M. Rothbauer. Stuttgart 1963, S. 93–176, hier S. 123. Zum Geldmotiv in der Novelle vgl. Jing Xuan: Der Chronotopos des Geldes – ‚Vermittlung‘, ‚Verhandlung‘ und ‚Transkodierung‘ in ‚La gitanilla‘. In: Cervantes’ ‚Novelas ejemplares‘ im Streitfeld der Interpretationen. Exemplarische Einführungen in die spanische Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Hanno Ehrlicher, Gerhard Poppenberg. Berlin 2006, S. 109–138. 20 Ich entnehme diesen Begriff Stallybras’ kulturhistorischer Studie zur Sexualität in der Frühen Neuzeit: Peter Stallybras: Patriarchal Territories: The Body Enclosed. In: Rewriting the Renaissance: The Discourse of Sexual Difference in Early Modern Europe. Hg. von Margaret Ferguson u. a. Chicago 1986, S. 123–142. 21 Zum alchemischen Wissen im Don Quijote vgl. Carlos García-Verdugo Caso: Alquimia y atomismo en el ‚Don Quijote‘. In: Anales cervantinos 40 (2008), S. 63–87. Zum Zusammenhang von Hermetismus und frühneuzeitlicher Literatur allgemein vgl. Peter-André Alt: Imaginäres Geheimwissen. Untersuchungen zum Hermetismus in literarischen Texten der Frühen Neuzeit. Göttingen 2012 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 12).
1.1 Markt und Literatur: Cervantes beobachtet die novela picaresca
7
Prozess vollzieht, lässt sich als Ausschließung des monetären und merkantilen Komplexes aus dem poetologischen System beschreiben. Zum einen geht es Quijote um die Logik der Schätzbarkeit, die im Produkt poetischer Steigerung überwunden ist; das Gold der poesía ist ganz buchstäblich von unschätzbarem Wert (de inestimable precio), steht als Medium für merkantile Tauschbeziehungen also nicht zur Verfügung.22 Zum anderen formuliert Quijote im Rückgriff auf den hermetischen Diskurs einen epistemologisch wie sozial wirksamen Exklusivitätsanspruch der Dichtung. Nicht die Masse auf den Märkten, sondern der Dichter als „Eingeweihte[r]“ besitzt das Wissen, aus dem wahre Dichtung entsteht. Nur in seinen Händen ist die Jungfrau poesía vor Zugriffen Unbefugter sicher. Vor diesem Hintergrund lässt sich die cervantinische Polemik gegen die novela picaresca in ihrer poetologischen Tiefenschärfe ermessen. Wenn Cervantes die Vida de Ginés de Pasamonte in den Kontext von Geld und Markt stellt, markiert er eine Alterität pikarischen Schreibens, die aus dessen Widerständigkeit gegen das Prinzip einer geschlossenen Ökonomie von Literatur und Wissen resultiert. Kennzeichen dieser Alterität ist die radikale Beweglichkeit der pikarischen Figur und ihres Diskurses.23 Wie das Geld sich – scheinbar kontingent – von Hand zu Hand bewegt und die sozialen Orte des Anderen, die Gassen, Palastwinkel und Marktplätze, zu einer offenen Chronotopik verbindet, entfaltet
22 Die Überwindung des Geldes gehört zum motivischen Kernbestand der hermetischen Tradition seit dem Hochmittelalter. So heißt es bereits im Thesaurus Thesaurorum o Rosarius Philosophorum des Arnaldus de Villanova (um 1235–1311), hier zitiert nach einer Übersetzung des 17. Jahrhunderts: „Darumb sprechen die Philosophen/ daß jr Goldt vnd Silber nit ein solches Goldt und Silber sey/ wie der gemeine Mann im Brauche habe: Dann es geschicht jnen grosser Zusatz in der Tinctur und Bestendigkeit im Fewer/ so wol auch vieler Nutzbarkeiten Eygenschafften/ alle Kranckheiten dadurch zu vertreiben.“ Arnaldus de Villanova: Opus aureum D. Arnaldi De Villanova, Deß hoch und weit berühmten Philosophi vnd Medici, drey vnterschiedliche Tractat von der Alchimey / Darinnen der Schatz aller Schätze / der Philosophen Rosengarten / unnd das größte Geheimnuß / aller Geheimnussen / begrieffen […]. Frankfurt a. M.: Johann Spieß 1604, S. 75. 23 Beweglichkeit hier mit Lotman als die Fähigkeit literarischer Figuren und Texte verstanden, die Grenzen semantischer Räume zu überschreiten. Vgl. Jurij M. Lotman: Die Struktur literarischer Texte. München 1972, S. 338 f. Wie schon Ehrlicher in seiner Studie zum spanischen Picaro-Roman bemerkt hat, verweist Lotman selbst auf den ‚Schelm‘ als typische Figur der Beweglichkeit (ebd., S. 346 f.), wobei es bei den Grenzüberschreitungen desselben um den Wechsel vom semantischen Feld der Armut in das des Reichtums gehe. Zu Recht betont Ehrlicher dabei, dass es bei der pikarischen Grenzüberschreitung aber keinesfalls um eine raumsemantische Eindeutigkeit gehen könne: Der Picaro sei „eine potenzierte bewegliche Figur, da er nicht nur von einem semantischen Feld ins andere übertritt, sondern auch die strukturelle Umkehrbarkeit dieses Übertritts deutlich werden lässt.“ Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 21.
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1 Einleitung
sich pikarisches Erzählen in einem Latenzbereich sozialer und diskursiver Praxis, in dem die Regeln des offiziellen Diskurses keine Geltung haben. Mag dies mit Blick auf die – vergeblich in Ketten gelegte und noch im Gefängnis am Geldverkehr partizipierende – Figur des pikarischen Autors Ginés unmittelbar einleuchten, so braucht es für die Erhellung der Alterität des Pikarischen als Schreibweise etwas mehr Aufwand. Sie setzt einen Einblick in die tieferen Zusammenhänge zwischen der Form des Diskurses und dem Strukturkonflikt voraus, der sich bei Cervantes in der Opposition ökonomischer und merkantiler Chronotopik verdichtet. Ausgangspunkt der Erkundung ist die in der Ginés-Episode greifbare Feststellung, dass pikarisches Schreiben sich am Modell der Vita orientiert („so wisset / daß ich Gines von Passamont bin / dessen Leben durch diese meine Daumen ist beschrieben und zu Papier gebracht worden“).24 Vorgegeben ist damit eine literarische Form, die in der Frühen Neuzeit – bei aller Varianz im Einzelnen – ein relativ stabiles Set von Diskursregeln aufweist.25 Ein ‚Leben‘ zu schreiben be-
24 Die Relevanz der Vita für den pikarischen Roman wurde schon von Guillén: Literature as System, S. 155–157, betont, ist der romanistischen Forschung also bekannt. Umso überraschender ist die Beobachtung, dass die beiden avanciertesten deutschsprachigen Studien zum PicaroRoman, die Arbeiten Ehrlichers und Struwes, diese Bezüglichkeit weitgehend ignorieren. So heißt es bei Ehrlicher, die Pikareske habe „nicht über ein vorgegebenes äußeres generisches Bezugsmodell verfügt[ ]“, weshalb das Genre ganz aus sich selbst heraus entstanden sei. Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 97. Struwe geht auf die Struktur autobiographischen Erzählens zwar detailliert ein, bleibt bei der Sondierung generischer Verwandtschaften jedoch immer wieder beim Schwankroman stehen – einem Genre, in dem die von ihr selbst als charakteristisch postulierte „Doppelung der Stimmen im Text“ gerade nicht zu beobachten ist. Vgl. Carolin Struwe: Episteme des Pikaresken. Modellierungen von Wissen im frühen deutschen Pikaroroman. Berlin, Boston 2016 (Frühe Neuzeit 199), S. 31–41, das Zitat hier, S. 39. 25 Das heißt nicht, dass die Feststellung der Forschung, frühneuzeitliches „life-writing was not sufficiently formalized to be considered under the rubric of a single genre“, in vorliegender Arbeit grundsätzlich bestritten wird (Thomas F. Mayer/D. R. Woolf: Introduction. In: The Rhetorics of Life-Writing in Early Modern Europe. Forms of Biography from Cassandra Fedele to Louis XIV. Hg. von Thomas F. Mayer, Daniel R. Woolf. Ann Arbor, Mich. 1998 [Studies in Medieval and Early Modern Civilisation 13], S. 1–37, hier S. 7). Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass die Rede von einem Phänomenbereich frühneuzeitlicher Lebenschreibung das Vorhandensein eines Korpus von Texten mit einer signifikanten Anzahl typischer und spezifischer Eigenschaften voraussetzt. Dies bestätigt der Blick auf die Einzeltextforschung, in der neben erwartbaren Unterschieden – z. B. zwischen religiösen und nicht-religiösen Ausprägungen der Vita – eine ganze Reihe formaler Gemeinsamkeiten sichtbar wird: Immer geht es um Texte, die Handlungen einer Person bzw. Ereignisse in deren Leben in einer nach dem Prinzip des ordo naturalis organisierten Erzählung präsentieren und – wie auch immer vermittelt – der memoria der Zeitgenossen und Nachgeborenen zugänglich machen. Vgl. August Buck (Hg.): Biographie und Autobiographie in der Renaissance. Wiesbaden 1983; Walter Berschin (Hg.): Biographie zwischen Renaissance und Barock. Heidelberg 1993; Michael Mascuch: Origins of the individualist
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deutet in der Zeit des Cervantes, die Handlungen einer Person chronologisch so festzuhalten, dass sie der Nachwelt als Exempel zur Verfügung stehen. In diesem Sinne spricht etwa Francis Bacon (1561–1626) der Vita eine wichtige Funktion innerhalb rhetorischer und epistemologischer Praxis zu: Whereas Lives, if they be well and carefully written […], propounding to themselves a single person as their subject, in whom actions both trifling and important, great and small, public and private, must needs be united and mingled, certainly contain a more lively and faithful representation of things, and one which you may more safely and happily take for example in another case.26
Die im erzählten ‚Leben‘ geborgene „representation of things“ gilt Bacon als konkretes Material für einen Wissenstransfer kasuistischer Art. Auf induktivem Wege erschließt der Viten-Schreiber Singuläres der/seiner Geschichte, das in anderen, wiederum singulären, Geschichtszusammenhängen erkenntnisförderlich eingesetzt werden kann.27 Voraussetzung ist die Einhaltung gewisser Schreibregeln, die Bacon klar benennt. Vor allem ist der Autor aufgefordert, beim Schreiben genau und mit guter Urteilskraft – „diligenter et cum judicio“ – vorzugehen.28 Nur wo der Gegenstand der Vita, die persona singularis memoria
Self. Autobiography and Self-Identity in England 1591–1791. Cambridge 1996; James Amelang: The Flight of Icarus. Artisan Autobiography in Early Modern Europe. Stanford 1998; Karl E. Enenkel u. a. (Hg.): Modelling the Individual: Biography and Portrait in the Renaissance. With a Critical Edition of Petrarch’s ‚Letters to Posterity‘. Amsterdam 1998; Karl E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographik des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarcha bis Lipsius. Berlin, New York 2008; James M. Weiss: Humanist Biography in Renaissance Italy and Reformation Germany. Friendship and Rhetoric. Aldershot, Burlington 2010 (Variorum collected studies 947); Karl E. Enenkel, Claus Zittel (Hg.): Die ‚Vita‘ als Vermittlerin von Wissenschaft und Werk. Form- und Funktionsanalytische Untersuchungen zu frühneuzeitlichen Biographien von Gelehrten, Wissenschaftlern, Schriftstellern und Künstlern. Berlin 2013 (Scientia universalis I,1). 26 Ich zitiere hier nach der Übersetzung der großen Werkausgabe des 19. Jahrhunderts: Francis Bacon: Of the Dignity and Advancement of Learning (Book I–VI). In: ders.: The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding u. a. Faksimile-Neudruck der Ausg. London 1857–1874 in vierzehn Bänden. Bd. IV: Translations of the Philosophical Works, Part I. Stuttgart 1962, S. 275–498, hier S. 305. 27 Dieser Wissenstransfer findet nach dem von Bacon im selben Text formulierten Prinzip statt, dass jede Einsicht „drawn freshly and in our view out of particulars knows best the way back to particulars again“. Francis Bacon: Of the Dignity and Advancement of Learning (Book VII–IX). In: ders.: The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding u. a. Faksimile-Neudruck der Ausg. London 1857–1874 in vierzehn Bänden. Bd. V: Translations of the Philosophical Works, Part II. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, S. 3–119, hier S. 59. 28 So die Formulierung im lateinischen Text: Francis Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum. In: ders.: The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding u. a. Faksimile-Neudruck
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digna, philologisch sorgfältig rekonstruiert und rhetorisch evidenziert wird, liegt am Ende jene viva et fida rerum narratio vor, die für den Transfer kasuistischen Wissens taugt.29 In dieser Eigenschaft – und nur in dieser – kann die Vita zur Vervollständigung des Wissens beitragen, dessen Ordnung Bacon als systemische Struktur mit administrativer Funktion imaginiert.30 Als Vorbild dient ihm dafür die Verwaltung im Staat Philipps II. und III. „So then we see“, heißt es im Valerius Terminus (1603), „that this leadeth us to an administration of knowledge in some such order and policy as the king of Spain in regard of his great dominions useth in state“.31 Bacons Assoziation von Wissenssystem und Staatsverwaltung im Zeichen von „order and policy“ lässt sich auf Cervantes’ Beobachtung pikarischer Literatur übertragen. Die Pointe, dass Ginés sich in der Sierra Morena dem Zugriff eben jener Obrigkeit entzieht, die Bacon zum glänzenden Vorbild gouvernementaler Macht erhebt,32 entfaltet ihre poetologische Signifikanz mit Blick auf das
der Ausg. London 1857–1874 in vierzehn Bänden. Bd. I: Philosophical Works, Part I. StuttgartBad Cannstatt 1963, S. 433–857, hier S. 507. 29 Ebd. Da es sich beim historischen Wissen der Vita – bei aller erwünschten Sorgfalt und Urteilskraft ihres Autors – niemals um sicheres Wissen (im Sinne der aristotelischen Episteme) handeln kann, bleibt Bacon in seiner Formulierung vorsichtig. Er spricht davon, dass man die Exempel, die die regelkonform hergestellte Vita enthält, sicherer („tutius“) auf andere Kontexte übertragen könne. Störungen im Transfer können mithin auch bei Einhaltung der Diskursregeln nicht ausgeschlossen, wohl aber bis zu dem Punkt reduziert werden, von dem ab der Vita eine epistemologische Validität zugesprochen werden kann. 30 Wie Neuber feststellt, ist der Einzelfall bei Bacon immer schon in der allgemeinen Ordnung des Wissens aufgehoben: Er steht „zum System […] nur in einem Verhältnis der Partikularität, nicht aber in einem Verhältnis der abweichenden Neuordnung“. Wolfgang Neuber: Systematische und kasuistische Wissensordnungen. Mnemotechnische Prozesse im 17. Jahrhundert. In: Wissensideale und Wissenskulturen in der frühen Neuzeit / Ideals and cultures of knowledge in early modern Europe. Hg. von Wolfgang Detel, Claus Zittel. Berlin 2002 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 2), S. 185–196, hier S. 190. 31 Francis Bacon: Valerius Terminus of the Interpretation of Nature: with the Annotations of Hermes Stella. In: ders.: The Works of Francis Bacon. Hg. von James Spedding u. a. FaksimileNeudruck der Ausg. London 1857–1874 in vierzehn Bänden. Bd. 3: Philosophical Works, Part II. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963, S. 231. Auf diese Stelle weist bereits Neuber: Systematische und kasuistische Wissensordnungen, S. 188, hin. 32 Der spanische König wird in der cervantinischen Episode auffällig häufig erwähnt. Gleich zu Beginn führt Don Quijotes Unwissenheit dazu, dass Sancho ihn an die Macht des Königs und dessen Recht, Verbrecher zu bestrafen, erinnert: „Ewr Gestrengigkeit nehme ja in gute obacht [...] / daß die Gerichte / welche der König selbs / oder an des Königs statt seind / derogleichen Leuten weder gewalt noch vnrecht thun / sondern sie zur straff jhrer Vnthaten vnd Mißhandlungen also züchtigen.“ Cervantes: Don Kichote, S. 279. Auf Zusammenhänge zwischen dem bürokratischen Dispositiv des spanischen Staats unter der Regierung Philipps II. und der Emergenz pikarischen Erzählens hat die Forschung wiederholt hingewiesen. So sieht
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subversive Verhältis pikarischen Erzählens zum diskursiven Format, in das es sich einschreibt. Auf dem Spiel steht dabei nicht weniger als die Zuverlässigkeit der Erzählung. Ginés, der Picaro, weiß das und betont daher umso nachdrücklicher, in seiner Vida „von lauter warhafftigen Sachen“ 33 zu erzählen. Den durch Ironie und Polemik vorgewarnten Leser überzeugt er damit freilich kaum. Anders als der naive Quijote erkennt dieser, dass es Ginés nicht um jene epistemologisch zuverlässige „representation of things“ geht, die Bacon vorschwebt, sondern darum, aus dem Wahrheits-Topos Kapital zu schlagen für eine günstige Platzierung seines Buches auf dem Buchmarkt. Dessen (imaginäre) Präsenz zeigt sich dabei nicht nur in der bereits erwähnten Rhetorik des immoderaten Werbens und Anpreisens. Sie ist auch dort gegenwärtig, wo Ginés den autoritativen Geltungen des Diskurses Selektionskriterien vorordnet (und dieses Manöver zugleich zu verschleiern versucht), die allein auf die delectatio des Publikums abzielen.34 Nicht weil sie lehrreich, sondern weil sie (angeblich)
etwa Bernhard Siegert im pikarischen Roman eine unmittelbare ‚Antwort‘ der Literatur auf die philippinische Machtpolitik: „[Der Pícaro-Roman] antwortet also einem massiven Begehren der Macht: die eventuelle Fiktionalität […] der scheinbar referentiellen Sprechakte in Echtzeit durchschauen zu können. Literatur lesen ist, als ob man (das heißt der König oder einer seiner ‚letrados‘) hinter dem Text der Passagierregister den Text der Inquisitionsakten durchscheinen sähe.“ Bernhard Siegert: Passagiere und Papiere. Schreibakte auf der Schwelle zwischen Spanien und Amerika. München 2006, S. 99 f. Aus meiner Sicht geht diese Behauptung unmittelbarer medialer Resonanzeffekte zwischen Literatur und Bürokratie zu weit. Der pikarische Roman ist sicher mehr als nur die ‚Antwort‘ auf ein bestimmtes bürokratisches Dispositiv. Seine literarische Relevanz verdankt er der Tatsache, dass die in ihm performierte Alterität auf ganz unterschiedliche Ordnungszusammenhänge bezogen sein kann. Dies zeigt bereits die cervantinische Beobachtung: Wo der Picaro handelt bzw. schreibt, steht die Ordnung oder auch Ökonomie von Dichtung und Wissen ebenso auf dem Spiel wie „order and policy“ des (spanischen) Staates. 33 Cervantes: Don Kichote, S. 290. 34 Die Verselbständigung der delectatio gegenüber der Belehrungsfunktion (docere/prodesse) von Literatur wird in der Frühen Neuzeit nicht nur bei Cervantes als Folgeerscheinung der Emergenz des Buchmarktes gewertet. Im deutschsprachigen Raum wird insbesondere der Verlust autoritativer Steuerung im Bereich moralischer und religiöser Didaxe beklagt. In den Fokus der Kritik rücken dabei neben den (Roman-)Autoren die Buchhändler und Verleger, die, so etwa der Reformator Johann Eberlin, „zufrieden“ seien, „allein were es [das Buch] verkaufft / es were gut oder böss“. Johann Eberlin: Mich wundert das kein Geld im Lande ist. Ein schimpffliche / doch vnschedliche Gespreche / Dreyer Landfahrer / vber jetzt gemeltem Tittel. […]. o. O. 1565, unpag. Wie die Debatte über die Schädlichkeit der Romane setzt sich die Buchmarktkritik bis weit ins 17. Jahrhundert fort. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts – und auch hier keineswegs flächendeckend! – sind Tendenzen in Richtung einer (resignativen) Akzeptanz des Buchmarktes als eigenständiger sozialer Institution zu erkennen. Es sei dem Verleger nun einmal „sehr schädlich“, heißt es bei Johann Joachim Becher (1635–1682), „wann er solche Bücher verlegt / die langsam oder gar nit abgehen / und zu Maculatur werden“; daher sei „sich also nit zu verwun-
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unterhaltsamer sind als jede Lüge, bevorzugt Ginés die „warhafftigen Sachen“ beim Schreiben seiner Vita: Vnd kan ich euch mit kurtzen Worten dieses davon melden / daß diß Buch von lauter warhafftigen Sachen handelt / vnd zwar von so artigen kurtzweiligen vnnd lustigen warhafftigen Sachen / daß man auch keine Lügen vnd Getichte haben kan / so man im wenigsten mit diesen vergleichen möchte.35
Die Lektüre der Stelle bestätigt die Beziehung zwischen dem Anderen der (ökonomischen) Ordnung, dem Markt, und der Alterität pikarischen Erzählens. Marktgängig – und damit, im Sinne des Geldes, beweglich – wird Ginés’ Erzählung, indem sie die Unterscheidung von Wahrheit und Lüge durchkreuzt, über die die Ordnung des Diskurses sich reproduziert.36 Mit einem Begriff Michel de Certeaus lässt sich diese Bewegung als Resultat einer diskursiven Praxis beschreiben, die auf die „Zwischenräume[ ] der Codes“ zielt.37 Was pikarisches Erzählen kennzeichnet, ist die Aufhebung von Differenz (wahr/falsch, außen/ innen, hier/dort, eigen/fremd) zugunsten eines Dritten, das in der Ordnung (des Diskurses, des Wissens, der Ökonomie, des Staates etc.) nicht vorgesehen ist und für den am Ort des Eigenen dieser Ordnung stehenden Beobachter deshalb undurchsichtig bleibt:38 Was geschieht und wer handelt in den Gassen, Palastwinkeln und auf den Marktplätzen? Welchen Status hat und wer schreibt die pikarische Vita? Am Anfang der frühneuzeitlichen Beobachtung des Marktes und der novela picaresca steht die Verunsicherung.
dern / wann des Eulenspiegels oder Francions Historien besser / als der Capuciner allerheiligster Männer Annales und Miracula / oder dergleichen ein anders Opus abgehet“. Johann Joachim Becher: Politische Discurs […]. Dritte Edition. Mit vier Theilen gemehret / worinnen viel nützliche/wichtige und curiose Sachen begriffen. Frankfurt a. M.: David Zunner 1688, S. 140. 35 Cervantes: Don Kichote, S. 290. 36 Dass die zunächst epistemologisch, dann rhetorisch-didaktisch relevante Unterscheidung von Wahrheit und Lüge für Ginés keine Geltung hat, wird im Zitat deutlich. In dem Maße, in dem er die delectatio zum eigentlichen – und einzigen – Ziel des Erzählens erklärt, wird der ontologische Unterschied von Lüge und Wahrheit eingeebnet: Ausgewählt wird in der Inventio prinzipiell das Element, das den Zweck der Unterhaltung besonders gut erfüllt. Auch wenn er sie zu verschleiern sucht, gilt dabei eine einfache Logik: Erweist sich eine Wahrheit nicht als ‚artig‘, kurzweilig und lustig, wird sie verschwiegen. Und umgekehrt: Fällt dem – wie Quijote ihn doppeldeutig nennt – „geschickt[en]“ Picaro (Cervantes: Don Kichote, S. 291) eine Lüge ein, die unterhaltsamer ist als die Wahrheit, steht ihrer Überführung in den Text nichts im Wege. 37 Michel de Certeau: Kunst des Handelns. Aus dem Französischen übersetzt von Ronald Voullié. Berlin 1988, S. 237. Im betreffenden Abschnitt skizziert Certeau eine ‚Narrativik des Verbrechens‘, die frappierende Übereinstimmungen mit den Beobachtungen aufweist, die Cervantes an der novela picaresca macht. 38 So mit Hinweis auf den Status des Picaro „in between“ auch schon Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 20.
1.2 Die Ordnung des Eigenen: Oeconomia in der Frühen Neuzeit
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1.2 Die Ordnung des Eigenen: Oeconomia in der Frühen Neuzeit Der Blick auf Cervantes zeigt, dass die Subversivität pikarischen Erzählens nicht beschrieben werden kann, ohne die systemischen Strukturen näher zu betrachten, die der Picaro mit seinem Handeln und Schreiben durchkreuzt. Dabei lässt sich von den Bewegungen des Picaro vorübergehend absehen. Denn ganz unabhängig von der Frage, wo und mit welcher Agenda dieser auftaucht, präsentiert sich die Welt, von der Cervantes erzählt, als Austragungsort eines bis in die Einzelheiten der Tausch- und Distributionsprozesse reichenden Strukturkonfliktes. Nirgendwo wird dies so deutlich wie im – aus Sicht des Dichters Cervantes springenden – Punkt der Poetik. Wie gesehen, läuft der poetologische Diskurs, den Don Quijote im zweiten Teil führt, auf eine Abschließung der Ökonomie der Dichtung gegen den Markt hinaus.39 Die Hofhaltung der poesía ist nicht Schauplatz jenes kommerziellen, multidirektionalen, auf Wechselverkehr basierenden Verhältnisses zwischen den Akteuren, für das das Geld als Medium infrage kommt. Sie konstituiert sich als imaginäre Ordnung40 vielmehr gerade dort, wo sie das qua Tradition verfügbare merkurische Moment in der Selektion abweist. Gegenüber Martianus, der das Haus der Philologia als (relativ) offenen Raum präsentiert, imaginiert Quijote die Ökonomie der Dichtung als einen durch undurchlässige Grenzen geschützen Raum. Nur solange diese Grenzen stabil bleiben, kann die poesía in ihrem Geschäft, der Veredelung des Wissens, produktiv sein. Werden sie verletzt, bricht ihr Haushalt zusammen; die Produktion des Eigenen der Dichtung kommt zum Erliegen. Wie ist – hinsichtlich einer Geschichte frühneuzeitlichen Ökonomiewissens – mit einem Phänomen wie Quijotes poetologischem Antichrematismus umzugehen? Auf den ersten Blick scheint es durchaus naheliegend, sie zu den „Reaktionen auf überpekuniarisierte Verhältnisse“ zu zählen, die Niklas
39 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die – aus moderner Sicht – weltfern erscheinende Idealität dieses Konzepts angesichts der im Don Quijote tatsächlich dargestellten Verhältnisse kein Grund ist, dessen Geltung generell infrage zu stellen. Es zeichnet den cervantinischen Roman aus, dass er sich in seiner ironischen Selbstbezüglichkeit eben als Roman und damit als eine Form von (marktgängiger) Literatur reflektiert, die den Anspruch ‚hoher‘ Dichtung niemals erfüllen kann. Zu Cervantes’ Romanpoetik vgl. die immer noch lesenswerte Studie von Edward C. Riley: Cervantes’s Theory of the Novel. Oxford 1962. Außerdem Alban K. Forcione: Cervantes, Aristotle, and the Persiles. Princeton, NJ 1970. 40 Ich übernehme diesen Begriff aus einem Aufsatz Jan-Dirk Müllers, der sich mit der Frage beschäftigt, in welcher Weise imaginäre Institutionen zu Prozessen der Wissenstradierung und Wissenstransformation in der Literatur beitragen. Vgl. ders.: Imaginäre Ordnungen und literarische Imaginationen um 1200. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs (2003), S. 41–68.
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Luhmann in seiner Evolutionsgeschichte sozialer Systeme als Symptom eines genuin vormodernen Entwicklungszustandes von Gesellschaft beschreibt.41 In Spätmittelalter und Früher Neuzeit, so Luhmann, sei es zwar bereits zur Einsicht in die symbolische Universalität des Geldes gekommen. In Ermangelung ausreichend ausdifferenzierter sozialer Teilsysteme habe es aber an der Möglichkeit zur Spezifikation der Geldfunktion und damit zur „Ausklammerung von externfunktionalen, nicht ökonomisierbaren Relevanzen“ aus (in moderner Perspektive) nicht-wirtschaftlichen sozialen Bereichen wie der Religion oder der Politik gefehlt.42 Quijote, um den Gedanken aufzugreifen, würde aus der Sicht Luhmanns als Repräsentant eines transitorischen Zustandes europäischer Gesellschaften zwischen Mittelalter und Neuzeit erscheinen. Seine „etwas hilflos wirkende[ ] Opposition“ 43 gegen das Geld und dessen notorische Übergriffigkeit würde letzthin vor allem das Noch-Nicht-Vorhandensein eines funktional ausdifferenzierten, zwischen dem Geld-Code und dem Kunst-Code routiniert unterscheidenden sozialen Systems dokumentieren.44 Mag die evolutive Perspektive Luhmanns – ähnlich der anderer namhafter Stichwortgeber der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte45 – den Vorteil besitzen, komplexe, sich über Jahrhunderte hinziehende historische Dynamiken auf den Begriff zu bringen, so zeigt die Anwendung auf Quijotes Antichrematismus doch vor allem ihre großen Nachteile auf. Das Problem ist eines der Heuristik: Wer, wie Luhmann, die Beobachtung frühneuzeitlicher Semantik46 an eine historische Teleologie koppelt, die, von einem modernen Erkenntnisstandpunkt ausgehend, zielsicher in die Moderne mündet, produziert einen Diskurs, in dem
41 Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1994, S. 239. 42 Ebd. In solchen Gesellschaften, so Luhmann weiter, könne man „für Geld so gut wie alles kaufen [...]: auch Freunde und Frauen, auch Seelenheil und politischen Einfluß und sogar Staaten, auch Steuereinnahmen, Kanzleitaxen, Adelstitel usw.“. 43 So Luhmann über die antichrematistische Semantik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Ebd., S. 240. 44 In seiner Schrift Die Kunst der Gesellschaft (Frankfurt a. M. 1995) beschäftigt sich Luhmann mit der Frage nach der Ausdifferenzierung eines sozialen Teilsystems Kunst, dessen Entstehung er – wie auch die der anderen sozialen Teilsysteme – auf das 18. und frühe 19. Jahrhundert datiert. 45 Man denke etwa an Max Weber, Eli F. Heckscher, Josef Schumpeter, Karl Polanyi, Edgar Salin, Albert O. Hirschmann oder auch Leonhard Bauer/Herbert Matis, deren Schriften im Folgenden nur dort zu thematisieren sein werden, wo vorliegende Arbeit sich mit einzelnen ihrer Thesen und Beobachtungen kritisch auseinandersetzt. 46 Um Luhmanns Begriffssystem kritisch gerecht zu werden, verwende ich an dieser Stelle den von ihm präferierten Begriff der Semantik. In der weiteren Entfaltung der Perspektive vorliegender Arbeit wird es darum gehen, den im Vorangegangenen bereits verwendeten Begriff des ökonomischen Wissens historisch und theoretisch zu begründen.
1.2 Die Ordnung des Eigenen: Oeconomia in der Frühen Neuzeit
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ausgerechnet diejenigen Aspekte der beobachteten Semantik diskriminiert werden, die ihren Traditionsbezug und damit ihre zeitgenössische Geltung begründen. Im Fall der ökonomischen Semantik der Frühen Neuzeit wiegt diese Diskriminierung besonders schwer. Für Luhmann ist die, wie er sie nennt, „Bifurkation“ 47 des alteuropäischen Systemaufbaus – gemeint ist die mit dem Namen Aristoteles verbundene Trennung eines ökonomischen Funktionsbereiches (Hauswirtschaft) vom Funktionsbereich des Geldes (Markt) – nur eine Zwischenstation in der Systementwicklung von der antiken Emergenz des Geldes bis zu seiner modernen Durchsetzung als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium. Entsprechend bedenkenlos rückt der Systemtheoretiker die Information, dass das Geld in der aristotelischen Tradition „nicht als ‚oikonomischer‘ Tatbestand gesehen [wurde] und aus Strukturbeschreibungen des Gesellschaftssystems ausgeblendet werden [konnte] mit Nachwirkungen bis ins 18. Jahrhundert“, in eine Fußnote ein.48 Genau an dieser Stelle ist jedoch anzusetzen, will man die epistemischen Bedingungen49 in den Blick bekommen, die es einem Autor wie Cervantes nahelegen (oder gar vorgeben), das Eigene der Ökonomie von ihrem Anderen, Geld und Markt, in der beobachteten Weise zu scheiden. Bevor von Umbauprozessen in Systementwürfen der Frühen Neuzeit überhaupt die Rede sein kann, ist von den vormodernen Traditionen ökonomischen Wissens zu sprechen, die die Geltung des oeconomia-Konzepts zwischen Antike und Früher Neuzeit konstituieren. Ausgangspunkt des zentralen Traditionszweigs alteuropäischen ÖkonomieWissens ist die griechisch-antike οἰκονομία-Lehre, die, wie Mondzain bündig bemerkt, „die funktionale Organisation einer Ordnung im Hinblick auf einen
47 Luhmann: Die Wirtschaft, S. 236. 48 Ebd., hier Anm. 14. 49 Im Gegensatz zum bereits mehrfach benutzten Begriff der Epistemologie, der auf Konzepte und Vorgänge bezogen ist, die die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis betreffen, verwende ich den Begriff der Episteme hier für Wissen, das in geordneter Form vorliegt und dem ein universeller Geltungsanspruch eignet. Dabei ist nicht nur von solchem Wissen die Rede, dessen Geltung – im Sinne des Aristoteles – durch ein Verfahren der logischen Prüfung garantiert wird. Auch kann in der Frühen Neuzeit der universelle Geltungsanspruch eines Wissens durch dessen kosmologisch unverbrüchliche, durch Autoritätsreferenz stabilisierte Verankerung im ordo-Gefüge des ‚Systemaufbaus‘ (Luhmann) hergestellt werden. Gerade die aristotelische Trennung der Zuständigkeitsbereiche der philosophia practica ist dafür ein gutes Beispiel: Sie gilt in Mittelalter und Früher Neuzeit in weiten Teilen (nicht nur) der gelehrten Beobachtung der Bereiche menschlichen Handelns und wäre damit zweifellos epistemischer Natur. Das heißt aber nicht, dass damit auch alle Wissenselemente epistemisch sein müssen, die in dieser Systematik auftauchen (z. B. das Wissen vom rechten Haushalten). Es gilt, hier und im Folgenden die Ebenen, von denen in Bezug auf (ökonomisches) Wissen die Rede ist, genau zu unterscheiden.
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materiellen oder immateriellen Profit“ zum Gegenstand hat.50 In ihren Ausführungen dazu, was diese ökonomische Funktionalität gegenüber anderen Formen antiken Ordnungsdenkens auszeichnet, kommt Mondzain auf die Schnittstelle zwischen Natur und Mensch zu sprechen, die sie als den eigentlichen Gegenstand altgriechischen Ökonomiewissens identifiziert. Zwar sei „das Modell dieser Ordnung […] natürlich“ und daher einem kosmologischen Denken verpflichtet, jedoch verlange „die richtige Handhabung dieser Ökonomie in der Gesellschaft […] die Analyse der Situation und die menschliche Intervention im Dienst der Zwecke“.51 Was im Bereich der oἰκονομία von vornherein also zusammengedacht wird – und in den Entwürfen koordiniert werden muss –, ist das Verhältnis von menschlicher Praxis und natürlich-kosmologischer Ordnung. Dies schlägt sich folgenreich in der bekannten Systematik philosophischer Zuständigkeitsbereiche bei Aristoteles nieder. Insofern die oἰκονομία bei ihm ein Raum ist, in dem die zweckorientierte praktische Vernunft des Menschen (φρόνησις) waltet, gehört sie in den Bereich der praktischen Philosophie, für die die Maßstäbe der sich selbst genügenden epistemischen Vernunft (ἐπιστήμη) nicht gelten können.52 Das heißt aber nicht, dass der Ordnungsanspruch, der den aristotelischen Ökonomie-Entwurf kennzeichnet, der Kontingenz und Situativität menschlichen Handelns anheim gestellt wäre. Indem er sich aus der Architektur des aristotelischen ‚Systemaufbaus‘ (Luhmann) begründet – und auf dieser Ebene mit einer kosmologischen Naturlehre verknüpft ist –, erweist er sich als letzthin epistemische Größe, deren Geltungsmacht sich im Wissenstransfer von der Antike bis in die Frühe Neuzeit behauptet. Hatte bereits Xenophon die Ordnung der oἰκονομία als harmonische Verbindung von Nutzen („εὔχρηστον“) und Schönheit („καλόν“) beschrieben – und damit den Bezug von materiellen und metaphysischen Aspekten der Ökonomie hergestellt –,53 so geht Aristoteles darüber hinaus, indem er das Haus im Zei-
50 Marie-José Mondzain: Bild, Ikone, Ökonomie. Die byzantinischen Quellen des zeitgenössischen Imaginären. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. Zürich 2011, S. 30. Zur griechischantiken Ökonomie vgl. außerdem Karl Polanyi: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen. Frankfurt a. M. 1978, S. 71–87; Peter Spahn: Die Anfänge der antiken Ökonomie. In: Chiron 14 (1984), S. 301–321; Sitta von Reden: Antike Wirtschaft. Berlin, Boston 2015 (Enzyklopädie der griechisch-römischen Antike 10), S. 75–88. 51 Mondzain: Bild, S. 30. 52 Zur Position der praktischen Vernunft im Lehrgebäude des Aristoteles vgl. Friederike Rese: Praxis und Logos bei Aristoteles. Tübingen 2003 (Philosophische Untersuchungen 10), S. 103– 140. 53 So lässt Xenophon seinen Ischomachos erklären: „Es gibt aber […] für die Menschen nichts so Brauchbares und Schönes wie Ordnung.“ Eine Feststellung, die sich in sehr detaillierten Anweisungen des Ischomachos an seine junge Frau niederschlägt: Von den Schuhen über die
1.2 Die Ordnung des Eigenen: Oeconomia in der Frühen Neuzeit
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chen eines Denkens der „organische[n] Finalität“ 54 zugleich als natürliche und als soziale Ordnungseinheit entwirft. Wie er im ersten Buch seiner Politik beschreibt, stellt der Oikos den ersten Ort dar, an dem die ursprünglichen Gemeinschaften der Menschen zu einer sozialen Gemeinschaft organisiert werden. Entsprechend den von der Natur vorgegebenen Herrschaftsverhältnissen üben sich die Hausbewohner – Hausvater, Ehefrau, Kinder und Sklaven – in den Tugenden des Herrschens und Beherrschtwerdens,55 wobei das Haus nicht nur als Ursprung und Teil politischer Ordnung erkannt wird,56 sondern in sich nach dem natürlich-kosmologischen Prinzip der Seelen-Leib-Hierarchie geordnet sein soll.57 In drei Rechtsverhältnissen, die in der lateinischen Tradition Alteuropas als Trias von societas coniugalis (Ehemann-Ehefrau), societas patria (Vater-Kinder) und societas herilis (Vater-Sklaven) überliefert werden,58 präsentiert sich die οἰκονομία bei Aristoteles in diesem Sinne als streng hierarchisch gegliederter Herrschaftsraum, dessen zweckhafte Legitimation die Notwendig-
Kleider bis hin zum Kochgeschirr soll alles im Haus stets an seinem Platz sein. Vgl. Xenophon: Oikonomikós. In: Oikonomia. Quellen zur Wirtschaftstheorie der griechischen Antike. Eingeleitet, hg. und übersetzt von Gert Audring, Kai Brodersen. Darmstadt 2008 (Texte zur Forschung 92), S. 38/39–114/115, hier S. 68/69. Der Text des Xenophon wird bereits Mitte des 16. Jahrhunderts ins Deutsche übersetzt: [Xenophon:] Von der haußhaltung zweyer Eheleuth / sie seyen gleich was Standts sie wöllen / wie sie die narung zuosammen halten sollen / vnd wie sie sich miteinander schicken / jhr guot mehren vnd nit mindern / Damit sie jr hauß weißlich vnd wol regieren mögen. Beschrieben durch Herrn Jeronimum Emßer. Frankfurt a. M.: Simon Hutter, Sigmund Feierabend 1565. Das Zitat findet sich hier auf fol. 27v. 54 Mondzain: Bild, S. 29. 55 So heißt es in der Politik Buch I, Kap. 13, 1260 a 8–20: „Denn auf je andere Weise herrscht das Freie über das, was Sklave ist, und herrscht das Männliche über das Weibliche und herrscht der Mann über das Kind. Und in ihnen allen finden die Seelenteile sich zwar, aber sie finden sich mit Unterschied. Der Sklave hat das Vermögen zu überlegen überhaupt nicht, das Weibliche hat es zwar, aber ohne die erforderliche Entschiedenheit, und das Kind hat es auch, aber noch unentwickelt. Ebenso muß es sich denn auch mit den ethischen Tugenden verhalten. Man hat anzunehmen, daß alle an ihnen teilhaben müssen, aber nicht in derselben Weise, sondern jeder nur soweit, als es für seine besondere Aufgabe nötig ist. Daher muß der Herrschende die ethische Tugend in vollkommenem Maße besitzen […], die anderen aber brauchen sie nur je soweit zu besitzen, als es ihnen zukommt.“ Die Übersetzung nach Aristoteles: Politik. In: ders.: Philosophische Schriften. Bd. 4. Übersetzt von Eugen Rolfes. Darmstadt 1995, S. 28. 56 So Aristoteles in seiner Eudemischen Ethik (VII 10, 1242 b 1): „In der Hausgemeinschaft also (werden) zuerst die Anfänge und Quellen von Freundschaft, Polisordnung und Recht sichtbar.“ Aristoteles: Eudemische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier. Berlin 1962, S. 84. In der Politik betont Aristoteles, dass das Haus bzw. die Familie notwendiger Teil des Staates sei: „[D]enn jeder Staat besteht aus Familien.“ Aristoteles: Politik, S. 6 (I 3, 1253 b 2). 57 Dazu das V. Kap. des ersten Buches der Politik. 58 Vgl. Aristoteles: Politik, S. 6 f. u. S. 89 (I 3, 1253 b 7 ff. u. III 6 1278 b 38 ff.).
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keit menschlich-gemeinschaftlicher „Sorge für den Unterhalt“ 59 ist – ein Ziel, das sich nicht nur mit dem Ideal politischer Autarkie verbindet,60 sondern auch das peripatetische Ethos des „vollkommene[n] Leben[s]“ des Menschen in Haus und Staat impliziert.61 Aufseiten der Beobachtung ökonomischer Praxis schlägt sich die kosmologisch begründete Naturalisierung des οἶκος bei Aristoteles in der normativen Unterscheidung von natürlichen und widernatürlichen Handlungsweisen des Menschen nieder. Dies betrifft insbesondere die für die Reproduktion der ökonomischen Ordnung unverzichtbare Praxis des Erwerbs. Jede Ökonomie, so Aristoteles, setze eine Kunst voraus, die „alle jene Dinge zu beschaffen und zu bewahren [hat], die für die Gemeinschaft in Haus und Staat zum Leben nützlich und notwendig sind“.62 Das Maß für diese Kunst gibt die Natur vor: „Denn was an derartigem [hausgemeinschaftlichem, S. Z.] Besitz erfordert wird, um für ein vollkommenes Leben zu genügen, ist nicht ohne jede Grenze […]. Das Maß ist wohl gesetzt, wie für die anderen Künste ja auch.“ 63 Wo dieses Maß missachtet wird, überschreitet der Mensch die Grenze, die den (natürlichen) Raum der Ökonomie von der schändlichen Sphäre des Widernatürlichen trennt, in dem die nach Geldgewinn strebenden Krämer, Händler und Wucherer operieren.64 Die chrematistische Erwerbskunst, die sie praktizieren, besteht laut Aristoteles allein darin, „daß sie zu ermitteln weiß, wie man möglichst viel Vermögen gewinnt“.65 Wichtig ist, auch hier die Praxisbezogenheit des peripatetischen Konzepts zu registrieren. Als ein aus der „Notwendigkeit des Tauschhandels“ 66
59 Ebd., S. 21 (I 9, 1258 a 15). 60 Dieses identifiziert Aristoteles als eigentliches Ziel der Staatsgemeinschaft: „Endlich ist die aus mehreren Dorfgemeinden gebildete vollkommene Gesellschaft der Staat, eine Gemeinschaft, die gleichsam das Ziel vollendeter Selbstgenügsamkeit erreicht hat, die um des Lebens willen entstanden ist und um des vollkommenen Lebens willen besteht.“ Ebd., S. 4 (I 2, 1252 b 27–30). 61 Ebd., S. 17 (I 8, 1256 b 32–33). 62 Ebd. (I 8, 1256 b 28). 63 Ebd. (I 9, 1256 b 25). 64 Aristoteles greift hier eine Unterscheidung auf – und verstärkt ihren normativen Charakter –, die sich bereits in Platons Nomoi (V 943d 2–6) findet. Dort heißt es, es dürfe in der Polis „weder Gold noch Silber [...] geben [...] noch auch einen bedeutenden Gelderwerb (chrematismos) durch Handwerksarbeit und Wucher oder gar durch das Halten von schimpflichen Herden, sondern nur durch das, was der Landbau hergibt und einbringt, und auch hiervon nur so viel, daß es nicht dazu zwingt, über den Gelderwerb (chrematismenon) das zu vernachlässigen, um dessentwillen es das Geld gibt“. Hier zit. nach Christos P. Baloglou: Die geldtheoretischen Anschauungen Platons. In: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 35 (1994), S. 177–187, hier S. 186 f. 65 Aristoteles: Politik, S. 19 (I 9, 1257 b 5). 66 Ebd. (I 9, 1257 a 30–1257 b 9).
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entstandenes Medium ist das Geld an sich für Aristoteles ethisch indifferent. Zum Symbol der Widernatürlichkeit wird es erst durch das Handeln des Menschen, der es zum finalen Zweck erklärt. Dies gilt zumal für die Wucherer, deren Praktiken, so Aristoteles, „am meisten dem Naturrecht“ zuwiderliefen, da sie „aus dem Gelde selbst Gewinn“ zögen.67 Mit οἰκονομία hat diese Praxis nichts mehr zu tun. Diejenigen, die zu ihrem Vorteil das Geld an die Stelle der Natur setzen, stehen außerhalb der Ordnung und seien daher, wie Aristoteles betont, unter den Menschen „mit vollstem Rechte eigentlich verhaßt“.68 An der Überlieferung des aristotelischen οἰκονομία-Konzepts von der Antike in die Frühe Neuzeit lässt sich die in der jüngeren Wissensgeschichtsschreibung entwickelte These belegen, dass Wissen im Transfer auch dort dynamisiert und transformiert wird, wo die die Überlieferung vollziehenden (und beobachtenden) Akteure – seien es Texte, seien es andere Medien, seien es Institutionen – „die Stabilität der Gegenstände postulier[en] und präsupponier[en]“.69 So kann zwar davon gesprochen werden, dass die von der mittelalterlichen Scholastik auf die gelehrte(n) oeconomia-Tradition(en) der Frühen Neuzeit übergreifende Orientierung am aristotelischen Konzept im Zeichen eines die Unveränderlichkeit des überlieferten Wissens betonenden auctoritas-Bezuges steht.70 Schon für die mit Thomas von Aquin beginnende scholastische Rezeption der aristotelischen Ökonomielehre einerseits, der augustinischen Theorie des Handels andererseits71 lässt sich jedoch zeigen, dass sie die Unterscheidung von Ökonomie
67 Ebd., S. 23 (I 11, 1258 b 5). 68 Ebd., S. 22 (I 10, 1258 b 5). 69 Eva Cancik-Kirschbaum, Anita Traninger: Institution – Iteration – Transfer: Zur Einführung. In: Wissen in Bewegung. Institution – Iteration – Transfer. Hg. von Eva CancikKirschbaum, Anita Traninger. Wiesbaden 2015 (Episteme in Bewegung 1), S. 1–14, hier S. 2. 70 Die vielschichtig verlaufende Rezeption der aristotelischen Politik und pseudo-aristotelischen Ökonomik in Mittelalter und Früher Neuzeit dokumentieren die Sammelbände: Alexander Fidora u. a. (Hg.): Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2007 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 23); Christoph Horn, Ada NeschkeHentschke (Hg.): Politischer Aristotelismus. Die Rezeption der aristotelischen ‚Politik‘ von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 2008. Zum Zusammenhang von Protestantismus und politischem Aristotelismus vgl. die klassische Studie von Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die ‚Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575–1636). Wiesbaden 1970 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 55). Eine Untersuchung, die sich besonders auf den Transfer (pseudo-)aristotelischen oeconomia-Wissens von der Antike in die Frühe Neuzeit konzentriert, liegt nicht vor. Hier ist von einem Forschungsdesiderat zu sprechen. 71 Laut Augustinus ist der Handel als Praxis soweit gerechtfertigt, wie er dem Austausch von Waren zwischen Orten des Mangels und Orten des Überflusses dient. Dabei darf der Händler auch einen dem betriebenen Aufwand und seinem Stand gemäßen Gewinn machen. Selbstverständlich sieht Augustinus aber die Gefahr, dass sich das Gewinnstreben im Handel verselb-
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und Chrematistik nicht übernimmt, ohne den Verlauf der Grenze zwischen erlaubten und verbotenen Praktiken in oft mikrologisch verlaufenden Denkoperationen neu zu verhandeln.72 Beispielhaft hierfür stehen geldtheoretische Abhandlungen wie Nikolaus? von Oresme Tractatus de origine, natura, jure et mutationibus monetarum (1358), in dem aristotelische, aber auch thomistische Positionen der Geld- und Zinslehre überprüft und verschoben werden,73 aber auch ökonomische Schriften wie Konrads von Megenberg Yconomica (1353/54), in der nicht nur die Hauswirtschaft, sondern – bei allen Vorbehalten im Einzelnen – auch die ars mercatoria, der Handel, als gemeinnützliche Praxis betrachtet wird.74 Ob und inwieweit solche Wissensbewegungen an der Grenze von Ökonomie und Chrematistik als Anzeichen dafür zu deuten sind, dass die Autoren des 13., 14. und 15. Jahrhunderts – zu nennen wären hier neben Oresme und Konrad auch etwa Brunetto Latini,75 Aegidius Romanus,76 Bernhardin von
ständigt. In diesem Fall ist das Seelenheil des Händlers bedroht, da die Fixierung auf das Irdische mit dem augustinischen Konzept des homo interior, der sich auf Gott besinnt, nicht vereinbar ist. Zu Augustinus’ Position vgl. Skip Worden: Godliness and Greed. Shifting Christian Thought on Profit and Wealth. Lanham, Maryland u. a. 2010, S. 25–57. 72 Zur Rezeption der aristotelischen Ökonomielehre in Thomas? von Aquin Summa Theologica (1265/1266–1273) vgl. Peter Koslowski: Die Ordnung der Wirtschaft. Studien zur Praktischen Philosophie und Politischen Ökonomie. Tübingen 1994, S. 64–88. Zur Scholastik insgesamt Edmund Schreiber: Die volkswirtschaftlichen Anschauungen der Scholastik seit Thomas v. Aquin. Jena 1913 (Beiträge zur Geschichte der Nationalökonomie 1); Joseph Höffner: Statik und Dynamik in der scholastischen Wirtschaftsethik. Köln, Opladen 1955; Odd Langholm: Economics in the Medieval Schools: Wealth, Exchange, Value, Money and Usury According to the Paris Theological Tradition, 1200–1500. Leiden u. a. 1992. 73 Nikolaus diskutiert die Frage, welchen Nutzen das Geld für die menschliche Gemeinschaft hat, und kommt dabei zu (partiell) anderen Antworten als die Autoritäten, auf die er sich bezieht. Dazu Susan M. Babbitt: The ‚livre de politique‘ of Nicole Oresme and the political thought and political development of the fourteenth century. Ithaca, NY 1977; dies.: Oresme’s ‚livre de politique‘ and the France of Charles V. Philadelphia, PA 1985; Hendrik Mäkeler: Nicolas Oresme und Gabriel Biel. Zur Geldtheorie im späten Mittelalter. In: Scripta Mercaturae. Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialgeschichte 37 (2003), S. 56–94. 74 Dazu Gisela Drossbach: Die ‚Yconomica‘ des Konrad von Megenberg. Köln u. a. 1998 (Norm und Struktur 6). 75 Brunetto Latini (um 1230–1294), dessen Livres dou Tresor in Teilen eine Übersetzung der Nikomachischen Ethik des Aristoteles enthalten, wird von Eric MacGilvray (The Invention of Market Freedom. Cambridge 2011, S. 88) attestiert, er habe zu den ersten Denkern gehört, bei denen „efforts to detach questions of political economy from the moral and theological framework in which they had traditionally been embedded [...]“ zu beobachten seien. 76 Aegidius Romanus (1243–1316), einem überzeugten, in Paris geschulten Aristoteliker, bescheinigt Irmintraut Richarz (Oikos, Haus und Haushalt. Ursprung und Geschichte der Haushaltsökonomik. Göttingen 1991, S. 51), dass er „Aristoteles’ Vorbehalte gegenüber einem unbe-
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Siena77 oder Antoninus von Florenz78 – darum bemüht sind, Antworten auf den von Le Goff beschworenen spätmittelalterlichen Aufstieg des Handels zu liefern, ist aus wissenshistorischer Sicht kaum zu entscheiden.79 Sicher kann aber gesagt werden, dass der im Transfer vollzogene, wie auch immer kleinteilige, Umbau des aristotelischen oeconomia-Wissens in den Schriften regelmäßig gerade dort einsetzt, wo es um die Abstimmung der raumzeitlichen Organisation des Systems Haus auf seine Umwelt, den Markt, geht. Thesenhaft ließe sich hier von Prozessen der Dynamisierung des System-Umwelt-Verhältnisses sprechen: Je mehr Elemente, die zum Eigenen des Systems gehören (Personen, Dinge, Kapital), sich nicht mehr nur in der stabilen, weil natürlichen Raumzeitlichkeit der aristotelischen oeconomia, sondern auch in der (relativ) kontingenten varietas temporum et locorum des Marktes bewegen,80 grenzten Streben nach Reichtum und Besitz, Zins und Wucher respektiert, jedoch in der Behandlung dieser Themen und mit seiner Interpretation andere Akzente setzt.“ Namentlich geht es ihm um die (partielle) Anerkennung von Tätigkeiten, die zum Zweck der Existenzsicherung auf Geldgewinn zielen (wie u. a. der Handel). 77 Berhardins von Siena (1380–1455) Schriften enthalten neben detaillierten Überlegungen zu den Kategorien Preis und Zins auch eine Abhandlung zu den Sitten der Kaufleute (De moribus et vita recti et veri mercatoris). Dazu Eugen Leitherer: Geschichte der handels- und absatzwirtschaftlichen Literatur. Köln, Opladen 1961, S. 19. 78 Antoninus von Florenz (1389–1459), Bischof der Medici-Stadt, setzt sich in seiner Summa Theologica differenziert mit den verschiedenen Handelspraktiken auseinander und legt dabei eine Analyse der Beziehungen von Kapital, Zins und Profit vor, die von Wirtschaftshistorikern wie Sombart oder Schumpeter als Prunkstück scholastischer Geldlehre identifiziert wurde. Vgl. Wilhelm Sombart: Der Bourgeois. München, Leipzig 1913, S. 320; Joseph A. Schumpeter: History of Economic Analysis. Hg. von Elizabeth Boody Schumpeter. London 1954, S. 95–107. Raymond de Roover (La pensée économique des scolastiques: doctrines et méthodes. Montréal u. a. 1971, S. 49) hat dagegen nachgewiesen, dass Antoninus in seiner Geld- und Zinslehre weitgehend auf Schriften des Petrus Johannis Olivi (1247/1248–1296/1298), eines Schülers des Bonaventura, zurückgreift. Ein schönes Beispiel für die Verführungskraft teleologischer Geschichtsnarrative: Weil Antoninus gut anderthalb Jahrhunderte nach Olivi im Florenz der Medici gewirkt hat, wurde nach Traditionen oft gar nicht erst gefragt. Stattdessen mussten seine Positionen aus der Sicht der Wirtschaftshistoriker Signifikanz besitzen für den ‚Epochenübergang‘ vom Mittelalter zur Renaissance. Sein Werk stelle, so liest man bei Edgar Salin (Geschichte der Volkswirtschaftslehre. 3. erw. Aufl. Bern 1944, S. 49), „die Wirtschaftssumma der Frührenaissance, das abschließende Werk der Scholastik“ dar. 79 Hierzu bedarf es einer die politisch-sozialen, institutionellen und mentalitären Faktoren der Wissensbewegung einbeziehenden Analyse, die an dieser Stelle nicht zu leisten ist. Vgl. Jacques Le Goff: Temps de l’église et temps du marchand. In: Annales ESC 15 (1960), S. 417– 433; ders.: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Aus dem Französischen von Matthias Rüb. Stuttgart 1988; ders.: Geld im Mittelalter. Aus dem Französischen von Caroline Gutberlet. Stuttgart 2011. 80 Die Vermutung, dass Natur und Markt zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit in ein Spannungsverhältnis treten, erhärtet sich mit Blick auf wirtschaftshistorische Untersuchungen. So
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desto unverzichtbarer ist die Beobachtung der temporalen Struktur des ökonomischen Systems und seiner Umwelt. Dies gilt für die scholastischen und spätscholastischen81 Lehren von Geld, Zins und Handel, in denen die Schnittstellen zwischen der außerökonomischen und der innerökonomischen Distribution wertvoller Dinge beleuchtet werden. Dies gilt aber auch (und erst recht) für das Ökonomieverständnis humanistisch geprägter Autoren der Zeit, die, wie Leon Battista Alberti, die Ordnung des Haushaltes als eine Zeitkunst senecäischen Zuschnitts auffassen.82 Wurde in der Forschung gerade Albertis Della famiglia dabei als Dokument eines Traditionsbruches gedeutet – eine Einschätzung, die sich auf die im Text zu beobachtende Verschmelzung des uomo economo mit dem nach Gewinn strebenden, seine Zeit als Eigentum betrachtenden Kaufmann stützt(e) –,83 so darf doch nicht übersehen werden, dass weite Teile der Schrift davon handeln, wie eine „urban family can sustain itself without spending its cash reserves – by buying country estates that can provide such necessities as grain, wine, wood, straw, poultry, and fish.“ 84 Das Haus, anders geschreibt Wolf-Hagen Krauth: „Neben die Natur ist [im Spätmittelalter, S. Z.] ein neuer, mit den Menschen und ihrem Handeln in enger Beziehung stehender Faktor getreten, der zur Folge hat, daß die Preise von Waren, die ausgetauscht werden, variieren: der ‚Markt‘. Die diversitas loci et temporis konkretisiert sich in der unterschiedlichen Warenmenge, der stets wechselnden und ungleichen Zahl von Käufern oder Verkäufern auf städtischen Märkten oder Messen, einem Potential also, das Identität von Preisen zum Zufall und ihre Verschiedenheit sowohl regional als auch zeitlich Notwendigkeit werden läßt.“ Wolf-Hagen Krauth: Wirtschaftsstruktur und Semantik: Wissenssoziologische Studien zum wirtschaftlichen Denken in Deutschland zwischen dem 13. und 17. Jahrhundert. Berlin 1984, S. 31. 81 Zur Spätscholastik des 16. und frühen 17. Jahrhunderts vgl. den informativen Artikel von Wolf-Hagen Krauth: Spätscholastik/Wirtschaftslehre. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. Friedrich Jaeger. Bd. 12: Silber – Subsidien. Stuttgart, Weimar 2010, Sp. 310–316. 82 Dazu Harald Weinrich: Knappe Zeit: Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens. München 2004, S. 27–31. Der oft zitierte Kernsatz aus Albertis Dialog Della famiglia (1437–1441) lautet: „Per questo, figliuoli miei, si vuole observare il tempo, et secondo il tempo distribuire le cose, darsi alle faccende, mai perdere una ora di tempo.“ Leon Battista Alberti: I primi tre Libri della Famiglia. Hg. von Francesco Carlo Pellegrini, Raffaele Spongano. Florenz 1946, S. 255. Trotz ihrer herausragenden Bedeutung für die Ökonomiegeschichtsschreibung darf die frühneuzeitliche Wirkmacht von Albertis Schrift nicht überschätzt werden: Sie zirkulierte lange Zeit nur als Manuskript, der erste Gesamtdruck erfolgte erst im 19. Jahrhundert. Ich führe sie hier an, weil sie in besonderer Weise Gegenstand moderner Frühneuzeitdeutung geworden ist. An ihr lassen sich die Verwerfungen des teleologischen Geschichtsdiskurses gut aufzeigen. 83 So Berndt Tschammer-Osten: Der private Haushalt in einzelwirtschaftlicher Sicht. Prolegomena zur einzelwirtschaftlichen Dogmengeschichte und Methodologie. Berlin 1973, S. 86. Die mit Namen wie Sombart, Weber, Braudel und Egner verbundene Geschichte der AlbertiDeutungen mit diesem Tenor vollzieht Richarz: Oikos, S. 62 f., nach, kommt indes nicht umhin, Alberti selbst in die Teleologie der ‚Großen Transformation‘ (Polanyi) einzuspannen. 84 Anthony Grafton: Leon Battista Alberti: Master Builder of the Italian Renaissance. New York 2000, S. 186.
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sagt, ist für Alberti kein Ort chrematistischer Risikobereitschaft. Es ist der Ort des Eigenen der Familie, an dem die kontingente Zirkulation der Dinge, ihr Auftauchen und Verschwinden in der vom Treiben der Fortuna gekennzeichneten (Um-)Welt, in eine vom Hausvater beherrschte, raumzeitlich stabile Ordnung überführt werden kann. In seiner von der bereits antiken Stadt-Land-Dualität ausgehenden, humanistisch geschulten Beobachtung des Hauses gehört Albertis Text zweifellos in eine spezifische, von den sozialen, politischen und geographischen Bedingungen des patrizischen Lebens in Florenz geprägte Konstellation der Geschichte ökonomischen Wissens.85 Dennoch lassen sich von ihm ausgehend recht gut die wesentlichen Struktureigenschaften aufweisen, die die überwiegend volkssprachlich überlieferte Ökonomieliteratur der Frühen Neuzeit insgesamt kennzeichnen. Sie seien unter den Begriffen Wissensintegration und Instruktivität im Folgenden kurz skizziert.86 Typisch für die Ökonomieliteratur der Frühen Neuzeit ist demnach erstens der Einbau verschiedenster Wissensbestände in die Wissensordnung des Hauses. Dieser geschieht auf Grundlage eines Verfahrens der Selektion, das sich am Kriterium der Nützlichkeit des Wissens ausrichtet. Nur demjenigen Wissen wird sein Platz im ökonomischen Wissensraum zugewiesen, das zur Bewältigung der Aufgabe der Organisation, Stabilisation und Reproduktion des Systems Haus in seinen verschiedenen Bereichen tauglich ist.87 Wichtig ist, auch hier die Differenz zwischen den Ebenen des Systemaufbaus wahrzunehmen. Wie das Beispiel
85 Vgl. ebd., S. 154 f. 86 In diesem Systematisierungsversuch orientiere ich mich an Helga Brandes, die insgesamt allerdings vier Charakteristika der Ökonomieliteratur aufzählt: 1. ‚Oikozentrische‘ Sicht, 2. Integration der Diskurse, 3. Lehrhaftigkeit, 4. Komplexes Welt- und Menschenbild. Vgl. Helga Brandes: Das ökonomische Wissen zur Zeit Grimmelshausens. In: Simpliciana 26 (2004), S. 283–296, hier S. 285 f.; ebenso Helga Brandes: Frühneuzeitliche Ökonomieliteratur. In: Die Literatur des 17. Jahrhunderts. Hg. von Albert Meier. München 1999 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart 2), S. 470–484, hier S. 472 f. Punkt 1 und 4 des von Brandes entwickelten Katalogs lassen sich, meines Erachtens, unter die Punkte 2 und 3 subsumieren. Insbesondere scheint mir das komplexe Welt- und Menschenbild der Schriften kein Merkmal auf erster Ebene, sondern – als Effekt der Diskurs- bzw. Wissensintegration – eines auf zweiter Ebene zu sein. 87 Dies zu illustrieren, sei einer der unzähligen Titel angeführt, die den Nützlichkeitsaspekt betonen; in diesem Fall handelt es sich um eine deutsche Schrift des späteren 17. Jahrhunderts: Georg Andreas Böckler: Nützliche Hauß= und Feld=Schule/ Das ist: Wie man ein Land=Feld= Guth und Meyerey mit aller Zugehöre; Als da seynd die nothwendige Gebäu/ vollkommene Haußhaltung/ allerley Viehzucht/ Ackerbau/ Wiesen/ Gärten/ Fischereyen/ Waldungen und dergleichen mit Nutzen anordnen solle [...]. [...] an den Tag gegeben Durch Georg Andream Böckler [...]. Nürnberg: Paul Fürst 1678. (Hervorheb. S. Z.)
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Alberti zeigt – das in diesem Fall auf ein nahezu flächendeckendes Phänomen verweist –, definieren die aristotelische Hierarchie der Hausbewohner in den societates oeconomiae einerseits, das ebenfalls aristotelische Konzept der natürlichen Temporalität der Ökonomie andererseits eine epistemische Struktur, die im Wissenstransfer als stabiles Element iteriert wird.88 Zur Integration fremden Wissens89 kommt es in den Schriften entsprechend auch (eher) nicht auf dieser epistemischen Ebene, sondern auf der des – von Aristoteles so genannten – phronetischen Wissens, das die Handhabung der Ökonomie im empirischen Raum der Welt betrifft. Vor allem zwei Traditionen sind dabei von Bedeutung. Zum einen greift die frühneuzeitliche Ökonomieliteratur auf Bestände eines praktischen Erfahrungswissens zu, das seit dem Mittelalter im (relativ offenen) Rahmen der artes mechanicae-Tradition überliefert wurde.90 Zum anderen – und hierfür ist Alberti ein gutes Beispiel – wird Wissen aus den Schriften der sich auf Xenophon berufenden römischen scriptores rei rusticae Cato d. Ä., Varro, Columella und Palladius in die Texte transferiert.91 Kennzeichen dieser
88 Dass dies nicht gleichbedeutend sein muss mit dem Nichtstattfinden von Wissenswandel, betonen, wie erwähnt, Cancik-Kirschbaum, Traninger: Institution. 89 Unter fremdem Wissen soll hier ein Wissen verstanden werden, das nicht von vornherein Gegenstand des die epistemische Struktur des Hauses garantierenden iterativen Wissenstransfers ist. Der Wegfall eines solchen Wissenselements, mit anderen Worten, gefährdet die Stabilität der Wissensinstitution Haus nicht. Umgekehrt kann sein Hinzukommen aber deren funktionale Komplexität erweitern. Je nachdem, welche Areale betroffen sind, ergeben sich weitreichende Beziehungen zwischen der epistemischen und der phronetischen Struktur frühneuzeitlicher oeconomia. 90 Die Ökonomieliteratur der Frühen Neuzeit, so formuliert Münch, nimmt „die Reihe der ‚artes mechanicae‘ in sich auf[ ].“ Paul Münch: Art. ‚Hausväterliteratur‘. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Neu bearbeitet und unter redaktioneller Mitarbeit von Klaus Kanzog sowie Mitwirkung zahlreicher Fachgelehrter hg. von Werner Kohlschmidt, Wolfgang Mohr. Bd. 1: A–K. Berlin, New York 1988, S. 621–623, hier S. 621. Es gilt hier freilich, dass die ‚unfreien‘ Künste nicht alle gleichermaßen relevant sind für die ökonomischen Texte. Unter den nach dem Katalog Hugos von St. Viktor zu unterscheidenden artes mechanicae sind es vor allem die Kunst der agricultura, der venatio, der medicina, der architectura und des lanificium, die in der frühneuzeitlichen Ökonomieliteratur regelmäßig behandelt werden. Zu den artes mechanicae als Gegenstand des mittelalterlichen Wissenswandels vgl. Christel Meier-Staubach: Der Wandel der Enzyklopädie des Mittelalters vom ‚Weltbuch‘ zum Thesaurus sozial gebundenen Kulturwissens: am Beispiel der Artes mechanicae. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit. Beiträge zu ihrer Erforschung. Hg. von Franz M. Eybl u. a. Tübingen 1995, S. 19–42. 91 Zu Albertis Rezeption der römischen Autoren vgl. Francesco Sberlati: Rerum rusticarum scriptores in Alberti. In: Leon Battista Alberti e la tradizione. Per lo ‚smontaggio‘ dei mosaici albertiani. Atti del convegno internazionale del Comitato Nazionale VI Centenario della Nascita di Leon Battista Alberti, Arezzo, 23–25 settembre 2004. A cura di Roberto Cardini. Florenz 2008 (Strumenti 4), S. 153–175.
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Schriften ist ihre enzyklopädische Vorgehensweise im Zeichen einer an Profitmaximierung orientierten ökonomischen Praxis. So findet der Leser namentlich in Columellas De re rustica libri XII (1. Jh. n. Chr.) eine außergewöhnliche Vielzahl von Praktiken vorgestellt – die Spanne reicht von der Viehzucht bis zum Acker- und Weinbau, von der Verwaltung und Ausstattung des Hauses bis zur Versorgung der Sklaven, von der Konservierung von Lebensmitteln bis zur Bereitung von Medizin und von der Diätetik bis zu hilfreichen Zaubersprüchen –, wird zugleich jedoch auf Schritt und Tritt daran erinnert, dass die enzyklopädische Aufführung dieser Praktiken „nicht durch das reine Bedürfnis nach einer möglichst umfassenden Katalogisierung von Wissensbeständen motiviert [ist], sondern primär durch den sich daraus ergebenden Informationsgewinn für den Benutzer der Lehrschrift, der seinem ökonomischen Profit dienen soll“.92 Wo dieser Aspekt, das Profitstreben als primäre Handlungsmotivation des pater familias, aus den römischen Texten in die vom aristotelischen Mäßigungskonzept geprägten Teile der frühneuzeitlichen Ökonomieliteratur Einzug hält, entstehen Spannungspotenziale, die sich in Aushandlungsprozessen intra- und intertextueller Art niederschlagen können. Welcher Geltungsanspruch dabei als valide erkannt wird bzw. ob und mit welchem Ergebnis in den Texten eine Abstimmung zwischen den Traditionen unternommen wird, ist in der – hier nicht anzustellenden – Analyse einzelner Schriften und intertextueller Konstellationen jeweils zu prüfen. Das zweite wesentliche Merkmal frühneuzeitlicher Ökonomieliteratur ist ihre Instruktivität. Diese äußert sich auf formaler Ebene in einer die gesamte Faktur der Texte prägenden „didaktische[n] Struktur“.93 Durch „klare Übersichten über den Inhalt, die den Büchern bzw. Kapiteln vorausgeschickte[n] Zusammenfassungen, Marginalen, Sachregister, typografische[n] Hervorhebungen, Illustrationen (z. B. Kräuterabbildungen; anatomische Zeichnungen)“ 94 wird von den Autoren und Verlegern einer konsultativen, sachorientierten Benutzung Vorschub geleistet, deren zeitgenössisches Stattfinden etwa für den bedeutendsten deutschsprachigen Text, Johann Colers Oeconomia (12 Bücher; 1593–1601), auch belegt ist.95 Der didaktische Anspruch prägt aber auch die diskursive Struktur der
92 Thorsten Fögen: Wissen, Kommunikation und Selbstdarstellung. Zur Struktur und Charakteristik römischer Fachtexte der frühen Kaiserzeit. München 2009, S. 168. Eine Studie, die sich auf die res rusticae-Literatur konzentriert, hat Silke Diederich vorgelegt. Vgl. dies.: Römische Agrarhandbücher zwischen Fachwissenschaft, Literatur und Ideologie. Berlin 2007. 93 Brandes: Das ökonomische Wissen, S. 285. 94 Ebd. 95 Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von Philip Hahn: Das Haus im Buch. Konzeption, Publikationsgeschichte und Leserschaft der ‚Oeconomia‘ Johann Colers. Epfendorf 2013.
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Schriften. Dies zeigt sich insbesondere dort, wo diese das für die Haushaltung relevante Wissen nicht nur lehrhaft aufbereiten, sondern typischerweise auch die Bedingungen des Wissenstransfers selbst beobachten. Hierbei kommt der Instanz des pater familias die entscheidende Rolle zu. Wie bei Alberti und Coler zu sehen, inszenieren die ökonomischen Schriften der Frühen Neuzeit den Hausvater als eine Art personalen Wissensspeicher, ohne den die Übertragung des Wissens – vom Vater auf den Sohn, aber auch vom Text auf den Leser – nicht denkbar ist.96 Je nach Kontext kann die patriarchale Autorität dabei unterschiedliche Aufgaben übernehmen. Eine wichtige Funktion hat sie, erstens, im Bereich der Vermittlung derjenigen Elemente ökonomischen Wissens, die auf die Erfahrung, die experientia, des Hausvaters zurückgeführt werden. Insgesamt ist für die Ökonomieliteratur ein ausgeprägtes Bewusstsein für den Unterschied von gelehrtem Buch- und praktischem Erfahrungswissen kennzeichnend. So ist es bei Alberti nicht zufällig der illiterate, sich (angeblich) allein auf seine esperienza verlassende Giannozzo, der das zur Haushaltung nötige Wissen an seinen Sohn Lionardo weitergibt.97 Und auch bei Coler wird der Leser daran erinnert, dass es „gar offten“ vorkomme, „das ein schlechter Haußwirt / ja ein schlechter Ackerman [...] / so weder schreiben oder lesen können / [...] ex antecedentibus experientijs, in jhren sachen / wol so nahe / vnd viel neher / zum ziel schiessen / als jrgent ein Gelerter [...].“ 98 In beiden Fällen ist das Wissen von seinem personalen Träger nicht zu lösen; soll es übertragen werden, ist die Präsenz des Wissenden, des Hausvaters, im Diskurs- und Handlungsraum erforderlich. Von mindestens ebenso großer Bedeutung ist die patriarchale Autorität, zweitens, beim Transfer moralisch-religiösen Wissens. Schon bei Aristoteles ist der Vater als Seele des Hauses zuständig für die Unterweisung, Ermahnung und Bestrafung der in hierarchischer Abstufung zum Körper der οἰκονομία gehörenden Ehefrau, der Kinder und des Gesindes.99 In den Texten der Frühen Neuzeit
96 Im dritten Buch von Albertis Della famiglia, das einen Gutteil der Haushaltslehren enthält, gibt der Vater Giannozzo sein Wissen per Dialog an seinen Sohn Lionardo weiter. Bei Coler ist es der Autor selbst, der das Wissen – hier handelt es sich um das Manuskript für die Oeconomia – von seinem Vater erhält, ergänzt und an den Leser weitergibt. 97 Vgl. Francesco Tateo: ‚Dottrina‘ ed ‚esperienza‘ nei libri della ‚Famiglia‘ di L. B. Alberti. In: ders.: Tradizione e realtà nell’Umanesimo italiano. Bari 1967, S. 279–318. 98 Johann Coler: Calendarium Perpetuum, Et Sex Libri Oeconomici […]. Jetzo Auffs New mit sonderbarem hohen Fleiß vom Authore selbst vbersehen vnd vermehret […]. Wittenberg: Paul Helwig 1627, fol. Aiijr. 99 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass mit Aristoteles’ Festschreibung der Prädominanz des Mannes gegenüber der Frau für die alteuropäische Tradition ein kaum je infrage gestelltes Modell der Geschlechterdifferenz vorgegeben ist. Allerdings sind die Konzepte, die sich mit dieser Hierarchie verbinden, differenziert zu betrachten. So empfiehlt Aristoteles etwa, dass
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findet sich dieses Konzept ubiquitär wieder, allerdings erscheint das Angebot entsprechend funktionalisierter Lehren wesentlich erweitert. Dies hat seine Gründe zumal in der Einspeisung jüdischen und christlich-theologischen Wissens in die oeconomia-Tradition(en) von der Antike bis in die Konfessionalisierungsdynamiken des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Transferprozesse, die diese Einspeisung ermöglichen, sind vielschichtig und hier daher nur kursorisch nachzuvollziehen. Zum einen ist zu beobachten, dass frühneuzeitliche Texte moralisch-religiöses Wissen aus der christlich tradierten Weisheitsliteratur der jüdischen Antike beziehen, wobei sich neben dem alttestamentarischen Buch Kohelet vor allem das auf Fragen der Haushaltsführung eingehende, die patriarchale Autorität unterstreichende deuterokanonische Buch Jesus Sirach als stabile Rekursbasis erweist.100 Zum anderen spielen in der frühneuzeitlichen Tradition Konzepte der Theologisierung des antiken oeconomia-Modells eine Rolle, wie sie, im Anschluss an die hellenistisch-stoische λόγος-Philosophie, in Paulus’ Epheserbrief (Eph. 1,9 f.) sowie in der alexandrinischen Patristik, etwa bei Clemens von Alexandria, Origenes und Athanasios, zu finden sind.101 Kennzeichnend für diese Konzepte ist die Vorstellung, dass Gott als kluger Öko-
der Mann die Frau in der Ehe eher wie ein Staatsmann regiert – d. h. politische Strategien wählt –, während Kinder und Gesinde despotisch zu beherrschen seien. Außerdem kommen auch der Frau Aufgaben bei der Erziehung der Kinder (vor allem der Töchter) und in der Verwaltung des Hauses zu. Zum gender-Aspekt bei Aristoteles vgl. Sabine Föllinger: Differenz und Gleichheit. Das Geschlechterverhältnis in der Sicht griechischer Philosophen des 4. bis 1. Jahrhunderts v. Chr. Stuttgart 1996, S. 182–227. 100 Dies gilt insbesondere mit Blick auf frühneuzeitliche Ehelehren, in denen – unabhängig von der jeweils vertretenen Konfession – in hoher Frequenz auf die Weisheiten des Ecclesiasticus (Jesus Sirach) verwiesen wird. Vgl. dazu etwa Erika Kartschoke (Hg.): Repertorium deutschsprachiger Ehelehren der Frühen Neuzeit. Bd. 1,1. Berlin 1996 (weitere Bände sind leider nicht erschienen). Außerdem Rüdiger Schnell (Hg.): Text und Geschlecht. Mann und Frau in Eheschriften der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1997; ders.: Frauendiskurs, Männerdiskurs, Ehediskurs. Textsorten und Geschlechterkonzepte in Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a. M. 1998; ders. (Hg.): Geschlechterbeziehungen und Textfunktionen. Studien zu Eheschriften der frühen Neuzeit. Tübingen 1998. Zum Buch Jesus Sirach selbst vgl. Oda Wischmeyer: Die Kultur des Buches Jesus Sirach. Berlin, New York 1995 (Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche 77). 101 Die Geschichte der philosophischen und theologischen Verwendung des Begriffes οἰκονομία in der stoischen und christlichen Tradition der Spätantike ist gut erforscht. Vgl. Gerhard Richter: Oikonomia. Der Gebrauch des Wortes Oikonomia im Neuen Testament, bei den Kirchenvätern und in der theologischen Literatur bis ins 20. Jahrhundert. Berlin, New York 2005 (Arbeiten zur Kirchengeschichte 90); Hans-Jürgen Horn: Oikonomía. Zur Adaption eines griechischen Gedankens durch das spätantike Christentum. In: Ökonomie. Sprachliche und literarische Aspekte eines 2000 Jahre alten Begriffes. Hg. von Theo Stemmler. Tübingen 1985 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 6), S. 51–58.
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nom den Schöpfungs- und Heilsplan weise eingerichtet habe (dispositio) und bis zum Ende der Zeit tätig verwalte (dispensatio/distributio), während der Mensch die oeconomia divina als ganze niemals überblicken könne, sondern auf sein gläubiges Vertrauen in die göttliche Fürsorge angewiesen bleibe.102 Unterstützung findet der Gläubige dabei in der in Christus verkörperten Offenbarung, durch die Gottvater, wie es bei Paulus heißt, „uns [hat] wissen lassen das Geheimnis seines willens / nach seinem wolgefallen / Vnd hat dasselbige erfür gebracht durch jn / das es geprediget würde / da die zeit erfüllet war [εἰς οἰκονομίαν τοῦ πληρώματος τῶν καιρῶν]“.103 Blickt man auf die nach-antike Rezeption dieses Modells, so wird seine Bedeutung etwa für die katholischaltgläubige Heils- und Almosentheologie deutlich; die in ihr entwickelte Vorstellung, dass die ungleiche Verteilung irdischen Reichtums von Gott vorgesehen ist, weil sie dem Frommen die Gelegenheit entweder zur Demut oder zur milden Gabe – in beiden Fällen aber das Tor zum Heil – eröffnet, übersetzt das Modell der oeconomia divina in eine (Gnaden-)Theologie der Werkgerechtigkeit, in deren Zentrum das vom christlichen Barmherzigkeitsparadigma bestimmte Handeln des Menschen steht.104 Beide Aspekte des Transfers religiösen Wissens, die Überlieferung moraltheologischer Lehren aus dem jüdisch-christlichen Schrifttum und die Theologisierung der oeconomia als Modell, kommen in der frühneuzeitlichen Ökonomieliteratur dort zusammen, wo es um die Profilierung des Hauses als Raum moralisch-religiöser Unterweisung geht. Entsprechende Konzepte finden sich in allen Segmenten des sich im 16. Jahrhundert differenzierenden konfessionellen Spektrums. So werden in Texten, die dem katholischen Bereich zuzuordnen sind, mittelalterliche Traditionen der Hauskatechese iteriert,105 zugleich aber auch Impulse zur religiösen Aufwertung der oeconomia aufgegriffen, wie sie für
102 Dazu auch Mondzain: Bild, S. 31–78. 103 Eph. 1,9–10, hier zit. nach dem Wortlaut der Luther-Bibel, Ausgabe letzter Hand (Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther. Studienausgabe. 2 Bde. Hg. von Hans-Gert Roloff. Stuttgart 1989, Bd. 1, S. 525); den griechischen Text gemäß Novum Testamentum Graece Et Latine (Nestle-Aland). Hg. und mit kritischem Apparat versehen von Barbara Aland, Kurt Aland. Stuttgart 1984, S. 504. 104 Zum spätantiken Kontext christlicher Almosentheologie vgl. Richard Finn: Almsgiving in the later Roman Empire. Christian Promotion and Practice (313–450). Oxford 2006. Die mittelalterliche und frühneuzeitliche Debatte erfasst Andreas Keck: Das philosophische Motiv der Fürsorge im Wandel. Vom Almosen bei Thomas von Aquin zu Juan Luis Vives’ ‚De subventione pauperum‘. Würzburg 2010 (Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und sozialen Pastoral 25). 105 Vgl. Eugen Paul: Geschichte der christlichen Erziehung. 2 Bde. Bd. 1: Antike und Mittelalter. Freiburg i. B. u. a. 1993, S. 267–275.
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das nachtridentinische, von jesuitischen Initiativen geprägte Diskursumfeld der ‚Gegenreformation‘ typisch sind.106 Über diese Tendenzen hinaus – und z. T. auch in gezielter Abgrenzung von ihnen – kommt es in der deutschsprachigen, überwiegend lutherisch geprägten Ökonomieliteratur des 16. und 17. Jahrhunderts zu einer Aufladung des Hauses mit „ekklesiale[n] Funktionen“.107 Voraussetzung dafür ist die Orientierung der Schriften an Luthers Drei-Stände-Lehre. Anders als im traditionellen status-Modell, das Person und Stand in eine einstellige Relation setzt – der Priester vertritt den Betstand, der Adlige den Wehrstand, der Bauer den Nährstand –, ist in Luthers Entwurf die Teilhabe einer Person an allen drei Ständen möglich.108 Gerade der Bauer ist hierfür ein gutes Beispiel. Als verheirateter Mann, der die Familie mit Nahrung, Kleidung und sonstigen Gütern versorgt, gehört er dem status oeconomicus zu; als Hausvater, der die Familie regiert und damit, gut aristotelisch, zur Stabilität der politia beiträgt, partizipiert er am status politicus; als christlicher Hausvorstand, der die Familie, insbesondere die Kinder, katechetisch unterweist, hat er am status ecclesiasticus teil, der als Stand des ‚geistlichen‘ Reiches Gottes den auf das ‚leibliche‘ Reich beschränkten Ständen der Ökonomie und Politik theologisch vorgeordnet ist.109 Im Zuge dieser Sakralisierung des Hauses verschieben sich 106 Vgl. Eugen Paul: Geschichte der christlichen Erziehung. 2 Bde. Bd. 2: Barock und Aufklärung. Freiburg i. B. u. a. 1995, S. 105–114 und 195–201. Ein typisches Beispiel für die nachtridentinische Ökonomieliteratur im deutschsprachigen Raum stellt die Haußpolicey (1602) des Münchener Hofbibliothekars Aegidius Albertinus dar, die in Kap. 2 und 3 vorliegender Studie genauer zu thematisieren sein wird. 107 Richarz: Oikos, S. 106. Reformatorische Antworten auf die – bereits mittelalterliche – Frage nach der häuslichen Katechese sind durch ein klares Bewusstsein für die Möglichkeiten gekennzeichnet, die die Zusammenstellung eines Kanons von moralisch-theologischen Lehren für den Hausgebrauch mit sich bringt. Das beste Beispiel hierfür ist Luthers ‚Haustafel‘, die ab 1529 den Ausgaben des sogenannten ‚Kleinen Katechismus‘ angehängt wird. Sie stellt eine Kompilation von relevanten Stellen aus den Apostelbriefen, insbesondere aus Eph. 5,22–6,5 und Kol. 3,18–4,1, dar. Zur Bedeutung der lutherischen ‚Haustafel‘ in der Frühen Neuzeit vgl. Julius Hoffmann: Die ‚Hausväterliteratur‘ und die ‚Predigten über den christlichen Hausstand‘. Lehre vom Haus und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert. Weinheim 1959 (Göttinger Studien zur Pädagogik 37); Albrecht Peters: Kommentar zu Luthers Katechismen. Bd. 5: Die Beichte. Die Haustafel. Das Traubüchlein. Das Taufbüchlein. Mit Beiträgen von Frieder Schulz und Rudolf Keller. Hg. von Gottfried Seebaß. Göttingen 1994, S. 95–118; Walter Behrendt: Lehr-, Wehr- und Nährstand. Haustafelliteratur und Dreiständelehre im 16. Jahrhundert. Berlin 2009. 108 Einen Überblick über die lutherische Dreiständelehre gibt Luise Schorn-Schütte: Die DreiStände-Lehre im reformatorischen Umbruch. In: Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch. Hg. von Stephan E. Buckwalter, Bernd Moeller. Göttingen 1998 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 199), S. 435–461. 109 Aus der Logik des Modells und der reformatorischen Aufhebung des Zölibats ergibt sich, dass auch der Geistliche an allen drei Ständen teilhaben kann. An dieser Stelle beginnt die
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Funktionen und Geltungsbereiche der in den Schriften tradierten Wissensbestände. Frühsorge hat darauf aufmerksam gemacht, dass „die spirituelle Dignität des Ökonomiebegriffs“ in der lutherischen Tradition „als Begründung für die Hierarchie im inhaltlichen Schema der [in den Schriften, S. Z.] vorgestellten Gegenstände“ mitzulesen sei.110 Dem theologischen Primat des status ecclesiasticus entsprechend, beginnen lutherisch geprägte Ökonomiken in der Regel mit der Präsentation des für die Glaubenspraxis und die religiöse Ordnung des Hauses relevanten Wissens.111 Dabei kann es zu expliziten Geltungskonflikten mit antiken Wissensbeständen kommen, die von den Texten als nicht-christlich markiert und gegebenfalls auch aussortiert werden.112 Möglich ist aber auch, dass Geltungskonflikte implizit bleiben, etwa indem, wie bei Coler, moralisch-religiöses und praktisch-empirisches Wissen der oeconomia sich in einem enzyklopädisch aufgefächerten, verschiedene Traditionen integrierenden Textkomplex in- und nebeneinander geordnet finden. Wo dies der Fall ist, greifen einfache Funktionszuweisungen zu kurz; die Texte präsentieren sich nicht in erster Linie als konfessionelle Literatur, sondern fungieren als multifunktionale Wissens-
Geschichte des inzwischen sprichwörtlich gewordenen evangelischen Pfarrhauses. Vgl. dazu Martin Greiffenhagen: Das evangelische Pfarrhaus. Eine Kultur- und Sozialgeschichte. Stuttgart 1984. 110 Gotthardt Frühsorge: Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘ in der europäischen ‚oeconomia christiana‘. Zur Rolle des Vaters in der ‚Hausväterliteratur‘ des 16. bis 18. Jahrhunderts in Deutschland. In: Das Vaterbild im Abendland. Bd. I: Rom, frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart. Hg. von Hubertus Tellenbach. Stuttgart u. a. 1978, S. 110–123, hier S. 117. 111 Ein Beispiel hierfür: Justus Menius, Autor der einflussreichen Oeconomia christiana (1529), erinnert eingangs seiner Schrift daran, dass alle Haushaltungskunst mit der Gottes- und Selbsterkenntnis des (Christen-)Menschen beginne: „Darumb / welcher sich dieser kunst [...] vnterstehen wil / der dencke am ersten vnd furnemblich darauff / wie er fur allen dingen erkennen lerne / das Gott der sey / der yhm ynn seinem stand vnd ampt allezeit beystehen / vnd trewlich helffen vnd rathen will [...].“ Justus Menius: An die hochgeborne Furstin / fraw Sibilla Hertzogin zu Sachsen / Oeconomia Christiana / das ist / von Christlicher haushaltung / Justi Menij. Mit einer schönen Vorrede D. Martini Luther. Wittenberg: Hans Lufft 1529, fol. C1r. Zu Menius vgl. den Sammelband von Ute Gause, Stephanie Scholz (Hg.): Ehe und Familie im Geist des Luthertums. Die ‚Oeconomia Christiana‘ (1529) des Justus Menius. Leipzig 2014 (Historisch-theologische Genderforschung 6). 112 Auch dafür kann Menius’ Oeconomia christiana als Beispiel dienen. In ihr findet sich der Vorwurf, die antiken Autoren hätten „allein gedacht / das beide haus vnd landregierung durch menschliche witz vnd vernunfft regiret vnd erhalten werde“, wogegen die Christen („Wir“) „das wissen / vnd daran nymermehr zweiffel haben / das Gott / beide der Oeconomia vnd Politia [...] ein einiger schepffer / herr / vnd regent ist / on welchen alle haushalter vnd landsregenten nichts sein noch vermügen [...].“ Menius: Oeconomia, fol. C1v.
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speicher, denen je nach Interesse ganz Unterschiedliches entnommen werden kann.113 Eine besondere Rolle im aristotelisch orientierten Systemaufbau, wie Luther ihn imaginiert, kommt dem Fürsten zu. Nicht nur ist er als Monarch (irdischer) Vorsteher des status politicus und nimmt damit die mittlere Position in der „Staffel abgeleiteter und zugleich aufeinander verweisender Gewalt“ ein, die von Gottvater bis zum ‚gemeinen‘ Hausvater hinabreicht.114 Auch operiert er an einer Stelle im System, die ihn als Ökonom in zweierlei Hinsicht fordert. So hat er einerseits den Hof zu regieren, der in der Frühen Neuzeit als Haushalt mit besonderen Eigenschaften, zumal mit einem mehr oder weniger kostspieligen Repräsentationsanspruch, betrachtet wird.115 Andererseits steht er als Landesvater dem „Super-Oikos“ 116 des Staates vor. In dieser Funktion hat er es mit einer komplexen Systemstruktur zu tun, von deren Beherrschung die Herstellung ‚guter Ordnung‘ als Staatsziel frühneuzeitlicher Politik wesentlich abhängt.117 Je nach Ansatz – und die lutherische Tradition ist hier nur eine von vielen – werden für die Erreichung dieses Ziels im 16. und 17. Jahrhundert Konzepte fürstenstaatlicher Ökonomie118 entwickelt, die bei aller Verschiedenheit im Einzelnen von einer steuerungsbedürftigen Beziehung zwischen dem System der Staatsökonomie und der tendenziell grenzüberschreitenden Bewegung der
113 Zum In- und Nebeneinander von praktischem und moralisch-religiösem Wissen bei Coler und zur Frage nach der konfessionellen Dimension seiner Schrift vgl. Hahn: Das Haus im Buch, S. 148–165. In der Studie untersucht Hahn auch den interessanten Umstand, dass Colers Oeconomia 1645 in einer katholisch-jesuitisch betreuten Ausgabe erscheint (ebd., S. 229–246) – ein Transfer, der die auch in religiöser Hinsicht grenzüberschreitende Bewegung ökonomischen Wissens in der europäischen Frühneuzeit evident macht. 114 Frühsorge: Die Begründung der ‚väterlichen Gesellschaft‘, S. 116 f. 115 Es versteht sich, dass dem Fürsten in dieser Hinsicht jede der Aufgaben zukommt, die auch der nicht-adlige Hausvater zu bewältigen hat. Allerdings ergeben sich zusätzliche Herausforderungen, die zumal mit der Beobachtung der Ausgaben für die höfische Repräsentation zu tun haben. Dazu Volker Bauer: Hofökonomie. Der Diskurs über den Fürstenhof in Zeremonialwissenschaft, Hausväterliteratur und Kameralistik. Köln u. a. 1997 (FrühneuzeitStudien, Neue Folge 1). 116 Leonhard Bauer, Herbert Matis: Geburt der Neuzeit. Vom Feudalsystem zur Marktgesellschaft. München 1988, S. 189. 117 Zu diesem Ideal in wirtschaftspolitischer Hinsicht vgl. Thomas Simon: ‚Gute Policey‘. Ordnungsleitbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der Frühen Neuzeit. Frankfurt/ M. 2004 (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 170), S. 151–167. 118 Der bis heute verwendete Begriff wird erstmals geprägt in Antoyne de Montchrestiens Traité de l’œconomie politique (1615) – einem Traktat, der für die Geschichte merkantilistischen Wirtschaftsdenkens in der Frühen Neuzeit insgesamt besonders bedeutsam ist. Dazu Edgar Salin: Politische Ökonomie. Geschichte der wirtschaftspolitischen Ideen von Platon bis zur Gegenwart. 5., erw. Aufl. Tübingen 1967, S. 45.
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Kommerzien ausgehen.119 Ziel ist es dabei, die Bewegung der Reichtümer im Einzugsbereich des Staates so zu regulieren, dass möglichst viele dieser Reichtümer, oder sogar alle, im Staat verbleiben bzw. in diesen hineinfließen, so dass über Steuererhebung möglichst große Einnahmen für die Staatskasse erzielt werden können. Überall dort, wo die Relevanz der Bewegung der Reichtümer für die Gesundheit des Staatskörpers in dieser Weise erkannt wird, wird für die innerstaatliche „Dynamisierung der wirtschaftlichen Prozesse“ plädiert, von der man sich die Unterbindung des unkontrollierten Abfließens von Reichtümern (auch Rohstoffen) ins Ausland verspricht.120 Wenn Stolleis in seiner bis heute viel zitierten Studie zur Staatsfinanzierung in der Frühen Neuzeit von einer „Verabsolutierung der Ökonomie“ im politischen Denken zwischen Mittelalter und Aufklärung spricht, dann geht es ihm um die Beschreibung eines Prozesses des Geltungsverlustes moralisch-religiöser Konzepte politischen Handelns zugunsten einer von Moral und Religion tendenziell unabhängigen Praxis der Staatsräson.121 In der politischen Literatur des 16., vor allem aber des 17. Jahrhunderts werde die Tendenz deutlich, auf den Rekurs auf tradierte Normen zu verzichten und stattdessen „die Staatsräson ins Ökonomische zu wenden und dort zu verabsolutieren“.122 Die These mag innerhalb des historisch-linearen Ansatzes, den Stolleis verfolgt, stimmig sein. In einer von diesem Ansatz absehenden Auseinandersetzung mit der deutschsprachigen Politik-Literatur der Frühen Neuzeit zeigen sich jedoch dessen Grenzen.
119 Zur Auffassung der frühneuzeitlichen ‚Kommerzien‘ als Netzwerk vgl. den Sammelband von Andrea Caracausi, Christof Jeggle (Hg.): Commercial Networks and European Cities, 1400– 1800. London 2014 (Perspectives in Economic and Social History 32); außerdem Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hg.): Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit. Konstanz 2010 (Studien zur schwäbischen Kulturgeschichte, Neue Folge 6). 120 Simon: ‚Gute Policey‘, S. 155. Auf die Besonderheiten der nationalen Theoriebildung, etwa im katholischen, von Montchrestiens Konzept politischer Ökonomie geprägten Frankreich sowie in den auf den Welthandel hin orientierten Nationen England und Holland, kann ich hier nicht eingehen. Zu Montchrestien vgl. David Philippy: La construction du discours normatif en économie à travers la question du travail dans l’œuvre d’Antoine de Montchrestien. Lyon 2014. Zum sogenannten Merkantilismus als dominantem staatsökonomischen Konzept des 17. und 18. Jahrhunderts insgesamt vgl. Karl Pribram: A History of Economic Reasoning. Baltimore, London 1983, S. 31–114. Zu den Besonderheiten der Theoriebildung in England und Niederlande vgl. Perry Gauci: The Politics of Trade. The Overseas Merchant in State and Society, 1660–1720. Oxford, New York 2001; Daniel Litvin: Weltreiche des Profits. Die Geschichte von Kommerz, Eroberung und Globalisierung. München 2003. 121 Michael Stolleis: Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit. Frankfurt/M. 1983, S. 102. 122 Stolleis: Pecunia, S. 103.
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So ist Stolleisʼ Ökonomiebegriff recht einseitig auf solche Phänomene konzentriert, die sich in das Schema einer säkularisierten, (früh-)modernen Politik fügen. Ähnlich wie Vogl, der behauptet, erst nach der Entdeckung des doppelten Blutkreislaufes 1628 durch William Harvey habe der politische Körper gelernt, „sparsam und haushälterisch“ zu sein,123 unterläuft Stolleis der Fehler, ein (angeblich) modernes Konzept von Ökonomie gegen Traditionen der moralischreligiösen Argumentation so auszuspielen, dass am Ende eine lineare Konstruktion entsteht: Die absolutistische Staatsökonomie der Frühen Neuzeit komme erst dort wirklich zu sich, wo sie die traditionelle Verknüpfung von Politik mit Religion und Moral im Zeichen der Staatsräson hinter sich lässt. Entgegen dieser Auffassung wäre die These ins Feld zu führen, dass alle Staatsmodelle der Frühen Neuzeit – auch diejenigen, die sich zumal auf religiöses oder moralisches Wissen berufen – ökonomische Systemvorstellungen implizieren, die letzthin die gesamte Struktur des Hofes oder Staates erfassen (mithin absolut sind). Dies vorausgesetzt, geht der Unterschied zwischen den Entwürfen nicht in der Differenz von Ökonomie und Nicht-Ökonomie auf, sondern besteht in der Art und Weise, wie die vorgestellten politisch-ökonomischen Systeme organisiert sind, welchen Funktions- und Handlungsregeln sie folgen und welches Wissen bei der Herstellung dieser Entwürfe transferiert wird. Es seien einige der Modelle kurz vorgestellt. Eine erste Gruppe von Texten, die einerseits der frühneuzeitlichen Fürstenspiegelliteratur,124 andererseits dem Bereich der lutherisch-orthodox geprägten ‚Biblischen Policey‘ des 17. Jahrhunderts bzw. insgesamt der konfessionalisierten Politik-Literatur der Zeit zuzuordnen sind, zeichnet sich durch eine deutlich profilierte Adversivität gegenüber dem mit dem Namen Machiavelli verbundenen Diskursfeld der Staatsräson (ratio status) aus. Begründet wird diese Position in der Regel im Rekurs auf moralische und religiöse Geltungen, die je nach konfessionellem Hintergrund unterschiedlich funktionalisiert und in politischökonomische Modelle übersetzt werden. Auf die Unterschiede ist an dieser Stelle nicht näher einzugehen.125 Auffällig ist jedoch, dass in den Schriften insge123 Joseph Vogl: Kreisläufe. In: Transfusionen. Blutbilder und Biopolitik in der Neuzeit. Hg. von Anja Lauper. Zürich u. a. 2005, S. 99–117, hier S. 101. 124 Zu diesem einflussreichen didaktischen Genre vgl. Bruno Singer: Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. München 1981 (Humanistische Bibliothek, Reihe 1, Abh. 34); Hans-Otto Mühleisen, Theo Stammen (Hg.): Politische Tugendlehre und Regierungskunst. Studien zum Fürstenspiegel der frühen Neuzeit. Tübingen 1990; Hans-Otto Mühleisen u. a. (Hg.): Fürstenspiegel der Frühen Neuzeit. Frankfurt a. M., Leipzig 1997 (Bibliothek des deutschen Staatsdenkens 6). 125 Einen Überblick über die frühneuzeitliche Staatsliteratur gibt der nach historischen Autoren geordnete Sammelband von Notker Hammerstein, Michael Stolleis (Hg.): Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht. 3., erw. Aufl. München 1995.
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samt Vorstellungen von Staatsökonomie dominieren, in denen das Handeln des Fürsten in sehr unmittelbarer Weise auf die Funktion des Systems einwirkt (oder mit dieser Funktion gar zusammenfällt). Ist der Souverän tugendhaft und fromm, gelingt es ihm, bei der Distribution der Güter die – von den Autoren meist traditionell-aristotelisch begründete – „rechte Balance der Tugenden ‚Sparsamkeit‘ und ‚Freigebigkeit‘“ zu halten.126 Das Resultat solchen Handelns schlägt sich auf allen Ebenen des politischen Körpers nieder. So leitet der gerechte, fromme Fürst seine Untertanen nicht nur zur Abstinenz von den Lastern an, „die die Ordnungsstörungen in der Sphäre von Produktion und Umsatz verursachen, also vor allem Geiz und das mit ihm eng verbundene übermäßige Erwerbsstreben“.127 Er verzichtet im Gegensatz zu den gewissenlosen ‚Staatisten‘ auch darauf, sie durch Steuern und Kontributionen so zu belasten, dass der innere Frieden im Staat, die ‚gute Policey‘, gefährdet wird.128 Dass im Hintergrund solcher auf die Kongruenz von Moral, Religion, Ökonomie und Politik abstellender Konzepte durchaus konfliktträchtige Aushandlungsprozesse – etwa zwischen den Geltungsansprüchen weltlichen und göttlichen Rechts, der zentralen Fürstenmacht und der Landstände usw. – ablaufen können, ist in der Forschung bemerkt worden.129 Entsprechend aufmerksam sollte die Stabilitätsanmutung, die sich das politische Wissen in den Schriften gibt – und die durch die Inszenierung der auctoritas der Wissensträger (des Fürstenerziehers, des lutherischen oder jesuitischen Gelehrten etc.) performativ unterstrichen wird –, hinterfragt werden. Geht es in den Texten der ersten Gruppe in erster Linie um die moralische Beobachtung der Akte fürstlicher Distribution, so tritt das Verhältnis von Staats126 Stolleis: Pecunia, S. 73. 127 Simon: ‚Gute Policey‘, S. 155. 128 Wie Stolleis: Pecunia, S. 122, betont, haftet dem Terminus ‚ratio status‘ insbesondere im deutschsprachigen Raum der „Verdacht des Machiavellismus, der Rechtswidrigkeit und des Verstoßes gegen die Moral“ an, weswegen juristische Traktate des 17. Jahrhundert bei der Begründung von Steuern in der Regel auf ‚necessitas‘ bzw. ‚utilitas‘ plädieren. Gelegentlich sei es jedoch umgekehrt, und die Formel von der ‚ratio status‘ erscheint „im Zusammenhang mit Mahnungen zur Mäßigung bei der Belastung der Untertanen“, nämlich wenn es um die „Verhütung von Rebellionen“ gehe. 129 Hier sei nur auf Axel Rüdiger (Staatslehre und Staatsbildung. Die Staatswissenschaft an der Universität Halle im 18. Jahrhundert. Berlin 2005 [Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 15], S. 132), verwiesen, der für die lutherisch-orthodoxe Staatstheorie Philipp von Reinkingks gezeigt hat, dass letzthin auch diese „mit der Staatsräson verbunden [bleibe], obgleich diese dabei zur ‚unartigen, ungeratenen Stiefschwester‘ gerät.“ So diene die religiöse Legitimation politischen Handelns bei Reinkingk nicht etwa zur Aufhebung der weltlichen Autonomie des Fürsten, sondern, im Gegenteil, zu deren Durchsetzung. Ähnliche Ambivalenzen der Argumentation und konzeptuelle Spannungen lassen sich auch in anderen Texten dieser Gruppe finden.
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ökonomie und Kommerzien in der Frühen Neuzeit dort verstärkt in den Blick, wo die Schriften sich die Frage der Wohlstandsmehrung des Staates stellen. Von entscheidender Bedeutung sind dabei Verfahren der Analogisierung natürlichphysiologischer und politischer Systementwürfe. Wie in der auf das Haus bezogenen oeconomia des 16. und 17. Jahrhunderts Wachstum und Prosperität auf natürliche Vorgänge zurückgeführt werden – hierfür liefert die aristotelische Tradition auch dann eine verlässliche Rekursbasis, wenn in den Schriften religiöse Konzepte den Haus-Natur-Komplex einhegen –, so imaginieren politische Theoretiker der Zeit den Staat als einen Organismus, der, so Melchior von Ossa (1506–1557), „durch geld und gut der landleut nicht weniger dan ein menschlicher leib durch adern und blut erhalten“ wird.130 Was von Ossa – und mit ihm auch Autoren wie Obrecht, Bornitz, Neumayr von Ramsla, Besold, Faust, Klock, Conring oder Seckendorff – dabei vorschwebt, ist freilich nicht das auf Selbstregulation und Kreisläufigkeit abgestellte physiologische Modell William Harveys, das Hobbes in einer berühmten Stelle seines Leviathan (1650) auf den Steuerkreislauf anwendet;131 es ist vielmehr das Körpermodell der galenischen Medizin, in dem die Unterscheidung von Zentrum und Peripherie eine entscheidende Rolle spielt.132 So findet sich in den Schriften zwar durchaus die Vorstellung, dass die Kommerzien für die Versorgung des politischen Körpers unverzichtbar sind – „kein Reich / keine Statt / oder Gemeinde“ könnten ohne Geld und Handel „bestehen“, schreibt Garzoni.133 Entsprechend wird über die Steuerung der Bewegung der Reichtümer durch Einfuhrbeschränkungen, Zölle, Konsumvorschriften, Preisbegrenzungen und andere Maßnahmen nachgedacht.134 Insgesamt liegt die Herausforderung staatsökonomischen Handelns jedoch nicht im Bereich der Kommerzien, sondern darin, über die „Adern des Gemeinwesens“ 135 möglichst viele Reichtümer ins Zentrum der fürstlichen Ökonomie,
130 Melchior von Osse: Schriften. Hg. von Oswald Arthur Hecker. Leipzig, Berlin 1922, S. 463. Hier zit. nach Stolleis: Pecunia, S. 66. 131 Zu Harvey vgl. Walter L. von Brunn: Kreislauffunktion in William Harvey’s Schriften. Mit 10 Abbildungen. Berlin u. a. 1967; Andrew Gregory: Harvey’s Heart. The Discovery of Blood Circulation. Cambridge 2001. Zu Hobbes und Harvey vgl. Harry Schmidtgall: Zur Rezeption von Harveys Blutkreislaufmodell in der englischen Wirtschaftstheorie des 17. Jahrhunderts. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 57 (1973), S. 416–430, hier bes. S. 425– 427. 132 Dazu Vogl: Kreisläufe, S. 102. 133 Tommaso Garzoni: Piazza Vniversale, das ist: Allgemeiner Schauwplatz/ oder Marckt/ vnd Zusammenkunfft aller Professionen/ Künsten/ Geschäfften/ Händlen und Handtwercken/ so in der Welt geübet werden [...]. Frankfurt a. M. 1619, S. 419. 134 Vgl. dazu die Ausführungen in Kap. 4.2.3 dieser Arbeit. 135 Stolleis: Pecunia, S. 66.
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ins aerarium, zu leiten. Wie das Blut in der Herzkammer soll sich das Geld in der Staatsschatulle sammeln, um von dieser aus, je nach Bedarf und Situation (z. B. Krieg), in die Peripherie des Systems redistribuiert und dort verbraucht werden zu können.136 Wann und mit welchem Ziel dies geschieht, entscheidet der Fürst auf Grundlage eines Herrschaftswissens, dessen Geltung zwischen dezisionistischen (ratio status) und moralisch-religiösen Positionen in den Schriften jeweils ausgehandelt wird. Dass an dieser Stelle erhebliches Konfliktpotenzial entsteht, liegt auf der Hand. Je sichtbarer in den Schriften die, wie auch immer partielle, „Abtrennung des politischen vom religiös-ethischen Bereich“ 137 vollzogen wird, desto stärker treten sie in Spannung zu tradierten Normen, deren Erosion in der satirischen Literatur der Zeit denn auch allgemein beklagt wird.138 In einem dritten Modell, das sich in der deutschen Politik-Literatur der Frühen Neuzeit findet, verschiebt sich der Fokus vom aerarium auf die „Wirtschaftsgemeinschaft“,139 die durch die Zirkulation von Geld, Gütern und Dienstleistungen unter den Untertanen entsteht. Johann Joachim Becher vertritt in seinem Politischen Discurs (1668/31688) die Meinung, dass Stabilität und Wachstum des politischen Körpers nicht im Zentrum der Staatsökonomie, in der Kammer des Fürsten, generiert werden. Nicht aus „Armuth, Arbeit [d. h. Fron, S. Z.], Steur, Auflagen und contribution“ entstehe die „rechte Gemein“, sondern „wann die Glieder der Gemein ihre Sachen also anstellen / daß einer von dem andern leben / einer von dem andern sein Stück Brod verdienen kan“.140 Um
136 Dazu Stolleis: Pecunia, S. 81–96; Wolfgang Weber: Prudentia gubernatoria. Studien zur Herrschaftslehre in der deutschen politischen Wissenschaft des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1992, S. 256–269; früher schon Eli F. Heckscher: Der Merkantilismus. Übersetzt aus dem Schwedischen von Gerhard Mackenroth. 2 Bde. Jena 1932, Bd. 1, S. 159–216. 137 Michael Stolleis: ‚Arcana imperii‘ und ‚Ratio status‘. Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts. Göttingen 1980, S. 8. 138 Neben dem in der germanistischen Forschung häufig angeführten Beispiel der Gesichte Philanders von Sittewalt Johann Michael Moscheroschs (1601–1669) sind hier vor allem die in ganz Europa verbreiteten politischen Satiren des Traiano Boccalini (1556–1613) zu nennen. In der deutschen Übersetzung von dessen Ragguagli di Parnasso (1612) heißt es, „daß die Ratio Status ein Gesetz sey den Regimentern vnd Herrschafften sehr nutzlich / aber Gottes vnd aller Menschen Ordnung gantz zu wider.“ Traiano Boccalini: Relationes Auß Parnasso. Sampt dem Politischen Probierstein. Frankfurt a. M.: Johann Beyer 1655, S. 449. Damit ist der Grundtenor der sich auf die Staatsräson beziehenden Satire des 17. Jahrhunderts vorgegeben: Es geht um Kritik an einer Praxis, die die Kopplung politischen und ökonomischen Handelns an moralisch-religiöse Normen aus Gründen der ‚Staats-Klugheit‘ auflöst. 139 Jutta Brückner: Staatswissenschaften, Kameralismus und Naturrecht. Ein Beitrag zur politischen Wissenschaft im Deutschland des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. München 1977 (Münchener Studien zur Politik 27), S. 44. 140 Johann Joachim Becher: Politischer Discurs Von den eigentlichen Vrsachen deß Auf= und Abnehmens der Städt / Länder und Republicken / in specie; Wie ein Land Volckreich und
1.2 Die Ordnung des Eigenen: Oeconomia in der Frühen Neuzeit
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die Bedeutung der Kommerzien für den Staat herauszustellen, greift Becher in die ordo-Konzeption der aristotelisch dominierten Tradition entschieden ein. So unterscheidet er in seinem Ständemodell nicht mehr primär nach dem Kriterium althergebrachter ständischer Identität, sondern nach einem binären Code von Produktion und Konsum. Während die unproduktiven, nur konsumierenden Stände der Obrigkeit – die Geistlichen, Gelehrten, Ärzte, Soldaten, Beamte – dafür zuständig sind, „die Seele, das Gemüt, die Gesundheit und die Sicherheit der ‚Gemein‘ erhalten [zu] helfen“,141 fällt die für das ‚Aufnehmen‘ des Gemeinwesens essentielle Aufgabe der Stärkung des Binnenhandels und der Erzielung eines Außenhandelsüberschusses den produktiven status oeconomici zu, zu denen der Gelehrte neben den Bauern und Handwerkern auch die Kaufleute zählt.142 Ob man deren tragende Rolle im Entwurf Bechers – und ähnlich argumentierender Autoren wie etwa Philip Wilhelm von Hörnigk (1640–1714) – dabei tatsächlich als Anzeichen für eine Nivellierung der Differenz von Ökonomie und Chrematistik deuten kann, wie Brückner dies getan hat,143 darf allerdings bezweifelt werden. Nicht übersehen werden sollte, dass Becher in seinen Schriften zwischen gemeinnützigen und eigennützigen Praktiken der Kaufleute genau unterscheidet und zur Markierung schädlicher Handlungsweisen auf altbekannte antichrematistische Argumente zurückgreift.144 Aus der Präsenz ‚mercantilischer
Nahrhaft zu machen / und in eine rechte Societatem civilem zu bringen. […] Frankfurt a. M.: Johann David Zunner 1668, S. 3. 141 Brückner: Staatswissenschaften, S. 45. 142 Dabei plädiert Becher nicht für die Aufhebung der Standesgrenzen innerhalb der status oeconomici. Diese können bestehen bleiben, solange der Fürst nur dafür sorgt, dass ihre kommerzielle Vernetzung nicht durch willkürliche Rechtsschranken und übermäßige Besteuerung behindert wird: „[D]iese drey Ständ soll man nicht untereinander vermischen / sondern machen / dz sie nur nah beysammen stehen / und eine rechte Gemein machen / nemlich mit gemeiner Hand einander unter die Arm greiffen / dann wo dieses letztere / nemblich die rechte dieser drey Ständen wol in Obacht wird genommen werden / ist kein Zweiffel / daß solche societät / Stad / Land / oder Republick / erstlich zu blühender Nahrung / und dadurch wegen deß Zulauffs zu mächtiger populositet, hierdurch aber zu dem End der wahrhafften policey, nemblich zu einer ansehlicher und nöhtiger Menschlicher Gesellschafft gelangen werde.“ Becher: Politischer Discurs, S. 12. 143 Vgl. Brückner: Staatswissenschaft, S. 46. 144 So heißt es in seiner Schrift Närrische Weißheit Und Weise Narrheit (1682): „[D]ann ist es eine General=Regel / Ein Kauffmann siehet mehr auf seinen privat profit / als auf das publicum: seynd nützliche und schädliche Leute / können ein Land auffbringen und ruiniren / wann sie wollen / und man nicht achtung auff sie gibt.“ Johann Joachim Becher: Närrische Weißheit Und Weise Narrheit: Oder Ein Hundert / so Politische alß Physicalische / Mechanische und Mercantilische Concepten und Propositionen. Frankfurt a. M.: Johann Peter Zubrod 1682, S. 130. Ähnlich stellt sich der Diskurs bei Hörnigk dar. Die Kaufleute, die ihr Kapital im Inland investierten, seien „rechtschaffene Kauff=Leute [...] / ihnen auch der gröste Nutzen / nebenst der
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1 Einleitung
Concepten‘ (Becher) in Staatsdiskursen um 1700 auf einen allgemeinen Geltungsverlust moralisch-religiöser Konzepte zu schließen, führt an der Komplexität des Wissenstransfers in den Schriften daher vorbei. Auch auf dem politisch-ökonomischen Diskursfeld des späten 17. Jahrhunderts vollzieht sich der Umbau relevanter Wissensbestände nicht im Modus des Bruchs, sondern in mikrologischen Prozessen der Auswahl, der Verwerfung und Geltungsaushandlung von Wissen, deren Verlauf im einzelnen Text weitaus weniger konsistent und linear ist, als die Meistererzählungen der Wirtschaftsgeschichte es nahelegen.
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung Die Überlegungen aus den ersten beiden Abschnitten dieser Einleitung aufgreifend, können nun die Leitthesen der Untersuchung formuliert werden. Auszugehen ist dabei von einer Definition pikarischen Erzählens, wie sie im Rückgriff auf frühneuzeitliche Konzepte der Lebensschreibung im ersten Abschnitt skizziert wurde. Die Forschung hat sich lange Zeit kontrovers darüber auseinandergesetzt, ob und wenn ja auf welcher theoretischen Basis vom pikarischen Roman als Gattung zu sprechen sei.145 Durch die Konzentration auf die Konstel-
Ehr und Seegen / daß sie ein so hochschätzbares Werck mit erheben wollen / übrig bleiben. [...] Sonsten aber ist insgemein / und für allemahl zu wissen / daß die Kauffleute um des gemeinen Bestens / und nicht das gemeine Beste um der Kauffleute willen da sey. Wann derowegen beyde collidiren / so ists billich / daß die Kauffleute zurück stehen. Wer deme entgegen in Vorfällen es noch mit den Kauffleuten halten solte / würde zeigen / daß er nicht weniger / als sie / ein Feind und Verderber des Vatterlandes wäre.“ Philip Wilhelm von Hörnigk: Oesterreich über alles / wann es nur will. Das ist: Wohlmeynender Fürschlag / Wie mittelst einer wohlbestellten Lands=Oeconomie, die Kayserlichen Erb-Lande in kurtzem über alle andere Staate von Europa zu erheben / und mehr als einiger derselben / von denen andern independent zu machen. Regensburg: Joh. Zacharias Seidel 1712, S. 113. 145 Ausgelöst wurde diese Diskussion von Daniel Eisenberg, der in einem Aufsatz die Frage formuliert hatte, ob es den pikarischen Roman als formal wie inhaltlich konsistentes Genre überhaupt gebe. Daniel Eisenberg: Does the Picaresque Novel Exist? In: Kentucky Romance Quarterly 26 (1979), S. 203–219. Die sich anschließende Debatte, die bis zum resignativen Appell geführt hat, „to lay aside the question of the picaresque as a literary genre […] in order to pursue other, more fruitful, avenues of investigation“ (Reyes Coll-Tellechea, Sean McDaniel: Reframing ‚Lazarillo‘-Studies. In: The ‚Lazarillo‘ Phenomenon. Essays on the Adventures of a Classic Text. Hg. von Reyes Coll-Tellechea, Sean McDaniel. Cranbury, NJ 2010, S. 9–20, hier S. 13), hat Klaus Meyer-Minnemann im Einzelnen aufgearbeitet. Vgl. Klaus Meyer-Minnemann: El género de la novela picaresca. In: La novela picaresca. Concepto genérico y evolución del género (siglos XVI y XVII). Hg. von Klaus Meyer-Minnemann, Sabine Schlickers. Madrid 2008, S. 13–40. Zusammengefasst lässt sich der Ertrag der Diskussion wie folgt beschreiben: Erstens
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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lation von pikarischer Figur und Viten-Konzeption(en) ist es möglich, sowohl dem essentialistischen Gepräge sowie der „eingeschliffene[n] kulturhistori-
hat sich gezeigt, dass Versuche der Gattungsdefinition dort sehr rasch an ihre Grenzen gestoßen sind, wo einzelne Texte – der Lazarillo de Tormes und Alemáns Guzmán de Alfarache zumal – als paradigmatisch für die weitere Gattungs-‚Entwicklung‘ betrachtet wurden. Dies zeigt schon der erwähnte Aufsatz Eisenbergs, weitere kritische Stimmen und Argumente in dieser Hinsicht sammeln Coll-Telechea, Mc Daniel: Reframing ‚Lazarillo‘-Studies, S. 9–20, und Fernando Cabo Aseguinolaza: El concepto de género y la literatura picaresca. Santiago de Compostela 1992 (Monografías da Universidade de Santiago de Compostela 167), S. 237–264. Zweitens ist festzustellen, dass solche Gattungsdefinitionen des Pikarischen die größte Anschlussfähigkeit (und Dauerhaftigkeit) besitzen, die das Verhältnis von Einzeltext und Gattung theoretisch reflektieren und auf dieser Basis zu einer strukturorientierten Beschreibung der Gattung vordringen. Besonders häufig wurde in allgemeinen Definitionen dabei auf Claudio Guilléns Merkmalskatalog zurückgegriffen (so z. B. in der Einleitung zum komparatistischen Sammelband von Christoph Ehland, Robert Fajen [Hg.]: Das Paradigma des Pikaresken/The Paradigm of the Picaresque. Heidelberg 2007 [Germanisch-Romanische Monatsschrift, Beihefte 30], S. 11–21, hier S. 12 f.). Guillén legt fest, pikarische Romane seien (1) vom sozialen Außenseitertum des Protagonisten wie (2) von dessen autobiographischem Erzählen in der Ersten Person Singular geprägt, wobei (3) die Präsenz ‚materieller‘ Motive (Körper, Essen, Geld, Sexualität usw.) sowie (4) der Bezug auf zeitgenössische gesellschaftliche Gegenwarten eine genretypische Weltrelation stifte. Claudio Guillén: Toward a Definition of the Picaresque. In: Actes du IIIe Congrès de l’Association Internationale de Littérature Comparée – Proceedings of the International Comparative Literature Association, 21–26 VIII 1961. Den Haag 1962, S. 252–266; wieder (und erweitert) in Guillén: Literature as System, S. 71–106. Wie mit einem solchen Katalog umzugehen ist, damit er nicht dazu führt, dass „it becomes difficult to read an individual text in a way that does not confirm its participation in the system“, zeigt Peter N. Dunn (Spanish Picaresque Fiction: A New Literary History. Ithaca, NY 1993, S. 13), wenn er daran erinnert, dass die generische Identität eines (pikarischen) Textes der heuristische Grund ist, „upon which differences are inscribed, while the differences rather than the identity are the vehicles of meaning“ (ebd., S. 11). Im deutschsprachigen Raum ist die Diskussion in den 1990er Jahren an demselben Punkt angekommen. Vgl. Matthias Bauer: Im Fuchsbau der Geschichten. Anatomie des Schelmenromans. Stuttgart, Weimar 1993, S. 3–14; ders.: Der Schelmenroman. Stuttgart, Weimar 1994 (Realien zur Literatur 282), S. 8–31. Dabei wurde sie viele Jahre allerdings von einer – am Ende fruchtlosen – Sekundärdebatte überlagert, die um die Frage geführt wurde, ob es in der Frühen Neuzeit einen ‚deutschen Schelmenroman‘ als nationale (Sub-)Gattung mit eigenständigen Merkmalen gegeben habe. Dazu etwa Hans Gerd Rötzer: ‚Novela picaresca‘ und ‚Schelmenroman‘. Ein Vergleich. In: Literatur und Gesellschaft im deutschen Barock. Aufsätze. Hg. von Conrad Wiedemann. Heidelberg 1979, S. 30–76; Guillaume van Gemert: Gibt es einen deutschen Picaro-Roman im 17. Jahrhundert? Überlegungen zu einer kontroversiellen Gattungsbezeichnung. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Hg. von Albrecht Schöne. Tübingen 1986, Bd. 9, S. 103– 109; die Debatte historisierend Rosmarie Zeller: Bemerkungen zur Geschichte der Gattungsbezeichnung ‚Schelmenroman‘. In: Simpliciana 29 (2007), S. 393–396. Wie man an der seit Jahren konstant nachlassenden germanistischen Verwendung des Begriffes ‚Schelmenroman‘ ablesen kann – mit wenigen Ausnahmen wurden in den einschlägigen Monographien, Sammelbänden
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schen Thesenbildung“ dieser Diskussion zu entkommen.146 Wenn im Folgenden auf die, nach Meyer-Minnemann, zwei grundlegenden Konstituenten pikarischen Erzählens fokussiert wird – erstens auf die aus Handlungen (actiones) episodisch zusammengesetzte Lebenspassage des Picaro147 und zweitens auf deren Präsentation im Medium einer autodiegetischen, auf Diskursregeln der Lebensschreibung bezogenen Erzählung –,148 so im Bewusstsein, dass die differentia specifica des pikarischen Romans gegenüber dem genus proximum der Vita in der Figur des Picaro selbst liegt.149 Operiert diese, als erzählte wie als erzählende Figur, per definitionem nicht im Einklang mit den Handlungs- und Funktionsregeln der Ordnungen, in denen sie sich bewegt, sondern, wie Cervantes vorführt, in einem ‚Zwischenraum der Codes‘ (Certeau), der sich systematisierenden Zugriffen entzieht, so gibt dies einen Blick auf die Reihe frühneuzeitlicher Texte vor, der von überkommenen typologischen und genealogischen Sicherheiten absieht, gerade dadurch aber empfänglich wird für die von Mohr und Waltenberger ausgemachte „offene Situation einer frühneuzeitlichen Diskontinuität, deren nachhaltige Produktivität noch nicht absehbar ist und die sich in Brüchen der textuellen Faktur ebenso wie in der ungefügten und uneinheitlichen Figur des Pícaro abzeichnet.“ 150 In dieser Perspektive ist es möglich,
und Lexikonartikeln ab den 2000er Jahren die Begriffe ‚pikarischer Roman‘ oder ‚PicaroRoman‘ bevorzugt –, hat das Fach von der Idee einer mehr oder weniger selbständigen ‚deutschen‘ Gattung pikarischen Erzählens inzwischen zu Recht Abstand genommen. 146 Mit kritischem Fokus auf die Gattungsdebatte Jan Mohr, Michael Waltenberger: Einleitung. In: Das Syntagma des Pikaresken. Hg. von Jan Mohr, Michael Waltenberger. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft 58), S. 9–35, hier S. 10. Am selben Punkt setzt in ihrer generischen Definition der Pikareske die Studie von Carolin Struwe an. Vgl. dies.: Episteme des Pikaresken, S. 31–47. 147 Ich werde die eingedeutschte Schreibweise des spanischen Worts ‚pícaro‘ im Folgenden zur Bezeichnung der Hauptfiguren pikarischer Texte auch aus dem deutschsprachigen Raum verwenden. Anders als dem deutschen Wort ‚Schelm‘, das schon von Werner Beck (Die Anfänge des deutschen Schelmenromans. Studien zur frühbarocken Erzählung. Zürich 1957 [Züricher Beiträge zur vergleichenden Literaturgeschichte 8], S. 5) als „nicht restlos angemessene Übersetzung“ des spanischen Begriffs erkannt wurde, ist dem Wort ‚Picaro‘ die spanisch-romanische Herkunft und damit eine europäische Transfer-Geschichte eingeschrieben. Aufgrund des nicht vorhandenen Akzents ist das Wort mit dem spanischen Vorbild jedoch nicht identisch und lässt der möglichen kulturellen Abweichung damit Raum. 148 Vgl. Meyer-Minnemann, El género de la novela picaresca, S. 37: „En resumidas cuentas, son constitutivos para el género de la novela picaresca según nuestra definición la trayectoria vital del pícaro y su presentación narrativa autobiográfica.“ 149 Ebd., S. 23: „Sin el pícaro – o la pícara – y la trayectoria de su vida no hay novela picaresca.“ 150 Mohr, Waltenberger: Einleitung, S. 10.
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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sowohl „the radically different meanings that are encoded in identical devices and in homologous patterns“ 151 des Erzählens wahrzunehmen als auch die in essentialistischen Gattungsdefinitionen niemals aufgehobene Verschiedenheit der diskursiven Formen, in denen sich pikarische Erzählungen ihrerseits gewissermaßen ‚parasitär‘ präsentieren können.152 Was das erste Konstituens pikarischen Erzählens betrifft, die Lebenspassage der Figuren als histoire ihrer Erzählungen, ergeben sich Beziehungen zur Ökonomie auf der Ebene des Handelns der Figuren in der erzählten Welt. Um diese Beziehungen theoretisch einzuholen, bietet sich der weitere Rekurs auf die oben schon gestreifte Kunst des Handelns Michel de Certeaus an. Mit ihr lässt sich pikarisch-subversives Handeln, wie Ginés es an den Tag legt, als eine historisch-spezifische Variante taktischen Handelns, ökonomisches Handeln als eine Variante strategischen Handelns beschreiben. Was heißt das? Strategisch kann laut Certeau nur dort gehandelt werden, wo das Handeln einen Ort hat, der „als etwas ‚Eigenes‘ beschrieben werden kann und somit als Basis für die Organisierung von Beziehungen zu einer ‚Exteriorität‘ dienen kann“.153 Wo diese Basis fehlt, bleibt dem Subjekt nur die Möglichkeit, auf taktische Handlungsweisen zurückzugreifen. Diese zeichnen sich durch eine okkasionelle Struktur aus; in Ermangelung eines ‚Ortes des Eigenen‘ sieht sich der Taktiker gezwungen, die Mittel zur Durchsetzung seiner Agenda an die in der kontingenten Umwelt herrschenden Verhältnisse stets aufs Neue anzupassen: Im Gegensatz zu den Strategien [...] bezeichne ich als ‚Taktik‘ ein Handeln aus Berechnung, das durch das Fehlen von etwas Eigenem bestimmt ist. [....] Die Taktik hat nur den Ort des Anderen. Sie muß mit dem Terrain fertigwerden, das ihr so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert. [...] Sie hat also nicht die Möglichkeit, sich einen Gesamtüberblick zu verschaffen und den Gegner in einem abgetrennten, überschaubaren und objektivierbaren Raum zu erfassen. Sie macht einen Schritt nach dem anderen. Sie profitiert von ‚Gelegenheiten‘ und ist von ihnen abhängig; sie hat keine Basis, wo sie ihre Gewinne lagern, etwas Eigenes vermehren und Ergebnisse vorhersehen könnte. Was sie gewinnt, kann nicht gehortet werden. Dieser Nicht-Ort ermöglicht ihr zweifellos Mobilität – aber immer abhängig von den Zeitumständen –, um im Fluge die Möglichkeiten zu
151 Dunn: Spanish Picaresque Fiction, S. 13. 152 Dies betrifft vor allem die zuletzt von Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 31–34, nochmals betonte Differenz des profan-juridischen Rechtfertigungsschemas (Lazarillo de Tormes) zu dem in Deutschland besonders dominanten Konversionsschema (Guzmán de Alfarache). Im Einzelnen lassen sich aber noch weit mehr formale Bezüge – etwa zum Schwankroman, zur Menippea, zum Reise- oder Pilgerbericht etc. – ausmachen. Die Struktur pikarischer Lebensschreibung erweist sich als offen für generische Hybridisierungen verschiedenster Art. 153 Certeau: Kunst des Handelns, S. 87.
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ergreifen, die der Augenblick bietet. Sie muß wachsam die Lücken nutzen, die sich in besonderen Situationen der Überwachung durch die Macht der Eigentümer auftun. Sie wildert darin und sorgt für Überraschungen. Sie kann dort auftreten, wo man sie nicht erwartet. Sie ist die List selber.154
Der Rückgriff auf Certeau ist fruchtbar insbesondere im Blick auf die Theoretisierung der asymmetrischen Interdependenz, die zwischen dem Handeln des Picaro und den Handlungs- und Funktionsregeln besteht, die in den von ihm durchkreuzten ökonomischen Ordnungen des Eigenen herrschen. Zielen diese darauf, dem Handelnden „Unabhängigkeit gegenüber den wechselnden Umständen zu verschaffen“, indem sie ihm einerseits die Akkumulation eigener Ressourcen vorschreiben, andererseits Strategien zur Beobachtung und Beherrschung des eigenen Raumes vermitteln,155 so scheint der Picaro geradezu den frühneuzeitlich-literarischen Prototyp des Taktikers zu verkörpern, der die „Lücken“ in der ökonomischen Ordnung des Eigenen nutzt, um in ihr zu ‚wildern‘, dabei listig „für Überraschungen“ sorgt und immer gerade dort auftritt, wo „man [ihn] nicht erwartet“. Als Agent einer in diesem Sinne von der „Macht der Eigentümer“ abhängigen, diese zugleich jedoch unterlaufenden Beweglichkeit repräsentiert der Picaro eine Form der Alterität, die – in Annäherung an den Begriff Michel Serres’ – als ‚das Parasitäre‘ bezeichnet werden kann. Um an der Verteilung im Innern der Ökonomie teilzuhaben, taucht die Figur an den blinden Flecken des Sichtfeldes auf, das die Beobachtung der strategisch handelnden Akteure erzeugt,156 und leitet den Fluss der ökonomischen Ressourcen – seien diese materieller oder immaterieller Art – zu seinen Gunsten um. Michel Serres hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass der Vorteil parasitären Handelns darin bestehe, sich nur auf das in-between der Kanäle, nicht aber auf die „Konstruktion des Systems“ 157 als Ganzes beziehen zu müssen; eben dies sei „die Bedeutung der
154 Ebd., S. 89. 155 Ebd., S. 88. 156 In deutlicher Anlehnung an Foucault hebt Certeau die visuelle Dimension der Machtpraktiken der (Früh-)Moderne hervor: „Die Gliederung des Raumes ermöglicht eine panoptische Praktik ausgehend von einem Ort, von dem aus der Blick die fremden Kräfte in Objekte verwandelt, die man beobachten, vermessen, kontrollieren und somit seiner eigenen Sichtweise ‚einverleiben‘ kann.“ Certeau: Die Kunst des Handelns, S. 88. Die in diesem Zusammenhang von Certeau geäußerte These, dass die Herstellung von Orten des Eigenen prinzipiell nach einem cartesianischen Konzept der Verknüpfung von Rationalität und Eigentum vorgenommen werde und in dieser Hinsicht „ein Unterfangen der Moderne“ darstelle (ebd.), ist mit Blick auf die oeconomia der Frühen Neuzeit zurückzuweisen. Die Konstellation ‚Sehen und Macht‘ hat eine lange Geschichte, die sicher nicht erst mit dem Rationalismus der Aufklärung beginnt. 157 Michel Serres: Der Parasit. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1981, S. 23.
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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Vorsilbe ‚para‘ in dem Wort Parasit: Er ist daneben, er ist bei, er ist abgesetzt von, er ist nicht auf der Sache, sondern auf der Beziehung.“ 158 Es spricht einiges dafür, diese Bestimmung für den Picaro zu übernehmen, der immer wieder – man könnte sagen: typischerweise – als Dritter innerhalb ökonomischer Beziehungssysteme in Erscheinung tritt.159 Dann gilt es allerdings auch, sich mit der subversiven Pointe der Überlegungen Serres’ auseinanderzusetzen, die in der These besteht, dass es letzthin die Störung sei, die den Wandel der Systeme ermögliche: „Der Lärm bringt ein neues System hervor, eine Ordnung von höherer Komplexität, als die einfache Kette sie hat. Auf den ersten Blick führt dieser Parasit eine Unterbrechung herbei, doch auf den zweiten bringt er eine Konsolidierung.“ 160 Gegenüber Certeau kommt hier noch eine zweite Dimension der Beziehung von Strategie und Taktik, System und Parasit ins Spiel. Demnach würde es beim Handeln des Picaro – soweit dieses ein im Serres’schen Sinne parasitäres Handeln ist – nicht nur darum gehen, eine in sich stabile Macht auszutricksen (ohne an der asymmetrischen Konstellation damit etwas Wesentliches zu ändern). Es würde auch um die Möglichkeit der Veränderung des Verhältnisses von pikarischer Figur und ökonomischer Ordnung gehen, um vom Picaro ausgelöste, in den Texten zu beobachtende Transformationsphänomene, die, folgt man Serres, bis hin zur (Re-)Konsoldierung der Ordnung des Eigenen durch den Picaro als parasitären Anderen reichen könnten.161 Wann und wo diese besondere Variante pikarischen Handelns zu beobachten ist, ist eine der Fragen, die sich vorliegende Arbeit stellt. Dabei geht sie
158 Ebd., S. 64. 159 In seiner ihrerseits von Unschärfen und Rauschen geprägten Diktion beschreibt Serres das Auftauchen des Parasiten als Moment der Unterbrechung, in dem rationale Systemrelationen untermininiert werden: „Wer hat die Relation gestohlen? Vielleicht unterschlägt sie jemand, der mitten unter uns ist. Gibt es einen dritten Mann? Es ist nicht nur von Logik die Rede. Was da die Wege passiert, kann Geld sein, Gold, Waren oder Nahrung, kurz: Materielles. Es bedarf keiner großen Erfahrung, um zu wissen, daß all dies nicht leicht am Bestimmungsort ankommt. Daß es überall Unterbrecher gibt, die mit großem Aufwand daran arbeiten, abzuzweigen und zu unterschlagen, was da über die Wege wandert. Die Bezeichnung, die man diesen verbreiteten und vielfältigen Aktivitäten zumeist beilegt, lautet Parasitentum [...].“ Ebd., S. 24. 160 Ebd., S. 29. Dass es dabei (jedenfalls im Hintergrund) auch um Prozesse des Wissenswandels geht, legt Serres’ Gedanke nahe, „ein System im Sinne Leibnizens nicht mehr in der Tonlage der prästabilierten Harmonie neu [zu] schreiben, sondern in dem, was er als Septimenakkord bezeichnete“. Ebd., S. 27. 161 Serres fasst diesen Vorgang unter anderem mithilfe der – auf unseren Fokus passenden – Metapher von den Ratten im Haus: „Und schon sind die Ratten wieder da. Sie sind, wie es heißt, immer schon da. Sie gehören zum Bauwerk. Irrtum, Ungewißheit, Verwirrung und Dunkelheit gehören zur Erkenntnis, das Rauschen gehört zur Kommunikation – die Ratte gehört zum Haus. Ja, mehr noch, sie ist das Haus.“ Ebd., S. 26.
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allerdings, anders als Serres, nicht davon aus, dass die Restabilisierung der vom pikarischen Parasiten betroffenen Ökonomien als „Ordnung[en] von höherer Komplexität“ den einzigen oder auch nur den Regelfall in den zu untersuchenden Texten darstellt. Mit Blick auf das Material scheint es eher angezeigt, die Störungen, die durch das Handeln pikarischer Figuren ausgelöst werden, als Impulse zu verstehen, die den Transfer ökonomischen Wissens in den Texten dynamisieren, ohne dass damit eine Stabilisierung des Systems verknüpft sein muss. Das schließt ein Moment des Wissenswandels keineswegs aus. Im Gegenteil: Indem pikarisches Handeln auf der „Kehrseite der bewußten, klaren Organisation“ 162 ökonomischer Ordnungen angesiedelt ist, stellt es die Geltung des (strategischen) Wissens infrage, das die Funktionalität und Stabilität dieser Ordnungen garantieren soll. Dies gilt für den von Serres beschriebenen Fall, dass die parasitäre Störung einen Umbau der Systemstruktur nach sich zieht – was in den Texten mutmaßlich mit einer mindestens partiellen Neuaushandlung von epistemischen Geltungen verbunden sein müsste. Dies gilt aber auch für den Fall, dass die Störung ein konstruktives Moment in diesem Sinne nicht aufweist. Auch dort, wo pikarisches Erzählen, wie Mohr und Waltenberger betonen, „nicht [...] auf Entscheidungen von in der Handlung ausgetragenen Geltungskonflikten zu[läuft], sondern sie gerade aufschieben, aussetzen oder als unentscheidbar stabilisieren [kann]“,163 wird in den Texten ökonomisches Wissen in Bewegung versetzt. Die Transfers, die dabei zu beobachten sind, sollten aus historischer Perspektive keineswegs vorschnell als insignifikant bewertet werden. Insofern sie auf keine ausreichend stabile epistemische oder poetische Ordnungskonzeption zulaufen (oder von einer solchen ausgehen), lenken sie den Blick auf die Grenzen und Aporien der Wissensbestände, deren Geltungsansprüche in den Texten unterminiert oder doch infrage gestellt werden. Gerade dieser Aspekt ist für vorliegende Arbeit wertvoll, scheint die literarische Attraktivität der Pikareske mit dem Operieren der Figuren in den Liminalbereichen ökonomischer Ordnungen doch aufs engste verbunden. An den Grenzen, die das Eigene vom Anderen der Ökonomie scheiden, liegen die Dunkelzonen, in denen sich das alteritäre Potenzial pikarischen Erzählens entfaltet. Dieselbe Offenheit zwischen destruktiven und konstruktiven Aspekten der Subversion findet sich auf der Ebene des Erzählens, dem autobiographischen Diskurs des Picaro. Aus der Ginés-Episode ließ sich die These ableiten, dass der narrative Selbstbezug der pikarischen Figur im Modus der Durchkreuzung
162 Ebd., S. 25. 163 Jan Mohr, Michael Waltenberger: Das Syntagma des Pikaresken (Tagungsbericht). In: Mitteilungen des Sonderforschungsbereiches 573: Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit (15.–17. Jahrhundert) 1/2010, S. 43–46, hier S. 43.
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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diskursiver Ordnungen stattfindet; dem in den Gassen, Palastwinkeln und auf den Marktplätzen zirkulierenden Geld gleich schreibt sich pikarisches Erzählen in die ‚Zwischenräume der Codes‘ ein, die für die Stabilisierung des Eigenen des Diskurses zuständig sind. Dies hat Auswirkungen auf die Struktur pikarischer Romane. Wie Meyer-Minnemann zuletzt noch einmal festgestellt hat, ist deren hervorstechendstes Merkmal die tendenziell endlose Fortsetzbarkeit – eine Eigenschaft, die sich auf den Buchmärkten der Frühen Neuzeit in einer wahren Flut von zweiten und dritten Teilen pikarischer Romane, von Continuationes und spin-offs aller Art niederschlägt.164 Schon Cervantes weiß, dass dieses Phänomen mit der Strukturlogik der pikarischen Autodiegese zu tun hat. Wie alle autobiographischen Erzählungen sind pikarische Romane der Regel der Inkommunikabilität des eigenen Todes verpflichtet und weisen damit eine prinzipielle syntagmatische Offenheit auf.165 Wie „nahe sich das Ich an sein Ende heranschreibt“, so fasst es Gerhard von Graevenitz, „es überwindet nicht die Unmöglichkeit von ‚ich starb‘, es überschreitet nicht die Grenze, die das autobiographische Ich vom biographischen Er oder Sie trennt.“ 166 Im Fall pikarischen Erzählens steigert sich die Relevanz der „gleitende[n] und offene[n] Grenze“ 167 des autobiographischen Diskurses jedoch noch einmal dadurch, dass die Figuren selbst in außerordentlicher Weise beweglich sind.168 Dies hat die Forschung in den letzten Jahren vielfach festgestellt und dabei auf eine strukturelle Beziehung zwischen pikarischem Handeln und Erzählen hingewiesen. Am Beispiel des Lazarillo de Tormes hat Christian Wehr gezeigt, dass die „Logik des endlo-
164 Wörtlich spricht Meyer-Minnemann: El género de la novela picaresca, S. 29, von der „esencial continuabilidad de la trayectoria vital del pícaro“. Vgl. dazu außerdem die theoretisch reflektierten Überlegungen bei Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 42–47, und Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 20 sowie, mit Bezug auf den Guzmán-Roman Alemáns, S. 231–237. 165 Bei Cervantes antwortet Ginés auf Quijotes Frage, ob die Vida de Ginés de Pasamonte bereits fertig sei: „Wie kans zu end gebracht seyn / in dem doch mein Leben noch nicht zum ende kommen und beschlossen ist.“ Cervantes: Don Kichote, S. 290. 166 Gerhard von Graevenitz: Das Ich am Ende. Strukturen der Ich-Erzählung in Apuleius’ ‚Goldenem Esel‘ und Grimmelshausens ‚Simplicissimus Teutsch‘. In: Das Ende. Figuren einer Denkform. Hg. von Karlheinz Stierle, Rainer Warning. München 1998 (Poetik und Hermeneutik 16), S. 123–154, hier S. 124. 167 Ebd. 168 Mit dieser pauschalen Einschätzung sei nicht gesagt, dass es in der Frühen Neuzeit keine nicht-pikarischen autobiographischen Viten geben würde, deren Subjekte im Sinne Lotmans beweglich sind. Es gibt Beispiele hierfür, denkt man etwa an Giovanni Conversinos frühhumanistisches Rationarium vite (nach 1393/1401). Vgl. dazu Enenkel: Die Erfindung des Menschen, S. 146–188. In bestimmten Abschnitten erweist sich die Grenze zwischen dem Korpus pikarischer Romane und dem Korpus autodiegetischer Viten der Frühen Neuzeit (und zwar gerade solcher aus der Feder humanistischer Autoren) als fließend – eine Herausforderung für die Pikaresken-Forschung, die in Zukunft unbedingt verstärkt angenommen werden sollte.
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sen Aufschubes“, der die pikarische Erzählung folgt, in unmittelbarem Zusammenhang mit dem „unabschließbaren Handlungszwang“ steht, der das Leben der Figur zum Zeitpunkt des Erzählens bestimmt:169 Lazarillo erzählt vom ‚Ort des Anderen‘ aus, entsprechend ist er als Erzähler außerstande, die „supplementäre[ ] Kette von Ereignissen und Konstellationen, von der zu sehen war, dass sie niemals ein endgültiges Ziel findet“, in eine paradigmatisch gebundene Ordnung zu überführen.170 Dass dies indes nicht für alle pikarischen Romane der Frühen Neuzeit gilt, haben die Untersuchungen im Sammelband Syntagma des Pikaresken (2014) deutlich gemacht, indem sie verschiedene Varianten der Schließung pikarischer Syntagmata in den Blick genommen haben. Solche lassen sich zum einen dort ausmachen, wo die Erzählungen, wie etwa Alemáns Guzmán de Alfarache, in christliche Bekehrungsszenarien münden (was mit einer Ersetzung profaner durch religiöse Handlungskonzepte verbunden ist).171 Zum anderen wird in pikarischen Romanen des 17. Jahrhunderts mit der – oben schon skizzierten – Möglichkeit gespielt, dass Picaros einen profanen ‚Ort des Eigenen‘ finden (oder usurpieren), von dem aus die Dynamik des ‚endlosen Aufschubs‘ beherrscht werden kann. Einen Fall dieser Art hat Mohr untersucht. Seine ebenfalls auf Certeau zurückgreifende Lektüre des Avanturier Buscon (1633), der französischen Übersetzung des Buscón (1626) Francisco de Quevedos, konzentriert sich auf die strukturellen und semantischen Verschiebungen, die die soziale und ökonomische Etablierung des Protagonisten ermöglichen.172 Anders als Lazarillo und sein spanischer Vorläufer erzählt der französische Buscon nicht von einem Ort des Anderen aus. Vielmehr hat er am Ende seines Parcours einen ausreichend hohen Grad an ‚Unabhängigkeit gegenüber den Umständen‘ (Certeau) erreicht, um seine durch „strategische[s] Listhandeln“ erlangte Position in der adligen Oberschicht dauerhaft zu sichern und seine Erzählung als Geschichte eines gelungenen sozialen Aufstiegs zu paradigmatisieren.173 Für die anzustellende Untersuchung der Beziehungen zwischen pikarischem Erzählen und ökonomischem Wissen der Frühen Neuzeit sind diese Ein-
169 Christian Wehr: ‚La Vida de Lazarillo de Tormes‘ und die Form der Individualität im Roman. In: Das Paradigma des Pikaresken. Hg. von Christoph Ehland, Robert Fajen. Heidelberg 2007 (GRM-Beiheft 30), S. 25–43, hier S. 39. 170 Ebd., S. 40. 171 Vgl. Matthias Bauer: Das Sagbare umschreiben: am Beispiel des ‚Guzmán‘. In: Das Syntagma des Pikaresken. Hg. von Jan Mohr, Michael Waltenberger. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft 58), S. 257–280. 172 Vgl. Jan Mohr: ‚Buscón‘ französisch. Zum semantisch-strukturellen Profil der Adaptionen durch La Geneste (1633). In: Das Syntagma des Pikaresken. Hg. von Jan Mohr, Michael Waltenberger. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft 58), S. 209–239. 173 Mohr: ‚Buscón‘ französisch, S. 235.
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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sichten von großer Bedeutung. Sie ermöglichen einen Blick auf die Texte, der das taktische und/oder strategische Handeln pikarischer Figuren innerhalb ökonomischer Ordnungen im Zusammenhang mit den Strukturen der Erzählungen zu beobachten erlaubt. Relevant sind diese Zusammenhänge für die Untersuchung dabei nicht nur dann, wenn sie, wie im Fall des cervantinischen poesíaLobs und seiner Durchkreuzung durch Ginés, auf expliziten Analogien zwischen ökonomischen und diskursiven – rhetorischen, poetischen – Ordnungsmustern basieren (oder solche herstellen).174 Zu beobachten sind vielmehr auch die impliziten, in den Erzählungen performierten Strukturbeziehungen von Ökonomie und pikarischer Poetik. Um das Spiel der Romane mit den Ordnungsansprüchen ökonomischen Wissens im Sinne unserer Fragestellung erfassen zu können, sind die Positionen der erzählenden Figuren an den zur Darstellung kommenden ökonomischen Orten des Anderen bzw. Orten des Eigenen in Betracht zu ziehen. Orientierung geben dabei die skizzierten Forschungsbeispiele: Wenn es zutrifft, dass eine Erzählung wie die des Taktikers Lazarillo andere strukturelle Eigenschaften aufweist als die eines Strategen wie Buscon – Schließung des Syntagmas qua Paradigmatisierung hier, ewiger Aufschub und radikale syntagmatische Offenheit dort –, so gewinnt die Frage, in welchen ökonomischen Systemen diese (und andere) Figuren operieren, Relevanz für die poetische Struktur pikarischer Romane der Frühen Neuzeit (und umgekehrt). Diesem bisher weitgehend unerforschten historischen Zusammenhang von pikarischer Poetik und ökonomischem Wissen nachzugehen, ist Ziel vorliegender Arbeit.175 174 Dass es zu solchen Analogiebildungen in der Frühen Neuzeit mutmaßlich nicht nur bei Cervantes kommt, hat mit der rhetorischen Tradition seit der Antike zu tun, die den Begriff der oeconomia – etwa bei Hermogenes, Cicero und Quintilian – als Synonym für die dispositio, die Kunst der Gliederung der Rede, verwendet. Dazu: Burkhart Cardauns: Zum Begriff der ‚oeconomia‘ in der lateinischen Rhetorik und Dichtungskritik. In: Ökonomie. Sprachliche und literarische Aspekte eines 2000 Jahre alten Begriffs. Hg. von Theo Stemmler. Tübingen 1985 (Mannheimer Beiträge zur Sprach- und Literaturwissenschaft 6), S. 9–18. 175 Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass die Konzentration auf das Verhältnis von pikarischem Roman und ökonomischem Wissen der Frühen Neuzeit einen Zugang darstellt, der in der Pikaresken-Forschung bisher nicht genutzt wurde. Ging es in auf pikarische Texte fokussierten Untersuchungen der letzten Jahrzehnte um ökonomische Aspekte, so wurden diese fast ausnahmslos auf der Basis sozialhistorischer Ansätze beobachtet, deren Umgang mit den Texten als historisch-materialistisch aussagekräftige „mimetic source[s]“ Peter N. Dunn bereits in den 1990er Jahren kritisiert hatte: „The century-long attempt to relate the depiction of society with economic conditions, trade cycles, the situation of the bourgeoisie, and so forth has led nowhere. The period 1530–1620 is one of both economic expansions and contradictions, of gains and losses in population, of over-abundance of labor here and shortage there. Against the easy assumption that these narratives mirror economic decline, one interpreter has suggested that ‚Lazarillo‘ should be viewed as a protest against the slowness of the rise in standard
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Zuletzt ein Wort zu Vorgehensweise und Textauswahl. Der gewählte Ansatz gibt ein Vorgehen vor, in dem zugunsten der genauen Lektüre einzelner Texte auf den Anspruch einer lückenlosen literarhistorischen Überblicksbildung verzichtet wird. Ausschlaggebend hierfür sind heuristische Erwägungen: Die das ökonomische Wissen in Bewegung setzenden Dynamiken, um die es hier gehen soll, sind Dynamiken, die im Diskurs der Texte entstehen und daher auch nur an und in diesem beobachtet und analysiert werden können. Die heuristisch gebotene Distanz der Studie gegenüber makrologischen Geschichtsnarrativen – sei es das der Geschichte des pikarischen Romans oder das der Geschichte der Ökonomie in der Frühen Neuzeit – soll dabei eine Fokussierung auf die Mikrologie der diskursiven Prozesse ermöglichen, in denen sich der narrative Transfer des Wissens vollzieht. Je präziser diese in den Blick kommen, desto zuverlässiger sind die Aussagen, die sich über das Verhältnis der Texte zum ökonomischen Wissen der Zeit treffen lassen. Denn anstatt, wie in den historisch arbeitenden Disziplinen lange Zeit (und anhaltend) üblich, „einzelnen Daten nur Bedeutung als Teil von […] allgemeinen Mustern zuzugestehen“ 176 – wobei die Gültigkeit dieser Muster dabei gewissermaßen axiomatisch vorausgesetzt wird –, erkennt die Untersuchung in der Singularität der diskursiven Operationen das eigentliche, wenngleich oftmals zerklüftete und widerständige (Teil-)Profil der historischen Konstellation von Erzählen und Wissen, der sie sich widmet. Der angesichts des textorientierten Vorgehens unvermeidliche Verzicht auf die Behandlung sämtlicher infrage kommender Romane bringt die Notwendig-
of living during a period of economic boom […]. All such explanations fail because they mistakenly seek a mimetic source.“ Dunn: Spanish Picaresque Fiction, S. 128. Ohne ihre Leistungen schmälern zu wollen, lässt sich Dunns Kritik auf die mit mehr oder weniger komplexen sozialhistorischen Mimesis-Konzepten operierenden Studien wie die Harry Siebers (The Picaresque. London 1977), Michel Cavillacs (Gueux et marchands dans le Guzmàn de Alfarache [1599– 1604]. Roman picaresque et mentalité bourgeoise dans l’Espagne du Siècle d’Or. Bordeaux 1983), José Antonio Maravalls (La literatura picaresca desde la historia social. Siglos XVI y XVII. Madrid 1986) und Giancarlo Maiorinos (At the Margins of the Renaissance. Lazarillo de Tormes and the Picaresque Art of Survival. University Park, PA 2003), im deutschsprachigen Raum vor allem auf die Forschungsbeiträge Hans Gerd Rötzers beziehen (Picaro – Landstörtzer – Simplicius. Darmstadt 1972; Der europäische Schelmenroman. Stuttgart 2009). Eine Aufgabe vorliegender Arbeit besteht darin, durch die Konzentration auf den Transfer ökonomischen Wissens in den Texten einen genaueren Blick auf die Prozesse zu gewinnen, die zur Entstehung und Perpetuierung dieser spezifischen Art subversiven Erzählens in der Frühen Neuzeit beigetragen haben. 176 Im kritischen Bezug auf Gepflogenheiten im Bereich kultur- und geisteswissenschaftlicher Fallstudien vgl. Charlotte Furth: In Fällen denken: das Wissen von Experten in der vormodernen chinesischen Geschichte. In: Fallstudien. Theorie – Geschichte – Methode. Hg. von Johannes Süßmann u. a. Berlin 2007 (Frankfurter kulturwissenschaftliche Beiträge 1), S. 49– 66, hier S. 65.
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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keit der Textauswahl mit sich. In vorliegender Arbeit wurde sie getroffen, indem das Korpus zunächst auf den Bereich deutschsprachiger Picaro-Romane des 17. Jahrhunderts reduziert wurde. Dabei geht es nicht etwa um die Behauptung überkommener nationalphilologischer Demarkationslinien. Im Gegenteil findet die Untersuchung von vornherein in Anerkennung der Tatsache statt, dass frühneuzeitliche Effekte einer Kultur- und Sprachgrenzen überschreitenden Transtextualität auch und gerade im Bereich des deutschsprachigen Picaro-Romans eine wesentliche Rolle spielen.177 Der Blick auf die diskursiven, im Medium pikarischen Erzählens vollzogenen Transferprozesse ersetzt das Denken in mehr oder weniger starren Abgrenzungskategorien (Epoche, Nationalliteratur etc.) dabei auch dort, wo es um die Beschreibung von Differenzen in der Ausprägung literarisch-epistemischer Konstellationen im deutschsprachigen Korpus geht. Diese, so die These, lassen sich letzthin nicht – oder nur sehr grob – im Rekurs auf etwaige ‚kulturelle Besonderheiten‘ erklären, sondern bedürfen vielmehr der spezifischen Analyse, die sich für funktionale Verschiebungen im Verhältnis von pikarischer Erzählform und den in den Texten verhandelten Wissenskonfigurationen sensibel zeigt. Dies betrifft zum einen die Adaptionen spanischer bzw. französischer Prätexte in der ersten Verdichtungsphase pikarischen Erzählens im deutschsprachigen Raum (ca. 1615–1630), in der mit dem ‚fremden‘ Erzählkonzept neue Möglichkeiten der Beobachtung poetischer, epis-
177 Anders als bei anderen Gegenständen der Literaturgeschichtsschreibungen wurde die europäische Verflechtungsgeschichte pikarischen Erzählens von der Forschung früh schon anerkannt und die deutschsprachigen Texte in diesem Zusammenhang gelesen. Vgl. Alexander A. Parker: Literature and the delinquent. The picaresque novel in Spain and Europe 1599– 1753. Edinburgh 1967; Helmut Heidenreich (Hg.): Pikarische Welt. Schriften zum europäischen Schelmenroman. Darmstadt 1969 (Wege der Forschung 163); Christine J. Whitbourn: Knaves and swindlers: Essays on the picaresque novel in Europe. London 1974; Richard Bjornson: The picaresque hero in European fiction. Madison, Wisconsin 1977; Gerhart Hoffmeister: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext: Rezeption, Interpretation, Bibliographie. Amsterdam 1987 (Chloe 5); Italo Michele Battafarano (Hg.): Il picaro nella cultura europea. Gardolo di Trento 1989 (Apollo 3); Stefano Beretta: La ricezione della ‚Novela Picaresca‘ spagnola in Germania. Le prime versioni tedesche del ‚Guzman de Alfarache‘ e del ‚Lazarillo de Tormes‘. Rom 1992 (La civiltà delle scritture 13); Margit Raders, Maria Luisa Schilling (Hg.): Der deutsche und der spanische Schelmenroman / La novela picaresca alemana y española. Actas de la VII Semana de Estudios Germánicos: Relaciones Hispano-Alemanas en la Lengua, la Literatura y la Cultura, celebrada en El Escorial (30 de marzo–3 de abril 1992). Madrid 1995; Jürgen Jacobs: Der Weg des Picaro. Untersuchungen zum europäischen Schelmenroman. Trier 1998 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft 40). Seit Neuestem liegt außerdem eine umfassende Sammlung von Aufsätzen zum Thema vor, die allesamt aus der Feder Alberto Martinos stammen. Vgl. ders.: Die Verwandlungen des Pícaro. Die Rezeption der ‚novela picaresca‘ im deutschen Sprachraum (1555/1562–1753). Hg. von Fausto de Michele u. a. Baden-Baden 2017 (Saecula spiritalia 50).
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temologischer und, wie gezeigt werden soll, auch ökonomischer Dispositive erschlossen werden.178 Dies betrifft zum anderen aber auch die von der älteren Forschung gerne als deutsche ‚Originalromane‘ bezeichneten Texte der zweiten Verdichtungsphase (ca. 1668–1680), in denen sich die konzeptuellen Spannungen in Richtung einer metareflexiv gewendeten transtextuellen Hybridität weiter verschärfen.179 Gerade weil diese Romane eine Schwelle innerhalb der Literaturgeschichte zu markieren scheinen – in aller Vorläufigkeit ließe sich die These formulieren, dass die von der Forschung festgestellte ‚Unterbrechung‘ der pikarischen Gattung „im Zeitalter der Aufklärung“ 180 in den selbstreferentiellen, hybriden Erzählverfahren der Texte um 1670/80 reflexiv antizipiert wird –, lohnt sich der Blick auf die in ihnen präsentierten Verflechtungen von literarischer Form und ökonomischem Wissen. Sollte es Änderungen in der Funktionszuschreibung von Literatur und Ökonomie in der „Übergangszeit“ 181 des späten
178 Zum Komplex von Epistemologie und Poetik im frühen deutschsprachigen Picaroroman vgl. die Studie von Struwe: Episteme des Pikaresken. 179 Für beide Verdichtungsphasen, mit besonderer Nachdrücklichkeit aber für die zweite ließe sich damit die These Lickhardts geltend machen, dass das vermehrte Auftauchen pikarischer Texte immer etwas mit größeren Transformations- und Umbauprozessen im offenen literarischen System der Zeit zu tun hat. Vgl. Maren Lickhardt: Zu Transformationen des Pikarischen. In: LiLi 175 (2014), S. 6–23. 180 So Jürgen C. Jacobs: Art. ‚Schelmenroman‘. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hg. von Dieter Lamping. Stuttgart 2009, S. 667–671. Jacobs’ Formulierung, dass im „Zeitalter der Aufklärung […] in Deutschland keine nennenswerten Schelmenromane mehr“ erscheinen (ebd., S. 670), ist freilich erklärungsbedürftig. Dies gilt für die Frage, warum gerade die deutschsprachige Literatur der ‚Aufklärung‘ keine Pikaresken hervorbringt – erscheinen in anderen ‚aufgeklärten‘ Literaturen, etwa in Frankreich (Bsp. Lesage, Gil Blas) oder England (Bsp. Defoe, Moll Flanders), doch zu Beginn des 18. Jahrhunderts sogar prägende Texte der Gattung. Zum anderen macht die Einschränkung „keine nennenswerten Schelmenromane“ (Hervorheb. S. Z.) die Grenzen einer qualitativen Literaturgeschichtsschreibung deutlich. Sollte Jacobs bei den ‚nicht nennenswerten‘ Texten etwa an späte Neuauflagen der Romane Grimmelshausens, an bestimmte Aventiurer-Romane oder auch an (Übersetzungen von) Robinsonaden nach 1720 gedacht haben, wäre plötzlich eben doch eine Gruppe möglicher Genrevertreter greifbar. Ob und inwieweit diese Texte ein pikarisches Segment der deutschsprachigen Literatur des 18. Jahrhunderts ausmachen, kann hier nicht diskutiert werden. Außer Zweifel steht jedoch, dass die Annahme eines totalen Abbruchs der Gattung um 1700 ebenso irreführend sein dürfte wie die Annahme ihrer bruchlosen historischen Kontinuität. Die denkbaren, oft wohl subkutanen Filiationsdynamiken nachzuweisen, ist eine Aufgabe, die die germanistische PikareskenForschung in den kommenden Jahren verstärkt angehen sollte. 181 Dirk Niefanger: Konzepte, Verfahren und Medien kultureller Orientierung um 1700. In: Kulturelle Orientierung um 1700. Traditionen, Programme, konzeptionelle Vielfalt. Hg. von Sylvia Heudecker u. a. Tübingen 2004 (Frühe Neuzeit 93), S. 9–30, hier S. 18. Dass der Begriff als Epochenbegriff problematisch ist, braucht kaum der Erwähnung: Soll er bezeichnen, dass ‚vor‘ und ‚nach‘ dieser Zeit etwas in sich Stabiles gegeben sei – die ‚barocke‘ Literatur und die
1.3 Pikarischer Roman und Ökonomie: Aufriss der Untersuchung
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17. Jahrhunderts geben, müssten sie an den ökonomisch vielschichtig interessierten pikarischen Romanen der Zeit exemplarisch hervortreten. Auf Basis dieser Vorüberlegungen hat sich eine Textauswahl angeboten, in der Romane aus beiden genannten Verdichtungsphasen gleichberechtigt vertreten sind. Beginnen wird die Untersuchung mit zwei Texten, denen als Adaptionen wirkmächtiger romanischer Vorlagen eine transkulturelle und transtextuelle Dimension eingeschrieben ist. Was die 1617 in Augsburg gedruckte Historia von Lazarillo von Tormes (Kap. 2) und Aegidius Albertinusʼ 1615 in München erscheinenden Landstörtzer Gusman von Alfarche (Kap. 3) für die Untersuchung besonders interessant macht, ist allerdings nicht allein deren herausragende Rolle innerhalb der „generische[n] Emergenzphase“ 182 pikarischen Erzählens im deutschsprachigen Raum, sondern auch und vor allem ihr radikal unterschiedlicher Umgang mit dem Irritationspotenzial pikarischer Narration. So wird im deutschsprachigen Lazarillo unter weitgehendem Verzicht auf Moralisation vom prekären sozialen Aufstieg der Hauptfigur erzählt, während Albertinus sich in seiner Adaption von Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache sichtlich darum bemüht, die Alterität der pikarischen Vita durch die Einschaltung religiöser und moraldidaktischer Diskurse einzudämmen. Je konfliktträchtiger das Verhältnis zwischen den Handlungs- und Erzählweisen der Figuren und den auf ökonomischen Strukturen basierenden Ordnungen des Eigenen dabei ausfällt, desto aussichtsreicher erscheint seine Analyse vor dem Hintergrund der Fragestellung vorliegender Arbeit. Im dritten und vierten Kapitel der Studie werden mit Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicianischem Zyklus (1668–75) und Johann Beers Der Simplicianische Welt-Kucker (1677–79), Corylo (1680), Die Teutschen Winternächte (1682) und Die kurtzweilgen Sommer-Täge (1683) Romane aus der zweiten Verdichtungsphase pikarischen Erzählens in Deutschland untersucht. Kennzeichnend für diese Texte ist eine Tendenz zur (gesteigerten) poetologischen Selbstreflexivität, die sich, so die These, gerade dort prägnant ausbildet, wo in den Diskursen der Figuren beträchtliche Mengen ökonomischen Wissens transferiert werden. In diesem Sinne beobachtet Grimmelshausens Romanserie, die in dieser Arbeit als zusammenhängender, intra- wie intertextuell weit verzweigter
der ‚Aufklärung‘ etwa –, würde er zur Proliferation überkommener Periodisierungsmodelle der Literaturgeschichtsschreibung beitragen. Einen heuristischen Wert erhält er erst, wenn das Transitorische als konstitutives und reflexives Moment der in diese Zeit fallenden Texte regelmäßig nachgewiesen werden kann. Dies kann in vorliegender Arbeit für die zu behandelnden Pikaresken um 1670/1680, aber natürlich nicht für die gesamte Literatur der Zeit vor und um 1700 geleistet werden. 182 Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 1.
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Erzähl-Komplex betrachtet werden wird, die oeconomia sowohl als epistemisches System als auch als menschliche Praxis und setzt sie in beiderlei Form ins Verhältnis zu den Ordnungs- und Erkenntnisproblemen, die die Erzählungen aufwerfen. Beers Romane knüpfen hier an, richten den Fokus dabei jedoch vor allem auf die Spannung zwischen der parasitären Praxis der Figuren und deren finaler Etablierung als adlige, strategisch operierende Haus- und Hofväter. Auf Grundlage der These, dass Beers Texte die Ersetzung traditionellen Moralwissens durch ein Wissen kameralistischer Rationalisierung vollziehen, diese Ersetzung zugleich aber ironisch unterlaufen, sammelt das Kapitel Hinweise auf Verschiebungen zwischen Erzählform und epistemischen Konfigurationen, die in bestimmten Konstellationen der Literatur um 1700 wiedergefunden werden können. Als Beispiel hierfür dienen der Arbeit die in einem kurzen Ausblick (Kap. 5) zu betrachtenden ‚politischen‘ Romane Christian Weises, in denen an die Stelle der pikarischen Verunsicherung rationaler Handlungsmuster deren (Re-)Implementierung durch die Autorität der ‚vernünftigen‘ Textinstanzen gesetzt wird.
2 Aufstieg des Parasiten: Historia von Lazarillo de Tormes Im Umfeld des Münchener Verlegers Nikolaus Heinrich beginnt in den 1610er Jahren die Geschichte gedruckter deutschsprachiger Picaro-Romane. Unter den neuartigen Texten, die in diesen Jahren aus Spanien, Italien und Flandern nach Süddeutschland kommen, sind neben Mateo Alemáns Guzmán de Alfarache (von dem im nächsten Kapitel die Rede sein wird) auch Versionen jener spanischen Vida de Lazarillo de Tormes, deren Ausgaben seit 1554 den Grundstein für den Aufschwung pikarischen Erzählens im romanischen Sprachraum gelegt hatten.1 Die Geschichte des jungen Lazarillo, der aus bitterer Armut zum niederen königlichen Amtmann – er wird Ausrufer auf dem Markt von Toledo – aufsteigt und eben darin den ‚Gipfel des Glücks‘ („cumbre de toda buena fortuna“)2 erkennt, birgt ein Faszinationspotenzial, das bis in die Lektüren der modernen Forschung hinein ungebrochen erscheint. Dabei hat der anhaltende Erfolg des Textes zweifellos mit den Widersprüchen zu tun, in die Lazarillo sich in seiner Vita verwickelt: Sein Aufstieg auf den Gipfel des Glücks bedeutet einerseits zwar das (vorläufige) Ende der krassen materiellen Not, von der er zeitlebens bedroht gewesen war. Andererseits geht er mit einer totalen moralischen Unterhöhlung seiner Person einher, bleibt seine gesellschaftliche Stellung offensichtlich doch von der Gunst eines Erzpriesters abhängig, dem seine Frau als Beischläferin zu Diensten ist. Ob mit dieser schändlichen Lebensweise auch die Anklage zu tun hat, auf die Lazarillo im Prolog der spanischen Ausgaben reagiert (und die die Herstellung eines Lebensberichtes juristisch nach sich zu ziehen scheint), wird aus dem Erzählkontext nicht recht klar.3 Unübersehbar
1 Die Vida de Lazarillo de Tormes, y de sus fortunas y adversidades erscheint 1554 ohne Autornennung gleichzeitig in Burgos, Antwerpen, Medina del Campo und Alcalá de Henares. Diesen Ausgaben dürfte eine inzwischen verlorene editio princeps vorausgegangen sein. Zur filiationsgeschichtlichen Einordnung des spanischen Lazarillo vgl. Francisco Ricos Vorwort in: Lazarillo de Tormes. Hg. von Francisco Rico. Madrid 1990, S. 13*–139*, hier bes. S. 13*–30*. 2 Lazarillo de Tormes/Klein Lazarus vom Tormes. Spanisch/Deutsch. Übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort versehen von Hartmut Köhler. Stuttgart 2006, S. 160. Die Ausgabe präsentiert den spanischen Text nach der oben angegebenen Ausgabe Francisco Ricos. 3 Entsprechend kontrovers hat die Forschung über den ‚Fall‘ (caso) Lazarillos diskutiert. Einen Überblick über die verschiedenen Positionen geben das Nachwort Köhlers in: Lazarillo/Klein Lazarus, S. 179–195, sowie Antonio Ray Hazal: El ‚caso‘ de Lázaro de Tormes: todo problemas. In: Congreso Internacional ‚Carlos V y la quiebra del humanismo político en Europa (1530–1558)‘, Madrid, 3–6 de julio de 2000. Bd. 3. Hg. von der Sociedad Estatal paral la Commemoración de los Centenarios de Felipe II y Carlos V. Madrid 2001, S. 277–300. Auf die verschiedenen Deutungsvarianten verweist außerdem auch Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 171–186, um https://doi.org/10.1515/9783110486636-002
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jedoch ist der Wille Lázaros, sich durch das Erzählen seiner Lebensgeschichte gegen die Gerüchte und die mutmaßliche Anklage zur Wehr zu setzen. Sein Ziel ist es, die eigene „persona“ 4 durch diskursive Manöver in einem guten Licht zu präsentieren, wozu nicht zuletzt der Versuch gehört, sein Leben als nachahmenswertes Exempel für die alle Widrigkeiten überwindende Kraft der Tugend zu verkaufen. Anders als „diejenigen, die vielleicht einen Adelstitel geerbt haben“, sei er, Lazarillo, allein durch „Kraft und Geschick“ in „den sicheren Hafen“ des Glücks eingelaufen.5 Dass er in diesem Hafen Tag für Tag dazu gezwungen ist, die Augen vor der Schande seiner Ehe zu verschließen, verschweigt er geflissentlich – diese Tatsache muss der Leser den verräterischen Andeutungen entnehmen, die die Figur im finalen Abschnitt ihrer Lebenserzählung zu ihrer häuslichen Situation macht.6 Das Widerspiel der rhetorischen Herstellung einer tugendhaften persona durch Lazarillo und der Aufdeckung der Brüchigkeit dieser Repräsentation durch den Leser scheint die Rezeption des Textes im Spanien des 16. und frühen 17. Jahrhunderts wesentlich befördert zu haben.7 Während die in den Erstausgaben noch sehr präsenten kleruskritischen Elemente, die 1559 zur inquisitorischen Indizierung des Textes geführt hatten, in der purgierten Fassung von 1573 – dem sogenannten Lazarillo castigado des Juan López de Velasco – weitgehend beseitigt sind, erhalten in späteren spanischen Fassungen generell diejenigen Episoden größeres Gewicht, in denen es, mit Luhmann gesprochen, um die Frage nach der „Voraussetzung für Interaktionsfähigkeit“ 8 der Figuren im sozialen Raum geht – Figuren im Plural, denn im Zuge der damit bezeichneten Verschiebung rückt neben Lazarillo, dem Aufsteiger, etwa auch die Gestalt des verarmten, zu keiner Standesrepräsentation mehr fähigen escudero ins Zentrum der Aufmerk-
zugleich vor der in der Forschung verbreiteten Tendenz zur Vereindeutigung des ironischen Textes zu warnen. 4 Lazarillo/Klein Lazarus, S. 8. 5 Ebd., S. 9; der spanische Wortlaut ebd., S. 8: „[…] y también porque consideren los que heredaron nobles estados cuán poco de les debe, pues Fortuna fue con ellos parcial, y cuánto más hicieron los que, siéndoles contraria, con fuerza y maña remando salieron a buen puerto.“ 6 Zu dieser Deutung vgl. auch Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 183, der sich hier wiederum auf Rico bezieht. Vgl. Francisco Rico: La novela picaresca y el punto de vista. Nueva edición corregida y aumentada. Barcelona 2000, S. 22–26. 7 So auch Rodrigo Cacho Casal: Hide-and-seek: ‚Lazarillo de Tormes‘ and the art of deception. In: Forum for Modern Language Studies 44 (2008), S. 322–339. 8 Niklas Luhmann: Interaktion in Oberschichten. Zur Transformation ihrer Semantik im 17. und 18. Jahrhundert. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Bd.1. Frankfurt a. M. 1980, S. 72–161, hier S. 94.
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samkeit.9 Angesichts dieser Tendenz in der frühen Rezeptionsgeschichte wundert es nicht, wenn der Lazarillo 1603 schließlich in einer weit verbreiteten Ausgabe als Anhang an Lucas Graciáns Galateo español und Oracio Riminaldos Destierro de ignorancia erscheint 10 – als satirisches tertium zweier Texte mithin, die als höfische Verhaltenslehren das um 1600 in Spanien etablierte Wissen um die Bedeutung politischer Handlungs- und Redeweisen für den Erfolg bei Hofe tradieren. Zu dem in diesen Texten propagierten Ideal steht Lazarillos Versuch, die moralische Nichtswürdigkeit seiner Person „hinter einem normkonformen Profil der Selbstrepräsentation“ zu verbergen,11 einerseits fraglos in einem ironischen Kontrast. Andererseits entfaltet der pikarische Text gerade dort, wo er die bezeichnete dilemmatische Verschränkung von ökonomischsozialem Aufstieg und moralischem Abstieg diskursiv performiert, ein ganz eigenes Erkenntnispotenzial, in dessen Zentrum der Picaro als Träger alteritärer Handlungskonzepte steht. Dieses Erkenntnispotenzial, das auf die Agenda des Protagonisten in doppelter Hinsicht – als Urheber des Erzähldiskurses und als Handelnder in der erzählten Welt – zurückzuführen ist, soll im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen. Der Blick richtet sich dabei auf die Historia von Lazarillo de Tormes (1617), die als erste gedruckte deutsche Übersetzung zur Verbreitung der Lazarillo-Vita im deutschsprachigen Raum wesentlich beiträgt.
9 Zur Geschichte der Purgierungen des Lazarillo und seiner spanischen Editionen zwischen 1554 und 1600 vgl. Harry Sieber: Literary Continuity, Social Order, and the Invention of the Picaresque. In: Cultural Authority in Golden Age Spain. Hg. von Marina S. Brownlee, Hans Ulrich Gumbrecht. Baltimore, London 1995, S. 143–164. 10 Dazu Sieber: Literary Continuity, S. 149 f. Sieber weist darauf hin, dass der Herausgeber des Dreierbandes, Miguel Martínez, eng an den Hof Philipps III. angeschlossen war und dabei auch den Umzug desselben von Madrid nach Valladolid mitgemacht haben dürfte. Daher traut sich Sieber zu, ein Urteil über das Publikum des Bandes zu fällen: „It seems evident that the readers Martínez had in mind were those literate courtiers, government bureaucrats, merchants, and hangers-on who followed the court and who, according to Madrid’s city fathers, numbered in the hundreds.“ Ebd., S. 150. Bereits 1599 war der Lazarillo mit Graciáns Galateo español erschienen – in einer Ausgabe, die, wie Sieber nachweist, auch von Cervantes und Alemán gelesen worden ist (ebd., S. 153). Zu den mit diesen Editionen verbundenen ‚Anpassungen‘ des Lazarillo an Lesermilieus siehe auch Sean McDaniel: ‚Galateo español‘, ‚Destierro de Ignorancia‘, and ‚Lazarillo de Tormes castigado‘: The Importance of Post-Publication History. In: The ‚Lazarillo‘-Phenomenon: Essays on the Adventures of a Classic Text. Hg. von Reyes Coll-Tellechea, Sean McDaniel. Lewisburg, PA 2010, S. 48–74; Felipe E. Ruan: Market, Audience, and the Fortunes and Adversities of ‚Lazarillo de Tormes castigado‘ (1573). In: Hispanic Review 79 (2011), Heft 2, S. 189–211. 11 So Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 286.
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2.1 Transfer pikarischer Alterität: Die Historia und ihre Vorlagen Gemäß der Tendenz aller Bearbeitungen und Übersetzungen seit Juan López de Velascos Lazarillo castigado finden sich auch im ersten deutschsprachigen Lazarillo-Druck, der 1617 gemeinsam mit Nikolaus Ulenharts Übersetzung von Cervantes’ Rinconete y Cortadillo in Augsburg erscheint,12 die antiklerikalen Zumutungen der Erstfassungen von 1554 weitgehend purgiert. Wie in der unmittelbaren Vorlage der Historia von Lazarillo de Tormes, der 1594/98 in Antwerpen erschienenen französischen Histoire plaisante, facetievse, et recreative; dv Lazare de Tormes Espagnol,13 sind die unter Blasphemie-Verdacht stehenden Episoden der Erstausgaben – etwa Lazarillos Dienste beim Barmherzigen Bruder und beim betrügerischen Ablasskrämer – ersatzlos gestrichen. Anderswo werden antiklerikale Schärfen deutlich abgemildert. Ironische Anspielungen auf die Sakramente etwa – vor allem in der Priesterepisode zu Maqueda – fehlen ebenso wie der im Konkubinat lebende Erzpriester, an dessen Stelle in der His-
12 Der gesamte Titel des Doppelbandes lautet: Zwo kurtzweilige / lustige / vnd lächerliche Historien / Die Erste / von Lazarillo de Tormes, einem Spanier / was für Herkommens er gewesen / wo / und was für abenthewrliche Possen / er in seinen Herrendiensten getriben / wie es jme auch darbey / biß er geheyrat / ergangen / vnnd wie er letztlich zu etlichen Teutschen in Kundschafft gerathen. Auß Spanischer Sprach ins Teutsche gantz trewlich transferirt. Die ander / von Isaac Winckelfelder / vnd Jobst von der Schneid / Wie es disen beyden Gesellen in der weitberümten Statt Prag ergangen / was sie daselbst für ein wunderseltzame Bruderschafft angetroffen / vnd sich in dieselbe einuerleiben lassen. Durch Niclas Ulenhart beschriben. Gedruckt zu Augspurg / durch Andream Aperger / Jn verlegung Niclas Hainrichs. M.DC.XVII [Augsburg: Andreas Aperger, Nikolaus Heinrich 1617]. 13 Zur Genealogie der Lazarillo-Versionen im deutschen Sprachraum vgl. Alberto Martino: Die Rezeption des ‚Lazarillo von Tormes‘ im deutschen Sprachraum (1555/62–1750). In: Daphnis 26 (1997), S. 301–399. Die französische Vorlage für die deutsche Übersetzung von 1617 lautet mit vollständigem Titel: Histoire plaisante, facietevse et recreative; du Lazare de Tormes Espagnol: En laquelle l’esprit melancolique se peut recreer & prendre plaisir: Augmentee de la seconde partie, nouvellement traduite de l’Espagnol en Français. Antwerpen: Guislain Jansens 1598. Es ist an dieser Stelle zu erwähnen, dass bereits drei Jahre vor dem Augsburger Druck, 1614, eine handschriftliche deutsche Übersetzung des Lazarillo angefertigt worden ist, die bis ins 20. Jahrhundert allerdings nicht gedruckt wurde. Aufgrund der eingeschränkten Wirkungsgeschichte wird diese dem spanischen Original sehr nahe, wohl aus Humanistenhand stammende Übersetzung hier nicht weiter in Betracht gezogen werden. Greifbar ist sie in folgender Ausgabe: Leben Vnd Wandel Lazaril von Tormes: Vnd beschreibung, Waß derselbe fur vnglück vnd widerwertigkeitt außgestanden hat. Verdeutzscht 1614. Nach der Handschrift hg. und mit Nachwort, Bibliographie und Glossar versehen von Hermann Tiemann. Hamburg 1951. Zu dieser Übersetzung und ihrem Verhältnis zum spanischen Lazarillo vgl. Martino: Die Rezeption des ‚Lazarillo de Tormes‘, S. 302–317.
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toria ein weltlicher „Geschlechter oder Junker zu Toledo“ 14 tritt. Gegenüber den fünf Episoden von 1554 ist Lazarillos Lehrzeit auf drei Episoden reduziert. Nach der Erzählung der frühesten Kindheit werden allein Lazarillos Dienste beim blinden Fürbitter, beim geizigen Priester und beim verarmten Edelmann geschildert, dessen Ruin den Abschluss des ersten, auf episodische Variation setzenden Erzählabschnitts darstellt. Sodann folgt der zweite Abschnitt, der, wie satirisch-doppelbödig auch immer, dem Paradigma des Aufstiegs des unterprivilegierten, aber tüchtigen Mannes verpflichtet ist: Lazarillo arbeitet als Wasserverkäufer in Toledo, spart täglich etwas Geld, kleidet sich im adligen Stil neu ein (wenngleich mit alten Kleidern), wird zum königlichen Ausrufer ernannt, heiratet und erzählt voller Stolz, dass er als bekannter Mann allnächtlich auf Gelage eingeladen wird, die infolge der Hofhaltung Karls V. in Toledo in der Stadt gegeben werden. Damit bewegt sich der Lazarillo der deutschen Historia, wie auch schon der der Antwerpener Fassung,15 auf dem „höchsten gipffel“ seiner „glückseligkeit“ 16 gewissermaßen an der Schwelle zur gesellschaftlichen Elite. Dies scheint ihn zu motivieren, in Gedanken bereits weitere Stufen der sozialen Leiter vom „Stattrath“ bis hin zum „Burgermeister“ zu erklimmen.17 In provokanter Weise spielt der Text dergestalt mit den strukturellen Möglichkeiten, die die pikarische Erzählsituation bietet: Indem die Historia einerseits (wie schon die Vorlagen) den Topos vom Rad der Fortuna bemüht und damit impliziert, dass sich nach Lazarillos glücklichem Aufstieg im Anschluss an den Zeitpunkt des Erzählens eigentlich nur noch sein Abstieg vollziehen kann, andererseits aber deutlich macht, dass das weitere Schicksal vom Beobachterstandpunkt der erzählenden Figur aus niemals sicher vorherzusagen ist – es könnte auf dem sich drehenden Rad ja auch weiter nach oben gehen, der Gipfel des Glücks könnte also sozusagen nur ein Vorgipfel gewesen sein –, trägt sie zu einer Verunsicherung eingespielter Deutungsperspektiven bei, deren Geltung angesichts der Ambivalenz des pikarischen Diskurses nicht reibungslos zu erweisen ist. Lazarillo agiert bis zum Ende der Historia aus einer taktischen Position heraus, da er auf die Gunst, die Zuwendungen, die Verschwiegenheit der
14 Zwo Historien, S. 166. Im Antwerpener Druck ist bereits von einem „Gentilhomme“ die Rede. Histoire plaisante, S. 117. 15 Die Begegnung Lazarillos mit den deutschen Höflingen findet sich in den spanischen Erstausgaben nicht. Sie entspricht dem Handlungsbeginn der frühesten Fortsetzung – der sogenannten Segunda Parte –, die 1555 in spanischer Sprache in Antwerpen erschienen war. Zum Import des ersten Kapitels der Fortsetzung in den ersten Lazarillo-Teil, der mit der französischen Übersetzung beginnt, vgl. auch Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 206. 16 Zwo Historien, S. 172. 17 Ebd., S. 179.
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Mächtige(re)n angewiesen ist.18 Trotzdem – oder gerade deswegen – handelt er im Rahmen seiner Möglichkeiten durchaus erfolgreich und wirft damit unweigerlich die Frage nach der Struktur der Institutionen auf, die es erlauben, dass einer wie er überhaupt in die Vorhöfe der Macht aufsteigen kann. Bevor von diesem Punkt aus eine eingehende Textlektüre unternommen werden soll, ist auf eine Besonderheit des deutschen Textes hinzuweisen: die dem Augsburger Druck vorangestellte Vorrede. Sie stellt insofern eine Eigentümlichkeit in der frühneuzeitlichen Rezeptionsgeschichte des Lazarillo dar, als sie – anders als die Erstausgaben von 1554, anders aber auch als die Antwerpener Fassung – den überlieferten, an Euer Gnaden (‚Vuestra Merced‘) gerichteten Prolog Lazarillos durch einen von der Figur vollkommen abgelösten paratextuellen Diskurs ersetzt.19 Dies mag ganz praktisch in der Zuständigkeit der Vorrede für beide im Druck enthaltenen Erzählungen begründet sein. Für die rezeptionsästhetische Dimension des Textes ist die Präsenz des außenstehenden, vom Zirkel pikarischer Autodiegese nicht berührten Vorredners gleichwohl von Bedeutung. Während noch in der Antwerpener Fassung der Prolog von der taktischen Rhetorik Lazarillos geprägt ist, präsentiert der Augsburger Druck eine verlässliche Deutungsinstanz, an deren Urteil über die Figuren – Lazarillo auf der einen, die
18 Auch bereits im Bezug auf Certeau spricht Ehrlicher: Karneval und Konversion, S. 172, mit Blick auf den spanischen Lazarillo von der pikarischen „Taktik ambivalenter Selbstlegitimierung“. 19 Auch die deutschsprachige Lazaril-Handschrift von 1614 übernimmt das Prolog-Modell der spanischen Erstfassungen. Dazu Werner Röcke: Wahrheit und ‚eigenes‘ Erleben. Zur Poetik von Schwankdichtung und Schelmenroman im 16./17. Jahrhundert. In: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext: Rezeption, Interpretation, Bibliographie. Hg. von Gerhart Hoffmeister. Amsterdam 1987 (Chloe 5), S. 13–28, hier S. 15 f. Im Antwerpener Druck findet sich der Prólogo von 1554 bis auf einige Kürzungen recht genau wiedergegeben. Für den deutschen Druck von 1617 stellt sich die Frage, welcher von den an der Textherstellung Beteiligten – der Verleger Heinrich, der Cervantes-Übersetzer Ulenhart oder der Drucker Aperger – für die Vorrede verantwortlich zeichnet. Martino: Die Rezeption des ‚Lazarillo von Tormes‘, S. 317 f., will Alewyns Meinung, beim Autor der Vorrede handele es sich um Nikolaus Ulenhart (vgl. Richard Alewyn: Die ersten deutschen Übersetzer des ‚Don Quixote‘ und des ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 54 [1929], S. 203–216, hier S. 213), nicht unkritisch übernehmen und hält auch eine Autorschaft Heinrichs für möglich. Dem ist an sich nicht zu widersprechen. Zu beachten ist allerdings die Tatsache, dass in der Vorrede gegen sonstige Konventionen die Beteiligung des Augsburger Druckers, Andreas Aperger, eigens hervorgehoben wird – ein Indiz, das nicht prinzipiell gegen die These sprechen muss, dass die Vorrede von Heinrich oder Ulenhart stammt, wohl aber darauf hinweist, dass Aperger im Rahmen der Textgenese eine besondere Rolle gespielt haben könnte. Es wird darauf zurückzukommen sein.
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cervantinischen Gauner auf der anderen Seite – kein in der Diskursarchitektur begründeter Zweifel besteht.20 Zum Autoritätsanspruch dieser Instanz passt es, dass sie die ihr gestellte, angesichts des Gehaltes der Erzählungen durchaus ja heikle Aufgabe vom sicheren, weil autoritativ fest verankerten Fundament der horazischen SatireTheorie aus angeht. Ins Zentrum der Argumentation rückt entsprechend die Frage nach dem Nutzen der Lektüre für den Leser: Beim „vortrefflichen Poeten vnd moralischen Philosopho, Quinto Horatio Flacco“ sei nachzulesen, so der Prologist, dass der satirische Dichter „nit nur grauitèr, sonder auch jocosè, die Laster / so hin vnnd wider im schwung gehen /straffe[n]“ solle.21 Eben dies geschehe in diesem Buch, dessen „Author“ sich „vorgenommen“ habe, „die Jugent […] vor schaden zu warnen / ihnen aber dise Lection in einem solchen süssen Büchlein anzurichten und vor Augen zustellen“.22 Die Argumentation entspricht Konventionen frühneuzeitlicher Satire-Poetik: Um didaktisch wirken zu können, muss der Autor sich beim Abfassen der Satire an die affektiven und intellektuellen Bedingungen anpassen, die er beim Publikum vorfindet. Dafür darf er das Decorum insofern partiell außer Kraft setzen, als es ihm erlaubt ist, über den Ernst der Laster nicht, wie eigentlich angemessen, „gravitèr“, sondern „jocosè“ zu handeln und den Leser auf diese Weise im selben Moment zu ermahnen und zu unterhalten. Dass an den zitierten Stellen vom „Author“ des Buches im Singular die Rede ist, scheint auf den ersten Blick irritierend – enthält das Buch doch, wie schon sein Titel verrät, zwei Historien. Der Grund hierfür erschließt sich im weiteren Verlauf der Vorrede. So wird nach und nach ersichtlich, dass mit dem „Author“ zunächst nur der Urheber der Historia von Isaac Winckelfelder / vnd Jobst von der Schneid gemeint ist.23 Erst gegen Ende des Prologs kommt der Prologist speziell auf die Historia von Lazarillo de Tormes zu sprechen. Dabei fällt auf, dass die Passage mit einer Geste der Verantwortungsübertragung vom Verleger auf den Drucker beginnt. Nicht der auf dem Titelblatt erscheinende
20 Die deutsche Historia nimmt damit auf den ersten Blick die von Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 171–186, überzeugend rekonstruierte Ent-Autorisierungsstrategie des spanischen Textes (und seiner Nachfolger) zurück. 21 Zwo Historien, fol. ijv–iijv (Vorrede). 22 Ebd., fol. iiijv (Vorrede). 23 Aufgrund des gegenüber der Moderne anders gefassten Autorschaftsbegriffes der Frühen Neuzeit kann dabei nicht letztgültig geklärt werden, ob der Verfasser der Vorrede als „Author“ den Cervantes anspricht, den Übersetzer Nikolaus Ulenhart oder aber den juristisch verantwortlich zeichnenden Verleger Nikolaus Heinrich. Zu den Spezifika frühneuzeitlicher Auffassungen von Autorschaft vgl. Andreas Keller: Frühe Neuzeit: Das rhetorische Zeitalter. Berlin 2008, S. 77–90.
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Nikolaus Heinrich – seines Zeichens Hauptverleger der im Umkreis des maximilianischen Hofes in München entstehenden katholisch-konfessionalisierten Literatur –, sondern Andreas Aperger, der Drucker,24 habe den spanischen Text dem Buch hinzugefügt: So hat der Trucker noch ein andere History / disem Tractätl beygetruckt / von dem Lazarillo von Tormes / welche vor vilen Jahren in Hispanischer Sprach außgangen / vnd seythero offt nachgetruckt / aber ins Teutsch nie gebracht worden […].25
Was hinter dieser Geste steckt, kann nur vermutet werden. Offensichtlich ist, dass sie mit der Entscheidung, das Buch nicht in München, sondern in Augsburg zu drucken, in Zusammenhang steht. Kommt es zu dieser Entscheidung, wie Martino vermutet, tatsächlich aus Gründen der Zensurumgehung – ein Text wie der Lazarillo scheint in die ‚gegenreformatorische‘ Literaturpolitik Maximilians I. kaum zu passen, Augsburg könnte als liberaler(er) Ausweichdruckort in Frage gekommen sein –,26 so könnte dies einen Hinweis liefern auf die kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen der Transfer des Textes in den deutschsprachigen Raum stattfindet. Mit Augsburg als ökonomisch wie kulturell hervorragender Stadt des 16. und frühen 17. Jahrhunderts verbinden sich Aspekte sozialer Pluralität und Beweglichkeit, die zur Geschichte des Lazarillo gut zu passen scheinen.27 Konkreter greifen lässt sich eine solche Beziehung von Text und Druckort mit Blick auf die auffällige, von sonstigen Mustern der Verlegerschaft Heinrichs abweichende konfessionelle Indifferenz des Prologs. Es scheint weit besser nach Augsburg – in die seit Karls V. Zeiten konfessionell paritätisch regierte Reichsstadt – als nach München zu passen, wenn der Prologist den sündigen Christen sowohl vor einem naiven katholischen Rosenkranz-Glauben als auch vor einer falsch verstandenen, weil heilsgewissen lutherischen sola fide-Lehre warnt.28 Offenbar soll die Reichweite des Druckes durch konfessionelle Markie24 Zu Aperger vgl. Josef Benzing: Art. ‚Aperger, Andreas‘. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953), S. 324 f.; Hans-Jörg Künast: Entwicklungslinien des Augsburger Buchdrucks von den Anfängen bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. In: Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. von Helmut Gier, Johannes Janota. Wiesbaden 1997, S. 3–21, hier S. 19 f. 25 Zwo Historien, fol. vijv. 26 Martino: Die Rezeption des ‚Lazarillo de Tormes‘, S. 319 f. 27 Auf die vielschichtigen kulturellen, künstlerischen, politischen und ökonomischen Dynamiken im frühneuzeitlichen Augsburg gehen die Beiträge in einem von Jochen Brüning und Friedrich Niewöhner herausgegebenen Sammelband (vgl. dies. [Hg.]: Augsburg in der frühen Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsprogramm. Berlin 1995 [Colloquia Augustana 1]) ein. 28 Weder, so heißt es hier im paränetischen Ton, helfe es dem sündigen Katholiken, „sein Rosenkrantz stets in Händen zu tragen“, noch dürfe der Sünder, „wann er Lutherisch ist“, hoffen, dass ihm allein mittels seines „steiffen glauben[s] vnd vertrawen[s] zu Gott“ vergeben
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rungen nicht von vornherein eingeschränkt werden; das „Tractätl“, das seit seinem Erscheinen in Spanien bereits „offt nachgetruckt / aber ins Teutsch nie gebracht worden“ ist, soll, von vertikalen Steuerungssystemen wie dem maximilianischen Konfessionalisierungsprogramm möglichst ungestört, auf dem Markt zirkulieren. Es lässt sich aufgrund der spärlichen Angaben nicht klären, wer für die im Prolog folgende kurze Vorstellung des „beygetruckt[en]“ Lazarillo verantwortlich zeichnet – ob Heinrich, Aperger oder Ulenhart. Zu bemerken ist jedoch ein gewisser Bruch in der Argumentation. Das zuvor etablierte, von der Autorität des Horaz gedeckte Deutungsprogramm verliert zwar auch im letzten Abschnitt der Vorrede nicht völlig seine Gültigkeit. Jedoch scheint es dem Verfasser der Vorrede die Mühe wert zu sein, den didaktischen Gehalt der Historia von Lazarillo de Tormes von dem der Historia von Isaac Winckelfelder / vnd Jobst von der Schneid abzugrenzen. Besteht ersterer, wie zitiert, allein darin, „die Jugent [...] vor schaden zu warnen“, so scheinen sich im letzterem positive und negative Aspekte gegenseitig zu überlagern. Aus der Art und Weise, wie Lazarillo trotz niederer Geburt und widriger Fortuna seinen Aufstieg meistert, soll der Leser demnach auch etwas Positives lernen können: Dieser Lazarillo ist der geburt nach / dem Winckelfelder vnd dem Jobstel von der Schneidt / nit gar vngleich / aber in deme etwas mehr zuloben / daß er sein Jugent besser als diese 2. angelegt vnd sich mit der zeit vnd gelegenheit / so gut er kundt / accommodiert, diente zur nachricht / wie etwo das Glück oder vnglück manchen in der Welt herumb schutzt / biß es jhn irgent zu einer Condition hilfft / bey dern er sich hinzubringen […].29
Es ist auffällig, dass sich die Forschung, wo sie sich überhaupt mit der Historia und ihrer Vorrede beschäftigt hat, mit diesem Satz sehr schwer getan hat. Martino erkennt in ihm nichts weiter als einen Beleg dafür, dass die Verantwortlichen des Augsburger Drucks das Buch möglichst schnell auf den Markt bringen wollten und für editorische Sorgfalt daher keine Zeit blieb – ein Argument, das dem Buch seine Marktgängigkeit gewissermaßen zum Vorwurf macht, anstatt diese als literarisch-ökonomische Bedingung sachlich zu analysieren.30 Ähnlich abwertend formuliert Rötzer, in der Vorrede finde sich die Erzählung „verharmlost
werde. Zwo Historien (1617), fol. iiijr–vv. Wie Rötzer: Picaro, S. 46, angesichts dieser auf konfessionelle Ausgeglichenheit achtenden Argumentation zu der These kommen kann, der deutsche Lazarillo leiste „seinen Teil zur süddeutschen Gegenreformation“ ist nicht nachvollziehbar. 29 Zwo Historien, fol. vijv–vijr. 30 Vgl. Martino: Die Rezeption des ‚Lazarillo von Tormes‘, S. 349.
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und zu einem moralischen Exempel degradiert, das zeigen sollte, wie ein armer Schelm Fortuna durch Klugheit überlisten konnte“.31 Das Argument der Degradation der Erzählung leitet sich bei Rötzer (und letztlich auch bei Martino) aus der Überzeugung ab, mit dem Erstdruck von 1554 den ‚eigentlichen‘ Lazarillo vorliegen zu haben, von dem aus betrachtet die in Europa zirkulierenden Adaptionen, und erst recht die auf den Prólogo verzichtende deutsche, nur mehr Schwundstufen darstellen können. Teilt man diese Sichtweise nicht, fällt es schwer, Rötzers Urteil nachzuvollziehen. In dem Maße, in dem man die deutsche Vorrede als Zeugnis eines textuellen Transfers betrachtet, dessen literarhistorische Relevanz nicht aus seiner Stellung zum ‚Original‘, sondern aus den Dynamiken der im historischen Kontext immer wieder neu zu leistenden Zuschreibung von Bedeutung resultiert, wird ersichtlich, dass in der Lazarillo-Beobachtung der Vorrede die aus seiner Widersprüchlichkeit resultierende Komplexität des Textes keineswegs einfach unterschlagen wird. Es bereitet dem Prologisten offensichtlich Probleme, den Lazarillo in derselben Weise zu funktionalisieren, wie er das mit der cervantinischen Novelle tut. Seine Formulierungen lassen auf eine erhebliche Unsicherheit in der moralischen Einordnung der Erzählung schließen: Wenn es, wie zitiert, heißt, Lazarillo sei „etwas mehr zuloben“ als die cervantinischen Figuren, dann verschwimmt in der plötzlich aufscheinenden Gradualität von Lob und Tadel der Normen setzende, Laster von Tugenden klar unterscheidende und erst in dieser Unterscheidung didaktisch wirkungsvoll einsetzbar werdende Maßstab satirischer auctoritas. Um das argumentative Problem zu verstehen, das sich dem Verfasser der Vorrede stellt, ist ein genauerer Blick auf seine Deutung der pikarischen Aufstiegsgeschichte nötig. Was an Lazarillo zu loben ist – oder sein könnte –, ist seiner Meinung nach, dass „er sein Jugent besser als diese 2. [die cervantinischen Figuren, S. Z.] angelegt vnd sich mit der zeit vnd gelegenheit / so gut er kundt / accommodiert“ – hieraus könne der Leser die „nachricht“ entnehmen, „wie etwo das Glück oder vnglück manchen in der Welt herumb schutzt / biß es jhn irgent zu einer Condition hilfft / bey dern er sich hinzubringen […].“ Zwei Aspekte greifen hier ineinander. Zum einen soll der Leser aus der Lebensgeschichte des Lazarillo etwas über das Glück lernen können, von dem das menschliche Schicksal abhängt und dessen Walten mit Wechselhaftigkeit („Glück oder vnglück“) und Gewalt („manchen in der Welt herumb schutzt“) assoziiert wird. Zum anderen soll der Text eine Lektion darüber enthalten, wie
31 Rötzer: Picaro, S. 40. Rötzers Position wurde von Volker Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung (1570–1740). München 2009 (Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart 5), S. 593, noch in jüngerer Zeit affirmiert.
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sich der Mensch in seinem Handeln zu dieser Instanz verhalten soll. Angesprochen ist damit eine Konstellation von Kontingenztheorie und Ethik, die um 1600 bereits eine erhebliche Tradition besitzt. Seit Petrarcas De remediis utriusque fortunae (1354–67) hatte man in humanistischen Kreisen über die „qualitas temporis“ debattiert, „ex qua opportunitas nascitur agendi, vel non agendi“.32 Die nicht zuletzt bekanntlich auch Machiavelli interessierende Frage, „Quantum fortuna in rebus humanis possit?“,33 wurde im Einzelnen dabei zwar sehr unterschiedlich beantwortet.34 Stets ging es aber um die Auslotung des Zusammenhangs zwischen der Anpassung des handelnden Menschen an die okkasionell wechselnde „qualitas temporis“ auf der einen Seite und dem Wagnis seiner Initiative auf der anderen – einer Initiative, die sich aufgrund der notorischen Unlesbarkeit dessen, was als Fortuna oder Glück in den Schriften angesprochen wurde, ihres Gelingens niemals sicher sein konnte. Im 16. Jahrhundert erreichten entsprechende Ansätze in größerem Stil auch den deutschsprachigen Raum, wobei Augsburg als prominente Schnittstelle humanistischen Wissenstransfers eine nennenswerte Rolle spielte. Nicht nur, dass in der Stadt der Fugger Petrarcas Traktat, der seinen Lesern Demut im Glück und Tapferkeit im Unglück anempfiehlt, erstmals in deutscher Sprache gedruckt wurde.35 Auch wirkte hier mit Konrad Peutinger (1465–1547) ein humanistisch gebildeter, europaweit vernetzter Gelehrter, in dessen Schriften sich interessante Belege für eine Verknüpfung des Fortuna-Komplexes mit der Ethik kaufmännischen Handelns finden. Die prinzipielle Rechtfertigung irdischen Glücksstrebens des Menschen – und hiermit ist bei Peutinger durchaus auch das Streben nach Wohlstand und Reichtum gemeint – stand für den Augsburger Stadtschreiber und Berater der Kaiser Maximilian I. und Karl V. dabei nicht infrage. Anstatt auf religiös begründete Verdikte gegen chrematistische Praktiken näher einzugehen, stellte Peutinger die paradoxe Grundstruktur kaufmännischen Handelns in der offenen Fortuna-
32 So etwa bei Fabricius Paduanius: Tractatus De Tempore, Aeternitate, Occasione […]. Frankfurt a. M.: Johann Jakob Porß 1612, S. 10. In De Inventione I, 27, hatte bereits Cicero von der Gelegenheit als Aspekt der Zeit gesprochen, aus dem sich die Bedingungen für Handeln und Nicht-Handeln jeweils neu ergeben. 33 Dies ist die Leitfrage des XXV. Kapitels von Machiavellis Il Principe (1532). Niccolò Machiavelli: Il Principe/Der Fürst. Italienisch/Deutsch. Übersetzt und hg. von Philipp Rippel. Stuttgart 1986, S. 190. 34 Dazu überblickshalber – und mit Hinweisen auf die hier nicht zu referierende Forschungsliteratur – Peter Vogt: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. Mit einem Vorwort von Hans Joas. Berlin 2011, S. 568–641. 35 Vgl. Francesco Petrarca: Von der Artzney bayder Glück / des guoten vnd widerwertigen. […] Augsburg: Heinrich Steiner 1532.
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Umwelt 36 ins Zentrum seiner Überlegungen. Kennzeichnend hierfür war seine Beobachtung, dass nur derjenige seinen Gewinn auch verdient habe, der etwas aufs Spiel setze, obwohl er wisse, dass „non solum in negociationibus, sed eciam quasi in omnibus caeteris accionibus unus locupletari, alter ad inopiam redigi videtur, uni fortuna favet, alteri invidet“.37 Mutig zu investieren auch dort, wo der Ertrag unsicher ist, galt Peutinger als Merkmal einer Tugend (nicht nur) des Kaufmanns, die sich im Wechsel des Glücks jeweils neu zu bewähren hatte.38 Betrachtet man die Aussagen des Verfassers der Vorrede von diesem Punkt aus, so wird die Nähe seiner Lazarillo-Lektüre zu solchen humanistischen Kontingenz- und Handlungskonzepten deutlich. Betont wird in ihnen nicht nur das taktische Geschick, mit dem Lazarillo es schafft, sich „mit der zeit vnd gelegenheit“ zu ‚akkommodieren‘, sich also, um Certeau zu zitieren, auf einem „Terrain“ zu behaupten, das ihm „so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“.39 Es wird auch angedeutet, dass Lazarillo seine Jugend so „angelegt“ habe, dass er sich die „Condition“, das Amt des Ausrufers, zu dem ihm das Glück verhilft, durch seine Initiative letzthin auch verdient habe. Unverkennbar ist im Begriff des Anlegens dabei die – an den Zeitbegriff in Albertis Della famiglia erinnernde, ursprünglich von Seneca stammende – Vorstellung präsent, dass es sich bei der Lebenszeit des Menschen um ein Kapital handelt, das sein Eigentümer zu seinem Zwecke klug einzusetzen habe.40 Die in der Vor-
36 Zum nur scheinbar paradoxen Phänomen radikaler Umweltoffenheit in kosmischgeschlossenen Systementwürfen der Frühen Neuzeit vgl. Niklas Luhmann: Frühneuzeitliche Anthropologie. Theorietechnische Lösungen für ein Evolutionsproblem der Gesellschaft. In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M. 1980, S. 162–234, hier S. 191 f. 37 Zitiert nach Clemens Bauer: Conrad Peutingers Gutachten zur Monopolfrage. Eine Untersuchung zur Wandlung der Wirtschaftsauffassung im Zeitalter der Reformation. In: Archiv für Reformationsgeschichte 45 (1954), S. 1–43 und 145–196, hier S. 194. 38 Nicht nur für Peutinger, sondern für das Augsburger Patriziat insgesamt zeigt solche Zusammenhänge auf: Valentin Groebner: Die Kleider des Körpers des Kaufmanns. Zum ‚Trachtenbuch‘ eines Augsburger Bürgers im 16. Jahrhundert. In: Zeitschrift für historische Forschung 25 (1998), S. 323–358. 39 Certeau: Kunst des Handelns, S. 89. 40 Die Gebräuchlichkeit des frühneuzeitlichen Begriffs ‚anlegen‘ im kaufmännischen Bereich wird im einschlägigen Band des Deutschen Wörterbuchs aus dem 19. Jahrhundert nicht recht deutlich. Erst in dessen Neubearbeitung, die seit 1983 erscheint, tritt sie zu Tage. Demnach bedeutet ‚anlegen‘ seit dem Hochmittelalter allgemein „etwas zweckbestimmt einsetzen, verwenden“, wenig später aber bereits auch „geld, vermögen zins- u. gewinnorientiert einsetzen, verwenden, kapital effektiv arbeiten lassen“. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Neubearbeitung. Hg. von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 2: Affront–Ansüssen. Stuttgart, Leipzig 1998, Sp. 1145 f.
2.1 Transfer pikarischer Alterität: Die Historia und ihre Vorlagen
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rede vorgenommene Verortung der pikarischen Figur stellt in diesem Sinne den Versuch dar, die Didaxe an das humanistische Postulat einer Handlungsmächtigkeit des Menschen zurückzubinden, die sich gerade dort beweist, wo der Handelnde vom Glück „in der Welt herumb [ge]schutzt“ wird. Wenn es an Lazarillos Handeln etwas zu loben gibt, hat es mit dem taktischen Umgang Lazarillos mit seinem einzigen Besitz zu tun: mit seiner Lebenszeit, über deren Verlauf die Vita Auskunft gibt. Dass aus dieser Deutung der Erzählung nun Potenziale der Verunsicherung resultieren, lässt sich historisch-kontextuell zunächst dadurch erklären, dass sich Diskurse der varietas in der Frühen Neuzeit insgesamt durch eine Tendenz zur Relativierung überlieferten Moralwissens auszeichnen. Brinkmann hat dies für die höfischen Verhaltenslehren des 16. Jahrhunderts gezeigt, in denen Exempel – ganz ähnlich wie in der deutschen Lazarillo-Vorrede – häufig nicht als Medien einer unzweifelhaften moralischen Orientierung von Autor und Leser, sondern als Medien der situativen Abwägung und relativierenden Perspektivierung eingesetzt werden.41 Sofern es auch in der Vorrede zur Historia um Varietät geht – um die infinita varietas temporum (Cicero) nämlich –, handelt sie sich dasselbe (oder ein eng verwandtes) Kontingenzproblem ein: Lazarillo passt sein Handeln an die ständig wechselnden Umstände der Fortuna-Welt an, entsprechend schwer fällt es dem Verfasser der Vorrede, über dieses Handeln normative moralische Aussagen zu treffen. Verstärkt wird dieser Effekt durch Problemkomponenten, die – im vergleichenden Blick auf die von Brinkmann untersuchten Verhaltenslehren – als typisch pikarisch zu bezeichnen sind. Hierzu gehört zum einen die im autodiegetischen pikarischen Diskurs strukturell vorgegebene Zukunftsoffenheit des Lebens. Für den spanischen Erstdruck des Lazarillo hat Wehr festgestellt, dass die Figur auch zum Zeitpunkt des Erzählens unter einem „unabschließbaren Handlungszwang“ steht; das Syntagma ihrer Vita folgt einer „Logik des endlosen Aufschubes“.42 Der deutsche Vorredenschreiber hebt diesen Aspekt als solchen zwar nicht ausdrücklich hervor; auffällig ist aber, dass er von der „Jugent“ Lazarillos spricht (nicht von dessen ganzem Leben) und seine Rede an entscheidender Stelle mit einem „irgent“ („biß es jhn irgent zu einer Condition hilfft“) versieht, in dem sich, ob gewollt oder nicht, die raumzeitliche, auch soziale Unbestimmtheit des Ortes der Figur sprachlich verdichtet. Dies deutet bereits auf die zweite Problemkomponente hin. So werden in der Vorrede Verunsiche-
41 Brigitte Brinkmann: Varietas und Veritas. Normen und Normativität in der Zeit der Renaissance: Castigliones ‚Libro del Cortegiano‘. München 2001 (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste 103), bes. S. 11–18. 42 Wehr: ‚La Vida de Lazarillo de Tormes‘, S. 39.
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rungseffekte zum anderen dadurch erzeugt, dass das Eigene, auf dem die positive Exemplarität der Erzählung aufbaut (oder aufbauen soll) – der menschliche Besitz der Lebenszeit –, mit dem genealogisch Anderen der Figur unauflöslich verschränkt erscheint. Lazarillo, so heißt es, ist „der geburt nach / dem Winckelfelder vnd dem Jobstel von der Schneidt / nit gar vngleich / aber in deme etwas mehr zuloben / daß [...].“ Es lohnt hier, genau zu lesen. Denn einerseits legt der Satz eine Spur in Richtung der Erweisung der (humanistischen) These, dass jedem Menschen – und eben auch demjenigen von ‚niedriger Geburt‘ – die eigene Lebenszeit zur freien Verfügung und zur Bewährung gegeben ist. Andererseits wird in der Formulierung deutlich, dass der Verfasser der Vorrede sich nicht dazu durchringen kann, die Lazarillo-Figur als Exempelträgerin dieses humanistischen Ethikwissens uneingeschränkt anzuerkennen. Stattdessen besteht er auf der Gradualität im Vergleich der Figuren („etwas mehr“) und eröffnet damit einen dritten Raum zwischen Identität („nit gar vngleich“) und Differenz („aber“), in dem die Alterität der Figur für die Deutung ihres Handelns notwendig relevant bleibt. Wenn Lazarillo handelt, handelt er aus dieser Perspektive sowohl als Mensch, der seine Lebenszeit unabhängig von seiner Herkunft tugendhaft einsetzen kann, als auch als der Andere, dessen Agenda etwas Unheimliches, über tradierte Topoi der ‚Lebens‘-Deutung nicht restlos Funktionalisierbares birgt. Noch bevor Lazarillo im deutschen Druck überhaupt selbst zu erzählen beginnt, bekommt der Leser eine Ahnung von der Liminalität des pikarischen Textes.
2.2 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener Die Vorrede zur Historia verknüpft die Alterität der Figur eng mit deren Genealogie. Gleich eingangs der einschlägigen Passage ist von Lazarillos „geburt“ die Rede – ein klarer Fingerzeig in Richtung des Lesers, den in der Vita dargestellten familiären Umständen der pikarischen Lebensgeschichte Beachtung zu schenken. Die Frage, woher Lazarillo kommt, genauer: von wem er abstammt und wer ihn aufzieht, ist für die Perspektive auf die Figur allgemein interessant, muss man dem frühneuzeitlichen Entstehungskontext gemäß doch mit einer engen Verknüpfung von Abstammungs- und Sozialisationsaspekten mit moralischen Deutungsimplikationen rechnen.43 Hinzu kommt mit Blick auf die Historia
43 Dazu Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Erster Band: Das Haus und seine Menschen. 16.–18. Jahrhundert. München 1990, bes. S. 11–132. Zur Beziehung von Genealogie und pikarischem Erzählen mit zahlreichen Hinweisen auf weitere Literatur vgl. Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 96–99 und, zum Lazarillo, S. 190–192.
2.2 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener
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(und auch schon auf ihre Vorlagen) ein struktureller Grund: Wenn es in der Vorrede heißt, Lazarillo habe seine „Jugent“ besser als die Gauner bei Cervantes anzulegen gewusst, so kann sich dies kaum auf die ersten Episoden beziehen, in denen der existenzielle „Handlungszwang“ 44 die Figur so beherrscht, dass ihr keinerlei Raum zur klugen Disposition von Zeit oder anderen ökonomisierbaren Ressourcen bleibt. Bevor sich dies am Ende der escudero- bzw. ‚Junker‘Episode ändert und Lazarillo lernt, vorausschauend zu handeln (auf diesen Umschwung wird unten einzugehen sein), hat das Paradigma des Aufstiegs noch keine bindende Kraft. Das Erzählen vollzieht sich stattdessen in Form einer Reihung von Episoden, deren strukturelle Kopplung über die – wie zu zeigen ist: emulative – Iteration einer bestimmten Handlungskonstellation hergestellt wird.45 Was der Text in variierender Wiederholung erzählt, lässt sich dabei in erster Annäherung als schwankhaft narrativierter Topos des Parasitären bezeichnen: In den ersten Episoden der Historia geht es um das Widerspiel zwischen den parasitären Aktionen der besitzlosen, aber erfindungsreichen Picaro-Figur auf der einen und den Kontroll- und Strafaktionen der besitzenden, über eine – zumindest rudimentäre – Ordnung des Eigenen verfügenden Figuren auf der anderen Seite. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die narrative Matrix dieses Widerspiels zu erschließen, indem die strukturellen Bedingungen des Erzählens mit den strukturellen Bedingungen des Handelns in der erzählten Welt in Zusammenhang gesehen werden – ein Zusammenhang, den der Text gewissermaßen selbst herstellt, wenn er die „Logik des endlosen Aufschubes“,46 der er folgt, aus dem Zusammenbruch der ökonomischen Ordnung des Elternhauses Lazarillos ableitet: Als ein Kind ohne Haus wird Lazarillo zum Picaro, der lernen muss zu taktieren, um zu überleben. Was aber löst den Kollaps der elterlichen Ökonomie aus? Und wie wird er in Lazarillos Erzählung perspektiviert? Der Blick richtet sich zunächst auf die narrative Initialkonstellation der Historia. 44 Wehr: ‚La Vida de Lazarillo de Tormes‘, S. 39. 45 In seiner Analyse der syntagmatischen Verschaltungen der deutschen Übersetzung hat Kipf gezeigt, dass diese mitnichten in einzelne Schwänke zerfällt, wie von der älteren Forschung (Rötzer, Martino) gerne behauptet. Vielmehr sei der Roman, wie seine romanischen Prätexte, als „konsistente Großerzählung“ angelegt. Die schlussendliche Paradigmatisierung des Lebenslaufs unter dem Signum des ‚Aufstiegs‘ hebt Kipf dabei als Leistung der letzten Kapitel hervor. Johannes Klaus Kipf: Episodizität und narrative Makrostruktur. Überlegungen zur Struktur der ältesten deutschen Schelmenromane und einiger Schwankromane. In: Das Syntagma des Pikaresken. Hg. von Jan Mohr, Michael Waltenberger. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft 58), S. 71–101, hier S. 95–99, das Zitat S. 97. Zum pikarischen Erzählen als Variante eines offenen ‚Erzählens im Paradigma‘ (Warning) erhellend Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 31–41. 46 Wehr: ‚La Vida de Lazarillo de Tormes‘, S. 39.
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2 Aufstieg des Parasiten: Historia von Lazarillo de Tormes
2.2.1 Ökonomie und Un/Gerechtigkeit: Lazarillos Eltern Im expositorischen ersten Satz seiner Erzählung entwirft Lazarillo das Bild seiner Familie als intakte Einheit: Erstlich ist zuwissen / daß ich mit meinem Namen Lazaro de Tormes heisse / meine Eltern sein gewesen Tomas Gonzales, vnd Antonietta, beede auß dem Dorff Teiares, nahend bey Salamanca gelegen / gebürtig […]. Mein Vatter […] hatte ein Mühle im bestandt / die auff besagtem Wasser Tormes stunde / daselbsten er sich wol fünffzehen Jahr aufgehalten. Jnn diser Mühlin brachte mich mein Mutter in einer Nacht auff die Welt […].47
Der ökonomische ordo zeigt sich hier geradezu in idealer Ausprägung: Tomas Gonzales, der Hausvater, hält seit „fünffzehen Jahr“ die Mühle von Teiares „in bestandt“ – ein durchaus nennenswerter Zeitraum, der Rückschlüsse auf die Sorgfalt und den Fleiß des Müllers zulässt.48 Seine Ehefrau Antonietta dagegen tritt in der traditionell vorgesehenen Rolle als Medium genealogischer Prokreation in Erscheinung und bringt im Mühlhaus den Stammhalter Lazarillo zur Welt. Dass die Mühle, wie Lazarillo betont, „auff besagtem Wasser Tormes stunde“, deutet schließlich auf eine Harmonie zwischen natürlicher und sozialer Ordnung hin: Angetrieben vom Wasser des Flusses, dreht sich das Mühlrad der Gonzales und befördert das „bonum familiare, domesticum, & oeconomicum“,49 für dessen Erhalt die Hauseltern sorgen. Der Vorfall, der zur Zerstörung dieses Tableaus führt, ereignet sich mitten in der Kindheit Lazarillos. Es kommt zu einer Anklage gegen seinen Vater wegen des Diebstahls von Korn. Unter der Folter gesteht der Müller die Tat, was seinen Sohn, den Erzähler Lazarillo, zu einer halsbrecherischen apologetischen Volte zwingt; sein Vater, so behauptet er, sei zu jenen Erwählten Christi zu zählen, die um der Gerechtigkeit willen zu leiden hätten: Folgendts als ich das achte Jahr meines alters erraicht / warde mein Vatter angeklaget / daß er den Kornsäcken / die man zn [sic!] der Mülin geführt / bißweilen etwas scharpff zur Adergelassen / darumb man jhne dann auff eingezogne erfahrung zu verhafft genommen / vnd peinlich examiniert / darauff er alles fein redlich bekennt / vnd nichts gelaugnet / ist also nach formiertem Proceß vnd gestelltem Vrtheil / in die zahl der jenigen
47 Zwo Historien, S. 1. 48 Dabei scheint die Mühle Lazarillos Vater allerdings nicht zu gehören, sondern von diesem nur gepachtet zu sein. Vgl. Bedeutung 4) von ‚etwas in Bestand haben‘ in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1854–1961. München 1984, Bd. 1, Sp. 1652. 49 Johann Heinrich Alsted: Encyclopaedia Septem tomis distincta […]. Herborn: Christoph Rab 1630, S. 1361.
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kommen / welche Christus der HErr selbs vnder die Außgewöhlten setzt / sagende: Selig seyn die jenigen / welche vmb der Gerechtigkeit willen leyden.50
Trotz oder gerade wegen der unangemessenen Verteidigungsrede seines Sohnes kann an der Schuld des Müllers Tomas kein Zweifel bestehen. Die von Lazarillo aufgerufene Stelle Matth. 5,10 bezieht sich selbstverständlich nur auf unschuldig Verfolgte, zu denen Tomas mit seinem Geständnis (mindestens) juristisch nicht mehr gehört.51 Hinzu kommt, dass eine Deutung des Geschehens auf theologischer Basis für den apologetischen Redezweck Lazarillos überhaupt kontraproduktiv erscheint, rückt im geschilderten Zusammenhang zwangsläufig doch eine andere, durchaus belastende Bibelstelle in den Fokus des zeitgenössischen Lesers. Es handelt sich um Zephanias Nennung der Müller und Krämer als Opfer des Zorns Gottes (Zephania 1,11). Die Stelle findet sich in der Frühen Neuzeit als Topos zumal im Kontext geiztheologischer Abhandlungen, so etwa auch im entsprechenden Abschnitt von Sigmund Feyerabends Theatrum Diabolorum (erstmals 1569): DER Prophet Zephanias / welcher dem Schrapteuffel gute püffe gibt / [...] gedenckt auch der Schinderey / welche in den Mühlen geschicht / vnd straffts mit harten worten / sagend / Heulet die jr in der Mühle wohnet / denn das gantze Krämervolck ist dahin / vnd alle / die Gelt samlen / sind außgerott / Zepha. I. Als wolt er sagen / Die straffe / welche vber das Krämervolck vnd Geltsamler zu Jerusalem gehet / kompt euch / die jr in der Mühlen wohnet / auch zu Hause / jhr seyt in gleicher Sünde mit jhnen / vnd habt die Leut verfortheilt / jhr müsset auch gleiche straffe empfangen / drumb heulet nu / &c.52
Vor diesem angesichts der Tat viel naheliegenderen exegetischen Hintergrund erweist sich Lazarillos Verteidigung als wenig überzeugend. Nicht nur dass der bibelfeste Leser im Müller Tomas leicht den Nachfolger der Jerusalemer Müller erkennen kann, deren Unehrlichkeit Zephania geißelt.53 Auch bietet die Bibel50 Zwo Historien, S. 2. 51 Dazu auch Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 191–193, der mit Blick auf den spanischen Text die generelle Tendenz der Figur hervorhebt, transzendente Sinngehalte der Rede – etwa von Bibel-Zitaten – radikal zu profanieren. Dabei stehe „das materialistische Missverstehen der Bibel in der ‚Vida‘ nicht mehr im Dienste einer ideologisierenden Botschaft, sondern [treibe] eine Uneigentlichkeit der Sprache hervor, die das Ideologische unterminiert.“ 52 Sigmund Feyerabend: Theatrum Diabolorum, Das ist: Warhaffte eigentliche und kurtze Beschreibung/Allerley grewlicher/ schrecklicher und abschewlicher Laster [...]. Gebessert und gemehret mit vier newen/ als Sabbaths/ Eydts/ Sorg und Melancholisch Teuffeln/ so zuvor bey diesem Druck nie gesehen noch ausgangen sampt einem neuwen/ nützlichen und nohtwendigen Register. Frankfurt a. M.: Peter Schmidt 1575, S. 340r. 53 Die Applikation auf aktuelle Fälle gehört zu den Grundoperationen moraltheologischer Exegese – so auch in Feyerabends Teufels-Theatrum. Auch diejenigen „zu vnser zeit / die so in Mühlen wohnen / vnd mit Mühlen zuthun haben“ sollten sich die Worte Zephanias zu Herzen
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stelle eine theologisch einleuchtende Begründung für den Zusammenbruch des Elternhauses Lazarillos: Das Elend, das über die Familie Gonzales kommt,54 muss dem christlichen Exegeten als gerechte Strafe Gottes erscheinen, als Zeichen eben jener höheren „Gerechtigkeit“, die Lazarillo für seinen Vater reklamiert. Daran ändert sich auch nichts, wenn der Leser in seiner Parallellektüre von Historia und Bibel einen Schritt weiter (oder eigentlich zurück) geht. Auffällig ist, dass Lazarillo sich jedes Urteils über die weltliche Obrigkeit, die seinen Vater verfolgt und verurteilt, enthält 55 – bis hin zu dem in diesem Zusammenhang dann wohl nur noch ironisch zu verstehenden Satz, der Vater sei zu den „Ausgewöhlten“ zu zählen, die „vmb der Gerechtigkeit willen leyden“ (nämlich zu den überführten Straftätern).56 An dieser Stelle freilich scheint – im intertextuellen Bezug – genau das, was der Picaro nicht sagt, Teil der ironischen Botschaft sein. Denn wer sich die Zephania-Stelle genauer ansieht, stellt fest, dass der Prophet die Müller, Krämer und Wucherer als Opfer des göttlichen Zorns erst an zweiter Stelle nennt. Noch vor ihnen sucht der Herr laut Bibel die Fürsten und Könige heim.57 Für die frühneuzeitlichen Exegeten bietet sich damit die Gelegenheit (oder geradezu die Pflicht), bei den Lastern nicht nur auf die Untertanen, sondern auch auf die Obrigkeit zu schauen, ja deren Lasterhaftigkeit gar
nehmen, denn auch sie kann der Zorn Gottes treffen. Feyerabend: Theatrum Diabolorum, S. 341v. 54 Tomas wird in die Verbannung geschickt, wo er – angeblich im Kampf gegen die Türken – stirbt. Lazarillos Mutter, Antonietta, muss das Überleben der Familie forthin auf eigene Faust sichern. Vgl. Zwo Historien, S. 2 f. 55 Anstatt das Verfahren irgendwie in Zweifel zu ziehen – was juristisch-rhetorisch wohl angezeigt wäre –, betont Lazarillo geradezu ostentativ dessen Rechtmäßigkeit: Ohne jeden nennenswerten Widerstand oder Zweifel vollzieht sich der juristische Vorgang von der Anklage, über das Hören von Zeugen, die Verhaftung, das Verhör und das Geständnis bis zum Prozess und zum Urteil. 56 Auf die Destabilisierung der Vater-Figur in pikarischen Romanen und im Lazarillo de Tormes ist die Forschung wiederholt eingegangen. Vgl. dazu etwa Maurice Molho: Le roman familial du pícaro. In: Estudias de literatura española y francesca. Siglos XVI y XVII. Homenaje a Horst Baader. Hg. von Frauke Gewecke. Frankfurt a. M. 1984, S. 141–148; Michel Cavillac: La question du ‚père‘ dans le roman picaresque. In: Les parents fictives en Espagne (XVIe et XVIIe siècles). Hg. von Augustin Redondo. Paris 1988, S. 195–205; außerdem Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 98 f., der die ‚schändliche‘ Genealogie der Figur vielleicht etwas zu allgemein als „Figurierung des Legitimationsproblems“ auffasst, „mit dem romanhaftes Erzählen in der Frühen Neuzeit belastet war“ (ebd., S. 98). 57 Zephania 1,8: „Vnd am tage des Schlachtopffers des HERRN / wil ich heimsuchen die Fürsten vnd des Königes kinder“. Hier zit. nach dem Text der Luther-Bibel, Ausgabe letzter Hand: Biblia. Das ist: Die gantze Heilige Schrifft, deudsch auffs new zugericht. Faksimile der Ausg. Wittenberg 1545, veranstaltet durch die Württembergische Bibelanstalt. Stuttgart 1967, fol. CXLV.
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als Wurzel allen Übels zuallerest zu behandeln. Auch der Autor des Theatrum Diabolorum, Sigmund Feyerabend, folgt diesem Pfad, wenn er betont, Zephania sei ein Prophet gewesen, „welcher dem Schrapteuffel gute püffe gibt / vnd der Fürsten sampt jhren Dienern mit nichten verschonet“.58 Was das konkret bedeutet, führt er am Beispiel der Müller im Folgenden vor. Ohne Diebstahl und Betrug prinzipiell zu entschuldigen, lenkt er den Blick des Lesers geschickt auf die ökonomischen Nöte, in die die Müller durch eine verfehlte obrigkeitliche Steuer- und Abgabenpolitik geraten könnten: „Die Herren aber [...] ersteygern den Müllern die Zinse so hoch / daß jhnen unmüglich wirt / dieselbige one zugriff zu erlangen.“ 59 Liest man Lazarillos Satz vor diesem Hintergrund, so eröffnet sich eine mögliche zweite Ebene des ironischen Bezugs. Neben die Diskrepanz zwischen dem theologischen Gerechtigkeitsbegriff (Matth. 5,10) und den Taten des Müllers Tomas tritt eine auf Auslassung und Intertextkalkül basierende Auseinandersetzung mit dem von der Obrigkeit zu verantwortenden Verhältnis von weltlichem Recht und göttlicher Gerechtigkeit. Ironisch wäre an dieser Auseinandersetzung zum einen, dass Lazarillo sie (als Erzähler) aus der Position eines königlichen Amtmanns führt, selbst also zu den Dienern der Fürsten gehört, die laut Theatrum Diabolorum Gottes Zorn erregen. Zum anderen ergeben sich implizite Ironiepotenziale aus dem Kontrast zwischen der Darstellung des Müllers Tomas als guter Hausvater, der seine Mühle – offenbar ohne sozialen Unfrieden – „wol fünffzehen Jahr“ „im bestandt“ hat, und der plötzlichen Überführung desselben als Dieb und Betrüger. Gerade weil Lazarillo sich an dieser Stelle ganz auf die äußerlichen juristischen Formalien fixiert, anstatt etwas zu den inneren, ökonomischen Ursachen der Missetat seines Vaters zu sagen, entsteht der Eindruck des Verschweigens wichtiger Umstände, die – möglicherweise – zu einer Belastung auch der Obrigkeit führen würden.60 Zusätzliche Plausibilität erhält dieser Eindruck im Weiteren durch Lazarillos messerscharfe Analyse der sozialen Folgen, die die Verbannung des Vaters für ihn und seine Mutter Antonietta hat. Zum ersten Mal scheint im Text dabei die
58 Feyerabend: Theatrum Diabolorum, S. 340r. 59 Ebd., S. 341v. 60 Eine dritte Facette ist in Betracht zu ziehen. Demnach könnte die Leerstelle, die Lazarillo ironisch überspielt, auch auf sein altersbedingtes Unwissen zurückzuführen sein. Zur Zeit des Geschehens ist Lazarillo erst acht Jahre alt und damit kaum in der Lage, die Kausalzusammenhänge zwischen dem Handeln des Vaters und seiner Bestrafung durch die Obrigkeit zu erfassen. Man kennt das Spiel mit der Differenz von kindlicher Erlebnisperspektive und retrospektiver Erzählerperspektive aus der Exposition zu Grimmelshausens Simplicissimus-Roman. Auch dort läuft es auf Ironieeffekte hinaus: Das eigentliche Geschehen rund um die Zerstörung des Knanschen Bauernhauses im Spessart muss der Leser sich aus der naiven Perspektive des minderjährigen ‚Bub‘ erschließen. Vgl. dazu auch Kap. 4.1.2 dieser Arbeit.
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ganze sozioökonomische Syntax des parasitären Modells auf. „[J]res Manns vnd Ernöhrers beraubt“, zieht Antonietta nach Salamanca, wo sie sich und ihren Sohn als Köchin und Wäscherin über Wasser zu halten sucht. Überleben kann die Kleinfamilie jedoch nur durch die Zuwendungen eines „Mohren“ namens Laide,61 der Antonietta schwängert und von Lazarillo alsbald als „Stieffvatter“ 62 angesehen wird. Dass es sich dabei um ein durch und durch illegitimes Verhältnis handelt, macht Lazarillo als Erzähler ausreichend deutlich. Nicht nur dass Laide und Antonietta ihre ‚wilde‘ Ehe im Verborgenen führen müssen, weil eine Verheiratung unter den gegebenen Umständen rechtlich und sozial ausgeschlossen ist,63 auch basiert die gesamte Versorgung der Familie auf einer Taktik des Diebstahls und der Unterschlagung. Deren Ausmaß wird im Moment der Aufdeckung sichtbar. Laides Vorgesetzer, der Hofmeister des „Commenthurs zu S. Magdalenen“,64 wird von anonymen Hinweisgebern auf die Spur des ‚Morisken‘ gebracht und kommt nach kurzer Zeit hinter den Betrug: [D]er [der Hofmeister, S. Z.] suchte so fleissig nach / daß er der Sachen auff einen Grund / vnd in Erfahrung kame / das mein erbarer Stieffvater den halben theil deß Futters / so man jhme auff die Pferde gegeben / abgetragen / vnd darzu Hew / Holtz / Strigl Wischtücher / Roßdecke / auch anders gestohlen / vnd hernach fürgeben / es sey verlohren / oder sonsten vertragen worden [...].65
Nach dieser Aufdeckung ist das Schicksal der ‚wilden Ehe‘ besiegelt. Antonietta wird der Umgang mit Laide unter Strafe verboten. Laide selbst wird aus dem Dienst des Commenthur entlassen und einer schweren körperlichen Züchtigung unterzogen – ein Ausgang, an dem der kleine Lazarillo wider Willen selbst mitwirkt, indem er, von der Obrigkeit unter Druck gesetzt, alle Taten seines Stiefvaters zugibt: [J]nmassen ich auch selbst darüber befragt / vnd als ein Kind durch trowungen [sic!] dahin gebracht worden / daß ich den gantzen Handel recht gründtlich entdeckt […] / der
61 Zwo Historien, S. 3. Im spanischen Text heißt die Figur Zaide. 62 Ebd., S. 5. 63 Erstens stehen beide in Dienstverhältnissen, sind also auf die Einwilligung ihrer Herren angewiesen. Zweitens fehlt es beiden an Mitteln, um in Salamanca einen eigenen Haushalt zu gründen. Und drittens dürfte im spanischen Kontext auch die ethnische Herkunft Laides eine Rolle spielen. Vgl. Baltazar Fra-Molinero: El negro Zaide: marginación social y textual en el ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Hispania 76 (1993), S. 20–29; Mauricio Carrera: El negro Zaide: la crítica del racismo en el ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Revista de la Universidad de México 600/ 601 (2001), S. 13–19. 64 Zwo Historien, S. 3. 65 Ebd., S. 6.
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gestalt / daß der arme Tropff / mein auff gut raitung66 gewester Stieffvater / mit heissem Speck geträfft / vnd mit Ruthen außgestrichen […].67
Was sich an der Erzählung von Antonietta und Laide besser noch als an der vom Müller Tomas zeigen lässt, ist das für den gesamten Roman typische Verfahren der Verunsicherung moralischer Deutungsschemata. Wie im Fall des Müllers steht die Schuld Laides in juristischer Hinsicht außer Frage; entsprechend bringt auch der Prozess nichts anderes als die (juristische) Wahrheit ans Licht, nämlich dass der ‚Moriske‘ eben kein „erbarer“ Mann ist, wie Lazarillo voller Ironie bemerkt, sondern ein unehrlicher, der sich am Besitz seines Herrn vergriffen hat und daher seine Strafe verdient. Dass von einer wirklich stabilen Kongruenz von Recht und Moral – oder auch: Recht und Gerechtigkeit – in diesem Fall dennoch nicht die Rede sein kann, hat mit der unablässigen Arbeit des Erzählers Lazarillo an der Schilderung der materiellen Bedrängnis seiner Mutter zu tun. Schon die Anbahnung des Verhältnisses zu Laide steht für Antonietta ganz im Zeichen der Subsistenzsicherung unter schwierigsten Bedingungen; Lazarillo listet die Zuwendungen detailliert auf: „bißweilen brachte er ein stück Brot/ bißweilen Fleisch/ auch zu winters zeit Holtz/ daß wir vns wärmen kondten.“ 68 Mit der Geburt von Antoniettas zweitem, Laides leiblichen Kind wächst die Not nochmals und die zunächst eingesetzte Taktik der Naturalienunterschlagung gerät an ihre Grenzen. Der ‚Moriske‘ sieht sich infolgedessen gezwungen, sich am Zeug der Pferde zu vergreifen; Heu, Stroh, auch Striegel, Rossdecken und sogar Hufeisen verschwinden aus dem Besitz des Commenthurs und tauchen im Haushalt Antoniettas wieder auf, um durch Weiterverkauf dort die Not zu lindern: „Ja wenn er nit mehr gekündt / so hat er den Rossen die Eysen abgebrochen / vnd sie meiner Mutter bracht / damit sie mein kleins Brüderlein erhalten kondte […].“ 69
66 Diese Formulierung stammt aus der juristisch-ökonomischen Sprache der Frühen Neuzeit und bedeutet im vorliegenden Kontext, dass Laide von seinem Herren Wertgegenstände anvertraut worden sind, über deren Verwendung Laide ihm Rechenschaft abzulegen hat (was der Moriske nutzt, um die Dinge unbemerkt verschwinden zu lassen). Vgl. Wolffgang Schweicker: Zwifach Buchhalten, sampt seine Giornal / des selben Beschlus / auch Rechnung zuthun &c. […]. o. O. 1549, fol. Aiijv (‚Einem Diener auff gut reytung geben‘). Die juristischen Zusammenhänge finden sich erklärt in Johann Rudolph Sattler: Thesaurus Notariorum, Das ist: Ein vollkommen Notariat: und Formularbuch / Underscheiden in sechs Theil […]. Jetz von newem ubersehen / umb viel gemehrt / und zum dritten mahl in truck gegeben […]. Basel: Ludwig König 1610, S. 468. 67 Zwo Historien, S. 7 f. 68 Ebd., S. 4. 69 Ebd., S. 6 f.
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Es braucht keinen modernen (und damit im Kontext der Historia anachronistischen) Wohlfahrtsgedanken, um das subversive Potenzial dieser und ähnlicher Textstellen zu erschließen. Die entsprechenden Zugänge liefert Lazarillos Diskurs selbst. Durch seine Schilderung der Verhältnisse wird der Leser in eine Zwangslage versetzt, in der er die Geltungen von Recht und Moral nicht mehr überein bringen kann, ohne wesentliche Aspekte des Geschehens auszublenden. So wenig an der Schuld Laides und Antoniettas gezweifelt werden kann, so deutlich treten in der Erzählung die natürlichen, auf Begriffe wie Selbsterhalt oder Subsistenz zu bringenden Gründe für ihr Handeln hervor. Diese behaupten gegenüber dem juristischen Diskurs dabei auch deshalb ihre Geltung, weil Lazarillo den Blick des Lesers geschickt auf die ungerechte Verteilung der Reichtümer, die ökonomische Situation selbst, zu lenken versteht. Allein die Tatsache, dass die parasitären Aktionen Laides vom Hofmeister des Commenthurs jahrelang nicht entdeckt werden – während sie umgekehrt Antonietta und ihren Kindern das Leben retten –, zeugt von einem unangemessenen Überfluss im Hause des Adligen.70 Deshalb kann es der Leser wohl abermals nur als Ironie verstehen, wenn Lazarillo schließlich konstatiert, der Fall Laides zeige, „daß man Leut findet / die den Armen / ja jhnen selbst stehlen / vnd allerley Gezeugs auß jhren Häusern tragen / welches sie zu dergleichen notdurfften etwo einer geben / die jhnen wolgestellt [...].“ Ganz abgesehen davon, dass der Leser von einem solchen Fall tatsächlich wohl noch nicht gehört hat, verfehlt diese ‚Moralisation‘ ihr Ziel in geradezu komischer Weise. Laide gehört weder zu den Leuten, die von sich selbst stehlen (wie auch immer das möglich sein soll), noch stiehlt er, wie Lazarillo behauptet, von den „Armen“. Sein Opfer ist, im Gegenteil, ein reicher Mann, dessen Besitz so weitläufig ist, dass das Fehlen des aus seinem Haus herausgetragenen „Gezeugs“ nicht einmal auffällt. Die Analyse des Erzählbeginns bestätigt, dass es Sinn macht, die sich hier expositorisch entfaltende Syntax parasitären Handelns im Kontext einer Auseinandersetzung des Textes mit der Differenz von Besitz und Besitzlosigkeit, Recht und Gerechtigkeit zu sehen. Mit ihren Aktionen überschreiten die Parasiten eine Grenze, die im Text von vornherein doppelt codiert ist. Auf der einen Seite, der der Besitzenden bzw. der Obrigkeit, handelt es sich um eine rechtliche Grenze, die dazu dient, politische und ökonomische Orte des Eigenen vor dem Zugriff Dritter zu schützen. Auf der anderen Seite, der der Besitz- und Machtlosen, steht diese Grenze für eine Praxis der Exklusion, die nur Recht und Eigentum, aber keine Gerechtigkeit kennt und im Zweifelsfall auch den Tod des Armen in Kauf
70 Hierzu passt, dass der Hofmeister das Verschwinden der Dinge gar nicht selbst bemerkt – offenbar fehlen sie im Haus nicht –, sondern von Denunzianten erst darüber informiert werden muss.
2.2 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener
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nimmt. Im ironischen Umspielen dieser Demarkationslinie gewinnt der Text die Möglichkeit, die Perspektivendifferenz zwischen dem Eigenen und dem Anderen der Ökonomie auszustellen. Dabei schreibt er sich in ein Feld des Wissens ein, das seit dem 16. Jahrhundert von humanistischen Autoren geprägt wird. Mit überzeugenden Argumenten hat die Forschung auf die Nähe des spanischen Lazarillo zur Armutslehre Juan Luis Vives’ (1493–1540) hingewiesen.71 Auch für die Historia – oder jedenfalls für deren Exposition – lässt sich dies behaupten, geht es in ihrer Beobachtung von Reich und Arm doch nicht um eine Verhandlung moraltheologischer Kategorien wie caritas und humilitas, sondern, weitaus radikaler, um die Infragestellung des den ökonomischen und juristischen Diskurs fundierenden Eigentumprinzips selbst. Bis zu diesem heiklen Punkt wagt sich auch Vives vor, wenn er in seiner Schrift De subventione pauperum (1526) das göttliche und das Naturrecht dahingehend deutet, dass die Dinge der Natur allen Menschen prinzipiell gleichermaßen zugeeignet seien: Plato der philosophus sagt / wie dz die gemeinen nütz selig weren / so diße zwo stimmen auß gebrauch der menschen genummen wurden / das Mein / und das Dein. […] Zuo letzt was er [Gott, S. Z.] erschaffen hat / hat er in disem hauß [dem Haus der Natur, S. Z.] fürgesetzt / da dann kein ding mit riglen oder mit schlossen verschlossen / sunder gemein den erschaffnen dingen ist. Sag du ders besitzest / ob du meer der natur sun seyest dann ich? So duß nit bist warumb schlüsestu mich aus? gleichsamb du ein eelich kind der natur seyest / vnd ich ein bastart? […] Darumb das die natur mit yr freigebigkeit gemein geben hat / machen wir auß vnserer boßwilligkeit eygin. Das sy vns allen für augen gestelet / das wenden wir ab weg / verbergens / beschliessens / beschirmens / andre schliessen wir auß mitt pfosten / wunden / schlossen / mit eyßen / mit gewehr […].72
Die intertextuelle Signifikanz der Passage für die ersten Kapitel der Historia braucht nach dem bisher Gesagten kaum noch genauer erläutert zu werden. Wie bei Vives wird im pikarischen Text die Perspektive des Anderen gegen die Perspektive derjenigen mobilisiert, die die Ordnungen des Eigenen vertreten – mit dem Effekt, dass deren Anspruch auf Besitz und Macht seine Selbstverständlichkeit verliert und, im Rahmen einer generellen Infragestellung der Unterscheidung von ‚Mein‘ und ‚Dein‘, problematisch wird.73 Leitet sich dieser
71 Javier Herrero: Renaissance Poverty and Lazarillo’s Family. In: PMLA 94 (1979), S. 876– 886, hier S. 877. 72 Juan Luis Vives: Wannenher Ordnung menschlicher beywonung / Erschaffung der speiß / anfang der Stätt / allerley handthierung / außteylung der güter / Vrsprung der Mintz / wie die Metall in die welt kummen […]. Straßburg: Balthasar Beck 1534, fol. Gr–G1v. 73 Wie oben bereits formuliert, wagt sich Vives bis zum Punkt der naturrechtlichen Infragestellung von Eigentum und Besitz vor, überschreitet letzthin jedoch nicht die Linie zur Forderung der Aufhebung aller juristischen Eigentumsverhältnisse. Eigentum bleibt aus seiner Sicht gerechtfertigt, wenn der Besitzende sich der Tatsache, dass sein Besitz nur angeeignet ist und
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2 Aufstieg des Parasiten: Historia von Lazarillo de Tormes
Impetus in De subventione pauperum aus einer Analogisierung natürlicher – und d. h. bei Vives auch: von Gott eingerichteter – und menschlicher Ökonomie her, so findet sich zu Beginn der Historia das erwähnte Haus-am-Fluss-Tableau, das als Reflex auf die Vives’sche Analogie gelesen werden kann: Genau wie das Wasser zirkuliert und dem Müller für sein Handwerk zur freien Verfügung steht, könnten auch die Reichtümer (das Korn) in der menschlichen Gemeinschaft ohne eigentumsrechtliche Exklusionsmechanismen zirkulieren. Dass sie es in der Welt der Historia nicht tun, hat mit der von Vives beschriebenen „boßwilligkeit“ der Menschen zu tun, die sich die Dinge, die „die natur mit yr freigebigkeit gemein geben hat“, ohne Rücksicht auf den Anderen zu eigen zu machen. Gerade mit Blick auf die Konzeptualisierung dieses Anderen allerdings darf bei der intertextuellen Lektüre die Unterschiedlichkeit der Texte nicht übersehen werden. So bleibt das transgressive Moment im Handeln des Armen bei Vives ganz auf den Raum der Sprache beschränkt: Der Arme spricht zum Reichen mit dem Ziel, diesen durch seine Fragen zu einer Verteilung überschüssiger Güter zu bewegen.74 An ein darüber hinausgehendes parasitäres Eindringen in die Ordnungen des Eigenen ist in dieser Konzeption nicht zu denken, würde ein solches den widergöttlichen und widernatürlichen Impuls des Sich-zu-eigenMachens von Dingen doch bloß perpetuieren und wäre ethisch damit nicht mehr gedeckt. Demgegenüber zeichnet es die Figurationen des Anderen in der Historia aus, dass sie, wo sie die – aus Vives’scher Sicht – böse Unterscheidung zwischen ‚Mein‘ und ‚Dein‘ unterwandern, dies in einem durchaus materiellen Sinne tun: Sie nehmen sich die Dinge, die sie zum (Über-)Leben brauchen, ohne danach zu fragen oder in einen Diskurs mit den Reichen einzutreten. An eine Reform der irdischen Verhältnisse im Zeichen göttlichen und natürlichen Rechts, wie Vives sie den Obrigkeiten qua Diskurs – d. h. mit Argumenten – nahezulegen sucht, ist in der Welt der Historia damit nicht zu denken. Und das liegt nicht nur an den Figuren, die als Parasiten oder Besitzende um die Reich-
dem Naturrecht nach allen gehört, eingedenk und bereit ist, mit seinem Bruder zu teilen. Einen Überblick über Vives’ Theorie des Gemeineigentums und ihre historische Position vermittelt J. A. Fernández-Santamaría: The Theater of Man: J. L. Vives on Society. Philadelphia 1998 (Transactions of the American Philosophical Society 88,2), S. 177–195. 74 Auffällig ist, dass es sich bei Vives’ Armen offenbar um einen gelehrten, in jedem Fall rednerisch begabten Menschen handelt. Seine Fragen haben einerseits die Form logischer Argumente – es geht darum, den Reichen im Fragen zu ‚überführen‘ (convictio) –, andererseits ist ihnen ein auf die Barmherzigkeit des Reichen zielender ‚bewegender‘ Charakter eigen. Die beiden klassischen Wirkungsziele der Rhetorik, docere und movere, kommen so auf engstem Raum zusammen: „Sag du ders besitzest / ob du meer der natur sun seyest dann ich? So duß nit bist warumb schlüsestu mich aus? gleichsamb du ein eelich kind der natur seyest / vnd ich ein bastart?“
2.2 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener
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tümer kämpfen, anstatt sie zu teilen. Auch fehlt es im pikarischen Text an einer Diskursposition, aus der heraus ein argumentatives Sprechen im Sinne Vives’ möglich wäre. Im Gegensatz zum spanischen Humanisten verfügt Lazarillo nicht über einen rhetorischen Ort des Eigenen, der es ihm ermöglicht, die Dinge seiner Erzählung nach einem allgemeingültigen moralischen und/oder epistemischen Muster zu ordnen. Bei ihm bleiben sie daher in der Schwebe: An die Stelle haltbarer moralischer Urteile rückt die Ironie.
2.2.2 Hunger in Leib und Seele: Lazarillo und seine geizigen Herren In den ersten Kapiteln der Historia erfährt der Leser (fast) nichts über die Erziehung Lazarillos. Was er als Kind von seinem Vater Tomas, von seiner Mutter Antonietta oder auch von seinem Stiefvater Laide lernt, wird vom erwachsenen Lazarillo entweder nicht erinnert oder als nebensächlich erachtet und daher nicht erzählt. Als Figur mit eigenem kognitiven Profil und eigener Agenda tritt Lazarillo als erlebendes Ich erst in den Episoden nach dem Abschied von seiner Mutter Antonietta und seinem namenlosen Halbbruder auf. Die Trennung von der Familie erfolgt, wie könnte es anders sein, aus Armutsgründen. Antonietta, inzwischen in einem Gasthaus in kärglichster Stellung, wird von einem blinden Fürbittensprecher („Fürbitter“) um Lazarillo als Diener angesprochen. Sie willigt ein, und Lazarillo wechselt nach einigen Tagen in den Dienst des Blinden. Begleitet wird die Übereignung des Kindes dabei von den in solchen Situationen in der Frühen Neuzeit üblichen Reden. Zunächst holt die Mutter vom neuen Herrn die Zusicherung ein, dass dieser Lazarillo als „eines frommen ehrlichen Manns Sohn“ 75 gut behandeln möge; dies sichert der Blinde zu, indem er weihevoll gelobt, er wolle Lazarillo „nit wie einen Diener / sonder wie mein eignes Kind halten“.76 Dann wendet sich die Mutter an den Sohn und ermahnt ihn zu Frömmigkeit, Ehrlichkeit und Fleiß, auf dass er seinen Lebensunterhalt in Zukunft selbst verdienen könne: „[J]ch habe dich bißher aufferzogen / vnd jetzt zu einem guten Herrn gebracht / bewirbe dich hinfüro selbs vmb dein Brot / vnd was du bedarffst.“ 77 Dass der Abschied unter Tränen vollzogen wird („Wir weinten beede“) und Antonietta betont, sie werde Lazarillo „wol nit mehr sehen“, erhöht die affektive Prägnanz der Szene erheblich.78 Hier zeigt sich,
75 Zwo Historien, S. 9. Die Lüge erinnert an die ironischen Lobreden auf den Vater, die Lazarillo als Erzähler zu Beginn der Historia zum Besten gibt. 76 Ebd., S. 10. 77 Ebd., S. 10 f. 78 Ebd., S. 10.
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dass zärtliche Kindesliebe bereits in der Frühen Neuzeit offenbar Sache der Mutter ist: An den Abschied vom Vater Tomas knüpfen sich seitens Lazarillos keine vergleichbaren emotionalen Erinnerungen.79 Die beiden Dienstepisoden, die an dieser Stelle im Text anschließen, sind in vielerlei Hinsicht aufeinander bezogen. Wenn in beiden die Syntax des Parasitären wieder und wieder ausbuchstabiert wird, so folgt die so entstehende Reihe von Einzelepisoden einer Logik der Steigerung und Zuspitzung, die das pikarische Ingenium des Protagonisten vor immer neue, immer schwierigere Herausforderungen stellt.80 Je lebensbedrohlicher der Hunger für Lazarillo wird und je besser seine Herren das Geschäft des „verbergens / beschliessens / beschirmens“ (Vives) ihres Besitzes verstehen, desto ‚witziger‘ wird auch der Picaro (was wiederum seine Erzählung ‚ergötzlicher‘ zu lesen macht). Seine Gegenspieler, der blinde Fürbitter und der Priester in Maqueda („Frühmesser“), treten dabei als Ausgeburten des Geizes in Erscheinung. Obwohl – oder gerade weil? – beide eine spirituelle Funktion ausüben81 – der Frühmesser als geweihter Priester, der Fürbitter als Gebete sprechendes Medium zwischen den Menschen und Gott –, zeigen sie kein Erbarmen mit dem hungernden, am Ende um ein Haar verhungernden Kind. Ganz im Gegenteil geht es ihnen ausschließlich darum, die Reichtümer, die sie – wie Lazarillo vom Fürbitter sagt – durch „tausen-
79 Die Darstellung von Emotionalität im Text spricht damit gegen die von Badinter vertretene These einer Konstruktion der ‚Mutterliebe‘ im bürgerlichen Zeitalter. Vgl. Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. München 1981. Auch im Hinblick auf die Ironiestruktur des pikarischen Diskurses ist die Stelle bemerkenswert: Zwar hat Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 191, sicher Recht, wenn er die materialistische Tendenz der Abschiedsrede der Mutter in die Reihe der doppelbödigen Profanisierungsgesten des Textes einordnet. Im Zusammenhang des Erzählten entsteht gleichwohl der Eindruck einer authentischen emotionalen Verbundenheit, die das Festhalten der Figur am (materialistischen) Weltbild der Mutter nur umso ambivalenter erscheinen lässt. 80 Zur komplexen Struktur der ‚List und Gegenlist‘-Episoden im spanischen Text vgl. Michael Waltenberger: Pikarische Intensitäten. Ein Lektüreversuch zu alteritären Aspekten der Erzählstruktur im ersten ‚tratado‘ des ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Alterität als Leitkonzept für historisches Interpretieren. Hg. von Anja Becker, Jan Mohr. Berlin 2012 (Deutsche Literatur. Studien und Quellen 8), S. 121–140, hier bes. S. 131–140. 81 Die kleruskritischen Tendenzen des spanischen Textes sind, nach den Vorgaben der französischen Adaption, im deutschen Text zwar oberflächlich purgiert; so wird vor allem die ursächliche Rückführung des priesterlichen Geizes auf das kirchliche Amt (vgl. Lazarillo/Klein Lazarus, S. 48/49) in der Historia durch eine weniger verfängliche Variante ersetzt: „Jedoch waiß ich nit / ob er von Natur also geitzig gewesen / oder ob er erst etwa durch einen zufall also worden […].“ Zwo Historien, S. 50. Jedoch bleiben ausreichend satirische Widerhaken stehen, die auch dem deutschen Text eine kleruskritische Tendenz verleihen. Es wird darauf zurückzukommen sein.
2.2 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener
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terley griff / Rengk vnnd Künsten“ 82 an sich bringen, gegen ihren Schützling zu verteidigen. Der emulativen Tendenz der Episoden entsprechend, übertrifft der Priester den Blinden dabei noch. Meint Lazarillo bei diesem bereits an den geizigsten Menschen der Welt geraten zu sein – Ob er nun wol sehr vil gesamblet / vnd gar reich worden / so kann ich mich doch nit erinnern / das ich mein tag ein nissigern / geitzigern schinder vnd kärgling gesehen / vnd zu deme er mich schier hungers getödtet / hat er mich auch weder kleider / schuch / noch anders so ich bedörfft / gekaufft […]83
‒, so muss er sein Urteil zu Beginn der Frühmesser-Episode revidieren; geiziger noch als die Personifikation des Geizes, nämlich der Blinde, sei sein zweiter Herr gewesen: Dann mein Blinder war gegen disem [den Frühmesser, S. Z.] / mit der Freygebigkeit der grosse Alexander / vnangesehen er der Geitz selbst gewesen. In summa / die karg= vnd nissigkeit der gantzen Welt befande sich inn disem meinem newen Herrn verschlossen [...].84
Die Formulierungen zeigen, warum es hier angemessen ist, von einem Paradigma des Geizes als Basis des Erzählens zu sprechen. Alle Aspekte der sich eröffnenden Episoden-Folge sind auf den Geiz als Laster und pervertierte ökonomische Handlungsweise bezogen; Lazarillo, der Parasit, begegnet in ihr gewissermaßen immer wieder der avaritia selbst.85 Dass die Praktiken, die die Herren zu ihrem Vorteil anwenden, des Teufels sind, verschweigt der Fürbitter nicht. Seine Rolle als Vormund und ‚anderer‘ Vater Lazarillos sieht er darin, diesen auf ein Leben vorzubereiten, in dem er „verschmitzter seyn“ müsse, „als der Teuffel selbst“.86 Deutlich tragen seine Erziehungsrede und -praxis dabei die Züge einer ironischen Kontrafaktur entsprechender Vorbilder aus der christlichen oeconomia-Tradition. Exemplarisch anzuführen wäre hier aus dem nächsten verlegerischen Umfeld der Historia etwa Aegidius Albertinus’ Haußpolicey (1602). In deren dritten Teil heißt es mit Blick auf die Funktion des Mannes im Haus, er sei
82 Zwo Historien, S. 15 f. 83 Ebd., S. 16. 84 Ebd., S. 50. 85 Die paradigmatische Beziehung der Figur zum Geiz wird dabei durch ihren Namen bereits nahelegt. Als Namensvetter des biblischen Bettlers Lazarus aus dem Lukas-Evangelium (Lk 19– 31) bekommt Lazarillo es mit ‚Reichen‘ (oder doch Besitzenden) zu tun, die auch um den Preis ihres eigenen Seelenheils nichts zu geben bereit sind. Vgl. dazu auch Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 196 f. 86 Zwo Historien, S. 11.
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schuldig zu sorgen für sein Haußgenossen / vnd sie zu underweisen in der Gottsforcht / disciplin vnd guten Sitten: Er muß in seinem hause gleichsamb versehen das Ambt eines Bischoffs: Sein Weib/ kinder vnnd Haußgesindt (deren pater familias vnnd Vatter er ist) muß er straffen vnnd warnen / die Sünd muß er treiben auß dem Hause / vnd keines wegs bewilligen / daß der Feind Gottes darinnen wohne.87
Beide Aufgaben, die der Versorgung des Kindes/Dieners mit allen lebensnotwendigen Dingen und die der Unterweisung desselben „in der Gottsforcht / disciplin vnd guten Sitten“, werden vom Fürbitter – ebenso wie vom Frühmesser, der tatsächlich ja ein Priester mit eigenem Haushalt ist – in ihr Gegenteil verkehrt. Nicht nur, dass Lazarillo in der Zeit seines Dienstes beständigem Hunger ausgesetzt ist, obwohl Lebensmittel zu seiner Versorgung vorhanden wären. Auch wird er von den Herren buchstäblich in eine Schule des Teufels geschickt, deren Lehren den „Christlichen præceptis“, wie Albertinus sie aufführt,88 diametral entgegenstehen. Dies beginnt damit, dass sein erster Herr, der Blinde, ihn mit dem Kopf so heftig gegen einen Brückenpfeiler schlägt, dass er „es länger / dann drey tag empfunden“ 89 – eine Anspielung auf Christi triduum zwischen Tod und Auferstehung, die religiöse Erwartungen weckt, um sie sogleich zu enttäuschen. Denn das Aufwachen Lazarillos aus der Ohnmacht führt nicht etwa zu einer Abkehr von Sünde und Schuld, sondern, im Gegenteil, zur (verkehrten) Einsicht, dass zum (Über-)Leben in der Welt letzthin allein der Eigennutz tauge:90 Zur stund gedauchte mich / wie ich auß meiner einfeltigkeit auffwachte / in dern ich / meiner Jugent halber / gleichsam entschlaffen war / vnd sprach in mir selbsten: Warlich er hat recht / dann weil ich nunmehr allein / vnd aller hülff meiner Mutter beraubt bin / so must ich nur die augen auffthuen / vnd selbst sehen / was mir nutz vnnd gut ist.91
87 Aegidius Albertinus: Haußpolicey / Begreifft vier unterschidtliche Theyl: Im ersten und andern wirdt gehandelt von den Junckfräwlichen und ledigs Standts Personen und ihrem verhalten. Im dritten/ vom Ehestandt und Ambt der Männer. Im vierdten/ wird den Weibern ein schöner und artlicher Spiegel geschenckt/ darinn sie sich alles ihres gefallens spieglen können. [...] München: Nikolaus Heinrich 1602, S. 163v. 88 Ebd., S. 113v. 89 Zwo Historien, S. 11. 90 Um auch in diesem Zusammenhang noch einmal Albertinus zu bemühen, sei erwähnt, dass dessen Haußpolicey von dem Einsatz von Gewalt zur Erziehung eher abrät. Zwar sei es manchmal notwendig, die kleinen ungebärdigen Kinder „mit bedrowungen vnnd einem Rütlein [zu] schrecken / [...] / aber nachdem sie seind gewachsen vnd etwas elter vnd grösser geworden / sollen sie von den Eltern vnnd Præceptoribus, nicht so sehr mit Straichen vnnd Schlägen / als mit Exempeln vnnd heilsamen Ermahnungen / zu den ehrlichen studijs werden angehalten.“ Albertinus: Haußpolicey, S. 115r. 91 Zwo Historien, S. 12.
2.2 Kindheit des Parasiten: Lazarillo als Sohn und Diener
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Mit dieser Initiation92 endet die Kindheit Lazarillos und beginnt seine Zeit als gelehriger Schüler des Blinden, der ihn neben der Sprache der Kriminellen – dem Rotwelsch – auch die betrügerische „Handthierung“ seines Berufes, des Fürbittensprechens gegen Geld, beibringt.93 Über das schnelle Lernen – das „gute[ ] ingenium“ 94 – des Jungen erfreut, preist der Blinde Lazarillo sein Wissen als einzig wahre Lebenslehre an – eine Lehre, die Lazarillo als eigentliche Ursache für seine Menschwerdung annimmt: Lazarillo / ich kann dir weder Gold noch Silber geben / aber ich will dich abrichten / das ein rechtschaffner mensch sol auß dir werden / vnd du dein Leibs vnderhaltung wol wirst gewinnen können / welchs er auch in warheit gethan. Dann nächst der hülff Gottes / hat er mich zu einem menschen gemacht / vnd wiewol er selbst blind war / mir doch klarheit vnd liecht geben / vnnd mich gelehret / das michs mein lebtag hilfft […].95
Macht der apostolische Beiklang, den die Passage durch das eingebaute PetrusZitat ‒ es handelt sich um die Erzählung von Petrus’ Heilung eines Lahmen (Apg. 3,6) ‒ und die Illuminations-Metaphorik aufweist,96 die Diskrepanz zwischen einer christlichen und der diabolischen Erziehung des Blinden noch einmal deutlich, so ist das Interessante an dieser Stelle zweifellos der Kommentar Lazarillos. Es gilt hier auf die Fokalisierung zu achten: Im obigen Zitat wird die Bereitschaft zur Annahme der bösen Lektion eindeutig dem erzählten Ich, dem jungen Knaben Lazarillo, zugeschrieben („[...] vnd sprach in mir selbsten: Warlich er hat recht [...].“). Im zweiten Zitat ist das anders, hier blickt ebenso eindeutig der erwachsene Lazaro aus der Position des Erzählers auf das vergangene Geschehen. Umso problematischer erscheint die affirmative Tendenz seiner Rede. Mit der Aussage, die Lehre des Blinden habe ihm „klarheit vnd liecht geben / vnnd mich gelehret / das michs mein lebtag hilfft“, legt Lazaro nahe, dass er der anti-christlichen Doktrin auch zum Zeitpunkt des Erzählens noch verpflichtet ist. Dass er diese dabei mit der „hülff Gottes“ auf eine Stufe stellt, verschärft die ironische Abgründigkeit der Botschaft noch: Auch im Moment des Rückblicks scheint Lazaro nicht in der Lage, zwischen dem Licht der göttlichen Gnade und der Finsternis der Teufels-Lehre so zu unterscheiden, dass er zu einer moralisch eindeutigen Haltung zu seinem Leben finden könnte.
92 Zum Initiationscharakter des Vorfalls vgl. Waltenberger: Pikarische Intensitäten, bes. S. 131–140. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 Ebd., S. 13. 96 Darüber hinaus sind Anklänge an die Sprüche Salomos (Spr. 3,13–15 sowie 16,16) festzustellen, in denen der Weise die gegenüber allem Gold und Silber größere Kraft der Weisheit betont. Zu der Stelle vgl. auch Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 192.
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Die ökonomische Verschränkung von natürlichen und spirituellen Aspekten der Sorge ums Kind bzw. den Diener behält ihre Geltung als (immer wieder verfehltes) Ideal über die gesamte Länge der Dienst-Episoden. Wenn Lazarillo, der Parasit, mit allen ihm zu Gebote stehenden „List[en] vnd Stratagemata“ 97 ums Überleben kämpft, geht es nicht nur um seinen Leib und dessen ungestillte Bedürfnisse. Vielmehr lässt sich die Suche nach Brot (und auch Wein) zugleich auch als eine „figural quest for spiritual nourishment“ 98 lesen, zu dem sich das Erzähler-Ich, wie gezeigt, allerdings nicht eindeutig positioniert. So ist oft nicht zu entscheiden, ob die Verschaltung der typisch karnevalistischen Motive des Hungers, des Verschlingens, des Wiederausspuckens etc. mit Semantiken des Heils und der Erlösung (Eucharistie) dem Zweck der blasphemischen Erniedrigung des Religiösen dient oder ob ihr, umgekehrt, der Charakter einer religiösen Kritik an den allein auf das Irdische konzentrierten Praktiken der Figuren zu attestieren ist.99 Genau diese Ambivalenz freilich dynamisiert das Erzählen
97 Zwo Historien, S. 17. 98 So zu den 1554er-Versionen Walter Holzinger: The Breadly Paradise Revisited: ‚Lazarillo de Tormes‘, segundo tratado. In: PMLA 37 (1972/73), S. 229–236, hier S. 233. Holzinger schaltet sich in eine Debatte ein, die angestoßen wurde von Anson C. Piper: The ‚breadly paradise‘ of ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Hispania 44 (1961), S. 269–271. In jüngerer Zeit dazu Benjamin Torrico: Retorno al ‚Paraiso panal‘. Derecho civil y canónico como claves eucaristicas en el tratado segundo del ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Hispanic Review 74 (2006), S. 419–437; Theresa Ann Sears: Beyond Hunger: The Alimentary Cultural Code in ‚Lazarillo de Tormes‘. In: The ‚Lazarillo‘-Phenomenon. Essays on the Adventures of a Classic Text. Hg. von Reyes CollTelechea, Sean McDaniel. Cranbury, NJ 2010, S. 98–119. 99 Das Problem der Unterscheidung von religiösem Sinn und natürlich-materieller Leiblichkeit ist allerdings keines, das der Historia als ‚karnevalistischem‘ Text exklusiv zukäme. Vielmehr lässt sich sagen, dass es die Semiotik des Karnevals, wie Michail M. Bachtin sie beschrieben hat, insgesamt kennzeichnet: „Im Nach-außen-Gewendetsein des Zeichens als Laut, Geste, Stoff, sichtbar-tastbare Formation vollzieht sich die semiotische Inszenierung der Materie. Bachtin spricht von ‚Körper-Zeichen‘ (telo-znak), dessen Findung allein schon bedeutsam sei, Bedeutung trage. Eine Abspaltung des Sinns vom Körper, eine Trennung von Materie und Zeichenwert ist daher in Bachtins Konzeption nicht möglich, und es ist eben dieses Zusammenspiel von Materie und Zeichen – von soma und sēma –, das Spiel der ‚somatischen Semiotik‘, das Kultur konstituiert.“ Renate Lachmann: Vorwort. In: Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Übersetzt von Gabriele Leupold. Hg. von Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987, S. 7–48, hier S. 25. Zum Karnevalismus in der Historia vgl. Beat Reck: Zeichenkörper und Körperzeichen im deutschsprachigen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts: Die anonyme ‚History vom abenthewrlichen Lazarillo von Tormes‘ (1617) und Johann Beers ‚Der Berühmte Narren=Spital‘ (1681). In: Zeichenkörper und Körperzeichen im Wandel von Literatur- und Sprachgeschichte. Hg. von Henriette Herwig. Freiburg i. Br. u. a. 2005 (Rombach Wissenschaften, Reihe Litterae 131), S. 19–48. Zur karnevalesken Profanierung der eucharistischen Symbole ‚Brot und Wein‘ im spanischen Lazarillo vgl. außerdem Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 194–197. Ob Ehrlichers These einer restlosen Entsublimierung der
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in den bezeichneten Passagen. Dies lässt sich bereits für einige der Abschnitte aus der Fürbitter-Episode behaupten, etwa wenn Lazarillo erzählt, wie er das Geld seines Herren – wie der Gläubige die Oblate – in seinem Mund verborgen hat, um seinen Hunger durch geheime Einkäufe am Markt zu stillen,100 oder wenn er versichert, er habe den Wein seines Herren wie „himmlische[n] Thaw“ genossen und sein „Gsicht“ beim Trinken „gegen dem Himmel gekehrt“.101 Den Höhepunkt erreicht die narrative Ausbuchstabierung der parasitären Syntax jedoch erst in der Frühmesser-Episode. Diese wartet mit einer durch den Geiz des Hausherrn ins Groteske verzerrten ökonomischen Topik auf. Das Haus, in dem sich die Handlung vollzieht, ist bis auf wenige karge Einrichtungsgegen-
Religion durch das Materielle für den spanischen Text zutrifft, kann hier nicht entschieden werden. Für die Historia ist eher von einer Doppelbewegung zwischen Profanierung und Transzendierung auszugehen, wobei letztere im Text allerdings nur ex negativo – als deutlich erkennbarer Schattenwurf des drastischen Körper-Theaters – greifbar wird. 100 Die Passage ist auch daher interessant, weil sie eine Erweiterung der parasitären Syntax präsentiert. Die Kette der aufeinander abgestimmten parasitären Handlungen erreicht dabei eine erhebliche Länge. Zunächst gelingt es Lazarillo, Lebensmittel aus dem Beutel des Blinden zu entwenden. Diese verkauft er anschließend auf dem Markt, wobei er darauf achtet, kleine Münzen zu erhalten. Wenn nun jemand vom Blinden ein Gebet gesprochen haben will und ihm dafür eine Münze reicht, geht Lazarillo dazwischen, reicht dem Blinden eine kleinere Münze und steckt sich die größere in den Mund: „[…] vnd was ich jme stelen kundte / verkauffte ich / vnd name darfür kein andere Müntz / dann lautere Pfenning / oder Vierer ein / wann jme [dem Fürbitter, S. Z.] nun einer befahle ein Gebett zusprechen / vnd einen Kreutzer darreichte / kundte er / der stockblind war / die hand so baldt darnach nit außstrecken / daß ich jme nit zur stund / mit wunderbarlicher geschwindigkeit einen Vierer darein warffe / vnd den Kreutzer / welchen ich von dem andern name / in das maul verbarg […].“ Zwo Historien, S. 18 f. In der Folge zeigt sich die rein materielle Motivation des Fürbitters: Als er merkt, dass er (wie er denkt) von den Menschen nur noch kleinere Münzen bekommt, reduziert er die Länge der Gebete: „Dieser vrsach halber kürtzte er seine Gebett mehr dann vmb die helffte ab / vnd befahle mir / wann der / so jhme das Gebett bezahlt / hinweg gegangen / vnd nit mehr hören könden / solle ich jhne / dessen zur nachrichtung / bey dem mantel zupffen / so bald er nun solches ziehen empfunden / machte er an seinem Gebett ein ende / vnd schrye von newem / wie der Blinden brauch ist / wer begehrt / das ich dises oder jenes Gebett für jhne spreche.“ Ebd., S. 20. 101 Ebd., S. 24 f. Der Wein erhält gegen Ende der Episode noch einmal Bedeutung, wenn der Blinde Lazarillo damit aufzieht, er habe „dem Wein mehr zu dancken [...] als [s]einem Vatter / dann gesetzt / daß [ihm] derselb einmal das Leben gegeben / so hat [ihm] es doch der Wein tausentmal erhalten.“ Ebd., S. 43. Irdische und himmlische Vaterschaft, gegorener Traubensaft und Blut Christi – zwischen diesen Polen schwingt die Rede des Fürbitters ironisch hin und her und erzeugt Dissonanzen, die vom Leser mit traditionellen moralisch-religiösen Deutungskonzepten nicht ohne Weiteres aufzulösen sind. Zur symbolischen Funktion des Weins im spanischen Text vgl. Javier Herrero: The Ending of ‚Lazarillo‘: The ‚Wine‘ against the ‚Water‘. In: Modern Language Notes 93 (1978), S. 313–319.
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stände leer. Seinen Besitz, insbesondere das Brot, schließt der Priester in eine Truhe ein, über die er mit Argusaugen wacht: [E]r hatte eine grosse alte Truhen / die er mit einem Schlüssel auff vnd zuschloß / welchen er allezeit mit einem Nestel an seinem Röckl angebunden truege / vnd sobald er etwas bekommen / oder kaufft / verwahrte er es zur stund mit eigner Hand in derselbigen Truhen / vnd vergasse niemals / sie fleissig einzuschliessen / der gestalt / daß in dem gantzen Hauß nicht ein einigs bissel zu essen zu finden war […].102
Es ist für die Darstellung des Geizes im Text bezeichnend, dass die Thesaurierungswut des Priesters mit dem Einschließen seiner Habe noch nicht gestillt ist. Um über die Art und Anzahl der Dinge seiner Ökonomie stets genau Bescheid zu wissen, bedient er sich darüber hinaus eines Systems der Buchhaltung. Dies wird deutlich, als es Lazarillo schließlich gelingt, Brot aus der Truhe zu stehlen. Eine kurze Inventur seines Besitzes genügt dem Frühmesser, um den Diebstahl zu erkennen: Nun nach dem er lang an den Broten gezehlet / machte er sein rechnung auch an den Fingern / vnd sagte letztlich zu mir: Wann dise Truhen nicht wol versperrt / vnnd an einem sichern Ort gewest were / wolt ich frey sagen es giengen mir etliche Brot ab […] / es seyen jhr noch neune / vnd ein viertl von einem Leibl vorhanden […].103
Wird das Rechnen hier wie auch schon in der Laide-Episode („mein auff gut raitung gewester Stieffvater“) mit dem Geiz des Besitzenden assoziiert, so muss Lazarillo zur Unterwanderung des Systems doch einen ungleich größeren Aufwand betreiben als sein Stiefvater. Laide kann sich die lebensnotwendigen Dinge einfach nehmen, da die auf Überfluss basierende Ökonomie des Commenthurs keiner totalen Überwachung unterworfen ist (oder überhaupt sein kann). Lazarillo hingegen muss nicht nur um den Zugang zur Truhe kämpfen – dazu gleich mehr –, sondern sieht sich darüber hinaus dazu gezwungen, den natürlichen Reflex des Verschlingens der Nahrung zugunsten einer Gegenprüfung der Rechnung seines Herren zurückzustellen. Macht er sich dabei anfangs noch die Hoffnung, dieser könnte sich verrechnet haben, so wird diese bald enttäuscht – die Buchhaltung des Frühmessers ist lückenlos und ganz ohne Fehler: Wie hernach mein Herr außgegangen / sperrte ich die Truhen auff / mich etwas zu erlaben / vnnd in dem ich die Brot ansahe / von denen ich nichts essen dorffte / beschawete / vnd zehlete ich sie / vmbzusehen / ob sich etwa der gute Herr vberzehlt hette / ich fande aber die raitung vil richtiger / als ich nit gewöllt hette […].104
102 Zwo Historien, S. 50 f. 103 Ebd., S. 65. 104 Zwo Historien, S. 66.
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Die Pointe, die dieser (vorläufige) Ausgang der Geschichte bietet, erschließt sich mit Blick auf den Buchhaltungsdiskurs der Zeit. In den einschlägigen Traktaten von Pacioli bis Schweicker ist nachzulesen, welche Relevanz die Suche nach Fehlern für die Herstellung zuverlässiger Bücher hat; „dann so man jm Buch all partien schontriert vnd gegen einander fleissig ubersehen/ Summiren/ eine von der andern abzeugt / find man ob jndert gefelt oder ycht wehr vbersehen [hat] im hinfürtragen“, heißt es in Schweickers Zwifach Buchhalten (1549).105 Das Interessante ist, dass sich in den Schriften mit dem Vorgang des Rechnens und mehrfachen Überprüfens dabei keineswegs negative moralische Implikationen verbinden. Im Gegenteil zögern die Autoren nicht, die Kunst der Buchhaltung als Mittel zur Bewahrung guter Ordnung in allen irdischen und überirdischen Dingen zu propagieren. Neben dem schon bei Pacioli unvermeidlichen ‚Laus deo‘ auf jeder Buchseite106 kann hierfür das Lobgedicht auf den Buchhalter bei Schweicker exemplarisch stehen: „Offt rechnung thun“, reimt der Praktikus einigermaßen holprig, […] macht gut freundschafft/ Als dann magst du in frid leben/ Vnd mit frommen haben gemeinschafft. Darzu verleich vns Gott sein gnad/ Vnfleiß auch sünd zuvermeiden/ Durch Jesum Gott pitten frü vnd spat/ Ewige ruhe/ vns thu verleyhen.107
Das Spiel des Rechnens, Prüfens und Gegenprüfens, das Lazarillo und sein Herr spielen, durchkreuzt das Paradigma von Buchhaltung und guter Ordnung (Freundschaft, Friede, Gemeinschaft, Gnade) auf ganzer Linie. Dies hat mit der völlig anders gelagerten Auswahl ökonomischen Wissens im Text zu tun: Mit Vives gedacht, kann die Buchhaltung als Technik der Unterscheidung von ‚Mein‘ und ‚Dein‘ niemals dazu taugen, „sünd zuvermeiden“, da sie in ihrer Funktion selbst Ausdruck der (postlapsarischen) Sündhaftigkeit des Menschen ist. Der pikarische Text unterstreicht diese Sichtweise, indem er die unmoralischen, gottfernen Motivationen der beiden ‚Buchhalter‘ offenlegt. Wenn auf der einen Seite der Frühmesser, wie von Schweicker empfohlen, „[o]fft rechnung
105 Schweicker: Zwifach Buchhalten, fol. 27v. 106 Jane Gleeson-White: Soll und Haben: Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus. Aus dem Englischen von Susane Held. Stuttgart 2015, S. 148: „Wie wir beim Kaufmann von Prato und bei Pacioli gesehen haben, waren diese gläubigen Ausrufungen ein gemeinsames Merkmal der frühesten Zeugnisse doppelter Buchführung, und in einigen Teilen Europas blieben sie es bis ins 18. Jahrhundert [...].“ 107 Schweicker: Zwifach Buchhalten, fol. Fjr.
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thu[t]“, geht es ihm nicht darum, mit Lazarillo „gut freundschafft“ zu schließen oder „mit frommen […] gemeinschafft“ zu haben; vielmehr dient ihm die buchhalterische ratio dazu, seinen Diener aus der Ordnung des Eigenen auch dort noch sicher auszuschließen, wo er ihn persönlich nicht im Blick hat. Auf der anderen Seite zielt Lazarillos Gegenprüfung der Rechnung seines Herren nicht darauf, das ‚Buch‘ und damit die Ordnung der Dinge im Haus zu verbessern, sondern versteht sich als Vorbereitung eines parasitären Übergriffes auf eben diese Ordnung. Wenn auf diese Weise aus Schweickers Appell „find man ob jndert gefelt oder ycht wehr vbersehen [hat]“ Lazarillos „ich fande aber die raitung vil richtiger / als ich nit gewöllt hette“ wird, so ist das ein sinnfälliger Ausdruck der inversiven Tendenz, die das Erzählen im Abschnitt kennzeichnet. Zusätzliche Brisanz erhält die Passage durch die Schilderung des Hungers, der Lazarillo zu diesem Zeitpunkt bereits in die „gefahr des todts“ gebracht hat.108 Dass er dieser dann doch entgeht, hat mit einem glücklichen Umstand zu tun. Gerade, als der Hunger am größten ist ‒ Lazarillo traut sich bereits nicht mehr „auff [s]einen schwachen / vnd durch den jämmerlichen hunger / an dem fleisch gäntzlich verzöhrten Füssen […] fortzukommen“ 109 ‒, wandert ein Kesselmacher am Haus des Frühmessers vorüber. Lazarillo bittet ihn, wie er sagt, „auß Göttlicher eingebung“ 110 um einen Zweitschlüssel für die Truhe, den er auch erhält. Beim Öffnen der Truhe wird er von solcher Freude überwältigt, dass er im darin liegenden Brot Gottvater selbst zu erkennen glaubt: [I]ch aber halff jhme [dem Kesselmacher, S. Z.] mit meinem armen andächtigen Gebett dermassen / daß er vnversehens mit einem [Schlüssel, S. Z.] die Truhen öffnete / darab ich ein solche vnaußsprechliche frewd empfangen / daß in dem ich der Brot in der Truhen ansichtig worden / mich anderst nit gedunckt hat / dann ich sehe (wie man zu reden pflegt) das Angesicht Gottes. Ich sprach zum Keßler: Vetter / ich hab warlich kein Gelt damit ich euch den schlissel bezalen könde / wann es aber euch geliebt / so macht euch selbst mit Brot bezalt / also nam er eins auß den schönsten broten / gab mir den Schlissel / vnd gieng gar wol zu friden seinen Weg fort […].111
Auf signifikante Weise überlagern sich an dieser Stelle die zwei wesentlichen metonymischen bzw. allegorischen Relationen, in die der Text das Brot einstellt. Auf der konkreten, materiellen Ebene dient das Brot Lazarillo als natürlicher Ersatz für das Geld – eine Umkehrung der monetären Tauschfunktion, die den Blick des Lesers auf die Realien ‚hinter‘ dem monetär geregelten Wirtschafts-
108 109 110 111
Zwo Historien, S. 54. Ebd., S. 59. Ebd., S. 61. Ebd., S. 62 f.
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kreislauf richtet. Wie relevant dieser Blick für das Verständnis der Passage ist, lässt sich am Motiv der Truhe ablesen: Nicht erst dort, wo Lazarillo dem Kesselmacher ein Brot zur Bezahlung gibt, spielt der Text mit der Metonymie von Geld und Nahrung; vielmehr steht die gesamte Praxis der Thesaurierung und buchhalterischen Überwachung, die sich auf das Brot und nicht, wie üblich, auf das Geld bezieht, im Zeichen dieser Substitution. Zu sprechen ist hier von einer Renaturalisierung des Geiz-Topos, in der das lebenserhaltende Gut, das der Reiche dem Armen – der Herr seinem Diener – vorenthält, dem Leser stets vor Augen bleibt. Die existenzielle Drastik der Handlung entfaltet ihre Wirkung auch auf der zweiten, der (pseudo-)spirituellen Ebene des Erzählens. Wenn Lazarillo den Kesselmacher für einen „verkleidte[n] Engel“ 112 hält, wenn er die Truhe als „Brotparadeiß“ 113 bezeichnet und das Brot darin anschaut, „gleich als wann es ein göttlichs ding were“,114 ist dies Ausdruck seiner leiblichen Not, verweist zugleich jedoch auf eine allegorische Ebene, die der Leser zu entschlüsseln aufgerufen ist. Dies dürfte ihm, soweit er christlich-religiös geprägt ist, nicht schwer fallen. So lässt sich der Schlüssel, den Lazarillo vom Kesselmacher erhält, auf allegorischer Ebene als Himmelsschlüssel Petrus’ deuten, der dem Frommen die Schatztruhe der göttlichen Gnade aufschließt,115 während die Assoziation von Brot und „Angesicht Gottes“ bzw. „göttlich[em] ding“ auf das Mysterium der Transsubstantiation verweist. Je mehr Lazarillo diese allegorische Lektüre allerdings forciert, desto größer wird die Fallhöhe seines durch keine religiöse Instanz gedeckten Diskurses. Insbesondere die Erwartungen, die sich an die Eucharistie als Medium der Vermittlung von Materie und spirituellem Sinn koppeln, kann der nach den Broten seines Herrn gierende Parasit nicht erfüllen. Sobald hinter der (vermeintlichen) spirituellen Bedeutung seiner Rede die blanke Lebensnotdurft sichtbar wird, bricht das System des mehrfachen Schriftsinns in sich zusammen: Deß andern tags frü / sperrt ich mein Brotparadeyß auff / vnd erwischte eines mit den Händen vnd Zänen / mit solcher begirlichkeit / daß es / ehe dann einer zway wort hette reden können / vnsichtbar worden / vnnd verdruckt war.116
112 Ebd., S. 61. 113 Ebd., S. 63. 114 Ebd., S. 67. 115 Diese Symbolik ist aus der religiösen Emblematik der Frühen Neuzeit bekannt. Vgl. Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Taschenausgabe. Stuttgart, Weimar 1996, Sp. 1335. 116 Zwo Historien, S. 63 f.
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Für den göttlichen Logos – in diesem Fall wohl die eucharistischen Worte Christi (hoc est corpus meum)117 – ist unter den Bedingungen rein leiblicher „begirlichkeit“ kein Platz. Die aufwändig inszenierte „figural quest for spiritual nourishment“ (Holzinger) weist für die an Leib und Seele vernachlässigte Figur letzthin ins Leere. Dass die allegorische Ebene der Erzählung gleichwohl in einen moralischreligiösen Deutungskontext eingebunden bleibt, hat mit der übergeordneten ökonomischen Struktur des Geschehens zu tun. Im Haus zu Maqueda ist Lazarillo an einen Ort gekommen, an dem die oeconomia in ihrem christlichsten Gewande erscheinen müsste, steht dem Haushalt mit dem Frühmesser doch ein geweihter vicarius dei vor.118 Tatsächlich enttäuscht der Geistliche diese Erwartung allerdings auf ganzer Linie. Wenn es bei Albertinus vom Hausvater heißt, er müsse „die Sünd […] treiben auß dem Hause / vnd keines wegs bewilligen / daß der Feind Gottes darinnen wohne“,119 so erscheint das Vorgehen des Frühmessers gegen seinen Diener Lazarillo als diabolische Kontrafaktur dieses Gebotes. Nicht nur, dass es seinem Geiz geschuldet ist, wenn der subalterne Hausgenosse „auff mittel vnnd weg tichten vnd trachten [muss] / welche [er] zu erhaltung [s]eines auff der naig stehenden armen Lebens gebrauchen mochte […]“.120 Auch ist Lazarillo in seinem Subsistenzkampf einer gnadenlosen Verfolgung ausgesetzt, in der er die Rolle des ökonomischen Schädlings annehmen muss, um zu überleben. Und dies in einem ganz wörtlichen Sinn: Um den Verdacht von sich abzulenken, kommt Lazarillo auf die Idee, die Brottruhe beim nächtlichen Diebstahl so zu präparieren, dass sein Herr denken muss, es seien die Mäuse gewesen. Der Plan geht auf. Als der Geistliche am nächsten Morgen seinen Besitz inspiziert, ist er sicher, die Mäuse im Haus zu haben: Darumb besichtigte der gut Domine die Truhen oben vnnd vnden/ allenthalben/ vnd dieweil er etliche löchlin gefunden/ argwohnte er/ die Mäuß weren dardurch hinein kom-
117 Geht man von der Vulgata bzw. von der lateinischen Liturgie als Intertext der Historia aus, würde sich Lazarillos Formulierung „ehe dann einer zway wort hette reden können“ auf das ‚hoc est‘ als deiktische Wortgeste Christi bzw. des Priesters beziehen. Hierin läge mit Blick auf das Erzählen im Abschnitt eine besondere Ironie: Auch Lazarillo zeigt ja auf das Brot und fordert den Leser dazu auf, das Andere, Heilige in diesem zu sehen. Bevor dieses Heilige qua Transsubstantiation (‚hoc est corpus meum …‘) jedoch gegenwärtig werden kann, verschlingt der ‚falsche‘ Priester das Brot. Der Blick des Lesers wird auf diese Weise abrupt aufs profane Geschehen zurückgelenkt. 118 Damit wäre der Frühmesser eigentlich prädestiniert, „in seinem hause gleichsamb […] das Ambt eines Bischoffs“ zu versehen, wie es Albertinus: Haußpolicey, fol. 163v, formuliert. 119 Ebd. 120 Zwo Historien, S. 73.
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men/ ruffte mir hinzu/ vnd sprach: Sihe Lazarillo/ sihe/ wie vns die verfluchte Mäuß verfolgen/ vnd was sie vnd heint nacht an vnserem Brot für einen schaden gethan.121
Die Überblendung von Mensch und Tier am häuslichen Ort des Anderen spielt in der Deutung der Passage als diabolische Kontrafaktur christlicher oeconomiaKonzepte eine wichtige Rolle. Intertextuell weist sie auf einen Abschnitt aus Augustinus’ Gottesstaat zurück. Es handelt sich um jene Stelle, an der der Kirchenvater die Unfähigkeit des Menschen beklagt, seinen Eigennutz zugunsten der göttlichen Schöpfung zurückzustellen. Ähnlich wie später Vives erhebt Augustinus die Natur zum Maßstab menschlichen Handelns und profiliert eine Opposition von menschlicher und göttlich-natürlicher Ökonomie, in der die Mäuse zum Zünglein an der Waage werden: So geschieht es wohl, daß wir manche empfindungslosen Wesen manchen empfindenden vorziehen, und zwar so sehr, daß wir die letzteren, wenn wir nur könnten, aus der Natur austilgen möchten, sei es, daß wir nicht begreifen, welchen Platz sie in ihr einnehmen, sei es, weil wir das zwar einsehen, aber unsern Vorteil höher stellen. Denn wer möchte in seinem Hause nicht lieber Brot haben als Mäuse, nicht lieber Geld als Flöhe?122
Aus dieser Perspektive stellt bereits die virtuelle Verfolgung der Mäuse durch den Frühmesser einen Verstoß gegen die Schöpfungsordnung dar – in der Natur kann es mit Augustinus außer dem Menschen kein Wesen geben, das eine widergöttliche Agenda verfolgt (auch die das Brot anknabbernden Nager nicht). Erst recht versündigt sich der Frühmesser aber dadurch, dass das empfindende Wesen, das er „aus der Natur austilgen möchte[ ]“, in Wirklichkeit sein halb verhungerter Diener Lazarillo ist: ein Mensch. Dessen Handeln im Haus erscheint damit zwar noch keineswegs theologisch gerechtfertigt – denn anders als die Tiere könnte der menschliche Parasit Gott erkennen und seine Gnade suchen –, erhält aber religiöse Bedeutung insofern, als es die Sündhaftigkeit des Frühmessers in ihrer ganzen Tragweite erkennbar macht. Erst durch die Präsenz des Parasiten im Haus wird das diabolische Potenzial des Eigennutzes des Hausherrn für den Leser sinnfällig.
121 Zwo Historien, S. 68 f. 122 Aurelius Augustinus: Vom Gottesstaat (De civitate dei). Aus dem Lateinischen übertragen von Wilhelm Thimme. Eingeleitet und kommentiert von Carl Andresen. 2 Bde. München 1978, Bd. 2, S. 27 (Buch XI, Kap. 16). Der theologische Haupttext des Augustinus spielte und spielt in der Lazarillo-Forschung eine weitaus geringere Rolle als die Confessiones, die früh schon Gegenstand vergleichender Lektüren wurden, so vor allem im Rahmen der Kontroverse zwischen Jauß und Baumanns. Vgl. Hans Robert Jauß: Ursprung und Bedeutung der Ich-Form im ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Romanistisches Jahrbuch 8 (1957), S. 290–311; Peter Baumanns: Der ‚Lazarillo de Tormes‘ eine Travestie der augustinischen ‚Confessiones‘? In: Romanistisches Jahrbuch 8 (1959), S. 285–292.
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Das feindselige Widerspiel zwischen dem Parasiten Lazarillo und seinem Verfolger spitzt sich bis zum Ende der Episode weiter zu. Nachdem der Frühmesser von den Nachbarn erfährt, sie hätten „ein Natter [...] sehen inn [sein] Hauß kriechen“,123 gibt er den Verdacht gegen die Mäuse auf und beginnt damit, der vermeintlichen Schlange nachzusetzen. Dies ist als ironische Geste des Textes zu verstehen, hält mit der Schlange gewissermaßen doch der Teufel selbst Einzug ins Haus124 und kommt es somit – auf allegorischer Ebene – zu einer Verfolgung des (Schlangen-)Teufels durch den (Geiz-)Teufel. Ob bewusst oder nicht, bringt der junge Lazarillo diese Ironie zum Vorschein, indem er in Gegenwart des Frühmessers ausruft: „Gott wölle daß sie [die Schlange, S. Z.] mich nit beisse/ [...] / dann ich förchte sie wie den Teuffel.“ 125 Ironisch ist dieser Satz in zweierlei Hinsicht: Zum einen weiß Lazarillo, dass es gar keine Schlange gibt; seine Rede gilt daher eigentlich seinem Herren, den er „wie den Teuffel“ fürchtet. Zum anderen spiegelt Lazarillos Furcht vor der Schlange als Teufel das diabolische Potenzial, das ihm als parasitärer Figur selbst eingeschrieben ist.126 Entsprechend ambivalent blickt er als Erzähler auf die Situation zurück. In seinem Kommentar zur wütenden Schlangenjagd des Frühmessers identifiziert er sich selbst als ‚Natter auf zwei Beinen‘ – als ein Mischwesen also zwischen Mensch, Tier und Teufel, dessen eigentlicher ‚Platz in der Natur‘ (Augustinus) völlig unklar scheint: Jn summa/ er [der Frühmesser, S. Z.] hatte jme die Natter so stark eingebildet dz er nie kein nacht mehr recht schlieffe/ vnd dahero die Natter auff zweyen Beinen sich zu nachts nit mehr an die Truhen wagen dorffte/ aber vnder tags/ wann mein Herr in der Kirchen war/ oder in dem Dorff zuthun hatte / thate ich meine angriff [...].127
Mit der hier vollzogenen Verschiebung der Alterität der Figur aus dem Bereich der göttlichen Natur (Maus) in den Bereich einer monströsen, diabolischen Nicht-Identität zwischen Natur und Un-Natur (‚Natter auf zwei Beinen‘) erreicht
123 Zwo Historien, S. 79. 124 Laut der seit dem Mittelalter gängigen Deutung von Genesis 3,1–7 tritt der Teufel Adam und Eva im Paradies in Gestalt einer Schlange entgegen. Es folgt der Sündenfall. 125 Zwo Historien, S. 81. 126 Im Rahmen frühneuzeitlicher Emblematik fungiert die Schlange (auch) als Tier-Symbol für das Parasitäre. Sie dringt in Ordnungen des Eigenen ein und macht es sich in diesen bequem. So fragt ein Emblem aus den Emblemata des Sambucus: „Per rimam inseruit quando caput anguis hiantem, / Quid prohibet caudam quin etiam ille trahat?“ Hier zitiert nach Henkel, Schöne (Hg.): Emblemata, Sp. 630 f., wo auch die Übersetzung zu finden ist: „Was hindert die Schlange, sobald sie ihren Kopf mit dem klaffenden Schlund durch einen Spalt gesteckt hat, ihren Schwanz nachzuziehen?“ 127 Zwo Historien, S. 81 f.
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die Ausbuchstabierung der parasitären Syntax in den Dienst-Episoden ihren Höhepunkt. Was folgt, ist die Geschichte von der endgültigen Austreibung des Anderen aus dem Haus zu Maqueda. Wie kaum anders zu erwarten, endet die Episode in einem Gewaltakt. Eines Nachts fängt der Schlüssel, den Lazarillo vor den Blicken seines Herrn im Mund zu verbergen pflegt, durch die Atmung des Schlafenden zu pfeifen an. Im festen Glauben, „das pfaufen der Natter“ 128 zu hören, schleicht der Frühmesser herbei und versetzt dem im Stroh liegenden Diener „einen so vnbarmherzigen streich auff meinen Kopf [...] / das er mir ein grosses Loch darein schluge / vnd ich alle meine Sinn vnd Kräffte verlohre [...].“ 129 Durch den Schlag fällt der Schlüssel aus Lazarillos Mund, so dass der Frühmesser schließlich hinter die wahre Identität des Brotdiebs kommt.130 Auffällig ist, dass der Moment der Entdeckung nicht nur das Ende der Episodenreihe, sondern auch den Einsatzpunkt eines metareflexiven Diskurses markiert, in dem es um den Umgang der Beteiligten mit der Erzählung von Lazarillos Taten geht.131 Während Lazarillos dreitägiger Ohnmacht – eine zweite Anspielung auf die Passion Christi, die den Bogen von der Unterweisungsszene in Salamanca her schließt 132 – erzählt der betrogene Hausherr „allen denen/ so in das Dorff kommen/ vnd darauß gangen/ zum öffternmaln“, was sein Diener getan hat.133 In den Reaktionen des Publikums spiegelt sich die moralische Ambivalenz, die dem Parasitären als Paradigma der Episodenreihe eignet: Es wird gelacht, wo der Betroffene, der eben erst aus der Ohnmacht erwachte Lazarillo,
128 Ebd., S. 84 f. 129 Ebd. 130 Die es als solche freilich aber nicht geben kann. So bleibt die Überblendung von Mensch, Tier und Teufel präsent, wenn der Frühmesser vor seinen Nachbarn prahlt, er habe „die Mauß vnd die Natter/ so jme so starck zugesetzt/ vnd seinige gefressen/ einsmals mit einander erdappt/ vnd sich an jhnen gerochen [...].“ Ebd., S. 86. 131 Auch hier besteht eine enge Korrespondenz zwischen den Dienstepisoden. Dass sich von den Taten des ingeniösen Anderen gut und publikumswirksam erzählen lässt, stellt nämlich bereits der Blinde fest: „Der verzweiffelte blinde stuckbößwicht / erzehlte jedermeniglich / so darzu kame / die bossen […] / darvon erhub sich ein solches gelächter / daß alle die / so fürüber passierten / es hörten / vnnd hinein gehen musten / disem Fest zuzusehen. Ja der Blinde erzehlte meine händel so artlich / vnnd mit einer so schönen gratia, das ich mich gleich selbst gedunckt hat / ich habe groß unrecht / ob ich wol wegen deß schmertzens der empfangenen guten straich vnd stöß / mein Ellend beweinte / vnnd den andern nit kundte lachen helffen […].“ Ebd., S. 41 f. 132 Auf diese Schließung der Episodenreihung geht Waltenberger: Pikarische Intensitäten, aufgrund seiner Konzentration auf den ersten tratado leider nicht ein, weshalb einige seiner Beobachtungen zur Struktur der List- und Gegenlist-Episoden zu Beginn des Romans wohl zu ergänzen wären. M. E. ergibt sich ein relativ deutlicher syntagmatischer Bogen, der durch die Paradigmen ‚Geiz‘ und ‚Parasitentum‘ thematisch weitgehend integriert ist. 133 Ebd., S. 87.
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weinen muss: „Folgends erzehlten sie [die Nachbarn, S. Z.] mit vilem gelächter meine händel widerumb auff das newe/ derentwegen ich zu weinen gezwungen worden [...].“ 134 Nicht erst der Gegensatz von Lachen und Weinen, sondern schon das Lachen selbst ist hier als Ausdruck einer sich auf die Affekte auswirkenden Unentschiedenheit der Beobachter zu werten. In ihm drückt sich einerseits eine Form der Anerkennung des pikarischen Ingeniums aus, dessen Produkte – die Einfälle des hungernden Dieners – gerade deshalb so unterhaltsam sind, weil sie die unbarmherzige Ordnung des Eigenen im Priesterhaushalt subvertieren. Kritik am Handeln des Frühmessers wird dabei in der erzählten Welt allerdings nur implizit geübt. Als die Nachbarn feststellen, dass Lazarillo „sollicher massen außgehungert war/ dz [er sich] schwerlich recht erholen kundte“, geben sie ihm zwar „allgemach zuessen/ so gut als sie es vermochten“; auch pflegen sie ihn und verarzten seine Wunden, bis er wieder gehen kann.135 Zu einer offenen Anklage gegen den Geistlichen kommt es aber nicht. Dies darf als Indiz gewertet werden, dass es ein eindeutiges moralisches Urteil in diesem Fall (auch) in der Diegese nicht gibt. Dem Lachen bleibt an dieser Stelle andererseits daher auch ein Moment des Verlachens des Anderen eingeschrieben, das ein stillschweigendes Einverständnis mit dessen Bestrafung impliziert. Dies äußert sich nicht nur darin, dass das Weinen Lazarillos und sein schlechter körperlicher Zustand niemanden – auch die Mitleidigen nicht – vom Lachen abzuhalten scheint.136 Auch deutet die offensichtliche Analogiebeziehung zwischen parasitärer Missetat und Strafe auf eine, wie auch immer prekäre, Form der Gerechtigkeit im Episodenausgang hin. Die Löcher, die Lazarillo in die Truhe seines Herrn bohrt, um ihm die Anwesenheit mitessender Tiere vorzugaukeln und klammheimlich Brot zu stehlen, finden sich am Ende in seinem Kopf wieder.137 Die Strafe für die Übertretung der Grenze zur Ordnung des Eigenen gilt somit exakt dem Körperteil, der die einzige Waffe des Dieners im Kampf ums Überleben birgt: Der betrogene Hausherr rächt sich mit seinem Schlag am Ingenium des Picaro.
2.2.3 Ruinöse Ökonomie: Lazarillo und der verarmte Junker Die dritte Dienstepisode Lazarillos unterscheidet sich von den beiden ersten in mehrfacher Hinsicht. Auffällig ist zunächst, dass Lazarillo als Handlungsträger 134 Ebd., S. 88. 135 Ebd. 136 Im Gegenteil, die lächerlichen Streiche werden, wie zitiert, trotz Weinen und Versehrtheit Lazarillos immer „widerumb auff das newe“ erzählt. 137 Der Frühmesser weist auf diese Analogie in einer Spottrede selbst hin. Als Lazarillo nach seiner Ohnmacht nicht weiß, wie das Loch in seinen Kopf gekommen ist, sagt der Geistliche,
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deutlich zurücktritt; im Vordergrund des narrativen Interesses steht die Figur seines dritten Herrn, eines verarmten Junkers, den es vom Land in die Stadt Toledo gezogen hat, wo er täglichem Hunger und sozialen Demütigungen ausgesetzt ist. Dass mit dieser erzähltechnischen Umorientierung – der Picaro wird nun (vorübergehend) zur beobachtenden Nebenfigur – neue ökonomische, soziale und auch moralische Aspekte der Erzählung in den Fokus rücken, kann nicht verwundern. Wenn Lazarillo auch in dieser Episode weiterhin hungern muss, liegt dies nicht am Geiz seines Herrn. Vielmehr wird im Verlauf der Erzählung deutlich, dass dieser nichts teilen kann, weil er nichts hat. Auf komische Weise entlarvt der Text die Besitzlosigkeit des Adligen dabei im Modus der Differenz von Schein und Sein. Als Lazarillo nach Toledo kommt, begegnet ihm der Junker auf den ersten Blick als ein „Edelman“, der „zimblich wol gekleidet / vnnd sauber geputzt ware / das Haar auffgebiffet hatte / vnd mit einem gravitetischen Gang“ den Eindruck vollendeter adliger Grazie erweckt.138 Glaubt Lazarillo daher zunächst noch, endlich einen Herren gefunden zu haben, „wie [er] einsen höchst bedörfftig“ 139 sei, so steht am Ende seiner Annäherung an die Figur die Einsicht in dessen totale Armut: [I]ch aber / damit ich doch eigentlich wisse / ob er etwas habe oder nit / durchsuchte vnder diß sein Wammes vnnd Hosen / darinnen fande ich ein altes abgeschabnes / zusammen gerumpfftes Beutlein / in welchem nit ein einiger Haller / auch kein zeichen war / daß in langer zeit Gelt darein kommen sey / da ich dises sahe / sagt ich / in der warheit diser Mensch ist recht arm / vnnd hat selbst nichts / darumb kann er auch mir nichts geben […].140
Die Entdeckung verändert die moralische Basis, von der aus Lazarillo – als Erzähler wie als erzählte Figur – auf Hunger und Armut blickt. Explizit stellt er einen Vergleich zwischen dem Junker und seinen ersten beiden Herren her. Sie, „denen Gott sovil guts verlihen“ und die ihn „dannoch schier hungers getödtet“ hätten, sind aus seiner Sicht „wol billich zu hassen/ vnd anzufeinden“.141 Gegenüber dem Junker empfindet er dagegen Mitgefühl, wenngleich er in dessen Reputiersucht ein ernsthaftes ökonomisches Problem erkennt. Es sei „recht vnnd wolgethan“, erklärt er dem Leser mit diesem armen Tropffen / seines widerwertigen Glücks halber / ein mittleyden zu tragen […]. […] Es mißfellt mir anderst nichts an jhme/ als/ daß er gar zu vil von sich selber
„das seyn die Mäuß vnd Nattern [gewesen]/ welche [ihn] verderben wöllen […].“ Zwo Historien, S. 87. 138 Ebd., S. 91. 139 Ebd., S. 92. 140 Ebd., S. 126 f. 141 Ebd., S. 127.
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haltet/ dann mich will geduncken/ er solte wegen seiner grossen Dürfftigkeit vnnd Noth/ von dem Stoltz vnd Vbermut etwas nachlassen/ aber so vil ich warneme/ halten diese Leut gar starck auff disem gebrauch vnd regel/ vnd ob sie wol nit einen Kreutzer zu wächßlen haben/ so müssen sie sich doch toll stellen/ vnd von jrer reputation nichts nachlassen.142
Lazarillos Sicht auf seinen Herrn erscheint damit in charakteristischer Weise gespalten. Auf der einen Seite verkörpert er, der Picaro, in der Episode die Stimme der ökonomischen Vernunft; aus seiner Perspektive erscheint das Handeln des Adligen unvereinbar mit den in der Welt – oder doch wenigstens in der Stadt Toledo – geltenden Regeln von Besitz und Armut. Auf der anderen Seite zeigt er sich über die gesamte Episode hinweg bereit, den Junker bedingungslos zu unterstützen. So ist es der Diener, der den ‚ehrgeizigen‘ Adligen mit seiner Bettelei über Wasser hält 143 und dafür sogar eigenen Hunger in Kauf nimmt: „Vnnd vilmals litte ich hunger / damit ich jhme etwas bringen / vnnd er leben kundte.“ 144 Als „poignant inversion“ pikarischer Identität, wie die Forschung gelegentlich meinte, sollte dieses Engagement allerdings nicht bezeichnet werden.145 Vielmehr deutet es auf eine wegweisende Ergänzung der pikarischen Alteritätskonstruktion im Text hin: An der Seite seines dritten Herrn erhält Lazarillo tätigen Einblick in die Kunst der Aufrechterhaltung einer ehrenhaften persona, die durch keine ökonomischen Realien gedeckt ist, gleichwohl jedoch soziale Distinktionsgewinne verspricht (Lazarillo glaubt zunächst ja selbst an die grandezza seines Herrn). Dies schließt die Einübung in eine Rhetorik der Verschleierung mit ein. Es fällt auf, dass Lazarillo zur Begründung seines Mitleids mit dem Junker auf die Fortuna adversa, dessen „widerwertige[s] Glück[ ]“, rekurriert. Erscheint diese Begründung mit Blick auf die unökonomischen Verhaltensweisen des Junkers wenig überzeugend, so ist es doch genau dieser Widerspruch, aus dem das Erzählen in der Episode seine Dynamik bezieht. Der Adlige dient Lazarillo zum Vorbild, insofern er ein taktisches Wissen von der Macht des Scheins verkörpert, mit dessen Hilfe sich Diskrepanzen zwischen Repräsentation und Wirklichkeit (temporär) verdecken lassen. Zugleich jedoch fungiert er als sein Gegenbild, lässt Lazarillo in seinem Kommentar doch keinen Zweifel daran, dass man mit einem Verhalten wie dem des Junkers im FortunaSpiel des Lebens nicht bestehen kann. Hierzu braucht es noch ein anderes Wis-
142 Ebd., S. 127 f. 143 Vgl. ebd., S. 99–101, 115–128. 144 Ebd., S. 126. 145 So bezüglich der spanischen 1554er Ausgaben Stanley J. Novak: The Squire as an Incarnation of Pride in ‚Lazarillo de Tormes‘. In: Modern Language Studies 22 (1992), S. 17–33, hier S. 26.
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sen, das in der Episode eben der erzählende Picaro verkörpert: das Wissen, wie man ein „altes abgeschabnes / zusammen gerumpfftes Beutlein“ wieder mit Geld füllt. Lazarillos zwischen Identifikation und Abgrenzung oszillierende Beobachtung des Junkers arbeitet sich an einem Problem ab, das in der frühneuzeitlichen Diskussion über den Adel eine zentrale Rolle spielt. Die Rede ist von dem in der Zeit bereits nicht mehr selbstverständlichen Zusammenhang von Adel und Besitz. Blickt man auf die diesbezügliche Debatte, so dominieren in ihr insgesamt zwar die Stimmen, die die Unabhängigkeit der nobilitas von der Größe oder Geringfügigkeit des adligen Vermögens behaupten; Jean Bodin fragt, ob es „etwas Widersinnigeres und Gefährlicheres“ gebe, „als Würde am Besitz, Stand am Geld und Adel am Reichtum messen zu wollen“;146 und Cyriacus Spangenberg postuliert, „Armuth“ könne „an vnd für sich selbst den Adel nicht [nehmen] noch auffheb[en]“.147 Wie Stollberg-Rilinger festgestellt hat, wird es in der Zeit aber auch in der Adels-Literatur immer üblicher, Distinktionsmechanismen zu hinterfragen, die auf der Leugnung der „sozialen Zeichenwirkung des Reichtums“ basieren.148 Die unmäßige, alle ökonomischen Regeln ignorierende ambitio der spanischen hidalgos und escuderos dient in der Literatur dabei europaweit als warnendes Beispiel.149 Wie virulent der Diskurs auch im
146 Jean Bodin: Sechs Bücher über den Staat. Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Bernd Wimmer. Eingeleitet und hg. von Peter Cornelius Mayer-Tasch. 2 Bde. München 1981, Bd. 1, S. 559. 147 Cyriacus Spangenberg: Adels Spiegel. Historischer Ausführlicher Bericht: Was der Adel sey und heiße / Woher er komme / Wie mancherley er sey / Vnd was denselben ziere und erhalte / auch hingegen verstelle und schwäche […]. Schmalkalden: Michel Schmück 1591, S. 140. 148 Barbara Stollberg-Rilinger: Gut vor Ehre oder Ehre vor Gut? Zur sozialen Distinktion zwischen Adels- und Kaufmannsstand in der Ständeliteratur der Frühen Neuzeit. In: Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. Hg. von Johannes Burkhardt. Unter Mitarbeit von Thomas Nieding und Christine Werkstetter. Berlin 1996 (Colloquia Augustana 3), S. 31–45, hier S. 41. 149 Die sich in dieser Weise ausbreitende Kritik am Habitus des ‚niederen‘ spanischen Adligen ist, sozialgeschichtlich betrachtet, als Krisensymptom aufzufassen. Die im 16. und 17. Jahrhundert fortgesetzt betriebene Vergabe von Adelstiteln in Spanien (und auch anderswo in Europa) trug zu einer Verknappung der feudalen Versorgungsgrundlagen bei, unter der nicht nur der neue, sondern zunehmend auch der alte Adel zu leiden hatte. In Spanien wurde die Krise durch den Umstand verschärft, dass allen Adligen – auch den oft keineswegs vermögenden hidalgos und escuderos – einerseits kostspielige Repräsentationspraktiken vorgeschrieben waren, andererseits der Weg zur Partizipation am Geschäftsleben versperrt wurde. Um ihre Ehre (honra) und damit ihren adligen Status zu halten, hatten die Adligen auf jede negotiale Praxis, d. h. auf Arbeit und Handel, jenseits der traditionellen negotiatio oeconomica, dem
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deutschsprachigen Raum ist, belegt nicht zuletzt die Vorrede zur Historia, in der der Junker als Träger negativer Exemplarität eigens hervorgehoben wird: Vnder anderem ist beym Lazarillo ein artlich Exempel zufinden / von der ambition etlicher armseliger Leut / die jnen jhr Adenlich vermaint Herkommen / dermassen starck einbilden / daß jhnen gleichsamb niemand gut genug / vnnd ehe sie sich einem anderen / ders besser vermag / auch in bessern würden de præsenti ist / vnderwürffen / oder etwas nachgeben / ehe leyden sie die eusseriste armut / hunger vnd ellend / welche vntugent / weil sie Spanien etwas mehr als in anderen Landen regiert / als hats der Author deß Lazarillo mit solchem Exempel / welches er von seinem Toletanischen Edelman einführt / glimpflich taxiern vnnd straffen wöllen […].150
Das Geschehen, auf das sich der Verfasser der Vorrede bezieht, gehört zu den Kernpassagen der Episode. Erzählt wird sie vom Junker selbst. Wie Lazarillo erfährt, hatte dieser in Kastilien einst einen Nachbarn, der sich weigerte, vor ihm, dem Junker, als erster den Hut zu ziehen. Warum der Nachbar, seines Zeichens selbst „Cavalier“,151 dies hätte tun sollen, kann der Beleidigte nicht sinnvoll begründen. Wenn er einerseits gegenüber Lazarillo zugibt, der Nachbar sei nicht weniger adlig, aber „darzu reicher“ als er gewesen,152 andererseits mit dem unwirksamen, weil umkehrbaren Argument aufwartet, es hätte diesem doch „an seinem Adel vnnd Reichthumb nichts geschadet / wann er schon ein mal zum ersten an den Huet gegriffen“,153 wird die Unhaltbarkeit seiner Position deutlich. Dies scheint die absurde Sensibilität des Junkers freilich noch zu verstärken. Fest davon überzeugt, „Gott im Himmel / vnd seinem König / sonst aber keinem menschen auff der Welt“ 154 die Reverenz schuldig zu sein, sucht er vor dem Konkurrenten das Weite und zieht aus Kastilien, seiner Heimat, in die Stadt Toledo.155 Die Verschiebung der sozialen Distinktionsfaktoren von der adligen Genealogie zum „Reichthumb“ wird nicht nur in der Rede des Junkers deutlich. Sie
Haushalten, zu verzichten. Zum spanischen Adel in der Frühen Neuzeit vgl. John Lynch: Spain under the Habsburgs. Bd. II: Spain and America 1598–1700. Oxford 1964, S. 130–137. 150 Zwo Historien, fol. VIIIv. Zur besonderen Rolle des spanischen Adels und Hofes im Prozess der Aushandlung adliger bzw. höfischer Identität in Deutschland vgl. Thomas Weller: Andere Länder, andere Riten? Die Wahrnehmung Spaniens und des spanischen Hofzeremoniells in frühneuzeitlichen Selbstzeugnissen aus dem deutschsprachigen Raum. In: Räume des Selbst. Selbstzeugnisforschung transkulturell. Hg. von Andreas Bähr u. a.. Köln u. a. 2007 (Selbstzeugnisse der Neuzeit 19), S. 41–56. 151 Zwo Historien, S. 140. 152 Ebd. 153 Ebd., S. 141. 154 Ebd., S. 144. 155 Ebd., S. 140.
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prägt in einigermaßen offener Form auch die Deutung des Verfassers der deutschen Vorrede. Dessen Kritik am Junker setzt zwar am beliebten satirischen Topos der Neuadligkeit, dem „Adenlich vermaint Herkommen“ der Figur, an.156 Das im Anschluss entfaltete moralische Argument zielt dann aber weniger auf einen etwaigen genealogischen Statusunterschied zwischen den Figuren. Vielmehr dominiert beim Prologisten ein ökonomischer Blick. So bleibt in seiner Deutung am Ende durchaus unklar, ob die „vntugent“, der sich der Junker schuldig macht, in der maßlosen „ambition“ als solcher besteht oder darin, dass ihm zur Durchsetzung derselben die Mittel fehlen. Schon die Betonung der Armut des Junkers zu Beginn („etlicher armseliger Leut“) wirft diese Frage auf (Wäre sein Ehrgeiz durch Reichtum gerechtfertigt?). Verunsichert wird die moralische Bewertungsgrundlage erst recht aber durch die vom Verfasser der Vorrede vertretene Sichtweise auf den Komplimentierstreit. In seiner Kritik am Hochmut des Junkers fehlt auffälligerweise nicht nur jeder Hinweis auf das Gebot christlicher Demut (humilitas). Auch rückt das zuvor entfaltete genealogische Argument nun deutlich in den Hintergrund und macht einer Hierarchisierung der Kontrahenten Platz, in der derjenige, „ders besser vermag / auch in bessern würden de præsenti ist“, den Vorrang vor dem Ärmeren beanspruchen darf. Mit der Formulierung „de præsenti“ weist der Prologist dabei auf die Volatilität der von ihm affirmierten gesellschaftlichen Ordnung selbst hin. Wie das Vermögen des Menschen je nach Glück zu- oder abnehmen kann, so nehmen auch seine „würden“ zu oder ab. Der Mensch, der wie der Junker in „eusseriste armut / hunger vnd ellend“ gefallen ist, hat sein Recht, am adligen Distinktionswettbewerb teilzunehmen, entsprechend verwirkt: Er muss vor dem Reiche(re)n den Hut ziehen. Wie Peter N. Dunn in seiner Analyse des spanischen Lazarillo betont hat, lässt sich die Flucht der escudero-Figur aus dem ländlichen Alt-Kastilien in die Handelsmetropole Toledo als ironische Geste des Textes in Richtung einer traditionellen feudalen Wirtschaftsordnung verstehen.157 Dass diese ihre Kinder nicht mehr ernährt (oder jedenfalls nicht mehr alle von ihnen), muss auch der Junker der Historia erfahren. So wird im Laufe seines Gesprächs mit Lazarillo deutlich, dass es sich beim verlorenen Komplimentier-Duell doch eher um einen
156 Diese Deutung ist durch den Text übrigens nicht gedeckt. Die Tatsache, dass der Junker aus Altkastilien stammt und dort eigenes Land, eine Hofstatt und einen umgestürzten Taubenschlag besitzt, spricht eher dafür, dass es sich um einen Vertreter alten Adels handelt, dessen Armut „the old nobility’s growing irrelevance in an increasingly capital-driven economy“ vor Augen führt. Shifra Armon: Masculine Virtue in Early Modern Spain. London, New York 2016, S. 56. 157 Dunn: Spanish Picaresque Fiction, S. 132 f.
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vorgeschobenen Fluchtgrund handelt. Des Bleibens in der alten Heimat ist für den Junker vor allem auch deshalb nicht mehr, weil seine oeconomia im Zustand fortgeschrittenen Verfalls begriffen ist. So sehr er dies vor Lazarillo auch zu verschleiern sucht, die Signale des Ruins übertönen die prahlerische Tendenz seiner Rede: So bin ich auch / sprach er ferner / noch nicht so arm / daß ich in meiner Heimat / nicht eine gute Hoffstatt habe / darauff man ein Hauß bawen kündte / welches / wann es sechszehen meyl von dem Ort / da ich geboren worden / vnd zu Valladolid läge / wol zweyhundert tausent Maravedis gelten wurde / zumal wann man es schön / groß / vnd stattlich auffbawete / Zu dem / habe ich einen Taubenkobl / von wellichem ich / wann er nicht vmbgefallen were / vnd noch auffrecht stünde / järlich zweyhundert junge Tauben haben vnd geniessen köndte […].158
Der Versuch des Junkers, in seiner Rede eine virtuelle Anders-Wirklichkeit zu schaffen, in der auf der öden Hofstatt plötzlich ein „schön[es] / groß[es] / vnd stattlich[es]“ Haus steht, ja die gesamte Ökonomie sich um „sechszehen meyl“ in Richtung Valladolid verschiebt und dadurch auf „zweyhundert tausent Maravedis“ im Wert steigt, mag strukturell an das Spiel mit virtuellen Geldsummen erinnern, das Gines de Pasamonte in Cervantesʼ Don Quijote spielt.159 Eine vergleichbare persuasive Wirkung entfaltet er allerdings nicht. Das hat damit zu tun, dass die Diskrepanz zwischen der virtuellen Ökonomie und dem kläglichen Realzustand der Hofstatt zu groß ist, um mittels normaler Vorstellungskraft noch überwunden werden zu können. Nichts in der Schilderung deutet darauf hin, dass die altkastilische Hauswirtschaft noch einmal florieren könnte. Im Gegenteil: Durch seinen Hinweis auf den umgestürzten „Taubenkobl“ liefert der Hausherr selbst ein sinnfälliges Symbol seines Ruins. Tauben zu halten, gehört in Mittelalter und Früher Neuzeit zu den Privilegien des Adels.160 Dahinter steckt die Vorstellung, dass die Taube dem Feudalherrn darin gleicht, dass beide sich als freie, niemandem unterworfene Wesen von den Feldern der zur Feudalabgabe verpflichteten Bauern ihre Nahrung nehmen.161 Wo in einem adligen An-
158 Zwo Historien, S. 145. 159 Vgl. dazu die einleitenden Beobachtungen dieser Arbeit. 160 Darauf weist in der romanistischen Lazarillo-Forschung bereits hin: Joseph E. Gillet: The Squire’s Dovecote (‚Lazarillo de Tormes‘, Tratado III). In: Hispanic Studies in Honour of I. González Llubera. Hg. von Frank Pierce. Oxford 1959, S. 135–138, hier S. 136. 161 In diesem Sinne bemerkt etwa Petrus de Crescentiis bzw. dessen deutscher Übersetzer, dass die Tauben „viel kosten zuhalten / vnd den Veldern grossen schaden thun.“ Petrus de Crescentiis: New Feldt vnd Ackerbaw / Darinnen Ordentlich begriffen Wie man auß rechtem grund der Natur / auch langwiriger erfahrung / so beydes alhier in xv. Bücher beschrieben ist / jedes Landgut […] / bey rechter zeit auffs beste bestellen […] soll. […] Straßburg: Zetzner 1602, S. 232.
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wesen keine Tauben mehr fliegen, kann daher gemäß frühneuzeitlichem oeconomia-Wissen auf den Zusammenbruch der gesamten feudalen Hauswirtschaft geschlossen werden. Wie seine Tauben ist der Junker aus seiner Hofstatt ausgeflogen, um seine Nahrung anderswo zu suchen. Eine pikante Note erhält die ungewollte Selbstentlarvung des Junkers durch die sexuelle Konnotation seiner Schilderung. Seit Varros De re rustica gehört es zum tradierten ökonomischen Wissen über die Tauben, dass diese sich, unter guten Bedingungen, wie kein anderes Tier vermehren: „Nichts Fruchtbareres als die Tauben gibt es. So währt es denn auch nur vierzig Tage, dass sie aufnimmt und legt und brütet und aufzieht. Und dies tun sie nahezu das ganze Jahr über.“ 162 Auch der Junker spielt auf ihre besondere Fruchtbarkeit an, wenn er Lazarillo einen Zuwachs der Population um „järlich zweyhundert junge Tauben“ vorrechnet. Umso verräterischer erscheint das Bild vom Ist-Zustand des Taubenkobels. Die Tatsache, dass dieser umgestürzt ist und ihm schon lange keine Jungen mehr entfliegen, macht komisch-hintersinnig auf die erschlaffte Potenz des Junkers aufmerksam, der auf Fortzeugung in adlig-genealogischer Linie nicht mehr ernsthaft hoffen kann. Mit dieser Engführung von ökonomischer und sexueller Reproduktion liefert der Text einen ausgemacht ironischen Kommentar zur Frage nach dem Verhältnis von Adel und Besitz. Es mag einem Theoretiker wie Bodin „widersinnig“ erscheinen, „Adel am Reichtum messen zu wollen“,163 verstößt diese Wertehierarchie doch gegen die auf Genealogie basierende Differenzierungslogik der Ständegesellschaft. Das Beispiel des Junkers zeigt jedoch, dass die nobelste Abstammung nichts nützt, wenn die Mittel zur Aufrechterhaltung der adligen familia fehlen. Symbolisch buchstabiert der Text diese Einsicht am Körper des verarmten Edelmanns aus. Als ironische Winke an den Leser dienen in diesem Zusammenhang Lazarillos Anspielungen auf das „zusammen gerumpffte[ ] Beutlein“ 164 seines Herrn. Einem, dem schon ange-
162 Marcus Terentius Varro: Über die Landwirtschaft. Hg., eingeleitet und übersetzt von Dieter Flach. Darmstadt 2006 (Texte zur Forschung 87), S. 303 (Buch III, 7, 9). Dass der pikarische Text an dieser Stelle intertextuell auf Varros De re rustica aufbaut, erscheint aus einem weiteren Grund plausibel. Neben den Aspekten der Freiheit und Fruchtbarkeit der Tauben findet sich bei Varro ein klarer (wenngleich ironisch gebrochener) Hinweis auf die monetäre Attraktivität der Taubenzucht – und dies in einem Zusammenhang, in dem die im Lazarillo vom Junker verkörperte Opposition von Land und Stadt eine zentrale Rolle spielt. So rät der erfahrene Pica dem an der Taubenzucht interessierten Axius: „Du solltest, meine ich, den ganzen Bestand [Tauben, S. Z.] irgendeines von ihnen [der Taubenzüchter, S. Z.] erwerben und, ehe du auf dem Lande ein großes Vogelhaus baust, hier in der Hauptstadt von Grund auf lernen, täglich Gewinn von einem oder einem halben As im Geldschränkchen zu verwahren.“ Ebd., S. 304. 163 Bodin: Sechs Bücher, Bd. 1, S. 559. 164 Wie oben schon zitiert: Zwo Historien, S. 126.
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sichts der bescheidenen Preisvorstellungen von zwei Toledaner Prostituierten „kalt in dem Beutel“ wird,165 traut man die Rückerlangung adlig-ökonomischer potestas im Sinne der vom Junker selbst prahlerisch entworfenen altkastilischen Hofhaltung kaum zu. Mit seiner Übersiedlung vom Land in die Stadt verschärft sich die ökonomische Dislokation des Junkers dabei nur noch mehr. Der Grund hierfür liegt im unvereinbaren Gegensatz zwischen der vom Alt-Adligen verkörperten Kultur eines feudalen otium, das totale Abstinenz von Arbeit und Geschäften voraussetzt, und der chrematistisch orientierten, auf Handel und Wandel basierenden Wirtschaftskultur der Handelsstadt Toledo. Es ist in diesem Sinne kein Zufall, wenn Lazarillos erster Weg an der Seite seines neuen Herrn – er führt ausgerechnet „vber die Plätz“ Toledos – von den Schlägen der Turmuhr als „mechanical symbol of the trading community“ begleitet wird.166 Auf diese Weise raumzeitlich klar definiert, erweist sich der Stadtraum, den die Figuren durchkreuzen, als eine Ordnung des Eigenen, an der weder der Bettler Lazarillo noch der verarmte Adlige partizipieren. Ihre Handlungsweisen unterscheiden sich dabei radikal: Während Lazarillo angesichts der bedrängten Lage sogleich zu handeln beginnt – er erbettelt tagtäglich das Nötigste für sich und den Junker –, bleibt sein Herr der Meinung, nach wie vor am Ort des Eigenen zu operieren. Ob jemand „vil vermöglicher“ sei als der andere, zähle nicht, erklärt er Lazarillo.167 Die einzig gültige Währung auf Erden sei die Ehre, die der Edelmann als sein Vermögen akkumulieren müsse: Du bist ein einfeltiger Jung / sprach er / du verstehest nicht / in wem die Ehr vnnd Reputation bestehet / welche dann zu disen vnsern zeiten / ein Ehrliebenden Mann / für sein gantzes Capital vnnd Hauptvermögen halten solle […].168
Die Bezeichnung der Ehre als „gantzes Capital vnnd Hauptvermögen“ birgt im bezeichneten Kontext eine zweifache Pointe. Nicht nur wirkt sie angesichts der ökonomischen Handlungsunfähigkeit der Figur absurd – von einer strategischen Operationsbasis im Sinne Certeaus kann im Fall des Junkers wahrlich nicht die Rede sein. Auch hält sie die Logik der Geldwirtschaft und damit des negotium ausgerechnet dort präsent, wo sie nach Meinung des Junkers keine
165 Ebd., S. 113 f. 166 Dunn: Spanish Picaresque Fiction, S. 133. In der Historia fallen die Nennungen genauer Uhrzeiten („vmb eylff Vhren“, „schlueg es ein vhr nachmittag“, „daß es schon zwey Vhr nachmittag war“) eingangs der Episode ebenso auf wie in den Vorlagen. Zwo Historien, S. 92, 93 und 95. 167 Ebd., S. 141. 168 Ebd.
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Rolle spielen sollte.169 In der an sich abwegigen Vorstellung, Ehre wie Geld akkumulieren und thesaurieren zu können,170 wird der in der deutschen Übersetzung präsente Begriff der „Ehrgeitzigkeit“ 171 dabei auf komische Weise metaphorisch beim Wort genommen. Es ergibt sich eine paradigmatische Bezugsebene zwischen den Dienstepisoden: Obwohl er nichts hat, gehört der Junker zu den Verwandten der Geizigen, zielt seine Akkumulationspraxis doch auf den Ausschluss des (nicht-adligen) Anderen aus der Ordnung eines Eigenen, dessen phantasmatisch-wahnhaften Charakter der Text immer aufs Neue offenlegt. Dies geschieht in maximaler satirischer Zuspitzung schließlich auch anhand des Hauses, das der Junker in Toledo bewohnt. Als Lazarillo es erstmals betritt, stellt er mit einiger Verwunderung fest, dass der Junker keine Möbel besitzt, „weder Sessel/ Bänck/ Tisch oder Truhen [...]/ der gestalt/ daß es anderst nit gewest/ dann wie ein vnbewohntes Hauß.“ 172 Um die ökonomische Misere, die für den Leser somit offensichtlich ist, gegenüber seinem Diener nicht eingestehen zu müssen, erfindet der Junker immer neue Ausreden. Am ersten Abend erklärt er, er sei „jetzund mit Speyß vnd anderer Haußnotturfft nit versehen“, weil ihm der Diener gefehlt habe; „Jetzunder aber bin ich willens/ selbsten ein newe rechtschaffene Haußhaltung anzurichten.“ 173 Daraus wird erwartungsgemäß nichts. Lazarillo sieht sich schon am nächsten Tag gezwungen, wieder betteln zu gehen – eine Gefahr für den Leumund seines Herrn, die dieser in einem Gespräch dadurch abzuwenden sucht, dass er Lazarillo darauf einschwört, beim Betteln niemandem zu sagen, wer sein Herr sei. Die Selbstdemütigung, die dieser Aufruf impliziert, überspielt der Junker, indem er die gesamte Schuld für seine Lage höheren Mächten zuschiebt: 169 An dieser Stelle birgt die Übersetzungsgeschichte seit 1554 etymologische Doppeldeutigkeiten. Der escudero der 1554er Ausgaben nennt die Ehre „todo el caudal de hombre de bien“ (Lazarillo/Klein Lazarus, S. 116) und arbeitet mithin mit einer hintersinnigen Überblendung sexueller (‚caudal‘ als ‚Schwanz‘), natürlicher (‚caudal‘ als ‚Wassermenge eines Flusses‘) und chrematistischer (‚caudal‘ als ‚Reichtum/Vermögen‘) Semantik. In der Antwerpener Übersetzung dann ist mit dem Wort „héritage“ ein stärkeres Gewicht auf den genealogischen Aspekt gelegt (Histoire plaisante, S. 102). In der Historia schließlich taucht die Wortkombination „Capital vnnd Hauptvermögen“ auf, die in erster Linie den kaufmännisch-buchhalterischen Bedeutungsaspekt des spanischen Wortes überträgt. 170 Wo die Soziologie mit Bourdieu von Formen symbolischen Kapitals spricht, zeigt sie sich von einem modernen Denkstil geprägt, der für die Frühe Neuzeit selbstverständlich nicht vorausgesetzt werden kann. Einen guten Überblick über die Funktionen von Ehre in der Frühen Neuzeit, in dem kritisch-differenziert auch der Bourdieu’sche Ansatz berücksichtigt wird, liefert der Sammelband von Sibylle Backmann u. a. (Hg.): Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Berlin 1998 (Colloquia Augustana 8). 171 Zwo Historien, S. 111. 172 Ebd., S. 96. 173 Ebd., S. 104 f.
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[D]u sollest aber wissen/ daß ich nie keinen guten tag gehabt / seiter mich S. Valtin [d. i. der Teufel, S. Z.] in dises Hauß geführt / es muß wol inn einem vnglücklichen Planeten gebawt worden seyn / jnmassen dann solliche vnglückliche Häuser zu finden / die ihren Jnwohnern alles Vnglück vnd Widerwertigkeit anhencken/ auß deren zahl dises gewiß auch eines ist. Derowegen so baldt der Monat deß bestands ein end hat/ ich nit mehr darinn bleiben will/ wann man mir es auch vmbsonst liesse.174
Die Verschleierung des nach durchaus irdischen Gesetzen entstandenen ökonomischen Ruins als Effekt ungünstiger astrologischer Konstellationen entspricht jenem argumentativen Muster, das Lazarillo bei der Beurteilung seines Herrn selbst in Anschlag bringt. Je deutlicher seine Erzählung jedoch dessen eigentliche „Kranckheit“ 175 sichtbar werden lässt, desto klarer wird, dass es sich bei der Aufforderung „mit diesem armen Tropffen / seines widerwertigen Glücks halber / ein mittleyden zu tragen“,176 nur um eine ironische Geste des perspektivisch längst distanzierten Erzählers handeln kann.177 Gerade die Berufung auf die Fortuna adversa greift im erzählten Kontext nicht, ja erweist sich als rhetorisch kontraproduktiv, sind die um 1600 geltenden Regeln für das Fortunaspiel bei aller Undurchschaubarkeit doch in diesem Punkt unmissverständlich: Um Glück haben zu können, muss der Mensch seine Tüchtigkeit in Geschäften und anderen (ökonomischen) Handlungen unter Beweis stellen; mit Peutinger: „non solum in negociationibus, sed eciam quasi in omnibus caeteris accionibus unus locupletari, alter ad inopiam redigi videtur, uni fortuna favet, alteri invidet“.178 Das heißt freilich, dass der Junker in seiner passiven, das negotium perhorreszierenden Haltung keinerlei Aussicht hat, vom Glück begünstigt zu werden. Im Gegenteil: Innerhalb des metaphysischen Rahmens, den er zu seiner Entlastung spannt, erscheint sein Unglück geradezu verdient, fehlt es ihm doch offensichtlich an jener virtus, ohne die es im Kampf mit der Fortuna nicht geht. Entsprechend scharf fällt die satirische Schlusspointe der Episode aus. Just in dem Moment, in dem der Junker die Klage „ab seinem widerwertigen glück“ 179 174 Ebd., S. 119 f. Der negativen, diabolischen Wirkung der Sterne entspricht in der Deutung des Junkers komplementär das mildtätige Wirken Gottes. Ein Geldstück, das Lazarillo bei seinen Touren durch Toledo an Land zieht, wird vom Junker als Gabe Gottes begrüßt: „Nimb hin Lazarillo/ Gott fangt einmal an sein Hand auffzuthuen [...].“ Ebd., S. 133. 175 Ebd., S. 113. 176 Wenn er nämlich, wie oben zitiert, den Leser auffordert, „mit diesem armen Tropffen / seines widerwertigen Glücks halber / ein mittleyden zu tragen“. Ebd., S. 127. 177 Was die Deutung nicht ausschließt, dass die Formulierung der naive(re)n Perspektive des erzählten Ichs zuzuordnen ist. Auch in diesem Fall stellt sich die Frage, warum Lazarillo als Erzähler dieser Perspektive den Vorzug gibt, weiß er inzwischen doch, dass dieser Art der „stoltze[n] Bettler“ viele „inn der Welt seyn/ die von einer eitlen Ehrgeitzigkeit wegen vilmehr leyden vnd außstehen/ dann sie von deinet [Gottes, S. Z.] wegen thuen wurden.“ Ebd., S. 111. 178 Nochmals zitiert nach Bauer: Conrad Peutingers Gutachten, S. 194. 179 Zwo Historien, S. 152.
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wiederholt, erscheinen seine Gläubiger und fordern die für das Haus und die Bettstatt anfallende Miete: Solcher massen beklagte sich mein Junker / […] Als ein Mann vnd ein altes Weib mit einander zu vns hinein tratten / der Mann begehrte den verfallenen Haußzinß / vnnd das Weib das Monatsgelt für das Bett / vnnd machten ein solche Raitung daher / daß er in einem Monat mehr schuldig worden / als er in ein gantzes Jahr Einkommens gehabt meines behalts / so hat die Schuld zwölff oder dreyzehen Real betroffen […].180
Die „Raitung“ der Gläubiger rationalisiert den von den abergläubischen Reden des Junkers überlagerten Diskurs vom Haus, indem sie ihn in eine rein monetäre Ordnung überführt. Deren Geltung wird vom Erzähler Lazarillo durch die rechnerische Konkretisierung des Schuldbetrages – „zwölff oder dreyzehen Real“ – nicht nur grundsätzlich anerkannt, auch tritt er an dieser Stelle selbst als geübter Buchhalter in Erscheinung, der die eklatante Differenz zwischen gefordertem „Haußzins“ und dem armseligen Jahres-„Einkommen[ ]“ seines Herrn schonungslos vorrechnet.181 Angesichts des Fehlbetrages kann es nicht verwundern, wenn der Junker im Weiteren die erste Gelegenheit ergreift, Reißaus zu nehmen.182 Sieht sich der junge Lazarillo auf diese Weise plötzlich mit den Gläubigern allein gelassen, so wird an dieser Stelle der Abstand zwischen seiner Perspektive und der des um die sozialen Handlungsregeln wissenden Erzähler-Ichs besonders deutlich. Während der Knabe ein ums andere Mal beteuert, nichts über den Verbleib seines Herrn zu wissen, sämtliche Angaben zu dessen Person wahrheitsgemäß macht und schließlich nur dank des Eingreifens einiger Nachbarinnen vor Folter und Gefängnis bewahrt wird, schildert sein erwachsenes Alter ego die ins Leere laufenden ökonomisch-bürokratischen Prozeduren rund um den Vorfall aus ironischer Distanz.183 Je genauer der Besitz des Junkers von den Gläubigern durchleuchtet wird, desto klarer tritt zutage, dass es diesen gar nicht gibt. Unter dem amtlichen Blick eines Notars und eines Gerichtsschergen löst sich zunächst die Illusion einer verwertbaren Hinterlas-
180 Ebd., S. 152 f. 181 Demnach belaufen sich die Einkünfte des Junkers auf unter einem Real pro Monat – eine lächerliche Summe, wenn man bedenkt, dass der cervantinische Picaro Ginés sein Buch im Gefängnis für zweihundert Real verpfändet und dies noch als zu preiswert empfindet. 182 Unter dem Vorwand, eine Doppelkrone auf dem Markt wechseln zu wollen, verschwindet er auf Nimmerwiedersehen. Vgl. Zwo Historien, S. 153. 183 Ausweis seines Expertenwissens sind die genauen Schilderungen der amtlichen Vorgänge. Anders als sein jugendliches Ich weiß Lazarillo, dass es sich bei dem von den Gläubigern bestellten Amtmann um einen „Notari[us]“ handelt, dass dieser ein „Jnventari[um]“ erstellt und dass eine Pfändung bzw. amtliche Hausbegehung „in etlicher Zeugen gegenwart“ stattzufinden hat. Ebd., S. 154, 156.
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senschaft des Junkers in Luft auf. Nachdem man das Haus „vnden wie oben“ durchsucht hat, zeigt sich, dass es keine „Truhen/ Kästen/ Tapezereyen vnd andere[n] Hausrath“ birgt, vielmehr „so lähr“ ist, „wie ich kurtz zuvor gemeldet/ daß meines Junckern Beutel gewest sey“.184 Ähnlich geschieht es schließlich auch mit dem ländlichen Stammsitz. Nach dem sonstigen Besitz seines Herrn gefragt, berichtet Lazarillo von der „gute[n] Hofstatt zu einem Hauß“ und dem „vmbgefallene[n] Taubenkobl“.185 Kaum dass die Hoffnung der Gläubiger ob dieser Nachricht wieder erwachen will – „[…] dises kann so wenig nicht werth seyn/ daß wir vnserer Schuld darvon nit könden habhafft werden […].“ –, stellt sich freilich heraus, dass der junge Lazarillo die Lage der Hofstatt nicht genauer bestimmen kann als mit der Angabe „alt Castilien“.186 Bleibt auf diese Weise unbekannt, wo die „Heimet“ 187 des Junkers eigentlich liegt – ein Umstand, dem die namenlose Typenhaftigkeit der Figur entspricht –,188 so wird das endgültige Scheitern der Geldeintreiberei vom Erzähler schließlich in einen moralischen Deutungskontext eingestellt. Unter dem schwankhaften Motto ‚Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen‘ stellt er den Geiz insbesondere der alten Frau heraus, die ihr „alte[s] schittere[s] Betth […]/ da es von der vberstandnen viljährigen bemühe= vnd beschwerung ein Ruhe haben sollen/ erst vmb Gelt von newem außgelihen/ vnnd abgehudelt“ habe.189 Damit schließt sich der Bogen der um das Lasterpaar Geiz und Ehrgeiz kreisenden Dienstepisoden: Der Leser ist aufgefordert, nicht nur über den verarmten Junker, sondern auch über seine Gläubiger zu lachen, die im letzten Tableau mit dem verhudelten Bett im Schlepptau „zanckend vnnd schreyend“ 190 den Schauplatz verlassen.
184 Ebd., S. 155. 185 Ebd., S. 156. 186 Ebd., S. 156 f. 187 Ebd. 188 Auch hier ist von einer impliziten Ironie der Erzählung zu sprechen. Das Ausfindigmachen der Hofstatt in Altkastilien erscheint den Gläubigern und Amtleuten so aussichtslos, dass sie angesichts der Angabe Lazarillos in schallendes Gelächter ausbrechen – ein versteckter Hinweis auf die Menge an aufgelassenen Feudalanwesen im spanischen Kernland, auf die die Beschreibung zutrifft: Der Fall des Junkers ist kein Einzelfall, er steht für eine Vielzahl anderer Fälle. Vgl. ebd., S. 157. 189 Ebd., S. 159. 190 Ebd.
2.3 Vom Markt ins Rathaus: Lazarillos Aufstieg
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2.3 Vom Markt ins Rathaus: Lazarillos Aufstieg Das verhaltene Lob, das die deutsche Vorrede Lazarillo erteilt, bezieht sich auf das Ende der Erzählung, das den Protagonisten von der „ersten stapffel / so [er] auffstige“ 191 ‒ dem Wasserhandel ‒ zum „gipffel [s]einer wolfahrt / vnd glückseligkeit“ 192 avancieren lässt, auf dem er als „königliche[r] Amptman“ und „häußliche[r] Eheman“ 193 ein Leben ohne akute materielle Not führt. Die Frage, inwiefern diesem Aufstieg eine positive Exemplarität zugesprochen werden kann, wurde in der Forschung alles andere als einheitlich beantwortet. Während Hans Gerd Rötzer ihn als Triumph der „Moral eines aufstrebenden Bürgertums“ deutete, „das sein wachsendes Selbstbewußtsein nicht auf adelige Privilegien, sondern auf Arbeit und Handel stützt“,194 meinte Alberto Martino, die Erzählung enthalte „absolut nichts von der Ethik des Bürgertums und von dessen auf Arbeit und Handel begründetem wachsenden Selbstbewußtsein“.195 Vielmehr sei Lazarillos Ambition Ausdruck jener von Fernand Braudel beschriebenen Tendenz des Bürgertums im 16. und 17. Jahrhundert […], seine soziale Aufgabe und Funktion zu ‚verraten‘ und von Geschäft und Handel in jene bürokratischen Ämter in Stadt- und Staatsverwaltung überzuwechseln, die es erlaubten, ‚adelig zu leben‘.196
Der schroffe Widerspruch, der zwischen diesen Aussagen auf ersten Blick besteht, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als bloßer Gewichtungskonflikt innerhalb eines von den Autoren geteilten Denkhorizonts. In beiden Fällen wird der Aufstieg der pikarischen Figur vor dem Hintergrund der modernen Meistererzählung vom ‚Aufstieg des Bürgertums‘ betrachtet, wobei es Rötzer und Martino erkennbar darum geht, diesen Aufstieg – und damit das Handeln der Figur – als typisch für die gesellschaftliche Gesamtentwicklung herauszustellen.197 Die Grenzen, die der Text dieser Herangehensweise setzt, treten im Dissens der Interpreten
191 Ebd., S. 161. 192 Ebd., S. 172. 193 Ebd., S. 179. 194 Rötzer: Picaro, S. 45. 195 Martino: Die Rezeption des ‚Lazarillo von Tormes‘, S. 345. 196 Ebd. 197 Dies gilt auch für neuere romanistische Untersuchungen, die das Erzählfinale etwa als Symptom eines „nascent capitalist system and its dysfunctional state in the specific situation of 16th-century Spain“ lesen. Bernhard Malkmus: The Picaresque Mode and Economies of Circulation. In: Das Paradigma des Pikaresken – The Paradigm of the Picaresque. Hg. von Christoph Ehland, Robert Fajen. Heidelberg 2007 (GRM-Beiheft 58), S. 179–197, hier S. 184. Ähnlich Maiorino: At the Margins, S. 77.
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dabei klar hervor. Wenn Lazarillo entweder alles (Rötzer) oder „absolut nichts von der Ethik des Bürgertums“ (Martino) haben soll, entweder also als bürgerlicher Selfmademan (Rötzer) oder als Vertreter der Braudel’schen „trahision de la bourgeoisie“ 198 (Martino) vor den Leser tritt, erweist sich vor allem eins: dass starre sozialhistorische Thesenbildungen dieser Art der irritierenden Beweglichkeit der Figur und damit der literarischen Vielschichtigkeit der pikarischen Erzählung nicht gerecht werden. Um der bereits in der Vorrede artikulierten Uneindeutigkeit und Unentschiedenheit des Textes in der Lektüre Raum zu geben, ist daher auf den (vorschnellen) Griff zu sozialhistorischen Interpretamenten zu verzichten und der Blick stattdessen auf die intratextuell ausgetragenen moralischen, sozialen und ökonomischen Geltungskonflikte rund um den Aufstieg der Figur zu richten. Ausgangspunkt für Lazarillos Aufstieg ist sein Übertritt aus der Sphäre von Bettelei und otium (Junker-Episode) ins aktive Leben. Durch die Nachbarinnen des Junkers, die in ihrer kleinen städtischen Manufaktur „vmb Lohn Baumwoll gesponnen / vnd Strümpff gewürckt“,199 wird Lazarillo an einen Tapezereienmaler vermittelt. Auffällig ist die positive Konnotation von Arbeit in dieser Passage. Vom „Farben reiben / in der Statt hin vnd widerlauffen / vnd andere[r] Tripler arbeit“ sieht Lazarillo sich bald „auffgeschossen / vnnd erstarckt“.200 Diese Tendenz verstärkt sich noch, als Lazarillo in den Dienst eines Wasserkrämers wechselt. Im Vorgang des Wasserschöpfens, -tragens und -ausschenkens beweist er seinen Fleiß und trägt zur Aufrechterhaltung des essentiellen Versorgungskreislaufes in der Stadt bei: [Es] name mich ein Cramer an / der vberantwortete mir einen Esel mit seinem Saumsattel / vnd darauff vier Erdiner Wasserkrüg / sampt einer peitschen / darmit muste ich auß dem
198 Fernand Braudel: La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II. 3 Bde. Paris 1966, Bd. 2, S. 67. 199 Zwo Historien, S. 130. 200 Ebd., S. 160 f. Die Revitalisierung der Figur im Anschluss an die mit Todes- und Verfallschiffren übersähte escudero- bzw. ‚Juncker‘-Episode wurde in der Forschung mit dem zweiten biblischen Namensvetter Lazarillos, dem von den Toten wiedererweckten Lazarus des JohannesEvangeliums (Joh 11,17–44), in Verbindung gebracht. Dabei, so die Argumentation Ehrlichers, werde der irdische Aufstieg der Figur, die materielle ‚Rettung‘ des Bettlers Lazaro, mit dem wunderbaren Auferstehungsgeschehen der Bibel parallelisiert, was die Tendenz des Romans zur Profanierung spirituellen Sinns einmal mehr zum Vorschein bringe. Vgl. Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 197 f. M. E. ist Ehrlichers Lesart mit der hier vorgelegten zu verknüpfen: Es passt zur kritischen Beobachtung des Parasitären im Text, wenn Lazarillos ‚Auferstehung‘ sich dem Wunder der Arbeit, nicht aber einem von Gott verantworteten Heilsakt verdankt.
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Fluß Wasser hin vnd wider inn die Häuser führen / vnd verkauffen / Vnnd dises war die erste stapffel / so ich auffstige / ein ehrlichs Thun vnnd gut Leben zu vberkommen […].201
Die positive Bewertung der industria darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass schon diesem ersten Tableau die Grundspannung der pikarischen Aufstiegserzählung eingeschrieben ist. Wenn Lazarillo in Diensten des Wasserkrämers Tuchfühlung zur Sphäre der Natur aufnimmt, so scheint auf den ersten Blick das Versprechen der Exposition eingelöst: Wie dem Müller Tomas stellt die Natur auch dessen Sohn Lazarillo ihre Gaben – das Wasser – zur freien Verfügung, so dass es ihm möglich wird, sich durch „ehrlichs Thun“ ein „gut Leben“ zu verdienen. Dass der damit scheinbar realisierten Harmonie von natürlicher und sozialer Ökonomie auch hier nicht zu trauen ist, liegt zum einen an der Implikation abweichender Handlungsmotivationen auf der Ebene des Erzählens: Durch die strukturelle Einbindung des Tableaus ins narrative Paradigma des Aufstiegs – „dises war die erste stapffel / so ich auffstige“ – wird hinter Lazarillos Bereitschaft zur Arbeit der Impuls des Aufsteigers sichtbar, der sein Ziel noch keineswegs erreicht sieht. Zum anderen liegt auf der Hand, dass das Geschäft des Wasserhandels als solches nicht störungsfrei mit der bei Vives paradigmatisch formulierten naturrechtlichen Ethik synchronisierbar ist. Deutlich wird dies, wenn Lazarillo durch das „verkauffen“ der natürlichen Ressource Überschüsse erzielt, die er für seine eigentliche Agenda – den Aufstieg in höhere gesellschaftliche Sphären – einsetzt: Dann meinem Herrn mußte ich täglich dreissig Maravedis zustellen / was ich mehr gewanne / ware mein / vnd darzu auch / was ich deß Sambstags auß Wasser lösen kundte. Nun dise Handthierung ware so gut vnd nutzlich / auch ich mit essen vnd trinken so zäm / vnd eingezogen / daß ich in vier Jahren so vil ersparte / daß ich mich ehrlich kleyden kundte […].202
Kommt mit der negotiatio lucrativa, dem auf Profit ausgerichteten ökonomischen Handeln, die von Vives als widernatürlich bezeichnete Unterscheidung von ‚Mein‘ und ‚Dein‘ ins Spiel („was ich mehr gewanne / ware mein“), so treten die unterschiedlichen Funktionsgesetze der – eben nur scheinbar analogen – Kreisläufe von Wasser und Geld an dieser Stelle klar hervor. Anders als die offene, grenzenlose Ökonomie der Natur organisiert sich die auf dem Geld als universellem Tauschmittel basierende soziale Ökonomie in Ordnungen des Eigenen, in denen es, mit Certeau, immer auch darum geht, „Gewinne [zu] lagern, etwas Eigenes [zu] vermehren und Ergebnisse vorher[zu]sehen“.203 Ob man darin
201 Ebd., S. 161. 202 Ebd. 203 Wie zitiert: Certeau: Kunst des Handelns, S. 89.
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allerdings, wie der rigorose Eigentumskritiker Vives, ein Indiz sündhaften Eigennutzes erkennt oder, wie der Verfasser der Vorrede zur Historia, die lobenswerte Fähigkeit der Figur, ihr Eigenes (ihre Zeit, ihre Arbeitskraft, ihr Geld) so anzulegen, dass eine ökonomisch-soziale Konsolidierung möglich wird, hängt von der Perspektive des Beobachters ab. Je nachdem, welche Ökonomieauffassung er dem Text als Folie unterlegt, vermag er in Lazarillos Handeln den Keim von Tugend oder von Laster zu erkennen. Auffällig ist dabei, dass es vom Ort des Eigenen, den Lazarillo sich als Lohndiener des Wasserhändlers erarbeitet, offenbar nicht viel zu erzählen gibt. Während die Erzählung in den Episoden zuvor Handlungssegmente in Tagesbzw. Stundentaktung aneinanderreiht – jede ingeniöse Handlung Lazarillos wird im Modus episodischer Mikro-Narration singulativ dokumentiert –, berichtet Lazarillo von seiner Zeit beim Wasserhändler in einer iterativen, stark gerafften Erzählung, in der für einen Handlungsverlauf von vier Jahren ganze zwei Sätze aufgewendet werden. Die sich in stündlichen, täglichen, wöchentlichen und jährlichen Routinen wiederholenden Abläufe, die Voraussetzung und Resultat der Stabilisierung einer ökonomischen Ordnung sind, bieten dem Diskurs Lazarillos kein Sujet, markieren aber gerade dadurch einen Bruch innerhalb der Erzählung: mit dem Übergang vom taktischen zum strategischen Handeln des Picaro endet der erste Teil des Romans und beginnt dessen zweiter Teil, dessen struktureller Zusammenhang durch das Aufstiegsparadigma hergestellt wird. Entsprechend findet das Erzählen aus der Sujetlosigkeit in dem Moment auch wieder heraus, in dem Lazarillo daran erinnert, dass es ihm nicht eigentlich um Subsistenzsicherung, sondern zumal darum geht, sich durch Neueinkleidung den Anstrich von ‚Ehrlichkeit‘ zu geben. Dass der Text diese Zielsetzung von vornherein mit Ironiemarkern versieht, wird an der Beschreibung der neuen Garderobe deutlich. Wenn diese von Lazarillo auf dem „Täntlmarck“ erstanden wird und aus einem „alte[n] Bachetes Wammes / eine[m] abgeschabnen Casackenrock / mit zerrißnen Ermlen / eine[m] Mantel / der ein Riß hatte / vnd widerumb fleissig zusammen gehefftet war / auch eine[m] guten alten Dägen / auß den ertzen / so man mit zweyen Schneiden gemacht“ 204 besteht, so steht außer Frage, dass diese zerfetzten Lumpen den Kleidercode der ‚ehrlichen‘ Toledaner Oberschicht nicht erfüllen. Anders als deren Vertreter schafft es Lazarillo mit seinem kleinen Kapital nicht, eine lückenlose Oberfläche der Reputierlichkeit aufzubauen, hinter der er seine geringe Herkunft verbergen kann. Im Gegenteil: Je unverhohlener seine Ambition in den fadenscheinigen Kleidern
204 Zwo Historien, S. 161 f.
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zutage tritt, desto deutlicher bleibt er für die Agenten der ‚Ehrlichkeit‘ als Anderer erkennbar.205 Die Spannung zwischen Tüchtigkeit und Lächerlichkeit der ‚nach oben‘ drängenden Figur spiegelt den Kernkonflikt des Erzählfinales, den man, in Begriffen alteuropäischer Ethik, als Konflikt von honestum und utile – von Ehre und Nutzen – bezeichnen kann.206 Dabei ist zu bemerken, wie weit der Text die Entkopplung der beiden Kategorien treibt. Die seit Ciceros De officiis in der abendländischen Ethik weithin geltende Regel, dass sich „nicht erwirken“ lasse, „daß nützlich ist, was nicht ehrenvoll ist, da die Natur widerstreitet und widerstrebt“,207 wird durch den Aufstieg Lazarillos grundsätzlich in Frage gestellt. Ganz deutlich wird dies nach seiner Einsetzung zum „Königklichen Amptman“, durch die der falsche Ehrenmann sich „aller [s]einer vberstandnen mühe/ ellend vnd noth ergetzt“ sieht.208 Zwar braucht es, wie Lazarillo scheinbar
205 Es ist festzustellen, dass die Erzählung an dieser Stelle für sozialhistorische Deutungen in hohem Maße anschlussfähig ist. Gerade im frühneuzeitlichen Augsburg, dem Druckort der Historia, dürften dem zeitgenössischen Publikum Beispiele kapitalbedingten Aufstiegs von Bürgern in die adlige Schicht vor Augen gestanden haben. Zur Augsburger Kaufmannschaft zwischen Bürgertum und Adel vgl. Mark Häberlein: Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Berlin 1998 (Colloquia Augustana 9).; ders.: ‚Die Tag und Nacht auff Fürkauff trachten‘. Augsburger Großkaufleute des 16. und frühen 17. Jahrhunderts in der Beurteilung ihrer Zeitgenossen und Mitbürger. In: Augsburger Handelshäuser im Wandel des historischen Urteils. Hg. von Johannes Burkhardt. Unter Mitarbeit von Thomas Nieding und Christine Werkstetter. Berlin 1996 (Colloquia Augustana 3), S. 46–68; Peter Burschel, Mark Häberlein: Familie, Geld und Eigennutz: Patrizier und Großkaufleute im Augsburg des 16. Jahrhunderts. In: ‚Kurzweil viel ohn’ Maß und Ziel‘. Alltag und Festtag auf den Augsburger Monatsbildern der Renaissance. Hg. vom Deutschen Historischen Museum Berlin. München 1994, S. 48–65; Stollberg-Rilinger: Gut vor Ehre, S. 31–45. 206 Diese Begriffe werden im 16. Jahrhundert insbesondere in den städtischen Machtzentren Süddeutschlands rege diskutiert. Vgl. dazu Thomas A. Brady: Rites of Autonomy, Rites of Dependence: South German Civic Culture in the Age of Renaissance and Reformation. In: Religion and Culture in the Renaissance and Reformation. Hg. von Steven Ozment Kirksville 1989 (Sixteenth century essays and studies 11), S. 9–23, bes. S. 12; Margit Kern: ‚Omnia mea mecum porto‘. Soziale Interaktion und Autonomie – die Rolle des Gelehrten in bildlichen Darstellungen des 16. Jahrhunderts. In: Intellektuelle in der Frühen Neuzeit. Hg. von Luise SchornSchütte. Berlin 2010 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 38), S. 105–134, hier S. 106 f. 207 Marcus Tullius Cicero: Vom rechten Handeln. Lateinisch und Deutsch. Hg. und übersetzt von Karl Büchner. Düsseldorf, Zürich 2001, S. 283 (Buch III, 77, 78). 208 Zwo Historien, S. 164. Eine unbestreitbar wichtige Rolle bei der Ironisierung des pikarischen Erfolgs spielt die Tatsache, dass das Amt, das Lazarillo erlangt, an sich kein ‚ehrliches‘ ist. So hat er als Ausrufer unter anderem die Aufgabe, die zum Tode verurteilten Sträflinge auf den Markt zu begleiten und dabei ihre Straftaten zu verkünden (vgl. ebd., S. 165) – eine Tätigkeit, die nicht weit entfernt vom traditionell ehrlosen Henkeramt angesiedelt ist. Dass das Amt
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bescheiden verlautbart, die Gnade Gottes sowie der „Herren vnd gute[n] Freund gunst/ vnd eyferige befürderung“, um an das „ersprießliche[ ] mittel“ zu „vnterhalt vnd Nahrung [s]eines alters“ zu gelangen.209 Hinter den stereotypen Bescheidenheitsformeln zeichnet sich das pikarische Selbstbewusstsein jedoch umso klarer ab, wenn Lazarillo sein individuelles Streben schließlich ganz unverblümt zum eigentlichen Zünglein an der Waage des Erfolgs erklärt: [S]eytemal ich das jenige erlangt/ darnach ich lang gestrebt/ nemblich/ ein solchs Ampt/ […]/ dann ich wol gesehen/ daß man in der Welt heutigs tags/ von keinem nichts haltet/ der nicht auffzusetzen/ vnd Speck in der Taschen/ oder aber zum wenigsten ein stattliches Ampt hat.210
Die Kritik an der Verkommenheit der Welt, die nur auf Besitz und Stellung, nicht aber auf Moral und Tugend achtet, trifft in dem Maße zu, in dem sie durch das Handeln desjenigen, der sie äußert, unterlaufen wird. Ob als Ausrufer oder als frisch gebackener Ehemann einer Frau, die zugleich Konkubine eines „alte[n] ledige[n] Geschlechter[s]“ 211 ist – Lazarillo nutzt die Schlupflöcher, die durch die Dissoziation von Ehre und Nutzen in der Toledaner Gesellschaft entstehen, so geschickt aus, dass sein Aufstieg auf den vermeintlichen ‚Gipfel der Wohlfahrt‘ möglich wird. Was auf diese Weise entsteht, ist das Bild einer ökonomisch stabilen, moralisch jedoch hoffnungslos korrupten sozialen Ordnung, in der Erfolg allein auf Basis einer bedingungslosen Nutzenorientierung des Handelnden möglich ist. Dem ehr-, vor allem aber kapitallosen Lazarillo bietet diese Gesellschaft parasitäre Positionen an, die – anders als die Orte des Anderen im ersten Romanteil – im Systementwurf der über Reputation und Besitz verfügenden Akteure von vornherein vorgesehen sind. Dies trifft zunächst auf den Haushalt Lazarillos zu, der ein parasitäres Subsystem der Ökonomie des adligen Junkers darstellt, dessen „protection“ dem Ausrufer „Ehr vnd Gut“ verspricht.212 Worin der Mehrwert der Patronage tatsächlich besteht, wird von Lazarillo klar benannt. Dafür, dass er über die sexuellen Eskapaden seiner Frau hinwegsieht und das Gerede der
des Stadtschreiers bzw. Ausrufers unter den Zeitgenossen des anonymen Lazarillo-Autors mit Verachtung gestraft wurde, ist der romanischen Lazarillo-Forschung seit Bataillons sozialhistorischen Grundlagenarbeiten bekannt. Vgl. Marcel Bataillon: Introduction. In: La vie de Lazarillo de Tormes. Übersetzt von Alfred Morel-Fatio. Hg. von Marcel Bataillon. Paris 1958, S. 7– 84, hier S. 51. 209 Zwo Historien, S. 163 f. 210 Ebd., S. 164. 211 Ebd., S. 166. 212 Ebd., S. 166 f.
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„böse[n] Zungen“ 213 Toledos überhört bzw. durch entschiedenes Eingreifen zum Schweigen bringt, erweist ihm sein sonders günstiger Herr/ allen geneigten willen/ Gnad vnnd hülff/ dann er meinem Weib etliche mal im Jahr einen Metzen Traidt geschencket/ Zu den heiligen Tägen/ gibt er jhr Fleisch/ je zuweilen ein bar Brot/ vnnd mir die alte Hosen/ so er hinwegk legt/ wie er vns dann auch nahend bey seinem Hauß ein Losament bestanden/ vnd bezahlet/ vnd gemeinigklich alle Sonn= vnd Feyrtäg zu Gast hat [...].214
Scheint hinter Lazarillos Lob seiner Frau – „dann ich liebe sie [...] mehr als mich selbsten/ vnnd Gott gibt mir mehr Segen vnnd Benedeyung mit jhr/ als ich würdig bin“ 215 – das pure Kalkül des Parasiten auf, der seine Ehre dem Primat materieller Absicherung unterordnet, so bestätigt dies die unmoralische Handlungslehre, die sein Herr ihm bei Gelegenheit an die Hand gibt. Just als das Gerede auf den Straßen Toledos nicht mehr zu überhören ist, wird Lazarillo von ihm dazu aufgerufen, in allem nur „auff das jenige [zu sehen]/ so [ihm] zu nutz vnd wolfahrt gereicht“ 216 – eine nahezu buchstäbliche Wiederholung der radikalen Eigennutz-Doktrin des blinden Fürbittensprechers, deren perverse Geltung am Ende der Erzählung damit nochmals bestätigt wird. Die Aussicht auf eine Schließung des pikarischen Syntagmas qua Etablierung der Figur in einer stabilen ökonomischen Ordnung kann sich unter diesen Umständen nicht erfüllen. Im Gegenteil verstärken sich am Ende des Romans die Signale der prinzipiellen Unvereinbarkeit von Moral und ökonomischem Erfolg. So lächerlich Lazarillos Selbstinszenierung als braver Hausvater ist – „vnd ich in meinem Hauß fridlich vnd rühwig bin“ –,217 so unmissverständlich markiert sie den Abstand zwischen dem überlieferten Ideal der auf Tugendgesetzen aufbauenden oeconomia und dem in jeder Hinsicht prekären Modell der Ménage-à-trois, in dem der mittellose Aufsteiger die Rolle des Dritten übernimmt. Seine Beweglichkeit bleibt in dieser Konstellation in vollem Umfang erhalten. Lazarillo setzt sein taktisches Geschick ein, wenn er zum materiellen Wohl seines ‚Hauses‘ zwischen den – an sich unvermittelbaren – Positionen des Hausvaters und Zuhälters hin- und herschaltet (was die oben zitierten rhe-
213 Ebd., S. 168. 214 Ebd., S. 167. 215 Ebd., S. 171. 216 Ebd., S. 169. Auffällig genug werden die entscheidenden moralischen Leitbegriffe vom Adligen ausgetauscht: Heißt es erst, die Dreiecksbeziehung diene zu Lazarillos „grosse[r] ehr vnd nutzen“ – was die Einheit von honestum und utile suggeriert –, so ist am Ende nur mehr von „nutz vnd wolfahrt“ die Rede – die Kategorie der Ehre fällt aus dem moralisch fragwürdigen Diskurs heraus. 217 Ebd., S. 172.
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torischen Verrenkungen nötig macht). Er setzt es vor allem aber auch in seinem Amt als Ausrufer auf dem Toledaner Markt ein. Hier ist es insbesondere seine Fähigkeit, sich als Dritter in die Beziehung von Käufern und Verkäufern einzuschalten, die ihm den Einfluss auf das merkantile Geschehen sichert. Erst durch seine Vermittlung, so prahlt er gegenüber dem Leser, würden die Verkäufer von Wein und anderen Waren die ersehnten Profite einstreichen: Dises meines ansehenlichen Ampts (dem ich zu Gottes Ehr/ vnnd aller ehrlichen Leuth Dienst vorstehe) verrichtung ist/ daß ich den Wein/ so inn diser Statt feyl seyn/ außschreyen/ wann man etwas auff der Gandt verkaufft/ mich darbey finden/ […] Es ist mir auch so wol vnd glücklich gangen/ vnnd ich hab mich solcher massen schicken/ vnnd verhalten können/ daß schier alle sachen/ so dises Ampt berühren/ jetzt allein durch meine Händ vnd Maul gehen/ vnnd ein jedlicher inn der Statt/ der Wein außzuschenken/ oder sonsten etwas auff der Gandt zuverkauffen hat/ vermeint/ er künde seine Wein/ oder sachen mit nutz nit ohn werden/ wenn der Herr Lazarus von Tormes (dann hinfüro werde ich nicht mehr Lazarillo heissen) nicht das seinige darbey thue/ vnnd sich darunder bemühe.218
An dieser Schlüsselstelle des Textes tritt die strukturelle Bedeutung parasitären Handelns in der Marktgesellschaft Toledos deutlich hervor. Gemäß der Beobachtung Serres’ entfaltet der Parasit seine Agenda „nicht auf der Sache, sondern auf der Beziehung“,219 beobachtet mithin einzelne Relationen, nicht aber die „Konstruktion des Systems“ 220 als ganze. Im Fall des Ausrufers Lazarillo erfolgt die Intervention dabei freilich nicht mit dem Ziel des Abzweigens fremder Güter in die eigene Tasche, sondern, ganz offiziell, im Auftrag der ‚Macht der Eigentümer‘ (Certeau), die ihre Waren auf dem Markt zu möglichst hohen Preisen zu auktionieren trachten. Was auf diese Weise entsteht, scheint – bei aller Ambivalenz, die der Text durch die ironische Distanzierung vom vermeintlich ‚ehrlichen‘ Toledaner Publikum erzeugt – tatsächlich als „ein neues System“ bzw. „eine Ordnung von höherer Komplexität, als die einfache Kette sie hat“,221 greifbar zu werden. Als königlicher Amtmann erhebt Lazarillo seine Stimme auf dem Markt im Namen der Obrigkeit – was er eigens hervorhebt, wenn er sich dem Leser als „einer von den Herren/ vnd eine solche person“ vorstellt, „die den gemeinen nutz befürdern hilfft“.222 Auffälligerweise steht seine Tätigkeit dabei jedoch nicht im Zeichen des pretium iustum oder ähnlicher zu der Zeit gebräuch-
218 219 220 221 222
Ebd., S. 164–166. Serres: Der Parasit, S. 64. Ebd., S. 23. Ebd., S. 29. Zwo Historien, S. 165.
2.3 Vom Markt ins Rathaus: Lazarillos Aufstieg
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licher Mittel der obrigkeitlichen Regulierung merkantiler Volatilität.223 Vielmehr steigert sein Eingreifen das Schwanken der Preise noch – und zwar zugunsten der Besitzenden, die ihre Waren dort, wo der Ausrufer „das seinige darbey thu[t]“, mit Gewinn verkaufen können, während die Käufer und Konsumenten auf der anderen Seite mit Teuerung und Verschuldung zu rechnen haben.224 Was die Rolle Lazarillos dabei im hohen Maße widersprüchlich – man könnte auch sagen: strukturell ironisch – macht, ist die Tatsache, dass er mit seinem parasitär-eigennützigen Handeln die Strukturen stärkt, die die besitzende Oberschicht zur Bewahrung ihrer materiellen Privilegien unterhält. Deren Macht wird durch den in den Zwischenräumen von Haus und Markt operierenden, lächerlicherweise auf seine Ehrbarkeit bestehenden „Herr[n] Lazarus von Tormes“ nicht unterwandert, sondern letzthin bestätigt: Das System Toledo braucht den Anderen, den es zugleich – im Sinne einer über das parasitäre Moment hinausgehenden Teilhabe am sozialen Geschehen – effektiv ausschließt. Entsprechend ambivalent erscheint Lazarillos Rede vom Aufstieg auf den ‚Gipfel des Glücks‘ in ihrer Eigenschaft als metaphysisches Deutungsangebot des Textes. Die Ironie, die dem Rekurs auf die symbolische Ordnung des Glücks (Fortuna) offenkundig eingeschrieben ist, schlägt sich aufseiten der Rezeption in Form einer perspektivischen Aporie nieder. Wie die Lektüre des deutschen Vorreden-Autors zeigt, ist es nicht möglich, die Geschichte Lazarillos als Erfolgsgeschichte zu lesen, ohne die ethischen und metaphysischen Konzepte zu relativieren, die über den Exempelwert und die symbolische Bedeutung der Vita bestimmen. Sieht sich der Leser in diesem Sinne zumal dazu genötigt, die Dissoziation von Ehre und Nutzen – immateriellen und materiellen Aspekten des ‚Glücks‘ – als Gesetz der dargestellten Welt zu akzeptieren, so wird er im Fall seines Beharrens auf der Geltung der überlieferten Konzepte umgekehrt mit dem Problem konfrontiert, keine Deutungsansätze zur Verfügung zu haben, die der Komplexität der pikarischen Erzählung gerecht würden. Es bleibt unter die-
223 Zum ‚gerechten Preis‘ als bevorzugtem Marktregulierungsmechanismus in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. Johannes Hermann (Hg.): Der gerechte Preis. Beiträge zur Diskussion um das ‚pretium iustum‘. Vier Vorträge. Erlangen 1982; Christian Hecker: Lohn- und Preisgerechtigkeit. Historische Rückblicke und aktuelle Perspektiven unter besonderer Berücksichtigung der christlichen Soziallehren. Marburg 2008. 224 In diesem Zusammenhang ist die begriffliche Spezifizierung der Arbeitsbereiche Lazarillos im Augsburger Druck zu beachten. Als Ausrufer operiert er nicht nur auf dem offenen Markt, auf dem Wein und andere Waren auktioniert werden, sondern auch auf der sogenannten „Gandt“, wo Güter aus Pfand- und Schuldverhältnissen zum Kauf feilgeboten werden. Vgl. den Artikel ‚Gant‘ in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1854–1961. München 1984, Bd. 4, Sp. 1282–1284.
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sen Umständen nichts übrig, als die parasitäre Agenda des Picaro als Ausdruck seiner moralischen Verworfenheit zu verstehen – eine Deutung, die die generelle Infragestellung der Zuverlässigkeit und Reichweite moralischen Wissens im Text ebenso negiert wie die implizite Kritik an den dargestellten ökonomischen Systemen, die, indem sie bedingungslos auf Eigentum und Kapitalakkumulation setzen, den parasitären Anderen erst hervorbringen. Je weiter Lazarillo dabei auf dem Weg ‚nach oben‘ ins Innere der machtvollen Institutionen seiner Welt vordringt – in das adlige Haus, die königliche Verwaltung und den Markt als Ort der Vermehrung von Kapital und Besitz –, desto klarer zeichnet sich ab, dass zwischen den Perspektiven eine Vermittlung nicht stattfinden kann. Sie bleiben vielmehr in demselben Maße inkompatibel, in dem der Text sich weigert, die zum Ende hin entfaltete groteske Topik des Überflusses – „schier alle sachen“ des Marktes sieht Lazarillo durch seine „Händ vnd Maul“ gehen225 – zur Entfaltung einer Metaphysik des Eigennutzes einzusetzen. Anders als punktuell im 16. Jahrhundert postuliert, mündet „die vngleichheit vnnd streitende gegensatzung“ der um ihren „nutz“ bemühten Bürger in der Historia nicht in die „Hermoney vnd einigkeit“ 226 eines gerechten Gemeinwesens. Vielmehr höhlt der „natürlich eigennützig affect“ 227 in der erzählten Welt die Ideale des bonum commune und der oeconomia bis zu dem Punkt aus, an dem von
225 Überfluss an Speis und Trank prägt auch die Begegnungen zwischen Lazarillo und den deutschen Höflingen, die zum Gefolge des zur Zeit des Erzählens in Toledo residierenden Kaisers Karl V. gehören. Die aus der sogenannten Segunda Parte (1555) in die Antwerpener Fassung und von dort in den deutschen Text übernommene Passage wirft mit ihren Anspielungen auf die Zügellosigkeit des Hofpersonals kein gutes Licht auf das römisch-deutsche Kaisertum – eine Tendenz, der der katholische Drucker Aperger aus der Kaiserstadt Augsburg in späteren Ausgaben dadurch zu begegnen suchte, dass er dem Roman eine kleine Schrift mit dem Titel Gleichnusse / vnd denckwürdige Reden der vornembsten Keysern beigab, in der er u. a. Kaiser Augustus – seines Zeichens Gründer der Stadt Augsburg und Säulenfigur des nach ihm benannten, 1598 eingeweihten Augsburger Augustusbrunnens – vor den schädlichen Folgen von Luxussucht und Kleiderpracht warnen ließ. Den Bezug zum Lazarillo stellt Aperger dabei in der „An die Tugend gegenwertiger zeit“ appellierende Vorrede selbst her: „In der histori vom Spanischen Lazarillo sihet man die art vnd beschaffenheit der jenigen welche der eytelkeit dieser Welt ergeben sind.“ Demgegenüber solle vorliegende Schrift „die Gemüther in gar nützlichen Betrachtungen erquicken / vnd zu allem löblichen Wesen vnd Handel“ aufmuntern. Historien Von Lazarillo de Tormes, einem stolzen Spanier / Was für wunderliche / seltzame und abenthewrliche Ding / er in seinem Leben und Herrendiensten verübet [...]. Mehr etliche außerleßne schöne Gleichnussen/ und Reden grosser Potentaten und Herren. Augsburg: Andreas Aperger 1627, S. 2 (Paginierung des Anhangs). 226 Leonhard Fronsperger: Von dem Lob deß Eigen Nutzen. […] Mit vil schönen Exempeln vnd Historien auß heyliger Göttlicher Schrift zusammen gezogen [...]. Frankfurt a. M. 1564, fol. 29l. 227 Fronsperger: Von dem Lob deß Eigen Nutzen, fol. 14l.
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ihnen nur mehr fassadenartige Formeln übrigbleiben, hinter denen sich ein System abweichender Handlungsweisen ungestört etablieren kann. Strukturell betrachtet, erreicht die pikarische Narration damit an ihrem (vorläufigen) Ende den Punkt der größten Spannung. Diesen exponiert die Historia gegenüber den Prätexten dadurch noch zusätzlich, dass sie Lazarillo einen finalen Satz in den Mund legt, in dem dieser die Fortsetzung seiner ehrgeizigen Agenda ankündigt.228 Aus Sicht des pikarischen Aufsteigers soll der beschworene ‚Gipfel des Glücks‘ noch keineswegs der biographische Wendepunkt sein, von dem aus es nur mehr bergab oder jedenfalls nicht weiter bergauf gehen kann. Vielmehr spielt der deutsche Lazarillo die Zukunftsoffenheit der Autodiegese aus, indem er gegenüber dem Leser das Erklimmen weiterer Stufen auf der Leiter des Erfolgs in Aussicht stellt: Jetzt warte ich auff nichts anders dann daß man mich auch in den Stattrath nemme / (darinnen wol so grosse Gecken sitzen als ich bin) vnd wann ich etwas reicher werde / gar zum Burgermeister mache. Was sich ferners mit mir begibt (dann einmal sagt mir mein hertz ich werde noch zu grösserer Dignitet kommen) wil ich euch zu rechter zeit schon wissen lassen. ENDE229
Bemerkenswert ist dieser letzte Satz nicht nur, weil er mit der Schmährede gegen die „Gecken“ im Toledaner Patriziat die Ehrbarkeitsfiktion durchbricht, die Lazarillo zuvor entworfen und gepflegt hatte.230 Er ist es auch in seiner Eigenschaft als wirkungsvoll skandalisierende Werbebotschaft an den Leser. Lazarillos ambitionierte Rede pulverisiert die Grenze, die das „ENDE“ der Erzählung markiert, indem sie den Punkt des Erzählens als bloßen Durchgangspunkt einer diskursiven und diegetischen Bewegung erkennen lässt, die noch weiter hinein ins Zentrum der Macht führen soll. Die Ironie, die in den Formulierungen dabei mit-
228 Die Antwerpener Fassung lässt den ersten Teil mit folgendem Ausruf Lazarillos an die Adresse Gottes enden: „O grand Dieu, qui sera bastant d’ecrire vn si mal-heureux & desastré cas, sans y entreuenir vn tant seul poinct de bon-heur, qui à bon droit ne laisse reposer l’acrier, pour mettre la plume sous ses yeux!“ Histoire plaisante, S. 126. 229 Zwo Historien, S. 179. 230 Mindestens der Selbsteinbezug Lazarillos in die Schmähung überrascht. Offenbar sah der empirische Autor des Satzes, Aperger, Heinrich oder Ulenhart, die Notwendigkeit, die Kritik an den nur scheinbar ehrenhaften Romanfiguren zur besseren Sichtbarkeit am Ende des Textes explizit zu machen – eine Entscheidung, die zuungunsten der psychologischen und rhetorischen Kohärenz des pikarischen Diskurses ausfällt. Es kann nur vermutet werden, welche Gründe dieses Vorgehen hatte. Einigermaßen plausibel erscheint die These, dass es um eine Geste in Richtung der zuständigen Zensurbehörden geht. Der Antwerpener Druck präsentiert am Ende des Textes ein Unbedenklichkeitsgutachten der Inquisition. Dies könnte den Produzenten des Augsburger Drucks zur Warnung gereicht haben, das moralisch-religiöse Irritationspotenzial an selber Stelle etwas einzudämmen.
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2 Aufstieg des Parasiten: Historia von Lazarillo de Tormes
schwingt – etwa wenn der Hahnrei Lazarillo ankündigt, „noch zu grösserer Dignitet“ zu kommen –, erfüllt (auch) am Ende nicht die Funktion einer Einhegung des Diskurses in die traditionell gesetzten Grenzen von Moral und sozialer Ordnung; vielmehr ist sie selbst Index der Verunsicherung, die das Verschwinden dieser Grenzen erzeugt. So mag aus Sicht des Lesers ein Scheitern Lazarillos zwar immer noch weitaus wahrscheinlicher wirken als das Gegenteil, dies aber eben nicht aus Gründen der Moral, sondern weil die prekäre Position Lazarillos zur Zeit des Erzählens keine ausreichende ökonomische Basis für das Aufstiegsunternehmen zu bieten scheint. Die vom pikarischen Aspiranten gewählte Formulierung „wann ich etwas reicher werde“ zeigt dies in feiner grammatischer Ambivalenz an. Temporal verstanden gehorcht der Einschub der Logik eines strategischen Denkens, das zukünftige Erträge ins Kalkül zieht, um die Ordnung des Eigenen in fremdes Terrain hinein zu erweitern. Insoweit der Leser in Lazarillo bei aller Rhetorik jedoch nach wie vor den Taktiker erkennt, der darauf angewiesen ist, „mit dem Terrain fertig[zu]werden, das ih[m] so vorgegeben wird, wie es das Gesetz einer fremden Gewalt organisiert“,231 dürfte er zur konditionalen Lesart des Satzes tendieren. Vom Reichtum als notwendiger Bedingung hängt der weitere Aufstieg Lazarillos ab, und gerade der Reichtum ist es, der die eigentliche Grenze zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, Patrizier und Picaro definiert. Sie zu überschreiten, gelingt dem Ausrufer am Ende wohl nur in der eigenen Imagination. In der im Schlusssatz angekündigten Fortsetzung des Romans, die auf Deutsch freilich erst Jahrzehnte später erscheint, dauert es nicht lang, bis Fortuna Lazarillo vom ‚Gipfel des Glücks‘ wieder in die Kontingenz der Welt stößt.232 Es eröffnet sich damit ein neuer Raum des Erzählens, den die Figur, weiterhin der ‚Logik des endlosen Aufschubes‘ (Wehr) unterworfen, zu durchschreiten hat.
231 Certeau: Kunst des Handelns, S. 89. 232 Die Segunda Parte erscheint als Ander Theil / Lazarillo von Tormes / bürtig aus Hispanien in Übersetzung des Paul Küefuß 1653 bei Michael Endter in Nürnberg. Hier wird zu Beginn erzählt, wie Lazarillo von seinen Freunden aus dem Hofstaat Karls V. dazu überredet wird, der spanischen Armee im Kampf gegen die Heiden beizustehen. Lazarillo lässt sich darauf ein, erleidet auf der Überfahrt nach Nordafrika jedoch Schiffbruch, gerät ins Unterwasserreich der Thunfische, wo er, mittlerweile selbst zum Thunfisch geworden, um seine Position kämpft. Am Ende der Fortsetzung wird Lazarillo von Fischern aus dem Meer gezogen und erhält seine menschliche Gestalt zurück. Zur deutschen Übersetzung und ihrem Erzählkonzept vgl. Michael Waltenberger: Die Wahrheit im Reich der Thunfische. Zu Struktur und Poetik der anonymen ‚Lazarillo‘-Fortsetzung von 1555. In: Das Syntagma des Pikaresken. Hg. von Jan Mohr, Michael Waltenberger. Heidelberg 2014 (GRM-Beiheft 58), S. 241–256.
3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman Mateo Alemáns Primera Parte des Guzmán de Alfarache ist gerade sechzehn Jahre alt, als der Münchener Hofsekretär Aegidius Albertinus sie als Fundament seines Landstörtzer Gusman von Alfarche oder Picaro genannt verwendet, der 1615 – noch zwei Jahre vor der Lazarillo-Übersetzung – beim Verleger Nikolaus Heinrich in München erscheint.1 Wenn Cordie vom „kompilatorischen Baukomplex“ des Textes spricht, so trifft dies die diskursive Verfahrensweise des Albertinus ziemlich genau.2 Es wird aus ganz unterschiedlichen Regionen frühneuzeitlichen Schrifttums Material in den Landstörtzer Gusman hineinkompiliert: Neben der Primera Parte Alemáns zieht Albertinus einerseits episodische Versatzstücke aus Juan Martís apokrypher Guzmán-Fortsetzung (1602) hinzu, andererseits polyhistorisches Wissen aller Art 3 und vor allem moralisch-aszetische (Predigt-) Literatur von so unterschiedlichen Autoren wie Diego de Estella, Luca Pinelli,
1 Als erster Adapteur eines spanischen Picaro-Romans wurde Albertinus von der älteren Forschung als „Vater des deutschen Schelmenromans“ bezeichnet – eine Einordnung, die in ihrem schematisch-genealogischen, noch dazu nationalphilologischen Anspruch heute sicher kaum mehr haltbar ist. Karl von Reinhardstöttner: Aegidius Albertinus, der Vater des deutschen Schelmenromans. In: Jahrbuch für Münchener Geschichte 2 (1888), S. 13–86. Mit einem sich verändernden Blick auf das Gattungsparadigma in der Forschung des späteren 20. Jahrhunderts kam es dann wiederum sogar zu einem Ausschluss des Albertinus-Textes aus dem Korpus frühneuzeitlicher ‚Schelmenromane‘. Aufgrund der Überschreibung der pikarischen BasisErzählung mit moralisch-aszetischen Elementen sei, so Guillaume van Gemert, Albertinus’ Landstörtzer Gusman „nicht mehr als Schelmenroman“ zu werten. Guillaume van Gemert: Übersetzung und Kompilation im Dienste der katholischen Reformbewegung. Zum Literaturprogramm des Aegidius Albertinus (1560–1620). In: Daphnis 8 (1979), S. 123–142, hier S. 141. Van Gemert geht in seinen Ausführungen von einem normativen Gattungsbegriff aus, vor dessen Hintergrund die Hybridität des Romans letzthin nur als Abweichung beobachtet werden kann. Mit einem offenen, transtextuell ausgerichteten Gattungsbegriff ergibt sich natürlich ein anderes Bild. Durch die Adaption der Primera Parte Alemáns sowie von Teilen der apokryphen Fortsetzung des Juan Martí vollzieht Albertinus’ Text einen Transfer pikarischer (Erzähl-) Alterität, der die gesamte – tatsächlich höchst ambivalente – Konstruktion des Romans prägt. In diesem Sinne sei im Folgenden nicht die Frage diskutiert, ob der Text eine (welche?) Gattungsnorm erfüllt, sondern ausschließlich der Prozess kontroverser Tradierung. Vgl. dazu eingehend Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 48–130. 2 Ansgar Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin u. a. 2003 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 19), S. 55. 3 Hierbei ist insbesondere zu denken an Hippolytus Guarinonius’ enzyklopädische Sammlung Die Grewel der Verwüstung Menschlichen Geschlechts (Ingolstadt: Andreas Angermayr 1610). https://doi.org/10.1515/9783110486636-003
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Jean Raulin und Geiler von Kaysersberg.4 Wie van Gemert gezeigt hat, stellt der Landstörtzer Gusman damit insgesamt eine Art „Bestandsaufnahme seiner [des Albertinus, S. Z.] übersetzerisch-kompilatorischen Beschäftigung“ dar, in der nahezu jede Passage einem konkreten Prätext zugeordnet werden kann5 – eine Feststellung, die den Blick öffnet auf Verfahren frühneuzeitlicher Textproduktion, die aus moderner Sicht per se deutungsbedürftig erscheinen. Denn das, was Walter Benjamin als „Wunder“ des barocken ‚Kunstwerks‘ bezeichnet hat – sein Wesen als kombinatorisches „Resultat der Häufung“ 6 – ist ja nicht allein ein Modus der Produktion: Es konstituiert ebenso eine bestimmte diskursive, genauer: allegorische und epistemische Struktur, indem es Vorhandenes nach spezifischen Mustern der topischen Kombination und rhetorischen Funktionalität neu ordnet. Die augenfälligste Maßnahme, die Albertinus zur Herstellung von Ordnung ergreift, besteht dabei in der Spiegelung des pikarischen Modells durch das der christlichen Pilgerschaft. Sein Text scheint in dieser Hinsicht insgesamt streng dual strukturiert:7 Dem ersten Teil, der den Welt-Parcours des Landstörtzers zeigt, folgt ein zweiter Teil, in dem der Picaro hinter einer ins Allegorische entrückten Pilger-Figur weitgehend verschwindet (oder zu verschwinden scheint).8 4 Dazu diverse weitere Arbeiten des bereits genannten Guillaume van Gemert. Vgl. ders.: Die Werke des Aegidius Albertinus (1560–1620). Ein Beitrag zur Erforschung des deutschsprachigen Schrifttums der katholischen Reformbewegung in Bayern um 1600 und seiner Quellen. Amsterdam 1979, S. 150–163 und 551–558; ders.: Zur Geiler-von-Kaysersberg-Rezeption im frühen siebzehnten Jahrhundert: der Einfluß eines indizierten Autors auf Albertinus und Tympius. In: Morgen-Glantz 2 (1992), S. 101–111; ders.: Zur deutschen ‚Gusman‘-Trilogie: Quellenverwertung und neue Sinngebung. In: Der deutsche und der spanische Schelmenroman – La novela picaresca alemaña y española. Hg. von Margit Raders, Maria Luisa Schilling. Madrid 1995, S. 17– 36; ders.: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen: kompilatorisches Verfahren und neuer Sinngehalt im deutschen ‚Gusman‘ von 1615–1626. In: Morgen-Glantz 6 (1996), S. 265–290. 5 Van Gemert: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, S. 284 f. 6 Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1974, S. 156. 7 So schon Gerhart Hoffmeister: Das spanische Modell: Alémans ‚Guzmán de Alfarache‘ und die Albertinische Bearbeitung. In: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext. Rezeption, Interpretation, Bibliographie. Hg. von Gerhart Hoffmeister. Amsterdam 1987 (Chloe 5), S. 29–48, hier S. 42. Außerdem Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 80–93; Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 110–130. 8 Ein nicht zuletzt konfessionell relevanter Figuren-Tausch, wie Van Gemert bemerkt hat: „Der deutsche ‚Landstörtzer‘ Albertinischer Prägung wird so im frühen 17. Jahrhundert zu einer teleologischen Demonstrationsfigur, die ausgeprägte Positionen in der deutschen interkonfessionellen Auseinandersetzung jener Tage bezieht […].“ Van Gemert: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, S. 269. Ebenso Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 231–233. Auf die große Bedeutung, die Pilgerschafts-Erzählungen im Reformkatholi-
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Führt der Eingriff dabei, wie Cordie festgestellt hat, zum Schwenk in Richtung einer „anti-pikareske[n] Perspektive“,9 so entspricht dies dem frommen, auf Erbauung des Lesers setzenden Literaturprogramm, für das Albertinus als Autor einsteht. Das „lesen der Prophanischen vnnd mit Lugen vnd träumen gemachter Bücher“, so erklärt der Hofbeamte in der Vorrede zum Weiblichen Lustgarten (1602), sei gefährlich, weil in diesen „durchauß kein gelehrtheit“ zu finden sei.10 Welche Art ‚Gelehrtheit‘ Albertinus hier im Auge hat, zeigt ein Blick auf das kulturelle Umfeld, das ihn als Autor prägt. Innerhalb des im Bayern Maximilians I. (1573–1651) etablierten „reformkatholische[n] Bücherapostolat[s]“ übernimmt der vom Hof alimentierte poeta doctus die Rolle eines Mediators moralischaszetischer Literatur, die im Sinne nachtridentinischer Geistlichkeit zur Erziehung und Erbauung unter das gläubige Volk gebracht wird.11 Voraussetzung für das Erreichen des Ziels ist die Wirkung des Gedruckten beim Leser. In diesem Sinne heißt es in der Widmungsvorrede zum Geistlichen Seraphin (1607): Ein Gottloser spiegelt oder auffs wenigst förchtet er sich / wann er lieset / was die Gottlosen für ein vnseliges Endt nehmen / hergegen wird er zur Tugent gereitzt vnnd bewegt / wann er liset was die Frommen für ein seliges Endt gewinnen / vnangesehen sie zuuor starck verfolgt worden: Ein Frommer wird durchs lesen der guten Bücher in seinem Vor-
zismus um 1600 besessen haben, hat Juergen Hahn hingewiesen: „After the council of Trent (1545–1563) the Christianizing appeal of art became not only emphatic but obligatory. According to the art theory of the Counter Reformation, art should not merely entertain but instruct as well, educate the audience in the principles of Christian faith. Among these principles the Biblical notion that ‚life on earth is a peregrinatio‘ was a central one.“ Juergen Hahn: The Origins of the Baroque Concept of Peregrinatio. Chapel Hill, N.C. 1973, S. 114. 9 Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 154. 10 Aegidius Albertinus: Weiblicher Lustgarten […]. Beschrieben anfangs inn Hispanischer sprach durch den Ehrwürdigen Joann De La Cerda [...]. München: Nikolaus Heinrich 1605, fol. 34r. Albertinus’ Fiktionskritik bezieht sich, wie um 1600 üblich, insbesondere auf die AmadísRomane. 11 Van Gemert: Übersetzung und Kompilation im Dienste der katholischen Reformbewegung, S. 131. Zur umfassenden, sich auf sämtlichen Ebenen der politischen und religiösen Herrschaftskonzeption niederschlagenden pietas maximiliana vgl. Dieter Albrecht: Maximilian I. von Bayern (1573–1651). München 1998, S. 285–338. Dass bei den Reformvorhaben jesuitische Ansätze der religiösen Erziehung und Unterweisung eine wichtige Rolle spielten, braucht kaum der Erwähnung. Albertinus, der, aus den Niederlanden stammend, Ende des 16. Jahrhunderts in die Dienste Maximilians eintritt, gehörte selbst zwar nicht dem Orden an, wurde jedoch nachweislich von Jesuiten erzogen. Dazu John Meurders: ‚Ein Schriftsteller gilt mehr als zehn Professoren‘. Aegidius Albertinus (1560–1620), Herzog Maximilian I. (1598–1651) und die Jesuiten. In: Museion Boicum oder bajuwarische Musengabe. Beiträge zur bayerischen Kultur und Geschichte. Hans Pörnbacher zum 80. Geburtstag. Hg. von Guillaume van Gemert. Amsterdam 2009 (Geistliche Literatur der Barockzeit: Texte und Untersuchungen 4), S. 145–168.
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haben bestettigt bevorab wann er sihet / daß seine fromme vnnd tugentsame Vorfahren auff dem Weg der Tugenten steiff vnd beharrlich verbleiben.12
Die Wirkungsformel lässt sich im Programm, das Albertinus seinem Landstörtzer Gusman einschreibt, unschwer wiederfinden: Erzählt der Roman zunächst vom gottlosen Gusman, der vor den Augen des Lesers auf ein „vnseliges Endt“ zusteuert, um in einem effektvoll inszenierten Akt der Konversion schließlich doch die eigene Sündhaftigkeit zu erkennen und zum frommen Pilger zu werden, so zielt das Erzählen offensichtlich darauf, das Publikum in einem christlichen Sinne „zur Tugent“ zu bewegen.13 Im Ausblick eben auf den „Weg der Tugenten“, den die Figur schließlich zu beschreiten scheint, erhält das albertinische Erzählen die Funktion eines religiösen Diskurses. Als Gipfelpunkt des typologischen Verfahrens, das zur Umdeutung der pikarischen Vita in ein erbauliches exemplum Anwendung findet, wird das Konzept der peregrinatio von Albertinus unter die unmittelbare Schirmherrschaft Christi gestellt. Das Erzählen der Pilger erscheint bei Albertinus nicht als Akt profaner Kommunikation, etwa im Sinne eines bloßen Zeitvertreibs; vielmehr konstituiert es ein ins Transzendente weisendes Gespräch, in das sich schließlich auch der Emmaus-Pilger Christus selbst einschaltet: Auß solcher jhrer [der Pilger, S. Z.] vnderredung aber empfahen sie einen grossen nutz / dann erstlich verlassen sie dardurch desto lieber dise Welt / Am andern werden sie desto weniger erschrocken vor dem beuorstehenden Todt: Drittens stehen sie allzeit in der bereitschafft zur Schlacht […]. Viertens werden sie dardurch bewegt nach den Himmlischen dingen zuuerlangen / vnnd es brinnt jhr Hertz. Zum fünfften hüten sie sich darduch vor allem vnnützen / schändtlichen vnd ärgerlichen geschwätz. Sechstens locken vnnd ziehen sie dardurch Christum zu sich / wann nemblich sie von jhm reden / jnnmassen jenen zwen Pilgramen beschehen / so gen Emaus gingen / von Christo vnnd seinem Passion / Leyden vnnd Sterben redeten / biß Christus selbst sich vnder sie mischte / vnnd jhnen auff jhrer Pilgerfahrt gesellschaft leistete.14
Unter diesen Vorzeichen erscheint das offene Syntagma pikarischen Erzählens bei Albertinus – zumindest auf den ersten Blick – im Zeichen christlich-katholischer 12 Aegidius Albertinus: Der geistliche Seraphin. […]. München: Adam Berg 1608, fol. A4v (Dedicatio). 13 So erzählen sich die Pilger am letzten Abschnitt ihrer Reise ihre Leben: „Alsdann aber fahen die Wandersleuth jnnsonderheit an mit einander zu schwetzen / wann sie nahe zum Vatterlandt kommen / dann alsdann erzehlen sie einander jhre erlittene vnnd außgestandene armseligkeiten vnd glückseligkeiten […].“ Aegidius Albertinus: Der Landstörtzer Gusman von Alfarche oder Picaro genannt. Nachdruck der Ausg. München 1615. Mit einem Nachwort von Jürgen Mayer. Hildesheim u. a. 1975, S. 715. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle ‚LG‘ und mit Angabe der Seitenzahl zitiert. 14 LG, S. 717.
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Buß- und Gnadenlehre paradigmatisiert. Wie sündhaft der Welt-Kursus Gusmans auch immer verlaufen sein mag, im Moment seines Erzählens, d. h. post conversionem, kann er nicht nur auf die „gesellschaft“ Christi zählen, sondern hat selbst Aussicht, sich in den Chor der Stimmen einzureihen, die dem Publikum die erbauliche Botschaft von Gottes unverbrüchlichem Heilsangebot verkünden. In dieser Hinsicht treten diskursive, politische und divine Ordnung bei Albertinus in ein Verhältnis weitgehender konzeptueller Integration ein: Die Regeln der Disposition, die die Herstellung des erbaulichen Textes organisieren, korrespondieren den Regeln, die in der nach dem Willen Gottes eingerichteten diesund jenseitigen Herrschaftsordnung gelten sollen. Wenn die folgende Lektüre des Romans ihr Augenmerk in diesem Sinne auf die Organisation des Textes richten wird, so unter der Leitannahme, dass Albertinus’ Versuch der allegorischen Lesbarmachung der Picaro-Vita gerade dort zum „amorphe[n] Bruchstück“ 15 tendiert, wo er die Einheit des Textes, des Wissens, der Autorität und letzthin der gesamten oeconomia divina wort- und bildreich beschwört. Der Grund hierfür liegt nicht etwa in einem prinzipiellen Ruinenstatus der Allegorie, wie Benjamin ihn postuliert,16 sondern in der strukturellen Inkompatibilität der Elemente, die der Text kombiniert. Albertinus’ Entscheidung, die letzthin ins Allegorische zielende Invention auf dem pikarischen Diskurs aufbauen zu lassen, führt zu signifkanten Brüchen und Spannungen im Inneren des textuellen Baukomplexes. Und dies in mindestens zweierlei Hinsicht: Zum einen stellt sich die Frage, wie restlos sich das Alteritätspotenzial pikarischer Narration über den christlich-allegorischen ordo-Rekurs neutralisieren bzw. einhegen lässt. Zum anderen liegt beim Blick auf die Heterogenität der zu diesem Zweck eingefrachteten Elemente die Vermutung nahe, dass Unabgestimmtheiten auch zwischen diesen selbst auftreten könnten. In beiden Fällen wird (oder würde) das Wissen, dass diskursiv transferiert wird, zum Gegenstand umfassender Aushandlungsprozesse von Geltung und Sinn, deren Verlauf textstrategisch weitaus weniger steuerbar sein dürfte, als es die frommen Stimmen der Diegese suggerieren mögen.17 Das gilt, wie zu zeigen sein wird, auch und 15 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 153. 16 Zur Kritik an Benjamins Allegoriebegriff mit Blick auf die im 16. und 17. Jahrhundert geltenden epistemischen und rhetorisch-poetischen Normen für allegorisches Schreiben vgl. PeterAndré Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995 (Studien zur deutschen Literatur 131), S. 141–150. 17 Mit Blick auf die ‚epistemischen‘ Dimensionen des Textes hat Struwe diese Annahme in ihrer Untersuchung bereits bestätigt, indem sie die den Roman prägenden Konkurrenzen von narrativem und argumentativem Wissen, von Erfahrungs- und christlichem Normwissen sowie die ambivalente Rolle des Picaro als Wissensträger detailliert herausgearbeitet hat. Vgl. dies.: Episteme des Pikaresken, S. 64–91. Diese Analyse braucht hier daher nicht wiederholt zu werden; es genügt, die auf die oeconomia bezogenen Spannungen zu thematisieren.
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gerade für die Geltung(en) des Wissens an der Schnittstelle von Religion und Ökonomie: In dem Maße, in dem die Integration profaner und transzendenter Aspekte des Wissens an diesem Punkt von besonderer Bedeutung ist – erst wenn die Zirkulation von Reichtümern und Heil in Diesseits und Jenseits vollkommen geregelt ist, wird die oeconomia divina für den Leser als göttlich gesteuerte Ökonomie einsichtig –, muss der albertinische Text Antworten finden auf Fragen, die er durch den Bezug auf ein pikarisches Erzählmodell selbst aufwirft. Unternommen werden soll die Untersuchung des Romans in fünf Schritten: Im ersten und zweiten Abschnitt geht es zunächst darum, die Bedingungen des Transfers ökonomischen Wissens bei Albertinus vom Ausgangspunkt des Übersetzungsprojektes aus zu erhellen. Dazu wird ein Blick auf Alemáns Guzmán de Alfarache zu richten sein, der den Picaro als gewieften Manipulator von cuentas und cuentos – Rechnungen und Erzählungen – präsentiert und damit die Bekehrung der Figur ebenso ins Zwielicht rückt wie deren Genealogie. Im dritten Abschnitt werden die purgierenden Maßnahmen zu thematisieren sein, die Albertinus mit dem Ziel der Beseitigung der von Alemáns Text erzeugten Unschärfen ergreift. Die Beschäftigung mit den religiösen Leitkonzepten der Armut und der Pilgerschaft im vierten und fünften Abschnitt lenkt den Fokus schließlich auf Albertinus’ Strategie der heilsökonomischen Einholung des pikarischen Lebens.
3.1 Täuschende Zeichen: Alemáns Guzmán als Buchhalter seines Lebens Mateo Alemáns Vida del pícaro Guzmán de Alfarache, von den spanischen Zeitgenossen angeblich bloß libro del pícaro genannt,18 versammelt sämtliche Handlungsbausteine, die das Genremuster pikarischen Erzählens im 17. Jahrhundert prägen. Hierzu gehört die gegenüber dem Lazarillo motivisch nochmals erweiterte Elterngeschichte ebenso wie der erratisch verlaufende, mehrere hundert Seiten umfassende Parcours Guzmáns durch die Welt, der ihn aus bitterer Armut in die Dienste höchster kirchlicher und weltlicher Würdenträger führt, ihn die ruhmreiche Universität von Salamanca besuchen lässt, dann doch zum Spekulanten und Finanzbetrüger macht und schließlich in seiner Verhaftung und Verurteilung zum Galeerendienst mündet. Einen auffälligen strukturellen Unterschied zum Lazarillo definiert das Ende der Erzählung. Anders als der Protagonist des älteren Textes wendet sich Guzmán, als Sträfling am (vorläufigen)
18 Vgl. Sieber: The Picaresque, S. 19.
3.1 Täuschende Zeichen: Alemáns Guzmán als Buchhalter seines Lebens
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Tiefpunkt seiner irdischen Karriere angelangt, auf den letzten Seiten seiner Vida an Gott und gelobt, für sein sündhaftes Leben Buße zu tun.19 Von der Glaubwürdigkeit dieser Konversion hängt im Text vieles (wenn nicht alles) ab, denn mit ihr steht und fällt die Lesbarkeit desselben als christliches Sündenbekenntnis.20 Wie Enenkel am Beispiel humanistischer Autobiographien gezeigt hat, braucht es eine reibungslos funktionierende „Beglaubigungsmaschine“, um ein Erzählen nach Art der augustinischen Confessiones in der Frühen Neuzeit umzusetzen.21 Ob und inwieweit diese Maschine in Guzmáns Vida funktioniert, ist und bleibt Gegenstand einer engagiert geführten Forschungsdiskussion. In auffälliger Weise – und mit jeweils guten Gründen – wurde das Ende des Romans von den Interpreten dabei abwechselnd „in both ways“ 22 gelesen: als subversives Manöver eines „unrepentant narrator“,23 der seine nach augustinischem Vorbild sich vollziehende Wandlung vom homo vetus zum homo novus fingiert, um seine eigentlich in Zweifel stehende Autorität als moralischer Beobachter der „vida humana“ 24 zu stabilisieren;25 und als theologisch folgerichtiger, weil die
19 Die Stelle des Umschlags in Richtung Konversion: „[...] cuando recordé, halléme otro, no yo ni con aquel corazón viejo que antes. Di graciás al Señor y supliquéle que me tuviese de su mano.“ Mateo Alemán: Guzmán de Alfarache. In: La novela picaresca española. Tome I: ‚Lazarillo de Tormes‘/Mateo Alemán: ‚Guzmán de Alfarache‘. Hg., eingeleitet und kommentiert von Francisco Rico. Barcelona 1967, S. 81–912, hier S. 890. Die deutsche Übersetzung nach Rainer Specht: „[...] und als ich erwachte, bemerkte ich, daß ich ein anderer Mensch geworden war und nicht mehr jenes alte Herz von früher hatte. Ich dankte dem Herrn und bat ihn, mich in seine Hand zu nehmen.“ Mateo Alemán: Das Leben des Guzmán von Alfarache (1599/1604). Übertragen von Rainer Specht. In: Spanische Schelmenromane. 2 Bde. Hg., mit Anm. und einem Nachwort versehen von Horst Baader. Darmstadt 1964, Bd. 1, S. 65–845, hier S. 828. 20 Treffend schreibt Cavillac: Gueux et marchands, S. 102, in diesem Sinne vom „clé esthétique, mais aussi idéologique, du texte“. Die verschiedenen Positionen der Forschung werden bei Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 209–216, kritisch aufgeführt. Hier (S. 213 f.) findet sich auch der Hinweis auf die gegenüber dem Lazarillo maßgeblich veränderte Rolle der Ich-Instanz(en): Anders als Lazarillo präsentiert sich Guzmán als Bekehrter, wodurch er sich ein „doppeltes Akkreditierungsproblem“ einhandelt: Er muss im Moment des Erzählens als Bekehrter glaubwürdig sein, und er muss es auch in Zukunft (z. B. in einer möglichen Fortsetzung) bleiben. 21 Enenkel: Die Erfindung des Menschen, S. 167, der sich an dieser Stelle konkret mit der Autobiographie des Giovanni Conversino (1343–1408) befasst. 22 Sieber: The Picaresque, S. 19. 23 Joseph H. Silverman: Guzmán de Alfarache: The Unrepentant Narrator. London 1977. 24 Auf dem Titelblatt des zweiten Teils wird Guzmán als „atalaya de la vida humana“ – Wächter des menschlichen Lebens – bezeichnet. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 457. 25 Sieber sieht die Konversion Guzmáns in einem „ironic light“ stehen. Sieber: The Picaresque, S. 19. Gar von einem totalen „nihilismo“ des Romans spricht Benito Brancaforte: Estudio preliminar. In: Mateo Alemán: Guzmán de Alfarache. Hg. von Benito Brancaforte. Madrid 1996, S. 5–43, hier S. 31; vgl. auch ders.: Guzmán de Alfarache ¿Conversión o proceso de degrada-
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Frage nach der Rechtfertigung des Sünders aufgreifender Schlusspunkt eines Textes, der sich als eine Art „catéchisme illustré“ auf Basis nachtridentinischer Moral- und Gnadentheologie an das auf den Stand der Reformen zu bringende katholische Publikum wendet.26 Für die Pikaresken-Forschung ergibt sich aus der Zusammenschau der Positionen mithin ein typisches Bild: Die Unentscheidbarkeit der Frage, ob Guzmáns Rede von der Bekehrung aufrichtig ist oder nicht, ist aus genrehistorischer Sicht als Indikator für die strukturelle Doppelbödigkeit des Textes zu werten.27 Aus der „taktischen Erzählambivalenz“ 28 des Diskurses, den Guzmán verantwortet, führt für den Leser – und um den geht es bei Alemán ganz explizit 29 – kein einfacher Weg hinaus; je nach Perspektivsetzung bleiben Fragen und Zweifel, die ohne die willkürliche Ausblendung deutungsrelevanter Aspekte nicht beseitigt werden können. Einen auf ökonomische Aspekte zielenden Vorschlag, wie die Ambivalenzen in der pikarischen Konversionserzählung zu deuten sind, hat Michel Cavillac in seiner umfassenden Studie zum Roman unterbreitet. Sein Augenmerk gilt
ción? Madison 1980. Ähnlich Whitenack, die von einer „destruction of conversion“ bei Alemán spricht. Judith Whitenack: The destruction of Confession in ‚Guzmán de Alfarache‘. In: Revista de Estudios Hispánicos 18 (1984), S. 221–239; vgl. auch dies.: The Impenitent Confession of Guzmán de Alfarache. Madison 1985. Als politische Textstrategie Alemáns deutet Hans Ulrich Gumbrecht: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Bd. 1, S. 328 f., die Konversion Guzmáns. Dem Autor sei es vor allem darum gegangen, sich gegen die drohende inquisitorische Zensur des Buches zu schützen. Wenn dem so ist (oder war), so hat die Schutzmaßnahme historisch gewirkt: Anders als der Lazarillo wurde der Guzmán von der Inquisition für unbedenklich erklärt, was die vorangestellte Aprobación bezeugt. Vgl. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 85. 26 So Monique Michaud: Mateo Alemán: moraliste chrétien. De l’apologue picaresque à l’apologétique tridentine. Paris 1987 (das Zitat hier S. 328). Dass Michauds Argumentation in ihrer Vereindeutigungstendenz nicht recht aufgeht, hat seinen Grund darin, dass sie die Widersprüchlichkeit der pikarischen Erzählung gewissermaßen systematisch übergeht, um schließlich in einem eigenen Kapitel alle „contradictions“ und „invraisemblances“ der Erbauungsintention des Autors zuzuschreiben (vgl. ebd., S. 360–376). Greift eine solche Lektüre fraglos zu kurz, so heißt dies freilich nicht, dass die religiöse Botschaft des Textes in der Frühen Neuzeit nicht ernst genommen wurde. Viele andere Interpreten außer Michaud, darunter Peter N. Dunn oder Angel San Miguel, haben dafür plädiert, die Konversion Guzmáns nicht vorschnell als pikarischen Witz abzutun: „Guzmán’s change of heart was taken seriously“. Dunn: Spanish Picaresque Fiction, S. 70; ähnlich Angel San Miguel: Mateo Alemán: ‚Guzmán de Alfarache. In: Der spanische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. von Volker Roloff, Harald Wentzlaff-Eggebert. 2., aktualisierte Aufl. Stuttgart, Weimar 1995, S. 63–85, bes. S. 74– 84. 27 So auch bereits Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 216. 28 So Rötzer: Der europäische Schelmenroman, S. 45. 29 Zur Rolle des Lesers, der nicht nur in einer der Vorreden, sondern immer wieder auch im Text selbst als Adressat angesprochen wird, vgl. Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 214, bes. auch Anm. 150.
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dabei insbesondere den auffälligen Verquickungen religiöser und ökonomischkaufmännischer Semantiken am Schluss des Romans. Guzmán, der scheinbar unverbesserliche Missetäter, erkennt im prägnanten Moment der Bekehrung, dass er in seinem irdischen Leben falsch gewirtschaftet hat. Anstelle der Suche nach irdischem Kapital, die ihm nur Leid, aber keine Aussicht auf himmlische Seligkeit gebracht hat, will er sein Handeln nun ganz auf die oeconomia divina ausrichten, in der es für den reuigen Sünder darum geht, (Heils-)Kapital anzulegen: Wach endlich aus diesem Schlafe auf. Kehr um und schau: obgleich dich wirklich deine Sünden hierhergebracht haben, bringe diese Pein auf eine Bank, wo sie dir Früchte trägt. Du suchtest Kapital, das du anlegen wolltest: such es jetzt und handle so, daß du die Seligkeit erkaufen kannst. Diese Mühsal, diese Leiden und diesen Eifer, den du auf dich nimmst, um diesem deinem Herrn zu dienen, setz auf Gottes Konto. Belaste ihn sogar mit dem, was du verlierst, er wird es sicher auf sein Konto übernehmen und von deinem Schuldposten absetzen. Damit kannst du die Gnade erkaufen, die vorher unbezahlbar war, denn die Verdienste aller Heiligen waren nicht Kapital genug, sie zu erkaufen, bis sie den Verdiensten Christi zugerechnet wurden, und deswegen ist er unser Bruder geworden… […] Sofern du es ihm überläßt, rechnet er dein Kapital zu dem seinen und macht es dadurch unendlich kostbar, du aber genießt das ewige Leben.30
Um die neue Ökonomie einzurichten, will Guzmán einen Schlussstrich unter den Teil seines Lebens ziehen, den er im Rückblick – aus der Perspektive des Bekehrten – als „vida mala“ 31 bezeichnet. Sein Mittel, dies zu tun, trägt dabei selbst die Züge eines buchhalterischen Unternehmens. Hatte das erzählte Ich im Laufe der Erzählung bereits mehrfach Soll und Haben seines Lebens gegen-
30 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 828. Zum Vergleich zitiere ich im Folgenden zusätzlich den Wortlaut des spanischen Textes: „Acaba de recordar de aquese sueño. Vuelve y mira que, aunque sea verdad haberte traído aquí tus culpas, pon esas penas en lugar que te sean de fruto. Buscante caudal para hacer empleo: búscalo agora y hazlo de manera que puedas comprar la bienaventuranza. Esos trabajos, esos que padeces y cuidado que tomas en servir a ese tu amo, ponlo a la cuenta de Dios. Hazle cargo aun de aquello que has de perder y recebirálo por su cuenta, bejándolo de la mala tuya. Con eso puedes comprar la gracia, que, si antes no tenía precio, pues los méritos de los santos todos no acaudalaron con qué poderla comprar, hasta juntarlos con los de Cristo, y para ello se hizo hermano nuestro, ¿cuál hermano desamparó a su buen hermano? Sírvelo con un suspiro, con una lágrima, con un dolor de corazón, pesándote de haberle ofendido. Que, dándoselo a él, juntará tu caudal con el suyo y, haciéndolo de infinto precio, gozarás de vida eterna.“ Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 890. Zur Stelle und den Forschungsdiskussionen über ihre Deutung pro oder contra Guzmáns Aufrichtigkeitsbeteuerung vgl. Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 218–222. An selber Stelle geht Ehrlicher auch bereits detailliert auf Cavillacs Studie ein, ohne die von diesem gelegten Spuren ins historische Ökonomiewissen hinein allerdings weiter zu verfolgen. Dies soll im Folgenden in Ergänzung zu den Einsichten Ehrlichers geschehen. 31 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 905.
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einander aufgerechnet – freilich ohne die transzendente Gnadenökonomie Gottes auf der Rechnung zu haben –,32 so verknüpft das erzählende Ich die Logiken von Erzählung und Rechnung – cuento und cuenta –, indem es vorgibt, sämtliche Posten des ‚schlechten Lebens‘ verlässlich aufgeführt und gegenüber Gott und dem Leser damit auch aufrichtig bekannt zu haben: Hier habe ich einen Punkt und Schlusstrich unter diese Kette von Mißgeschicken gesetzt. Ich habe die Rechnung mit meinem schlimmen Leben quitt gemacht. Das, was ich in der Folgezeit während seines ganzen Restes verbrachte, kannst du im dritten und letzten Bande sehen, sofern es mir der Himmel noch vor dem ewigen gibt, auf das wir alle hoffen. LAUS DEO Ende des Lebens von Guzmán von Alfarache, Wächter über dem Menschenleben.33
Cavillac geht in seiner Studie davon aus, dass sich (nicht nur) an den zitierten Stellen ein Einfluss bürgerlicher Mentalität auf das von Alemán aufgegriffene religiöse Konzept der Bekehrung nachweisen lässt. Die Diskurslage im Roman erweist sich aus dieser Sicht als prinzipiell doppeldeutig. Auf der einen Seite beansprucht die Konversion Guzmáns laut Cavillac durchaus spirituelle Verbindlichkeit, was sowohl daran abgelesen werden könne, dass die Überblendung von Buchhaltung und religiöser Praxis auch in Alemáns 1602 veröffentlichter Vita des Heiligen Antonius von Padua stattfinde,34 als auch an der Tatsache, dass Alemán in seinem Roman Traditionen augustinischer Gnadentheologie fortschreibe, in denen die Konversion des (sündigen) Menschen sowie Konzepte der Prädestination eine zentrale Rolle spielen.35 Auf der anderen Seite schreibe Alemán, seines
32 Vgl. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 248 f., 420, 832; Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 208 f., 366, 768 f. 33 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 845; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 905: „Rematé la cuenta con mi mala vida. La que después gasté, todo el restante della verás en la tercera y última parte, si el cielo me la diere antes de la eterna que todos esperamos.“ 34 Mit Blick auf den oben zitierten letzten Satz des Romans formuliert Cavillac: Gueux et marchands, S. 124: „Formule définitive, pour solde de tout compte, qu’Alemán employait au même moment dans le San Antonio de Padua pour authentifier l’irréversibilité d’une conversion […].“ Zur Vita des Heiligen Antonius von Padua vgl. die eingehende Untersuchung von Henri Guerreiro: El ‚San Antonio de Padua‘ de Mateo Alemán: tradición hagiográfica y proceso ideológico de reescritura. En torno al tema de pobres y poderosos. In: Criticón 77 (1999), S. 5–52. 35 Cavillac setzt sich in diesem Zusammenhang insbesondere mit der These Brancafortes (vgl. ders.: ‚Guzmán de Alfarache‘) auseinander, der in Guzmáns Heilsgewissheit ein sicheres Anzeichen für dessen pikarische Unaufrichtigkeit erkennt und diese wiederum als ironische Geste des konvertierten Juden Alemán in Richtung der ‚altgläubigen‘ Christen interpretiert. Laut Cavillac ist es viel naheliegender, das auffällig plötzliche Umschlagen des ‚alten‘ ins ‚neue‘ Leben Guzmáns und dessen Überzeugung, zu den Berufenen Gottes zu gehören, auf Grundkonzepte augustinischer Gnadentheologie zurückzuführen: „Mais pourquoi douter de la sincérité de celuici pour y déceler une parodie judaïsante du christianisme, lors même qu’un tel processus de ‚conversion‘ s’inscrit parfaitement dans le cadre d’une théologie augustienne?“ Cavillac:
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Zeichens Rechnungsrat (contador de resultas) im Dienst der spanischen Krone,36 dem religiösen Diskurs ein ökonomisches Wissen ein, dessen Geltung durch die Konversion Guzmáns erst eigentlich bestätigt werde. Cavillac sieht das Œuvre des Guzmán-Autors dabei im Kontext der politisch-ökonomischen Theoriebildungen der ‚Arbitristen‘ seiner Zeit, einer (heterogenen) Gruppe reformorientierter Gelehrter im näheren und weiteren Umkreis der sogenannten ‚Schule von Salamanca‘.37 Wie bei diesen der „impératif de l’échange“ als ökonomisches und theologisches Konzept 38 theoretisch profiliert werde, was mit einer Ersetzung des antichrematistischen, tendenziell statischen Ökonomieverständ-
Gueux et marchands, S. 117. Von einem reinen Augustinismus Alemáns kann angesichts des Textbefundes allerdings natürlich nicht die Rede sein. Wie die Forschung gezeigt hat – und Cavillacs Analyse unterstützt diese Einschätzung letztlich auch –, spielt das Konfliktpotenzial in den zeitgenössischen Debatten um die gnadentheologische Bedeutung des freien Willens eine wesentliche Rolle im Roman. Insbesondere resoniert im Guzmán die Kontroverse zwischen dem Dominikaner Domingo Báňez (1528–1604) und dem Jesuiten Luis de Molina (1535–1600) um die Frage, ob der freie Wille des Menschen durch die Erbsünde kompromittiert sei oder nicht. Zur genaueren Einschätzung des Augustinismus Alemáns vgl. Philippe Rabaté: El discurso agustiniano de Mateo Alemán: de la herencia adánica a la ‚reformación‘ individual en el ‚Guzmán de Alfarache‘. In: Criticón 107 (1999), S. 105–135. 36 Zur wechselvollen Biographie Mateo Alemáns, der Ende des 16. Jahrhunderts als mutmaßlicher jüdischer Konvertit in den inneren Kreis der Hof-Bürokratie Philipps II. aufsteigt, nach Rechtsstreitigkeiten jedoch immer wieder in Geldnöte gerät und 1608 schließlich nach Mexiko auswandert, vgl. Donald McGrady: Mateo Alemán. New York 1968. Außerdem Cavillac: Gueux et marchands, S. 174–179; Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 211 und S. 225–228. 37 Zu nennen sind hier insbesondere Martín de Azpilcueta (1492–1586), Tomás de Mercado (1525–1575), Luis Ortiz (aktiv in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts), Martín González de Cellorigo (1559–1633), aber auch der in Salamanca geborene und an der dortigen Universität ausgebildete Cristobál Pérez de Herrera (1558–1620), dessen Armutstraktat Amparo de pobres (1598) ein zentraler Referenztext für die Armutsdiskurse in Alemáns Roman darstellt. Zu den ‚Arbitristen‘ vgl. Michael D. Gordon: The Arbitristas: An Historiographical and Bibliographical Survey. In: Newsletter of the Society for Spanish and Portuguese Historical Studies 2 (1974), S. 7–23. Zur Schule von Salamanca vgl. die klassische Studie von Marjorie Grice-Hutcheson: The School of Salamanca: Readings in Spanish Monetary Theory, 1544–1605. Oxford 1952; außerdem Francisco Gómez Camacho: El pensamiento económico en la Escuela de Salamanca. In: Economía y economistas españoles. 9 Bde. Hg. von Enrique Fuentes Quintana. Bd. 2: De los orígenes al mercantilismo. Barcelona 1999, S. 37–74; Alexander Gallardo: Spanish Economics in the Sixteenth Century: Theory, Policy, and Practice. Lincoln, NE 2002. Zu dem reformorientierten Netzwerk Madrider Beamten-Autoren, zu dem neben Alemán und besagtem Cristobál Pérez de Herrera auch Alonso Barros und Hernando Soto gehört haben, vgl. Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 240–255. 38 Wie eng Theologie und Ökonomie bei den Vertretern der Schule von Salamanca verknüpft sind, zeigt unter anderem die Tatsache, dass Azpilcuetas berühmter Comentario Resolutorio de Cambios ursprünglich als Anhang an sein Manual de confesores y penitentes (1549) erschienen ist.
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nisses des Aristoteles durch ein dynamisches, marktzentriertes Modell des Austausches von Geld und Gütern einhergehe, so betone die Überwindung der „économie aliénée“, die Guzmán im Moment seiner Bekehrung gelinge, die Geltung einer „rationalité marchande“, die Cavillac als Kennzeichen bürgerlicher Mentalität begreift.39 In seiner Konsequenz erweist sich Alemáns Unternehmen der Vermittlung des ‚neuen‘, von der politischen Elite (noch) nicht akzeptierten Wissens „sous le manteau universalisant d’une théologie de la grâce“ 40 damit als ebenso subversiv wie progressiv. Wenngleich Cavillac betont, dass sich die Geltungen von Religion und Ökonomie im Konversionszusammenhang gegenseitig verstärken,41 legt der pikarische Text doch Lektüren nahe, in denen die Hierarchie von religiösem und profanem Wissen zugunsten einer „traduction du spirituel en termes historiques“ umgekehrt wird.42 Impliziert ist darin eine anti-anagogische Tendenz des Lesens: Der Blick des in religiöse Deutungsmuster eingeübten Rezipienten wird über die transzendente Ebene gewissermaßen in die irdische Sphäre zurückgeleitet, in der sich das als volkswirtschaftliches Remedium angebotene Ökonomiewissen der ‚Arbitristen‘ praktisch zu bewähren hat.43 Cavillacs von Grundannahmen der Annales-Schule geprägte Perspektive auf das Ende des Guzmán-Romans weist Schwachstellen auf, die in der jüngeren Forschung benannt worden sind. So hat zumal Anne J. Cruz darauf hingewiesen, dass Cavillacs Annahme, Guzmán fungiere als „literal embodiment[ ] of the merchant class“ vom Text insofern nicht gedeckt sei, als dieser der Figur vielmehr „an overdetermined status“ verleihe, „one that encompasses all the dubious circumstances of the ‚other‘.“ 44 Wird auf dieser Basis letzthin auch 39 Cavillac: Gueux et marchands, S. 137. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 139: „En jouant sur l’ambiguïté des concepts axiaux […], le romancier ne s’était pas privé de renvoyer son lecteur à un double context (laïc et sacré) dont les valeurs se confortaient mutuellement.“ 42 Ebd. 43 In diesem Sinne konstatiert Cavillac (ebd.), „l’augustinisme alémanien se veut surtout un puissant ferment de réalisme moral, économique et politique“. Berufen kann er sich dabei unter anderem auf die dem zweiten Teil vorangestellte Lobrede eines gewissen Luis de Valdes auf Mateo Alemán, in der dieser das Buch als „lustvolle und klare Schule erlesener Politik, Ethik und Ökonomie“ preist. Dabei folgt auch Valdes, hinter dem möglicherweise niemand anderes als der Autor selbst steckt, dem arbitristischen Imperativ des Austausches. Alemán habe seine philosophisch-praktische Lehre dem Leser geschenkt, „damit man ihrer als einer solchen begehrt, sie sucht und liest: was schenke ich ihm [dem Autor, S. Z.] dann? – was tue ich hier anders, als ihm zahlen, was ihm so rechtens geschuldet wird?“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 416. 44 Anne J. Cruz: Discourses of Poverty. Social Reform and the Picaresque Novel in Early Modern Spain. Toronto 1999, S. 99 f. Wie sich ergänzen lässt, ist damit auch die sozialhistorisch noch weiter gefasste These Cavillacs hinfällig, Guzmán sei der Träger einer ‚bürgerlichen Men-
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die These problematisch, dass die Konversion Guzmáns als eine Art religiöser Transmissionsriemen zur Vermittlung ökonomischen Wissens fungiere – je weniger der Leser dem „dubious conversion narrative“ 45 Guzmáns Glauben schenken mag, desto zweifelhafter muss auch dessen Wirksamkeit als Multiplikator eines konkreten politisch-ökonomischen Reformprogramms erscheinen –, so können die alternativen Deutungsvorschläge, die Cruz zu bieten hat, in ihrer Plakativität doch auch nicht völlig überzeugen. Ihre Annahme, Alemáns Roman sei als eine „defence of mercantilism“ ex negativo zu verstehen, die sich des arbeitsscheuen Picaro als eines Sündenbocks bediene, um „the general scorn heaped on industrialization and trade as a means of developing the economy“ zu geißeln,46 polt die Perspektive Cavillacs bloß um, ohne den Dunstkreis sozialhistorischer Thesenbildungen zu verlassen. Auffällig ist dabei, dass Cavillac und Cruz offenbar gleichermaßen sicher zu bestimmen wissen, auf welche Wirklichkeit Guzmáns Erzählung referiert.47 Ganz unabhängig von der Frage, ob die Bekehrung des Picaro nun aufrichtig ist oder nicht, scheinen sozialhistorische Lektüren des Romans dazu zu neigen, die Ebene der Form, einschließlich der der Signifikation, auszublenden und die Gegenstände des Erzählens in den Mittelpunkt der Betrachtung zu rücken. Dass damit ein wesentlicher Aspekt des Spiels des Textes mit dem – hier offenbar in Bewegung befindlichen – Ökonomiewissen seiner Zeit für die Analyse verloren geht, soll im Folgenden mittels einer genaueren Inblicknahme der Beziehung von Buchhaltung und Erzählung, cuenta und cuento, andeutungsweise gezeigt werden.48
talität‘. Ganz abgesehen davon, dass es kaum möglich sein dürfte, eine solche mit Blick auf die Zeit um 1600 zuverlässig zu bestimmen, zeichnet es die pikarische Figur gerade aus, Muster sozialer Identität zu durchkreuzen. Guzmán ist, wie Cruz richtig bemerkt, nicht Bürger, sondern – auch und vielleicht gerade im Moment seiner Bekehrung – eine proteische Verkörperung des Anderen. 45 Cruz: Discourses of Poverty, S. 229, Anm. 22. Wie dem Zitat zu entnehmen ist, gehört Cruz zu denjenigen, die die Bekehrung Guzmáns für einen mehr oder weniger einfach zu durchschauenden fake halten. 46 Ebd., S. 96. 47 Ihre Beschreibungen der sozialen Wirklichkeit differieren dabei zwar, genauso wie die Deutungen der Funktion des pikarischen Textes in derselben. Außer Frage steht für beide Autoren jedoch, dass die Beschreibung der sozialen Wirklichkeit als Schlüssel zur Deutung des Romans herangezogen werden kann (oder sogar muss). Bei allen Erträgen, die dieses Vorgehen offensichtlich zeitigt, bleibt der literaturwissenschaftliche Rekurs auf sozialgeschichtliches Wissen problematisch: Es drohen pauschale, bei näherem Hinsehen wenig abgesicherte Annahmen in die Deutung importiert zu werden, die dann schlimmstenfalls nur noch dazu dient, ein sozial- oder wirtschaftsgeschichtliches Wissen zu bestätigen, das der Historiker ohnehin bereits zu besitzen meint. 48 Es werden im Folgenden Schnittstellen von Erzählen und Ökonomie herausgegriffen, die für Albertinus’ Adaption des Textes eine besondere Rolle spielen. Eine erschöpfende Behand-
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In der fiktiven Schreibszene des Romans wird die Frage aufgeworfen, ob und wie Zeit- und Handlungsabläufe des Lebens, die in der Vergangenheit liegen, symbolisch fixiert und für den Beobachter – das erzählende Ich, aber auch den Leser – lesbar gemacht werden können. Guzmán, so heißt es im schon zitierten letzten Satz des Zweiten Teils, will durch das Aufschreiben seiner Vita einen „Punkt und Schlusstrich unter diese Kette von Mißgeschicken“ setzen und „die Rechnung mit [s]einem schlimmen Leben quitt“ machen.49 Das Versprechen, das der Picaro damit gibt, lautet auf totale Evidenz: Um zu der „faithful representation of things“ 50 zu kommen, die die Vita zu einer epistemisch zuverlässigen Erzählung macht, will Guzmán sich an ein Verfahren der Verbuchung von Handlungen (actiones) halten, das dem zentralen kaufmännischen Mittel der Kontingenzbewältigung, der Buchhaltung, in seinem Anspruch auf Rationalität und intersubjektive Verbindlichkeit gleicht. Aufgerufen ist in Alemáns Text damit ein Konzept, das um 1600 bei aller Aktualität doch keineswegs neu ist. Im Kern findet sich die Vorstellung einer ratio vitae bereits in der stoischen Philosophie bei Seneca. In den Epistolae ad Lucilium klärt dieser seinen Schüler Lucilius darüber auf, wie er unnötigen Zeitverlust vermeiden könne. Kein Gut, so Seneca, sei dem Menschen wirklich eigen – außer seiner Lebenszeit, die jedoch, an sich schon flüchtiger Natur, ständigen Bedrohungen durch Dritte ausgesetzt sei.51 Um das knappe Eigentum nicht zu verschleudern – Seneca nennt hier das Vertun des Lebens mit üblen Handlungen sowie im Müßiggang –,52 sei es nötig, über seinen Verbrauch genau Buch zu führen: Ich will es freimütig gestehen: was bei einem wohlhabenden, aber sorgfältigen Menschen üblich ist – die Buchführung [ratio] über meinen Aufwand stimmt. Nicht kann ich behaupten, nichts zu verlieren, aber was ich verliere und warum und auf welche Weise, kann ich sagen; über die Ursachen meiner Armut will ich Rechenschaft ablegen.53
lung der ökonomischen Aspekte, die der pikarische Diskurs in Alemáns Roman aufweist, kann hier nicht unternommen werden. Sie bleibt der romanistischen Spezialforschung zum Roman überlassen, die dabei an die nach wie vor unübertroffenen Einsichten Cavillacs anschließen kann. 49 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 845. 50 Wie eingangs bereits zitiert: Bacon: Of the Dignity (Book I–VI), S. 305. 51 Seneca fasst dies folgendermaßen: „Alles, Lucilius, ist fremdes Eigentum, die Zeit allein ist das unsere; in dieser einen Sache, die flüchtig und unzuverlässig, Besitz hat die Natur uns eingesetzt, aus dem uns vertreibt, wer immer will.“ L. Annaeus Seneca: Epistolae ad Lucilium 1,4. Hier zit. nach: L. Annaeus Seneca: Ad Lucilium epistolae morales I–LXIX – An Lucilius Briefe über Ethik 1–69. Übersetzt, eingeleitet und mit Anm. versehen von Manfred Rosenbach. Darmstadt 1980, S. 5. 52 Vgl. ebd. 53 Ebd.
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Senecas Anweisung, den Zeitverlust durch die Einrichtung einer Zeitökonomie zu minimieren, stößt bei humanistisch geprägten Autoren der italienischen Renaissance auf große Resonanz. Paradigmatisch formuliert, findet sich deren an kaufmännischen Idealen geschultes Verständnis der Zeitökonomie bei Leon Battista Alberti, der in seinen Büchern Della Famiglia Senecas Gebot, der Mensch möge sein einziges Eigentum, die Zeit, nicht verschwenden, explizit aufgreift und den Nachwuchs des Hauses dazu auffordert, in Familie und Geschäft alle Dinge nach der Zeit zu ordnen.54 Haus-, Familienbücher und kaufmännische ricordi dieser Zeit zeugen dabei von der engen Verbindung (auto-) biographischer und buchhalterischer Praxis.55 Hier wie dort geht es den Autoren darum, die Kontingenzpotenziale einer vita activa zu beherrschen, die, wie Luca Pacioli in seinem berühmten Buchhaltungs-Traktat De computis et scripturis (1494) schreibt, den Kaufmann als ‚anderen‘ Argus fordern: Wer kann die Vorgänge und Fälle zählen, die einem Kaufmann unter die Hände kommen, bald zu Wasser und zu Lande, bald zur Zeit des Friedens und des Überflusses und bald zur Zeit des Krieges und der Hungersnot […]? Der Kopf des Kaufmanns wurde auch schon mit einem Kopfe verglichen, der hundert Augen hat, die aber noch nicht ausreichen, weder für das Sprechen noch für das Handeln.56
Mit den Autoren der ricordi teilt Pacioli die Überzeugung, dass das Verfahren der Buchhaltung nicht nur dem Zweck dient, den „Körper des ganzen Geschäftes“ zu beobachten.57 Vielmehr soll der Mensch über das Ausrechnen von Soll und Haben auch ein möglichst exaktes Wissen von sich selbst gewinnen. „Du
54 Der im Einleitungsteil bereits zitierte Kernsatz aus Albertis Dialog Della famiglia (1437– 1441) lautet: „Per questo, figliuoli miei, si vuole observare il tempo, et secondo il tempo distribuire le cose, darsi alle faccende, mai perdere una ora di tempo.“ Alberti: I primi tre Libri della Famiglia, S. 255. 55 Die erhaltenen ricordi Oberitaliens sind in einer Anthologie leicht zugänglich: Vittore Brancaforte (Hg.): Mercanti scrittori. Ricordi nella Firenze tra Medioevo e Rinascimento: Paolo da Certaldo, Giovanni Morelli, Bonaccorso Pitti e Domenico Lenzi, Donato Velluti, Goro Dati, Francesco Datini, Lapo Niccolini, Bernardo Machiavelli. Milano 1986. Die englische Übersetzung: Vittore Brancaforte (Hg.): Merchant Writers of the Italian Renaissance from Boccaccio to Machiavelli. Übersetzt von Martha Baca. New York 1999. 56 Hier zit. nach der deutschen Übersetzung: Luca Pacioli: Tractatus de computis et scripturis/Abhandlung über die Buchhaltung (1494). Nach dem italienischen Original von 1494 ins Deutsche übersetzt und mit einer Einleitung über die italienische Buchhaltung im 14. und 15. Jahrhundert und Paciolis Leben und Werk versehen von Balduin Penndorf. Stuttgart 1933, S. 94 f. Der Traktat zur Buchhaltung stellt ein Kapitel aus Paciolis Summa de Arithmetica Geometrica Proportioni et Proportionalita dar, die zu den wichtigsten mathematischen Abhandlungen der Frühen Neuzeit gehört. 57 Ebd., S. 97.
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wirst Dein Konto erkennen, nämlich Dich selbst“,58 stellt Pacioli dem Buchhalter in Aussicht – und transponiert damit den seit der Antike tradierten Imperativ menschlicher Selbsterkenntnis (nosce te ipsum) auf die Ebene kaufmännischökonomischer Praxis. Als besonders präzises Mittel zur Ordnung des Eigenen birgt diese im humanistischen Diskursumfeld genuin ethische Implikationen. Voraussetzung dafür ist bei Pacioli die Zuverlässigkeit der ratio, ohne die die symbolische Repräsentation des Eigenen im Kontobuch keine Geltung haben kann. An Gefährdungen derselben fehlt es dabei auch in De computis et scripturis nicht. So warnt Pacioli den Leser ausdrücklich vor Kaufleuten, die „ihre Bücher doppelt führen, und das eine dem Käufer, das andere dem Verkäufer zeigen, und was noch schlimmer ist, bei ihnen hoch und teuer schwören“.59 Die Einsicht, dass die verba – seien es nun Zahlen oder Worte (Schwüre) – mit den ökonomischen res nicht übereinstimmen müssen, ist im Diskurs schon in der Antike angelegt.60 Im Rahmen des Zuverlässigkeitsparadigmas, das Paciolis Kunst der Buchhaltung formuliert, erhält das Problem jedoch eine neue semiologische Tiefenschärfe. Bedroht wird die Zuverlässigkeit der ratio demnach von zwei Seiten. Zum einen kann das Buch vom Kaufmann in betrügerischer Absicht gefälscht werden, wofür die von Pacioli erwähnte Herstellung mehrerer voneinander abweichender Versionen desselben ein Beispiel gibt. Zum anderen kann es im symbolischen Transfer der res zu Fehlern kommen, die vom Buchhalter nicht beabsichtigt sind, die Evidenz seiner ratio gleichwohl zu einer trügerischen Schein-Evidenz machen. In beiden Fällen spielt eine entscheidende Rolle, dass bei der Herstellung von Kontobüchern laut Pacioli unter den facultates animi insbesondere die „fantasia“ 61 zum Einsatz kommt – als dasjenige der Verstandesvermögen nämlich, das nach Aristoteles dafür zuständig ist, „Vorstellungsbilder in Abwesenheit der äußeren Gegenstände zu reproduzieren und aus vorhandenen Vorstellungen neue Bilder zu kombinieren“.62 Es liegt auf der
58 Ebd., S. 62. 59 Ebd., S. 100. 60 So ist sie etwa im Bibelgleichnis vom ungerechten Haushälter enthalten, der durch die mutwillige Modifizierung von verba – er schreibt die Schuldscheine der Schuldner seines Herrn zu dessen Ungunsten um – auf symbolischer Ebene eine Wirklichkeit schafft, die mit der Ordnung der ökonomischen res auf Erden nicht übereinstimmt (Lk 16,1–8). Dass dieser Eingriff im Evangelium als Beispiel für besondere Klugheit gelobt wird, versteht sich vor dem Hintergrund der eschatologischen Funktion des Gleichnisses (Lk 16,9) und markiert damit eine deutliche Grenzlinie zwischen christlich-religiöser und profaner Perspektivierung der (irdischen) oeconomia. 61 Pacioli: Tractatus de computis et scripturis, S. 130. 62 So mit Bezug auf die klassische Stelle bei Aristoteles (De anima III,3) Thomas Dewender: Zur Rezeption der Aristotelischen Phantasialehre in der lateinischen Philosophie des Mittelal-
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Hand, dass unter diesen Bedingungen die genaue Regelung des Verfahrens und seine institutionelle Absicherung von entscheidender Bedeutung sind. Pacioli erkennt das und schreibt dem Buchhalter daher vor, nicht nur keine Abweichung im Vorgehen zuzulassen, sondern Buch und Rechnung auch durch ein darauf gezeichnetes Kreuz vor dämonischen Angriffen zu schützen.63 Zur Bewahrung des Gemeinwesens vor betrügerischen Kaufleuten ruft er außerdem die Behörden dazu auf, die Authentizität der Bücher an der Handschrift des Buchhalters zu überprüfen und amtlich – per Siegel – zu beglaubigen.64 Erst dort, wo alle drei Strategien zur Disziplinierung der ‚fantasia‘ greifen – die verfahrenstechnisch-rationale, die religiös-dämonologische und die juristischbürokratische –, kann die Buchhaltungskunst Evidenz im epistemischen Sinne entfalten. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund nun die poetologische Bezugnahme des Picaro auf die Buchhaltung verstehen? Zunächst ist noch einmal daran zu erinnern, dass die buchhalterische Evidenzierung des (schlechten) Lebens im Fall Guzmáns einem religiösen Zweck dient (oder dienen soll). Dies wird nicht nur dadurch deutlich, dass Guzmán – ganz wie die Buchhalter seiner Zeit – die cuenta mit einem Lob Gottes („LAUS DEO“) beschließt, was zum einen als spirituelles Aufrichtigkeitssignal verstanden werden kann, zum anderen die von Pacioli beschriebene Funktion erfüllen mag, den Zeichentransfer vor diabolischen Interventionen zu schützen. Auch gehört die Vorstellung von der genauen Aufrechnung der guten und schlechten Taten des Menschen, einschließlich der Rolle Gottes als oberstem Buchhalter, in einen Komplex der Überblendung ökonomisch-merkantiler und religiöser Semantik, der, wie Cavillac gezeigt hat, etwa auch in Alemáns Vita des heiligen Antonius von Padua virulent ist.65 Dabei – wie oft geschehen – davon auszugehen, dass das Rechnen mit bösen und guten Werken, Heil und Verdammnis als solches ein Symptom des Rückbaus
ters. In: Imagination – Fiktion – Kreation. Das kulturschaffende Vermögen der Phantasie. Hg. von Thomas Dewender, Thomas Welt. München, Leipzig 2003, S. 141–160, hier S. 142. 63 Vor dem Kreuz fliehe „jeder unserer höllischen Feinde […] und [zittere] das ganze Höllenpack“. Pacioli: Tractatus de computis et scripturis, S. 98. 64 Ebd., S. 99 f. 65 Vgl. Cavillac: Gueux et marchands, S. 124 et passim. Es wird anhand der Alemán-Adaption des Aegidius Albertinus noch zu zeigen sein, dass der Buchhaltungstopos auch im streng ‚gegenreformatorischen‘ Gusman von Alfarche virulent bleibt. Es ist daher nicht anzunehmen, dass er zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Verdacht stand, subversiv zu wirken (vgl. dazu Abschnitt 3.5 dieser Arbeit). Zur Verknüpfung theologischer und ökonomisch-kaufmännischer Semantik in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. die grundlegenden Arbeiten von Le Goff: Temps de l’église; ders.: Wucherzins; ders.: Die Geburt des Fegefeuers. Vom Wandel des Weltbildes im Mittelalter. Stuttgart 1984.
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religiöser Ordnungen ist, wird der Gemengelage in Theologie und religiöser Praxis der Frühen Neuzeit sicher nicht gerecht. Gefragt werden sollte stattdessen eher, welchen Diskursregeln das Erzählen im Funktionsrahmen der Buchhaltungsanalogie untersteht und inwieweit Guzmán diese erfüllt. Tut man dies, ergeben sich Perspektiven auf die epistemische Instabilität bzw. Subversivität des pikarischen Bekenntnisses, die der Absicherung durch pauschalisierende sozial- und religionshistorische Thesenbildungen nicht bedürfen. Was an den Formulierungen Guzmáns unmittelbar auffällt, ist der Umstand, dass seine Taten nicht in einer, sondern in zwei Buchhaltungen dokumentiert werden. Auf der einen Seite schreibt sich Guzmán selbst die Autorität als Buchhalter seines Lebens zu („Rematé la cuenta con mi mala vida […].“). Auf der anderen Seite ist es Gott, der als Kontoführer im Himmel sämtliche Kapitalbewegungen innerhalb der Heilsökonomie registriert – und mit seinen unerschöpflichen Gnadenmitteln die Schulden des Sünders deckt: „Diese Mühsal, diese Leiden und diesen Eifer“, so die schon zitierte Selbstadresse Guzmáns, „[…] setz auf Gottes Konto. Belaste ihn sogar mit dem, was du verlierst, er wird es sicher auf sein Konto übernehmen und von deinem Schuldposten absetzen. […] Sofern du es ihm überläßt, rechnet er dein Kapital zu dem seinen und macht es dadurch unendlich kostbar, du aber genießt das ewige Leben.“ 66 Die Doppelung der Buchhaltungen scheint sich auf den ersten Blick ins theologische Konzept der Bekehrung, das im Text – mit changierenden Bezügen auf augustinische, bañistische und molinistische Lehrelemente – um den ‚freien Willen‘ sowie die auxilia gratiae dei kreist,67 gut einzufügen, geht es doch auch dort um ein zweistöckiges System: Qua arbitrium liberum hat der Mensch nach tridentinischer Lehre die Möglichkeit, sich jederzeit für das Gute – Gott – zu entscheiden, was Guzmán tut (oder zu tun vorgibt), wenn er im Akt des Bekennens mit seiner „mala vida“ abrechnet und sich auf diese Weise die – wie auch immer: hinreichende, wirksame oder helfende – Gnade Gottes verdient.68 Deren (Mit-)
66 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 828. 67 Man hätte sich hinsichtlich der theologischen Zuordnung des Romans wohl einiges an – tendenziell pedantischen – Debatten ersparen können, hätte man Francisco Ricos bereits 1967 getroffene Einschätzung, Alemán rezipiere die Rechtfertigungslehren seiner Zeit, ohne sich für eine Position eindeutig zu entscheiden, früher schon zum Konsens gemacht. Möglich wäre dann gewesen, mehr Energien in die Erforschung der Pluralität der theologischen Konzepte zu stecken, die der pikarische Text ventiliert. Ricos Stellungnahme zur Frage findet sich erstmals in ders.: Introducción. In: La novela picaresca española, Bd. 1, S. VII–CLXXXIX, hier S. CXXXIX–CXLI, Anm. 49. 68 Die Attribuierungen der Gnade spielen in der theologischen Debatte zwischen Baňez und Molina eine zentrale Rolle, können hier aber nicht weiter problematisiert werden. Vorliegende Argumentation zielt auf ein anderes Problem, das in der strukturellen Logik des Diskurses gewissermaßen vor den theologischen Spezialfragen liegt.
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Wirken bei der Rettung des Sünders – ganz gleich, wie sicher es diesem erscheinen mag – bleibt der irdischen Buchhaltung als Gegenstand aber freilich entzogen: Der über die Erlösung entscheidende Transfer der Gnadenmittel in die Heilsökonomie fällt in die Zuständigkeit Gottes, dessen Kontobuch weder Guzmán noch der Leser einsehen können. Es liegt auf der Hand, dass aufgrund dieser strukturell gegebenen Sichtbarkeitsgrenze das Zuverlässigkeitsproblem des Erzählens an Brisanz gewinnt. So bezieht Guzmán in seine Heilsrechnung zwar mit ein, dass er dem Herrn mit ‚trabajos‘ (Mühen), ‚padeces‘ (Leiden) und ‚cuidado‘ (Sorgfalt) 69 diene – ob dieses christliche Buß- und Werk-Kapital im himmlischen Kontobuch aber tatsächlich registiert ist und von Gott mit einem wirksamen Zuschuss von Gnadenmitteln quittiert wird, ist vom ambivalenten ‚punto de vista‘ (Rico) der pikarischen Erzählung aus nicht zu entscheiden. In dieser Hinsicht stellt die Operation der narrativen Evidenzherstellung, deren Produkt die Vida ist, ein Unternehmen dar, das die für die Buchhaltung essentielle Möglichkeit der Gegenprüfung ausschließt.70 Auf den möglichen Einwand, auf Grundlage dieser Überlegungen müsste am Ende die gesamte Tradition confessio-förmiger christlicher Autobiographik – einschließlich des augustinischenArchitextes – unter Unzuverlässigkeitsverdacht gestellt werden, lässt sich mit dem Hinweis auf die besondere Konstellation von Figur und Buchhaltungswissen in Alemáns Roman antworten. So darf bei der Beurteilung der Zuverlässigkeit der pikarischen Konfession nicht ausge-
69 Spechts Übersetzung von „cuidado“ als „Eifer“ (Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 828) ist eher unglücklich: Im Kontext der Buchhaltung, den Guzmán mit seinen Formulierungen eröffnet, fungiert ‚cuidado‘ als ein Begriff, der das Moment der Sorgfalt und des wohlüberlegten Handelns betont (span. ‚cuidado‘ von lat. ‚cogitatus‘). 70 Dies unterscheidet den Bezug auf die Buchhaltung im pikarischen Text grundlegend vom Bezug auf die Buchhaltung in der Heiligenvita, die Alemán 1602 vorlegt. Wie schon erwähnt, wird der heilige Antonius von Padua in dieser ebenfalls als Figur vorgestellt, die über ihr ‚schlechtes Leben‘ Rechenschaft ablegt, um zu einem neuen Leben in Gott zu finden. Die Schlüsselstelle lautet: „El Santo fue apretando esta dotrina, y con ella los coraçones destos hombres, de tal manera, que dexada su ferocidad atroce, trataron de reduzirse al verdadero camino de su saluacion, y dentro de tercero dia se confessaron con el, con animo resuelto de rematar quella mala cuenta, haziendo libro nueuo, son borrones de torpezas, ni debito de semejantes vicios; poniendo en credito la emienda, y actos de verdadera penitencia.“ Hier zitiert nach der Ausgabe: Mateo Alemán: S. Antonio de Padua […]. Valencia: Pedro Patricio Mey 1607, S. 117v–r. Indem hier in der dritten Person Singular von „El Santo“ die Rede ist, schließt der Text jeden Zweifel an der Korrektheit der individuellen Rechnungslegung der Figur aus. Die Wirksamkeit der göttlichen Gnade hat sich am heiligen Antonius von Padua ohnehin ja schon gezeigt, der heilsökonomische Transfer hat sich für den (altgläubigen) Leser sichtbar vollzogen. Vgl. dazu auch die erhellenden Ausführungen von Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 223–230.
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blendet werden, dass Guzmán im Text als Figur vorgestellt wird, die in der Lage ist, Buchhaltungen zu fälschen. Einen eindrücklichen Beleg dafür liefert eine Episode im zweiten Teil des Romans, die – wohl nicht zufällig – im Umfeld oberitalienischer Handelskaufleute angesiedelt ist. Guzmáns Opfer, ein reicher Mailänder Kaufmann, setzt bei der Verwaltung des Geschäftes auf die Buchhaltungskunst, wie Pacioli sie beschreibt: Jede Bewegung von Gütern und Geld, jede Transaktion zwischen seinem Kontor und der Welt wird im Journal, dem Basistext der Buchhaltung, chronologisch registriert und einer Bilanzposition (Soll/Haben) zugewiesen. Guzmán, der weiß, dass der Kaufmann im Geschäft einen Sack mit dreitausend Escudos und eine Schatulle mit zweitausend Realen verwahrt hält, setzt auf die Manipulierbarkeit der Zeichen, um sich zum Eigentümer des Geldes zu machen. Mit der Hilfe eines Bekannten, der im Kontor des Kaufmanns arbeitet, schreibt er sich unter dem Pseudonym Don Juan Osorio in dessen Buchhaltung ein. Sein Vorgehen zeugt dabei von höchster Raffiniertheit: Zunächst verzeichnet er den Betrag mit seinem (falschen) Namen im Journal. Dann streicht er den Posten wieder durch und vermerkt am Rand mit veränderter Handschrift, das Geld sei besagtem Don Osorio bereits zurückgegeben worden. Schließlich fordert er seinen Komplizen auf, zwei Zettel mit Besitzvermerken in die Geldbehältnisse zu stecken, die vorderhand im Kontor verbleiben: Als Aguilera [der Diener, S. Z.] mir die Kladde brachte, die ich von ihm gefordert hatte, suchte ich ein Blatt heraus, auf welchem sich acht Tage alte Eintragungen befanden, und schrieb auf eine gut geeignete freie Stelle Folgendes: ‚Don Juan Osorio hat mir dreitausend Escudos zur Aufbewahrung gegeben, zehn in Stücken zu zehn und die übrigen in Stücken zu zwei und vier. Außerdem hat er mir zweitausend Reale in Realen hinterlegt.‘ Dann strich ich durch, was ich geschrieben hatte, und schrieb mit einer anderen Schrift an den Rand: ‚Er hat sie abgeholt, er hat sie abgeholt.‘ […]. Ich gab ihm außerdem zwei Zettelchen; auf das eine hatte ich geschrieben: ‚Diese dreitausend Escudos gehören Don Osorio.‘ Auf das andere aber: ‚Dies sind zweitausend Reale, und ihr Besitzer ist Don Juan Osorio.‘ Ich erklärte ihm, wenn in der Katze irgend ein anderer Zettel läge, solle er ihn herausnehmen, so daß allein der meine darin bliebe […].71
Guzmáns Plan, den Betrugsverdacht auf den nicht eben gut beleumundeten Kaufmann zu lenken, geht auf. Zwar weigert dieser sich zunächst, das Geld
71 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 597; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 658: „Ya, cuando […] Aguilera me trujo el libro borrador que le pedí, busqué una hoja de atrás, donde hubiese memorias de ocho días antes, y en un blanco que hallé bien acomodado puse lo siguiente: ‚Dejomé a guardar don Juan Osorio tres mil escudos de oro en oro, los diez de a diez y los más de a dos y de a cuatro. Más me dejó dos mil reales, en reales.‘ Luego pasé unas rayas por cima de lo escrito y a la margen escrebí de orta letra diferente: ‚Llevólos, llevólos‘. […] Dile más dos bervetes, uno en que decía: ‚Estos tres mil escudos en oro son de don Juan Osorio‘; y el otro:
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herauszugeben, doch hat er gegen die (Schein-)Evidenz der aufeinander verweisenden Dokumente keine Chance. Als vor den Augen der hinzugezogenen Gerichtsbüttel die Zettel in den Behältnissen gefunden werden, scheint allen Beobachtern klar, dass der Kaufmann den Posten in seiner Buchhaltung gestrichen hat, um sich das Geld des unschuldigen Don Osorio anzueignen.72 Entsprechend abgründig und subversiv nimmt sich die Lehre aus, die Guzmán dem Leser zur Einordnung der Episode an die Hand gibt. Er hatte, wie ich sagte, einen schlechten Ruf, und damit war in meiner Angelegenheit bereits die Hälfte bewiesen. Das aber haben Leute, die ein schlechtes Leben [!] führen, immer gegen sich: wenige Indizien genügen und machen die andere Hälfte voll.73
Als moralische Sentenz funktioniert die Formulierung nur insoweit, als Guzmán angesichts des Geschehens mit einigem Recht auf die Macht der Vorurteile verweisen kann, die die menschliche Urteilsfähigkeit gerade dort einschränkt, wo uralte Traditionen – in diesem Fall die des Antichrematismus – für eine schablonenartige Rasterung der Welt in Gut und Böse sorgen.74 Appliziert der Leser die Moral dagegen auf Guzmán als Autor seiner Vida – was der Text (oder Guzmán selbst?) durch den Buchhaltungsbezug sowie die Erwähnung des ‚schlechten Lebens‘ geradezu herausfordert –, erweist sich die Aussage als zweideutig
‚Aquí están dos mil reales de don Juan Osorio, su dueño‘. Advertíle que si dentro del gato hubiese algún otro bervete, lo sacase y dejase solo el mío […].“ 72 Das Evidenzmoment wird in Guzmáns Analyse des Geschehens auffällig betont: „Alles, was ich sagte, war ganz sicher und augenscheinlich; man konnte sehen, daß die Posten durchgestrichen und die Geldbeträge gekennzeichnet waren und daß in jedem Beutel ein Zettel lag, auf dem der Name des Besitzers stand: das alles bestärkte aber die Leute darin, sich auf meine Seite und gegen ihn zu stellen […].“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 605 f. 73 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 605; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 665 f.: „Él – como dije – tenía mal nombre, que para mi negocio estaba probado la mitad. Y aquesto tienen siempre contra sí los que mal viven: pocos indicios bastan y la hacen plena.“ 74 Dass sich Guzmán in diesem Zusammenhang als Kenner der Vorurteile gegen die Händler entpuppt, kann nicht verwundern. Um alle Zeugen des Geschehens an dieselben zu erinnern, ruft er im entscheidenden Moment aus: „‚Ihr böser Mann, Ihr böser Handelsmensch, Feind Gottes ohne Wahrheit und Gewissen, wie konntet Ihr mir denn, wenn Ihr mein Geld in Händen hattet, wie alle Welt gesehen hat und weiß, die Niederschrift darüber durchstreichen?‘“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 604. Angesichts dieser Steuerung von Wahrnehmung und Urteilskraft rückt die Frage, ob der pikarische Betrug in der Episode einen Betrüger trifft – und damit als solcher eine moralische Funktion hat –, beinahe in den Hintergrund. Wenngleich der schlechte Leumund sowie die Tatsache, dass sich sein eigener Diener gegen ihn wendet, gegen den Kaufmann sprechen, ist doch zu bemerken, dass die Figur in dem Fall, um den es geht, offensichtlich unschuldig ist. Das unterscheidet die Episode von solchen, in denen die initiale Betrugsintention vom ‚betrogenen Betrüger‘ ausgeht, womit die moralischen Verhältnisse tendenziell klarer gestaltet erscheinen.
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genug, um das Konzept der moralischen Sinnstiftung effektiv auszuhebeln. Was Guzmán in der Mailänder Episode nämlich vorführt, ist nicht nur, dass Evidenzen auf symbolischer Ebene so geschickt manipuliert werden können, dass es für den Beobachter nicht mehr möglich ist, zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. Vielmehr zeigt die Anwendung der Manipulationskunst – von Guzmán prahlerisch „verdadera ciencia“ 75 genannt – auch, dass Guzmán sein Handeln auf Erwartungen zweiter Ordnung einzustellen weiß, wodurch die Perspektive des Beobachters, einschließlich dessen mutmaßlicher Skepsis gegenüber dem ‚Anderen‘ (als Kaufmann, als Betrüger etc.), in die pikarische Rede immer schon einkalkuliert erscheint.76 Aus der logischen Schleife, die sich dadurch ergibt, führt kein Weg heraus: Wer Guzmán darin folgt, dass durch einen schlechten Ruf eben immer nur „die Hälfte bewiesen“ ist, man von einer (Vor-)Verurteilung des Gegenübers also besser absehen solle, sieht sich der Gefahr ausgesetzt, eben die „Indizien“ beiseite zu schieben, die das Gegenüber – Guzmán – beiseite geschoben sehen will, um seine betrügerische Agenda durchzusetzen. Umgekehrt droht der Beobachter, der von den Indizien auf die generelle Unaufrichtigkeit der Figur schließt, zum kleingläubigen Zweifler an der göttlichen Gnade zu werden: So wie der Mailänder Kaufmann trotz stimmiger Bücher zum Betrüger erklärt wird, könnte der Vorwurf der Manipulation den Buchhalter Guzmán just in dem Moment treffen, in dem Gott ihm ein ‚neues‘ Leben im Zeichen der Gnade geschenkt hat. Aus den Überlegungen zur Evidenzproblematik der Buchhaltungskunst, die in Alemáns Roman unter poetologische Vorzeichen gestellt ist, lassen sich Rückschlüsse auf die moralische Funktion des Erzählens ziehen. Diese entfaltet sich im Guzmán de Alfarache nicht nur dort, wo die pikarische Figur ihr Handeln und das anderer Figuren im Rückgriff auf praktisch-moralisches Wissen deutet und kommentiert – wobei dieses Wissen seine Geltung im Kontext kasuistisch jeweils entfalten mag oder nicht. Von entscheidender Bedeutung für die moralische Dimension des Erzählens ist auch und insbesondere das Spiel mit der Möglichkeit unaufrichtiger Rede, das, durch keine (textinterne) Autorität eingehegt, für den Leser zu einer Schule des Umgangs mit doppelter Kontingenz und ‚Erwartungserwartungen‘ (Luhmann) wird. Nicht verwundern kann vor diesem Hintergrund, dass Alemán den (impliziten) „lector“ in der berühmten Leservorrede zum ersten Teil als „discreto“ – klug – entwirft und zum Führen einer
75 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 667. 76 Eine Deutung pikarischen Listhandelns vor dem Hintergrund der Luhmann’schen Theorie doppelter Kontingenz schlägt an dem von ihm gewählten Beispiel, der Buscón-Adaption von La Geneste, Mohr: ‚Buscón‘ französisch, S. 230 f., vor.
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eigenen Buchhaltung aufruft.77 Der Roman, so Alemán, diene dem Gemeinwohl („bien común“), wobei er als Autor seinen Gewinn („interés“) zugunsten desjenigen des Lesers zurückstelle.78 Damit der Leser vom Buch aber profitieren könne, müsse er, wie ein kluger Ökonom oder Kaufmann, das Angebot, das der Text mache, nach Verwertbarem sondieren: „[E]mpfange du das Nützliche mit offenen Armen und schreibe das Unnütze oder Schlechte auf meine Rechnung.“ 79 Auch wenn hier auf den ersten Blick ein ganz ähnliches Geschäftsverhältnis vorzuliegen scheint, wie Guzmán es am Ende des zweiten Teils mit Gott eingeht (oder einzugehen vorgibt),80 besteht die Pointe der Leservorrede gerade in der Negation von Autorschaft als quasi-göttlicher Institution (poeta alter deus). Anders aber als Gott, der die Schuldabschreibungen des Sünders durch seine Gnade in Kapital zu verwandeln versteht – und mithin aus Unsinn Sinn macht –, nimmt der Autor die aus der Sicht des Lesers nutzlosen Elemente seines Buches auf sein Schuldenkonto, ohne sie dort in Kapital bzw. Sinn verwandeln zu können (was sein Verzicht auf „interés“ bereits impliziert). Fällt der Autor als zuverlässiger Sinngarant des Werks somit aus – entsprechend der Ökonomiemetaphorik haftet Alemán für ein Buch, dessen Ganzes er mit seinem auktorialen Kapital nicht decken kann –, so liegt die rezeptionstheoretische Pointe der Konstruktion in der Vorstellung eines kasuistischen Transfers von Wissen zwischen Buch und Leser, der sich der zentralen Steuerung entzieht. Dort, wo – ganz wie auf dem politischen und kaufmännisch-ökonomischen Feld der Zeit – in der Interaktion zwischen ego und alter mit ‚Erwartungserwartungen‘ (Luhmann) ‚gerechnet‘ werden muss, zerfällt die Einheit von Autor, Buch und Wissen in eine Vielheit dezentraler Geschäftsverhältnisse, in denen über den Sinn – und d. h. auch: über die Evidenz – des Erzählten situativ immer neu entschieden werden muss. Was in den ‚Buchhaltungen‘ der Leser dabei jeweils als nützlich erkannt und ‚verwertet‘ wird, kann in dem Maße variieren, in dem die Möglichkeiten des Handelns in der doppelt kontingenten Welt, die der Text vorstellt, exponentiell vervielfältigt erscheinen. Der Beitrag zum „bien común“, den Alemán mit seinem Roman leisten will, besteht letzthin eben darin: An die Stelle tendenziell nutzloser, weil gegenüber der radikalen Varietät von Situationen, Agenden und Perspektiven indifferenter Moralkonzepte eine ‚Klugheit‘ zu setzen, die in den Ordnungen des Eigenen auch dort zu wirken versteht, wo die Beziehungen zwischen ego und alter in der beschriebenen Weise an Komplexität gewinnen.
77 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 93. 78 Ebd., S. 93 f. 79 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 72; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 94: „[...] recibe en ti la provechosa, dejando lo no tal o malo como mío.“ 80 Hier heißt es, wie schon zitiert: „Belaste ihn sogar mit dem, was du verlierst, er wird es sicher auf sein Konto übernehmen [...].“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 828.
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3.2 Unökonomische Zeugung: Genealogie des Pikarischen bei Alemán Wie die Forschung gezeigt hat, setzt der „two-way pull“ als Effekt einer zwischen engaño und desengaño, Dissimulation und Demaskierung oszillierenden Lektüre in Alemáns Roman bereits mit der Exposition ein.81 Entfaltet wird hier die Genealogie der Figur – und zwar, den Regeln pikarischer Autodiegese folgend, aus der Perspektive der Figur selbst. Was Guzmán von seiner Familie zu berichten weiß, übertrifft die Schändlichkeit der Familiengeschichte seines Vorgängers Lazarillo dabei bei Weitem. Ließ sich der Zusammenbruch der oeconomia des Müllers Tomas und seiner Frau je nach Perspektive noch als Folge der Unterdrückung der Armen durch die Reichen lesen, so gerät Guzmán angesichts der Dissonanzen in seiner Genealogie in einer Weise unter Rechtfertigungsdruck, dass ihm in der Darstellung oft nur Ironie und Sarkasmus bleiben. Dies beginnt bei der Frage nach seinem Vater. Wie der Leser erfährt, verkehrt Guzmáns Mutter zur Zeit der Zeugung des Kindes mit zwei Männern – einem alten, verlebten Adligen und einem jungen Wucherer –, die den kleinen Guzmán als ihren Sohn ansehen. Wenn Guzmán in diesem Sinne bemerkt, er habe „por la cuenta y reglas de la ciencia femenina“ zwei Väter,82 legt er im Modus ironischer Rede die Triebkräfte frei, die die Verkehrung genealogisch-ökonomischer Ordnung im Fall seiner ‚Familie‘ bewirken: Sexualität und Geld. Die ‚Wissenschaft der Frauen‘ – von seiner Mutter durch Anschauung und Unterweisung von ihrer Mutter erlernt – besteht demnach in der Kunst, aus der weiblichen Sexualität Kapital zu schlagen. Weiß schon Guzmáns Großmutter mit ihrem Körper zu rechnen – die „cuenta de la ciencia femenina“ recht anzustellen –,83 so rechtfertigt Guzmáns Mutter ihre Beziehung zu zwei Männern durch ein Profitdenken, das vor der bewussten Durchkreuzung ökonomischer Normen nicht zurückschreckt. In einem inneren Monolog, den Guzmán so wortgenau wiedergibt, als hätte er ihn selbst geführt, deckt die Prostituierte auf, wie sich die Ökonomie ihrer Sexualität gerade dort entfaltet, wo die Ordnung der oeconomia dem Zusammenbruch geweiht ist:
81 Michael J. Woods: The teasing opening of ‚Guzmán de Alfarache‘. In: Bulletin of Hispanic Studies 57 (1980), S. 213–218, hier S. 217. 82 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 139; Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 107: „[…] und nach Rechnung und Regel der weiblichen Wissenschaft besaß ich zwei Väter.“ Zum Motiv der doppelten Vaterschaft vgl. auch Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 62 f. 83 Wie Guzmán sarkastisch bemerkt, braucht seine Großmutter wegen ihres „große[n] Wissen[s]“ bis an ihr Lebensende nicht zu hungern. Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 111. Der spanische Text notiert, semantisch etwas abweichend, aber immer noch mit Bezug auf das Wissen (saber): „Mi abuela supo mucho y hasta que murió tuvo qué gastar.“ Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 144.
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Meine Frau Mutter machte Bilanz: ‚Ich verliere ja nichts dabei und verkaufe kein Stück aus meinem Hause, egal, wieviel ich anderen gebe. […] Und wenn das Haus zusammenstürzt, der Taubenstall aber stehen bleibt, hat man wenigstens noch Tauben.‘84
Die Anspielung auf den Taubenschlag ruft die Verknüpfung von Sexualität, Geld und Ökonomie auf, die, wie gesehen, auch in der escudero-Passage des Lazarillo eine zentrale Rolle spielt.85 Offensichtlich überbietet Alemáns Roman den Prätext dabei allerdings, indem er die Geschlechterrollen umbesetzt und die Funktion des Sexuellen damit nochmals zuspitzt. So besteht die skandalträchtige Pointe in der Aktualisierung der Allegorie im Fall der Mutter gerade darin, dass in ihrer Rechnung der Taubenkobel am Ende stehenbleibt – ein Hinweis auf die Fruchtbarkeit ihres Körpers und seine Funktionalisierung als Kapitalanlage einer Frau, die ihre Sexualität jenseits des patriarchalisch dominierten Hauses nutzbringend einzusetzen versteht. Dass ein solch alternativer, aus den normativen Institutionen (Haus, Staat, Kirche) ausgekoppelter weiblicher Herrschaftsraum um 1600 als Skandalon erscheint, braucht kaum der Erwähnung. Gemäß den Traditionen aristotelisch-christlicher Haus- und Ehelehre kann es eine autarke Herrschaft der Frau über ihre Sexualität und ihren Leib prinzipiell nicht geben.86 Die Körper-Ökonomie, die Guzmáns Mutter zur Basis ihres Handelns macht – wörtlich spricht sie von ihrem Körper als „mi casa“ –, erscheint vor diesem Hintergrund als ein Ort des Anderen, an den der Sohn Guzmán mit dem Ziel einer stabilen genealogischen Territorialisierung seiner Person nicht anknüpfen kann. Das Spiel der Verschränkung von Sexualität und Geld setzt sich auf der Seite der Väter Guzmáns fort. Beide Figuren, der alte Ordensritter – der erste Mann von Guzmáns Mutter – und der Wucherer – ihr zweiter Mann –, stehen für Facetten prekärer Genealogie, die in Guzmáns Erzählung mit Aspekten unökonomischen Handelns eng verknüpft werden. Dies scheint im Fall des Adligen zunächst auf Altbekanntes hinauszulaufen. Entsprechend dem in der Frühen Neuzeit weitverbreiteten Topos des ‚ungleichen Paars‘ übernimmt der ‚erste‘ Vater Guzmáns die Rolle des durch Liebe närrisch gewordenen alten Mannes, der sich von einer jungen, schönen Frau betören lässt – um von ihr um Leben
84 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 99; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 128 f.: „La señora mi madre hizo su cuenta: ‚En esto no piede mi persona ni vendo alhaja de mi casa, por mucho que a otros dé. […] Y si la casa se cayere, quedando el palomar en pie, no le han de faltar palomas.“ 85 Vgl. dazu Kap. 2.2.3 dieser Arbeit. 86 Vgl. dazu Natalie Zemon Davis: Women on Top: Symbolic Sexual Inversion and Political Disorder in Early Modern Europe. In: The Reversible World. Symbolic Inversion in Art and Society. Hg. von Barbara A. Babcock. Ithaca, London 1978, S. 147–190.
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und Besitz gebracht zu werden. Typisch für diese Figuration von Männlichkeit, die sich auch in der ökonomischen Literatur der Zeit findet,87 sind die Anspielungen auf altersbedingte Impotenz und allgemein nachlassende Lebenskräfte. Die Leidenschaft, die im Greis zur Unzeit noch einmal aufflammt, überfordert seinen Organismus, bis er schließlich stirbt und Guzmáns Mutter – die eben darauf nur gewartet hat – sein gesamtes Vermögen hinterlässt.88 Überraschend an der Erzählung ist dabei eigentlich nur eines: die Tatsache, dass Guzmán trotz der offensichtlichen Kongruenz von Topos und aktueller Erfahrung die – topisch nicht vorgesehene – biologische Vaterschaft des Greises als Möglichkeit im Spiel hält.89 Bei genauerem Hinsehen kann man hierin ein Beispiel für den ‚two-way pull‘ (Woods) des Erzählens erkennen. Folgt der Leser Guzmán in der Darstellung, so muss er mit der Möglichkeit rechnen, dass der genealogische Ursprung der pikarischen Figur ausgerechnet in einem Moment der Abweichung der erzählten Wirklichkeit vom topischen Wissen liegen könnte – einer Abweichung wohlgemerkt, die die Figur in einer Art doppelter Inversion zu einem ehelichen Kind machen würde. Umgekehrt könnte gerade darin Guzmáns subversive Intention bestehen: den Leser glauben zu machen, die Wirklichkeit sei im Fall seiner Zeugung von der topisch verbürgten Erfahrung abgewichen, um auf diese Weise wenigstens einen Teil seines Stammbaums matrimonial zu rehabilitieren. Dass der Sohn von zwei Vätern just an dieser Stelle betont, es ziere niemanden, „die Lüge zu sagen, und den, der schreibt, am allerwenigsten“ – was auf die paradoxe „Wahrheit“ hinausläuft, niemand könne wissen, wer sein Vater sei –,90 unterstützt diese Lesart. Im Verfahren der rhetorischen Selbstherstellung der (pikarischen) Person werden Epistemologie und Genealogie auf eine Weise verknüpft, dass die Frage nach dem Ursprung der Figur die Frage
87 Verwiesen sei hier nur auf die Ehelehren, die einen wichtigen Teilbereich der alteuropäischen oeconomia-Literatur darstellen. 88 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 105: „Der gute Kavalier war, wie ich angedeutet habe, ein alter und müder Herr, meine Mutter dagegen jung, schön und gewitzt. Die Gelegenheit stachelte seine Begierde auf, so daß ihm seine Zügellosigkeit das Grab schaufelte. […] In der Stunde des Todes […] hatte er die Seele noch im Leib und schon kein Laken mehr unter sich. Die Plünderung Antwerpens, als man fürchtete, es wäre vor Toresschluß, war nicht so grausam. Da meine Mutter den Rahm abschöpfte, die Wäschekammer verwaltete und die Schlüssel sowie das Vertrauen besaß, hatte sie beizeiten die Hände da, wo ihr Herz war; obgleich sie über das Allerwichtigste bereits verfügte und Herrin war.“ 89 Indem er nämlich mitteilt, es sei „reichlich gewagt, zu behaupten, der eine oder der andere habe mich gezeugt“, da man bei einer Frau wie seiner Mutter dies niemals genau wissen könne. Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 108. 90 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 108.
3.2 Unökonomische Zeugung: Genealogie des Pikarischen bei Alemán
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nach der Möglichkeit sicheren Wissens aufwirft, ohne dass eine verbindliche Antwort gegeben werden könnte.91 Die mit Abstand größte Aufmerksamkeit innerhalb der genealogischen Exposition widmet Guzmán seinem ‚zweiten‘ Vater, dem Wucherer. Es handelt sich um eine Figur, die als Trägerin von Alterität in grotesker Weise überdeterminiert erscheint. Ausschlaggebend hierfür ist ihre irritierende Beweglichkeit über Grenzen von Religion, Nationalität, Kultur, Stand und Geschlecht hinweg. Wie der Leser erfährt, stammt die Familie von Guzmáns mutmaßlichem Erzeuger aus dem levantinischen Raum im östlichen Mittelmeer92 – einer Sphäre des Übergangs zwischen Okzident und Orient, im Hinblick auf die eine verlässliche Zuordnung von Identitäten für den west- und mitteleuropäischen Leser der Zeit kaum möglich gewesen sein dürfte.93 Nach Genua migriert, gelingt den Vorfahren der Aufstieg in den Adel, wobei es allerdings nicht ihre Tugend, sondern ihre auf Wucher basierende Geschäftemacherei ist, die das nötige Kapital für den Standeswechsel liefert. In dieser Hinsicht familiär bereits vorgeprägt, zieht Guzmáns Vater als junger Mann nach Sevilla, um dort Handel zu treiben. Die weitere Geschichte enthält in der Vielzahl ihrer Wendungen selbst bereits das Material für einen pikarischen Roman: Von einem Geschäftspartner um viel Geld betrogen, macht sich Guzmáns Vater auf die Verfolgung, wird von Piraten entführt, landet in Nordafrika, wo er zum Islam konvertiert, eine Maurin heiratet, um schließlich, nachdem er sie um ihren Besitz gebracht hat, nach Spanien
91 Guzmán unterstreicht das Moment der epistemischen Unsicherheit, indem er die Moral seiner Rede in ein durch und durch absurdes, irrationales Zahlenspiel münden lässt: „Aber wenn eine Frau behauptet, sie liebe zwei Männer, betrügt sie beide, und niemand kann Vertrauen zu ihr haben. Das stimmt für Ledige; denn bei den Verheirateten gilt eine andere Regel. Sie sagen gern, zwei seien einer, einer keiner und drei gelogen. Weil sie nämlich (wie in der Wirklichkeit) mit ihrem Gatten nicht rechnen, ist er allein keiner und mit einem anderen einer; zwei weitere dazu, im ganzen drei, entsprechen den beiden Ledigen. Also geht die Rechnung nach ihrem Verfahren auf. Dem sei, wie ihm wolle […].“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 108. 92 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 111. Seltsamerweise verzichtet Specht in seiner Übersetzung auf die Erwähnung der levantinischen Herkunft der Familie und spricht stattdessen nur vom „Osten“. Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 85. 93 Zur anhaltenden Debatte über die Frage, ob und in welcher Weise Guzmáns Vater – und damit auch Guzmán selbst – in die Gruppe der conversos, der maurischen und jüdischen Konvertiten im Spanien der Frühen Neuzeit, einzuordnen ist, kann hier nicht Stellung genommen werden. Erlaubt sei allerdings der Hinweis, dass der Text offensichtlich nicht nur in dieser Hinsicht auf Unentscheidbarkeit setzt, weshalb die Frage nach einer – wie auch immer unterdrückten – jüdischen oder maurischen (Sub-)Identität der Figur möglicherweise von vornherein falsch gestellt ist. Zu einer Kritik am Ansatz der romanistischen converso-Forschung vgl. Henry Kamen: Limpieza and the Ghost of Américo Castro: Racism as a Tool of Literary Analysis. In: Hispanic Review 64.1 (1996), S. 19–29.
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zurückzukehren. Dort rekonvertiert er zum christlichen Glauben, treibt die noch offene Schuld von seinem Geschäftspartner ein und kauft das Landgut Alfarache, auf dem die Handlung rund um den Ehebruch mit Guzmáns Mutter stattfindet. Was auf diese Weise mit einer Überschreitung sozialer Normen beginnt, kann aus ökonomischer Sicht kein gutes Ende nehmen. Wenngleich der Levantiner Guzmáns Mutter nach dem Tod des alten Ordensherrn heiratet – und auf diese Weise offiziell zu Guzmáns Vater wird –, bricht das Haus Alfarache nach wenigen Jahren zusammen. In seiner Verschwendungssucht (luxuria), die sich in fortgesetztem Bankettieren ebenso niederschlägt wie in einer ‚weibischen‘ Vorliebe für Schminke, falsches Haar und allerlei Essenzen,94 verprasst der Hausherr seinen gesamten Besitz und stirbt – Guzmán ist gerade zwölf Jahre alt – als mittelloser, verschuldeter Mann an einer fiebrigen Krankheit. Als Erzählung von Ursprung und Zeugung mündet Guzmáns Bericht von den Taten seines ‚zweiten‘ Vaters in Paradoxien, die für die Genealogie des Pikarischen auf inhaltlicher wie formaler Ebene bedeutsam sind. So ist es zweifellos weit mehr als motivische Zutat, wenn die Genealogie Guzmáns über die Familie des Vaters an chrematistische Praktiken gekoppelt ist, die seit der Antike mit der Vorstellung von widernatürlicher Fruchtbarkeit verknüpft sind. Seine Verwandten – einschließlich seines Vaters –, so muss Guzmán zugeben, trieben es, wie man’s in jenem Lande und wegen unserer Sünden nun auch in unserem eigenen zu treiben pflegt; Wechsel und Rückwechsel allenthalben. Selbst deshalb ließ man ihm keine Ruhe und beschimpfte ihn als Wucherer. […] Sie hatten unrecht, denn Wechsel waren und sind erlaubt. Ich möchte das nicht loben, und Gott verhüte, daß ich’s verteidige, es sei erlaubt, wie einige meinen, Geld für Geld befristet gegen goldene oder silberne Pfänder zu verleihen, die anderenfalls verfallen, auch sonstige dunkle Geschäfte oder sogenannte Proforma-Wechsel [cambio seco]; oder man dürfe das Geld von einem Platz zum anderen laufen lassen, obgleich man dort weder jemals Geschäftsfreunde noch Geschäftsverbindungen hatte […].95
94 Die Alterität der Figur wird im Text auf die Spitze getrieben, wenn Guzmán von deren Äußeren berichtet. So muss der Sohn zugeben, dass sein Vater wohl falsches Haar getragen, sich geschminkt und mit Salben ‚verschönt‘ habe – ein Verhalten, das Guzmán an das der „afeminados maricas“ – verweiblichten Weichlinge – erinnert und zu einem Vergleich mit dem Monster von Ravenna herausfordert, das ein „hermafrodito y muy formados los dos naturales sexos“ gewesen sei. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 122 f. 95 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 85 f.; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 111 f.: „Era su trato el ordinario de aquella tierra y lo es ya por nuestros pecados en la nuestra: cambios y recambios por todo el mundo. Hasta en esto lo persiguieron, infamándolo de logrero. […] No tenían razón, que los cambios han sido y son permitidos. No quiero yo loar, ni Dios lo quiera que defienda ser lícito lo que se queden rematadas, ni otros tratillos paliados, ni los que llaman cambio seco, ni que corra el dinero de feria en feria, donde jamás tuvieron hombre ni trato […].“
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Wenn sich Guzmán an dieser Stelle in einer kasuistischen Rhetorik geradezu verheddert, darf das als ironische Geste des Textes in Richtung des Wissensfeldes um Wucher und Zins verstanden werden, auf dem um 1600 große Bewegung herrscht.96 Entscheidende Impulse gehen dabei von den Spätscholastikern der ‚Schule von Salamanca‘ aus: Gemäß der christlich-aristotelischen Tradition, in der deren Vertreter stehen, bleibt das dogmatische Verbot des ususfructus aus dem Geld bei ihnen zwar prinzipiell in Kraft. Entlang genau welcher Linie die Grenze zwischen natürlichem und widernatürlichem Erwerbshandeln – mit Aristoteles: zwischen Ökonomie und Chrematistik – verläuft, wird in ihren Schriften jedoch zum Gegenstand theologisch-juristischer Aushandlungen, wobei sich die Argumentation vom aristotelischen Rigorismus tendenziell entfernt. Eine besondere Rolle bei der Neubewertung bestimmter Zinsgeschäfte spielt für Autoren wie Mercado, de Molina, Soto oder Azpilcueta dabei die thomistische Vorstellung von der societas zwischen Geldgeber und Geldempfänger. Wo eine solche Gemeinschaft herrscht, erscheint es ihnen zulässig, Geld „über den Umweg einer fruchtbringenden ‚Investition‘“ – mit geteiltem Aufwand und Risiko – „indirekt selber als fruchtbringend [anzusehen]“.97 Dient der Geldtransfer auf Zins in diesem Sinne zur Auslösung einer „kaufmännischen oder agrikolen produktiven Unternehmung“, so handelt es sich nicht um Wucher, und der ususfructus aus dem Geld ist legitim.98 Besitzt der Geldverleih dagegen kein ökonomisches Telos – etwa wenn im Geschäft weder Arbeit (industria) noch Gemeinschaft (societas) eine Rolle spielen –, bleibt das Wucherverdikt und damit auch die Vorstellung in Kraft, es handele sich bei den ‚Kindern‘, die die Selbstfortzeugung des Geldes hervorbringe, um eine „Schar von Klonen“,99 die keinen Ort in Natur und Schöpfung beanspruchen können. Für die Reflexion genealogischer und poetologischer Alterität im pikarischen Sinne bietet der Wucherdiskurs beste Bedingungen. So kann sich der zeitgenössische Leser bei der Herstellung von Beziehungen zwischen Genealogie
96 Die Beziehung von Alemáns Roman zur spätscholastischen Wucher- und Zinsdebatte ist gut erforscht. Neben dem Stellenkommentar von Rico (vgl. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 112, Anm. 31) sei auf Cavillac: Gueux et marchands, S. 191–207, verwiesen. 97 So formuliert mit Blick auf die spätscholastischen Debatten Birger P. Priddat: Das Geld und die Vernunft. Die vollständige Erschließung der Erde durch vernunftgemäßen Gebrauch des Geldes. Über John Lockes Versuch einer naturrechtlich begründeten Ökonomie. Frankfurt a. M. u. a. 1988 (Aspekte der englischen Geistes- und Kulturgeschichte 13), S. 121. 98 Ebd., S. 122. 99 So eine Formulierung aus dem inspirierenden, wenngleich historisch nicht durchgängig soliden Aufsatz von Bettina Mathes: Vom Stieropfer zum Börsenstier. Die Fruchtbarkeit des Geldes. In: Geld und Geschlecht. Tabus, Paradoxien, Ideologien. Hg. von Birgitta Wrede. Wiesbaden 2003, S. 14–31, hier S. 24.
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und Geld auf die in der Tradition seit Aristoteles angelegte Semantik von Fruchtbarkeit und Sterilität berufen, an die auch Guzmán nochmal erinnert, wenn er unter den Praktiken, die sein Vater – „Gott verhüte“ – nicht betrieben haben soll, auch den ‚trockenen‘, ökonomisch unfruchtbaren Wechsel (cambio seco) erwähnt. Was darunter zu verstehen ist, erklären die Salamancenser Theoretiker in scholastischer Genauigkeit. Tomás de Mercados Suma de tratos y contratos de mercaderes (1569) unterscheidet demnach zwei Formen des Wechsels. Auf der einen, der legitimen Seite gibt es den ‚echten‘ Wechsel („cambio verdadero“), der teleologisch stets auf etwas Substantielles – den Tausch realer Güter – ziele; auf der anderen, der illegitimen Seite stehe der „cambio seco“, den man so nenne, „porque se hace en seco y sin substancia real“.100 So sehr sich Guzmán um Rechtfertigung seines Vaters bemüht – wobei seine halsbrecherischen Formulierungen den Verdacht des Lesers wohl eher verstärken –, stellt die Überführung des Wucherers für den Kenner der spätscholastischen Schriften keine Schwierigkeit dar. Dort, wo der Levantiner, wie Guzmán (unfreiwillig?) konzediert, Wechsel ausgibt, deren Zweck allein darin besteht, weitere Wechsel auszulösen („Wechsel und Rückwechsel allenthalben“), handelt es sich der zeitgenössischen Definition nach um Formen des cambio seco.101 Im Rückgriff auf die Analogie von monetärer und biologischer Zeugung, der an der Stelle durch die Erwähnung der Vorfahren geradezu herausgefordert wird, ergibt sich damit ein Bild, das die prekäre Abkunft des (vorerst) letzten Sprößlings des Wucherergeschlechts, Guzmán, sinnfällig werden lässt. Wie das erwucherte Geld als Produkt einer sterilen, weil außerökonomischen Zeugung keinen angestammten Platz in der Natur hat, so kommt dem Picaro aufgrund seiner Abkunft kein genealogischer Ort des Eigenen zu, auf den er sich beim Schreiben seines Lebens beziehen könnte.102 Wie die Geld-‚Klone‘ des Wucherers befindet er sich gleich-
100 Tomas de Mercado: Tratos y contratos de mercaderes y tratantes discididos y determinados […]. Salamanca: Mathias Gast 1569, S. 97r. 101 Mercado: Tratos y contratos, S. 108v, legt fest, „que todos intereses de cambios y todos los recambios son a la clara malos y por tales patentemente prohibidos […].“ 102 Dies gilt auch und erst recht, wenn man die Alfarache-Episode in die Betrachtung miteinbezieht. Es ist im Diskurszusammenhang auffällig, dass das Landgut, auf dem Guzmáns Vater einen ökonomischen Territorialisierungsversuch unternimmt – „Wurzeln zu schlagen“ versucht, wie Guzmán es ausdrückt (Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 96) –, ein besonders fruchtbarer Ort ist. Die Umgebung des Landguts, so Guzmán (ebd., S. 99), sei „wegen ihres fruchtbaren Bodens […] und wegen der unmittelbaren Nachbarschaft des Flusses Guadalquivir, der mit seinen Wellen alle jene Haine und Gärten bewässert und kostbar macht, die köstlichste in jener Gegend.“ Handelt es sich also um einen Ort, der für eine ländliche Ökonomie nach römisch-antikem Muster alles mitbringt, so erscheint umso bedenklicher, dass der Wucherer selbst hier keinen natürlichen Nutzen (ususfructus) zu erzielen versteht. Während er bis zu seinem Tod seine krummen Geschäfte im nahe gelegenen Sevilla weiter betreibt, dient ihm
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zeitig innerhalb und außerhalb der Ordnung der Dinge: ein Agent nicht enden wollender Wechsel, dessen Beziehung zur „substancia real“ vom ‚klugen‘ Leser kritisch zu prüfen ist. Was beim Blick auf die zeitgenössischen Traktate dabei deutlich wird, ist die große Nähe der Epistemologie des Wucherdiskurses zur Poetik pikarischen Erzählens, wie Alemán sie entwirft. Das hat seinen Grund darin, dass die spätscholastischen Autoren die Grenze der Ökonomie zur Chrematistik als Demarkationslinie des ‚Realen‘ konzipieren, das gegen das Fiktive, Imaginäre und Täuschende verteidigt werden müsse.103 Dabei spielt die schon bei Pacioli begegnende Gefahr der Ablösung der Fantasie von den Dingen eine entscheidende Rolle. Wenn Mercado den Kaufmann ermahnt, sein Geschäft („negocio“) möge „verdadero, real, no imaginado“ sein, es möge mit beiden Füßen auf der Erde gehen („que ande por sus pies en tierra“) und nicht in den Lüften fliegen oder nur in der Fantasie vorhanden sein („no en el viento volando, o en la fantasia de la cabeça representado“),104 bindet er das Wissen von den Wechseln in ein Konzept des Imaginären ein, in dem dieselben Begriffe und Metaphern auftauchen, die auch den zeitgenössischen Fiktionsdiskurs prägen.105 das Anwesen ausschließlich zum Vergnügen – bis die luxusbedingten Ausgaben die Einnahmen so übersteigen, das der totale Ruin eintritt: „Inzwischen wurde ihm das Landgut […] zum Verderben: der Profit war gering, der Schade groß und die Kosten für Unterhalt und Bankette noch größer. […] Die Ausgaben überstiegen die Einnahmen. […] Verdientes Gut geht dahin, aber unrecht Gut nimmt seinen Herrn mit. Die Sünde hat es gegeben, und ich glaube, sie verzehrte es auch, denn es brachte kein Gedeihen, und mein Vater starb binnen fünf Tagen an einer hitzigen Krankheit.“ Ebd., S. 109. Wenn Guzmán sich nach dem Tod des Vaters entscheidet, den Namen des Landguts anzunehmen, „auf dem ich meinen Ursprung hatte“ (ebd., S. 112), so schreibt er sich selbst eine ambivalente Signatur ein. Zum einen steht Alfarache für die anti-ökonomische Agenda seines Vaters, einschließlich der (mutmaßlich) unehelichen Zeugung Guzmáns. Zum anderen bezeichnet das Landgut aber auch einen Ort erheblicher ökonomischer Potenzialität: Wer die Anlagen von Alfarache recht zu nutzen verstünde, könnte sie in eine Ordnung des Eigenen überführen, die reale Mehrwerte schafft. Dies gilt, wie hier noch angemerkt werden darf, für den Ort wie für den gleichnamigen Text: Je nachdem, welchen Blick der Leser auf den Guzmán de Alfarache wirft, schlägt seine Lektüre zur einen oder zur anderen Seite aus: ist fruchtbar oder unfruchtbar. 103 Dies geht schon aus den oft zitierten drei Bedingungen Tomás de Mercados hervor, unter denen allein Handel und Wechsel als legitime Praktiken gelten dürfen: „Requierense las mesmas tres condiciones […] que sea verdadero, no fingido, celebrado con sinceridad y llaneza, no con engaño, comedido, y humano en la ganacia, no tyrano y cruel.“ Mercado: Tratos y contratos, S. 102r. 104 Ebd., S. 98v. 105 Ein Beispiel hierfür gibt Francisco Vallés, der an einer berühmten Stelle seiner Cartas familiares de moralidad (1551) beklagt, die Romane – als paradigmatische Textsorte der zeitgenössischen Fiktionskritik – würden „sin fundamento en el aire“ schweben. Hier zit. nach Américo Castro: El pensamiento de Cervantes. Nueva edición ampliada y con notas del autor y de
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Während dieser freilich zumeist auf einfache Verdikte hinausläuft – auf Warnungen vor den schädlichen, weil lügenhaften Dichtungen –, nutzt Alemáns Roman das subversive Potenzial pikarischen Erzählens, um die Frage nach der Unterscheidbarkeit wahrhaftiger und lügnerischer Rede aufzuwerfen – und zwar so, dass die Position des Lesers als Teil des Systems zirkulierender Zeichen und ihrer Deutungen mit beobachtet werden kann. So leitet Guzmán die Erzählung von seinen Eltern listigerweise mit der Klage ein, es sei über dieselben vieles im Umlauf, das dem „puro y verdadero texto“ nicht entspreche.106 Mag die Anspielung auf den cambio verdadero bzw. dessen Gegenteil, die cambios „falsos y mentirosos“,107 hier noch einigermaßen lose wirken, so konkretisiert sie sich im Weiteren durch die unvermeidliche Parallelisierung von cuenta und cuento in Guzmáns Rede. „Immer, wenn jemand etwas von ihnen [den Eltern, S. Z.] erzählt“, so Guzmán, „vermehrt er es um soviel Nullen, wie er mag ‒ einmal mehr und niemals weniger, gerade, wie ihm Kopf und Laune steht.“ 108 Erst recht im Fall des Vaters sei auf diese Weise aus der Drei eine Dreizehn und aus der Dreizehn schließlich gar eine Dreihundert gemacht worden109 – bis dahin, dass den kursierenden Erzählungen die Verankerung in der Wirklichkeit gänzlich abgehe: […] denn alle halten es für angebracht, ein wenig dabei zu tun, und aus dem Wenigen macht man viel, obgleich es unbegründet ist und nicht auf festem Boden ruht, denn eine Erweiterung muss die andere tragen […].110
Julio Rodríguez-Puértolas. Barcelona 1972, S. 61. Zum zeitgenössischen Diskussionsfeld allgemein vgl. Barry W. Ife: Reading and Fiction in Golden Age Spain. A Platonist Critique and some Picaresque Answers. Cambridge 1985; Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 134– 167. 106 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 107. 107 Mercado: Tratos y contratos, S. 96r. 108 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 82; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 107: „Pues cada vez que alguno algo dello cuenta, lo multiplica con los ceros de su antojo, una vez más y nunca menos, como acude la vena y se le pone en capricho.“ 109 Vgl. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 110: „Tal sucedió a mi padre que, respeto de la verdad, ya no se dice cosa de lo sea. De tres han hecho trece y los trece, trecientos […].“ Auf die Pointe, dass die Reihe ‚3–13–300‘ die dezimale Logik (‚3–30–300‘) durchkreuzt, kann ich hier nicht näher eingehen. Auf der Hand liegt, dass die ‚13‘ in der Frühen Neuzeit eine in hohem Grade symbolische Zahl ist, die im Kontext u. a. für den dreizehnten Jünger Christi, Judas, stehen bzw. allgemein das Diabolische als das schlechthin Überzählige, Störende (‚12 + 1‘) indizieren könnte. 110 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 85; Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 110: „[…] porque a todos les parece añadir algo más y destos algos han hecho un mucho que no tiene fondo ni se halla suelo, reforzándose unas a otras añadiduras […].“
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Was an dieser Stelle greifbar wird, ist eine Dynamik der Entkopplung von verba und res im Akt des Erzählens, die dem ‚Schweben‘ der Signifikanten im Vollzug ‚trockener‘ Wechsel gleicht. Wie bei diesen der Zweck der symbolischen Transaktion nur darin besteht, die nächste symbolische Transaktion auszulösen, ohne dass der „fondo“ des Realen noch berührt würde, so emergiert in der öffentlichen Zirkulation der Geschichte der Eltern – angeblich – ein ganzes System grund- und bodenloser Supplemente, in dem die ‚Selbstfortzeugung‘ der Zeichen zu einem gefährlichen, weil von der Wahrheit wegführenden autopoietischen Prozess wird.111 Erscheint die Rolle, die Guzmán sich selbst zuschreibt, dagegen entsprechend positiv besetzt – im Wust falscher Zeichen verspricht der Autor des ‚reinen und wahren Textes‘ nicht weniger als die Rückkehr zu den res und damit zur ‚Ökonomie‘ der Wahrheit –, so ist es dem ‚klugen‘ Leser anheimgestellt, die epistemische und moralische Validität der pikarischen ‚Wechsel‘ zu prüfen. Dass sich gegen dieselben erhebliche Verdachtsmomente ergeben, liegt dabei auf der Hand; im Rekurs auf den eigenen Ursprung, der peinlicherweise keine stabilen genealogischen Relationen herstellen kann, schreibt der Sohn des Wucherers seinem Diskurs unbeabsichtigt Spuren eben jener chrematistischen Doppelbödigkeit ein, die er an den vermeintlichen Agenten der Lüge, den „lenguas engañosas y falsas“,112 kritisiert. Entscheidet sich der Leser daher, Guzmáns Beteuerung, die Wahrheit zu schreiben, nicht für das glaubwürdige Zeugnis eines Bekehrten, sondern für einen „kaufmännische[n] Trick[ ]“ 113 zu halten, so ist er vor potenziellen Täuschungen zwar gefeit, läuft in seinem Misstrauen jedoch Gefahr, die Möglichkeit der christlichen Überwindung von Sünde und (Erb-)Schuld zu negieren (was selbst wiederum Sünde wäre). Umgekehrt sieht sich derjenige, der Guzmán Glauben schenkt, mit der Gefahr konfrontiert, möglicherweise einen ‚falschen Wechsel‘ anzunehmen. In diesem Fall würde nicht nur die individuelle ‚Buchhaltung‘ verfälscht, die der Leser zur Beobachtung der Wissenstransfers aus dem pikarischen Text führen soll. Auch könnte der vertrauensselige Leser die cambios falsos y mentirosos des Picaro, da er sie als solche nicht erkennt, als vermeintliche cambios verdaderos wiederum in Umlauf bringen, was die autopoietische Fortzeugung nicht ge-
111 Zu dessen Kennzeichen gehört es laut Guzmán auch, dass sich die ‚Selbstfortzeugung‘ der Zeichen in der Zirkulation aus sich selbst heraus verstärkt: „[…] und vieles zusammen richtet einen Schaden an, den jedes, einzeln genommen, nicht hervorbringen könnte.“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 85. 112 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 110; Specht spricht in seiner Übersetzung von „trügerischen, falschen Zungen“. Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 85. 113 So eine Bemerkung Guzmáns bezüglich der Geschäftspraktiken seines Vaters. Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 88. Im spanischen Text ist von „[e]stratagemas […] de mercaderes“ die Rede. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 115.
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deckter Zeichen im öffentlichen Raum verstärken würde. Eben in diesem Übergang zwischen einer privaten und einer öffentlichen Ökonomie der Wahrheit erweist sich die Relevanz der Klugheit als Medium, das nutzbringendes Handeln (bzw. Lesen) auch dort ermöglicht, wo die Beziehung von verba und res unbeständig ist. Der Alemán-Leser muss nicht nur für sich selbst klug sein; er muss es auch für die soziale Gemeinschaft sein, die durch das Zirkulieren ‚falscher Wechsel‘ in ihrer Stabilität als Ordnung des Eigenen gefährdet ist.
3.3 Ein gottloses Kind: Hybridität von Text und Figur bei Albertinus Rufen wir uns von hier aus die eingangs zitierten poetologischen Einlassungen des Albertinus wieder in Erinnerung, so lässt sich deren Inkompatibilität mit der pikarischen Poetik Alemáns auf einen Blick erkennen. Wo es laut Albertinus beim Schreiben von ‚weltlichen‘ Büchern allein darum geht, die Tugenden und Laster des Menschen vor einem heilstheologisch fixierten Hintergrund so zu präsentieren, dass der Gottlose zur Umkehr ermahnt, der Fromme in seinem Glauben gestärkt wird, ist kein Platz für eine auf ‚Erwartungserwartungen‘ und Misstrauen in die Zeichen basierende Poetik der ‚Klugheit‘. Um erbaulich wirken zu können, muss der religiöse Sinn der Vita Gusmans114 für jeden Christen verbindlich lesbar werden – und dies umso mehr, als Albertinus sie in der Vorrede zunächst als Exemplum für die labyrinthische Verworrenheit menschlichen Daseins lanciert. Als „Jrrgarten“, „ebenbild der vnbeständigkeit“, „vnbeständige[s] vngestümme[s] Meer“ und „vergehende[r] Windt“ soll die Welt dem Leser vor Augen gestellt werden115 – mit dem Ziel, die Botschaft von Buße und Gnade, die der Münchener Bibliothekar im zweiten Teil entfaltet, als einzig wirksames Mittel der Kontingenzbeherrschung effektvoll in Szene zu setzen. Dass dies in der Umsetzung auf eine Eindämmung der transgressiven Potenziale pikarischer Narration hinausläuft, wurde in der Forschung zu Recht betont.116 Blickt man auf die Struktur des Landstörtzer Gusman, der in die pikarische Erzählung Gusmans und den Pilgerdiskurs des frommen Eremiten gleichsam zerfällt, wird deutlich, dass Albertinus dem Picaro das Recht zu erzählen nur insoweit
114 So die albertinische Schreibweise des Namens, wobei im Druck gelegentlich ein zweites ‚n‘ angehängt ist: Gusmann. 115 LG, fol. ):( 5v–r. 116 Vgl. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 154. Außerdem Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 48–56, die auf die paratextuelle Rahmung als Teil der ‚Normsetzungs‘-Strategie des Textes detailliert eingeht.
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zu erteilen bereit ist, als dessen Diskurs die intratextuellen Residuen christlicher ‚Wahrheit‘ nicht kontaminiert. Schon deshalb, so ließe sich spekulieren, könnte der Münchener auf die Übernahme der Segunda Parte Alemáns verzichtet haben. Wenn in dieser, wie gezeigt, die Zuverlässigkeit der Guzmán’schen Bekenntniserzählung durch Bezugnahmen auf die eben nur vermeintlich täuschungssichere Buchhaltungskunst infrage gestellt wird, so nimmt der Diskurs dort eine Richtung, die mit dem albertinischen Anspruch auf christliche Exemplarizität – und d. h. auf Unterscheidbarkeit frommer und gottloser Handlungen – kaum vereinbar erscheint. Narratologisch ist dabei freilich der Umstand zu bedenken, dass die in Albertinus’ zweitem Teil vorgenommene Verlagerung von Autorität zugunsten des frommen Einsiedlers das formale Paradoxon pikarischer Konversion nicht nachhaltig bearbeiten und schon gar nicht lösen kann. Wenngleich – oder gerade weil – mit dem durch die „erinnerung“ 117 des Eremiten christlich unterwiesenen Picaro eine Instanz im Diskurs präsent ist (oder sein sollte), die über das Remedium gegen die inconstantia mundi verfügt, bleibt der narrative Selbstbezug der Figur prekär. Und dies gewissermaßen in zwei Richtungen: Nicht nur, dass Gusmans am Endes des zweiten Teils gemachte Ankündigung weiterer Abenteuer „auff der Reiß gen Jerusalem“ die Frage aufwirft, „wie und was gestalt“ der Unterwiesene der Lehre des Einsiedlers „gefolgt vnnd [s]ich ferner verhalten“ 118 – eine Frage, die wir unten mit Blick auf das figurale Spannungsfeld zwischen Picaro und Pilger nochmals aufzugreifen haben werden. Auch – und für diesen Abschnitt zunächst wichtiger – fällt dem erzählenden Ich Gusmans, strukturell betrachtet, durchaus auch die Aufgabe zu, die Irrwege seines alter ego, des erzählten Ichs, als solche auszuweisen und für den Leser somit Orientierung im Labyrinth der Welt zu stiften.119 Diese Notwendigkeit der intrafiguralen Integration von Nicht-Wissen und Wissen um die (christliche) Wahrheit führt in Albertinus’ Roman immer wieder zu Formen ambivalenter Rede, wobei, zumal zu Beginn der Erzählung, heftigere Dissonanzen zwischen den Perspektivebenen zu verzeichnen sind. Im Rahmen dessen, was Gusman als „Beschreibung meiner schändtlichen Geburt“ 120 bezeichnet, entfaltet sich dem-
117 LG, S. 724. 118 Ebd., S. 725. 119 In diesem Sinne betont auch Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 91, dass der immer wieder zutage tretende Autoritätsanspruch des erzählenden Ichs „stabilitas und feste semantische Unterscheidungen voraussetzt; und zwar vor allem im Hinblick auf die Bewegung in und den Rückzug aus der Welt, welche den Sünder vom Bekehrten unterscheidet.“ Gerade dies sei in den Schlüsselpassagen des Romans jedoch nicht gegeben, weshalb von einer ‚pikaresken Umsemantisierung‘ des christlichen Konzepts der Weltabkehr zu sprechen sei. 120 Ebd., S. 1.
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nach auch im Landstörtzer Gusman eine Art paradoxe Genealogie pikarischen Erzählens, zu deren – von Albertinus so kaum erwünschten – Effekten die Verunsicherung des epistemischen Status des Gesagten gehört.121 Dies sei mit Blick auf den genealogisch besonders heiklen Bericht Gusmans vom Leben seines Vaters, des Wucherers, kurz gezeigt. Am Plot der Vatergeschichte, wie Alemán ihn präsentiert, ändert Albertinus trotz deutlicher Straffungen kaum etwas. Auch im Landstörtzer bleibt Gusmans Vater als Träger radikaler Alterität zu erkennen: Geboren in eine Familie von „Mohren“, die in Genua „für patritios oder Edelleut angenommen vnd gehalten / dann sie hatten vil Gelts / vil handleten mit Wechßl“, sieht sich der nach Sevilla ausgewanderte Vater dem Vorwurf ausgesetzt, ein Wucherer zu sein.122 Es ist ein Vorwurf, den der Sohn, wie schon bei Alemán, nicht glaubwürdig entkräften kann. Wenn er sich im Rückblick trotzdem nicht zu einer konsequenten Verurteilung der Handlungen des Vaters durchringen kann, so kann dies angesichts der Brisanz des Wucherthemas im moraltheologischen Diskursumfeld, für das Albertinus als Autor steht, durchaus verwundern. Und dies umso mehr, als im christlichen Wucherdiskurs allgemein und in den albertinischen Schriften im Besonderen die Beziehung von Genealogie und Sünde eine zentrale Rolle spielt. So schildert Albertinus in einer besonders eindrücklichen Passage seiner Schrift Christi Seelengejaidt (1618) die Höllenfahrt eines Geistlichen, der unter den Verdammten eine ganze Familie entdeckt, die aufgrund der Wuchergeschäfte ihres Stammvaters in die Hölle gestoßen wurde. Das Urteil Gottes über die Sünder wird vom Engel, der den frommen „Altvatter“ auf seiner Höllenfahrt begleitet, in aller Schonungslosigkeit ausgesprochen: „Dieser gestalt tödtet der Wucherer seine Kinder / Kindkinder / vnnd biß ins zehnde Geschlecht.“ 123 Es kann nicht verwundern, dass unter diesen Umständen für eine differenzierte, gar konzessive Wuchertheorie nach (spät-)scholastischem Vorbild kein Platz ist. Wo sich Möglichkeiten des Einbaus entsprechenden Wissens im Kompilationsverfahren ergeben, realisiert der Münchener sie nicht. Ein Beispiel hierfür gibt der Wucher-Abschnitt in Der Welt Thurnierplatz (1614), der auf dem entsprechenden Kapitel aus Tommaso Garzonis Piazza Universale basiert. Garzonis Hinweis, der Leser könne auf der Suche nach einem Lob des Wuchers
121 So auch schon Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 56–63. 122 Ebd., S. 5 f. 123 Aegidius Albertinus: Christi vnsers HErrn Königreich vnd Seelengejaidt: Darinn tractiert wird von der Beschaffenheit / Herrlichkeit vnd Hochheit deß Reichs Christi: Jtem / von den Mitteln mit denen er die verführte Seelen fahet vnd zuwegen bringet […]. München: Nikolaus Heinrich 1618, S. 143.
3.3 Ein gottloses Kind: Hybridität von Text und Figur bei Albertinus
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bei den (spät-)scholastischen ‚Summisten‘ fündig werden,124 ist in Albertinus’ Schrift weggelassen. Was dem Leser stattdessen präsentiert wird, ist an moraltheologischer Eindeutigkeit kaum zu überbieten. Zunächst führt Albertinus allerlei Zitate an, die belegen sollen, dass der Wucher nach göttlichem, kirchlichem und weltlichem Recht gleichermaßen verboten sei (oder, im letzten Fall, sein sollte). Sodann fordert er alle Wucherer zur Restitution der erwucherten Güter auf. Und schließlich malt er die schrecklichen Folgen aus, die eine Weigerung nach sich zöge; von Teufeln und allen Höllenbestien gequält, werde der Wucherer erfahren müssen, „daß er vnd seine Kinder einander in der Höllen verfluchen werden“.125 Blickt man von Stellen wie dieser auf den Beginn des Landstörtzer-Romans, werden die Reibungspunkte zwischen den Texten alsbald deutlich. In Gusmans zwischen Apologie und Bekenntnis oszillierender Rede ist von der dogmatischen Unmissverständlichkeit der Traktate keine Spur. Stattdessen scheint ein pikarisches Kalkül der Verschleierung im Spiel, das die moralisch-religiöse Orientierung für den Leser erschwert. Symptomatisch hierfür ist das Auftauchen eben derjenigen konzessiven Wuchertheorie, die von Albertinus anderswo unterdrückt wird. In einer Art Exkurs, der schon deshalb ins Auge sticht, weil er sich bei Alemán nicht findet, betont Gusman in genauer Übereinstimmung mit den spätscholastischen Positionen, es gebe drei Formen erlaubter Zinsnahme, weswegen es bei aller berechtigten Wucherkritik keineswegs richtig sei, die Wucherer pauschal als Übeltäter zu verurteilen: Gleichwol will ich jne [den Vater] nit loben / vil weniger will ichs bestreiten vnd sagen / daß es zugelassen seye / Gelt vmb Gelt oder auff Pfandt / auff ein bestimmte zeit […] außzuleyhen: Noch vil weniger will ich die vsuras palliatas gutheissen / noch auch die jenigen verthädigen / welche den trucknen Wechßl führen […] / sonder ich lobe nur die gute intention, mit dern die Wechßl und Wucher bißweilen beschehen / zu dem befinde ich / daß man in dreyen fällen etwas ex mutuo oder vltra sortem, ohne Sünd / nemmen möge / erstlich ratione damni emergentis: am andern ratione lucri cessantis, vnd drittens ratione gratitudinis: dann der Mensch ist gleichwol schuldig / seinem Nechsten zu helffen / aber doch der gestallt / daß er selbst schadloß verbleib […]. Dannenhero hette man auch meinem lieben Vatter nit so hoch für übel haben sollen.126
Die Frage, wieso Albertinus an dieser Stelle auf die Ausnahmen vom Wucherverbot hinweist, ist nicht leicht zu beantworten. Verfährt der Münchener hier 124 In der deutschen Garzoni-Übersetzung von 1619 lautet die Stelle: „Wer aber mehr vil von der Wucherer Lob wissen / der lese […] die Tractatus der alten vnd newen Summisten […].“ Garzoni: Piazza Universale, S. 630. 125 Aegidius Albertinus: Der Welt Thurnierplatz […]. München: Nikolaus Heinrich 1614, S. 247. 126 LG, S. 5 f. Bei Alemán fehlt die Erwähnung der drei erlaubten Zinsformen. Vgl. Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 111 f.
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3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman
bloß topisch, bereichert den Diskurs also rein mechanisch um solche Elemente, die zur inventio Gusmans – dem (partiellen) ‚Lob des Wuchers‘ – passen, auch wenn dies der sonst angestrebten Eindeutigkeit in der Behandlung des Themas zuwiderläuft? Oder geht es im Gegenteil darum, durch die Erzeugung von Mehrdeutigkeit die Absurdität der Gusman’schen Exkulpations-Strategie auszustellen? Sollte Letzteres der Fall sein, so handelte es sich um ein Verfahren, das im diskursiven Kontext nur schwach abgesichert erscheint. Denn zum einen überschreitet Gusmans Rekurs auf die scholastische Wucherlehre als solche ja keineswegs die Grenzen dessen, was um 1600 auf dogmatisch valider Basis zum Thema gesagt werden kann; um zur christlichen Wahrheit im albertinischen Sinne vorzudringen, müsste sich der Leser in einer Art ‚Komplementärlektüre‘ daher bis zu einem Punkt vortasten, an dem die Geltung des dogmatischen Wissens selbst infrage stände (was als Text-Strategie seinerseits subversiv erscheinen könnte). Zum anderen erzeugt die Art der Darstellung unweigerlich Zweifel daran, ob Gusman die Tragweite der sündigen Handlungen seines Vaters tatsächlich verstanden hat. Wo es, gemäß den rigorosen Überzeugungen des Autors, nicht nur um die Verdammung des Wucherers selbst, sondern auch um die seiner Kinder und Kindeskinder geht, erscheint der – wie auch immer ironisch gebrochene – Versuch des Sohnes, die Taten seines Vaters zu rechtfertigen, inadäquat und gefährlich heilsvergessen. Indem Gusman, anstatt die Wahrheit zu bekennen, allerlei Nebelkerzen wirft, bleibt er im Bann der Sünde, die sein Vater beging – und gefährdet noch dazu das Seelenheil des Lesers, der die Wahrheit hinter der Rhetorik aus den Augen verlieren könnte. Solche durch den Transfer pikarischer Alterität in Albertinus’ Text entstehenden Verwerfungen zeigen, dass die Etablierung eines auktorial steuerbaren religiösen Diskurses im Medium pikarischer Rede kaum gelingen kann. Wenngleich Albertinus das Spiel des Alemán’schen Textes mit der nominalistischen Abgründigkeit chrematistischer Praktiken weitgehend unterbindet, bleibt die Erzählposition Gusmans epistemisch labil. Dass Gusman, dessen Abstammung auch bei Albertinus unklar ist,127 hinsichtlich seiner Genealogie tatsächlich „den wahren vnd klaren Text abl[iest]“, wie er beteuert, erscheint in dem Maße fraglich, in dem er selbst auf jene Mittel der Rhetorik zurückgreift, die er vordergründig so entschieden ablehnt. Seine Behauptung, die Leute hätten beim Erzählen der Geschichte seiner Eltern „zu erzeigung jhrer Kunst vnd Wolredenheit / auß einem Zwergl einen Risen / vnd auß der praesumption oder
127 LG, S. 21: „Jnmittelst vnnd noch in wehrendem deß alten Ordensherren Leben / ward mein Fraw Mutter schwanger / vnd gebahr einen Sohn / der war ich / vnd hatte ich / der rechnung vnnd regel der scientiæ fœmininæ nach / zween Vätter […].“
3.3 Ein gottloses Kind: Hybridität von Text und Figur bei Albertinus
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vermutung ein euidentiam vnd warheit“ gemacht,128 verkehrt die rhetorischen Verhältnisse, wie sie sich dem Leser auf den ersten Seiten eigentlich darstellen. Denn während Gusman keinen einzigen der Vorwürfe, die die ‚bösen Zungen‘ seiner Familie machen – Wucher, Promiskuität, Hoffart, Verschwendungssucht und häusliche Misswirtschaft –, irgendwie glaubhaft entkräften kann, setzt er seine rhetorischen Fähigkeiten dazu ein, das, was eigentlich doch „evidentia[ ] vnd warheit“ ist (oder sein sollte), in die Sphäre von „praesumption oder vermutung“ zu verschieben; der Spross des Hauses Alfarche129 zielt darauf, das monströse, riesenhafte Ausmaß der Sündenverstrickung seiner Eltern mittels Rhetorik auf Zwergenniveau zu schrumpfen. Die Schwierigkeiten, Wissen und Nicht-Wissen, pikarische und religiöse Rede im Diskurs Gusmans zu integrieren, führen auch in der Folge immer wieder zu Verwerfungen. Im Sinne der These Mohrs und Waltenbergers, dass „Brüche[ ] der textuellen Faktur“ pikarischer Romane sich nicht zuletzt in der „ungefügten und uneinheitlichen Figur des Pícaro“ manifestieren,130 deutet die Hybridität der Gusman-Figur dabei auf die Eingriffe und Veränderungen, die Albertinus am Alemán’schen Text vornimmt. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er in diesem Zuge den Themen der Vaterlosigkeit und mangelnden katechetischen Erziehung Gusmans, die im Landstörtzer vor dem Hintergrund einer im engeren Sinne christlichen oeconomia-Lehre betrachtet werden. Woher dieses ökonomische Wissen stammt, lässt sich im Werkkontext leicht eruieren. Mit seiner Haußpolicey hatte Albertinus schon 1602 einen Text vorgelegt, der die alte – und dann im 16. Jahrhundert zunächst von den Protestanten aufgegriffene – Idee der oeconomia christiana als Bestandteil der katholisch-maximilianischen Erziehungsprogrammatik aktualisiert hatte.131 Im Zentrum des Textes stehen daher auch nicht Fragen des Erwerbs oder der Organisation einer profitablen Hauswirtschaft, sondern Konzepte religiöser und sozialer Eintracht. Nur dort, wo Mann und Frau „[e]inerley Gemüt / einerley Einigkeit / einerley Trawrigkeit / einerley Frewd / einerley Willen / einerley Gewin / einerley Reichthumb / einerley Armut / einerley dignitet vnd Wirde / einerley nechtliche vnnd tägliche Beywohnung vnnd Gesellschafft“ haben,132 könne die oeconomia funktionieren. Die Herrschaft im Haus kommt dabei freilich dem Mann zu – und dies, wie für das
128 Ebd., S. 1 f. 129 So – ohne drittes ‚a‘ – die Schreibweise des spanischen Ortes bei Albertinus. 130 Mohr, Waltenberger: Einleitung, S. 10. 131 Zur Haußpolicey und ihren spanischen und französischen Bezugstexten, deren wichtigster die Schrift La perfecta casada des Luis de León (Salamanca 1583) ist, vgl. Van Gemert: Die Werke des Aegidius Albertinus, S. 396–398. 132 Albertinus: Haußpolicey, S. 73r.
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Genre der ‚christlichen Ökonomie‘ typisch, zugleich in einem weltlichen wie spirituellen Sinn. Was im christlichen Haushalt als Einheit zwischen Mann und Frau, aber auch zwischen Eltern, Kindern und Gesinde vorherrschen soll, verweist laut Albertinus demnach auf den integralen Zusammenhang christlicher Gemeinschaft, der gemäß Eph 5,23 durch Gottvater und seinen Sohn Christus garantiert wird. So wie Christus „sein Kirch nit allein mit dem materialischen Brot / sondern von jm selbst“ 133 erhalte, möge der Hausvater „nicht allein […] ernehren vnd erhalten das Weib / sondern er ist auch schuldig / zu sorgen für sein Haußgenossen / vnd sie zu vnderweisen in der Gottsforcht / disciplin vnd guten Sitten: er muß in seinem hause gleichsamb versehen das Ambt eines Bischoffs […].“ 134 In diesem Sinne als Element und Spiegel eines christlichen corpus mysticum gedacht, fügt sich das Haus bei Albertinus in eine theokratische ordo-Konzeption, in der die auctoritas des Hausvaters neben irdischökonomischen stets auch spirituelle Implikationen birgt. Von der Haußpolicey aus betrachtet, erhält Gusmans Erzählung von den Umständen seiner Zeugung den Charakter einer abgründigen Kontrafaktur. Als Sohn, der „der rechnung vnnd regel der scientiæ fœmininæ nach / zween Vätter“ 135 hat, gehört Gusman demnach qua Geburt zur Gruppe der „Gottlosen Kinder“, die, wie es in der Haußpolicey heißt, in der Welt weder „tieffe Wurtzeln“ noch „vesten grundt“ haben: „Obs schon zu zeiten äst außlest vnd grünet / so werden sie doch vom Windt bewegt. Dann sie stehen nicht steiff / vnnd wo der Windt ein wenig starck ist / wehet ers mit der Wurtzel auß.“ 136 Der Semantik der Beweglichkeit und Kontingenz, die im Traktat entfaltet wird, korrespondiert die desintegrative Dynamik, die das (anti-)ökonomische Geschehen im LandstörtzerRoman aufweist. Nichts von dem, was die Eltern Gusmans unternehmen, entspricht den Regeln christlichen Haushaltens: Die Promiskuität der Mutter durchkreuzt die Ordnung patriarchal organisierter Genealogie, so dass Gusman sich in einem fragwürdigen rhetorischen Manöver sogar gezwungen sieht, die Möglichkeit weiterer Vaterschaften für seine Person auszuschließen.137 Und der Versuch 133 Ebd., S. 162r. 134 Ebd., S. 163v. 135 LG, S. 21. 136 Albertinus: Haußpolicey, S. 127r. 137 Auch hier bleibt Gusman einem pikarischen Muster verpflichtet: Anstatt seine uneheliche Zeugung zu problematisieren, wendet er sich, dem Rat seiner Mutter folgend, gegen die Verleumder, die ihm noch mehr Väter anhängen wollen: „[…] derwegen sage vnd protestire ich hiemit / daß mir das jenig / dessen mich die mißgünstige calumnianten bezeyhen / daß nemblich ich mehr / als zween Vätter gehabt haben solle / nit wahr ist / dann nit allein meine zwen Vätter haben mich selbst für jren Sohn erkennt / sondern es hats auch mein Mutter bestättigt: Jst also vil besser / daß man sage / daß ich vbel geboren worden / weder keines einigen Sohn vnd niemandt zugehörig seye [...].“ LG, S. 22. Dass Gusman als Beweis neben der wenig
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des Vaters, mit den auf zweifelhafte Weise erworbenen Mitteln seiner Frau einen Haushalt zu gründen, scheitert kläglich.138 Dies kann den Leser der Haußpolicey nicht verwundern, zeigt sich doch schon in der Anbahnung der Ehe, dass die Eltern nicht aus den rechten Gründen heiraten. Nennt Albertinus in seiner Ökonomik demnach „dreyerley ding“, die den „intent“ zum Heiraten „böß“ machen – nämlich Geilheit, Geiz und Hoffart –,139 so herrschen eben diese Ehegründe bei Gusmans Eltern offensichtlich vor. Gusmans Vater bandelt mit der schönen jungen Frau des Ordensherrn überhaupt nur an, weil er sie sexuell begehrt und von dieser wiederum begehrt wird.140 Dass er sie nach dem Tod ihres ersten Mannes dann heiratet, hat allerdings vor allem mit ihrem höheren gesellschaftlichen Status und Vermögen zu tun; als verwitwete „Fraw Commenthurin“ verfügt Gusmans Mutter über ein „ansehnlichs Gelt“, das, wie Gusman ohne Umschweife zugibt, die eigentliche „vrsach“ für die Heirat darstellt.141
glaubhaften Aussage seiner Mutter ausgerechnet die Tatsache anführt, dass beide Väter ihn ja als Sohn anerkannt hätten, ist eine besondere Pointe des Textes. In der Haußpolicey betont Albertinus, dass sich Abstammung unter anderem dadurch authentifizieren lasse, dass „der Vatter in seinem Sohn nicht allein sein eigne Gestallt / sondern auch sich selbst“ erkenne. Albertinus: Haußpolicey, S. 73r. In der Diegese des pikarischen Romans zeigt sich freilich, dass diese Regel keine epistemische Sicherheit bietet. Beide Väter, der Wucherer und der Ordensherr, erkennen in Gusman ‚ihren‘ Sohn: „[…] dann ich gefiel zweyen Vättern oder Herren / vnnd sie alle beyde erkennten mich für jhren Sohn / Wann der Ordensherr allein bey mir war / sagte vnnd berümbte er sich / daß ich jhm vil gleicher vnd ähnlicher sehe / weder ein Ey dem andern: Wann ich mit dem andern meinem Vatter redete / sagte vnnd bezeugete derselb / daß ich jhme je gleicher nit sehen köndte.“ LG, S. 21. Ob man diese doppelte Vaterschaft als metaphorischen Hinweis auf die weltlich-geistliche Hybridität des Textes deuten kann, wie Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 56–63, dies vorschlägt, ist hier nicht weiter zu diskutieren. Angesichts der offensichtlichen metapoetischen Relevanz der ‚Zeugungs‘-Passage erscheint dies zumindest nicht unplausibel, wenngleich es eine letzthin doch planvolle Subversivität des albertinischen Textes voraussetzen würde, die mit den erbauungsrhetorischen Bemühungen des Müncheners auf den ersten Blick schwer vereinbar scheint. 138 Die Umstände des elterlichen Ruins werden in Albertinus’ Text stark gerafft dargestellt. Demnach habe der Vater „zu bancketiren / zu spielen / vnd dermassen zu dominiren [angefangen] / daß er jnnerhalb zwey Jaren nit allein 10000. Ducaten meines [i.e. Gusmans] Mütterlichen Guts hindurch jagte / sonder auch sein Landtgut Alfarche genannt / verkauffte / vnd bald hernacher auß Hertzleyd starb.“ Ebd., S. 23. Die Mutter wird nach dem Tod ihres zweiten Mannes öffentlich geächtet. „[A]rm / elendig / veracht vnd demütig“ geworden, ist man ihr „spinnenfeindt“ und redet ihr „sehr spöttisch vnnd schimpflich“ nach – eine Strafe, die Gusman nicht für angemessen hält, sieht er doch auch hier wieder bloß die ‚bösen Zungen‘ am Werk. Ebd., S. 23 f. 139 Albertinus: Haußpolicey, S. 82v. 140 Vgl. LG, S. 14 f. 141 Ebd., S. 22 f. Die Vorstellung, dass die Frauen ein größeres Vermögen in die Ehe einzubringen hätten als die Männer, wird von Albertinus in der Haußpolicey übrigens als sittliche Neu-
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Bleibt die Kritik an den Handlungen der Eltern in den ersten beiden Kapiteln in dem Maße implizit, in dem Gusmans Rede immer wieder – anstatt direkt auf die Wahrheit zu zielen – zwischen Apologie und Ablenkung schwankt, so versucht Albertinus dies im Weiteren durch die Markierung der relativen und moraltheologisch unhaltbaren Perspektive des ‚Gottlosen Kindes‘ zu ändern. Wesentliche Elemente des ‚kompilatorischen Baukomplexes‘ (Cordie) des Textes verdanken sich dieser Zielsetzung. So lässt Albertinus im fünften Kapitel, kurz nach Aufbruch Gusmans in die Welt, einen Priester auftreten, dessen zentrale Funktion es ist, das vagierende Kind (und den Leser) an die Gefahren der Vaterund Gottlosigkeit zu erinnern.142 Das katechetische Defizit, das die gottferne Erziehung Gusmans hinterlassen hat, wird im paränetischen Diskurs des Geistlichen dabei klar expliziert: Mein Kind / ich sihe vnd erkenne die grosse gefahr vnd vnheyl / welches dir beuor stehet / dann du bist je noch ein junges Bübel / Vatter vnd Herrnloß. Damit derwegen du dich aller orten desto besser hüten vnd fürsehen mögest / so merck auff mein Wort / vnnd folge meinem Rath. Vor allen dingen sey Gottsfürchtig / dann wirstu dich in der Gottsforcht nit stät vnd fest halten / so wird dirs vbel ergehen / allhie zeitlich vnd dort ewigklich.143
An dieser Stelle ist gut zu beobachten, wie Albertinus die psychologischen Möglichkeiten, die das pikarische Figurenkonzept ihm bietet, im Sinne des katechetischen Diskurses zu (re-)funktionalisieren versucht. Um den Verdacht gar nicht erst aufkommen zu lassen, das auf Iteration basierende Konzept innerhäuslicher religiöser Erziehung ließe sich durch punktuelle Mahnreden ersetzen, betont Albertinus die Unfähigkeit des Kindes, die „Wort deß frommen Priesters“ zu begreifen. „[W]olte Gott / ich hette sie zu Hertzen geführt / vnnd behalten“, lässt er den Erzähler Gusman sagen, „aber ich war noch vil zu jung vnd wild / sie zu fassen.“ 144 Dass diese Feststellung nun eindeutig einer religiös geläuterten Ich-Instanz zuzuschreiben ist, die für die Einspeisung ordo-rekursiven Wissens tauglich erscheint, ist kein Zufall. Auf dem Feld eines erbaulichen Diskurses, der durch die subversive Dynamik pikarischer Narration nicht schon unterminiert ist,
heit scharf verurteilt: „Die alte gebreuch haben sich gerad umbkehrt. Dann vor jaren pflegten die Menner zu kauffen vnd zu erwerben die Weiber / durch die Dienst / die sie erzeigten jhren Eltern […].“ Albertinus: Haußpolicey, S. 83v. 142 Die Figur des Priesters ist weder bei Alemán noch bei Juan Martí, dem Autor des von Albertinus ebenfalls (teilweise) berücksichtigten apokryphen zweiten Guzmán-Teils, zu finden. Zum fünften Kapitel als Resultat albertinischer Kompilation vgl. Van Gemert: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, S. 276 f. 143 LG, S. 43. 144 Ebd., S. 45.
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kann der Münchener die Unterscheidung von wissendem (erzählendem) und nicht-wissendem (erzähltem) Ich Gusmans vorübergehend stabilisieren. An anderer Stelle bleibt ihm dagegen nur, die bei Alemán angelegte Epistemologie pikarischen Erzählens gemäß dem Erbaulichkeitspostulat zu modifizieren. Dies lässt sich insbesondere an Albertinus’ Behandlung des KlugheitsKonzepts zeigen, wie die Primera Parte Alemáns es entfaltet. Wie schon im Lazarillo wird das Erwachen der Klugheit des Picaro in der Vida de Guzmán de Alfarache auf die Notwendigkeit zurückgeführt, sich in der kontingenten Welt zu behaupten. In diesem Sinne erzählt Guzmán, wie er als von Armut gepeinigter Knabe erkannt habe, dass gerade das widerwärtige Glück die Menschen klug mache („como la contraria fortuna hace a los hombres prudentes“), wobei ihm ein neues Licht („una nueva luz“) aufgegangen sei, das das zeitliche Spielfeld seines Lebens auf einen Schlag erhellt habe („como en claro espejo me representó lo pasado, presente y venidero“).145 Dies erscheint dem auf sein Leben zurückblickenden Guzmán freilich als bedauerlicher Irrtum. Aus seiner Sicht stellt das Erweckungserlebnis seines jungen alter ego nichts als ein Zeugnis mangelnder Reife dar. Seine Kritik zielt dabei allerdings nicht auf die Klugheit als solche. Vielmehr geht es ihm um die Realitätsferne der Erkenntnis, die er als Jüngling gehabt zu haben glaubte; diese habe aus lauter Einbildungen bestanden, über deren praktische Umsetzbarkeit er sich keine Gedanken gemacht habe Wer denkt, dem erscheint alles fertig, ausgebacken, angerichtet und leicht; aber wie schwierig wird es einem, der es tun soll! […] Ach, wer gesehen hätte, wie ich mit größtem Eifer und ohne Schlafenslust mir meine Aussichten zusammenfabulierte! Es waren Burgen auf Sand, Ausgeburten meiner Phantasie. […] Alles war eitel, alles Lüge, alles Täuschung, alles falscher Einbildungsbetrug […].146
Klugheit wird erst durch das im Handeln erworbene Erfahrungswissen zu solcher; vorher ist sie nichts als eitle Imagination. Mit dieser Einsicht unterstreicht Alemán die Fundierung der prudentia in der Praxis und verankert das Wissen seiner Figur im poetologischen Zusammenhang des Romans, der dem Leser, wie Guzmán zu Beginn des Zweiten Teils bemerkt, als Schule der Erfahrung dienen soll: „Ich bekomme hier die Prügel, du aber die Belehrungen, die sie enthalten. Für mich ist der Hunger, für dich der Fleiß, damit du keinen zu leiden brauchst.“ 147
145 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 248. 146 Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 210 f. 147 Ebd., S. 421 f.
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Entwirft Alemáns Text die Welt als einen Raum, in der der Mensch nach eigenen, von Gott nicht von vornherein festgeschriebenen Gesetzen handelt, so zeigt sich Albertinus deutlich bemüht, die autarkistischen Tendenzen des Alemán’schen prudentia-Konzepts qua Verweis auf das göttliche Wissensmonopol einzuholen.148 Dabei knüpft er an die formale Struktur der Argumentation bei Alemán an. Auch Gusman berichtet demnach von dem Erwachen seiner Weltklugheit,149 um sich im nächsten Moment von der Epiphanie wieder zu distanzieren. Doch lenkt Albertinus den Diskurs der Figur in eine andere Richtung. Gemäß dem später im Roman vom Bologneser Kardinal ausgesprochenen Lehrsatz Jerónimo Osórios, „daß alle weißheit in der erkändtnuß Gottes bestehe / dann er ist ein Vatter vnnd erschaffer aller ding / ein anfang der gantzen Natur / ordnung / schönheit vnnd alles guten“,150 attestiert Gusman der (vermeintlichen) Erkenntnis seines adoleszenten alter ego epistemologische Impotenz, weil diese sich nicht an Gott ausrichtet – ein Mangel, den der Geläuterte auf den Ausfall elterlicher Katechese und damit auf den oeconomia-Diskurs des Romanbeginns zurückbezieht: Alle meine imaginationes, einbildungen vnd fürsatz waren eytel / vergeblich vnd ein betrug / dann ich bawte auff den Sandt / vnd nicht auff die Gottsforcht / ich wuste nit / was Gottsforcht war / vnd meine Eltern hatten mich nicht vnderwisen / noch darzu erzogen / derwegen bettete ich weder deß Morgens noch deß Abends / vnd hörte niemaln Meß […]. O wie glückselig seind die Kinder / denen Gott jhre Eltern so lang leben läst / von denen
148 Auch darin erweist sich der Münchener als Gegner spätscholastischer Theoriebildung. Auf diese nämlich ist Alemáns Klugheits-Konzept mindestens insoweit zurückzuführen, als es auf die Existenz eines unabhängigen Entscheidungs- und Handlungsspielraumes des Menschen pocht, der erst auf einer zweiten Ebene heilsökonomisch eingebunden ist. Zur spätscholastischen autarkeia-Lehre vgl. etwa Merio Scattola: Eine interkonfessionelle Debatte. Wie die spanische Spätscholastik die politische Theorie des Mittelalters mit der Hilfe des Aristoteles revidierte. In: Politischer Aristotelismus und Religion in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Alexander Fidora u. a. Berlin 2007 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 23), S. 139–161, hier S. 151 f. 149 Dabei benutzt er nahezu dieselben Worte wie sein spanischer Vetter: „Ich sahe klärlich was gestalt das widerwertige Glück die Menschen fürsichtig machet: Damals gedunckte mich / daß ich ein newes Liecht sahe / dann wie in einem klaren Spiegel repraesentirte sich mir das vergangne / das gegenwertige / vnd dz zukünfftige […].“ LG, S. 47. 150 Ebd., S. 278. Der sich auf Osório berufende Kardinal nimmt dabei das (machiavellistische) Prinzip der Klugheit aufs Korn. So betont er, dass niemand „fürsichtiger sein“ könne, „als eben ein solcher weiser Mann“: „[...] durch die Göttliche disciplin ist er dermassen in allen guten dingen vnderwisen worden / daß sich nichts begeben vnd zutragen kan / so jhne betrüge […].“ Ebd., S. 280 f. Der für Albertinus insgesamt wichtige Traktat Osórios De vera sapientia libri V erscheint 1578 in Lissabon und wird bereits 1579 bei Arnold Birckmann in Köln nachgedruckt, woher ihn der Münchener denn auch wohl bezogen haben dürfte.
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler
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sie Gottförchtiglich erzogen werden / vnnd so weit kommen / daß sie jhre Nahrung selbst gewinnen können / vnd nit gezwungen werden / den fremden in die händ zu sehen / vnd hin vnd wider elendiglich vmbzustörtzen.151
Die Polarität von patriarchaler, auf Gott als „Vatter vnnd erschaffer aller ding“ ausgerichteter Ökonomie und der diagonalen, die Ordnungen durchkreuzenden Bewegung des ‚Störtzers‘ wird an dieser Stelle paradigmatisch deutlich.152 Es ist eine Spannung, die sich, wie in diesem Abschnitt gezeigt, auch in der hybriden Struktur des albertinischen Diskurses manifestiert: Durch die Einfrachtung eines theologisch fundierten oeconomia-Wissens versucht Albertinus, die Subversionsdynamiken pikarischer Narration zu hemmen (oder umzulenken), was auf formaler Ebene keineswegs zu einer Vereinheitlichung, sondern eher zu einer Vervielfachung von Stimmen und Diskursebenen führt. Die polyphone, Dissonanzen gleichzeitig erzeugende wie dogmatisch bearbeitende Struktur ist aber nicht das Einzige, das den Transfer ökonomischen Wissens im Landstörtzer von dem eines Traktats wie der Haußpolicey unterscheidet. Auffällig ist vielmehr auch, dass Albertinus im pikarischen Text der materiellen Dimension häuslicher Ordnung ein größeres Gewicht beimisst, als es in seiner Ökonomik der Fall ist.153 Dies zeigt sich in nuce schon im zitierten Ausruf Gusmans, glückselig seien die Kinder, die „jhre Nahrung selbst gewinnen können / vnd nit gezwungen werden / den fremden in die händ zu sehen“. Was hier anklingt – das Thema der Armut –, erhält im Laufe des Romans eine zentrale Bedeutung als Schnittstelle der Diskurse, die sich bei Albertinus mit dem Anderen befassen: der Theologie, der Politik und der Ökonomie.
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler Im Albertinus-Kapitel seiner Studie geht Cordie von der Annahme aus, dass der Hofsekretär Albertinus im Bayern Maximilians I. „die Abfassung geistlichpropagandistischer Traktate“ als „eine subtile Form machiavellistischer Verstel-
151 Ebd., S. 49 f. 152 So auch schon Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 156–158. 153 Eine Beobachtung, die angesichts der Relevanz des Materiellen in Alemáns Roman an sich nicht verwundern kann, vor dem Hintergrund gängiger Thesenbildungen der AlbertinusForschung jedoch durchaus zu betonen ist: Bei aller Tendenz des albertinischen Textes zur Theologisierung bleibt der Wissenstransfer auch im deutschen Text vom spezifischen Weltbezug pikarischen Erzählens bestimmt. In einer genauen Lektüre der Passage rund um Gusmans Klosterein- und -austritt wurde dies auch von Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 84–91, deutlich herausgestellt.
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3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman
lungskunst“ betrieben habe, die „Religion nicht um ihrer selbst willen […], sondern zum Mittel des Machterhalts“ benutzte.154 Unsere bisherige Lektüre des Landstörtzer-Romans und der ihn umgebenden Schriften lässt diese These wenig plausibel erscheinen. Keine einzige Passage im Œuvre gibt Anhaltspunkte dafür, dass die unermüdliche ‚apostolische‘ Schreibarbeit des Albertinus ein Jahrzehnte dauerndes, prudentistisches Dissimulationsprojekt gewesen sein könnte.155 Und auch der Landstörtzer ist, wie gezeigt, durch kontra-prudentistische Tendenzen geprägt. Ganz deutlich wird dies in den Gesprächen der Tischgesellschaft zu Bologna, deren fünfter Redner die Grundzüge albertinischer statusLehre vertritt. Als ein typisch nachtridentinischer „Discurs von der Einigkeit vnd Vneinigkeit“ entfaltet sich vor dem Leser eine Lehre von der integralen Einheit von Staat und Religion, deren Kern, wenig überraschend, das Gebot der Gottesfurcht bildet: [Es] entspringt auß der Religion vnnd Lieb Gottes aller Fried / einigkeit vnnd Wolstandt eines Königreichs / hergegen auß der Verachtung der Religion erfolgt Vneinigkeit / confusion, vnordnung /auffruhr / Krieg vnnd Blutuergiessen. Es haben sich gleichwol die Politici starck bemüht / das Volck in frid vnnd einigkeit zu erhalten / vermittelst der Gesetz / edicten, ordinantzen vnd scharpffen pœnen vnnd straffen / aber weil sie ohne Fundamente gebawt vnd darneben die Gottsforcht vnnd Religion nit in obacht genommen / so ist alle müh vergebens gewest. Die Religion ist das fürnembste fundament aller rerumpublicarum […]: Die Religion vnd der status seind dermassen zusammen geleimet / daß auß jhrer diuision vnnd zertheilung eben das jenig erfolgt / was auß der zertheilung eines Schiffs entstehet / dann theilestu eines Schiffs / so ists verloren […].156
Auf unsicherem, weil postlapsarischen Untergrund bildet für Albertinus die Religion das „fundament“ der Staatlichkeit und erzeugt damit einen Raum politischer Herrschaft, in dem „Fried / einigkeit vnnd Wolstandt“ dann erhalten bleiben, wenn das Handeln der weltlichen Würdenträger auf Gott ausgerichtet bleibt. Die Virulenz dieses Konzepts im Werk kann mit Blick auf die Rekursareale albertinischen Politik-Wissens dabei nicht verwundern. Von Antonio Guevara bis Luis de Malvenda – alle wichtigen Stichwortgeber des Müncheners bleiben in ihren Herrscher-Spiegeln auf dem Boden einer ‚christlichen Politik‘, die keine autonomen Spielräume für ratio status und politische Klugheit vorsieht.157
154 Vgl. Van Gemert: Übersetzung und Kompilation, S. 141; Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 49. 155 Auch Van Gemert sieht die durchgängig anti-machiavellistische Tendenz des albertinischen Gesamtwerks. Vgl. Van Gemert: Die Werke des Aegidius Albertinus, S. 47–59. 156 LG, S. 326 f. 157 Dazu Van Gemert: Die Werke des Aegidius Albertinus, S. 47–59.
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler
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Dass die Geltung dieses prima facie invariabel erscheinenden Konzepts im Landstörtzer nun gleichwohl neu ausgehandelt werden muss, hat mit der Reperspektivierung politischen und religiösen Wissens aus dem Blickwinkel des Picaro zu tun. Als Figuration des Anderen durchkreuzt Gusman die Ordnungen von Theologie, Politik und Ökonomie, wobei seine mangelnde Katechetisierung sich gewissermaßen bloß negativ, nämlich in einer Absenz frommer Weltbetrachtung, äußert. Dies lässt sich am Armutsdiskurs paradigmatisch zeigen.158 Als Gusman auf dem Weg von Alfarache nach Madrid, dem ersten Abschnitt seines Weltparcours, die Not kennenlernt, spielen spirituelle Aspekte in seinen Gedanken keine Rolle. Eine Parallele zwischen dem Mangel an ‚materialischer‘ und ‚geistlicher‘ Nahrung, der mit Blick auf die Haußpolicey immerhin naheliegend wäre, wird von ihm nicht gezogen; stattdessen rückt das Geld in den Mittelpunkt seiner Beobachtung: [...] weil mein Beutel allbereit lär / vnd mein Leib vnd Glieder müd vnnd math worden / so ging es mir eben wie einem krancken oder kretzigen Hund […]: Dann die müheseligkeiten vmbgaben mich / jederman stach auff mich / vnnd spottete meiner / seytemal ich kein Gelt hatte / damals erkennte ich / was ein häller seye / vnd was gestalt der jenig / der jhne nit gewinnet / seiner nit achtet / wie auch seinen werth nit weist / so lang jhm nichts mangelt: Dises war nun das erste mal / dz ich der laidigen Armut vnder Augen sahe: damals erkannte ich jre Ziffer / aber hernach betrachtete ich jre effecten vnnd wirckungen […].159
Von der Einsicht in die „Ziffer“ der Armut, dem (fehlenden) Geld, zur Erkenntnis ihrer „effecten vnnd wirckungen“ – mit diesem Programm gibt Gusman für seine Erzählung von der Armut eine Richtung vor, in der die Analyse ökonomischer Bedingungen im Vordergrund steht. Vorbild für diese Ausrichtung ist Alemáns Guzmán-Roman, dessen Interesse für ‚arbitristisches‘ Ökonomiewissen sich nicht zuletzt in der Beobachtung der Armut manifestiert. Wie Cruz im Rückgriff auf Maravall festgestellt hat, lässt sich bei Alemán demnach eine Tendenz zur Ersetzung traditionellen religiösen Armutswissens durch Aspekte einer spätscholastischen Ökonomielehre nachweisen, in der der Mangel an Geld und Nah-
158 Dies unternimmt auch bereits Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 74–80. Ihrer Auffassung nach findet im Armutsdiskurs des Romans eine Einklammerung des pikarischen Erfahrungswissens in das christliche Normwissen der Armutstraktate statt, die ersterem zwar eine gewisse Eigenwertigkeit zuschreibt, es zugleich jedoch als ‚Abweichung‘ von der Norm markiert und damit letzthin auch negativiert. Demgegenüber möchte ich im Folgenden zeigen, dass der Roman mit den Möglichkeiten pikarischer Narration epistemische Basisprobleme des Armutsdiskurses bearbeitet, die Albertinus auch bereits in seinen traktatistischen Armutsschriften zur Kenntnis genommen hat. 159 LG, S. 46.
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3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman
rung auf das durch Geiz, vor allem aber die Ablehnung von Arbeit verursachte Stocken der Geld- und Güterzirkulation im Spanien der Zeit zurückgeführt wird.160 Vor diesem Hintergrund bleibe bei Alemán eine moralische Perspektive auf den Picaro virulent, die es dem zeitgenössischen Leser zwar ermöglicht habe, sich von ihm zu distanzieren; als vagierender Bettler und Tagedieb verkörpere Guzmán den Typus des Anderen, der das Gebot von Fleiß und Produktivität missachtet, um ein Leben im Zeichen des otium zu führen.161 Auf Grundlage des subversiven Diskurses, den der Text biete, habe die Kritik am Anderen jedoch jederzeit in eine Kritik an dem (aristokratischen) Vertreter des Eigenen umschlagen können: „What the picaresque’s ironic tone reveals to us, then, is that [...] in articulating the general scorn heaped on industrialization and trade as a means of developing the economy [...] Guzmán’s defiance of the work ethic affords an accurate view of the dominant ideology.“ 162 Sind dem spanischen Text in diesem Sinne „polarized feelings towards the poor“ 163 eingeschrieben, die eine (stabile) Transposition des Diskurses ins religiöse Register von vornherein verhindern, so birgt dies Herausforderungen für Albertinus’ LandstörtzerRoman, die im Folgenden näher zu betrachten sein werden. Dass Gusman als mittelloses Kind außerhalb des Elternhauses in einer Situation ist, die Barmherzigkeit seiner Nächsten nach sich ziehen sollte, wird von Albertinus nicht in Zweifel gezogen. Der bereits zitierte Hinweis auf Gusmans leeren Geldbeutel, seine müden Glieder und das Hundeelend („so ging es mir eben wie einem krancken oder kretzigen Hund“) gehören zur frühneuzeitlichen Topik der Armut und beglaubigen den Anspruch des Waisenknaben auf Almosen ebenso wie die Tatsache, dass er, um zu überleben, dazu genötigt ist, seine Kleidung zu verkaufen. So liest sich seine Erzählung von der Reise nach Madrid als eine Art Passage vom Wohlstand in die Armut: Mit jeder Station, die ihn näher an das Ziel führt, gibt er ein Kleidungsstück ab – bis er bei der Ankunft schließlich nurmehr das sprichwörtliche ‚letzte Hemd‘ am Leibe trägt:
160 Vgl. Cruz: Discourses of Poverty, S. 96–105. 161 Ebd., S. 96: „Cleaving to contemporary opinion, the ‚Guzmán‘’s protagonist rejects the work ethic advocated by the numerous treatises on poor relief for a return to an aristocracy based on ‚otium‘.“ 162 Ebd. Anders als Cruz, die im Geiste Maravalls auf Wirtschaftsdiskurse des 16. und 17. Jahrhunderts mit den Mitteln historisch-materialistische Ideologiekritik blickt, gehe ich nicht davon aus, dass sich anhand einiger Armutstraktate und eines pikarischen Romans Aussagen über ‚herrschende Ideologien‘ der Zeit treffen lassen. Ich würde daher vorsichtiger formulieren, dass Guzmáns Missachtung der Arbeitsethik nicht nur auf ihn als den Anderen, sondern auch auf die Vertreter des Eigenen reflektiert, die ihren gesellschaftlichen Status aus der Ablehnung des negotium herleiten. 163 Ebd.
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler
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[V]nnd als ich mein […] Gelt verzehrt hatte / fing ich an zu betteln / weil aber eben damals der liebselig Getraidt vbel gerathen / vnnd aller Orten ein grosse Thewrung verhanden war / so gab man desto weniger Almusen. Weil dann das bitten vnnd begeren mir wenig halff / so ward ich gleichsamb gezwungen / mein Kleyd anzugreiffen / vnd meisten theils zu verkauffen / dann es heißt: vt vitam redimas, Schuch / Bruch & omnia vendas. Dannenhero als ich gen Madrid kam / befandt ich mich nur in einem blossen Hemmet / vnd so gar war dasselb allerding zerrissen vnd vnflätig […].164
Auch an dieser Stelle fällt der Immanenzcharakter der Rede ins Auge. Gusman – hier eindeutig als erzählendes Ich („damals“, „aller Orten“) – scheint in seiner ökonomischen Analyse weit davon entfernt, eine Verbindung zwischen der bedrückenden Wirtschaftslage und möglichen religiösen Deutungen herzustellen. Anstatt etwa auf den Topos des ‚unfruchtbaren Erdreichs‘ als Strafe für den Sündenfall einzugehen – ein Element religiösen Wissens, das Albertinus an anderer Stelle zur heilstheologischen Begründung der Armut durchaus zu entfalten weiß –,165 werden Missernte und „Thewrung“ als Ursachen für die Almosenknappheit nüchtern registriert. Die Doppeldeutigkeit der Formulierung wird dabei erst auf den zweiten Blick deutlich. Wenn Gusman bemerkt, es wurde wegen des Mangels „desto weniger“ Almosen gegeben, so kann dies einerseits heißen, dass die Menschen zwar immer noch genau die Menge an Nahrung und Geld abgeben, die sie unter Bewahrung ihres standesgemäßen Einkommens (necessarium) zur Verfügung haben, dass diese Menge jedoch dem Mangel entsprechend geringer ausfällt.166 Es kann andererseits aber auch heißen, dass die Bereitschaft, Almosen zu geben, schon vor Ausbruch der Teuerung nur schwach vorhanden war (‚desto weniger‘ im Sinne von ‚noch weniger‘) – in welchem Fall der makroökonomische Diskurs die wahren Gründe für die desolate Situation der Armen eher verdecken als erhellen würde. Ob und in welchem Maße die von
164 LG, S. 53. 165 Demnach kann die Teuerung für den auf die Armuts-Thematik eingestellten AlbertinusLeser auch als konkrete Nachwirkung des Sündenfalls verstanden werden. So erinnert Albertinus in Trost der armen vnd Warnung der Reichen daran, „dz der Segen nichts anders ist / als ein Vberflüßigkeit / der Fluch aber ist ein Armut: In deme der wegen der Mensch sich beklagte / vmb dz er nackhet vnnd beraubt war / vnnd als GOtt jhm zur Antwort gab / daß das Erdtreich von seiner Sünd wegen / solle verflucht seyn / bedeut solches ebenso vil / als wann er gesagt hette: Du wirst arm seyn / dann die Erdtreich / darauff du wohnen wirdest / soll nit fruchtbar / sondern vnfruchtbar […] seyn […].“ Aegidius Albertinus: Trost der armen vnd Warnung der Reichen. Anfangs durch den Ehrwirdigen Herrn Franciscum de Ossuna Barfuser Ordens / in Hispanischer Sprach beschrieben […]. München: Nikolaus Heinrich 1602, fol. 4v–4r. 166 Die Lehre vom necessarium wird in ihrer in Mittelalter und Früher Neuzeit weithin gültigen Form von Thomas von Aquin in der Summa theologica (II–II,32,6) formuliert und besagt, dass Almosen nur dann gegeben werden müssen, wenn das Leben und der irdische Stand des Almosenspenders dadurch nicht gefährdet werden.
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3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman
Thomas von Aquin so genannte caritas habitualis – die generelle Bereitschaft zur barmherzigen Tat am Nächsten167 – unter den Menschen ausgeprägt ist, bleibt auf diese Weise in der Schwebe. Somit ist es nicht nur die (anfängliche) Immanenzorientierung, sondern auch die Tendenz zur epistemologischen Unschärfe, die den Armutsdiskurs im Landstörtzer-Roman von der erbaulichen Behandlung des Themas in Albertinus’ restlichem Werk unterscheidet. Zumal in Trost der armen vnd Warnung der Reichen, einer stark bearbeiteten Adaption des Quinto abecedario espiritual (1542) Franciscos de Osuna,168 verläuft die Einpassung des Armen in die Heilsgeschichte auf ersten Blick völlig nahtlos. Ausgangspunkt des von Albertinus – wie schon von Francisco – gewählten typologischen Verfahrens ist der Sündenfall Adams und Evas. In diesem Sinn heißt es in Trost der armen vnd Warnung der Reichen: Ich aber vermeyne / daß / weil Adam durch das hören [Evas, S. Z.] bewilligt hat inn das verbottene / vnnd durch das essen gewirckt hat die Sünd / der Mensch auff zweierley weiß seye arm worden / nemlich am Leib vnnd an der Seelen: Also / daß vonn wegen / dieser doppelten Sünd / entsprungen ist die doppelte Armut / nemlich die leibliche vnnd geistliche […] / welches da ist ein doppeltes confusion vnnd Schmach / wann nemlich der Mensch arm ist vor den Augen Gottes vnd der Menschen [...].169
Als doppelte erweist sich die Armut bei Albertinus demnach zunächst auf dem Feld einer Heilsgeschichte, die eine Position „vor den Augen Gottes“ (Geist) von einer Position „vor den Augen […] der Menschen“ (Leib) unterscheidet, um beide im typologischen Diskurs doch wieder aufeinander zu beziehen. Denn als Zeichen für den Sündenfall erinnert die Armut an Adams und Evas Abfall von Gott, kann gerade dadurch jedoch als Schnittstelle zwischen den Kreisläufen der Almosen- und der Heilsökonomie dienen. So wird laut Albertinus das, was als ungleiche Verteilung von Reichtum auf Erden zunächst ungerecht erscheinen mag, auf heilsökonomischer Ebene gerechtfertigt, indem der Reiche durch den Anblick des Armen ‒ als exponiertem Träger der Erbschuld ‒ von Gott dazu aufgerufen werde, Werke der Barmherzigkeit zu vollbringen. An Gottes Liebe zu den Armen, so Albertinus, solle der Reiche sich ein Vorbild nehmen und lernen, „daß
167 Zur Unterscheidung von caritas habitualis, die eine im Menschen angelegte theologische Tugend bezeichnet, und caritas actualis, dem konkreten Werk der Nächstenliebe, vgl. Thomas von Aquin: Summa Theologica, I–II, 63,3. 168 Dazu ausführlich Italo Michele Battafarano: Pauperismus und Theorien der Armenfürsorge. Francisco de Osuna, Aegidius Albertinus, Jeremias Drexel. In: ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen als europäischer Literatur. Bern u. a. 1994 (Iris 8), S. 289–337. 169 Albertinus: Trost der armen, fol. 2r.
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler
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wir sie keins wegs sollen verwerffen oder verachten“.170 Vielmehr solle der Christ „gütig: vnnd mitleidiglich […] mit jhnen vmbgehen / in vernünfftiger erwegung / daß jhr armseliger Standt den Reichen gesetzt ist zum exempel vnd spiegel der menschlichen blödigkeit vnd der göttlichen macht vnd barmherzigkeit“.171 Die Reichen sollten bedenken, dass in Gott „eine solche vnion seye zwischen den Reichen vnnd Armben / als wie das ist zwischen dem Haupt vnd den Füessen“.172 Reiche und Arme treten bei Albertinus als Glieder ein und desselben corpus mysticum in ein heilsökonomisches Tauschverhältnis vor Gott: So ladet derwegen / O jhr Reichen / ladet die Armen / vnnd gebet jhnen ein solche Speiß / durch welche euch widerumb gegeben wirdet das Reich der Himmeln. Dann die Armen werden für euch bitten / vnnd Gott wirdt sie erhören / seytemal sie seine freunde seind.173
Im Tausch überflüssiger materieller Güter174 gegen heilswirksame Gebete perpetuiert sich der göttliche Heilsplan in der postlapsarischen Welt. Menge der Güter, Menge des Geldes, Überfluss der Reichen und Not der Armen fügen sich in eine absolute ökonomische Ordnung, die Gott als himmlischer dispensator eingerichtet und den Reichen als irdischen „dispensatores [...] vber die armen Christi“ 175 zur Pflege anvertraut hat. Blickt man von hier aus wieder auf den Landstörtzer-Roman, so werden die Spannungen zwischen theologischem Konzept und pikarischer Diegese alsbald deutlich. Obwohl Gusman, wie gezeigt, die offensichtlichen Zeichen der Armut ‒ „evidentia signa extremae necessitatis“, wie es bei Thomas von Aquin heißt 176 ‒ an sich trägt, werden ihm die Almosen verweigert – und dies keineswegs, wie
170 Ebd., fol. 20v. 171 Ebd., S. 21v. 172 Ebd., S. 13r. 173 Ebd. 174 Denn der Überfluss verpflichtet den Reichen laut der Vulgata-Übersetzung von Lukas 11,41 zum Almosen (‚Quod superest date eleemosynam.‘). So auch bereits Thomas von Aquin (Summa Theologica, 2. Teil, 2. Abschnitt, Quaestio XXXII). Dass es sich bei der Übersetzung des Hieronymus um einen Übersetzungsfehler handelt und die Stelle im altgriechischen Text eigentlich sogar gegen die äußerliche Almosengabe argumentiert, zeigt Keck: Das philosophische Motiv der Fürsorge im Wandel, S. 72. 175 Albertinus: Trost der armen, S. 13r. 176 Die Formulierung findet sich in Thomas’ achter Quaestio quodlibetalis (Quodlibet VIII, q. 6 a. 2 co.). Hier zit. nach Thomas von Aquin: Quodlibetum octavum. In. ders.: Opera omnia. Hg. von Stanilaus Eduard Fretté. Bd. 15: Quaestiones disputatae de veritate (continuatio). Quodlibeta duodecim. Paris 1876, S. 525–545, hier S. 540. Anders als die Autoren der Frühen Neuzeit entwirft Thomas die Rolle des Almosenspenders jenseits aller semiologischen Problematik. Es stellt aus seiner Sicht kein Problem dar, den Armen zu erkennen: „Si videt, certum est quod tenetur dare.“ (Ebd.)
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vom Erzähler zunächst vermutet, allein aus Gründen des allgemeinen Mangels, sondern weil die Menschen in ihm einen nutzlosen Parasiten erkennen: Dannenhero als ich gen Madrid kam / befandt ich mich nur in einem blossen Hemmet / vnd so gar war dasselb allerding zerrissen vnd vnflätig / vnd ob derwegen schon ich gern etwan einem Herrn gedient hette / so wolte mir doch niemand trawen / dann man hielte mich für einen Picaro oder Schwaracken / der kein nutz were.177
Die Stelle, die in Alemáns Text ihr eingehenderes Vorbild hat,178 sprengt das theologische Armutskonzept, indem sie die Lesbarkeit der Armut als Zeichen göttlichen Erbarmens infrage stellt. Nicht überlesen werden sollte dabei, dass Gusman hier durchaus glaubwürdig bekundet, er habe seinen Unterhalt mit Arbeit verdienen wollen ‒ ein seit dem späten Mittelalter immer wieder genanntes Argument zur moralischen Entlastung des Armen, das nicht zuletzt auch in Francisco de Osunas Abecedario espiritual, Albertinusʼ Vorlage für die ArmenSchrift von 1602, formuliert wird.179 Wird Gusmans Bereitschaft zu arbeiten von den Menschen aber ausgeschlagen, so geschieht dies nicht bloß nach Art jener unbarmherzigen Missachtung ‒ man könnte auch sagen: dem bloßen Übersehen/ Überhören ‒ des Armen, wie sie im Zentrum der lukanischen Samariter-Erzählung steht. Vielmehr scheint das Urteil über Gusman von einem Wissen bestimmt, das jüngeren Datums ist und sich gewissermaßen zwischen die Figur und ihre (intradiegetischen) Beobachter schiebt: das Wissen vom Armen als arbeitsscheuen Betrüger, dessen unablässig verfolgtes Ziel es ist, am ordo caritatis zu schmarotzen. Im zeitgenössischen Diskurs zur Armut spielt dieses Wissen eine große Rolle. So mehren sich ab dem 15. Jahrhundert die Schriften, in denen die Möglichkeiten der künstlichen Herstellung jener evidentia signa extremae necessitatis verhandelt werden, die den Armen als solchen erkennbar machen soll(t)en.180
177 LG, S. 53 f. 178 Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 258: „De manera que cuando llegué a Madrid, entré hecho un getil galeote, bien a la ligera, en calzas y en camisa: eso muy sucio, roto y viejo, porque para el gasto fue todo menester. Viéndome tan despedazado, aunque procuré buscar a quien servir, acreditándome con buenas palabras, ninguno se aseguraba de mis obras malas ni quería meterme dentro de casa en su servicio, porque estaba muy asqueroso y desmantelado. Creyeron ser algún pícaro ladroncillo que los había de robar y acogerme.“ 179 So heißt es bei Francisco de Osuna: „Es mas benedicto el pobre que por su trabajo gana de comer que el que lo pide por Dios […].“ Francisco de Osuna: Quinta parte del abecedario espiritual […]. o. O. [Sevilla?] 1643, fol. xv. Dasselbe Ziel hat etwa die allegorische Einsetzung der Ameise als Gegenbild zum ‚müssiggehenden‘ Armen in der Armen-Schrift des Albertinus. Vgl. Albertinus: Trost der armen, fol. 19v–19r. 180 Dass dieser Umschlag mit einer Verschärfung des Pauperismus zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit in Zusammenhang steht, hat die sozialhistorische Forschung plausibel
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler
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Auf diese Weise als ein Schau- und Maskenspiel verstanden, verwandelt sich die Bettelei in eine ars mendicandi, in der tendenziell alle Zeichen trügen können.181 Verdächtig wird damit eben jenes ‚Zeigen‘ der Armut, das von Thomas von Aquin dem Armen noch empfohlen wurde.182 Wie am berüchtigten Liber vagatorum (erstmals 1510) paradigmatisch ablesbar,183 geht es im frühneuzeitlichen Diskurs entsprechend kaum mehr darum, Armut in ein heilstheologisches Konzept einzubinden. Vielmehr herrscht in den Schriften ein politischpoliceyliches Interesse an der Disziplinierung der Armen vor, wie es sich zeitgleich auch in den europaweit entstehenden Bettelordnungen niederschlägt.184 Nicht selten wird dabei der Anspruch, zwischen ‚echten‘ Bettlern (mendicantes validi) und ‚falschen‘ Bettlern (mendicantes invalidi) überhaupt noch zu unterscheiden, zugunsten eines resoluten Vorgehens gegen soziale Devianz aufgegeben.185 Auch das Herzogtum Bayern, Albertinus’ unmittelbares Wirkungsgebiet, ist hier als Beispiel zu nennen. So erscheint nur vier Jahre vor der albertinischen Schrift Trost der armen vnd Warnung der Reichen ‒ und auch beim DruckerVerleger Nikolaus Heinrich ‒ ein Landtgebott Maximilians I., das die schädlichen Auswirkungen mobiler Armut anprangert. Es sei, so Maximilian, nicht erträglich,
gemacht. Vgl. Wolfgang von Hippel: Armut, Unterschichten, Randgruppen in der frühen Neuzeit. München 1995; Robert Jütte: Arme, Bettler, Beutelschneider. Eine Sozialgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit. Weimar 2000. Für Spanien vgl. Cruz: Discourses of Poverty, S. 39–74. 181 In Anlehnung an die etwa von Vives deutlich betonte ars-Dimension der Bettelei spricht Geremek davon, dass der Bettlerdiskurs in der frühen Neuzeit „die Form eines Schauspiels“ angenommen habe. Bronislaw Geremek: Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in Europa. Übersetzt von Friedrich Giese. München, Zürich 1988, S. 36. Zu Vives und der ars mendicandi vgl. Keck: Das philosophische Motiv der Fürsorge im Wandel, S. 156. 182 Thomas von Aquin: Quodlibetum octavum, S. 540 (q. 6 a. 2, co.): „[…] cum ad eum qui necessitatem patitur, pertineat ut necessitatem suam exponat.“ 183 Zur Einordnung des in dritter Auflage 1528 von Luther eingeleiteten Liber vagatorum vgl. Robert Jütte: Abbild und soziale Wirklichkeit des Bettler- und Gaunertums zu Beginn der Neuzeit. Sozial-, mentalitäts- und sprachgeschichtliche Studien zum ‚Liber vagatorum‘ (1510). Köln, Wien 1988, hier bes. S. 106–117. 184 Wie deutlich sich diese Form der Beobachtung von Armut vom mittelalterlich-scholastischen Diskurs entfernt, zeigt abermals ein Blick auf Thomas von Aquin. Der nämlich hatte noch davon abgeraten, die Armen zu überprüfen – man solle ihnen ohne Verdacht das Almosen zukommen lassen: „Nec tenetur inquirere; quia hoc esset nimis grave, quod de omnibus pauperibus inquireret.“ Thomas von Aquin: Quodlibetum octavum, S. 540 (q. 6 a. 2, co.). 185 Zu den in den Schriften katalogisierten Typen von Bettlern vgl. Robert Jütte: Disziplinierungsmechanismen in der städtischen Armenfürsorge der Frühneuzeit. In: Soziale Sicherheit und soziale Disziplinierung. Hg. von Christoph Sachße, Florian Tennstedt. Frankfurt a. M. 1986, S. 101–118, hier S. 106.
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[w]as ferner der gemaine arme Bawrßman / sonderlich in den Weilern / und auff den Ainöden ein zeithero für gewalt thettige nächtliche vberfäll / betrangnuß / plünderung / vnd etwo auch gefahr leibs und lebens / von den Herrnlosen garttenden Knechten / Störtzern / Betlern / Stationiern / Zigeinern / und dergleichen müssiggehendem haillosen Gesindel hat ausstehen müssen […].186
Im strengen Ton fürstlicher potestas gehalten, fällt Maximilians Maßnahmenkatalog durchaus drakonisch aus. So notiert das Landtgebott weiter: Darob wir dann ein sonders befrembden / vnd vngenedigs mißfallen tragen / jhnen [den Obrigkeiten und Beamten, S. Z.] hiemit nachmals schaffendt vnd gebietendt / daß sie das garten vnd Stationiern inn krafft diß / von newem bey Henckens straff mit allem ernst verbieten / vnd da sie einen / oder mehr hinfüro betretten / den nechsten zu gefängcknuß bringen / nach gelegenheit mit vnnd ohne gewicht auff alle böse thaten besprachen / vnd vnsere Regiment woluerwarth enthalten.187
Wie Battafarano gezeigt hat, ist Albertinus’ Trost der armen vnd Warnung der Reichen nicht zuletzt als Beitrag zu der durch das Landtgebott angeheizten bayerischen Diskussion um den Umgang mit Armut, Bettelei und Delinquenz zu sehen.188 Denn dass die ‚falschen‘ Bettler ein zentrales Problem politischer Ordnung darstellen, bestreitet auch die Schrift des Hofsekretärs nicht. Vielmehr weist sie auf die Anwesenheit beider Bettler-Typen, der ‚falschen‘ und der ‚echten‘ Bettler, in der Welt hin: VIeler hand armen findt man in der Welt / dann erstlich seindt schier alle Lender / Stett vnnd Fleck erfült mit starcken Bettlern / Stationirern vnd Stürtzern: Am andern / mit Haußarmen Leuthen / oder andern armen / welche entweder wegen hohen alters / oder auß Kranckheit vnd Schwachheit deß Leibs / sich nicht können ernehren mit jhrer Handtarbeit / oder welche sonsten durch vnglücksfell gerathen seindt in armut.189
Sei zudem die „zahl der armen gemeinklich vngewiß“ und trügen „schier stündtlich sich mit jhnen verenderungen zu“,190 so besteht für Albertinus kein Zweifel, dass sich Almosenspender und Policey mit einem Phänomen konfrontiert sehen, das aufgrund von Masse („alle Lender / Stett vnnd Fleck erfült“), Beweg-
186 Ernewerte Mandata unnd Landtgebott / Deß Durchleuchtigsten Fürsten und Herrn / Herrn Maximilian Pfaltzgraue bey Rheyn / Hertzog in Obern und Nidern Bayrn / etc. München: Nikolaus Heinrich 1598, unpag. (Abschnitt XXVII). 187 Ernewerte Mandata, unpag. [Abschnitt XXVII]. 188 Italo Michele Battafarano: Armenfürsorge bei Albertinus und Drexel. Ein sozialpolitisches Thema im erbaulichen Traktat zweier Schriftsteller des Münchener Hofes. In: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 47 (1984), S. 141–180, hier S. 144 f. 189 Albertinus: Trost der armen, S. 15r. 190 Ebd., S. 30v.
3.4 Die zwei Körper des Armen: Gusman als Bettler
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lichkeit und semiotischer Doppeldeutigkeit kaum in den Griff zu bekommen ist. Um zu entscheiden, wer almosenbedürftig ist und wer nicht, kann man sich nicht auf Evidenzen verlassen, da hinter jedem Bettler ein Betrüger stecken kann. Von den so genannten „nackendtpettler[n]“ – ‚falschen‘ Armen, die die adamitische Schamblöße bloß fingieren191 – bis hin zu „Müssiggenger[n] / starcke[n] pettler[n] / Stationirer[n] / Stürtzer[n] vnd gottlose[n] Buben“ 192 reicht die Liste der mendicantes invalidi, die Albertinus in seiner Armen-Schrift aufstellt. Den Kern, um den der Münchener das ihm verfügbare religiöse und politische Wissen von der Armut dabei anordnet, bildet das Problem des Gebens (oder Zurückhaltens) von Almosen angesichts der Unsicherheiten, die die Unlesbarkeit der Armut nach sich zieht. Zwei Positionen stehen sich in Trost der armen vnd Warnung der Reichen gegenüber. Auf der einen Seite folgt Albertinus der Einschätzung des politischen Diskurses der Zeit, wenn er feststellt, dass die Versorgung eines ‚falschen‘ Bettlers mit Almosen dessen Lasterhaftigkeit vermehre.193 Auf der anderen Seite wird in der Schrift sein Bemühen deutlich, den höheren Geltungsgrad theologischen Armutswissens gegenüber dem policeylichen Diskurs zu behaupten, ohne die politische Ebene aus dem Blick zu verlieren. Dabei scheut er sich nicht, an den rigorosen Ordnungsmaßnahmen des maximilianischen Landtgebotts Kritik zu üben. Im Kapitel „Wie man mit den frembden vnnd inlendischen Pettlern solle procediren vnnd verfahren“ warnt er ausdrücklich davor, dass die obrigkeitliche „proscription vnnd straf“ gegenüber „den Legitimirten vnd wahren armen Pettlern vnd dürfftigen Personen etlicher massen præiudicirlich vnd nachteilig / auch vnuerantwortlich“ sei.194 Zwar sei es grundsätzlich richtig, „sophistische falsche Pettler / Stationierer vnnd Stürtzer nit zu gedulden“.195 Doch dürfe dies niemals die Außerkraftsetzung christlicher Barmherzigkeit rechtfertigen, die nach dem bereits von Thomas von Aquin vertretenen bona fide-Prinzip nur gute Absichten, aber keinen Argwohn kenne: Dann obs schon billich ist / daß man drob seye / damit die Almusen erteilt werden den Würdigen vnd nottürfftigen / auf daß nicht dardurch die Laster geziegelt vnd im schwung gebracht werden / so bedarfs doch dißfals keines solchen starcken grüblens vnnd nachforschens. […] [D]ann Gott erfordert von vns die Barmherzigkeit / an der Raach aber hat er kein gefallen. Vnd dieser Vrsachen halben halte ichs für ein vnnotturfft / daß sonderbare ministri vnd Leuth verordnet werden / welche nichts anderst thun / als auf die Armen mercken / damit sie keinen betrueg oder falschheit begehen […].196
191 Ebd., S. 16r. 192 Ebd., S. 19r. 193 Ebd., S. 17r. 194 Ebd., S. 21r. 195 Ebd. 196 Ebd., S. 26v–r. Bereits zuvor schwenkt Albertinusʼ Schrift auf die Perspektive des Armen ein, der sich einer obrigkeitlichen Untersuchung ausgesetzt sieht, in der jedes Wort misstrau-
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Betont Albertinus in diesem Zusammenhang, dass die Präsenz der Armen für die Reichen unverzichtbar sei – woher sonst sollten für sie Anreiz und Gelegenheit kommen, das Nötige für ihr Seelenheil zu tun? –,197 so entfaltet sich in Trost der armen vnd Warnung der Reichen gleichsam unter der Hand eine christlich-politische Reformagenda, die der policeylichen Verfolgung der Bettler mindestens punktuell entgegenzuwirken sucht. Die Formel, der der Münchener dabei folgt, ist ebenso klar wie politisch brisant: In dem Maße, in dem sich der gouvernementale Diskurs vom Gebot der Barmherzigkeit losspricht und das Misstrauen zum Fundament seines Handelns macht, wird er selbst zum Produzenten der parasitären Subjekte, die er bekämpfen will: Dann weil solche arme Leuth dann hie vnd dort / vertrieben werden / so folgt / daß sie jmmerdar in der Walfart müssen verbleiben / auch nirgents kein ruhe finden / vilweniger an etwa einem ort sich bestendiglich niderlassen dörfen / welches aber ein vrsach ist / daß vnderweiln die alte /schwache / presthaffte armselige Menschen / mitten auff der Raiß vnd Strassen / hilf: vnd labloß vnd ohne geniessung der heyligen Sacramenten / jhren geist aufgeben: die sterckere gesunde Pettler aber / auß verzweiflung / sich aufs rauben vnnd stelen begeben / vnd letztlich mit dem strang (welchen sie vielleicht nicht allezeit verdient) jhr leben endigen.198
Was sich in der Armen-Schrift somit zeigt, ist gerade das Gegenteil dessen, was Cordie dem Münchener Autor unterstellt. In Trost der armen vnd Warnung der Reichen geht es mitnichten um die Durchsetzung einer zentralperspektivischen, frühabsolutistischen Staatsordnung, in der religiöses Wissen nach Maßgabe politischen Kalküls instrumentalisiert wird.199 Vielmehr behauptet Albertinus die Prävalenz der Religion gegenüber der Politik, wobei er in einer durchaus
isch geprüft wird: „Andere Stett findt man / welche gleichwol solche Pettler hinein lassen / aber doch mit einer solchen caution vnnd strengen examination vnd rechtfertigung wegen jhres lebens / thuns vnnd lassens / daß einer schier zweiflen möchte / obs besser seye / ein Almosen von einem solchen ort einzunemmen / oder aber ein solches ernstliches / gestrenges vnnd gefährliches Examen (bey welchem sich einer gar baldt mit einem eintzigen Wort kann verreden / verschnappen vnd irrwerden) außzustehen […].“ Ebd., S. 21r–22v. 197 Ebd., S. 30r: „Wofern aber die mandata vnnd ordnungen / das öffentliche pettlen verbieten / so wirdt den Reichen dardurch die gelegenheit deß Almusen raichens / benommen vnd abgeschnitten. Dann wir sehen / daß die jenige Pettler / welche von hauß zu hauß pettlen / ob sie schon einmahl abgewiesen seindt worden / dannoch widerumb vnd abermaln anhalten / jhre Wunden vnd Schäden zeigen / vnd jhr Elend mit kleglichen Worten zu erkennen geben / vnnd also die Reichen zur Barmherzigkeit vnnd Almusen bewegen […].“ 198 Ebd., S. 22r. Zu dieser Stelle auch schon Battafarano: Armenfürsorge, S. 165. 199 Vgl. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 49. Bereits Battafarano betont die Differenzen, die sich beim Vergleich von Albertinusʼ Argumentation mit den Positionen frühneuzeitlicher ‚Sozialdisziplinierung‘ ergeben. Vgl. Battafarano: Armenfürsorge, S. 162 f. et passim.
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bemerkenswerten, weil – trotz genuin theologischer Begründung – an humanistische Argumentationsmuster erinnernden Weise den Fokus vom starren Normwissen bzw. den Praktiken der Macht ablöst, um ihn in Richtung komplexer sozialer Prozesse zu verschieben. Ähnlich wie etwa Vives, der in De subventione pauperum die Unterstützung der Armen als einzig wirksames Mittel gegen deren moralische Verderbnis anführt,200 interessiert Albertinus nicht so sehr, wie sich die ‚falschen‘ von den ‚echten‘ Bettlern unterscheiden lassen. Im Vordergrund steht für ihn vielmehr die Frage, wie aus einem auf Hilfe angewiesenen Menschen ein ‚falscher‘ Bettler und notorischer Delinquent wird. Nicht hinweglesen sollte man dabei über die Formulierung im letzten Satz des obigen Zitats. Wenn hier von „sterckere[n] gesunde[n] Pettler[n]“ die Rede ist, die durch den Zusammenbruch des ordo caritatis in eine Lage der „verzweiflung“ gebracht würden, die sie schließlich unverdienterweise (!) an den Galgen brächte, so wird die Tragweite des albertinischen Einspruchs gegen die gouvernementale Logik des Verdachts deutlich. Nicht nur die kranken und alten Bettler, sondern auch die jungen, kräftigen, aus policeylicher Sicht also ‚falschen‘ Bettler gehören ins Integral der Heilsökonomie und dürfen aus diesem nicht ausgeschlossen werden. Die massive innere Spannung, unter der Trost der armen vnd Warnung der Reichen als politikotheologisches Traktat steht, wird im Landstörtzer-Roman qua Erzählform verstärkt. Ausschlaggebend hierfür ist die besondere Eignung der pikarischen Figur, beide Pole des Spannungsfeldes – die Unterwanderung des ordo caritatis durch die ‚falschen‘ Bettler und die Folgen der unchristlichen Logik des Verdachts – im Vollzug des Erzählens (und Handelns) evident werden zu lassen, ohne den Konflikt einer wie auch immer gearteten Lösung zuzuführen. So dürfte es den zeitgenössischen Leser durchaus beunruhigt haben, von Gusmans Karriere als ‚falscher‘ Bettler in Italien zu lesen. Gezeigt wird die Figur hier als abgefeimter Parasit, der die Tatsache, dass die Almosen in Rom, dem Zentrum der (katholisch-)christlichen Welt, reichlich fließen, zu seinen Gunsten auzunutzen versteht.201 Zum Betteln, so teilt Gusman dem Leser mit, „gab mir das edle Italien grosse vrsach vnd anläß [!] / dann daselbst wirdt ein so grosse Lieb deß Nächsten verspürt / vnd dermassen gern vnnd vil gibt man den Armen / daß es schier ein vberfluß ist / vnnd nur vil Bettler dadurch gemacht und geziegelt werden.“ 202 Wie zersetzend sich der Überfluss der Almosen auf die Moral
200 So heißt es bei Vives hinsichtlich der moralischen Entwicklung des jungen Armen: „Ad haec, si mature subveniremus pauperibus, haud dubie cum condicione ac statu rerum mutarent et mores.“ Juan Luis Vives: De subventione pauperum sive de humanibus necessitatibus libri II. Hg. von Constant Matheeussen, Charles Fantazzi. Leiden 2002, S. 46. 201 Vgl. dazu bereits die erhellenden Ausführungen von Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 75–80. 202 LG, S. 98.
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der Bettler auswirkt, zeigt sich dabei in der Freisetzung immer neuer Aspekte parasitärer „inuention“.203 Durch gezielte Modifikation der Kleidung („dann weil ich nackendt vnd bloß war / so gab man mir allzeit etwas“), eine Art kontragouvernementale Aufteilung der Einsatzgebiete („aber doch viertheilte ich die Statt / vnnd theilte die Kirchen nach den Festtägen auß“)204 und den Eintritt in einen betrügerischen Bettlerorden, dessen „lectiones“ und „principijs“ er als „nouitz“ annimmt,205 wird Gusman in Rom „in kurtzer zeit“ zum „abgeführte[n] Betler“,206 der auf das Brot, das ihm gegeben wird, nicht mehr angewiesen ist; anstatt es zu essen, verkauft er es als Futter für die Kapaunen und spart sich auf diese Weise ein kleines Vermögen an: Das meiste Allmusen war brot / das verkauffte ich denen Leuthen / welche die Hennen / Kapaunen vnnd andere dergleichen ziglen / vnd löste vil Gelts drauß: dergleichen brachte ich hin vnd wider vil alte Kleider zu wegen / [...] / das verkauffte ich aber alles wider / vnnd samblete ein feines Schatzgeltl.207
Die schlimmsten Schreckbilder der zeitgenössischen Armutsdebatte werden hier aus der Sicht des Anderen reproduziert: Der ‚falsche‘ Bettler wird durch den Überfluss der Almosen nicht nur überhaupt erst auf den Plan gerufen, sondern erweist sich auch als ingeniös genug, immer neue Wege zu finden, den ordo caritatis zu unterminieren. Am Ende verfügt er, der vermeintlich Hilfsbedürftige, über eine den Blicken der Menschen entzogene Ordnung des Eigenen, die es ihm ermöglicht, vorausschauend zu planen, sein Handeln in Raum und Zeit zu disponieren und ein „Schatzgeltl“ anzusparen, das erst angezapft werden soll, wenn er seiner „bedörffen möchte“.208 Der heilsökonomische Zweck des Almosens, die wechselseitige ‚Rettung‘ des Armen durch den Reichen und des Reichen durch den Armen, wird in dieser parasitären Gegen-Ökonomie durch-
203 Ebd., S. 101. 204 Ebd., S. 100. 205 Ebd., S. 98 f. Die bei Alemán zu findenden siebenundzwanzig Ordensregeln, die u. a. einen einjährigen Urheberschutz für neue Bettel-Inventionen enthalten, druckt Albertinus im Landstörtzer-Roman nicht ab. Dies hat allerdings wohl weniger den Grund, dem Leser die damit verbundene Provokation zu ersparen. Vielmehr möchte der Münchener sich wahrscheinlich vor dem Vorwurf der Wiederholung schützen, hatte er die Liste doch bereits in seinem satirischen Theatrum Der Welt Thummel: vnd Schaw-Platz (1612) abgedruckt. Vgl. Aegidius Albertinus: Der Welt Thummel: vnd Schaw-/Platz. […] München: Nikolaus Heinrich, Augsburg: Johann Krüger 1612, S. 384–390. Zur albertinischen Kompilationspolitik hinsichtlich der Passage vgl. Van Gemert: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, S. 283 f. 206 LG, S. 100. 207 Ebd., S. 99 f. 208 Ebd., S. 99.
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kreuzt: Er läuft ins Leere, während der Andere sich am Überfluss der milden Gaben rücksichtslos bereichert. Werden durch das ebenso unterhaltsame wie provokante Ausspielen der Parallele von bettlerischer und pikarisch-narrativer inventio die Verdachtsmomente gegen den Armen verstärkt, so bietet der Landstörtzer-Roman auf der anderen Seite doch auch Anhaltspunkte für die christlich-reformerische Sicht auf das Problem, wie Albertinus sie in Trost der armen vnd Warnung der Reichen vorstellt. In diesem Zusammenhang ist nochmals auf die Madrid-Episode vom Romanbeginn zurückzukommen. Was in ihr nämlich erzählt wird, lässt sich durchaus als Exemplifizierung der schwerwiegenden Konsequenzen begreifen, die die „præiudicirlich[e]“ Ausschließung des Anderen für dessen Leben und Moral hat. Aus intern fokalisierter Perspektive – ein Blickwinkel, den das ArmenTraktat so natürlich nicht bietet – schildert der ‚wahre‘ Bettler Gusman, wie er für einen ‚falschen‘ Bettler gehalten wird – und gerade dadurch zu dem gemacht wird, was die Leute in ihm sehen: Dannenhero als ich gen Madrid kam / befandt ich mich nur in einem blossen Hemmet / vnd so gar war dasselb allerding zerrissen vnd vnflätig / vnd ob derwegen schon ich gern etwan einem Herrn gedient hette / so wolte mir doch niemand trawen / dann man hielte mich für einen Picaro oder Schwaracken / der kein nutz were. Diser vrsachen halben [!] schlug vnd verfügte ich mich zu etlichen andern jungen Knabatzen meines gleichen / half jnen arbeiten / folgte jhnen in allen dingen / thate wie sie / ging auch mit jhnen hin vnd wider betteln / vnd samblete vil Realn. Darneben vnderwisen sie mich in allerhand Karten: vnnd Würffelspieln dermassen / daß ichs schier den Eltisten beuor thate. Dises Picarische oder schwarackische Leben gefiel mir so gar wol / daß ichs keins wegs gegen dem vorigen vertauscht hette […].209
Der moralische Verfallsprozess des hilfsbedürftigen Kindes, der im Landstörtzer tatsächlich um ein Haar mit dem Galgen endet – erst in allerletzter Sekunde wird das Todesurteil gegen Gusman in eine Galeerenstrafe umgewandelt –,210 läuft in diesen Sätzen vor den Augen des Lesers gleichsam im Zeitraffer ab. Während Gusman zunächst die Intention hat, seinen Unterhalt durch ehrliche Arbeit zu verdienen, treibt ihn die Ablehung seiner Mitmenschen in die Arme der „Knabatzen“, die als Erziehungsinstanz an die vakante Stelle der väterlichen Autorität(en) treten und dem eltern- und herrenlosen Knaben die Vorzüge des „Picarische[n] oder schwarackische[n] Leben[s]“ vermitteln. Dass Albertinus dabei sehr genau darauf achtet, die Figur bis zu dem Punkt, den schon die Armuts-Schrift definiert, moralisch zu entlasten – ein Vorgang, der sich im Ver-
209 Ebd., S. 53 f. 210 Ebd., S. 501.
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gleich mit der von Ironiesignalen durchsetzten Rede Guzmáns deutlich zeigt –,211 ist im Kontext der erbauungsstrategischen Funktionalisierung der Figur zu betrachten, stiftet vor dem Hintergrund der weiteren Erzählung jedoch allenfalls ein schwaches Widerlager zur abgründigen, in immer neue Exzesse mündenden Alterität der Figur. So bleibt – jedenfalls mit Blick auf den ersten Teil des Romans – letzthin die Diagnose eines Geltungskonflikts, ziemlich genau entlang der Linie von Theologie und Politik: In dem Maße, in dem Albertinus dem von Alemán (implizit) und den Bettelordnungen der Zeit (explizit) vorgegebenen gouvernementalen Blick auf den Bettler die in Trost der Armen und Warnung der Reichen erprobte christlich-reformerische Perspektive entgegensetzt, verstärkt er die Spannungen zwischen den diskursiven Formationen, die in den Text eingehen – bis zu dem Punkt, an dem der aussichtslose Versuch der Integration des heterogenen Wissens im Medium pikarischen Erzählens abgebrochen wird.212 Es ist der Punkt, an dem Gusman von Albertinus gewissermaßen zum Schweigen gebracht und das diskursive Feld jenem weisen, gegen die Krankheiten der Welt immunisierten Einsiedler überlassen wird, dessen Stimme den zweiten Teil des Landstörtzer-Romans beherrscht.
3.5 Schuld und Erlösung: Albertinus’ Pilger als Figur der Heilsökonomie Eine Beobachtung Rötzers aufgreifend,213 hat Guillaume van Gemert auf das bußtheologische Modell hingewiesen, das die Abfolge der Roman-Teile bei Albertinus strukturiere. Bezogen auf das „Spannungsfeld von Hoffart, mangelnder
211 So unterscheiden sich die je erzählten Verwandlungen vom gut bekleideten Kind zum nackten Bettler deutlich voneinander: Während Albertinusʼ Gusman durchaus glaubwürdig bemerkt, er sei „gleichsamb gezwungen“ gewesen, seine Kleidung zu verkaufen (ebd., S. 53), steckt hinter derselben Aktion bei Alemáns Guzmán ein ganz und gar unchristliches Kalkül: „Der Umstand, daß mir das Betteln so wenig brachte und daß ich es so teuer erkaufen mußte, schüchterte mich derart ein, daß ich mir vornahm, in Zukunft bei größter Bedürftigkeit nicht mehr zu betteln.“ Alemán: Guzmán von Alfarache, S. 216. Die Formulierungen sind für die Deutung der Stelle(n) entscheidend: Wenn die Madrilenen in Alemáns Guzmán den Picaro erkennen, so haben sie – nachdem, was der Leser von dessen Motivation erfährt – durchaus Recht. Im Fall von Albertinusʼ Gusman wird dagegen klar, dass er tatsächlich in Not ist. Der Blick der Madrilenen auf ihn als Bettler ist nicht zutreffend, eine Projektion. 212 Auf das Ende des ersten Teils als Diskurs-Abbruch verweist bereits Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 111. 213 Vgl. Rötzer: Picaro, S. 106 f.
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Selbsterkenntnis und Bedrohung durch die Trias Welt, Fleisch und Teufel“, sei der Landstörtzer als ein erbaulicher Dreischritt angelegt, dessen Zielpunkt der angekündigte, jedoch nicht realisierte dritte Teil markiere.214 „Dieser dritte Teil“, so betont Van Gemert, „sollte, nachdem der erste und der zweite die contritio und die confessio geschildert hatten, die letzte Stufe im Dreischritt der Buße, die satisfactio, die im zweiten Teil in der Pilgerallegorie idealiter vorweggenommen war, realiter beschreiben.“ 215 Was im Roman zunächst also vorliege ‒ Gusmans Zerknirschung und Beichte nach den franziskanischen Ermahnungen in der Todeszelle (Ende des Ersten Teils),216 dann die eremitäre Erläuterung der Bußtheologie nach Jean Raulin217 und die allegorische Entfaltung einer christlichen Pilgerfahrt nach Geiler von Kaysersberg218 (Zweiter Teil) ‒, strebe auf eine diegetische Umsetzung der peregrinatio zu, die als erbauliches Gegenstück zur pikarischen Weltfahrt gedacht gewesen sei. Dass gegen eine solche Lektüre des Romans gewichtige Einwände erhoben werden können – und nach der hier durchgeführten Analyse wohl auch müssen –, braucht kaum der Erwähnung. Ebensowenig nämlich wie die Vielfalt an Wissenselementen und innere Spannung der diskursiven Instanzen im ersten Teil des Romans zwangsläufig auf die contritio (Zerknirschung) der Figur zulaufen, scheinen die frommen Unterweisungsreden des Eremiten im zweiten Teil dazu geeignet, die inhaltlich-formale Inkommensurabilität der pikarischen Erzählung religiös aufzuheben. Obwohl oder gerade weil der albertinische Versuch der Umwandlung der pikarischen Vita in eine „allegorische Büßergeschichte“ 219 als wesentlicher intentionaler Impuls der Adaption besondere Beachtung verdient, sollten die Prozesse der „Umfunktionierung“ 220 des zu diesem Zweck eingefrachteten Wissens in ihrer Eigenschaft als diskursive Gegenbewegungen zum pikarischen Narrativ kritisch begutachtet werden. Eine wichtige Rolle spielt dabei zweifellos die Konversionserzählung in der Segunda Parte Alemáns. Was in dieser – jedenfalls in den Augen des skeptischen Lesers – als eine Art Spekulation des Sünders Guzmán auf die Gnade Gottes erscheinen mag – wobei die Analogisierung kaufmännischer und bußtheologischer Zinspraxis im Kontext des Romans jederzeit in die nicht-erwünschte,
214 Eben dieser wird, wie zitiert, von Gusman angekündigt (vgl. LG, S. 723), aber von Albertinus nicht vorgelegt. 215 Van Gemert: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, S. 278. 216 Vgl. LG, S. 492–502. 217 Vgl. ebd., S. 505–562. 218 Vgl. ebd., S. 562–722. 219 So aber Rötzer: Der europäische Schelmenroman, S. 69. 220 Van Gemert: Vom Pícaro zur Leitfigur interkonfessioneller Konfrontationen, S. 279.
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profane Richtung umzukippen droht –, wird im zweiten Teil des AlbertinusTextes einer alle Bereiche des heilsökonomischen Diskurses umfassenden theologischen Revision unterzogen.221 Entsprechend ‚passgenau‘ wird das religiöse Wissen selegiert, das Albertinus aus den vorreformatorischen Predigttexten Raulins, vor allem aber Geilers entnimmt.222 Das figurale Modell gibt dabei, wenig überraschend, der bei Geiler gleich zu Beginn erwähnte filius prodigus vor,223 dessen sündiger Auszug in die Welt und heilsträchtiger Wiedereinzug ins Haus des Vaters die wesentlichen Angriffspunkte zur Entfaltung des heilsökonomischen Wissens liefert. Zu Beginn des zweiten Teils scheint Gusman demnach am entscheidenden Wendepunkt seines Lebensweges zu stehen: Nach „außgestandener drey Jähriger Galeen Gefängknuß“ 224 wird er als reuig genug vorgestellt, die Lehren des Einsiedlers nicht nur anzuhören, sondern sich auch zu Herzen zu nehmen. Dass der Christenmensch – und zumal der auf Erden unbehauste – auf Gottvater vertrauen und seinen Platz im himmlischen Haus suchen müsse, hatten ihm die frommen Mahner des ersten Teils, der fahrende Priester und der Bologneser Kardinal, bereits ans Herz gelegt. Erst im Zustand totaler Zerknirschung jedoch scheint Gusman bereit, die Konsequenz aus seinem Sündenleben zu ziehen. Sie besteht darin, sein weiteres Leben im Sinne
221 Zu den Maßnahmen, die Albertinus ergreift, um die formale Ambivalenz des Romanendes Alemáns in christlichem Sinne aufzulösen, vgl. auch Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 110– 115. 222 Wie Van Gemert bemerkt hat, stellt die Selektion der Schrift Geilers dabei insofern eine Besonderheit dar, als diese, wie das gesamte Werk des Straßburgers, seit 1559 auf dem Index librorum prohibitorum stand. Im bayerischen Index von 1569 wird dieses Verbot vordergründig bestätigt, das Werk Geilers im Anhang jedoch zur Verwendung in Predigtkontexten u. Ä. ausdrücklich empfohlen. Vgl. Van Gemert: Zur Geiler-von-Kaysersberg-Rezeption im frühen siebzehnten Jahrhundert, S. 101–105; ders.: Zur Verwertung mittelalterlichen Literaturguts im geistlichen Schrifttum der Frühen Neuzeit. In: Das Berliner Modell der Mittleren Deutschen Literatur. Beiträge zur Tagung Kloster Zinna 29.9.–01. 10. 1997. Hg. von Christiane Cammerer u. a. Amsterdam, Atlanta 2000 (Chloe, Beihefte zum Daphnis 33), S. 117–135, hier S. 129–133. Zur Indizierung Geilers und seiner Bedeutung für den Landstörtzer-Roman vgl. auch Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 116–124. Wie vor ihr schon Beck: Die Anfänge des deutschen Schelmenromans, S. 81, betont Struwe die relative Autonomie des zweiten Romanteils. Dieser stelle keine expliziten Anschlüsse zur Handlung bzw. den Figuren des ersten Romanteils her, was Struwe im Gegensatz zu Beck aber nicht als Ausdruck von Willkür, sondern als genuine „Autorisierungsstrategie“ deutet: Albertinus sei es um „Ablenkung vom ersten Teil und Vergleichgültigung von dessen Wissensinhalten“ gegangen (Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 123). 223 Vgl. Geiler von Kaysersberg: Peregrinus Doctissimi sacre theologie doctoris Joannis Geiler Keysersbergij Concionatoris Argentinensis celebratissimi a Jacobo otthero discipulo suo congestus. Straßburg: Matthias Schürer 1513, fol. Aijr. Zur Relevanz dieser Figur in Albertinus’ Roman vgl. auch Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 89 f. 224 LG, S. 503.
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der christlichen peregrinatio vitae auf dem Weg ins Erbgut aller frommen Seelen, dem Haus Gottes, zu verbringen.225 In wirkungsvoller, weil ihre anagogische Tendenz bewahrender Einformung der entsprechenden Passage aus Geilers Peregrinus (1513) heißt es bei Albertinus: Aber doch will ich dir noch ein andere Wallfahrt vnnd Reiß aufgeben / vnd andeuten / vermittelst dern du das wahre / rechte vnnd Himmlische Jerusalem erreichen wirst können. Derwegen mercke auff meine Wort. Zugleicher weiß wie jener verlohrne Sohn / seinen Gott vnd Vatter verlassen / sein gesicht geflohen vnd dadurch sein Vätterliches Erbgut / seinen Gott / sein Gnad vnd Tugenten verlohren hat / vnnd derwegen sie widerumb suchen / vnnd sprechen müste: Surgam & ibo ad Patrem meum. Also vnd ebner gestallt ists dir ergangen / derwegen must du auch also thun / dann ob schon dir diese Wallfahrt etwas schwer / mühesamb vnnd gefährlich wirdt ankommen / so gedenck doch / daß du in deiner vorigen eytlen vnd Gottlosen wanderschafft vnd störtzerey vil grössere mühe vnd gefahr außgestanden von deß Teuffels wegen / derwegen verwidere dich an jetzo nicht / etwas wenigs zuthun vnnd außzusichen [sic!] von Gottes deines eygnen heyls wegen.226
Um an der Ordnung des himmlischen Hauswesens teilzuhaben, bedarf es einer religiösen Selbsterkenntnis des Pönitenten, der – gemäß Luk. 17,21 – das Reich Gottes in sich finden muss. Wie es Albertinus in seiner Schrift Nosce te ipsum. Oder / Erkenne Dich selbst (1607) theologisch ausführlich erläutert 227 – und wie es auch Geilers Peregrinus vorsieht –, führt der Weg zum Heil demnach über eine Art Umstülpung der Sinne, Affekte, Verstandeskräfte und Glieder des Gläubigen aus dem Raum der Welt in einen spirituellen Innenraum hinein, der die Gestalt einer vollkommenen Hauswirtschaft besitzt.228 So heißt es im Landstörtzer bezüglich des zweiten Requisits des Pilgers, das laut Geiler die ordinatio familiae, d. h. die Ordnung des Hauswesens vor des Pilgers Aufbruch, betrifft:
225 Zu den Einsatzbereichen des peregrinatio vitae-Topos in der Frühen Neuzeit vgl. Hahn: The origins of the Baroque Concept of Peregrinatio, bes. S. 114–173. 226 LG, S. 565 f. Die Stelle bei Geiler bietet den Bezug auf die Pilgerfahrt gen patria dei sowie den Bezug auf die filius prodigus-Geschichte, nicht freilich aber die Gegenüberstellung von peregrinatio und Landstörtzerei ‒ eine Zutat des Albertinus, die die erzählstrategische „Umfunktionierung“ (Van Gemert) des aus dem Prätext entnommenen Materials in nuce sichtbar werden lässt. Vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Aiijv. 227 Die Schrift Nosce te ipsum. Oder / Erkenne Dich selbst erscheint ebenfalls bei Nikolaus Heinrich in München. Sie stellt die verkürzte Adaption eines Traktats des spanischen Spätscholastikers und Zisterzienserbruders Lorenzo de Zamora dar. Vgl. Van Gemert: Die Werke des Aegidius Albertinus, S. 120 f. und S. 449–452. 228 Aus dieser Bewegung heraus lässt sich nicht zuletzt auch die in der Forschung betonte strukturelle Differenz der Teile erklären. Was im ersten Teil als narrative Ausstellung von „Varianz und Kontingenz“ erscheint, wird im zweiten Teil durch eine strenge, auf Parallelismen und Wiederholungen basierende Rhetorik der Predigt ersetzt. Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 120. Ähnlich schon Beck: Die Anfänge des deutschen Schelmenromans, S. 99–104.
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Nun möchtest du aber sprechen: ich bin ledig vnd allein / vnd hab kein Haußwesen. Antwort: ein grosses Haußwesen hastu / dann weil das Reich Gottes in vns ist / wie können wir dann Könige sein / ohne Haußgesinde? Der Verstandt / die Gedächtnuß / der Will / die drey potentiae animae rationis, Die fünff jnnerliche vnd äußerliche sinnen vnnd alle organa vnd äusserliche Glider / nemmlich der Mundt / die Zung / die Händ / die Füß / alle vnsere gedancken / begirlichkeiten / affecten seindt vnser Haußgesindt / Vnnd jhrer allen Königin ist die Ratio.229
Das ex negativo auf die Picaro-Figur ausgerichtete Programm, in das Albertinus das von Geiler übernommene Konzept der Verschmelzung von oeconomia corporis und oeconomia divina einpasst, wird hier besonders deutlich:230 Über die Stufen einer erbaulichen Absetzung des himmlischen ‚Haußwesens‘ vom verlorenen irdischen Erbgut Gusmans und die Verlegung des Reiches Gottes ins Innere des Pilgers wird der Boden bereitet für eine spirituelle Verknüpfung von Erscheinung und Sinn, in der das Haus seine Funktion als transzendenter Ordnungsraum behaupten kann. Wie entschieden dieser Raum nach dem Prinzip eines allegorischen sensus duplex organisiert ist, lässt sich an den fünfundzwanzig ‚eygenschafften‘ des Pilgers ablesen, die vom Hut (als patientia) bis zu den Schuhen (als virtutes) die „Requisiten des Bedeutens“ für die Entfaltung des spirtuellen Sinns liefern.231 Entlang dieser Zeichen, die dem Pilger auf seinem itinerarium mentis als ‚Wegweiser‘ dienen, soll Gusman den Weg ins ‚Vatterland‘ finden. In sich selbst und den Gestalten, die ihm begegnen, soll er dabei lebendige Postfigurationen des Heilsgeschehens erkennen, die ihm unmissverständlich anzeigen, worauf sein frommes Handeln und Denken sich zu richten hat:
229 LG, S. 580 f. Vgl. auch Geiler: Peregrinus, fol. Cv. 230 Die Frage, in welchem Verhältnis die beiden Teile zueinander stehen, ist in der Forschung wiederholt aufgegriffen worden. Wie vor ihr schon Beck: Die Anfänge des deutschen Schelmenromans, S. 81, hat Struwe dabei zuletzt noch einmal auf die relative Autonomie des zweiten Romanteils hingewiesen. Dieser stelle keine expliziten Anschlüsse zur Handlung bzw. den Figuren des ersten Romanteils her, was auf die spezifische „Autorisierungsstrategie“ des Albertinus hindeute: Dem Münchener sei es um „Ablenkung vom ersten Teil und Vergleichgültigung von dessen Wissensinhalten“ gegangen. Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 123. Dieser Einschätzung folgt vorliegende Deutung nur bedingt. Zwar ist es sicher zutreffend, dass der allegorische Ansatz des zweiten Teils eine groß angelegte Bereinigungsaktion darstellt, in der das, was als weltlicher Irrweg erkannt werden soll (einschließlich des von Struwe herausgestellten pikarischen Erfahrungswissens), als solches nicht noch einmal abgebildet wird. Einzelne Elemente der Predigt – und zwar zumal die hier untersuchten heilsökonomischen Aspekte – unterhalten gleichwohl subtile Beziehungen zu den problembehafteten Grundthemen des ersten Teils (Verlust der patriarchalen, ökonomischen Ordnung, Armut), sollten mithin nicht nur als ‚Ablenkung‘ gedeutet werden. 231 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 153.
3.5 Schuld und Erlösung: Albertinus’ Pilger als Figur der Heilsökonomie
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Du aber / O frommer Pilgram […] lese die zetl diser Schrifft / Gemäld vnd Kleidungen dermassen / darmit du darauß den Weg deß Herren erkennen vnd wandern mögest. […] Sihest du auf der Strasse einen Säwhirten / so gedencke an jenen verlohrenen Sohn: Sihestu einen Bettler / so gedencke an den armen Lazarus vnd den reichen Mann.232
Die Auswahl der Figuren, obwohl von Geiler genauso bereits getroffen,233 könnte für Albertinus’ Zwecke kaum passender sein. In der in sich geschlossenen Ordnung der Zeichen, die durch die Verschaltung der (Mikro-)Ökonomie der menschlichen Verstandeskräfte, Sinne und Körperglieder mit dem transzendenten Hauswesen Gottes zustande kommt, legen die ‚niederen‘, dem Vagantischen zuzuordnenden Figuren – der Sauhirt, der Bettler – ihre pikarische ‚Unlesbarkeit‘ ab und werden (wieder) zu Schnittstellen jenes heilsökonomischen Tausches, der die irdischen und himmlischen bona – Almosen und Heil – zum Wohl der reichen wie armen Christenmenschen zirkulieren lässt. Dass im Vordergrund des albertinischen Interesses dabei zumal die theologische Einholung pikarischer Schuld steht, liegt auf der Hand. Sollte Albertinus den zweiten Teil des Guzmán-Romans Alemáns gekannt haben, so dürfte ihm die ostentativ zur Schau gestellte, durch keine pönitentielle Hemmung verzögerte Gnadensicherheit der Hauptfigur für seine Zwecke der frommen Unterweisung des Lesers kaum angemessen erschienen sein. Entsprechend platziert er dort, wo Alemáns Guzmán, kaum bekehrt, bereits an eine überfließende Verzinsung seines Werk- und Bußkapitals in der Gnadenbank Gottes denkt,234 einen differenzierten bußtheologischen Diskurs, in dem das von Albertinus anderswo durchaus geschätzte Konzept der himmlischen Zinswirtschaft 235 durch ein komplexes System materieller und immaterieller Schuldverschreibungen – von
232 LG, S. 648. 233 Geiler: Peregrinus, fol. Oiij: „Tu autem non ita facias / scedulam hanc scripture / picture / et vestiture intuere: vt discas viam dei / ad gradiendum per eam. […] Si subulcum post porcos videri cogita de filio prodigo. si mendicum cogita de Lazaro […].“ 234 Die entscheidende Passage, die im Zusammenhang oben bereits zitiert wurde, hier nochmals im spanischen Wortlaut: „Acaba de recordar de aquese sueño. Vuelve y mira que, aunque sea verdad haberte traído aquí tus culpas, pon esas penas en lugar que te sean de fruto. […] Esos trabajos, esos que padeces y cuidado que tomas en servir a ese tu amo, ponlo a la cuenta de Dios.“ Alemán: Guzmán de Alfarache, S. 890. 235 So heißt es in Albertinus’ Erfolgsschrift Lucifers Königreich und Seelengejaidt: „Den jenigen / welche jhr Gelt auff Wechsel geben / vnd es anderstwo inn einem andern Landt widerumb einnemmen / pflegt man ein schein zugeben / vnnd wann sie solchen schein anderstwo für weisen / so empfahen sie jhr Gelt wider / Also vnd ebener gestalt seynd die Armen die rechte Wechselbänck / dahin wir vnser Gelt vnnd Reichthumb legen sollen / vnnd das heist Schätz im Himmel samblen. Wann einer sein Gelt auff Wechsel gibt / so muß er dran verlieren / dann anderßwo gibt man jhm nicht so vil wider / als er hat außgeben / aber wer sein Gelt den Armen gibt / der wird in der Wechselbanck deß Himmels vil mehr finden / weder er
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3 Rettung der Heilsökonomie: Albertinus’ Landstörtzer Gusman
„Geltschulden“ (debita pecunalia), „Straffschulden“ (debita poenalia) und „Gegenschulden“ (debita peccaminalia)236 – ersetzt erscheint. Wie Gusman vom Einsiedler erfährt, beginnt die wahre Buße demnach mit dem Begleichen der offenen Verbindlichkeiten in der Welt. Ein „grosses vnd herrlichs ding ists“, so erläutert der fromme Mann, „wann einer sich liberiert frey vnd ledig machet durch abzahlung der Schulden / damit er desto leichter vnd freyer vortraisen vnd hinauff gen Himmel fliegen möge“.237 Denn: „niemandt kann Gott dem HErren vollkömmlich dienen noch anhangen / wofern er sich nit zuvor frey machet von der welt.“ 238 Habe der Pilger seine Schulden restlos bezahlt und sei von allen „calumnien der Menschen befreyt“,239 so solle er im zweiten Schritt seinen Mitmenschen sämtliche Schulden erlassen. Wie schon im ersten Fall sind damit natürlich nicht nur materielle Verbindlichkeiten gemeint. Gemäß der Kernformel aus dem mattheischen Vaterunser (Matth. 6,9–13) geht es für den Pilger vielmehr ebenso darum, die Sündvergebung am Nächsten nach menschlicher Möglichkeit bereits auf Erden zu praktizieren, um, so Albertinus in konsequenter Matthäus-Exegese, „nit allein die verzeyhung vnser eygnen / sond’ auch vnser feinde vnd schuldner sünden“ 240 bei Gott zu bewirken: Ferner seindt noch Schulden verhanden / die nennet man Sündschulden von denen im Gebett deß Vatterunser: vergib vns vnsere schuld als wir vergeben vnsern schuldigern / sc. meldung beschicht. […] Ob aber schon in deiner macht nit stehet / deinem Nechsten das jenig / was er dir schuldig / oder wider dich begangen / zuuverzeihen / Dann Gott ist allein der jenig der die Sünd verzeyhet / seytemal er fürnemblich dardurch erzürnt wird / so ist doch auch ein notturfft / dz du jhm deines theils von Hertzen verzeyhest vnd jhne ferner dessen nichts entgelten lassest […].241
Entspricht die seit dem Spätmittelalter zu beobachtende Bevorzugung der mattheischen vor der lukanischen Pater noster-Version der hohen zeitgenössischen Relevanz des bußtheologischen Schuld(en)-Begriffs,242 so gewinnt die Dynamik des Aus- und Vergebens, der Wechsel, Gaben und Verschreibungen ihre spiritu-
hat außgeben.“ Aegidius Albertinus: Lucifers Königreich vnd Seelengejaidt / Acht Theil begreiffendt […]. München: Nikolaus Heinrich 1616, S. 202 f. 236 LG, S. 566, 568 und 578. Bei Geiler werden die Schulden-Arten eingangs aufgezählt: „Et qualia / inquis debita: debita triplicia / scz. [sic!] pecunalia / penalia et peccaminalia.“ Geiler: Peregrinus, fol. Aiiijv. 237 LG, S. 567; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Aiiijv. 238 LG, S. 568; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Aiiijr. 239 LG, S. 566; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Aiiijv. 240 LG, S. 579; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Biijr. 241 LG, S. 578 f.; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Biijv–r. 242 Zur spätmittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Durchsetzung des mattheischen pater noster gegenüber dem lukanischen, das statt von ‚Schulden‘ (debita) von ‚Sünden‘ (peccata)
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elle Dignität darin erst durch die Funktion Gottes als oberstem Gläubiger, dessen himmlische Buchhaltung die ‚Straffschulden‘ des Menschen aufs Genaueste verzeichnet. Gemäß der mittelalterlichen Vorstellung von der Störung der göttlichen Haushaltung durch menschliche Sünden,243 bedarf es seitens des Pönitenten eines individuellen Akts der Wiederherstellung von Ordnung, in dem die Analogie von Oeconomia corporis und Oeconomia divina einmal mehr die entscheidende Rolle spielt. Weil der Leib des Pilgers mikrokosmisches Analogon des Reiches Gottes ist, könne der Bußvollzug an diesem Leib die angehäuften Schulden in der transzendenten Buchhaltung Gottes je und je begleichen: Noch eine andere art der Schulden ist verhanden / die werden debita penalia, oder pein vnnd straffschulden genennt / vnnd vns durch vnsere Sünd gemacht / derwegen müssen sie gegen Gott abgetragen bezahlt vnd erstatt werden / vermittelst deß straffleydens vnd geduldens / dann wer sich wider Gott versündiget der wirdt deß höllischen Fewers schuldig / vnnd dasselbe muß er bezahlen / wofern jhms Gott nicht verzeyhet vermittelst der contrition, fasten / wachen / betten disciplinirung deß Fleisches vnnd Allmusen / vermüg der Wort: Elemosinis redime peccata tua, Durch die Glider mit denen du gesündiget hast / mustu bezahlen vnd gnugthun.244
Wie entschieden die bei Alemán zu findende Überblendung von Sünder und spekulierendem Kaufmann bei Albertinus durch die traditionelle, ökonomisch codierte Überblendung von Büßer und Schuldner ersetzt wird, lässt sich an der Perspektivierung der auch im deutschen Text vorhandenen Elemente kaufmännischen Wissens ablesen. So wird der Pilger bei Albertinus, wie auch schon bei Geiler, dazu ermahnt, mit dem Bezahlen seiner Außenstände vor Gott und den Menschen nicht zu lange zu warten. Wer auf Gnade hoffen wolle, möge sich halten wie der zuverlässige Kaufmann, der seine Schulden bereits bei der Straßburger Frühjahrsmesse bezahle und nicht bis zur Lyoner Herbstmesse warte: Dann du […] sollest wissen / daß drey Jarmärckt verhanden seindt / auff denen wir solche vnsere Schulden zahlen müssen / nemblich in der Höllen / welche die Leoner Meß ist : Item im Fegefewer / welche die Franckforter Meß ist / Item in diser Welt / welche die Straßburger Meß ist; Aber wehe dem Menschen der solche seine Schulden biß auff der Leoner Meß / das ist / in der Höllen / zubezahlen sparet vnnd verzihet: dann daselbst muß er sie zahlen biß auff den letzten heller vnd wirdt doch nicht frey noch ledig werden /
spricht, vgl. David Graeber: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Aus dem Amerikanischen von Ursel Schäfer u. a. Stuttgart 2012, S. 347. 243 Vgl. etwa Thomas’ Summa theologica, I–II,87,1, wo es dem Scholastiker um die Ebenen menschlichen Sünd- und Strafvollzuges geht: die menschliche Vernunft, Haus und Staat und, schließlich, das universelle Reich Gottes. 244 LG, S. 568 f.
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dann / leyder / in der Höllen ist kein erlösung: Allzeit zahlt man dort / aber niemaln wirdt man ledig gezehlt.245
Das kaufmännische Moment der Spekulation auf zukünftige Gelegenheiten, des taktischen Umgangs mit der Zeit (Gottes), wird mit Blick auf den christlichen homo debitor an dieser Stelle als sündhaftes, unweigerlich in die Hölle führendes Handeln gekennzeichnet. Damit setzt Albertinus’ Text nicht nur ein christlichtheologisches Zeichen gegen die Umtriebe der Wucherer, deren Sündhaftigkeit Gusman über seinen Vater genealogisch eingeschrieben ist. Auch macht er deutlich, dass die Spielregeln der Ökonomie Gottes für den Menschen keinerlei Raum für Disposition und Verhandlung bieten. Die Analogie zwischen Kaufmann und Sünder ist demnach gerade dort wirksam, wo sie nicht aufgeht. Denn aus theologischer Sicht kann der Mensch niemals zum Handelspartner Gottes werden ‒ und dies, wie die scholastische Tradition lehrt, schon aus dem Grund, dass Gottes Gnade niemals einer Schuld gegenüber dem Menschen entspringt.246 Gott, anders gesagt, ist nicht als Schuldner, sondern nur als Gläubiger denkbar, weshalb es eine Reziprozität im Sinne des (menschlichen) Tauschkonzepts im Verhältnis des Sünders zu Gott nicht geben kann. Entsprechend klar wird das profane Konzept der Kommensurabilität von Gabe und Schuld, debit und credit im heilstheologischen Kontext durch eine Logik der Inkommensurabilität ersetzt. Das ewige Heil kann bei Albertinus, wie schon bei Geiler, nur derjenige gewinnen, der die Geringfügigkeit der eigenen Bußleistungen gegenüber der göttlichen Gnade erkennt. Aus sich selbst heraus kann der Mensch überhaupt niemals genug ‚zahlen‘, um das Heil zu erlangen; vielmehr bleibt er hierfür auf die Mittel angewiesen, die Christus durch seine Passion beizusteuern hat. In ausgiebiger, den Teufel als ‚Gegenbuchhalter‘ aufrufender Exegese von Kol. 2,13–14 heißt es bei Albertinus: Aber leyder / noch ein andere Handschrifft ist verhanden / welche der Teuffel wieder vns hat fürzuweisen / vnd welche wir mit der Handt vnserer bösen Wercken geschriben. […] Diese Handschrifft vnserer Sünden wirdt der Teuffel wider vns fürzaigen vor GOttes Angesicht / derwegen ist ein notturft daß wir die darwider für vns auffgericht vnd gemachte Quittung auffweisen / jhm den gecreutzigten Christum vor die Nasen stellen / vnd Gott dem Vatter sie in abschlag vnserer Schulden fürlegen / so wirdt er darmit zufriden vnd seiner Gerechtigkeit ein genügen geschehen sein […]. Vnd zweifle nicht an der nachlas-
245 Ebd., S. 571 f.; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Avr–Avjv. 246 Dazu unter Verweis auf die thomistische Schuld- und Gnadenlehre Graeber: Schulden, S. 302. Einen informativen Überblick über die diesbezüglichen scholastischen und spätscholastischen Debatten gibt Harald Maihold: Strafe für fremde Schuld? Die Systematisierung des Strafbegriffs in der spanischen Spätscholastik und der Naturrechtslehre. Köln 2005 (Konflikt, Verbrechen und Sanktion in der Gesellschaft Alteuropas; Symposien und Synthesen 9).
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sung deiner schulden / dann er hat sie durch seinen Passion genugsamb abzahlt / vnd dieser abzahlung Christi wirstu theilhafftig / wofern du die Quittung deß gecreutzigten Christi auffweisest vermittelst der meditation, Betrachtung / dancksagung / nachfolgung vnd Bekehrung deines Lebens.247
Blickt man von hier aus noch einmal auf das Verhältnis der beiden Teile des Landstörtzer-Romans, so wird die bereits von Cordie und Struwe identifizierte Aporie der Konstruktion deutlich. Aus dem „idealen Wald der albertinischen Allegorie“ scheint tatsächlich kein Weg „in die Welt realer Landschaften“ zurückzuführen, wenn unter diesen denn die durch Widersprüche und epistemische Unsicherheiten geprägte Diegese pikarischen Erzählens gemeint ist.248 Dies lässt sich an der Figur des Pilgers paradigmatisch zeigen. In der nach innen gefalteten Ökonomie, in die die peregrinatio mentis hineinführt (oder hineinführen soll), sind jenseits der Sünden des Menschen keine Störungen vorhanden; solange der Pilger sich an die von Gott vorgegebenen Spielregeln hält, werden seine Schulden am Ende des Weges beglichen sein („Vnd zweifle nicht an der nachlassung deiner schulden“). Etwas anderes ist es freilich, wenn diese innere Ökonomie in Beziehung zu den Strukturbedingungen des pikarischen Diskurses gesetzt wird. Mit seiner Aufforderung an den Pönitenten, die Pilgerfahrt in der Welt „fleissig vnd trewlich“ zu vollziehen – „dann weil du die gantze zeit deines Lebens alle Länder durchstrichen / vnnd schier aller orten ein letze vnnd zeichen deiner Büberey vnnd Boßheit hast hinderlassen / so ist billich daß du ein dergleichen Reiß verrichtest vnd etwas abbüssest“ –,249 öffnet der Einsiedler am Ende seiner Rede den bis zu diesem Zeitpunkt in sich geschlossenen allegorischen Diskurs und macht ihn damit angreifbar für jene Momente der Subversion, die er eigentlich hatte ausschließen sollen.250 Gefährdet wird der (post-)pikarische Transfer des religiösen Wissens dabei von zwei Seiten. Zum einen wird (oder würde) durch den Aufbruch Gusmans unter den in der erzählten Welt herrschenden Bedingungen das Problem der Unterscheidung echter und falscher Bettler wieder virulent. Auch und gerade als Pilger rückt(e) Gusman in eine Sphäre zweifelhafter Zeichen ein, in dem Aufrichtigkeit für die Zeitgenossen offenbar genauso schwer zu bestimmen war
247 LG, S. 576 f.; vgl. Geiler: Peregrinus, fol. Avijr. 248 Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 88. So auch Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 113 f. 249 LG, S. 563 f. 250 Dabei ist zu bemerken, dass dies zugleich der Punkt ist, an dem Albertinusʼ Text die Strukturvorgaben der Geilerʼschen Predigt verlässt. Anders als Geiler, der sich bis zuletzt auf das Konzept der peregrinatio mentis stützt, muss Albertinus der Zukunftsoffenheit des pikarischen Lebenslaufes gerecht werden – und schickt den Picaro wieder auf die Reise.
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wie in anderen Bereichen des Diskursfeldes.251 Wie unter diesen Bedingungen die vom Einsiedler postulierte Transparenz des Heilsgeschehens auf den – von allerlei Vaganten frequentierten – Straßen der Welt zustande kommen soll („Sihestu einen Bettler / so gedencke an den armen Lazarus vnd den reichen Mann.“), bleibt offen. Skepsis zumindest scheint angebracht. So bleibt durch die vom Einsiedler selbst beobachtete pikarische Beweglichkeit Gusmans – seine Eigenschaft, „schier aller orten ein letze vnnd zeichen [s]einer Büberey vnnd Boßheit“ zu hinterlassen – die Möglichkeit eines subversiven Umschlags des Pilgerschaftskonzepts unweigerlich im Spiel. In Martin Frewdenholds 1626 erschienener Fortsetzung des Landstörtzer-Romans, die die Rückführung des religiösen Diskurses auf die Strukturebene pikarischer Narration realisiert, wird der Bruch mit dem allegorischen Wissen des Einsiedlers denn auch umstandslos vollzogen. Kaum, dass Gusmans Stimme sich bei Frewdenhold meldet, kollabiert die nach innen gefaltete Ökonomie des sensus spiritualis bzw. wird durchkreuzt durch die Rede des Picaro, der die Möglichkeit ihrer parasitären Ausnutzung offenbar längst erkannt hat. „[O]b gleich der Fromme Einsiedler“ ihm die Pilgerfahrt „in grosser Dürfftigkeit vnd williger Armuth […] zuverrichten auffgelegt“ habe, habe er, Gusman, sich entschieden, „doch viel lieber solche in vino laetitiae et pane gaudii in allem Vberfluß“ zu verrichten, „so gar war meine Natur in mir verderbt / daß ich auch in eusserster Seelen gefahr / die ich durch solche Walfahrt vnd Buß abwaschen sollen / mich nicht wolte auff dem rechten Weg erhalten lassen.“ 252 Was folgt, ist eine paradigmatisch kaum integrierte Folge von
251 Zur Doppeldeutigkeit der Pilgerfigur vgl. auch Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 128 f. Im (tendenziell) protestantisch geprägten Liber vagatorum wird das Misstrauen gegen die Pilger im Typus der ‚Christianer und Calmirer‘ greifbar, die die Zeichen der Pilgerschaft nutzen, um Almosen zu erbeuten. Ähnliche Formen der Skepsis gegenüber der traditionellen Zeichenordnung der Pilgerschaft lassen sich auch im katholischen Raum ausmachen. So ist in Spanien, dem Zielland der europäischen Jakobspilger, das Pilgerhabit seit 1590 sogar verboten (Albertinus hat das zu Lebzeiten also durchaus erfahren können). Die Identifizierung des Pilgers findet dort stattdessen über die Austeilung von obrigkeitlich zertifizierten PilgerschaftsAusweisen statt. Dazu Friederike Hassauer: Eine Straße durch die Zeit. Die mittelalterlichen Pilgerwege nach Santiago de Compostela. In: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Hg. von Hans Ulrich Gumbrecht, Ursula Link-Heer. Frankfurt a. M. 1985, S. 409–423, hier S. 420; außerdem die differenzierte Untersuchung von Ehrlicher: Zwischen Karneval und Konversion, S. 99–133. 252 Martin Frewdenhold [Pseud.]: Der Landtstörtzer GVSMAN, Von Alfarche, oder Picaro, genant. Dritter Theil / Darinnen seine Reiß nach Jerusalem in die Türckey / vnd Morgenländer […] außführlichen beschrieben wird. […] Frankfurt a. M. 1626, S. 21. Zur Fortsetzung Frewdenholds vgl. Beck: Die Anfänge des deutschen Schelmenromans, S. 105–109; Guillaume van Gemert: Martin Frewdenholds ‚Gusman‘-Fortsetzung. Struktur, Einordnung, Verfasserfrage. In: ‚Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‘. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff. Hg. von James Hardin, Jörg Jungmayr. Bd. 2. Bern u. a. 1992, S. 739–759; ders.: Vom Pícaro zur
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Schwänken und Reiseberichten, die die radikale Offenheit des pikarischen Syntagmas, sein Funktionieren nach der Logik des ewigen Aufschubs, einmal mehr evident macht. Mit der Rückkehr der Stimme Gusmans ist der zweite, wichtigere Faktor der (drohenden) Subversion des allegorischen Diskurses schon benannt.253 Betrachtet man die Heilsökonomie nach albertinischem Zuschnitt als eine Ordnung des Eigenen, in der Heil ebenso wie Wissen von oben nach unten distribuiert wird, so impliziert dies eine Hierarchie von Diskurspositionen, in der die Geltung des Gesagten je nach Sprechinstanz außer Frage stehen oder infrage gestellt werden kann. Dies betrifft auf theologischer Ebene die bereits von Van Gemert beschriebene Aporie des Erzählens von der Buße selbst. Insoweit Gusman in dem von Albertinus geplanten, jedoch nicht realisierten dritten Teil – idealiter – vor der Aufgabe gestanden hätte, von der „glückliche[n] Vollendung der satisfactio“ zu berichten, hätte er dies tun müssen, ohne gegen das christliche Gebot der Demut zu verstoßen und seine „eigenen Vorzüge“ als bekehrter Christ herauszukehren.254 Dass in dieser Schwierigkeit der eigentliche Grund für den Abbruch des Landstörtzer-Projekts liegt, wie Van Gemert vermutet,255 darf mit Blick auf die inhaltlich-formalen Sprengpotenziale des pikarischen Diskurses allerdings bezweifelt werden. Wie Struwe in ihrer strukturorientierten Untersuchung des Romanendes herausgestellt hat, braucht es nicht unbedingt den apokryphen ‚dritten Teil‘ Frewdenholds, um die konzeptuelle Unmöglichkeit der von Albertinus projektierten Fortsetzung zu erkennen. Bereits in der über den Diskursort der (vermeintlich) geläuterten Ich-Position Gusmans hinausweisenden Ankündigungsrede am Ende des zweiten Teils zeichnet sich ab, dass die Schließung des pikarischen Syntagmas über das Konzept von Konversion und Buße nicht gelingen wird.256 Anstatt den Leser einzuladen, die zu erzählende Reise nach Jerusalem als äußeren Vollzug jenes aufs „Himmlische Vatterlandt“ 257 verweisenden inneren Wegs des Pilgers zu verstehen – was einer erbaulichen Zielsetzung programmatisch entsprechen würde –, ergeht sich Gusman in Ankündigungen, die die Funktion seines Diskurses mit jedem Wort weiter in Richtung curiositas und pikarischer Beweglichkeit verschiebt:
Leitfigur interkonfessioneller Konfrontation, S. 288–290. Ausführlich widmet sich dem Frewdenhold-Text Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 131–208. 253 So im Anschluss an Ehrlichers Überlegungen zum Alemán-Text auch schon Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 113–116. 254 Van Gemert: Martin Frewdenholds ‚Gusman‘-Fortsetzung, S. 741. 255 Vgl. ebd. 256 Vgl. Struwe: Episteme des Pikaresken, S. 128–130. 257 Dies die letzten Worte des Einsiedlers, bevor Gusman sich im letzten Absatz des Romans zurückmeldet. LG, S. 722.
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Dises war die erinnerung / welche mir der fromm Einsidl thate / wie vnd was gestallt aber ich jhr gefolgt vnnd mich ferner verhalten / das vernimbt der günstig Leser auß dem dritten Theil / wie es nemblich mir auff der Reiß gen Jerusalem ergangen / was ich daselbst für buß gethan / folgents vom Türcken gefangen / gen Constantinopel geführt / aber wider ledig worden: Nach solchem die Jndianische Länder besucht / vnnd was ich aller orten gesehen / gehört / erfahren / gelitten vnd außgestanden. Ende deß andern Theils.258
Die Adverbien übernehmen hier die Funktion von Signalwörtern, die die strukturell offenbar unvermeidliche Öffnung des geschlossenen Raumes der Pilgerallegorie indizieren: Wo es „ferner“, „folgents“, „aber wider“, „[n]ach solchem“ und „aller orten“ noch soviel zu erleben und erzählen gibt, befindet sich die dominante Struktur der Einsiedler-Predigt bereits im Zustand der Auflösung. Ob gewollt oder nicht – der Münchener Hofbibliothekar Albertinus schreibt sich mit seinem Landstörtzer Gusman an eine Grenze heran, an der der die religiöse Ordnung des Eigenen iterierende Diskurs seines Werks die ihm (vordergründig) eignende funktionale Stabilität einbüßt.
258 LG, S. 722 f.
4 Vom Bauernhaus zum Weltmarkt: Grimmelshausens Simplicianischer Zyklus In einem Aufsatz, der sich der Widerlegung der in der älteren Forschung perpetuierten These von Grimmelshausen als ‚Bauernpoeten‘ widmet, wies Manfred Koschlig bereits in den 1960er Jahren die hohe Relevanz ökonomischen Wissens für das literarische Werk des Simplicissimus-Autors nach.1 Dies geschah auf der Basis eines positivistischen Ansatzes, dessen Erträge Koschlig jedoch in eine durchaus originelle Thesenbildung einzubinden verstand. An einer Vielzahl von Stellen in Grimmelshausens Texten – dem Satyrischen Pilgram (1667), dem Simplicissimus Teutsch (1668), dem Ewig=währenden Calender (1670), dem ersten Teil des Vogel-Nest-Romans (1672), aber auch dem von Grimmelshausen redaktionell mitbetreuten Teutschen Friedens=Raht (1670) – zeigte Koschlig Spuren einer Rezeption hausväterlicher Literatur auf, wobei es ihm insbesondere um die ökonomischen Schriften Johann Colers (1566–1639) ging. Dessen ab dem Ende des 16. Jahrhunderts entstehendes ökonomisches Werk, bestehend aus dem Calendarium Oeconomicum & perpetuum (erstmals 1591) und der sechsbändigen, sämtliche Wissensareale der Ökonomik und Agronomie umfassenden Oeconomia (1593–1601), war im 17. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum sehr weit verbreitet 2 und, wie Koschlig historisch-philologisch genau nachwies, auch dem Autor Grimmelshausen bis ins Detail geläufig. Dies freilich scheint, für sich genommen, zunächst wenig überraschend: Während seiner Zeit als Schaffner in Diensten der Ritter von Schauenburg (und wohl noch darüber hinaus) hatte Grimmelshausen Zugang zur „herrschaftlichen Kanzlei“, in der eine praktisch-instruktive Ökonomik wie die Colers „einfach unentbehrlich“ gewesen sein dürfte.3 Hinzu kommt, dass Colers Text zumindest auf den ersten Blick ganz ähnliche Wissensangebote zu unterbreiten scheint wie die ubiquitär benutzte ‚Hauptquelle‘4 Grimmelshausens, Garzonis Piazza Vniversale (dt.
1 Vgl. Manfred Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen. In: ders.: Das Ingenium Grimmelshausens und das ‚Kollektiv‘. Studien zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Werkes. München 1977, S. 117–175. Erstmals ist der Aufsatz erschienen im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 9 (1965), S. 33–105. 2 Zu Colers Ökonomik vgl. Hahn: Das Haus im Buch. Darin auch umfassende Stellungnahmen zur älteren Forschung. 3 So Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 140. Dass Grimmelshausen darüber hinaus Colers Buch auch selbst besessen haben könnte, wird von Koschlig vermutet (ebd., S. 143), lässt sich aber natürlich nicht abschließend klären. 4 Der Begriff wird hier in Anführungszeichen gesetzt, weil es im Folgenden gerade darum gehen wird, zu zeigen, dass die Beziehung zwischen Grimmelshausens Texten und ihren (ökonomischen) Prätexten keines der einfachen Übernahme von Wissen aus verfügbaren ‚Quellen‘ https://doi.org/10.1515/9783110486636-004
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1619):5 Hier wie dort geht es in enzyklopädischer Breite und griffiger Aufbereitung um Gegenstände praktischen Wissens – die Ökonomie bei Coler, die menschlichen Tätigkeiten und Berufe bei Garzoni –, in beiden Texten ließ sich für einen Autor pikarischer und satirischer Texte mithin jede Menge relevantes Wissensmaterial finden. Nachweise für eine solche Benutzung Colers durch Grimmelshausen sind Koschligs Analyse zu entnehmen: Ob die Trunkenheit (Satyrischer Pilgram), die Gedächtniskunst (Simplicissimus Teutsch, II. Buch), die Laster der Schäfer (Vogel-Nest I) oder diverse Kalendersprüche und Bauernweisheiten (Ewig=währender Calender) – je nach thematischem Bedarf frachtet Grimmelshausen Wissen aus Colers Oeconomia in seine Texte ein, ohne dass sich daraus zunächst ein übergreifendes poetologisches Muster ergeben würde.6 Wenn Koschlig eben ein solches für die Beziehung zwischen Grimmelshausens Werk und Colers Ökonomik aber postuliert, so auf Grundlage einer These, die textgenetische mit formalen und inhaltlichen Beobachtungen verbindet. Ausgangspunkt ist dabei der Vergleich zweier Stellen, in denen Coler wie Grimmelshausen von der Unabschließbarkeit ihrer Werke schreiben.7 Bei Coler bezieht sich dies auf das Wissen der oeconomia. Dieses stehe nicht immer schon fest, sondern müsse mittels empirisch-praktischer Erforschung der Natur ständig überprüft, angepasst und erweitert werden, wobei das, was an einem Ort als Wissen gelten mag, an einem anderen keine Geltung haben müsse. „Es mus doch alle Welt bekennen und sagen“, so heißt es in der Vorrede zum Calendarium Oeconomicum & perpetuum, „das eine gute Wirtschafft sey / ars artium & scientia scientiarum, [...] darüber alle fleissige Haußwirt jhr lebenlang sehr embsig studiert haben / vnd weiter biß an der Welt ende studieren werden / vnd wird doch
ist, sondern eines der metatextuellen Reflexion, die den Transfer als problembehafteten Vorgang mit in den Blick nimmt. 5 Auf diese werde ich unten noch genauer zu sprechen kommen. Zur Funktion der Enzyklopädie Garzonis im Werk Grimmelshausens vgl. Italo Michele Battafarano: Garzoni und Grimmelshausen. In: ders.: Von Andreae zu Vico. Untersuchungen zur Beziehung zwischen deutscher und italienischer Literatur im 17. Jahrhundert. Mit einem Bericht über die italienische Forschung zur deutschen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts (1945–1978). Stuttgart 1979 (Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik 66), S. 55–105; ders.: Vom polyhistorischen Traktat zur satirischen Romanfiktion. Garzonis ‚Piazza Universale‘ bei Albertinus und Grimmelshausen, in: Tomaso Garzoni. Polyhistorismus und Interkulturalität in der Frühen Neuzeit. Hg. von Italo Michele Battafarano. Bern u. a. 1991 (Iris. Ricerche di cultura europea 3), S. 109–124; ders.: Der seltsame Pilger, der wilde Mann, der gute Wilde: Garzoni, Montaigne, Grimmelshausen, in: ders.: Glanz des Barock. Forschungen zur deutschen und europäischen Literatur. Bern u. a. 1994 (Iris. Ricerche di cultura europea 8), S. 238–279. 6 Vgl. Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 125–133. 7 Der Abschnitt, auf den ich mich im Folgenden beziehe, umfasst ebd., S. 144–146.
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nimmermehr keiner gefunden werden / der in dieser Kunst außgelernet hette.“ 8 Bei Grimmelshausen taucht eine ähnliche Formulierung im satirischen Erstling, dem Satyrischen Pilgram, auf. Es handelt sich um einen Abschnitt aus der dem Text vorgelagerten satirischen Schmährede des Momus, in der der notorische Spötter dem anonymen Autor – Grimmelshausen gibt seinen Klarnamen (auch) hier nicht preis – vorhält, an einem „Werck“ zu arbeiten, „daß sich ad infinitum hinein erstreckt / welches wohl jemand anderer als er ist / wann er schon Mathusalems Alter erreichte / nicht enden und hinaußführen könte“.9 Diese tatsächlich auffällige Homologie, in der durch den Bezug auf das Lebensalter und das unvermeidliche Ende der Lebens- bzw. Weltzeit eine bis ins Detail parallele temporale Struktur vorherrscht, deutet Koschlig nun als Hinweis auf ein von Grimmelshausen ursprünglich geplantes, im Weiteren dann aber nach und nach in den Simplicianischen Zyklus übergehendes ökonomisches Schreibprojekt.10 Es scheine ihm „nicht aus der Luft gegriffen, daß Grimmelshausen damals im 1. Teil des ‚Satyrischen Pilgram‘ noch nicht an die zehn Bücher“ des Romanzyklus gedacht habe, „sondern etwas anderes plante, was den ganzen Menschen ein Leben lang als Autor beschäftigen würde: eine ‚Oeconomia‘ nach seiner Weise, aber im Sinne der mit dem (durch den Krieg veralteten) Werke von Colerus begonnenen Hausväterliteratur, einsetzend mit dem ‚Ewigwährenden Kalender‘ und sich weitend zu einem alle Bereiche des Lebens in Haus und Hof umfassenden ‚Werck‘, für das Garzoni und ganz beson-
8 Johann Coler: Calendarium Oeconomicum & perpetuum. Vor die Haußwirt / Ackerleut / Apotecker vnd andere gemeine Handwercksleut / Kauffleut / Wanderßleut / Weinherrn / Gertner vnd alle diejenige so mit Wirtschafft umbgehen […]. Wittenberg: Christoff Axin 1591, fol. A3v (Vorrede). Das Argument, dass das Klima und die sonstige Beschaffenheit des Ortes die Überprüfung und Anpassung ökonomischer Wissensbestände nötig macht, entfaltet Coler an selber Stelle. Jedes „Landt / Erdreich / Bodem / Acker oder Wiesen“ habe „seine [sic!] besondere Eigenschafft / seine Erde / seine Lufft / sein Wasser / etc. darnach sich ein Haußwirt richten mus [...]. Zeucht er aus einem Lande in ein anders / so mus er bald wider auff ein newes anfangen zu lernen [...].“ Ebd., fol. A4v. Zu dieser Schlüsselstelle des Coler’schen Werks aus wissenshistorischer Sicht vgl. Hahn: Das Haus im Buch, S. 73–103. 9 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Bd. 7: Satyrischer Pilgram. Hg. von Wolfgang Bender. Tübingen 1970, S. 7. Aus der Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle ‚GW‘ mit Angabe der Bandzahl und eines Kurztitels zitiert. 10 Trotz der auffälligen Homologien sollte nicht ausgeschlossen werden, dass die Nähe zwischen den Textstellen bei Coler und in Grimmelshausens Satyrischem Pilgram durch den gemeinsamen Rückgriff auf bestimmte Denktraditionen zustande kommt. Infrage kommen hier vor allem Gemeinplätze der Liber naturae-Tradition, in der die Erkenntnis des von Gott in die Schöpfung eingeschriebenen Sinns seitens des sterblichen Menschen als Prozess unendlicher Annäherung verstanden wird. Dazu klassisch Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1983, Kap. VII–X.
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ders Colerus herhalten sollten.“ 11 Realisiert worden sei von diesem Projekt, in seiner ursprünglichen Anlage, dann zwar nur der Kalender. In dessen Bezugnahme auf Coler und die Figur des „einfeltigen Laicus“ 12 sei aber zu erkennen, dass die „Urzelle für Grimmelshausens Simplicianische Familie“ 13 auf dem Gebiet der oeconomia angesiedelt gewesen sei: Die simplicianische Weise eines Schwarzwald-Bauernhofes mit der von Colerus stark beeinflußten Atmosphäre und der ohne ‚den treuhertzigen Colerum‘ kaum denkbaren typischen Figurenwelt ist damit nach Entstehung und Eigenart umrissen. Die Welt des Colerus war die deutsche Folie, auf deren Grund die Gestalt des Simplicissimus entstanden ist – aus der Urgestalt des ungelehrten Lesers der ‚Oeconomia‘ […].14
Soweit Koschlig. Wenn dessen These(n) von der Forschung im Weiteren nicht aufgegriffen wurden,15 so wohl aus zwei Gründen. Zum einen wandte sich die Forschung ab den 1970er Jahren verstärkt sozialhistorischen Ansätzen zu, aus deren Perspektive der philologisch-positivistische Ansatz Koschligs veraltet, jedenfalls nicht zielführend erschien; in Arbeiten wie denen Sterns, Gebauers, Knopfs, Meids, Buschs, tendenziell auch noch bei Lämke und Deupmann ging es nicht primär darum, Beziehungen zwischen den Texten Grimmelshausens und diskursiv gefasstem Ökonomiewissen der Zeit zu erfassen, sondern um den Abgleich der Ökonomie- und Gelddarstellung der Erzählungen mit einer historischen ‚Wirklichkeit‘, die nach dem etablierten Wissen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte als frühkapitalistisch geprägt beschrieben wurde.16 Zum anderen
11 Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 144. 12 Coler: Calendarium Oeconomicum & perpetuum, fol. A4v. Die Beobachtung, dass Coler den nicht-gelehrten Praktiker lobt, macht Koschlig für seine Deutung ebenso fruchtbar wie die Feststellung, dass bei Coler – ganz wie in Grimmelshausens Kalenderschrift – das ökonomische Buch vom Vater an den Sohn weitergegeben wird. Vgl. Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 144–147. 13 Ebd., S. 145. 14 Ebd., S. 157 f. 15 Dies gilt für die übergreifende These zum Verhältnis von oeconomia und simplicianischem Werk. Die von Koschlig gemachten Vorschläge zur Bestimmung der Werkchronologie im Allgemeinen und der speziellen Werk-Position des Ewig=währenden Calenders wurden punktuell durchaus aufgegriffen. Vgl. etwa Barbara Molinelli-Stein: Grimmelshausen und seine naturwissenschaftlichen Quellen. In: Simpliciana 26 (2004), S. 185–218, hier bes. S. 210 (Anm. 2) und 211 (Anm. 13). 16 Vgl. Martin Stern: Geld und Geist bei Grimmelshausen. In: Daphnis 5 (1976), S. 415–464; Hans Dieter Gebauer: Grimmelshausens Bauerndarstellung. Literarische Sozialkritik und ihr Publikum. Marburg 1977 (Marburger Beiträge zur Germanistik 53); Jan Knopf: Frühzeit des Bürgers. Erfahrene und verleugnete Realität in den Romanen Wickrams, Grimmelshausens und Schnabels. Stuttgart 1978, hier S. 59–83; Volker Meid: Grimmelshausen. Epoche – Werk – Wirkung. München 1984; Walter Busch: Geld und Recht in der ‚Courasche‘. Satirische Kritik und
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weist Koschligs Argumentation im Übergang zur Thesenbildung einen derart hohen Gehalt spekulativer Anteile auf, dass sie für eine Untersuchung des simplicianischen Werks – einschließlich des Ewig=währenden Calenders – in dieser Form kaum operationalisierbar zu machen scheint. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass die Kernthese einer von Grimmelshausen angeblich geplanten ökonomischen Großschrift als solche natürlich nicht beweisbar ist und insgesamt eher abwegig wirkt.17 Auch führt Koschligs Annahme einer unmittelbaren, linearen Vorbildrolle Colers für Grimmelshausen zu einer problematischen Ausblendung der formalen und konzeptuellen Unterschiede zwischen den Texten.18 Was es heißt, wenn an die Stelle der anerkannten ökonomographischen Autorität Colers die pikarische Figur des Simplicissimus rückt – um nur die augenfälligste Verschiebung zwischen den Texten zu nennen –, kann Koschlig mit seinem Ansatz nicht beantworten; schlimmer noch, er wählt eine Argumentation, in der die supponierte „Grundintention“ 19 Grimmelshausens ausgerechnet in den von ihm tatsächlich veröffentlichten Texten nur in Schwundstufen und Verzerrungen nachweisbar sein soll. Die heuristischen Umpolungen, die nötig sind, um die Beobachtungen Koschligs für vorliegende Untersuchung dennoch fruchtbar zu machen, müssen utopische Perspektive. In: Studi Tedeschi XXXVI, 1. Grimmelshausen-Sonderheft. Neapel 1983, S. 55–92; ders.: Die Lebensbeichte einer Warenseele. Satirische Aspekte der SchermesserAllegorie in Grimmelshausens ‚Continuatio‘. In: Simpliciana 9 (1987), S. 49–63. Noch in den jüngeren Beiträgen Lämkes und Deupmanns wirkt das Desinteresse für das historische Geldund Ökonomiewissen nach. Obwohl sich beide um eine Verbindung inhaltlicher und formaler Aspekte des Geld-Bezugs bei Grimmelshausen bemühen, bleibt das Verhältnis der Texte zum Ökonomiewissen ihrer Zeit weitgehend dunkel. Stattdessen wird vom modernen Standpunkt aus auf das ‚Noch nicht‘ und die angeblichen Krisensymptomatiken des simplicianischen Gelddiskurses rekurriert. Vgl. Ortwin Lämke: Zirkulationsmittel und hermeneutischer Zirkel. Zum Geldmotiv im simplicianischen Zyklus. In: Simpliciana 27 (2005), S. 135–156; Christoph Deupmann: Geldverhältnisse. Ökonomie und Geld in Grimmelshausens Roman ‚Das wunderbarliche Vogel-Nest‘. In: Simpliciana 28 (2006), S. 169–183. 17 Abgesehen davon, dass Koschlig seine These letzthin eben aus nur einer Stelle in Grimmelshausens Werk herleitet, stellt sich die Frage, warum Grimmelshausen das ökonomographische Projekt aufgegeben und mit dem Schreiben des Simplicianischen Zyklus begonnen haben sollte. Dass Koschlig hierfür keine Gründe nennt, unterstreicht den spekulativen Charakter seiner Ausführungen. 18 So nennt Koschlig zwar das Mittel der Dialogisierung als Spezifikum des simplicianischen Kalenders – ein Hinweis darauf, dass es nennenswerte formale Unterschiede zu verzeichnen gibt –, ist ansonsten aber vor allem darauf aus, die These von der satirischen Trivialität des Kalenders zu entkräften; Simplicissimus, so lautet seine Diagnose, sei von Grimmelshausen als ernstzunehmender Träger ökonomischen Wissens konzipiert worden, „nicht aber als eine Kalenderfigur, die als Spaßmacher abgestempelt war.“ Koschlig: Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 158. 19 Ebd., S. 157.
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an genau diesem Punkt kritisch ansetzen. So ist aus Sicht einer an pikarischen Schreibweisen interessierten Studie nicht davon auszugehen, dass Grimmelshausens simplicianischer Romanzyklus eine verkappte Ökonomie nach Art Colers ist. Anzunehmen ist vielmehr, dass die von Koschlig plausibel gemachten simplicianischen Bezugnahmen auf die oeconomia – und wohl nicht nur die Colers – als „Folie“ und „Urzelle“ simplicianischen Erzählens einem Verfahren der satirischen Beobachtung ökonomischen Wissens entspringt, das sich gegenüber den Prätexten tendenziell subversiv, in jedem Fall jedoch kommentierend verhält. Aufzugreifen ist dabei zumal Koschligs These von der genealogischen bzw. textgenetischen Funktion ökonomischen Wissens für das simplicianische Werk. Wenn es stimmt, dass Simplicissimus, die Zentralfigur der simplicianischen Diegese, anders als andere pikarische Figuren (Lazarillo oder Gusman), von einer ökonomischen Basis aus agiert, die Züge der Hauskonzeption Colers trägt, stellt sich nicht nur die Frage, in welchem Verhältnis dieses Ökonomiekonzept zur frappierenden Beweglichkeit der Figur und zur satirischen Faktur der Texte steht; es ist auch zu klären, ob und in welcher Weise die syntagmatische Offenheit und Kontinuabilität der Diskurse, die die Figur hervorbringt, mit jener infiniten Logik empirisch-praktischer Welterkenntnis in Zusammenhang steht, die Koschlig als zentralen Anknüpfungspunkt im intertextuellen Bezugsfeld ausmacht. Dass dieser Ansatz tatsächlich zu einem literatur- wie wissenshistorisch genaueren Verständnis der poetischen Verknüpfungsstruktur des Zyklus führen kann, soll durch die konsequente Erweiterung des Blicks vom Simplicissimus Teutsch und der Continuatio (1669) bis hin zu den Vogel-NestRomanen (1672/75) gezeigt werden. Im Medium eines ad infinitum strebenden, transfiktionalen20 Erzählens wird im Zyklus ein ganzes System ökonomischer und kommerzieller Beziehungen (zwischen Figuren, Haushalten, Handelsgesellschaften, Staaten) greifbar, dessen Ausdehnung sich einerseits ins Globale erstreckt – man denke an die Kreuzinsel-Episode der Continuatio –, das andererseits jedoch durchaus lokaler Art ist, also ganz konkrete Orte, Handlungen und Dinge miteinander verbindet. Insofern es diese sehr speziellen Strukturen sind, die die Bedingungen für die simplicianische Beobachtung der Ökonomie als epistemisches und, wie zu zeigen ist, auch poetisches Konzept vorgeben, sollte sich über ihre systematische Inblicknahme die Möglichkeit ergeben, die außer-
20 Transfiktionalität hier verstanden als Präsenz derselben fiktionalen Entitäten – insbesondere Figuren, aber auch Gegenstände, Orte etc. – in verschiedenen Erzählungen. Vgl. Richard Saint-Gelais: Transfictionality. In: Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. Hg. von David Herman u. a. London u. a. 2005, S. 612–613; Marie-Laure Ryan: Transmediales Storytelling und Transfiktionalität. In: Medien – Erzählen – Gesellschaft. Transmediales Erzählen in Zeiten der Medienkonvergenz. Hg. von Karl N. Renner u. a. Berlin, Boston 2013, S. 88–117, hier S. 92–94.
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gewöhnlich hohe Dichte „ökonomische[r] Daten und Lehren“ 21 im simplicianischen Werk analytisch zu durchdringen.
4.1 Die Häuser des Simplicissimus 4.1.1 Architektur des simplicianischen Romans: Knans Haus im Spessart Das Schreiben vom eigenen Ursprung gerät im Fall des Simplicissimus zu einem Unternehmen, das die rhetorischen Regeln der Herstellung einer Vita, die überlieferte Topik des erzählten Lebens und obendrein die Konventionen romanhaften Erzählens sprengt.22 Dies beginnt damit, dass Simplicissimus seinen Diskurs eben nicht ab ovo anheben lässt – also damit, dass er die Geschichte seiner Vorfahren und Eltern bis hin zu den Umständen seiner eigenen Geburt erzählen würde –, sondern irgendwann mitten in der Kindheit, auf dem Bauernhof des Knan und der Meuder, irgendwo im Spessart. Was Simplicissimus dem Leser auf diese Weise (zunächst) verschweigt, dürfte in einer Erzählung, die ansonsten dem ordo naturalis folgt, eigentlich in keinem Fall fehlen. Es ist die Tatsache, dass der Junge, von dem da erzählt wird – Simplicissimus’ bäuerliches alter ego namens Bub –, keineswegs von den Bauern abstammt, deren Elternschaft in den ersten Kapiteln insinuiert wird. Er ist vielmehr das Kind eines hochadligen Ehepaares, das in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges auseinandergerissen wurde. Wer seine wahren Eltern sind, teilt Simplicissimus freilich erst in dem Moment mit, in dem es sein alter ego, das erzählte Ich, auf intradiegetischer Ebene erfährt. Die betreffende Passage im V. Buch ist, jedenfalls auf den ersten Blick, nach dem im heliodorischen Roman beliebten Prinzip der Wiedererkennung gestaltet. Nach vielen Jahren des Vagierens durch die Welt trifft Simplicissimus den Knan wieder – diesmal im Schwarzwald, wohin es auf ihrer
21 Stern: Geld und Geist, S. 418. 22 Zu letzterem Punkt hat sich die Grimmelshausen-Forschung verschiedentlich eingelassen. Vgl. Theodor Verweyen: Der polyphone Roman und Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘. In: Simpliciana 12 (1990), S. 195–228; Rosmarie Zeller: Simplicius liest die ‚Arcadia‘ – Der ‚Simplicissimus Teutsch‘ zwischen Pikaro-Roman und höfisch-heroischem Roman. Mit einem Anhang zu den Übersetzungen von Sidneys ‚Arcadia‘. In: Simpliciana 27 (2005), S. 77–101; dies.: Verhängnis und Fortuna als Konstruktionsprinzipien des hohen und des niederen Romans. Zur Position des ‚Simplicissimus Teutsch‘ im Gattungssystem des Romans. In: Simpliciana 29 (2007), S. 177–192; Dieter Martin: ‚Ab ovo‘ versus ‚in medias res‘: Strukturelle Spannungen in Grimmelshausens autobiographischem Erzählen. In: Simpliciana 29 (2007), S. 57–72; Thomas Althaus: Konzeptuelle Brüche. Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘ und die Tradition pikaresken Erzählens. In: Simpliciana 29 (2007), S. 41–56.
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Flucht auch die Bauersleute verschlagen hat. Dass sich damit eine Prophezeiung erfüllt, die der noch junge Simplicissimus von einer Zigeunerin erhalten hatte, dürfte für den Leser dabei weniger verblüffend sein als die Auflösung des so lange gehüteten Herkunftsrätsels selbst. Sein eigentlicher Name, so erfährt Simplicissimus vom Knan, laute eigentlich Melchior Sternfels von Fuchshaim. Sein Vater sei der schottische „Capitäin Sternfelß von Fuchsheim“ 23 gewesen – Simplicissimus erkennt in ihm den Einsiedel seiner Kindheit –, seine Mutter „Susanna Ramsi“, die, wie der Knan berichtet, in den Wirren des „Mansfelder Krieg[es]“ 24 kurz nach seiner Geburt verstorben sei. Im Bewusstsein des nahenden Todes habe sie ihn, den kleinen Melchior, an die Bauern gegeben, in deren Haus er dann aufgewachsen sei. Simplicissimus gibt sich daraufhin dem Knan zu erkennen, die lange Getrennten schließen sich wieder zusammen und gründen im Schwarzwald eben jenen simplicianischen Haushalt, dem Koschlig eine „von Colerus stark beeinflußte Atmosphäre“ 25 attestiert hat. Sind Anfang und Ende des Romans damit strukturell eng aufeinander bezogen – Simplicissimus’ Lebenslauf scheint aus dem Bauernhaus des Knan in das Bauernhaus des Knan kreisläufig einzumünden –,26 so allerdings in einer Weise, die eine Untertreffung des sozialen und poetologischen Registers impliziert, das die Genealogie der Hauptfigur vorgibt. Demnach adaptiert der Simplicissimus Teutsch zwar verschiedene Strukturelemente des sogenannten höfischheroischen Romans wie etwa die unbekannte adlige Abstammung des Helden und die Motive der Prophezeiung und der Anagnorisis. Das damit errichtete System des Erzählens, das vom Muster der ‚natürlichen Ordnung‘ (partiell) abweicht, scheint letzthin jedoch ins Leere zu laufen: Anstatt, wie im narrativen Providenzmodell des heliodorischen Romans eigentlich vorgesehen, nach Auflösung aller Verwicklungen auf die Position an der Spitze der sozialen Hierarchie zu rücken, lässt Simplicissimus nach der Wiedererkennung den Knan und die Meuder bei sich einziehen, um mit ihnen einen ständisch gemischten, in
23 Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Werke. Hg. von Dieter Breuer. Bd. I/1: Simplicissimus Teutsch, Continuatio. Frankfurt a. M. 1989, S. 480. Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden unter der Sigle ‚W‘, der Band- und Teilbandnummer sowie dem Kurztitel der betreffenden Schrift zitiert. 24 Ebd., S. 477. 25 Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 157 f. 26 Dass sich dies auch auf der Strukturebene des Erzählens niederschlägt, hat Martin: ‚Ab ovo‘, S. 63–66, gezeigt. Demnach weist Simplicissimus in der Romanexposition darauf hin, dass sein Knan ihm „noch biß auff diese Stund keine geringe Hoffnung zu künfftiger Herrlichkeit macht“ – ein Hinweis, dass Simplicissimus sich zum Zeitpunkt des Schreibens nicht etwa auf dem Mooskopf oder der Kreuzinsel, sondern im simplicianischen Haus befindet. W I/1: Simplicissimus, S. 23.
4.1 Die Häuser des Simplicissimus
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keiner Weise jedoch hochadligen Haushalt zu führen. Um die Güter seines leiblichen Vaters, des schottischen Kapitäns, bemüht sich Simplicissimus nicht, obwohl diese ihm als ehelichem Kind wohl zustünden.27 Ebenso wenig ändert er etwas an seinem Habitus, ja er lässt es sogar zu, dass alle Welt ihn weiter Simplicissimus nennt und mit den Bauersleuten Knan und Meuder assoziiert. Ob im Springinsfeld, in dem Simplicissimus nach seiner Rückkehr von der Kreuzinsel wieder in Erscheinung tritt, oder in den Sproßschriften – etwa dem Ewig=währenden Calender und dem Rathstübel Plutonis (1672) –, die die Schwarzwälder Ökonomie zum Schauplatz der Handlung machen – nichts deutet darauf hin, dass die vom Krieg zerstörte Ordnung der Dinge, verkörpert durch den hochadligen ‚Bauernsohn‘ Simplicissimus, in der transfiktionalen Diegese des simplicianischen Werks wiederhergestellt würde. Blickt man von diesem Punkt aus nochmals auf Koschlig, so wird deutlich, wie sehr dessen Deutung die Spannungen ausblendet, unter denen die simplicianische Familie als soziales Gebilde steht. Von einer harmlosen ökonomischen ‚Folie‘ nach Coler’schem Vorbild kann hier tatsächlich nicht die Rede sein. Wenn Simplicissimus von seinem Ursprung schreibt, schreibt er vielmehr zwangsläufig auch von der Macht des Krieges, der das Gefüge der Welt, in der er handelt, so nachhaltig erschüttert hat, dass die traditionellen Konzepte (auto-)biographischer Sinnstiftung schlechthin nicht mehr greifen. „Knans Haußwesen“ 28 im Spessart steht demnach keineswegs nur positiv für die oeconomia als Ordnung eines Eigenen, auf das Simplicissimus sich berufen kann. Es fungiert auch als Zeichen für den Riss, entlang dessen sich das Leben der Figur(en) entfaltet. Das Vorbild dafür konnte Grimmelshausen ganz sicher nicht bei Coler finden, sehr wohl aber in einem anderen ökonomischen Text seiner Zeit, von dessen intertextueller Bedeutung für die Simplicissimus-Exposition die Forschung lange Zeit nichts wusste.29 Es handelt sich um Johann Rists Der adeliche Hausvatter (1650), eine kommentierte Übersetzung von Torquato Tassos Il padre di famiglia (1583), die der ‚Rüstige‘ im Namen der Fruchtbringenden Gesellschaft angefertigt hatte.30 In der ersten der zahlreichen ‚Erläuterungen‘ 27 Wie der Pfarrer im ersten Buch verät, verfügt Simplicissimus’ Vater über „ansehenliche Güter in Schotten“ (ebd., S. 79). Diese würden nach seinem Tod an sich dem legitimen Erben Simplicissimus zustehen. 28 Ebd., S. 19. 29 Sie wurde erstmals nachgewiesen im Aufsatz des Verf.: Oeconomische Versetzungen. Grimmelshausens Erzählen vom Haus als Spielfeld simplicianischen Wissens vom Menschen. In: Simpliciana 34 (2012), S. 143–158. 30 Genau genommen adaptiert Rist nicht Tassos Schrift, sondern deren französische Adaption durch Jean Baudoin (Le père de famille, 1632). Zu den Hintergründen vgl. Achim Aurnhammer: Torquato Tasso im deutschen Barock. Berlin, New York 1994 (Frühe Neuzeit 13), S. 248–260, hier bes. S. 249 f. Außerdem Gotthard Frühsorge: Die Krise des Herkommens. Zum Wertekanon
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zum Text, die sich auf die Beschreibung des Piemonteser Landsitzes bezieht, in dem Tassos adeliger Hausvater wohnt, wagt Rist einen Blick auf die Situation des deutschen Adels nach dem Dreißigjährigen Krieg. Im Kontrast zum Ideal, das Tasso entwirft, entsteht dabei ein Bild, das die Tragweite der Verheerung möglichst drastisch sichtbar machen soll: Betreffend daß Gebäu/ welches unserem Tasso von dem Jungen Edelman [...] mit Seinen Vorhöfen / Zimmeren / Gahrten und was sonst dazu gehöret / ist gezeiget: So will Er damit lehren / daß es eine der fürnehmsten Glükseligkeiten sei / wen man Ein wolgebautes Hauß mag bewohnen und Seine zeit in zierlich angelegten Zimmeren und Gahrten so wol auff dem Lande alß in den Stätten verschliessen. Sonderlich aber sol Ein Edelman dahin bedacht sein / daß Er Eine Seinem Adelichen Stande gemäss wolzugerichtete Wohnung auff dem Lande habe [...]. Eß hat zwahr Teutschland vorjahren viele herliche Schlösser und schöne wolgelegene Häuser oder Adeliche Sitze gehabt [...]; Es sind aber derselben fast unzehliche in diesem letsten dreissigjährigen Kriege verderbet und zu Grunde gerichtet / dahero bei diesen zeiten mancher fürnehmer Edelmann Sich in einem schlechten Baurhüttlein armselig genug behelffen und an statt der vorigen prächtig scheinenden Schlösser und Palläste / mit einem geringen strodächlein mus vor lieb nehmen.31
Bezieht man diese Stelle in die Deutung der Simplicissimus-Exposition als frühen Höhepunkt simplicianischer Intertextualitäts-Satire mit ein, so ergibt sich ein Bild, das die vorhandenen Deutungen der Forschung teilweise ergänzt, teilweise aber auch infrage stellt. Um dies zu zeigen, bedarf es zunächst einer genaueren Inblicknahme des satirischen Diskurses, den Simplicissimus rund um seine (vermeintliche) Abstammung von den Bauersleuten Knan und Meuder führt. Die Invention, der er dabei folgt, ist ebenso einfach wie wirksam. Sie besteht darin, das bäuerliche Leben, das er als Bub im Spessart führt, so in Kontrast zum „Adelich thun und leben“ 32 zu setzen, dass das Gefälle zwischen ihnen auf groteske Weise aufklafft und Effekte des Verlachens der Bauern provoziert. Dies betrifft zum einen die typischen Praktiken der Feldarbeit 33 und des
des Adels im Spiegel alteuropäischer Ökonomieliteratur. In: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. Hg. von Winfried Schulze. München 1988 (Schriften des Historischen Kollegs 12), S. 95–112. 31 Johann Rist: Der Adeliche Hausvatter (1650). In: ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. VII: Prosaabhandlungen. Berlin, New York 1982, S. 151–380, hier S. 207 f. Zur zitierten Passage vgl. die Erläuterungen bei Aurnhammer: Torquato Tasso im deutschen Barock, S. 258 f. 32 W I/1: Simplicissimus, S. 21. 33 Ebd., S. 19: „Die Rüst- oder Harnisch-Kammer war mit Pflügen / Kärsten / Aexten / Hauen / Schaufeln / Mist- und Heugabeln genugsam versehen / mit welchen Waffen er sich täglich übet; dann hacken und reuthen war seine disciplina militaris, wie bey den alten Römern zu Friedens-Zeiten / Ochsen anspannen / war sein Hauptmannschafftliches Commando, Mist auß-
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Hütens von Schweinen, Ziegen und Schafen,34 die von Simplicissimus in einem der Sache völlig unangemessenen gelehrten Ton als „Adeliche[ ] Exercitien“ 35 vorgestellt werden. Zum anderen – und (spätestens) hier sind wir bei Rist und seiner Kommentierung der Tasso-Stelle – betrifft es die bauliche Struktur des Bauernhauses. Im Modus ironischer Rede erklärt Simplicissimus das Gebäude seiner Kindheit zum Palast, der alle hohen Häuser der Welt an Vollkommenheit übertroffen habe: Mein Knan (dann also nennet man die Vätter im Spessert) hatte einen eignen Pallast / so wol als ein anderer / ja so artlich / dergleichen ein jeder König mit eigenen Händen zu bauen nicht vermag / sondern solches in Ewigkeit wol unterwegen lassen wird; er war mit Laimen gemahlet / und an statt deß unfruchtbaren Schifers / kalten Bley / und roten Kupffers / mit Stroh bedeckt / darauff das edel Getraid wächst; und damit er / mein Knan / mit seinem Adel und Reichthum recht prangen möchte / ließ er die Mauer umb sein Schloß nicht mit Mauersteinen / die man am Weg findet / oder an unfruchtbaren Orten auß der Erden gräbt / viel weniger mit liederlichen gebachenen Steinen / die in geringer Zeit verfertigt und gebrändt werden können / wie andere grosse Herren zu thun pflegen / aufführen; sondern er nam Eichenholtz darzu / welcher nutzliche edle Baum / als worauff Bratwürste und fette Schuncken wachsen / biß zu seinem vollständigen Alter über 100. Jahr erfordert: Wo ist ein Monarch / der ihm dergleichen nachthut?36
In Unkenntnis der Stelle bei Rist hat sich die Forschung lange Zeit mit der Einsicht zufrieden gegeben, dass Grimmelshausen das Material und die Inspiration für diese Passage aus Garzonis Diskurs ‚Von Nobilisten / und Edelleuten‘ bezogen habe.37 So bemerkte zuletzt noch Sittig, der Simplicissimus-Autor habe „seine direkte intertextuelle Vorlage in Garzonis ‚Piazza universale‘ […] im Interesse
führen / sein Fortification-wesen / und Ackern sein Feldzug / Stall-außmisten aber / sein Adeliche Kurtzweil und Turnierspiel [...].“ 34 Den Moment, in dem Bub vom Knan die Verantwortung für die Schafherde übertragen wird, nutzt Simplicissimus, um – entlang Garzonis Artikel– ein schier endloses enzyklopädisches name-dropping unter dem Lemma ‚Große Männer, die einmal Hirten waren‘ zu platzieren. Von Abel bis hin zu Gyges und Kyros dürften hier (wohl) alle infrage kommenden Gestalten der christlich-abendländischen Überlieferung versammelt sein. Die Liste endet mit Philo, der in De vita Mosis zu Recht gesagt habe: „Das Hirten-Ampt sey ein Vorbereitung und Anfang zum Regiment [...].“ Ebd., S. 22. 35 Ebd., S. 20. 36 Ebd., S. 18. 37 Die Entdeckung des intertextuellen Anschlusses gelang früh schon Jan Hendrik Scholte: Zonagri Discurs von Waarsagern. Ein Beitrag zu unserer Kenntnis von Grimmelshausens Arbeitsweise in seinem ewigwährenden Calender mit besonderer Berücksichtigung des Eingangs des abentheuerlichen Simplicissimus. Amsterdam 1921 (Verhandelingen der Koninklijke Akademie van Wetenschappen te Amsterdam, Afdeeling Letterkunde; Nieuwe reeks 22,3), S. 117– 124 und 142–144.
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der Satire nur konsequent aus[ ]schreiben“ müssen.38 Eben das aber erscheint zweifelhaft, blickt man auf die völlig unterschiedlichen Stoßrichtungen, in die die Diskurse zielen. Wenn Garzoni schreibt, die ‚Nobilisten‘ – gemeint sind die Neuadligen – müssten „leiden / daß man jhnen an allen Enden auch wol ins Angesicht darff sagen / daß eine Bauren Hütte sey jhr Pallast gewesen / darinn sie gebohren vnnd erzogen / [...] also beschaffen / daß wann man vber die Mauren springet / die Zäune krachen / jhre Gütter offtermals ein gemein Feldt / darauff sie sich kümmerlich erhalten / jhre behängte Kammern vnnd Gemach / ein stinckendes vnd berauchtes Loch / da man weder Sonne noch Mondt recht gesehen“, so liefert er zwar einige – wohlgemerkt nicht alle – der Elemente, die Grimmelshausen verwendet (zu weiteren Anleihen, nämlich bei Rist, unten mehr).39 Allerdings zielt sein Diskurs dabei eben eindeutig auf die Neuadligen und nicht auf jene hochgeborenen Adligen (Rists), die ihren Besitz durch Krieg verloren haben. Hinzu kommt, dass die Referenzstelle bei Garzoni zwar jede Menge satirisches Potenzial, jedoch keinen Bruch mit den Regeln des Erkennens oder dem Konzept ständisch-sozialer Differenz bietet. Das Mittel der Antiperistase, das der Italiener einsetzt, um die „Nidrigkeit“ 40 der ‚Nobilisten‘ herauszustellen – „Contraria sibi inuicem opposita magis illucescunt, Das ist / wann man widerwertige Ding gegen einander helt / so sihet man den vnterscheit desto besser“ –,41 erreicht sein rhetorisches Ziel ohne epistemologischen Widerhaken: Der Leser wird einbezogen in den Prozess der Ausgrenzung der ‚fremden‘ Elemente innerhalb des Adels, als dessen Resultat man diesen „an allen Enden auch wol ins Angesicht darff sagen“, dass sie nichtswürdige Emporkömmlinge sind. Im simplicianischen Text dagegen arbeitet die Antiperistase gerade nicht in die Richtung, die zu einem Verständnis der geschilderten Zusammenhänge führen würde. So setzt zwar auch Simplicissimus auf Garzonis contraria-Rhetorik: „Zwar ohngeschertzt / mein Herkommen und Aufferziehung läst sich noch wol mit eines Fürsten vergleichen / wann man nur den grossen Unterscheid nicht ansehen wollte / was?“ 42 Die Frage ist jedoch, was der „Unterscheid“ in seinem Diskurs eigentlich sichtbar machen soll. In Kenntnis der wahren Umstände seiner Geburt, die der (Erst-)Leser des Romans an dieser Stelle freilich noch nicht haben kann, erweist sich Simplicissimus’ gesamte Rede von den ‚Nobilisten‘ als
38 Claudius Sittig: ‚Von Nobilisten, oder Edelleuten‘ in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘. In: Simpliciana 34 (2012), S. 123–142, hier S. 128. 39 Garzoni: Piazza Vniversale, S. 131. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 W I/1: Simplicissimus, S. 17 f.
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eine (intertextuelle) Nebelkerze, die den Kern der Dinge, um den es in einer Ursprungserzählung eigentlich gehen sollte, verhüllt, anstatt ihn aufzudecken. Tatsächlich wohnt unter dem Strohdach des Knan kein (zukünftiger) Neuadliger, sondern, mit Rist gesprochen, ein „fürnehmer Edelmann“, der infolge des Krieges „Sich in einem schlechten Baurhüttlein armselig genug behelffen und an statt der vorigen prächtig scheinenden Schlösser und Palläste / mit einem geringen strodächlein mus vor lieb nehmen“ – eine Figur also, die es aus genealogischen Gründen gar nicht nötig hätte, sich „mit andern meines gleichen neuen Nobilisten“ 43 dem Lachen des Lesers preiszugeben. Dass sie es doch tut – bzw. qua Einspeisung eines (vermeintlich) ‚erkenntnissicheren‘ satirischen Intertextes geradezu erzwingt –, ist nicht nur insofern bedeutsam, als damit ein erstes Beispiel für das Spiel des Textes mit den Vorurteilen und der auctoritas-Gläubigkeit des Lesers gegeben ist; wer meint, sich auf die insinuierte Deutung des Spessarter Szenarios vor der Folie Garzonis verlassen zu können, ist vom ‚Wahn‘ schon betrogen.44 Vielmehr gibt die rhetorische Taktik der Figur auch darüber Aufschluss, worin die Herausforderung ihres autobiographischen Diskurses besteht. Simplicissimus schreibt ein Leben, das in seinem Ursprung durch einen Bruch gekennzeichnet ist, der auch am Punkt des Erzählens nicht überwunden worden ist (und bis zum Ende des Zyklus nicht überwunden werden wird).45 Wenn er, der Sohn aus hochadligem Hause, am Ende immer noch (oder wieder) bei den Bauern wohnt und der Knan ihm (angeblich) „noch biß auff diese Stund keine geringe Hoffnung zu künfftiger Herrlichkeit“ 46 macht, dann macht dies vor allem deutlich, dass es für dieses Leben kein topisches Konzept, kein Muster der narrativen Sinnstiftung gibt. In dieser Hinsicht fungiert Garzonis Diskurs am neuralgischen Punkt der Exposition gleichsam als ironischer Platzhalter für etwas, das nicht gesagt werden kann, ohne die radikale Offenheit und latente
43 Ebd., S. 19. 44 „Der Wahn betreügt“ lautet das Motto, das „der alte Simplicissimus in alle Kupferstück so sich in seiner Lebens-Beschreibung befinden / gesetzt hat“. W I/2: Vogel-Nest I, S. 373. Tatsächlich findet sich das Motto auf nahezu sämtlichen Illustrationen der Ausgabe E5 (1671). Dazu Manfred Koschlig: ‚Der Wahn betreügt‘. Zur Entstehung des Barock-Simplicissimus. In: Neophilologus 50 (1966), S. 324–343. 45 Die Offenheit der (Nach-)Kriegssituation wird übrigens auch im Tempusgebrauch bei Rist deutlich. Bei ihm ist 1650, wie zitiert, die Rede davon, dass sich so mancher Adlige „bei diesen zeiten“ (eine ganz ähnliche Formulierung wie im ersten Satz des Simplicissimus-Romans) mit einem Bauernhaus „behelffen […] mus“ (Hervorheb. S. Z.). Grimmelshausen, der seinen Roman zwanzig Jahre nach Kriegsende veröffentlicht, bewahrt die Gegenwärtigkeit des historischen Geschehens und unterstreicht damit die (immer noch) vorhandenen Folgen des Krieges: In der Welt des Simplicissimus bleibt der Riss, der durch die Welt geht, schmerzhaft präsent; das Leben des Simplicissimus ist ein auf Dauer gestelltes soziales Provisorium. 46 W I/1: Simplicissimus, S. 23.
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Widersinnigkeit des simplicianischen Lebens von vornherein zu exponieren. Simplicissimus, mit anderen Worten, versteckt seine Person hinter dem Text Garzonis, den er, gemessen am Anspruch einer nach Passgenauigkeit strebenden Topik, an einem wahrhaft „unfruchtbaren Ort[ ] auß der Erden“ 47 gegraben zu haben scheint. Die Vielschichtigkeit der poetologischen Selbstaussage, die Grimmelshausens Text auf diese Weise trifft, dürfte in der Literatur des deutschsprachigen 17. Jahrhunderts einzigartig sein. Dies liegt unter anderem daran, dass der Simplicissimus im Bezug auf den topischen Kontrast von Palast und Bauernhaus ein Kernelement eben desjenigen Diskurses aktualisiert, der seit dem späten 16. Jahrhundert für die Verhandlung der Kunst- bzw. Dichtungsfähigkeit der ‚teutschen‘ Sprache zuständig gewesen war. Schon ein punktueller Blick auf die Funktionalisierungen des Topos bei den (gelehrten) Autoren, die diesen Diskurs prägen, lässt die Besonderheit der simplicianischen Verwendungsweise deutlich werden. Zum rekurrenten Element literaturpolitischer Selbstverortung wird die Rede vom Haus der ‚teutschen‘ Sprache bzw. Dichtung demnach erstmals im Straßburger Kreis um Johann Fischart, dessen Mitglieder dabei zumal auf die antike, aber auch auf die italienische Dichtung schauen.48 Was die alten und neuen Dichter südlich der Alpen bereits erreicht hätten, nämlich eine Kultivierung der rohen Natur der Sprache mit den Mitteln der Kunst, stehe für die deutschsprachige Dichtung noch aus – so etwa lautet die Argumentation Bernhard Jobins in seiner Vorrede zu Fischarts Ehezuchtbüchlin (1591), in der er alle deutschen Poeten zur Sprachpflege aufruft. Diese sollten, so Jobin, „nit in zierung deß Vatterlands so vnachtsam sein / daz wir mehr fremde als vnsere eygene äcker baweten / vnd es mit liederlichen Stroen Hüttlin entstelleten: sondern lasset vnser jeden forthin nach vermögen seiner im verlihenen gaben / neben den Griechischen vnd Latinischen Pallesten / auch vnsere die zeit her vngeachtete Häuser stattlich auffbawen“.49 Bleibt hier zwischen den prachtvollen Palästen der antiken bzw. italienischen und den stattlichen Häusern der deutschen Literatur ein Wertgefälle noch in Kraft, so tritt dieses im Laufe der Institutionalisierung des Diskurses, wie sie nach 1617 zumal durch die Fruchtbringende Gesellschaft vorange-
47 So Simplicissimus über die Mauersteine des Palasts, denen er den Eichenholzzaun des Knan entgegenhält. Vgl. ebd., S. 18. 48 Vgl. Sylvia Brockstieger: Spielarten moralistischer Prosa im 16. Jahrhundert – Die Rezeption Antonio Guevaras in München und Straßburg. In: Literatur und Moral. Hg. von Volker Kapp, Dorothea Scholl. Berlin 2011 (Schriften zur Literaturwissenschaft 34), S. 123–140, hier S. 134. 49 Johann Fischart: Das Philosophisch Ehezuchtbüchlin oder die Vernunfft gemäse Naturgescheide Ehezucht / sampt der Kinderzucht […]. Straßburg: Bernhard Jobin 1591, fol. [7v (Vorrede Jobin). Hier zitiert nach Brockstieger: Spielarten moralistischer Prosa, S. 134.
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trieben wird, mehr und mehr aus dem Blick. In Schottelius’ Ausführlicher Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache (1663), fünf Jahre vor dem Simplicissimus erschienen, geht es nicht mehr darum zu klären, ob und bis zu welchem Grad das ‚Teutsche‘ literaturfähig ist. Im Zentrum steht vielmehr die Gestalt des einzelnen Dichters, der dazu aufgefordert ist, aus dem reichlich vorhandenen Material ein kunstvoll ausgeführtes Sprach-Gebäude zu machen: Aus Holz / Stein / Eisen / Kalk / kann so wol ein Königlicher Pallast und ansehnliche Gebäude / mancher Art / als auch schlechte Baurhäußlein / Schweinskofen und Gänseställe angelegt und verfertiget werden; […] nach dem so wol der Vorsatz / als zuforderst der rechte Grif und die Kunst bey dem Baumeister […] verhanden […]. Also muß man die Teutsche Sprache jhm vorstellen / darin Stoff / das ist Baumaterialien […] genug verhanden / wan nur der verfertiget wol bauen […] kan.50
Der „Vorsatz“ und die „rechte Grif und Kunst“ – das sind Synonyme für Invention und Disposition, wie sie im expositorischen Teil seiner Vita auch für den Erzähler Simplicissimus von Bedeutung sind. Dabei wird von ihm eine Spannung in Szene gesetzt, die auf die hybride Anlage der Erzählung selbst verweist. Auf der einen Seite lässt Simplicissimus seinen Diskurs in medias res beginnen, disponiert die Ereignisse seines Lebens mithin (teilweise) nach einem Prinzip, das dem ordo artificialis, dem Bereich der Kunst, zugehörig ist und eine providentielle Auflösung der Verwicklungen am Ende vorsieht. Auf der anderen Seite wird der Versuch, der eigenen Vita eine Ordnung zu geben, die auf die Vollkommenheit der göttlichen Schöpfung verweist,51 von Simplicissimus selbst durch das ironische Ausspielen der natura-Komponenten unterminiert, die die angebliche Höherwertigkeit von Knans Haus gegenüber den „artlich“ gestalteten Palästen der Adligen ausmachen sollen. Dies beginnt, wie zitiert, bei den äußeren Bauelementen – dem Leim auf der Außenwand, der laut Simplicissimus der Farbe vorzuziehen sei, dem Stroh auf dem Dach, das Schiefer, Blei und
50 Justus Georg Schottelius: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache […]. Abgetheilet In fünf Bücher. Braunschweig: Christoph Friedrich Zilliger 1663, S. 1219. Zu dieser Stelle vgl. Andreas Gardt: Sprachreflexion in Barock und Frühaufklärung. Entwürfe von Boehme bis Leibniz. Berlin, New York 1994 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der Germanischen Völker, Neue Folge 108), S. 143. 51 Man denke hier nur an die zeitgenössische Vorstellung vom Dichter als alter deus, die speziell in der Romandebatte des späteren 17. Jahrhunderts mit Aspekten der Disposition von Stoff(massen) verknüpft wird. Ihren Ursprung hat diese Vorstellung dabei bekanntlich in Scaligers Sieben Büchern über die Dichtkunst (1561), dem wohl wirkmächtigsten poetologischen Text der europäischen Frühneuzeit. Vgl. Iulius Caesar Scaliger: Poetices libri septem. Sieben Bücher über die Dichtkunst. Hg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994, S. 72 (Buch I, Kap. 2).
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Kupfer übertreffe, dem Eichenholz des Zauns, das die Mauersteine aussteche – und setzt sich in der Beschreibung des Innenraums in klimaktischer Tendenz fort. Wie nah Grimmelshausens Text dabei auch an dieser Stelle der TassoBearbeitung Rists ist, zeigt die Gegenüberstellung der einschlägigen Passagen. Bei Rist findet sich der entsprechende Abschnitt im direkten Anschluss an die zitierte Klage über die Situation der Adligen nach dem Dreißigjährigen Krieg. Um die Seele des Lesers nicht ungetröstet zu lassen, entscheidet sich der ‚Rüstige‘, auf das Bild der Verheerung einen im Wortsinn erbaulichen Diskurs folgen zu lassen. Das Mittel der Wahl ist dabei das der Anagoge: Der Blick des zu Tröstenden soll aus dem Inneren des irdischen Palastes auf die Ebene der oeconomia divina ‚hinaufgeführt‘ werden, in der das Licht Gottes alles – auch die schrecklichen Folgen des Kriegs – überstrahlt: Gleich wie man Sich nun hier in der Welt höchlich pfleget zu belustigen / wen man in ein Hauß kommet / da […] wegen des klahren Glases die Gemächer hell und leüchtend / die Zimmer von wegen der mit allerhand schönen / von Golde und Perlen gestikketen und gezierten Teppichen ansehnlich und gläntzend / die Oberdekken und Wände wegen der vielen künstlich gemahleten und geschnittenen Bilder verwunderlich […] / und in welchem (kürtzlich zu reden) alles daß jenige / waß zu einem festen / schönen / bequehmen und wolausgeputztem Hause gehörig überflüssig zu finden; Also wissen wir ja / daß uns dort in der Ewigkeit ein solches Freüdenhauß ist bereitet / in welchem der himlische Hausvatter die Liebe und Leütseligkeit Selber ist / da die schnelle Auffwahrter bei vielen tausenden uns werden zu Dienste stehen / da wir ein Hauß werden finden / daß klahrer als die Sonne / dieweil es die Majestät Gottes erläuchtet […].52
Wie eng Kunst und Ordnung, adlige Architektur und göttliche Providenz in diesem Diskurs verschränkt werden, braucht vor dem aufgezeigten topischen Hintergrund kaum der näheren Erläuterung. Ganz ähnlich wie Schottelius, in dessen Rede vom Dichter als „Baumeister“ die Instanz Gottes mindestens implizit mitgemeint ist, setzt Rist auf die Evidenz eines ordo, die für den Menschen gerade dort erfahrbar wird – und mithin tröstend wirken kann –, wo die (Dicht-) Kunst waltet. Die Rede des Dichters erfüllt dabei dieselbe ordnende Funktion wie das Licht Gottes, ohne das, wie in der Zeit auch Johann Arndt schreibt, „eitel Unordnung und Confusion in allen Dingen“ 53 wäre: Sie macht die materiellen Dinge der Wirklichkeit, das „feste[ ] / schöne[ ] / bequehme[ ] und wolausgeputzte[ ] Haus[ ]“, auf einen höheren Sinn hin lesbar, enthebt sie ihres Kontingenzcharakters und erreicht damit das Ziel der heilsgeschichtlichen Ein-
52 Rist: Der Adeliche Hausvatter, S. 209. 53 Johann Arndt: Vier Bücher Vom wahren Christenthumb […]. Lüneburg: Johann Sternen, Heinrich Sternen, Erben 1666, S. 13 f. (4. Buch, ‚Liber naturae‘).
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holung jener historischen Wirklichkeit, deren Zustand zuvor in düsteren Farben gezeichnet wurde. Liest man Simplicissimus’ Beschreibung des Knanschen Hauses im Nahbezug auf die Stelle bei Rist, so wird die Tendenz zur Durchkreuzung des arsKonzepts ‚hoher‘ Dichtung in seinem Diskurs deutlich. Wo in Rists Palast „die Oberdekken und Wände wegen der vielen künstlich gemahleten und geschnittenen Bilder verwunderlich“ sind, haben sich die Wände des Knan vom Ruß des Kamins schwarz gefärbt: Seine Zimmer / Sääl und Gemächer hatte er inwendig vom Rauch gantz erschwartzen lassen / nur darumb / dieweil diß die beständigste Farb von der Welt ist / und dergleichen Gemähld biß zu seiner Perfection mehr Zeit brauchet / als ein künstlicher Mahler zu seinen trefflichsten Kunststücken erfordert […].54
Wo bei Rist sodann „die Zimmer von wegen der mit allerhand schönen / von Golde und Perlen gestikketen und gezierten Teppichen ansehnlich und gläntzend“ sind, finden sich im Haus des Knan Spinnennetze, die Simplicissimus, dem Medium des Bildteppichs gemäß, vor mythologischem Hintergrund liest: Die Tapezereyen waren das zärteste Geweb auff dem gantzen Erdboden / dann die jenige machte uns solche / die sich vor Alters vermaß / mit der Minerva selbst umb die Wett zu spinnen […].55
Und wo bei Rist schließlich „wegen des klahren Glases die Gemächer hell und leüchtend“ sind, scheint das Sonnenlicht durch die Ölpapierfenster des Knan nur milchig ins Innere des Hauses hinein: Seine Fenster waren keiner anderer Ursachen halber dem Sandt Nitglaß gewidmet / als darumb / dieweil er wuste / daß ein solches vom Hanff oder Flachssamen an zu rechnen / biß es zu seiner vollkommenen Verfertigung gelangt / weit mehrere Zeit und Arbeit kostet / als das beste und durchsichtigste Glas von Muran.56
Mit Blick auf Rist, aber auch Garzoni lässt sich Simplicissimus’ Hinweis auf das Muraner Glas, mit dem die Beschreibung des Hausinneren endet, als eine auf metatextueller Ebene angesiedelte ironische Geste verstehen.57 Denn handelt es 54 W I/1: Simplicissimus, S. 18. 55 Ebd. 56 Ebd., S. 18 f. 57 Ein weiterer Aspekt, der in den Bereich der Poetik fällt, kann hier vorerst nur erwähnt werden. Demnach verweisen die das Muraner Glas angeblich übertreffenden Ölpapierfenster des Knan in ihrer Materialität zurück auf den Hanfsamen, mit dem der viel „Zeit und Arbeit“ kostende Prozess der „Verfertigung“, den Simplicissimus andeutet, seinen Anfang nimmt. In nuce enthält die Simplicissimus-Exposition damit bereits das Erzählprogramm der sogenannten
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sich bei dem Glas der Venezianer um das „beste und durchsichtigste“, das auf dem Markt zu bekommen ist – eine Einschätzung, die Simplicissimus mit Garzoni teilt –,58 so verweist zum einen die italienische Herkunft dieses Glases auf die Herkunft der Texte, auf die die Simplicissimus-Exposition sich bezieht.59 Zum anderen deutet das Muraner Glas in seiner Reinheit auf den sowohl von Garzoni als auch Rist erhobenen Anspruch der rhetorischen Klarheit und Durchsichtigkeit (claritas/perspicuitas). Dass dieser nur dort behauptet werden kann, wo die Lesbarkeit der Welt und ihr providentieller Ordnungscharakter vorausgesetzt sind, haben wir schon gesehen. Je entschiedener der simplicianische Text die Geltung dieser Voraussetzungen zurückweist, desto deutlicher tritt die Inkommensurabilität seiner Schreibweise im poetologischen Bezugsfeld hervor. Dabei zielt sein Angriff allerdings keineswegs nur auf die sich in den Diskursen Garzonis und Rists manifestierende Selbstsicherheit des Wissens und der rhetorischen Verfahren. Vielmehr steht im ironischen Spiel der Erhöhung des ‚Niedrigen‘ genauso auch Simplicissimus’ eigener Diskurs zur Disposition, der, ohne festen Ort im System der Gattungen, den ‚Zwischenraum der Codes‘ (de Certeau) nicht verlassen kann, ohne die Kritik an den diesseits des Bruchs verfügbaren Konzepten prästabilierten Sinns auf sich selbst zu lenken. In welch paradoxe Struktur dies mündet, lässt sich an Simplicissimus’ Kernargument in der zitierten Passage ablesen. Demnach soll sich das Ölpapier in den Fenstern des Knan gegenüber dem Muraner Glas dadurch auszeichnen, dass es „biß es zu seiner vollkommenen Verfertigung […] / weit mehrere Zeit und Arbeit kostet“. Insofern dies auf die fortgesetzte, tendenziell endlose Mühe verweist, die eine Erfassung der Welt nach sich
Schermesser-Episode der Continuatio, die als poetologische Schlüsselstelle des Zyklus in Kap. 4.2.2 noch zu thematisieren sein wird. 58 So heißt es bei Garzoni: „Meines erachtens aber hat Muran ein sehr lustiger vnd wolgelegener Orth bey Venedig gelegen / den Vorzug vor allen andern / die in der gantzen Welt seyn mögen / allda auch die schönste vnd helleste Gläser gemacht werden / die man finden mag […].“ Garzoni: Piazza Vniversale, S. 417. 59 Im Fall von Rist ist dieser Bezug, wie gesagt, einer über zwei Stationen. Der ‚Rüstige‘ adaptiert in seiner Schrift die Ökonomik Tassos und vollzieht damit eben jenen vermeintlich fruchtbringenden Import ‚welscher‘ Texte, den Grimmelshausen im Ewig=währenden Calender satirisch aufs Korn nehmen wird. In der betreffenden Anekdote, die sich in der ‚dritten Materie‘ findet, sieht Simplicissimus „bey den Schweitzern unterschiedliche Esell und Maulthier mit Citronen / Lemonen / Pommerantzen und sonst allerhand Wahren auß Jtalia über das Gebürg kommen“ und sagt daraufhin zu seinem Begleiter, dem jüngeren Herzbruder: „schawet umb Gotteswillen / diß ist der Jtalianer fruchtbringende Gesellschafft.“ Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Des Abentheuerlichen Simplicissimi Ewig=währender Calender […]. Faksimile-Druck der Erstausgabe Nürnberg 1671. Hg. von Klaus Haberkamm. Konstanz 1967, S. 176 f. Aus diesem Nachdruck des Kalenders wird im Folgenden unter der Sigle ‚EC‘ und mit Angabe der Seitenzahl zitiert.
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zieht, die auf die Implementierung importierter Sinnstiftungsangebote verzichtet, scheint das Argument bei aller Ironie zunächst logisch aufzugehen. Führt man sich jedoch vor Augen, dass das Produkt dieser Mühe, das Ölpapier, als Symbol letzthin gerade für das steht, was prinzipiell nicht durchschaut werden kann, wird an dieser Stelle bereits angedeutet, dass der simplicianische Diskurs über den performativ beglaubigten Verzicht auf ‚falsche‘ Klarsichtigkeit hinaus keine epistemischen Versprechungen machen kann oder will. Beim Schreiben seines eigenen Lebens bleibt Simplicissimus, der Sohn des ‚teutschen‘ Krieges,60 einer dunklen Geschichts-Wirklichkeit verhaftet, aus der kein direkter Weg in die lichten Gefilde der Erkenntnis zu führen scheint.
4.1.2 Die Spur der Sackpfeife: Bub als Hirte oder Das Andere der Bukolik Dass der Krieg zentraler Gegenstand seines Erzählens ist, bekundet Simplicissimus zu Beginn des vierten Kapitels, das von der Zerstörung des Knanschen Hauses durch einfallende Marodeure handelt. Zwar sei er „nicht gesinnet gewesen / den Friedliebenden Leser / mit diesen Reutern / in meines Knans Hauß und Hof zu führen / weil es schlim genug darinn hergehen wird“; jedoch erfordere „die Folge meiner Histori / daß ich der lieben posterität hinderlasse / was vor Grausamkeiten in diesem unserm Teutschen Krieg hin und wieder verübet worden“.61 So offenkundig dieses Argument der tatsächlichen Anlage des Erzählens widerspricht – es ist keineswegs die natürliche Folge der Geschichte, die das Erzählen der Geschehnisse an dieser Stelle erforderlich macht, sondern vielmehr das dispositorische Kalkül des Erzählers Simplicissimus –, so exzeptionell erscheint die Darstellung des Überfalls selbst. Aus der Perspektive Bubs, die Simplicissimus über viele Seiten hinweg zur Fokalisierung des Geschehens nutzt, wird geschildert, wie die Marodeure ihre „Arbeit“ verrichten, „deren jede lauter Untergang und Verderben anzeigte“.62 In wütenden Durchgängen „unden und oben“ 63 durch das Haus sammeln und verbrennen sie Hausrat und
60 Dass der simplicianische Hauptroman, von Grimmelshausen bekanntlich mit Simplicissimus Teutsch betitelt, sich als ein ‚teutscher‘ Text versteht, hat in erster Linie mit diesem seinem poetologischen Zentralproblem zu tun: dem Erzählen des eigenen Lebens entlang des Risses, den der Dreißigjährige Krieg hinterlassen hat. Handelt es sich bei Simplicissimusʼ Schreibweise demnach um eine genuin ‚teutsche‘ Schreibweise, so wird klar, warum der Italien-Import eines Rist aus dieser Perspektive nicht satisfaktionsfähig ist: Texte, die keine Spuren des Kriegs tragen, sondern stattdessen, nach altem Muster, Kunst, Ordnung und Providenz engführen, können die ‚teutsche‘ Sache, die bei Grimmelshausen verhandelt wird, eigentlich nur verfehlen. 61 W I/1: Simplicissimus, S. 27. 62 Ebd., S. 28. 63 Ebd.
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Möbel, töten das Vieh, vergewaltigen die Magd und quälen den Knan mit einem „Schwedischen Trunck“,64 bis der ihnen den Weg zu anderen Gehöften verrät. Die Bauern, die in der Folge auf den Hof des Knan getrieben werden, werden ebenso wie der Knan selbst der Folter ausgesetzt – ein entsetzlicher Gewaltexzess, den Bub in seiner Ahnunglosigkeit durch dümmlich-naive Kommentare zur Kenntlichkeit entstellt. So meint er, der Knan sei der „glückseeligste“ unter den Bauern gewesen, weil er mit lachendem Munde bekennete / was andere mit Schmertzen und jämmerlicher Weheklag sagen musten / und solche Ehre widerfuhr ihm ohne Zweiffel darumb / weil er der Hausvatter war / dann sie setzten ihn zu einem Feuer / banden ihn / daß er weder Händ noch Füß regen konte / und rieben seine Fußsolen mit angefeuchtem Saltz / welches ihm unser alte Geiß wieder ablecken / und dardurch also kützeln muste / daß er vor lachen hätte zerbersten mögen [...].65
Erst als der Knan „seine Schuldigkeit“ bekennt und den Marodeuren einen „verborgenen Schatz“ überlässt, „welcher von Gold / Perlen und Cleinodien viel reicher war / als man hinder Bauren hätte suchen mögen“, lassen sie von ihm ab.66 Die Gewaltorgie geht allerdings weiter. Sämtliche Frauen, wohl auch die Meuder, werden im Stall vergewaltigt, während der Bub sich im Hof als Bratenwender betätigt. Erst als das Ursele, die Magd, ihm mit „kräncklichter Stimm“ 67 ans Herz legt, vor den Reitern zu fliehen, verlässt der Bub den Hof. Nachdem er unweit von diesem übernachtet hat, sieht er ihn im flackernden Licht des Morgensterns brennen und verlässt den Schauplatz des Schreckens, um ein Haar niedergestreckt von einem Musketenschuss der Marodeure. Wird mit diesem Geschehen der Riss, von dem im vorigen Abschnitt die Rede war, auch auf der Ebene der histoire gegenwärtig – der Krieg macht Simplicissimus zum zweiten Mal zum Waisenkind und entzieht ihm den Ort des Eigenen seiner Kindheit –, so umgibt der Erzähler diesen mit einem ganzen Gewebe von Deutungen und Sinnstiftungsmustern, die das Kontingenzmoment des Überfalls zum Gegenstand fortgesetzter intertextueller Verhandlung machen. Die Spur, der Simplicissimus dabei folgt, weist zurück in die bäuerliche Welt, der er (nicht) entstammt. So werden im dritten Kapitel, das laut Überschrift „von dem Mitleiden einer getreuen Sackpfeiff“ 68 handelt, die tragischen Umstände wiedergegeben, die zum Überfall der Marodeure führten. Um sich beim Hüten
64 65 66 67 68
Ebd. Ebd., S. 29. Ebd. Ebd., S. 30. Ebd., S. 23.
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der Schafe gegen den Wolf zu wappnen, vor dem er panische Angst hat, bläst Bub kräftig auf seiner Sackpfeife und singt dazu das Bauernlied, das ihm die Meuder beigebracht hat – nicht ahnend, dass er damit die im Wald umherstreifenden Soldaten in die Nähe des Knanschen Hauses lockt. Durch seine „Music und Hirten-Geschrey wieder zu recht gebracht“, ergreifen diese den Hirtenjungen, werfen ihn auf ein Pferd und eilen „deß geraden Wegs meines Knans Hof zu[ ]“, wo der Marodeakt seinen Lauf nimmt.69 Auffällig ist dabei, dass Bub im gesamten Abschnitt weniger sich selbst als Akteur wahrnimmt, als vielmehr seine Sackpfeife, die er als Remedium gegen den Wolf in höchsten Ehren hält. Diese fällt beim Überfall zwar zunächst zu Boden; weil Bub jedoch selbst vom Pferd „herab auff meine liebe Sackpfeiffe fallen muste“, fängt sie plötzlich „erbärmlich an[ ] zu schreyen / als wann sie alle Welt zu Barmhertzigkeit bewegen hätte wollen“.70 Genau diese Barmherzigkeit bleibt im Folgenden freilich auf der Strecke, was sich in den resignativen Worten des Simplicissimus bereits ankündigt: „aber es halff nichts / wiewohl sie den letzten Athem nicht sparete / mein Ungefäll zu beklagen / ich muste einmal wieder zu Pferd / GOtt geb was meine Sackpfeiffe sang und sagte [...].“ 71 Dass die Sackpfeife hier etwas ‚singt und sagt‘, das über ihre Funktion im Kausalzusammenhang der Handlung symbolisch hinausweist, wird in Simplicissimus’ (oder Bubs?) Vergleich ihres Klangs mit einem Klageruf schon deutlich. Vor dem Hintergrund der topischen Konstruktion, die der Passage zugrunde liegt – dem Widerspiel von Schäfer und Wolf, Hirtenwelt und Krieg, ökonomischer Produktivität und infernalischer Zerstörung –, lassen sich jedoch noch weitergehende Deutungsmöglichkeiten erschließen. Eine erste Sinnschicht, die der Text impliziert, weist auf das Genre bukolischen Erzählens hinüber, in dem die Hirteninstrumente, und durchaus auch die Sackpfeife, eine wichtige Rolle als Träger poetologischer Reflexionspotenziale spielen.72 Besonders deutlich ist das der Fall in Harsdörffers Nothwendigem Vorbericht zur Diana-Übersetzung (1646), der für Grimmelshausen schon deshalb interessant gewesen sein dürfte,73 weil der Nürnberger in ihm das Lob der Hirten und Bau-
69 Ebd., S. 25 f. 70 Ebd., S. 26. 71 Ebd. 72 Schon im Zusammenhang der Nennung großer Herren, die einmal Hirten waren, spricht Simplicissimus (oder Grimmelshausen) vom „Lob der Hirten“. Ebd., S. 21. 73 Die Frage, ob Grimmelshausen die Übersetzung des Montemayor-Romans kannte, wurde in der Grimmelshausen-Forschung vor Jahren gestellt, aber nicht befriedigend beantwortet. Vgl. Birgit Witte-Heinemann: Kannte der ‚Simplicissimus‘-Dichter die ‚Diana‘ von Montemajor? In: Simpliciana 1 (1979), S. 31–36. Die intertextuellen Befunde, die im Folgenden beigebracht werden, machen eine Kenntnis des Textes seitens Grimmelshausen wahrscheinlich – als
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ern mit einer ökonomisch-restaurativen Perspektive verknüpft. Vor dem Hintergrund des Dreißigjährigen Krieges betreibt Harsdörffer literarische Friedenspolitik auf der Basis einer bukolischen Poetik, die im ökonomischen Menschen Natur und Dichtung versöhnt sieht.74 Mit Theokrit bzw. Daniel Heinsius von einer besonderen Affinität ausgehend, die „das Land= und Feldleben mit der Poeterey“ verbindet,75 beschwört er eine Welt arkadischer Integrität, die sich gegenüber der Sphäre des Krieges und Hoflebens durch Friedlichkeit und ökonomische Produktivität auszeichnet: Fürwar es ist deß Menschen eingeborner Eigenschaft viel gemässer / von den [sic!] ruhigen und unschuldigen Feldbau / als dem Land=verderblichen Kriegswesen oder den Städt= und Hoflastern seine Nahrung aberhalten. Daher viel lieblicher erschallet ein ungezwungenes Feldliedlein / als ein prächtiges Gedicht von grossen Helden Thaten: viel freyer erklinget das schlürffende Dudeln der Sackpfeiffen / und der Schalmeyen / als die mordtönenden Trommeln und Trompeten.76
Obsiegt der Hirtengesang in dem von Harsdörffer imaginierten Agon der Gattungen über die martialische Heldendichtung, weil er der „eingeborne[n] Eigenschaft“ des Menschen nähersteht, so ist damit ein Vektor vorgegeben, den Grimmelshausen in seiner Schilderung des Kriegseinbruchs in die Spessarter Welt geradezu mutwillig umkehrt. So singt zwar auch der Bub ein „Feldliedlein“ und spielt auf seiner Sackpfeife. Anstatt damit allerdings eine arkadische Anderswelt herbeizumusizieren, in der der Mensch sich dem „ruhigen und unschuldigen Feldbau“ widmen kann, lockt der simplicianische Hirte die Emissäre des „Land=verderblichen Kriegswesen[s]“ mit seiner Musik erst an.77 Dabei ist zu bemerken, dass die satirische Gegenbewegung, die den intertextuellen Bezug
Beweis können sie aufgrund der hochgradig topischen Struktur des Bukolischen aber sicher nicht gelten. 74 Dass Vergil in seiner berühmten 4. Ekloge, V.18–20, auch den Ackerbau als überwunden betrachtet, Harsdörffer diesen jedoch zum eigentlichen Kennzeichen bukolischer Friedlichkeit erklärt, belegt den politischen Gehalt der Nürnberger Schäferdichtung: Es geht hier nicht zuletzt um die Auslotung restaurativer Potenziale, die als solche keineswegs selbstverständlich aus der bukolischen Tradition hervorgehen. 75 Georg Philipp Harsdörffer: Nothwendiger Vorbericht. In: Diana, Von H. J. De Monte-Major, in zweyen Theilen Spanisch beschrieben […]. Nürnberg: Michael Endter 1646, fol. )( iiijr– )( )( vijv, hier fol. )( vjr. 76 Ebd., fol. )( viijv. 77 Der Umstand, dass ihm dabei – anders als den Hirtenfiguren in Montemayors Diana – niemand zur Hilfe kommt, kann als Aspekt intertextueller Differenz hier nur erwähnt werden. Eine genauere Untersuchung der Beziehungen zwischen den jeweils glimpflich ausgehenden ‚Überfällen‘ bei Montemayor und dem Marodeakt bei Grimmelshausen erscheint nicht nur in dieser Hinsicht lohnenswert.
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bestimmt, keineswegs (bloß) dazu dient, das Ende der Spessarter Hirten- und Bauernwelt elegisch zu betrauern.78 Vielmehr indiziert sie in ihrer Eigenschaft als Kontrafaktur (auch) die tiefgreifende Ambivalenz, die dieser Welt selbst eingeschrieben ist. Wie Bubs kakophone Musik bereits anzeigt – Simplicissimus spricht ironisch nur von „Hirten-Geschrey“ –,79 kann von einer harmonischen Integration von Poesie, Ökonomie und Anthropologie in der simplicianischen Hirtenszene nicht die Rede sein. Im Gegenteil bergen Identität und Handeln der Spessarter Bauern ihrerseits dissoziative Potenziale, die just im „Feldliedlein“ Bubs, dem sogenannten Bauernlied, an die Oberfläche treten. Ausschlaggebend dafür ist eine grundlegende Verschiebung des Deutungshorizonts, unter dem der bäuerlich-ökonomische Diskurs bei Grimmelshausen steht. Anders als bei Harsdörffer, der das ‚Lob des Feldbaus‘ genregemäß an eine aetas aurea-Fiktion bindet (und damit einen genuin paganen Rahmen vorgibt), zielt das Bauernlied bei seinem Preis des Bauernstandes auf die christliche Heilsgeschichte. Ankerpunkt des simplicianischen Diskurses ist entsprechend nicht das ‚Goldene Zeitalter‘ der Alten, sondern die biblische Überlieferung, derzufolge der erste Mensch, Adam, sein Brot mit dem Feldbau verdient habe. Die Perspektive, die das Lied vor diesem Hintergrund entfaltet, erscheint in sich freilich widersprüchlich: Auf der einen Seite wird aus dem – in der Ökonomieliteratur der Zeit ubiquitär präsenten – Topos von Adam als erstem Bauern80 die Konsequenz
78 Wobei diese Funktion im Klagelaut der Sackpfeife sicher ebenfalls angelegt ist. Der Text bietet dabei jedoch keine einfache Dualität von friedlicher Hirtenwelt und Welt des Kriegs an, weswegen die Frage nach den Bedingungen, unter denen diese Klage geäußert wird, unbedingt mitgestellt werden muss. 79 W I/1: Simplicissimus, S. 25. 80 Vgl. in unmittelbarer Lektürereichweite Grimmelshausens etwa Garzoni: Piazza Vniversale, S. 395 (‚Vom Ackerbaw‘); Melchior Sebisch: Siben Bücher von dem Feldbau / vnd vollkommener bestellung eynes ordenlichen Mayerhofs oder Landguts. […] Straßburg: Bernhard Jobin 1580, fol. ):( 3v (Vorrede); Coler: Calendarium Perpetuum Et Sex Libri Oeconomici, S. 205. Gerade die Paratexte des Estienne-Übersetzers Sebisch, seine Vorrede sowie ein Gedicht mit dem Titel „Fürtreffliches artliches Lob / des Landlustes / Mayersmut vnd lustigen Feldbaumans leben“, sind als intertextuelle Bezugspunkte für die besprochene Passage in Betracht zu ziehen. So lässt sich in besagtem Gedicht nicht nur die Spur der Sackpfeife wiederaufnehmen – Sebisch erwähnt die Schäfer, die zur Freude der Menschen auf den Weiden ihre Sackpfeife erklingen lassen –, sondern auch die Opposition von produktiv-friedlicher Bauernwelt und zerstörerischer Kriegswelt: „GOTT des Fridens / du verschaffe / Daß es [das Landleben, S. Z.] betrüb keyn Krieges straffe / Wöllest das Land von Krieg erreten / Daß man es genieß auch inn den Stätten: Dann on das fridlich Landgebäu / Besteht nicht lang eyn Policei. / Verhüt daß nicht der gbaute Boden / Eyn wüste Walstatt werd der toden / Vnd werd für Himmelstau begossen / Mit blut von Menschen hergeflossen / Welchs die Frücht möchte abscheulich machen / Weil auch die Erd scheut ab den sachen. / […] / Segne den schönen Feldbaustand / Welcher wird der vnschuldigst genannt […].“ Sebisch: Siben Bücher von dem Feldbau, unpag.
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gezogen, dass der Bauernstand allen anderen Ständen an Würde und Bedeutung vorangehe: DU sehr verachter Bauren-Stand / Bist doch der beste in dem Land / Kein Mann dich gnugsam preisen kan / Wann er dich nur recht sihet an. Wie stünd es jetzund umb die Welt / Hätt Adam nicht gebaut das Feld / Mit Hacken nährt sich anfangs der / Von dem die Fürsten kommen her.81
Auf der anderen Seite wird gegen Ende des Liedes das besondere Kreuz der Bauern im Krieg als von Gott verordnetes Mittel gegen drohenden Hochmut gedeutet; der Bauernstand solle sehen, dass die Raubzüge der Soldaten ihm letzthin „zum besten“ dienten: Der Hoffart bist du sehr befreyt / Absonderlich zu dieser Zeit / Und daß sie auch nicht sey dein Herr / So gibt dir Gott deß Creutzes mehr. Ja der Soldaten böser Brauch / Dient gleichwol dir zum besten auch / Daß Hochmut dich nicht nehme ein / Sagt er: Dein Hab und Gut ist mein.82
Das Lied, das der Bub ohne jedes Bewusstsein für seine Bedeutung singt – ihm geht es beim Singen ja nur darum, den „feyerfeissige[n] Schelm“ abzuwehren, der es auf Knans Schafe abgesehen hat –,83 gibt eine Perspektive auf den Bauernstand vor, die in eigentümlicher Weise zwischen einem unter superbiaVerdacht stehenden übertriebenen Ständestolz und christlicher humilitas oszil-
81 W I/1: Simplicissimus, S. 24. Das Bauernlied ist keine Erfindung Grimmelshausens, sondern geht auf einen Einblattdruck zurück, der im Dreißigjährigen Krieg zirkulierte. Dazu Gebauer: Grimmelshausens Bauerndarstellung, S. 63–69. Auch hier geht es mithin um eine Form der Beobachtung zweiter Ordnung: Nicht der Krieg oder der Bauernstand als solcher, sondern die vorhandenen Perspektiven auf den Krieg und den Bauernstand werden im intertextuellen Verfahren des simplicianischen Textes zum Gegenstand der Beobachtung. 82 W I/1: Simplicissimus, S. 24. 83 Ebd., S. 23. Dass der Wolf durch Bezeichnungen wie diese in den Rang einer veritablen Teufelfiguration erhoben wird, ist dem zeitgenössischen Leser, nicht aber den religiös ungebildeten Spessarter Bauern Knan und Bub klar. Insofern spukt der ewige Feind des Menschen durch ihre Reden und Gedanken, bleibt dabei aber unerkannt und unbenannt – was seine Erfolgsaussichten bei der Seelenjagd nach christlicher Vorstellung bekanntlich erhöht.
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liert und damit in sich den paradoxen Ursprung des heilsgeschichtlich fundierten Ökonomiediskurses kenntlich macht. Was das Lied im Bezug auf die Figur Adams dabei nur andeutet – nämlich durch den Hinweis auf die „Hacken“, die der erste Mensch zum Selbsterhalt gebraucht habe –, lässt sich in der ökonomischen Literatur der Zeit in theologischer Genauigkeit nachlesen. So erinnert der Estienne-Übersetzer Melchior Sebisch in seinen Siben Büchern von dem Feldbau (1579) daran, dass Adam und Eva vor ihrem Fall von Gott mit der „pfleg und wartung“ des Paradiesgartens beauftragt worden seien, welches noch ganz „on müh vnd verdrüßlichkeyt zugangen“ sei.84 Nach dem Fall sei die Erde „zur straffe der Sünden“ dann zwar so „widerspänstig vnd ungeschlacht worden“, dass die Menschen nun hätten Mühe und Arbeit aufwenden müssen, um zu ihrer Nahrung zu kommen; diese Mühe erleichtere ihnen Gott aber dadurch, dass er ihnen „den lust mit dem Feldbauen vnd der Landarbeyt nicht entzogen / sondern denselbigen zu etwas erquickung vnd ergötzlichkeyt seines Ellends / inn disem Jamerthal / auß barmhertzigkeyt gegönnet vnd gelassen“ habe.85 Wenn es also auch aus christlicher Sicht „deß Menschen eingeborner Eigenschaft“ (Harsdörffer) gemäß ist, das Feld zu bestellen, so steht diese Tätigkeit immer schon in einem typologischen Zusammenhang: Indem sie sowohl auf den status integritatis, den Urstand im Paradies, als auch auf dessen Verlust durch den Sündenfall verweist, gemahnt sie den (frommen) Menschen an seine von Adam und Eva ererbte Sündenschuld, erinnert ihn zugleich aber an die unerschöpfliche Gnade Gottes, der dem Bauern die Arbeit auf dem Feld durch „erquickung vnd ergötzlichkeyt“ versüße. Blickt man von diesem Punkt aus auf das Bauernlied, so wird deutlich, wie stark es die Ordnung d(ies)es heilstheologischen Diskurses verzerrt. In der Welt, von der Bub singt, dient der Rekurs auf den adamitischen Ursprung des Feldbaus nicht dazu, den Menschen an den Sündenfall und seine Abhängigkeit von der Gnade Gottes zu erinnern; vielmehr wird er zum Argument in einem polemischen Ständediskurs, in dem er keine religiöse, sondern nur mehr (standes-) politische Valenz besitzt. Erscheint die Funktion des typologischen Konzepts damit buchstäblich auf den Kopf gestellt – aus dem (erbaulichen) Argument der Einstämmigkeit der Menschen wird ein (polemisches) Argument ständischer Differenz abgeleitet –, so kann es nicht verwundern, dass die theologische Gegenbewegung, die das Lied am Ende vollzieht, entsprechend radikal ausfällt. In einem offenen Selbstwiderspruch erklärt der Text die Bauern nun zum Objekt einer providentiellen Strafmaßnahme Gottes, die sich gegen eben dasjenige Moment ständischer Arroganz richtet, das die ersten Strophen affirmativ entfaltet
84 Sebisch: Siben Bücher von dem Feldbau, fol. ):( 2r–):(3v (Vorrede). 85 Ebd., fol. ):(3v (Vorrede).
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hatten. Impliziert ist darin nicht weniger als eine theologische Rechtfertigung des Krieges und seiner verheerenden Folgen für die Landwirtschaft: Um die Bauern von ihrer Hoffart zu befreien – ihnen also die christliche Ursünde schlechthin auszutreiben –, schickt Gott ihnen marodierende Soldaten, die ihnen ihr Eigentum wegnehmen („Dein Hab und Gut ist mein.“) – eine gezielte Widerrufung des Besitzversprechens, das Gott dem Menschen nach dessen Erschaffung gegeben hatte,86 aber auch das Eingeständnis, dass derjenige, der den Bauernstand, wie in der ersten Strophe gefordert, „recht“ ansieht, wohl keineswegs in Lobeshymnen verfallen, sondern vielmehr bemerken dürfte, dass die Bauern aus der auf Adam und den Sündenfall zurückgehenden Genealogie ihres Standes nicht die richtigen Konsequenzen ziehen. Denn täten sie es und würden ihre Arbeit in christlicher Demut verrichten, wäre die Intervention Gottes und damit auch der Krieg sinnlos, was unter der vom Autor des Bauernliedes anerkannten Bedingung der providentiellen Geordnetheit der Welt wohl eine undenkbare Variante darstellt. Repräsentiert das Bauernlied in dieser Weise einen Diskurs, der die adamitische Urstandsfiktion iteriert, um sie radikal zu durchkreuzen, so ist damit ein wesentlicher Aspekt der satirischen Ironisierung des Spessarter Bauernlebens seitens des Erzählers Simplicissimus benannt. In seiner Perspektive auf das Haus des Knan spielt Bubs religiöse Ignoranz, seine totale Unkenntnis der christlichen Heilsgeschichte, eine zentrale Rolle. Dies zeichnet sich schon im Erzählabschnitt vor dem Einbruch der Marodeure ab, in dem Simplicissimus die vermeintliche paradiesische Unschuld Bubs als Produkt einer totalen katechetischen Verwahrlosung entlarvt.87 Die ‚Theologie‘ der Spessarter Bauern besteht demzufolge ausschließlich darin, von Religion nichts wissen zu wollen: Aber die Theologiam anbelangend / laß ich mich nicht bereden / daß einer meines Alters damals in der gantzen Christenwelt gewest seye / der mir darinn hätte gleichen mögen / dann ich kennete weder GOtt noch Menschen / weder Himmel noch Höll / weder Engel noch Teuffel / und wuste weder Gutes noch Böses zu unterscheiden: Dahero ohnschwer zu gedencken / daß ich vermittelst solcher Theologiæ wie unsere erste Eltern im Paradis
86 Auf dieses weist Sebisch mit Blick auf Luthers Deutung der entsprechenden Genesis-Stelle (1 Mose 1,28–29) hin. Vgl. ebd., fol. ):(3v (Vorrede). Luther deutet das menschliche dominium terrae klar auf Basis eines Eigentumsbegriffes, wie er auch in den Versen des Bauernlieds (‚Dein und mein‘) virulent ist. 87 Das ganze Ausmaß derselben zeigt sich später, wenn Bub es nicht schafft, vor dem Einsiedler das Vaterunser aufzusagen, ohne den Text völlig zu verballhornen. Vgl. W I/1: Simplicissimus, S. 37. Die Katechetisierung Bubs wird im Anschluss dann vom Einsiedler, seinem leiblichen Vater, übernommen, er macht den Bauernjungen, wie es im Titel des neunten Kapitels heißt, „auß einer Bestia zu einem Christenmenschen“. Ebd., S. 40.
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gelebt / die in ihrer Unschuld von Kranckheit / Todt und Sterben / weniger von der Aufferstehung nichts gewust / O edels Leben! (du mögest wol Eselsleben sagen) […].88
Aus der Überblendung von edlem, nämlich paradiesisch-prälapsarischem, und „Esels“-Leben resultiert die Ambivalenz, die Simplicissimus’ Diskurs unter ironische Vorzeichen setzt. In dem Maße, in dem hinter dem unschuldigen Naturkind der von keinem Sündenfall wissende bäuerliche ignotus sichtbar wird – ein perspektivischer Vektor, der sich freilich auch umkehren lässt –, bricht Simplicissimus’ Erzählung das Konzept des Naturstands auf und lässt Elemente eines heils- bzw. moraltheologischen Wissens ein, das dem utopischen Diskurs widersteht. Woher dieses Wissen stammt, hat die Forschung bereits vor Jahrzehnten eruieren können, indem sie der Spur der Sackpfeife in eine andere, religiöse Richtung folgte. So konnte Tarot zeigen, dass Grimmelshausen sich in seiner Darstellung des dudelsackbewehrten Bub wohl (auch) an einem Emblem aus Aegidius Albertinusʼ Hirnschleiffer (1618) orientiert hat.89 Es handelt sich um die Darstellung des sogenannten „Narren mit einer Sackpfeiffen“, der, wie es in der Subscriptio heißt, „den lieblichen Klang / Thon vnd Melodey der herrlichen musicalischen Jnstrumenten verachtet / vnd sich hergegen im Thon einer armseligen verächtlichen Sackpfeiffen verliebet vnd erlustiget“.90 Dass es bei Albertinus dabei keineswegs nur um Fragen musikalischen Geschmacks geht, wird in der folgenden spirituellen Ausdeutung des Bildes deutlich. Die Sackpfeife mit ihrem ungeschlachten Ton steht demnach für die Stimme des Teufels, die ästhetisch vollkommene Musik für das göttliche Wort: Aber ein noch viel grössere Thorheit ists / wan einer die liebliche Stimm vnd Melodey deß Göttlichen Worts verachtet / vnd sich von der Stimm vnd Gesang deß verführerischen Sathans vnd der Welt erlustiget vnd erfrewet / vnangesehen der so gar vielen vnd grossen Nutzbarkeiten / die vns auß der Anhörung deß Göttlichen Worts erfolgen […].91
Der Rekurs auf das Albertinus-Emblem impliziert eine religiöse Codierung der Sackpfeife, die sich über (oder unter) die Deutungsebene des Naturstandsdiskurses legt. Was auf diese Weise entsteht, lässt sich als eine Art intertextuelles Vexierbild beschreiben: Je nachdem, welcher Spur der Leser folgt, verändert
88 W I/1: Simplicissimus, S. 20. 89 Vgl. Rolf Tarot: Grimmelshausen als Satiriker. In: Argenis 2 (1978), S. 115–142, hier bes. S. 134–136. 90 Aegidius Albertinus: Hirnschleiffer. […]. Köln: Constantin Münch 1664, S. 302 f. [402 f.]. Aus der großen Zahl von Auflagen, die die albertinische Emblem-Schrift im 17. und noch im frühen 18. Jahrhundert erfährt, wird hier aus einer Ausgabe zitiert, die zeitlich relativ nahe an Grimmelshausens Simplicissimus-Roman liegt. 91 Ebd.
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sich der Kontext, in den Bub als nicht unbeschriebenes, sondern mehrfach überschriebenes Blatt gesetzt erscheint. Dabei kann sich keine der Bedeutungen gegenüber der anderen so behaupten, dass für den Leser Eindeutigkeit entstehen würde. Wie man es dreht und wendet, bleibt Bub beides: ein Verwandter des albertinischen Narren, der darauf und daran ist, sich um sein Seelenheil zu blasen, und wandelnde Spiegelfläche der utopischen Einheitsidee von Mensch und Natur/Schöpfung, auf die sich das im Kapiteltitel angesprochene „Mitleiden“ der Sackpfeife, ihr langgezogener Klagelaut, elegisch bezieht.92 Dass die Forschung bisher überwiegend dazu tendierte, die radikale Offenheit dieser Konstruktion nicht zu sehen, sondern vielmehr von einer mehr oder weniger stabilen religiösen Beurteilungsposition des Erzählers Simplicissimus ausging,93 hat mit dem markanten Registerwechsel des Diskurses zu Beginn des vierten Kapitels zu tun. Die Adresse an den „Friedliebenden Leser“, vor allem aber die Rede von der Lebensgeschichte als „Histori“, die „der lieben posterität hinderlasse[n]“ werden solle, um in Erinnerung zu halten, „was vor Grausamkeiten in diesem unserm Teutschen Krieg hin und wieder verübet worden“,94 setzen einen Rahmen, innerhalb dessen sich Simplicissimus (erstmals) als Vermittler nützlicher Lehren profiliert.95 Er tut dies, indem er die Diskursfäden, 92 Insofern das Mitleid in diesem Kontext als Bedingung der Möglichkeit für Nächstenliebe (caritas) erscheint, erhält der Bezug auf die adamitische Einstämmigkeit und Gottesebenbildlichkeit des Menschen übrigens eine konkrete theologische Evidenz. Zu dieser Evidenz in Philosophie und Literatur der Frühen Neuzeit vgl. Friedrich Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit. Untersuchungen zum Verhältnis von naturrechtlichem Denken und moraldidaktischer Literatur im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2001 (Communicatio 26), S. 300. 93 Breuers Einschätzung, Simplicissimusʼ Lebensgeschichte sei als Exempel „hinsichtlich des Theodizeeproblems der gerechten Weltordnung Gottes“ angelegt, gibt den breiten Konsens der älteren Forschung wieder. W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar, S. 803. Demgegenüber hat Merzhäuser in seinen Arbeiten die These vertreten, der Roman zeige gerade das Scheitern des Providenzmodells. Vgl. Andreas Merzhäuser: Über die Schwelle geführt. Anmerkungen zur Gewaltdarstellung in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘. In: Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert. Hg. von Markus Meumann, Dirk Niefanger. Göttingen 1997, S. 65–82, hier bes. S. 67–71; ders.: Satyrische Selbstbehauptung. Innovation und Tradition in Grimmelshausens ‚Abentheuerlichem Simplicissimus Teutsch‘. Göttingen 2002, S. 69 et passim. Auf Merzhäusers Position wird im Folgenden noch einzugehen sein. 94 W I/1: Simplicissimus, S. 27. 95 Dazu schon Merzhäuser: Über die Schwelle geführt, S. 69. Simplicissimus greift an dieser Stelle auf Topoi zurück, die sich in der Friedensliteratur der 1640er Jahre etabliert hatten. Als Beispiel sei der Titel einer Schrift Johann Rists angeführt: Kriegs vnd Friedens Spiegel. Das ist: Christliche / Teutsche vnd wolgemeinte Erinnerung an alle Kriegs= vnd Frieden liebende Menschen / insonderheit aber an sein vielgeliebtes Vater=Land Holstein/ Worinnen die abschewliche grewel des blutigen Krieges [...] außführlich werden beschrieben. Alles auß Liebe des Vaterlandes vnnd Hochschätzung des Edelsten Friedens / Poetisch auffgesetzet vnd auff
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die um den Riss seiner Erzählung herumflattern, zu einem sinnstiftenden Muster verknüpft. Gemäß der bereits im Bauernlied präsenten Vorstellung deutet er den Einbruch der Marodeure und den darauffolgenden Gewaltakt als Teil eines göttlichen Plans. Um die ignoranten Bauern Knan und Meuder zu bestrafen, ihn selbst aber von deren unchristlichem Einfluss zu befreien, habe Gott es zugelassen, dass das Haus des Knan zerstört worden sei: Dann lieber Leser / wer hätte mir gesagt / daß ein GOtt im Himmel wäre / wann keine Krieger meines Knans Hauß zernichtet und mich durch solche Fahung unter die Leut gezwungen hätten / von denen ich genugsamen Bericht empfangen? Kurtz zuvor konte ich nichts anders wissen noch mir einbilden / als daß mein Knan / Meüder / ich und das übrige Haußgesind / allein auff Erden seye / weil mir sonst kein Mensch / noch einige andere menschliche Wohnung bekant war […]: Aber bald hernach erfuhr ich die Herkunfft der Menschen in diese Welt / und daß sie wieder darauß müsten; ich war nur mit der Gestalt ein Mensch / und mit dem Nahmen ein Christenkind / im übrigen aber nur ein Bestia! Aber der Allerhöchste sahe mein Unschuld mit barmhertzigen Augen an / und wolte mich beydes zu seiner und meiner Erkantnus bringen: Und wiewol er tausenderley Weg hierzu hatte / wolte er sich doch ohn zweiffel nur deß jenigen bedienen / in welchem er mein Knan und Meüder / andern zum Exempel / wegen ihrer liederlichen Aufferziehung gestrafft würden.96
Als klares Theodizee-Votum zielt Simplicissimus’ Deutung auf die Herstellung von Eindeutigkeit. Was im Spessart geschehen sei, habe dem Willen Gottes entsprochen, der die Welt und natürlich auch das Leben des kleinen Bub mit „barmhertzigen Augen“ angesehen und sich daraufhin zum Eingreifen entschieden habe. Ursache und Effekt dieses Eingreifens erzeugen dabei eine Art Zirkel der Autorität: Ohne Gottes Handeln wäre Simplicissimus zur Erkenntnis des ‚Exempels‘, das die Vernichtung des Knanschen Hauses bereithalten soll, nicht in der Lage; umgekehrt ist es sein Erzählen, dass das Handeln Gottes zu etwas macht, das „andern zum Exempel“ dienen kann – bliebe das Geschehen ohne ihn doch unerzählt und würde der „lieben posterität“ als „Histori“ verloren gehen. Nur durch ihn, den (vermeintlich) zur Selbst- und Gotteserkenntnis gekommenen Christen, erfährt der „Friedliebende[ ] Leser“ von den Greueltaten der Marodeure und sieht sich mit der Frage konfrontiert, wie dieselben mit dem Dogma der Gerechtigkeit Gottes vereinbar sind.97 Friedliebender Persohnen freundliches begehren hervor gegeben. Hamburg: Jacob Rebenlein 1640, Titelblatt. 96 W I/1: Simplicissimus, S. 27. 97 Merzhäuser bemerkt zu Recht, dass die „Darstellung des Schrecklichen“, wie sie im vierten Kapitel vorgenommen wird, „durchaus Zweifel an der gerechten Ordnung des Weltlaufs und an der Güte Gottes“ wecken könnten. Erst durch die Etablierung einer religiösen Deutungsperspektive kann (oder könnte) dieser Prozess in Richtung des Glaubens umgelenkt werden. Merzhäuser: Über die Schwelle geführt, S. 69.
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Ob und inwieweit er dabei den Vorgaben des religiösen Didaktikers Simplicissimus folgt, steht freilich dahin. Anlässe zum Zweifel an der Tauglichkeit der Erzählung als Exempel gibt es genug. So hat Merzhäuser zu Recht darauf hingewiesen, dass mit Blick auf den Gesamtroman weder das Postulat der providentiellen Ordnung des Geschehens eingelöst werde – am Ende des Simplicissimus erscheint die ‚gerechte‘ Weltordnung eben keineswegs wiederhergestellt –, noch die Darstellung des Marodeakts selbst in ihrer Konzentration auf „das irrsinnige Wüten der Soldaten und das Leid der Opfer“ eigentlich als Exempel funktioniere.98 Zu ergänzen sind hier zwei Beobachtungen zur Plausibilität der Providenzdeutung(en) vor dem Hintergrund der geschilderten Handlung. Beachtung verdient dabei erstens die Folterung des Knan, der als ‚exemplarischer‘ Bauer im Zentrum der Kritik nicht nur des Erzählers Simplicissimus, sondern (implizit) auch bereits des Bauernliedes steht. In diesem ist vom Hochmut der Bauern die Rede, dem Gott dadurch abhelfe, dass er ihnen ihr „Hab und Gut“ nehme. Die Engführung von Besitz und Gottferne entspricht dabei einem Topos, der sich in der Bauernliteratur der Frühen Neuzeit verbreitet findet. Es handelt sich um den Topos vom ‚reichen Bauern‘, der nach außen den armen Landmann mimt, während er in seiner ärmlichen Hütte tatsächlich Güter und Geld thesauriert (und somit der Gemeinschaft entzieht). Man muss sich nicht weit von der Stelle des Simplicissimus-Romans entfernen, um auf entsprechende Einlassungen bei Grimmelshausen zu stoßen. Im Satyrischen Pilgram wird vor den Bauern gewarnt, die ihre Herren für dumm verkauften, indem sie sich stets zur rechten Zeit arm stellten;99 in Simplicissimus’ Traum vom Ständebaum (Buch I, Kap. 15) heißt es, die Kriegsleute würden die Bauern „dermassen“ pressen, „daß ihnen alles Geld auß den Beuteln / ja hinder sieben Schlossen herfür gieng“;100 und im Rathstübel Plutonis gibt der Knan selbst zu, dass die Bauern, so sie nicht wieder und wieder geschunden würden, ihre „Pflüg in wenigen Jahren mit Silber beschlagen lassen könten“.101 Handelt es sich also
98 Ebd., S. 70. Die Begründung, die Merzhäuser liefert, erweist sich freilich als ergänzungsbedürftig. So spielt in seiner Deutung das aus meiner Sicht wesentlichste Argument gegen den Exempelcharakter der Marode-Passage nur implizit eine Rolle. Es besteht in der Fokalisierung des Geschehens auf die Figur des Bub, die wie ein Brechungsfilter jeden Versuch der einseitigen Decodierung des Erzählten im Sinne der strafenden, erst recht aber der barmherzigen Gerechtigkeit Gottes verhindert (oder doch so erschwert, dass von einem Exempelcharakter der Erzählung im engeren Sinne nicht mehr die Rede sein kann). 99 GW 7: Satyrischer Pilgram, S. 39: „Soll er [der Bauer, S. Z.] Zins gült und andere Schuldigkeit bezahlen so ist er blutarm / und weiß nicht wie er sich genugsam beklagen soll [...].“ 100 W I/1: Simplicissimus, S. 59. 101 W I/2: Rathstübel, S. 710. Auf weitere Stellen, in denen der Knan als Geiziger dargestellt wird, wird unten noch einzugehen sein.
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um einen Gemeinplatz, der vom zeitgenössischen Leser auch bei bloßer Andeutung realisiert worden sein dürfte, so scheint Simplicissimus’ Erzählung von der Folter des Knan in diesem Sinne zunächst durchaus auf eine Moral hinauszulaufen. Die Handlung um den Knan, der als „Hausvatter“ – d. h. Herr über den Besitz – unter der Lachfolter „seine Schuldigkeit“ (!) bekennt und den Soldaten einen „verborgenen Schatz“ überlässt, „welcher von Gold / Perlen und Cleinodien viel reicher war / als man hinder Bauren hätte suchen mögen“,102 sticht nicht nur deshalb heraus, weil sie die einzige Binnenhandlung der Passage ist, die dem juristischen Funktionsprinzip der Folter ansatzweise zu folgen scheint.103 Auch fordern die Formulierungen geradewegs dazu auf, das Verhältnis von Folter, Strafe und Schuld als angemessen zu bewerten: Gott, so scheint es, stiftet mit seinem Eingriff in den Weltenlauf Gerechtigkeit, hat ein solcher Schatz bei einem vermeintlich armen Bauern wie dem Knan doch nichts zu suchen. Dass genau diese Deutung freilich ins Leere läuft, zeigt sich am Ende des Romans. Wie der Knan dem Simplicissimus bei ihrem Wiedersehen im Schwarzwald mitteilt, hat die sterbende Johanna Ramsay, Simplicissimusʼ Mutter, ihm mit ihrem Kind auch ihre mobilen Reichtümer übereignet, einesteils zur Deckung der Kosten für die Aufbringung des Waisenkindes, anderenteils um diesem selbst ein Erbe zu hinterlassen.104 Der Unterschied zu der im vierten Kapitel insinuierten Bedeutung des Foltergeschehens könnte demnach größer kaum sein: Der Schatz, der im Haus des Knan verborgen ist, indiziert weder dessen Lasterhaftigkeit noch dessen Gottesferne. Im Gegenteil, er kann als Zeugnis der tätigen Nächstenliebe und der treuhänderischen Sorgfalt verstanden werden, die der Bauer ungeachtet seiner katechetischen Ungebildetheit inmitten des Krieges an den Tag legt. Exemplarisch sichtbar wird durch den Akt der Folter (als vermeintlicher Wille Gottes) in moralisch-religiöser Hinsicht demnach: nichts. Zweifel können zweitens aber auch hinsichtlich der Plausibilität von Simplicissimusʼ Hauptargument aufkommen. Wie zitiert, fragt dieser den Leser zu 102 W I/1: Simplicissimus, S. 29. 103 Wie Foucault festgestellt hat, ist die frühneuzeitliche Marter gerade „nicht regellos und ungeordnet. Die peinliche Strafe ist eine Technik und hat nichts mit einer gesetzlosen Raserei zu tun.“ Ihr Ziel ist die Wiederherstellung von Gerechtigkeit, auch dort, wo es um das Erzwingen eines Geständnisses geht. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Übersetzt von Walter Seitter. Frankfurt a. M. 1977, S. 46. 104 W I/1: Simplicissimus, S. 479: „[A]ber in dem sie […] uns von ihrem Mann erzehlte / starb sie uns unter den Händen / als sie uns ihr Kind zuvor wol befohlen hatte: weil es dann nun so gar ein grosser Lermen im Land war / daß niemand bey Hauß bleiben konte […] / ich solte das Kind auffziehen biß es groß würd / und vor meine Mühe und Kosten der Frauen gantze Verlassenschaft behalten / außgenommen etliche Pater Noster, Edelgestein und so Geschmeiß / welches ich vor das Kind auffbehalten solte“.
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Beginn des vierten Kapitels, wer ihn hätte unterrichten können, „daß ein GOtt im Himmel wäre / wann keine Krieger meines Knans Hauß zernichtet hätten“.105 Dass diese Frage als rhetorische angelegt ist – und mithin gerade keinen kontroversen Diskurs über ihren Gegenstand auslösen soll –, ist offensichtlich: Was da im Spessart geschehen ist, soll auch in den Augen des Lesers „ohn zweiffel“ dem Willen Gottes entsprochen haben – und zwar eben im Hinblick auf die Katechetisierung Bubs, ohne die der religiöse Erkenntnishabitus des Erzählers Simplicissimus kein Fundament hätte. Auf den ersten Blick scheint die Deutung tatsächlich auch kaum angreifbar, kommt Bub doch erst durch den Überfall zum Einsiedler, der ihn in den „gottseeligen Dingen“ 106 so gründlich unterweist, dass er bei seinem endgültigen Aufbruch in die Welt „Gesetz und Evangelium / sampt den getreuen Warnungen Christi“ ständig im Kopf hat.107 Die epistemologische Unsicherheit, die auch dieser Deutung eingeschrieben ist, wird erst auf zweiten Blick sichtbar. Ihren Auslöser hat sie dort, wo Simplicissimus in seiner Wiedergabe der Erstbegegnung Bubs mit dem Einsiedler nicht umhin kommt (oder nicht umhin kommen will?), einen alternativen Verlauf des Romanbeginns durchzuspielen – und zwar einen, der dem tatsächlichen vom „Friedliebenden Leser“ schon deshalb vorgezogen werden dürfte, weil er eine gewaltfreie Lösung des Katechetisierungsproblems impliziert. Nachdem Bub vom Einsiedler nach seinem Namen und seiner Kenntnis der christlichen Religion befragt wurde, auf beides aber keine sinnvolle Antwort geben konnte, erkennt der fromme Mann, dass in diesem Fall weiterreichende Maßnahmen zu ergreifen sind. Deshalb entscheidet er sich, entgegen des selbstauferlegten Gebots der Weltabkehr, den Jungen zu dessen Eltern zu begleiten, um dieselben zu „lehren“, „wie sie Kinder erziehen solten“.108 Dass eben dies aufgrund der furchtbaren Ereignisse rund um Knans Haus nicht mehr möglich ist, kann er nicht wissen. Umso jäher tritt in Bubs Antwort auf die Frage, „wo [s]eine Eltern wohneten“,109 der Riss im simplicianischen Leben (wieder) hervor: „Jch weiß nicht / wo ich hin soll / unser Hauß ist verbrennet / und mein Meüder hinweg geloffen / und wieder kommen mit dem Ursele / und mein Knan auch / und unser Magd ist krank gewest / und ist im Stall gelegen.“ 110 Dem Erzählen ist hier eine subtile,
105 Ebd., S. 27. 106 Ebd, S. 46. 107 Ebd., S. 86. Auf diese Folgerichtigkeit weist auch Merzhäuser: Über die Schwelle geführt, S. 70, hin, ohne allerdings deren intratextuelle Relativierung zu erkennen, die – wie ich im Folgenden zeigen möchte – aus dem Kontext der Passage hervorgeht. 108 W I/1: Simplicissimus, S. 38. 109 Ebd. 110 Ebd.
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aber durchaus wirkungsvolle strukturelle Ironie eingeschrieben: Die „Folge“ der Geschichte hat den Punkt, von dem aus der Einsiedler seine katechetische Intervention hätte unternehmen können (um eine Bestrafung der Bauern durch Gott noch abzuwenden), bereits überholt, wodurch das ‚Exempel‘, als das Simplicissimus die Zerstörung des Knanschen Hauses verstanden wissen will, ins Zwielicht der Kontingenz gesetzt erscheint. In diesem löst sich die vermeintliche Selbstevidenz der religiösen Rede auf und lässt in den Blick treten, was auch hätte geschehen können: Varianten der Geschichte, die die vorgeführte Deutung des Simplicissimus in ihrem Anspruch auf Zweifellosigkeit nachhaltig infrage stellen. Was heißt das für die Beziehung von simplicianischem Erzählen und Religion an dieser Stelle? Insofern Simplicissimus von der Unmöglichkeit weiß, die „tausenderley Weg“ des Herrn zu ergründen, ist seine Theologie gegen den Vorwurf der naiven (oder gar hybriden) Unterschlagung der Begrenztheit menschlichen Wissens gefeit. Das hat im Anschluss an entsprechende Vorarbeiten der älteren Forschung zuletzt auch Bähr betont. Seiner Einschätzung nach bringt simplicianisches Erzählen „keine Verzweiflung an einer göttlichen Güte und Gerechtigkeit“ zum Ausdruck, da es mit der „Aufforderung“ verbunden sei, „sich, im Wissen um die Begrenztheit der eigenen Fähigkeiten, trotz allem um Rechtfertigung zu bemühen und dafür auf die göttliche Gnade und Barmherzigkeit zu vertrauen“.111 Dem ist insoweit zuzustimmen, als das Scheitern von Providenzdeutungen auf der Ebene des Erzählens natürlich weder gleichbedeutend ist mit dem Scheitern der göttlichen Providenz als solcher noch auch eine Unaufrichtigkeit der frommen Perspektiven implizieren muss, die die Figuren, in diesem Fall Simplicissimus, auf Gott und die Welt richten. Beide Konsequenzen müssen aber auch nicht gezogen werden, um die Diagnose der Störung des auf Sinnstiftung angelegten Transfers religiösen Wissens im simplicianischen Text zu stellen. Hierzu genügt die Feststellung, dass die Figur über das, was die Forschung als ‚simplicianische Frömmigkeit‘112 bezeichnet hat, keinen Zugriff auf die Kontingenz gewinnt, die ihr Leben bestimmt. Ganz im Gegenteil: Wie am Beispiel der (zweiten) Urkatastrophe dieses Lebens, der Zerstörung des Knanschen Hauses, zu zeigen war, sorgen die Versuche der religiösen Transparentmachung des Geschehens erst dafür, dass dem Leser die Diskrepanz zwi-
111 Andreas Bähr: Furcht und Furchtlosigkeit. Göttliche Gewalt und Selbstkonstitution im 17. Jahrhundert. Göttingen 2013 (Berliner Mittelalter- und Frühneuzeitforschung 14), S. 460. 112 Den Begriff entnehme ich einer der Grundlagenarbeiten von Dieter Breuer: Grimmelshausens Simplicianische Frömmigkeit: Zum Augustinismus des 17. Jahrhunderts. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit. Studien zur religiösen Literatur des 17. Jahrhunderts in Deutschland. Hg. von Dieter Breuer. Amsterdam 1984 (Chloe 2), S. 213–251.
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schen religiösem Wissen und simplicianischer Erzählung klar vor Augen tritt. Von der Sackpfeife Bubs über die Folterung des Knan bis hin zum Brennen jenes Strohdachs, das Simplicissimus in den ersten Kapiteln noch gepriesen hatte – keines der symbolhaften Elemente der Erzählung lässt sich auf einen eindeutigen Sinn hin festschreiben; alle bleiben mehrdeutig und weisen damit auf den Riss, der das simplicianische Leben durchzieht.
4.1.3 Gewalt und Invention: Simplicissimus und die Ökonomie des Kriegs Fast alle pikarischen Lebensläufe, die der Simplicianische Zyklus enthält, sind vom Krieg geprägt: Simplicissimus wird in eine Schlacht hineingeboren, kämpft als Soldat auf beiden Seiten des konfessionalen Grabens und wird auf seiner Suche nach einer vom Krieg unberührten Eremitage erst am Rand der bekannten Welt fündig (um später allerdings trotzdem nach Europa zurückzukehren);113 Springinsfeld begleitet Simplicissimus auf seinen Beutezügen durch Westfalen und verkörpert als alte Figur den bei Grimmelshausen wiederholt auftauchenden Typus des verarmten, körperlich wie seelisch ruinierten Invaliden;114 Courasche gerät als junges Mädchen in den Sog des Krieges, folgt den Heeren in wechselnden sozialen Rollen – als Ehefrau eines Offiziers, als Hure, als Marketenderin –, bis sie nach ihrer verhängnisvollen Liebschaft mit Simplicissimus ihr Leben unter Zigeunern fortsetzt; und schließlich endet der Zyklus mit der Geschichte des namenlosen zweiten Vogelnestträgers, der sich auf seinem Weg von Amsterdam zum Oberrhein der Armee Ludwigs XIV. anschließt, in einer Schlacht schwer verwundet wird und erst dadurch zur Erkenntnis kommt (oder gebracht werden kann), dem unsichtbarmachenden Vogelnest zu entsagen. Wie vielfältig und unterschiedlich die Umstände und Bedingungen sind, unter denen das Handeln der Figuren in diesem Zusammenhang steht, zeichnet sich in der groben Skizze schon ab. Zum Krieg und seiner Ökonomie bei Grimmelshausen ließe sich ohne weiteres eine eigene Arbeit verfassen. Vor-
113 Die Rede ist von der Kreuzinsel, auf die es Simplicissimus infolge eines Schiffbruchs verschlägt, die er dann allerdings (zunächst) nicht mehr verlassen will. Dies ist dem Bericht des holländischen Kapitäns zu entnehmen, der es nicht schafft, den simplicianischen Eremiten zur Rückkehr nach Europa zu bewegen. Simplicissimusʼ Antwort auf das Angebot: „[…] mein GOtt […] hier ist Fried / dort ist Krieg; hier weiß ich nichts von Hoffart / vom Geitz / vom Zorn / vom Neyd / vom Eyfer / von Falschheit / von Betrug / von allerhand Sorgen […].“ W I/1: Continuatio, S. 695. 114 Zum Motiv des alten Soldaten als Bettler bei Grimmelshausen und in der Frühen Neuzeit vgl. Achim Hölter: Die Invaliden. Die vergessene Geschichte der Kriegskrüppel in der europäischen Literatur bis zum 19. Jahrhundert. Stuttgart 1995, S. 62–97.
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liegende Analyse, die sich der Mikrologie narrativer Wissenstransfers verschrieben hat, muss sich in der Materialauswahl beschränken. Dies geschieht, indem im Folgenden einige Aspekte des Kriegsschicksals des Simplicissimus näher beleuchtet werden – in der Hoffnung, dass die daraus gewonnenen Einsichten dazu beitragen können, die weitläufigen Strukturbeziehungen zwischen simplicianischem Kriegs- und Ökonomiewissen zumindest in Ansätzen zu erhellen. Ausgangspunkt der Betrachtung ist dabei der endgültige Eintritt des jungen Simplicissimus in die Welt, der durch die Traumallegorie des Ständebaums als biographisches Schwellen- und Initiationsereignis markiert ist. Kontext und Inhalt des Traumes sind rasch erzählt: Nachdem Simplicissimus im Spessart abermals Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Soldaten und Bauern geworden ist – wobei in seiner Erzählung die bereits in den ersten Kapiteln erprobte Rhetorik der Transgression erneut zum Einsatz kommt –, kehrt er in die geplünderte Einsiedelei seines inzwischen verstorbenen Vaters zurück. Verwirrt und erschöpft sinniert er über die „Antipathia“ zwischen Bauern und Soldaten, die er sich nicht erklären kann, ohne mit den ihm bekannten theologischen Vorgaben zu brechen. So kann seine „Alberkeit nichts ersinnen“, als dass es „ohnfehlbar zweyerley Menschen in der Welt“ geben müsse, „so nicht einerley Geschlechts von Adam her / sondern wilde und zahme wären / wie andere unvernünfftige Thier / weil sie einander so grausam verfolgen“.115 Über diesem gegen das christliche Einstämmigkeitsdogma verstoßenden Gedanken schläft er ein. In seinem Traum verwandelt sich der Spessarter Wald in eine Ansammlung von Bäumen, auf denen von der Wurzel bis zur Spitze Figuren sitzen: die „Cavallier“ 116 ganz oben, unter ihnen die Offiziere, darunter ein kaum zu überwindender, „mit wunderbarlichen Materialien und seltzsamer Saiffen deß Mißgunsts geschmieret[er]“ 117 Absatz, dann die Unteroffiziere und Mannschaftsgrade und schließlich „die Wurtzel [...] von ungültigen Leuten / als Handwerckern / Taglöhnern / mehrenteils Bauren und dergleichen / welche nichts desto weniger dem Baum seine Krafft verliehen / und wieder von neuem mittheilten / wann er solche zu Zeiten verlor“.118 In vier Einzelsequenzen119 führt der Traum die 115 W I/1: Simplicissimus, S. 58 f. 116 Ebd., S. 59. 117 Ebd., S. 61. 118 Ebd., S. 59. 119 Auf die Viergliedrigkeit des Ständebaumtraumes hat Jörg Jochen Berns hingewiesen. Vgl. ders.: Baumsprache und Sprachbaum. Baumikonographie als topologischer Komplex zwischen 13. und 17. Jahrhundert. In: Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hg. von Kilian Heck, Bernhard Jahn. Tübingen 2000 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 80), S. 155–176, hier S. 170. Zum Ständebaumtraum vgl. außerdem die Untersuchungen von Günther Weydt: Nachahmung und Schöpfung im Barock. Studien um Grimmelshausen. Bern, München 1968, S. 258 f.; ders.: Der Ständebaum. Zur Geschichte eines Symbols von
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verderbliche Soziologie des Krieges vor Augen: In der ersten Sequenz verfolgt Simplicissimus das Geschehen an einem einzelnen Baum, in der zweiten lauscht er dem Streitgespräch zwischen einem Feldwebel und einem adligen Offizier um die Frage, ob sich Adlige oder Nicht-Adlige besser ins Offiziersamt schicken, in der dritten erkennt er, dass der ganze Wald aus ebensolchen Kriegsbäumen besteht, und in der vierten schließlich sieht er den „Kriegs-Gott Mars“ über dem Super-Baum Europa thronen, der, wie der Träumende bemerkt, „die gantze Welt“ hätte „überschatten können“, wäre er nicht durch die Laster der Menschen schon „gar dünn und durchsichtig“ geworden.120 Mit der Identifizierung Europas als ‚Steineiche‘ – ein angeblich sich selbst zerstörendes Gewächs, auf das Grimmelshausen in Zincgrefs Sapientia Picta (1624) gestoßen sein dürfte121 – endet der Traum; Simplicissimus erwacht und entscheidet sich dazu, in die Welt aufzubrechen. Wie Berns gezeigt hat, veranschaulicht die simplicianische Traumvision „die standeshierarchischen und frühkapitalistischen Antagonismen der Militärgesellschaft“, indem sie das zunächst bloß räumlich differenzierende Baumschema dynamisiert.122 Besondere Relevanz erhält dabei eine Bewegung, die Berns etwas umständlich als Moment der „energetische[n] Differenzierung zur einsinnigen Kreislaufkennzeichnung“ 123 bezeichnet. Dem Baum der Kriegsgesellschaft ist eine Art Ökonomie eingeschrieben, die sich von traditionellen Konzepten ständischer Ordnung deutlich abhebt. Ablesen lässt sich dies an der Rolle des Geldes in Simplicissimus’ Traum. Während das Geld in überlieferten Ständedarstellungen keine (oder kaum eine) Rolle spielt, da jeder Stand ein eigenes Gut zum Tausch anzubieten hat – der Klerus Heil, der Adel Schutz, der Bauer Lebensmittel usw. –,124 scheinen alle Dynamiken am simplicianischen
Petrarca bis Grimmelshausen. In: Simpliciana 4/5 (1983), S. 7–25; Gebauer: Grimmelshausens Bauerndarstellung, S. 101–131; Peter Heßelmann: Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens ZehnBücher-Zyklus. Frankfurt a. M. u. a. 1988 (Europäische Hochschulschriften I 1056), S. 161–167; Stefan Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire. Eine Studie zu den historischen Voraussetzungen der Prosasatire im Barock. Tübingen 1994 (Studien zur deutschen Literatur 132), S. 295 f. 120 W I/1: Simplicissimus, S. 68. 121 So Breuer in: W I/1: Simplicissimus Teutsch, Stellenkommentar, S. 821. 122 Berns: Baumsprache und Sprachbaum, S. 172. 123 Ebd., S. 173. 124 Eine solche traditionelle Ständeordnung präsentiert Grimmelshausen mit klarem Mittelalterbezug in seinem Rathstübel Plutonis (1672). Hier ist es der Schreiber Erich, der den aufmüpfigen Bauern Knan in die Schranken zu weisen versucht, indem er ihn an die von Gott eingerichtete Ordnung der Dinge erinnert: „[…] jener Sinnreiche Mahler entwarff allerhand Ständ auff Tuch / zum Keyser schrieb er / ich erhalt euch all: zum Pfaffen / ich bette für euch all: zum
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‚Ständebaum‘ auf das Geld zurückzugehen. Von einem Kreislauf im eigentlichen Wortsinn kann dabei allerdings nicht die Rede sein. Vielmehr präsentiert sich die Kriegsgesellschaft als asymmetrisches, in sich gestörtes System, in dem das Geld letzthin vor allem in eine Richtung fließt, nämlich von unten nach oben. Die gesamte Reproduktionskraft der Kriegsgesellschaft wird aus der Gruppe der Handwerker, Tagelöhner und Bauern am unteren Ende des Baumes bezogen, wobei diese für die Oberen sowohl als biologisches Kapital 125 als auch als Geldlieferanten herhalten müssen. In Simplicissimus’ Wahrnehmung werden Geld und Leiber der Bauern dabei vielsagend überblendet: [D]ann die gantze Last deß Baums lag auff ihnen / und druckte sie dermassen / daß ihnen alles Geld auß den Beuteln / ja hinder sieben Schlossen herfür gieng / wann es aber nicht herfür wolte / so striegelten sie die Commissarios mit Besemen / die man militarische Execution nennete / daß ihnen die Seufftzer auß dem Hertzen / die Threnen auß den Augen / das Blut auß den Nägeln / und das Marck auß den Beinen herauß gienge [...].126
Müssen die Bauern wie die Handwerker und niederen Mannschaftsgrade für den Krieg somit Gut, Leib und Leben geben, so kommt von dem in Richtung Wurzel fließenden Geld bei ihnen umgekehrt nichts an. Leert dann und wann einer der Kommissäre eine „Wanne voll Geld“ über dem Baum aus, landet dasselbe bei den Offizieren, die „den untersten so viel als nichts zukommen liessen; dahero pflegten von den untersten mehr Hungers zu sterben / als ihrer vom Feind umbkamen [...].“ 127 Kennzeichnend für die simplicianische Perspektive auf den Krieg ist somit eine scharfe Kritik an der Bauernschinderei, deren negative Folgen für die Stabilität des stratifikatorischen Systems in der Vision deutlich werden. Dass am Baum „ein unauffhörlichs gegrabel und auffkletterns“ herrscht, führt Simplicissimus auf das Elend und den Hunger der unterdrückten Wurzelbewohner zurück, die ihren angestammten Platz verlassen, weil sie wie „jeder gerne an den obristen glückseeligen Orten sitzen“ wollen.128 Erscheint der Aufstiegsim-
Soldaten / ich fechte für euch all: zum Weib / ich erziehe euch all: zum Schneider / ich kleide euch all: und so fortan / zum Bauren aber / ich ernähre euch all: muß derowegen einer dem andern nach Göttlichem Willen in seinem Beruff dienen / und nicht wieder dessen Ordnung murren / wie ihr Bauren immerhin zuthun pflegt.“ W I/2: Rathstübel, S. 711. 125 W I/1: Simplicissimus, S. 59: „[...] ja sie ersetzten den Mangel der abgefallenen Blätter auß den ihrigen / zu ihrem eigenen noch grösseren Verderben [...].“ 126 Ebd. 127 Ebd., S. 62. 128 Ebd. In diesem Zusammenhang ist das Kausaladverb „Dahero“ als Brücke zwischen den zitierten Sätzen zu beachten. Die Feststellung, dass „von den untersten mehr Hungers zu sterben [pflegten] als ihrer vom Feind umbkamen“, dient Simplicissimus als Erklärung für die Mobilität der Unterprivilegierten am Baum: „Dahero war ein unauffhörlichs gegrabel und auff-
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puls der Untersten damit mindestens im Rahmen dessen gerechtfertigt, was als simplicianisches Wissen vom Selbsterhaltungstrieb des Menschen gelten kann,129 so lässt der simplicianische Text gleichwohl keinen Zweifel daran, dass auch diejenigen, die sich aus diesem Grund auf den Weg nach oben machen, an einer günstigeren Position angekommen, sogleich zu Unterdrückern der Niederen und mithin zu Schmarotzern am altständischen System werden. In diesem Sinne läuft nicht nur das erwähnte Streitgespräch zwischen Adelhold und dem Feldwebel auf die Einsicht hinaus, dass auch die Bauern, hätten sie die Offiziersämter „durch lang-hergebrachte löbliche Gewonheit [...] in Possession, wie der Adel / [...] gewißlich so bald keinen Edelmann einkommen lassen“ würden.130 Auch Simplicissimus’ Blick auf die wenigen bäuerlichen Aufsteiger in der Krone des Baumes gibt die prinzipielle Gleichartigkeit der Menschen zu erkennen.131 Sobald der Kletterer in der rechten Position ist, seinen Teil „auß der Wurtzel“ 132 des Baumes zu schneiden, tut er dies (oder muss es tun) – auf die Gefahr hin, dass sein Aufstieg ihm nicht nur den Hass der Unterdrückten, sondern auch den Argwohn und Neid der Neben- und Vorderleute einhandelt.133 Spätestens an diesem Punkt wird schließlich auch der „seine Sach rechtschaffen verrichte[nde]“ Soldat in ein Geflecht von Lastern und feindselig-agonalen Handlungen verstrickt, das sich vom einzelnen Menschen nicht entwirren lässt.134 Aus der Dynamik der widerstrebenden Handlungsantriebe – Selbsterhalt, militärische Pflichterfüllung, Aufstiegsambition, Vorsicht vor dem Konkur-
kletterns an diesen Baum / weil jeder gerne an den obristen glückseeligen Orten sitzen wolte […].“ 129 Zu dessen Grundlagen und Ausprägungen vgl. Eric Achermann: Selbsterhaltung, Klugheit und Gerechtigkeit. Zur politischen und theologischen Anthropologie in Grimmelshausens ‚Ratio Status‘. In: Simpliciana 34 (2012), S. 43–78. 130 W I/1: Simplicissimus, S. 65. 131 In dieser Hinsicht widerlegt der Text Simplicissimusʼ blasphemische These von der Zweistämmigkeit des Menschen auf satirisch-abgründige Weise. Die These wird demnach nicht durch einen Rekurs auf die Heilsgeschichte falsifiziert, sondern dadurch, dass sich in der Traumvision herausstellt, dass Bauern und Soldaten sittlich-moralisch durchaus vom selben Schlage sind. Die substantiellen Unterschiede zwischen den beiden Ständen, die Simplicissimus zu erkennen meint, sind tatsächlich akzidentiell: Der Landsknecht ist ein Bauer mit Macht, der im Marodeakt gegen seinen Nächsten rücksichtslos zu Felde zieht. 132 W I/1: Simplicissimus, S. 62. 133 Vgl. ebd.: „[...] und wann schon einer wol stunde / [...] so wurde er von andern geneidet / oder sonst durch einen ohnversehenlichen unglücklichen Dunst beydes der Scharge und deß Lebens beraubt [...].“ 134 Ebd., S. 62 f.
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renten, Sorge um den Nachschub an Geld und Gütern – gibt es für den Karrieresoldaten keinen Ausweg. Wie immer er handelt, er trägt zur Verstärkung des Lastersturms bei, dessen zerstörerische Wirkung Simplicissimus in der abschließenden, apokalyptisch anmutenden Traumsequenz eindrücklich vor Augen geführt wird. Im satirisch-subversiven Rekurs auf eine alte Topik liefert die simplicianische Traumvision ein Wissen um die Ökonomie des Kriegs, auf das der Leser beim Nachvollzug der verschiedenen Stationen von Simplicissimus’ Weg durch den (diegetisch) realen Krieg zurückgreifen kann. Vom naiven, die Regeln höfischsoldatischen Lebens nicht begreifenden ‚Kalb von Hanau‘135 über den mit allen Wassern der Kriegskunst gewaschenen Jäger von Soest 136 bis hin zum Offizier mit eigenem Fähnlein137 absolviert Simplicissimus selbst wesentliche Abschnitte des Kletterparcours am Baum der Kriegsgesellschaft. Was dabei freilich auffällt, ist, dass die Figur als Soldat entgegen der düsteren Lehre der ‚Ständebaum‘Vision in keiner Situation zum Unterdrücker der Wurzelbewohner zu werden scheint. Obwohl ein Meister der Fourage, der zu jedem Zeitpunkt die nötigen Dinge für den Krieg und sein eigenes Fortkommen zu beschaffen weiß, muss der simplicianische Held sein Gewissen nicht mit getöteten und gefolterten Bauern belasten, ja er nimmt offenbar generell nur Güter an sich, die kein anderer zum Überleben dringend brauchte. Viele der Häuser, in die er eindringt, um sich fremdes Gut anzueignen, sind entweder menschenleer138 – oder wirken doch so, da es zu keinen Konfrontationen zwischen dem Eindringling und den Hausbewohnern kommt.139 Und auch dort, wo solche Konfrontationen stattfin135 Vgl. die Passagen in Buch I, Kap. 19, bis Buch II, Kap. 13, des Romans. 136 Vgl. die Passagen in Buch II, Kap. 29, bis zur erzwungenen Heirat des ‚Jägers‘ in Buch III, Kap. 21, des Romans. 137 Vgl. Buch V, Kap. 4, in dem Simplicissimus am Wiener Hof zum Hauptmann ernannt wird, seine Kompanie dann jedoch gleich bei der ersten Schlacht wieder verliert. 138 Ein Beispiel hierfür gibt die Episode des zweiten Buches, in der Simplicissimus als schnäppischer Waldbruder das Stehlen bei den Bauern erst erlernt. Von vornherein stellt er sich dabei so geschickt an, dass er „niemals auff der Mauserey erdappt“ wird. In der folgenden Passage, die von Simplicissimusʼ Eindringen in ein Bauernhaus handelt, verschwinden die Hausbewohner vor seinen Augen, indem sie auf Besen und Bänken aus dem Fenster fliegen. Zwar kommt Simplicissimus in diesem Fall nicht dazu, die Situation auszunutzen, da er selbst auf einer gesalbten Bank gen Blocksberg entrückt wird. Für einen kurzen Moment steht der Eindringling jedoch in einem leeren Haus und kann sich Gedanken machen, „was ich mit nemmen / und wo ich solches suchen wolte“. W I/1: Simplicissimus, S. 176 f. 139 Eine in dieser Hinsicht typische Stelle findet sich zu Beginn des dritten Buches, in dem Simplicissimus von seinen diebischen Streifzügen durchs Westfälische berichtet: „Wann ich nicht auff Parthey dorffte / so gieng ich sonst auß zu stelen / und dann waren weder Pferd / Kühe / Schwein noch Schaf in den Ställen vor mir sicher / welche ich auff etlich Meil Wegs holete […].“ Ebd., S. 245. Es folgt eine Beschreibung der Tricks, die Simplicissimus anwendet,
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den, erscheinen diese seltsam entschärft. Stets scheint sich auf Simplicissimus’ Beutezügen alles, ganz ohne Anwendung von Gewalt, nach geltendem Recht und/oder einem wundersam hinzutretenden Soldatenglück zu fügen.140 Nicht ein einziges Mal gerät der berüchtigte Jäger von Soest auf Fourage in einen Handlungsnotstand, der nicht durch den Einsatz seines Witzes oder eine zu rechter Zeit vollzogene versöhnliche Geste überwunden werden könnte. Noch aus der misslichsten Situation – man denke hier an die nächtliche Kaminszene im Haus des Pfarrers von Recklinghausen (Buch III, Kap. 31) – weiß er sich auf diese Weise zu befreien, ohne den Bestohlenen ernsthaftes Leid zuzufügen; im Gegenteil scheinen diese von den Beutezügen am Ende selbst noch zu profitieren, da Simplicissimus sich bei ihnen mit großzügigen Entschädigungszahlungen erkenntlich zeigt.141 Kurz: Die Ökonomie des Krieges, die laut vorgeschalteter Traumvision eigentlich eine dysfunktionale, zerstörerische sein sollte, funktioniert im Fall des Simplicissimus mindestens auf den ersten Blick gewissermaßen störungsfrei. In seinen Händen scheint sie sich von einer auf Ausbeutung und Gewalt basierenden Geiz-Ökonomie in eine, im Kern friedliche, Ökonomie der Gabe zu verwandeln, in der sich Geld und Güter auf allen Seiten in wundersamer Weise vermehren.142 Geht man vom Romanbeginn und der Ständebaumvision aus, so scheint Simplicissimus’ Aufstieg als Soldat also um eine Leerstelle herum erzählt – eine Leerstelle, die sich sowohl auf der Ebene der Ökonomie der erzählten Welt als
um seine Spuren zu verwischen. Ob und von wem er aber überhaupt verfolgt wird, bleibt offen, von den Besitzern des Viehs fehlt im Text jede Spur. 140 Dies ist der Fall zum einen etwa in den Lösegeldepisoden, von denen hier nicht weiter die Rede sein kann, zum anderen in der Episode, die von der Eroberung der Stadt Paderborn durch den Grafen von der Wahl handelt. Hier wollen Simplicissimus und Springinsfeld Quartier bei einem Bürger nehmen, auf den sie, von einem versklavten dunkelhäutigen Kind geführt, im Innern des Hauses schließlich auch stoßen. Anstatt die Bürgerfamilie allerdings zu plündern, verweist Simplicissimus auf die von den Befehlshabern zuvor getroffene Abmachung, die Bewohner der Stadt zu schonen: „[…] weil wir den Burgern ohne das nichts thun dorfften […].“ Glücklicherweise stellt sich im Anschluss heraus, dass im Haus der gesamte Beutebesitz eines Rittmeisters der Gegenseite eingelagert ist, den sich Simplicissimus aneignen kann, ohne den Hausbewohnern auch nur ein Haar zu krümmen oder sich an ihrem Besitz zu vergreifen. Vgl. ebd., S. 273. 141 Auch hier ein Beispiel: Der in Recklinghausen bestohlene Pfarrer erhält einen Saphirring für seinen Speck, der ebenda um einige Laibe Brot bestohlene Bauer immerhin sechzehn Reichstaler. Vgl. ebd., S. 238. 142 So auch das Fazit des Simplicissimus am Ende der Episode um den Speck des Pfarrers: „Also machte ichs aller Orten [...] und je mehr ich außgabe und verspendirte / je mehr flossen mir die Beuten zu / und bildet ich mir ein / daß ich diesen Ring [den Saphirring als Entschädigung für den Recklinghausener Pfarrer, S. Z.] / wiewol er bey 100. Reichsthaler werth war / gar wol angelegt hätte.“ Ebd., S. 239.
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auch auf der Ebene der Ökonomie der Erzählung in signifikanten Umpolungsbewegungen niederschlägt. Konkret fassen lässt sich diese poetologischökonomische Umpolung dabei im Bezug auf das Konzept der inventio, das in den ersten drei Büchern des Romans in zwei völlig unterschiedlichen Facetten beleuchtet wird. Die erste Verwendungsweise bezieht sich auf das Ritual der Folterung der Bauern, wie es im vierten Kapitel des ersten Buches paradigmatisch auserzählt wird. In deutlichen Anklängen an das Modell der Höllenstrafenschilderung einerseits143 und den juristischen, auf ein Geständnis des Delinquenten zielenden Folterdiskurs andererseits erzählt Simplicissimus von den Qualen der Bauern und der Erfindungskraft ihrer Peiniger. Von der Zerquetschung der Daumen im Steinschloss der Pistolen über das Verbrennen im Backofen bis hin zum Zerdrücken des Schädelknochens mittels eines Seils habe jeder Soldat „sein eigene invention [gehabt], die Bauren zu peinigen / und also auch jeder Bauer seine sonderbare Marter“.144 In welchem funktionalen Zusammenhang dieser inventio-Begriff steht, lässt sich aus den bisherigen Ausführungen erschließen. Der Einfallsreichtum der Soldaten bleibt demnach in unmittelbarer Weise auf das Mittel der Gewalt und den Leib der Bauern bezogen, dessen Marterung und Vernichtung mit der Auspressung des Geldes metaphorisch gleichgesetzt wird. So zeigt sich in der Spessarter Szene bereits die zerstörerische Logik der Ökonomie des Krieges: Der Knan, von dessen Folterung im direkten Anschluss die Rede ist, verrät seinen Peinigern die Lage des in seinem Haus verborgenen Schatzes. Da dieser aber, wie der Leser erfahren wird, keineswegs Produkt eines bäuerlichen Geizes ist, mithin gerade nicht der von Simplicissimus ironisch postulierten „Schuldigkeit“ 145 des Knan entspringt, läuft die soldatische Folter-Invention in moralischer wie epistemologischer Hinsicht offensichtlich ins Leere. In dieser Weise einerseits buchstäblich sinnlos, andererseits aber einträglich, kann sie auch auf der Ebene der Erzählökonomie nur für Unterbrechung sorgen: So wie die Kriegsökonomie insgesamt die Autopoiesis der Ständeordnung durchkreuzt, unterbindet der Marodeakt zu Beginn des Romans jene ordo-gerechte Zirkulation symbolischer Güter, die ein Erzählen im Providenzmodus des heliodorischen Romans zur Voraussetzung haben würde. Der Schatz – und damit symbolisch auch: das genealogische Erbe – der Eltern des Simplicissimus findet seinen Weg zu dem durch den Krieg an die Wurzel des Ständebaums gefallenen Sohn nicht. Auch hier verläuft der Riss, entlang dessen
143 Dieses Modell ist Grimmelshausen en détail bekannt, legt er mit der Verkehrten Welt (1673) doch wenige Jahre nach dem Simplicissimus einen Text vor, der in nennenswerten Teilen nach dem Prinzip der Höllenstrafen-Topik funktioniert. 144 W I/1: Simplicissimus, S. 29. 145 Ebd.
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sich die simplicianische Poetik als pikarisches Gegenstück zum ‚hohen‘ Roman entfaltet. Eben mit dieser pikarischen Dimension des Erzählens im Zeichen des Krieges hängt die Neubesetzung des inventio-Konzepts im zweiten und dritten Buch des Romans zusammen. Was sich, zumal in den Episoden zwischen Simplicissimus’ Einkleidung als Jäger von Soest (Buch II, Kap. 29) und seiner Verheiratung wider Willen mit der schönen Obristentochter (Buch III, Kap. 21), abspielt, lässt sich dabei zwar durchaus als klassische Lasterkarriere lesen; es ist der hochmütige Ansporn, „zeitlich zu Officien befördert“ zu werden, der den Jüngling dazu treibt, seinen Verstand in den Dienst der militärischen Karriere zu stellen: „Jch speculirte Tag und Nacht / wie ich etwas anstellen möchte / mich noch grösser zu machen / ja ich konte vor solchem närrischem Nachsinnen offt nicht schlaffen […].“ 146 Freigesetzt wird durch die superbia ein Ingenium, das Freunde wie Feinde des Simplicissimus – und natürlich auch den Leser – immer aufs Neue staunen macht. Wo die Landsknechte ihre sinnlosen Rituale der Gewalt abhalten, um die Mittel für den Krieg zu erwerben, setzt Simplicissimus auf „neue Fünd und List“ sowie „wunderliche Einfäll“, die ihm ein Handeln in den menschenleeren Zwischenräumen der Kriegsschauplätze erlauben.147 Die Tricks und Geräte, die er dabei anwendet, sind dem Grimmelshausen-Leser wohlbekannt, gehören sie doch zum inventiven Kern der entsprechenden Abschnitte: Mittels einer besonderen „Gattung Schuh“ 148 verwirrt der Jäger von Soest seine Gegner und macht die eigenen Spuren im Gelände unlesbar; mittels eines „Perspectiv[s]“ erschließt er sich den optischen Raum; und mittels eines von ihm selbst erdachten Hörinstruments verstärkt er die akustischen Reize seiner Umwelt, so dass es ihm möglich wird, „ein Trompet auff drey Stund Wegs […] blasen / ein Pferd auff zwo Stund schreyen / oder Hunde bellen / und auff eine Stund weit die Menschen reden“ zu hören.149 Wenn es ihm auf diese Weise (vorübergehend) tatsächlich gelingt, „Ehr / Ruhm und Gunst in Handlungen“ zu suchen und auch zu finden, „die sonst bey andern wären Straff-würdig gewesen“,150 so beschreibt dies die Funktionsweise der pikarischen List-Poetik recht genau: Obwohl aus moralischer Sicht kein Zweifel daran bestehen kann, dass es sich bei den hochambitionierten taktischen Aktionen des jungen Soldaten um Nach-
146 Ebd., S. 229. 147 Ebd., S. 243. 148 Ebd. 149 Ebd., S. 244. Zu den ‚Medien‘, die Simplicissimus erfindet bzw. einsetzt, vgl. Jörg Jochen Berns: Der Zauber der technischen Medien – Fernrohr, Hörrohr, Camera obscura, Laterna Magica. In: Simpliciana 26 (2004), S. 245–266, hier bes. S. 245–249. 150 W I/1: Simplicissimus, S. 243.
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weise seiner „Thorheit“ 151 handelt, verleitet die Erzählung doch dazu, vor allem das pikarische Ingenium zu bewundern, das als ethisches wie poet(olog)isches Widerlager zu den Gewalt-Inventionen der Marodeure im Text implizit entsprechend aufgewertet wird. Ließe sich von diesem Punkt aus die These formulieren, dass das (relativ) gewaltfreie Funktionieren der Kriegsökonomie im Fall des Simplicissimus über dessen unerschöpfliche Inventionskraft mit dem Prinzip der Präsentation immer „neue[r] Fünd und List“ auf der Ebene der Erzählung zusammenhängt – eben darin besteht die oben angesprochene transfunktionale Beziehung von erzählter Ökonomie und Erzählökonomie in den Abschnitten –, so darf dabei allerdings nicht ausgeblendet werden, dass der Text die Zuverlässigkeit der Figur natürlich gerade in diesem Zusammenhang in Zweifel zieht. In der einschlägigen Exposition zum dritten Buch, in der Simplicissimus seine Tricks und Wunderinstrumente anpreist, sind die ironischen Warnsignale hinsichtlich der Kunst der „wunderliche[n] Einfäll“ allzu deutlich. Dies betrifft zumal die Möglichkeit eines Umschlagens von Invention in Lüge, die durch Simplicissimus’ aufdringliche Wahrheitsbeteuerungen erst eigentlich in den Blick rückt. Wenn dieser gegenüber dem Leser erklärt, er wisse, „daß auff diese Stund Leut seyn / die mir dieses glauben oder nicht / so ists doch die Warheit“, nur um zwei Sätze später zu konzedieren, er könne es „keinen [sic!] verdencken / wann er mir nicht glaubt / was ich jetzund schreibe“,152 steht mit seiner Zuverlässigkeit als Erzähler auch die Glaubhaftigkeit der wundersamen Geldvermehrung qua pikarischem Einfallsreichtum auf dem Spiel. Je mehr der Leser den Verdacht bekommt, hinter der Kette listiger – und jeweils auffällig glimpflich verlaufender – Fourageaktionen möge eine nicht-erzählte, möglicherweise abgründige alternative Erfahrungsdimension stecken,153 desto brüchiger erscheint das Bild vom ‚witzigen‘ Soldaten, der die Mittel für den Krieg (und den eigenen Aufstieg)
151 Ebd. 152 Ebd., S. 244 f. 153 Verstärkt werden die Verdachtsmomente gegen Simplicissimus durch Ellipsen in seiner Erzählung. So erwähnt er zu Beginn des Jäger-Abschnitts, dass er von seinen Vorgesetzten vor allem dazu eingesetzt worden sei, Kontribution einzufordern – was er sehr erfolgreich auch getan habe, allerdings ohne die Bauern dabei in irgendeiner Weise gegen sich aufzubringen: „Zuletzt kam es dahin / wo nur ein Ort in Contribution zu setzen war / daß ich solches alles verrichten muste / davon wurde mein Beutel so groß als mein Nahm / meine Officier und Cameraden liebten ihren Jäger / [...] / und den Landmann hielt ich durch Forcht und Liebe auff meiner Seiten [...].“ Ebd., S. 228. Ob „Forcht und Liebe“ tatsächlich ausreichen, um die Abgründe der auf Kontribution basierenden Kriegsökonomie – Hunger, Gewalt, Hass und Tod – zu überwinden, steht dahin. Angesichts des Wissens vom Krieg, das der Ständebaumtraum vermittelt, erweckt Simplicissimus’ Darstellung den Zweifel des Lesers.
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ohne Gewalteinsatz, allein kraft seines Ingeniums, erworben haben will. Dass es dabei nicht hilft, wenn Simplicissimus am Ende seiner Rechtfertigungsrede von sich aus auch noch auf den gegen ihn erhobenen Verdacht der Teufelsbündlerei zu sprechen kommt, liegt auf der Hand.154 Die diabolische Codierung der Jägerfigur, die durch Simplicissimus’ wiederholte Selbstidentifikation als Teufel in den Episoden verstärkt wird,155 lässt die Frage nach der Kehrseite des simplicianischen Ingeniums nur umso drängender werden. An welcher Position im ethisch-moralischen, poetischen und ökonomischen Koordinatensystem des Kriegs ist die Figur tatsächlich angesiedelt? An dem Umstand, dass man diese Frage nicht beantworten kann, ohne Gefahr zu laufen, das immanente Paradoxiepotenzial der simplicianischen Kriegserzählung zu unterschlagen, ist die spezifische Signatur des pikarischen Erzähleinsatzes Grimmelshausens abzulesen. So ist Merzhäuser zuzustimmen, wenn er betont, dass Simplicissimus – im Gegensatz zu seinen ‚Brüdern‘ Herzbruder und Olivier – „kein einseitiger Typus mehr [ist], der eine abstrakte moralische Eigenschaft, sei es die Tugend der einfältigen Frömmigkeit, sei es die teuflische Lasterhaftigkeit des Weltmenschen, repräsentiert, sondern eine doppelpolige Person, die gerade in ihrer problematischen Gespanntheit von Interesse ist.“ 156 Deutlich wird diese innere Gespanntheit dabei zumal im Verhältnis zu
154 Das Zitat im Zusammenhang: „Meine eigene Cameraden hielten anfangs diese Reden vor Auffschneiderey / und als sie im Werck befanden / daß ich jederzeit wahr sagte / muste alles Zauberey / und mir / was ich ihnen gesagt / vom Teuffel und seiner Mutter offenbart worden seyn: Also / glaub ich / wird der günstige Leser auch gedencken.“ Ebd., S. 245. 155 Schon als Waldbruder mit Eselsohren gibt Simplicissimus sich als Teufel aus, um den Räubern zu entkommen (Buch II, Kap. 16). Das Spiel wiederholt sich in der Küche des Pfarrers zu Recklinghausen (Buch II, Kap. 31). Schließlich plant Simplicissimus, sich in Soest eine Teufelsmaske und die dazu gehörige Kleidung anfertigen zu lassen (Buch III, Kap. 2). 156 Merzhäuser: Satyrische Selbstbehauptung, S. 168. Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass Grimmelshausen den beiden Komplementärfiguren des Simplicissimus, Herzbruder und Olivier, völlig gegensätzliche ökonomische Modelle zuweist. Herzbruder steht demnach für eine reine Ökonomie der Gabe, die ganz ohne Kalkül und Eigennutz auszukommen scheint, in der der Handelnde allerdings auf die freundschaftliche und freigebige Gesinnung des Gegenübers angewiesen ist. Um dies sichtbar zu machen, variiert Grimmelshausen in der Beziehung von Herzbruder und Simplicissimus immer wieder dasselbe Muster: Der eine springt für den in Not geratenen anderen mit einer Gabe ein, rettet ihn, ohne auf eine Gegengabe zu spekulieren (die gerade deswegen aber dennoch erfolgt). Olivier dagegen verkörpert das Prinzip des geizigen Kalküls, gibt nichts, ohne auf seinen Vorteil zu spekulieren. Symptomatisch hierfür ist sein Bekenntnis gegenüber Simplicissimus, so lange mit dem Stehlen, Morden und Marodieren fortzufahren, wie es für ihn etwas zu gewinnen gibt: „Und sey versichert Bruder / daß ich seithero [seit seinem Eintreffen im südwestdeutschen Kriegsgebiet um Breisach, S. Z.] manchen stoltzen Kerl nider gelegt / und ein herrlich Stück Geld prosperiret habe / gedencke auch nicht auffzuhören / biß daß ich sehe / daß ich nichts mehr bekommen kan.“ W I/1: Simplicissimus, S. 425 f.
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Olivier, der mit seinem egoistischen, gewalttätigen Handeln die Abgründe der Ökonomie des Krieges repräsentiert. Was in diesem Sinne auf den ersten Blick als einfache Gegenbildlichkeit erscheinen mag – der üble Gewalttäter hier, der Meister der Invention dort –, entpuppt sich auf den zweiten Blick als komplizierte Spiegelbeziehung, in der das Andere, das Olivier verkörpert, als Facette des Eigenen der Simplicissimus-Figur erkennbar wird. Schon die Konfrontation beider in Westfalen spricht in dieser Hinsicht Bände. Simplicissimus, der nicht weiß, wer der grüngewandete Doppelgänger ist, der „hin und her auff dem Land / sonderlich aber bey unsern Contribuenten / unter meinem Nahmen mit Weiberschänden und Plünderungen allerhand Exorbitantien verübte“, entscheidet sich, ihn ‚abzuschaffen‘ – was ihm mithilfe seiner in Teufelskostüme gekleideten Knechte (darunter Springinsfeld) auch gelingt.157 In der Begründung für diesen Einsatz fließen moralische und unmoralische Motive allerdings auf verräterische Weise ineinander. Wenn Simplicissimus mitteilt, er habe durch den Wiedergänger um ein Haar „übel eingebüst“, wenn er betont, er habe diesem „[s]olches [...] nicht zu schenken“ gedacht, und wenn er erklärt, er habe schließlich eingreifen müssen, weil „der Jäger von Werle noch immerzu fort fuhr / sich vor mich außzugeben / und zimliche Beuten zu machen“,158 tritt der Beweggrund der Vermeidung gewalttätiger „Exorbitantien“ hinter ein kriegsökonomisches Kalkül zurück, das weniger die Differenz als vielmehr die be-
Beide Extrempositionen, die moralisch ideale wie die moralisch verwerfliche, werden im Roman Gegenstand satirischer Distanzierung. Im Fall Oliviers ist dies offensichtlich: Der ehemalige Schreiber redet und handelt sich bei jedem seiner Auftritte um Kopf und Kragen und findet im Handgemenge im Wald bei Villingen seinen gerechten Tod (Buch IV, Kap. 24). Herzbruder dagegen wird als Figur sicher nicht völlig demontiert, wohl aber einem (moderaten) satirischen Verlachen preisgegeben. Durch einen Schuss in „seine Testiculi“ (ebd., S. 460) verwundet, erfährt der Freund des Simplicissimus zu Beginn des V. Buches einen unheroischen Tod auf Raten. Die Art der Verletzung ist dabei durchaus symbolisch zu verstehen: Die moralisch anscheinend makellose Herzbruder-Figur gibt ein Beispiel, das sich in einer Welt wie der im Roman gezeigten buchstäblich nicht ‚fortzeugen‘ kann. Simplicissimus weist auf diesen Umstand implizit hin, wenn er erwähnt, dass sein Freund ursprünglich vorgehabt habe, eine Familie zu gründen. „[N]unmehr aber muste er andere Gedancken concipiren / dann weil er das jenige verloren / damit er ein neues Geschlecht propagiren wollen / [...] / machte er sein Testament / und setzte mich zum einzigen [!] Erben aller seiner Verlassenschafft [...].“ Ebd. 157 W I/1: Simplicissimus, S. 247. Der Jäger von Werle alias Olivier wird in eine Schäferei gelockt, wo Simplicissimus und seine Männer ihn überrumpeln. Eine Aufforderung zum Duell will der feige Schreiber nicht annehmen, weswegen Simplicissimus es bei einer schwerwiegenden Demütigung des Konkurrenten belässt: Mit Einverständnis seines Herrn zwingt Springinsfeld Olivier dazu, drei Schafen den Hintern zu lecken, und zerkratzt ihm das Gesicht so sehr, dass die Narben noch beim finalen Wiedersehen der beiden ‚Brüder‘ im IV. Buch zu sehen sind. Vgl. ebd., S. 248–251. 158 Ebd., S. 247 f.
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unruhigende Nähe der beiden Jäger-Figuren sichtbar werden lässt. Noch verstärkt wird dieser Eindruck in den Abschnitten des vierten Buches, die von der finalen Begegnung der beiden ‚Brüder‘ handeln. Nicht nur, dass Simplicissimus hier in Begleitung Oliviers seine vielleicht schlimmste Tat begeht, indem er eine Frau und ihre Kinder im Keller eines verlassenen Hauses dem wahrscheinlichen Kälte- oder Hungertod überlässt.159 Auch wird er nach Oliviers Tod (Buch IV, Kap. 24) in einem sehr konkreten Sinne zu dessen ‚Erben‘. Das in einen Überwurf eingenähte, durch Marodieren und Räuberei zusammengescharrte Geld des ehemaligen Schreibers geht in den Besitz seines Rächers Simplicissimus über, der sich „das gülden Fell“, wie er es nennt, „an den Hals“ hängt und bis zur Gründung seines Hauses im Sauerbrunnen (Buch V, Kap. 7) als Kapital – Teil seines Eigenen – bewahrt.160 Blickt man von diesem Punkt schließlich wieder auf den Beginn von Simplicissimus’ Soldatenkarriere und die dort entfaltete Fiktion der sozialen Verträglichkeit seiner Fouragekunst, so wird der desillusive Vektor des simplicianischen Erzählens vom Krieg und seiner Ökonomie deutlich. Von der Doppelzirkulation von Gütern und scharfsinnigen Einfällen ist am Ende von Simplicissimus’ Weg durch den Krieg offensichtlich keine Spur mehr. Ganz im Gegenteil scheint die Figur inzwischen von einem veritablen Geizimpuls getrieben, an dessen moralischer Abgründigkeit angesichts der Schandtaten Oliviers kein Zweifel bestehen kann. Vollzogen wird damit eine finale Zuspitzung der Widersprüche, in die die simplicianische Poetik der inventio als eben nur vermeintlich wirksames Mittel gegen die destruktiven Kräfte des Krieges und die moralische Deformation seiner Agenten mündet. Sichtbar wird diese im Fall des Simplicissimus freilich nicht erst im IV. Buch, sondern, wie gezeigt, bereits in den ehrgeizigen, zunehmend aber auch geizigen Aktionen des Jägers von Soest. Dabei erscheint es durchaus symptomatisch, dass dessen Fähigkeit, das Geld und die Erzählung in Bewegung zu halten, in dem Moment erstmals versagt, in dem er durch den Schatzfund in der Nähe von Soest (Buch III, Kap. 12) plötzlich zu einem großen Vermögen kommt. Die Relevanz der Stelle für die Struktur des simplicianischen Lebens ist von der Forschung zu Recht betont worden. Hervorgehoben wurde dabei erstens der Umstand, dass das auf die Schatz-
159 Vgl. ebd., S. 430. Dabei verhindert Simplicissimus zwar, dass Olivier die Frau, ihre Magd und ihre Kinder direkt niedermetzelt, muss wenig später aber erkennen, dass er „ein Ursach“ gewesen ist, dass „beyde Weibsbilder und unschuldige Kinder in Keller versperrt worden / wo sie vielleicht [...] auch sterben und verderben müsten [...].“ Ebd., S. 432. 160 Ebd., S. 435. Auf den Übergang zwischen der Kriegsökonomie der Bücher I–IV zur simplicianischen Hausökonomie in Buch V wird im nächsten Abschnitt noch genauer einzugehen sein.
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hebung folgende sogenannte Geldkapitel (Buch III, Kap. 13) just in die Mitte des Romans fällt, kompositorisch also besondere Beachtung einfordert.161 Zweitens wurde festgestellt, dass Simplicissimus mit dem Finden des Schatzes erst eigentlich dem Geiz verfalle, wobei die generelle Lasterwirkung des Geldes ebenso eine Rolle spiele wie die „saturnisch-melancholische Naturanlage“ der Figur, die sich im ‚plutonischen‘ Subtext der Schatzhebungspassage symbolisch manifestiere.162 Und drittens konnte gezeigt werden, dass dem Schatz selbst ein zahlensymbolisch verschlüsselter heilstheologischer Code eingeschrieben ist, der, insofern er vom Finder Simplicissimus als solcher nicht erkannt wird, auf dessen prekären Heilszustand hindeutet.163 Was mittels der in vorliegendem Kapitel eingenommenen Perspektive auf die Verbindung von erzählter Ökonomie und Erzählökonomie zu diesen vorhandenen Forschungseinsichten beigetragen werden kann, ist eine genauere Beschreibung des Verhältnisses von Geldwissen und ökonomischem Handeln des Simplicissimus auf der einen und der impliziten Poetologie der Passage auf der anderen Seite. Festzustellen ist dabei zunächst eine auffällige Strukturanalogie zwischen diegetischer und diskursiver Ebene. Wie oben schon angedeutet, setzt der Schatzfund dem Fließen der Erzählung (vorübergehend) ein Ende. Anstatt den Lauf seines Lebens weiterzuverfolgen, setzt Simplicissimus im dreizehnten Kapitel zu einer großen Geld-Reflexion an, die nicht zuletzt deshalb als eine Art Stauung des Narrativs gesehen werden kann, weil das Wissen, das sie enthält, in eine (Erzähl-)Praxis nicht überführbar zu sein scheint. Das hat zum einen mit der Art dieses Wissens selbst zu tun. Wie schon im Satyrischen Pilgram, den Simplicissimus an dieser Stelle als sein eigenes Werk reklamiert, stehen sich die These einer vitiogenen Wirkung des Geldes und die These seiner moralischen Neutralität völlig unvermittelt gegenüber.164 So bekundet Simplicissimus einerseits, das Geld habe ihn „hoffärtiger“, außerdem „geitzig“ gemacht, was aus der „eigens angeborne[n] Schalckheit und böse[n] Natur“ desselben zu erklären sei.165 Andererseits betont er die schier unendlichen Möglichkeiten, die das
161 Dazu Lämke: Zirkulationsmittel und hermeneutischer Zirkel, S. 135 und 144 f. 162 Dazu Breuer in W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar, S. 894. Zur Verknüpfung von Melancholie und Schatzhebungsszene vgl. außerdem Klaus Haberkamm: ‚Sensus astrologicus‘. Zum Verhältnis von Literatur und Astrologie in Renaissance und Barock. Bonn 1972 (Abhandlungen zur Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaft 124), S. 215–221. 163 Vgl. Rudolf Hofmeister: The 893 Coins in Grimmelshausen’s ‚Simplicissimus‘. In: Argenis 1 (1977), S. 131–140. Außerdem Breuer in W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar, S. 894. 164 Zur moralischen Nichtintegrierbarkeit des praktischen Wissens vom Geld im Satyrischen Pilgram vgl. Wilhelm Kühlmann: ‚Syllogismus practicus‘ ‒ Antithese und Dialektik in Grimmelshausens ‚Satyrischem Pilgram‘. In: Simpliciana 13 (1991), S. 391–405, hier S. 394–396. 165 W I/1: Simplicissimus, S. 294 f.
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Geld demjenigen eröffne, der es „recht zu brauchen und anzulegen weiß“.166 Worin genau diese ‚rechte‘ Praxis besteht, erklärt er freilich nicht.167 Und so kann es auch nicht verwundern, wenn Simplicissimus in der Folge an der Aufgabe der Einrichtung (oder Aufrechterhaltung) einer funktionierenden Ökonomie der Gabe scheitert. Seine affektbedingte Schwierigkeit, sich vom Geld zu trennen – die Stauung der Gabenflüsse zu überwinden –, spielt dabei zwar eine Rolle. Bei näherem Hinsehen erweisen sich die Bedingungen des Handelns in der simplicianischen Welt jedoch als komplizierter, als es der traditionelle Lasterdiskurs vorsieht. So ist es keineswegs so, dass Simplicissimus seine Taktik des Gebens nach dem Schatzfund aufgibt. Diese funktioniert vielmehr nicht mehr, weil die Gaben den Empfängern immer schon zu gering scheinen angesichts der Reichtümer, die sie hinter dem Schatzheber vermuten. Der Kommandant und der Hauptmann erhalten silberne „Antiquitäten“, womit Simplicissimus, wie er feststellt, „aber nichts außrichtete / als daß ich ihnen nur das Maul auch nach dem übrigen wässerig machte“.168 Springinsfeld findet eine Erklärung für den Zusammenhang, wenn er seinen Herrn darauf hinweist, dass er es vor seinem Fund noch geschafft habe, den Eindruck zu erwecken, außer dem Verschenkten nichts mehr zu haben. Nun jedoch, da alle vom Schatz wüssten, könne er, Simplicissimus, „niemand kein Ding mehr verklaiben / oder weiß machen […] / daß [er] kein übrig Geld hätte / dann jeder machte den gefundenen Schatz jetzt grösser / als er an sich selbst seye“.169 Besteht der Unterschied zwischen dem freigebigen und dem geizigen Simplicissimus demnach im Kern offenbar
166 Ebd., S. 294. In genau diesem Zusammenhang erfolgt der Verweis auf den Satyrischen Pilgram. Er habe diese Thematik „hiebevor in meinem Schwartz und Weiß“ – so der Untertitel des satirischen Erstlings Grimmelshausens – bereits behandelt. Tatsächlich findet sich in der Schrift dieselbe Feststellung, wenn es dort heißt, dass „einem rechtschaffenen Christen / […] / grosse Vorsichtigkeit und Fleiß vonnöthen [sei] / zulernen und zu wissen / wie weit ihme verlaubt sey / Solches [das Geld] zu gebrauchen“. GW 7: Satyrischer Pilgram, S. 52. 167 Dasselbe gilt für den Gelddiskurs im Satyrischen Pilgram. Gerade in dieser Leerstelle begegnen sich die beiden Texte, deren Autor ja angeblich Simplicissimus selbst ist. Nimmt man das Rathstübel Plutonis (1672) dabei noch hinzu, so ergibt sich ein deutliches Muster. Wie die Figuren in diesem Text in doppelter Hinsicht müßig, nämlich spielerisch und ohne praktisches Ergebnis, über den rechten Umgang mit Geld diskutieren, so werfen die Schriften Grimmelshausens insgesamt diese Frage auf, ohne eine irgendwie verbindliche Antwort zu liefern. Der intertextuelle Dialog zwischen den beiden Schriften Grimmelshausens ist demnach aufschlussreich gerade in der Hinsicht, dass es ein propositional formulierbares Wissen vom rechten Umgang mit dem Geld in der simplicianischen Welt offenbar nicht gibt – eine Einsicht, die durch die in sich leerlaufenden Gelddiskurse der simplicianischen Figuren performativ bekräftigt wird. 168 W I/1: Simplicissimus, S. 296. 169 Ebd., S. 297.
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nur darin, dass ersterer seinen Reichtum zu dissimulieren verstanden hatte, während der zweite diese Möglichkeit nicht mehr hat und deshalb auch dort als geizig gilt, wo er es gar nicht ist, so wird klar, dass das Wissen vom Geld an dieser Stelle nicht mehr auf den Nenner der moralsatirischen Lasterkritik gebracht werden kann. Fraglich wird damit schließlich auch die Tauglichkeit der Ratschläge, die Simplicissimus’ treue Begleiter, Springinsfeld und Jupiter, ihrem Herrn geben. Wenn diese darauf dringen, Simplicissimus möge nur rasch seinen Schatz unter den Leuten verteilen, so reden sie nicht nur aus einer Position des Eigeninteresses.170 Auch steht angesichts der negativen Wechselwirkung von Gabe und Neid durchaus dahin, ob sich Simplicissimus durch das Verteilen seines Schatzes tatsächlich Freunde machen, ja seine „unnützen Sorgen loß“ 171 werden würde, wie Jupiter meint, oder ob nicht gerade dieses Verhalten im sozialen Kontext unklug und gefährlich sein könnte.172 Der zweite Grund für die Stauung des Erzählens im Geld-Kapitel liegt in der Unfähigkeit des jungen Simplicissimus, eine strategische Verwendung für das Geld zu finden. Grüblerisch beginnt er damit, in seinem Kopf die verschiedenen Möglichkeiten durchzuspielen, die das Geld ihm bietet. Dabei gerät er in eine Schleife des Ausmalens und Verwerfens von Lebens- und Handlungsentwürfen, aus der er keinen Ausweg findet und sich deshalb entscheidet, das Geld einem Kölner Kaufmann zur Aufbewahrung zu geben.173 Der plötzliche Leerlauf der Einbildungkraft der Figur, die vom Geld zwar „wol närrische Anschläg / und seltzame Grillen ins Hirn“ bekommt, dabei aber „doch keinem einigen Einfall“ 174 folgt, sondern die zu treffende Entscheidung vertagt, besitzt im Zusammenhang des angesprochenen inventio-Aspekts metapoetische Relevanz. Just an der Schwelle, an der es Simplicissimus erstmals möglich wäre, einen Ort des Eigenen einzurichten – gleichsam also von der situativ getakteten inventio zur strategischen dispositio überzugehen –, gerät die Erzählung ins Stocken: Einmal kam mirs in Sinn / ich sollte den Krieg quittirn / mich irgends hin setzen / und mit einem schmutzigen Maul zum Fenster nauß sehen; aber geschwind reute michs wieder /
170 Springinsfeld und Jupiter leben von Simplicissimusʼ Zuwendungen und können infolgedessen darauf spekulieren, selbst zu den Beschenkten zu gehören. Um daran zu erinnern, vergisst Grimmelshausen nicht, vor der Beratungsrede zu erwähnen, dass Simplicissimus dem Jupiter „viel Guts thäte“, während Springinsfeld unmittelbar vor seinem Ratschlag „12. Reichsthaler“ geschenkt bekommt. Ebd., S. 296 f. 171 Ebd., S. 296. 172 Immerhin weiß Springinsfeld von einem Fall zu berichten, in dem „ein Camerad den andern umbs Geld halber heimlich ermordet“. Ebd., S. 296 f. 173 Ebd., S. 298. 174 Ebd., S. 295.
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[…]; da gedachte ich dann / Huy Simplici, lasse dich Adeln / und werbe dem Käiser ein eigene Compagni Dragoner auß deinem Seckel […]. So bald ich aber zu Gemüt führte / daß meine Hoheit durch ein einzig unglücklich Treffen fallen / oder sonst durch einen Friedenschluß sampt dem Krieg in Bälde ein End nemmen könte; ließ ich mir diesen Anschlag auch nicht mehr belieben: Alsdenn fienge ich an / mir mein vollkommen männlich Alter zu wünschen / dann wann ich ein solches hätte / sagte ich zu mir selber / so nehmestu ein schöne junge reiche Frau / alsdenn kaufftestu irgends einen Adelichen Sitz / und führtest ein geruhiges Leben; Jch wollte mich auf die Viehzucht legen / und mein ehrlich Außkommen reichlich haben können / da ich aber wuste / daß ich noch viel zu jung hierzu war / muste ich diesen Anschlag auch fahren lassen. Solcher und dergleichen Einfäll hatte ich viel / biß ich endlich resolvirte / meine beste Sachen irgend hin in einer wolverwahrten Statt einem begüterten Mann in Verwahrung zu geben / und zu verharren / was das Glück mit mir machen würde.175
Dass das Glück ihn gerade in dieser Entscheidung verlässt – der Kölner Kaufmann falliert und erst später wird Simplicissimusʼ Schatz von der Lippstädter Familie seiner Frau aus der Konkursmasse geborgen –,176 entspricht einem Wissen von der Flüchtigkeit des Geldes, das der erzählte Simplicissimus an dieser Stelle offenbar noch nicht hat. Weniger dies aber macht sein Scheitern als Stratege interessant als vielmehr der Umstand, dass es als (ironischer) Metakommentar auf die Disposition des Romans selbst gelesen werden kann. In diese Richtung weist die zitierte Stelle: Nachdem Simplicissimus den Plan, ein Fähnlein zu erwerben, aufgegeben hat, da dieser ihm angesichts der Kontingenz des Kriegs zu unsicher erscheint,177 richtet er seine Einbildungskraft auf die friedliche Alternative eines auf „Viehzucht“ basierenden, häuslichen Lebens. Für eine solche Stillstellung der pikarischen Aufschublogik ist es im dritten Buch aber eben noch zu früh, was Simplicissimus selbst bemerkt, wenn er konstatiert, dass er für die Ehe und eine Haushaltsgründung „noch viel zu jung“ sei. Dieses Argument, durch die unfreiwillige Heirat in Soest nur wenige Kapitel später ironisch durchkreuzt, besitzt eine doppelte Optik. Auf die Erfahrungsperspektive der Figur bezogen, lässt es deren Unreife deutlich werden; als Jäger von Soest ist Simplicissimus noch zu sehr mit dem „gegrabel“ am Baum der Kriegsgesellschaft beschäftigt, um die post-pikarische Invention eines „geruhige[n] Leben[s]“ mit „ehrlich[em] Außkommen“ in die Tat umzusetzen. Auf die Disposition des
175 Ebd., S. 295 f. 176 Vgl. Buch III, Kap. 23. Von der Rettung des Schatzes durch seine Lippstädter Verwandtschaft erfährt Simplicissimus am Ende des 6. Kapitels von Buch V. 177 Zur Kontingenz des Kriegs, die Simplicissimus im Gegensatz zu der des Geldes aus eigener Erfahrung bereits kennt, gehört demnach auch die Möglichkeit eines plötzlichen Friedensschlusses. Dass Simplicissimus einen solchen nicht als wünschenswertes Ziel, sondern als Risiko einschätzt, zeigt die generelle Verkehrtheit von Moral und Logik in den Köpfen der KriegsAgenten.
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Romans bezogen, tritt dagegen eine Form ironischer Selbstreflexivität hervor. So klafft zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem Zeitpunkt des Erzählten im dritten Buch noch eine erhebliche Lücke, die mit Handlung gefüllt werden will – was im Sinne eines sujethaften Erzählens nur möglich ist, wenn der junge Simplicissimus sich gegen die Einrichtung einer Ökonomie und für die Fortsetzung seines auf das wandelbare „Glück“ ausgeschriebenen Weltparcours entscheidet. Gerade weil das Geld-Kapitel auf diese innere Logik der Narration aufmerksam macht, gehört es in die Mitte des Romans: als reflexive Stauung des Erzählens, an der die aufgezeigte wechselseitige Erhellung von erzählter Ökonomie und Poetik des Erzählens sinnhaft (nach)vollzogen werden kann.
4.1.4 Orte des Erzählens: Simplicianisches Haus und Kreuzinsel Am Ende seines Wegs durch den Krieg verfügt Simplicissimus über ein Kapital, das ihm aus zwei Quellen zugeflossen ist. Auf der einen Seite ist er im Besitz des „gülden[en] Fell[s]“ 178 Oliviers, das als materielles Ergebnis der Raub- und Mordtaten desselben auf die tiefsten Abgründe der Kriegsökonomie verweist. Auf der anderen Seite wird Simplicissimus zu Beginn des fünften Buches von Herzbruder zum Erben eingesetzt, wobei es dessen Verwundung ist, die den simplicianischen Helden (in Begleitung seines kranken Freundes) erst überhaupt in den Sauerbrunnen reisen lässt.179 Erscheint das Geld, mit dem Simplicissimus nach dem Tod Herzbruders die Gründung des simplicianischen Hauses finanziert, somit in bemerkenswerter Weise moralisch doppelt codiert – es ist ‚gutes‘ und ‚schlechtes‘ Geld zugleich –, so weist dies bereits auf die tiefgreifende moralische Spannung hin, unter der das Erzählen von diesem Haus im simplicianischen Œuvre steht. Anders als Koschlig vermutet, handelt es sich bei der ökonomischen Etablierung der Figur demnach von vornherein nicht um einen Vorgang, der an die positive Konzeptualisierung der oeconomia bei Coler (und anderen) nahtlos anschließbar wäre. Im Gegenteil findet dieser Anschluss offenkundig in einem Modus satirischer Subversion statt, dessen epistemologisches und poetologisches Potenzial im Folgenden vom Ende des SimplicissimusRomans über den vermeintlichen Gegenentwurf der Kreuzinsel-Ökonomie (Continuatio) bis hin zum mehrfach gebrochenen Ökonomiediskurs des SpringinsfeldRomans ausgelotet werden soll. Als Schauplatz der ökonomischen Etablierung des Simplicissimus und topologisches Verbindungsglied zwischen den simplicianischen Schriften (u. a.
178 W I/1: Simplicissimus, S. 435. 179 Ebd., S. 460 f.
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Simplicissimus Teutsch, Courasche, Springinsfeld, Ewig=währender Calender, Rathstübel Plutonis) spielt der Sauerbrunnen in Grimmelshausens Œuvre eine herausragende Rolle. Dass es sich dabei um einen höchst ambivalenten Ort handelt, hat die Forschung festgestellt.180 Wie die „viehische Begierde“ 181 des Simplicissimus zeigt, der nach seinen Affären mit der Courasche und ihrer Magd aus Wollust eine junge Bäuerin heiratet, um sich mit ihr, einer Verschwenderin und Buhlerin, um ein Haar in den Ruin zu wirtschaften, ist der Sauerbrunnen der Sphäre der luxuria zugeordnet. Diese Markierung birgt bei Grimmelshausen allerdings keineswegs nur negative Implikationen. Vielmehr ist es gerade die ‚Lustigkeit‘ des Ortes – Simplicissimus betont, man könne wohl nirgends eine „lustigere Wohnung außsehen […] als bey dem Sauerbrunnen“ –,182 die ihn zum Brennpunkt ökonomischer und literarischer Prosperität macht. Beide Standortfaktoren, die Ökonomie und die unterhaltende Literatur (metonymisch vertreten durch die delectatio-Topik), werden vom moralisch orientierungslosen, aber über Geld verfügenden Simplicissimus zur Begründung seiner Entscheidung herangezogen. So erkennt er, dass das „Revier“ rund um den Sauerbrunnen „ein edel Land“ ist, „das sich gleichwol diß grausame Kriegs-wesen hindurch gegen andern Orten zu rechnen / im Wolstand und Flor befunden“.183 Stellt dies ein Gelingen des Plans in Aussicht, sich durch den Kauf des Hofs „einen geruhigen Herrn-Handel mitten unter den Bauren [zu] schaffen“,184 so soll die besondere Beschaffenheit des Ortes den Müßiggänger davor bewahren, in Langeweile und Melancholie zu verfallen. Der Sauerbrunnen mit seinen „zuund abräisenden Bad-Gäst“, so Simplicissimus, lasse „gleichsam alle 6. Wochen ein neue Welt sehen“, bei deren Betrachtung er sich „einbilden“ könne, „wie sich der Erdkräis von einem Saeculo zum andern verändert.“ 185 Die Anspielung
180 Dazu Siegfried Schneiders: ‚Edel Ingenium‘ und Melancholie. Zur Schreibmotivation Grimmelshausens. In: Simpliciana 10 (1988), S. 61–78, hier bes.: S. 64–66; ders.: Literarische Diätetik. Studien zum Verhältnis von Literatur und Melancholie im 17. Jahrhundert. Aachen 1997, S. 120–176; Peter Heßelmann: ‚Es gung so Kurraschy daher!‘ – Die Literarisierung der Griesbacher und Peterstaler Sauerbrunnen bei Moscherosch und Grimmelshausen. In: Simpliciana 25 (2003), S. 187–220; Misia Sophia Doms: ‚Alkühmisten‘ und ‚Decoctores‘. Grimmelshausen und die Medizin seiner Zeit. Bern u. a. 2006 (Beihefte zur Simpliciana 3), hier bes. S. 59–61; Franz M. Eybl: Informalität als Bedingung von Unterhaltung? Grimmelshausens ‚Rathstübel Plutonis‘. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. von Franz M. Eybl, Irmgard M. Wirtz. Bern u. a. 2009 (Beihefte zur Simpliciana 4), S. 123–146. 181 W I/1: Simplicissimus, S. 473. 182 Ebd., S. 474. 183 Ebd., S. 473. 184 Ebd., S. 473 f. 185 Ebd., S. 474.
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auf den Akt des Lesens und das Programm einer auf delectatio und curiositas setzenden Literatur sind deutlich. Dort, wo die Figur sich häuslich niederzulassen plant, erhält der sekundäre Welterfahrungsdiskurs der Literatur als Surrogat eigener Erfahrung eine neue Bedeutung. Bevor es im späteren Leben des Simplicissimus zu diesem Wechsel jedoch tatsächlich kommen wird – man denke an den Status der Figur im Springinsfeld, dem Ewig=währenden Calender, dem Rathstübel Plutonis oder auch dem zweiten Teil des Vogel-Nest-Romans –, bietet die Erzählung um die Gründung des simplicianischen Hauses vorerst genug sujethaftes Potenzial, um eine Stillstellung des pikarischen Narrativs zu verhindern. Wird Simplicissimus durch die Heirat des von ihm begehrten „BaurnGretlein[s]“ 186 und den Erwerb des Bauernhofes zum Hausvater, so ist dies eine Rolle, der er offensichtlich nicht gewachsen ist. Ein Blick auf die entsprechenden Abschnitte bei Coler genügt, um das Ausmaß seines Scheiterns zu erkennen. Von den drei Hauptaufgaben des Hausvaters, die Coler nennt – die Vermeidung von Lastern, die Sorge um Erhalt und Vermehrung des Besitzes sowie die Herstellung von Zucht und Ehrbarkeit –,187 erfüllt Simplicissimus keine einzige. Zwar legt er mit seinen Investitionen mächtig vor – mit dem von seinen ‚Brüdern‘ ererbten Geld wird der Bauernhof um einen „schönen neuen Bau“ erweitert, außerdem werden „über dreissig Stück Vieh“ angeschafft, „weil man so viel das Jahr hindurch auff demselben Gut erhalten konte“; seine Einschätzung, er habe „alles auff das beste“ bestellt, wird durch die folgende Handlung jedoch geradewegs durchkreuzt.188 Auf die Erkenntnis, von seiner Frau die Hörner aufgesetzt zu bekommen, beginnt Simplicissimus, selbst wieder „grasen zu gehen“.189 Unaufhaltsam spitzt sich die Lasterverfallenheit der Figuren zu: Der Haushalt verkommt, durch Verschwendung schmilzt der Besitz, Simplicissimus zeugt ein Kind mit der Hausmagd, während seine Frau einen Sohn vom Hausknecht erwartet. Nachdem er auf diese Weise vorübergehend drei Kinder sein eigen nennt – das seiner Frau, das seiner Magd und das ihm von der Courasche untergeschobene –, können nur noch Tricks und das Glück helfen. So hängt Simplicissimus das leibliche Kind, das er mit der Magd hat, einem ehemaligen Vereh-
186 Ebd., S. 473. 187 So die Liste in den ab 1645 erscheinenden Mainzer Ausgaben des Hausbuchs. Vgl. Johann Coler: Oeconomia ruralis et domestica. Darin das gantz Ampt aller trewer Hauß-Vätter / HaußMütter / beständiges und allgemeines Hauß-Buch / vom Haußhalten / Wein=Äcker=Gärten= Blumen und Feld=Bau / begriffen [...]. Mainz: Nicolaus Heyl 1645, S. 2. In früheren Ausgaben der Coler’schen Ökonomik ist der Passus in dieser Form zwar nicht enthalten; das entsprechende Wissen von den Aufgaben des Hausvaters findet sich dort aber natürlich auch schon. 188 W I/1: Simplicissimus, S. 474. 189 Ebd., S. 475.
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rer derselben an und schickt die Magd aus dem Haus; das nicht-leibliche Kind, das seine Frau austrägt, fällt deren Alkoholsucht zum Opfer, an der schließlich auch die Frau selbst stirbt.190 Übrig bleibt das Kind von Courasches Magd:191 der junge Simplicius, der als „natürlicher Sohn“ 192 des Simplicissimus einen festen Platz in der simplicianischen Familie bekommen wird. Wie in den Romanen Alemáns und Albertinus’ impliziert die bis ins Absurde getriebene Chaotisierung der Genealogie auch bei Grimmelshausen eine radikale Alterität der sozialen Formation, die dem Leser vorgeführt wird. Die simplicianische Familie, die mit dem Einzug Knans und Meuders im folgenden Kapitel (Buch V, Kap. 10) komplettiert wird, ist von so vielen Brüchen gekennzeichnet, dass zumindest auf den ersten Blick nichts verwunderlich scheint als ihre Stabilität. Obwohl weder der Stand, noch die Abstammung, ja, nicht einmal eine erkennbare moralisch-sittliche Agenda die Familienmitglieder miteinander verbinden, besitzt das ökonomische System, in dem sie ihren Ort des Eigenen finden, eine frappierende Dauerhaftigkeit. Der Hof des Simplicissimus im Schwarzwald besteht nicht nur während der kuriosen Russland-Reise der Figur am Ende des Simplicissimus-Romans (Buch V, Kap. 20–22), sondern auch über dessen Eremitagen auf dem Mooskopf (Buch V, Kap. 24) und der Kreuzinsel (Continuatio) hinaus fort.193 Zu Beginn des Springinsfeld-Romans wohnt der Insel-Rückkehrer wieder bei seinem Knan und der Meuder; im Rathstübel Plutonis, der an den Springinsfeld eng anschließenden Sprossschrift über die ‚Kunst reich zu werden‘, trifft sich die aus den simplicianischen Figuren und einigen Kurgästen bestehende Runde auf dem Hof des Simplicissimus, der spätestens hier zum locus poeticus des simplicianischen Œuvres erhoben wird.194 Mit seiner Entscheidung, Knan und Meuder in sein Haus zu holen, vollzieht Simplicissimus einen Schritt, der ihn von der umfassenden Sorgepflicht des
190 Vgl. ebd., S. 482. Simplicissimus’ Reaktion auf den Tod seiner Frau und des Kindes belegt den derb-satirischen Charakter, der die gesamte Passage kennzeichnet. Ihr Ableben sei ihm so „zu Hertzen“ gegangen, „daß ich mich fast kranck hierüber gelacht hätte.“ 191 Dass es sich bei diesem Kind nicht um das der Courasche, sondern das ihrer Magd handelt, mit der Simplicissimus ebenfalls verkehrte, wird im Springinsfeld-Roman aufgedeckt. Vgl. W I/2: Springinsfeld, S. 183. 192 Ebd., S. 206. 193 Dass das Leben auf dem Hof auch ohne den am Ende der Welt weilenden Simplicissimus weiter geht, zeigt der Ewig=währende Calender. Christian Brandsteller, dessen Herausgeber, berichtet, dass er Meuder getroffen habe, die ihm von Simplicissimus’ Reise in die Neue Welt erzählt habe. Vgl. EC, S. 94. 194 Zum Rathstübel Plutonis als poetologischer Text vgl. Nicola Kaminski: ‚Gespräch über die Poesie‘? Der ‚Abentheurliche Simplicissimus‘ aus der Perspektive von Grimmelshausens ‚Rathstübel Plutonis‘. In: Simpliciana 29 (2007), S. 285–300.
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Hausvaters entlastet – und gerade dadurch das ‚Aufnehmen‘ des Haushalts befördert. In kurzer Zeit, so Simplicissimus, hätten Knan und Meuder den Hof auf Vordermann gebracht, so dass es ihm möglich geworden sei, seine Zeit müßig zu vertreiben, ohne um seinen Besitz fürchten zu müssen: [D]iese beyde alte Eheleut / welche in re rusticorum nit wol ihres gleichen mehr hatten / gossen meine Haußhaltung gleich in einen andern Model / sie schafften von Gesind und Viehe ab was nichts nutzte / und bekamen hingegen auff den Hof / was etwas eintrug; Mein alter Knan sampt meiner alten Meuder vertrösteten mich alles Guten / und versprachen / wenn ich sie nur hausen liesse / so wolten sie mir allweg ein gut Pferd auff der Streu halten / und so viel verschaffen / daß ich zu Zeiten mit einem ehrlichen Bidermann ein Maaß Wein trincken könnte […]. Auff solche Weis wurde mein Bauren-Hof in kurtzer Zeit mit allerhand nothwendigen Vorrath / auch groß und kleinem Vieh genugsam versehen / also daß er in Bälde vor den besten in der gantzen Gegend geschätzt wurde / ich aber gieng darbey spazieren / und wartet allerhand Contemplationen ab / dann weil ich sahe / daß meine Göth mehr auß den Jmmen an Wachs und Honig vorschlug / als mein Weib hiebevor auß Rindvieh / Schweinen und anderm eroberte / konte ich mir leicht einbilden / daß sie im übrigen nichts verschlaffen würde.195
Der positive Effekt, den Simplicissimus’ Verzicht auf hausväterliche Verantwortung und Kontrolle hat, kann vor dem Hintergrund der oeconomia-Tradition durchaus überraschen. In Colers Ökonomik etwa erscheint das seit der Antike etablierte diligentia-Ideal noch so fest an die Figur des Hausvaters gebunden, dass man von einem Kernelement des Ökonomiewissens des Textes sprechen kann. Der pater familias, so heißt es bei Coler, müsse seine Augen in allen Winckeln haben / vnnd auff die gantze Nahrung sehen / vnd wie Socrates pfleget zu sagen auff den Abend der letzte zu Beth / vnnd deß Morgens der erste wider herauß seyn […]. Ein Haußwirth soll sich nicht schämen / alle Tage Morgens vnd Abends in alle Ställe selbst herum zu gehen / vnd zu besehen / wie sein Vieh / sondern aber die Rosse / stehen […]. Summa, Domini diligentia bonos facit ministros, sagt Aristoteles in Oeconom. Nisi enim Paterfamilias diligentiæ exempla præbuerit, frustra vicarios diligentes expectabit.196
Dass im fünften Buch des Simplicissimus wie auch in den späteren Schriften der von diesem Punkt aus eigentlich zu erwartende satirische Rückschlag ausbleibt – in der traditionellen Moralsatire würde der leichtsinnige Hausbesitzer Simplicissimus von den unbeaufsichtigten Bauern wohl bald eines besseren be-
195 W I/1: Simplicissimus, S. 483 f. 196 Coler: Oeconomia ruralis et domestica, S. 3. Ich zitiere hier ausnahmsweise nochmals aus der Mainzer Neuauflage, da diese das diligentia-Moment an der betreffenden Stelle besonders hervorhebt. Entsprechende Stellen ließen sich wohl aber auch in den Wittenberger Ausgaben finden.
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lehrt werden –, scheint mit den Vorgaben Colers also kaum vereinbar. Das heißt aber nicht, dass Grimmelshausen an dieser Stelle nicht trotzdem auf ein bestimmtes ökonomisches Wissen referiert. Nur findet sich dies eben nicht bei Coler bzw. in der aristotelischen oeconomia-Tradition, sondern bei einem zeitgenössischen Kritiker dieser Tradition. Es handelt sich um Johann Balthasar Schupp, der in seiner satirischen Dissertation Von der Kunst Reich zuwerden (1656) – ironisch gebrochen, aber deswegen nicht weniger nachdrücklich – für einen praktisch-utilitaristischen Paradigmenwechsel in der gelehrten Behandlung der Ökonomie plädiert. Einer der zahlreichen Punkte, auf die er dabei zu sprechen kommt, betrifft die Frage nach der personalen Einheit von Wissen und Handeln im Haus. Nichts, so bemerkt Schupp spöttisch, sei der Einrichtung einer funktionierenden Ökonomie abträglicher als die „Polypragmosyne“.197 Wer erfolgreich wirtschaften wolle, möge von der Vorstellung ubiquitärer Anwesenheit und unablässiger Tätigkeit Abstand nehmen und lernen, die anfallenden Aufgaben an die richtigen Personen zu delegieren: Derowegen solle dar allein der sachen / würckungen / vnd Personen wissenschafft / herkommen / damit du […] der Personen / welcher Arbeit du brauchest grössere Wahl machest / auch alles geschickter vnd sicherer disponiren vnd administriren wissest.198
Die Stelle ist nicht nur deshalb interessant, weil sie mit dem Hinweis auf die dispositio eine rhetorisch-poetologische Begrifflichkeit bemüht, die im intertextuellen Dialog gewissermaßen zum Leuchten gebracht wird. Auch besitzt sie Aussagewert für das Verfahren, das Schupps Text selbst anwendet, wenn er dem Leser im Rahmen einer menippeischen Traumvision ein buntes Sammelsurium von Figuren anbietet, die als ökonomische Akteure im engeren und weiteren Sinne ihre Strategie des Reichwerdens vorstellen. Mit Blick auf die Gründung des simplicianischen Hauses verdient dabei vor allem die Figur des Bauern Aufmerksamkeit, der in einer auf Erfahrungswissen basierenden Rede die Vorzüge der Land- und Viehwirtschaft darzulegen sucht.199 Anders als es
197 Johann Balthasar Schupp: Von der Kunst Reich zuwerden. Bey disen zwar wolfailen / aber doch Geldmanglenden Zeiten / nutzlich zulesen / vnd zugebrauchen […]. Augsburg: Johann Wehen 1656, S. 82. Grimmelshausen kennt Schupps Schrift. In seinem Rathstübel Plutonis, das im Untertitel auf den Haupttitel derselben verweist, spielt der Bezug auf Schupp eine wichtige Rolle. Vgl. Eybl: Informalität, bes. S. 142–144. 198 Schupp: Von der Kunst Reich zuwerden, S. 82. 199 Dass diese Figur in ihrer Kritik an den Gelehrten dabei zu einem möglichen Vorbild für die Bauerngespräche im Ewig=währenden Calender werden, in denen Simplicissimus auf die ebenfalls sehr selbstbewusst aufretenden Bauernfiguren Knan und Meuder trifft, sei an dieser Stelle schon erwähnt. Auf die besonderen ökonomischen Implikationen des simplicianischen Kalenders wird in einem Exkurs im Anschluss an dieses Hauptkapitel noch einzugehen sein.
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die Tradition seit Vergil vorsieht, hält er sich mit den Topoi der laus vitae rusticae dabei nicht lange auf. Im Mittelpunkt seiner Argumentation steht vielmehr der Nutzen, den die Investition in die Arbeit von Bauern für reiche Geldgeber hat: Wann reiche Leut sich auff den Ackerbaw vnd Bauren gewin ergeben / pflegen sie vnzahlbare Reichthumb zusamen zu häuffen. […] Jch kenne ein Freyherrn / welchem die grösten Einkommener [sic!] von dem Baurenwesen herkommen […].200
Bringt man die Aussagen des Schupp-Textes zusammen, so legen diese eine andere Bewertung der Strategie des Simplicissimus nahe. Sein Rückzug aus dem aktiven Geschäft scheint in dieser Perspektive gerade nicht fahrlässig, findet er doch im Wissen darum statt, dass Knan und Meuder, die er für sich arbeiten lässt, „in re rusticorum nit wol ihres gleichen mehr hatten“.201 Seine Beobachtung, dass die „alte Eheleut“ die „Haußhaltung gleich in einen andern Model [gossen]“, bestätigen ihn in seiner „Personen wissenschafft“ (Schupp). Und auch wenn er damit, den bescheidenen Maßstäben des Schwarzwälder Bauernhofes gemäß, natürlich keine „unzahlbare Reichthumb“ anhäuft, reicht es doch für jene Option auf ein Leben in Muße, die für die Funktion des Erzählens zwischen Invention und Stillstellung von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Wie schon bei Schupp, dessen Erzähler früh einsehen muss, dass die überlieferten moralisch-religiösen Konzepte mit dem Streben nach Reichtum nicht vereinbar sind – was ihn von einer tendenziellen Affirmation desselben nicht abhält –,202 steht die Entfaltung der ökonomischen Strategie freilich aber auch
200 Schupp: Von der Kunst Reich zuwerden, S. 50. Die Stelle bei Schupp ist übrigens in weiten Teilen ein übersetztes Zitat aus Francis Bacons Sermones fideles ethici, politici, oeconomici (Nr. 34, ‚De divitiis‘), der lateinischen Übersetzung seiner einflussreichen, 1625 in erweiterter Fassung erschienenen Essayes or Counsels, Civill and Morall. Vgl. Walther Wolfgang Zschau: Quellen und Vorbilder in den ‚Lehrreichen Schriften‘ Johann Balthasar Schupps. Halle 1906, S. 86 f. Schupps Schrift war 1648 zunächst auf Latein erschienen, weswegen der Text sich wohl auf die lateinische Version der Essays Bacons bezieht. 201 W I/1: Simplicissimus, S. 483. 202 Seine diegetischen Adressaten, eine Gruppe von Kriegsflüchtlingen sowie einige Hirten, bestehen auf dem Unterschied zwischen Erfahrung und überliefertem Moralwissen und zwingen den Erzähler damit, seine philosophische Agenda in Richtung der ökonomischen Sachen bzw. des Geldes zu verschieben: „Aber es kundten weder die Hirten / noch Schulmaister fassen was ich Philosophierte. Sie hetten mich lieber angehört / wann ich von Reichsthaler vnd Ducaten geredet hette [...].“ Schupp: Von der Kunst Reich zuwerden, S. 15. In seinem Rathstübel Plutonis betont Grimmelshausen dieselbe Differenz, spitzt sie allerdings zu einem Konflikt zwischen klugem Handeln und christlichem Gewissen zu. So lautet der erste Satz, den Simplicissimus zur Gesprächsrunde beiträgt: „Wer sich ernstlich und einmahl vor allemahl resolvirt hat / reich zu werden / und in solchem Vorsatz beständig verharren will / der muß das Gewissen nicht genaw beobachten.“ W I/2: Rathstübel, S. 662.
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bei Grimmelshausen unter moralischer Spannung. So gerät Simplicissimus als Disponent von vornherein in einen moralischen Widerspruch, wenn er einerseits erkennt, dass die besondere ökonomische Tauglichkeit seiner ‚Eltern‘ Knan und Meuder aus deren Geiz resultiert, andererseits gerade diese Einsicht zur Bestätigung seiner klugen Personenwahl heranzieht: Jch spürete auch gleich / was vor Leut meinem Hof vorstunden / mein Petter bestellte mit dem Gesind den Feld-bau / schacherte mit Viehe und mit dem Holtz- und Hartz-Handel ärger als ein Jud / und meine Göth legte sich auff die Viehzucht / und wuste die Milchpfennig besser zu gewinnen und zusamm zu halten / als zehen solcher Weiber / wie ich eins gehabt hatte.
Die satirische Verschiebung der Perspektive auf die alten Bauern, die im Vergleich des Knan mit dem ‚Schacher-Juden‘ kulminiert, hat ihre Basis im ökonomischen Diskurs der Zeit. So findet sich bei Coler eine Beschreibung der alten Leute, in der er diese als „attentiores ad rem, genaw und karg“ bezeichnet und damit als ideale, weil sorgfältige und sparsame Hausgenossen preist.203 Dass Simplicissimus an den Alten dieselben Eigenschaften hervorhebt, dabei jedoch die von Coler erzeugte Illusion einer moralischen Integrierbarkeit der senilen ‚Kargheit‘ durchkreuzt, zeigt nicht nur allgemein, wie unsicher die Demarkationslinie zwischen ökonomischen Tugenden und menschlichen Lastern im praktisch-philosophischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts ist. Herausgestellt wird damit vielmehr auch die Unüberbrückbarkeit der Differenz von moralischreligiösem Wissen und realökonomischem Handeln im simplicianischen Kontext. Noch im Rathstübel Plutonis werden die Bauern als Geizfiguren vorgestellt, die sich bei ihrem Auftritt – sie kommen bezeichnenderweise „hinder Simplicissimi Hauß und Stallung“ hervor – mit dem Juden Aron um den Preis für „ein par Mast-Ochsen“ streiten.204 Zwar schlichtet Simplicissimus den Streit in diesem Fall, indem er dem Juden den billigeren Preis zugesteht.205 Insofern der
203 Coler: Calendarium Perpetuum Et Sex Libri Oeconomici, S. 207. 204 W I/2: Rathstübel, S. 659. Dieser Streit und die Klage Arons über das ‚teure Geld‘ führen im Anschluss dazu, dass die Figuren über die ‚Kunst reich zu werden‘ diskurrieren – ein deutlicher Bogenschlag zurück zu Schupp, der damit für nennenswerte Teile des Diskurses ums simplicianische Haus Pate steht. In der Gesprächsrunde selbst geben die Bauern Exempel für ihre wachsame, sorgfältige und ‚karge‘ Gesinnung. So reproduziert der Knan das alte diligentiaGebot, wenn er sagt, dass man „frühe und spaht hinden und vornen daran seyn [muß] / damit man nicht allein alles zum Nutzen richte / sondern auch verhüte / daß nichts verwarloßt werde / und zu grund gehe“. Komplementär plädiert die Meuder für absolute Sparsamkeit: „Man soll einen jeden Häller hundert: und einen jeden halben Batzen tausendmahl umbkehren / eh man ihn außgibt / und jederzeit dahin sehen / daß die Einnam zweymal grösser sey als die Außgab.“ Ebd., S. 662 f. 205 Vgl. ebd., S. 659.
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Text zugleich aber klar macht, dass der Hausherr seine müßige Abstinenz vom ökonomischen Tagesgeschäft keineswegs aufgegeben hat, kann von einer systematischen moralischen Korrektur der Laster der Alten keine Rede sein. Punktuell – und in diesem Fall noch dazu verdächtig publikumswirksam206 – mag der Hausherr Simplicissimus eine Übereinstimmung von moralischem Wissen und ökonomischer Praxis herstellen können; strukturell bleibt er auf die Praktiken der geizigen Bauern angewiesen, ohne die sein Hof niemals zum „besten in der gantzen Gegend“ 207 hätte werden können. Welche Rückschlüsse auf die Erzählfunktion, genauer: auf die Autorität des Simplicissimus als Erzähler lassen diese Einsichten zu? Wie Dieter Martin festgestellt hat, wird zu Beginn des Simplicissimus-Romans das simplicianische Haus als Ort des Erzählens nahegelegt, bevor in der Continuatio eine „nachträgliche Standortfixierung“ der simplicianischen Erzählinstanz auf der Kreuzinsel stattfindet.208 Da die beiden (Selbst-)Verortungen des Erzählers Simplicissimus logisch nicht überein zu bringen sind, offenbar aber gerade so von Grimmelshausen intendiert waren,209 stellt sich die Frage nach der inneren Beziehung der beiden Orte.210 Handelt es sich bei der einsamen, dem Simplicissimus als Eremitage dienenden Kreuzinsel um eine Art Gegen-Ort zum simplicianischen Haus? Und wenn ja, wie überzeugend ist die mit großem Aufwand betriebene Verschiebung der Erzählfunktion an diesen Ort? Kann Simplicissimus geglaubt
206 Wie auch der Springinsfeld – dazu gleich mehr – wirft das Rathstübel Plutonis die Frage nach dem ‚Self-Fashioning‘ der Simplicissimus-Figur auf. Wenn Simplicissimus hier vor versammelter Runde seine Großzügigkeit und christlich-moralische Zuverlässigkeit dokumentiert, kann dies angesichts der Ironiesignale des Textes als Versuch der Figur gedeutet werden, von den schütteren Stellen ihres moralischen Ich-Entwurfes abzulenken. Schon das erwähnte Auftauchen von Knan, Meuder und dem Juden Aron ‚hinter‘ Simplicissimus’ Haus und Stall gibt dem Leser den unmissverständlichen Hinweis, hinter die Fassade der Selbstinszenierung der Figur auf die tatsächlichen Bedingungen der simplicianischen Ökonomie zu blicken. 207 Wie schon zitiert: W I/1: Simplicissimus, S. 484. 208 Vgl. Martin: ‚Ab ovo‘ oder ‚in medias res‘, S. 66. 209 Dies macht Martin plausibel, indem er zeigt, dass die Stelle zu Beginn des Romans, die die Stimmigkeit der Kreuzinsel-Erzählung infrage stellt, in der postumen Ausgabe C1 purgiert ist. Offenbar hat man sich bereits Ende des 17. Jahrhunderts an der Inkohärenz der Erzählfunktion gestört. Vgl. ebd., S. 65. 210 Diese Frage zielt auf einen bisher nicht beachteten Aspekt der erstmals von Gersch unternommenen Deutung der Continuatio als perspektivisch mehrfach dimensionierten Kommentar zum Simplicissimus-Roman. Vgl. Hubert Gersch: Geheimpoetik. Die ‚Continuatio des abentheuerlichen Simplicissimi‘ interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman. Tübingen 1973 (Studien zur deutschen Literatur 35). Zu den intratextuellen Vernetzungen zwischen den Texten vgl. außerdem Jost Eickmeyer: Intratextuelle Beziehungen zwischen Grimmelshausens ‚Continuatio‘ und ‚Simplicissimus Teutsch‘. In: Simpliciana 27 (2005), S. 103–135.
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werden, wenn er sich von der Kreuzinsel aus (und noch danach) als geläuterter, frommer Christ darstellt? Was beim Blick auf die Continuatio auffällt – und auch der Forschung nicht entgangen ist –, ist der Versuch des Simplicissimus, sein im fünften Buch moralisch alles andere als eindeutiges Verhältnis zum Geld zu klären.211 Paradigmatisch hierfür steht der im Vergleich zur Ständebaumvision unterkomplex anmutende Traum vom Geizigen Avarus und dem Verschwender Iulus, an dessen Ende Simplicissimus zur Erkenntnis kommt, dass „die Freygebigkeit leichtlich zu einer verschwendung: und die gesparsambkeit leichtlich zum geitz werden könne / wann die weißheit nit vorhanden / welche freygebigkeit und gesparsambkeit durch mässigkeit regiere und im Zaum halte“.212 Was mit dieser altbekannten lastertypologischen Einsicht angesichts der im Roman geschilderten Paradoxien des Selbsterhalts und der ‚klugen‘ ökonomischen Praxis gewonnen sein soll, bleibt indes fraglich. Auf die Rolle der Weisheit als Regulativ im Bereich ökonomischen Handelns mag der Leser sich einlassen; wer unter den in Grimmelshausens Text geschilderten Figuren – und zumal: ob Simplicissimus – diese Weisheit verkörpert, steht allerdings dahin. Die Widersprüche, in die sich die Figur zu diesem Zeitpunkt bereits verwickelt hat – und die nach ihrer Rückkehr von der Kreuzinsel eben keineswegs behoben sein werden –, scheinen jedenfalls tiefgreifend genug, um der Traumerzählung zu Beginn der Continuatio eine eher beschränkte epistemologische Reichweite zu attestieren: Sie ruft in Erinnerung, wie die moralphilosophische Tradition mit dem Problem der Regulation menschlichen Besitzstrebens umgegangen ist; valide Antworten auf die über diese Tradition hinausreichenden Fragen, die Simplicissimus’ Erzählung aufwirft, liefert sie nicht. Anstatt den Rekurs auf überliefertes Wissen im Rahmen der Traumvision also vorschnell zum Indiz für einen an dieser Stelle einsetzenden moralischen Reifeprozess des Simplicissimus zu erklären, sollte die im Kontext sich erweisende Dysfunktionalität dieses Wissens eher Anlass geben, über das Gelingen der moralisch-religiösen Umcodierungsmanöver nachzudenken, die Simplicissimus’ Erzählen in der Continuatio kennzeichnen. Dies betrifft auch und vor allem die Eremitage auf der Kreuzinsel selbst. Schon Dieter Breuer hat darauf hingewiesen, dass die „Selbstheiligung des Simplicissimus“ am Ende seines Lebensberichts aus theologischer Sicht „in ein ironisches Zwielicht“ gerät, da sich
211 So hat Breuer die These aufgestellt, dass Simplicissimus es „erst in der Cont[inuatio]“ schaffe, sich „von seinem [des Geldes, S. Z.] Bann zu befreien“ – eine These, die es im Folgenden mit Blick auf die inneren Widersprüche in der frommen Selbstinszenierung der Figur zu widerlegen gelten wird. Vgl. W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar, S. 895. 212 W I/1: Continuatio, S. 602 f.
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„christliche Nächstenliebe“ auf einer einsamen Insel nicht praktizieren lasse.213 Entsprechend ambivalent stellt sich auch der ökonomische Diskurs dar, den die Continuatio präsentiert. Im Erzählmodus der ‚Selbstheiligung‘ verschwimmt die Scheidelinie zwischen göttlicher Erwähltheit und blankem Eigennutz des Einsiedlers. Indem sich Simplicissimus wie ein anderer Adam auf der Kreuzinsel einrichtet und den Überfluss göttlicher Gaben genießt, gedenkt er zwar der christlichen Mitmenschen, die andernorts Not leiden: [I]ch machte mir die Güter und Gaben dises Orts zwar wol zunutz / mit hertzlichen Dancksagungen gegen GOtt / als dessen Güte und Almacht allein mir solche so reichlich bescheret hatte; beflisse mich aber darneben / das ich deren Uberfluß nicht missbrauchte / ich wünschte offt daß ehrliche Christen Menschen bey mir waren / die anderwerts Armut und Mangel leyden müssen / sich der gegenwertigen Gaben GOttes zugebrauchen […].“ 214
Wie sich mit dem in der Relation des Kapitäns Cornelissen erzählten Eintreffen des holländischen Schiffs jedoch herausstellt, unternimmt Simplicissimus keinerlei Anstrengungen, die Not der Mitmenschen tatsächlich zu lindern. Im Gegenteil verordnet er, dass der Kapitän Cornelissen die Lage der Insel im Ozean verschweigt,215 wodurch der fromme Wunsch, „daß ehrliche Christen Menschen bey mir waren / die anderwerts Armut und Mangel leyden müssen / sich der gegenwertigen Gaben GOttes zugebrauchen“, geradewegs ad absurdum geführt wird. Hinzu kommt, dass die Abschiedsgeschenke des Holländers, die Simplicissimus zwar nicht erbittet, aber doch annimmt – Axt, Schaufel, Hacke, Stoff, Messer, Schere, Töpfe und Kaninchen –,216 an der Aufrichtigkeit der Genügsamkeitsbekundung in obigem Zitat zweifeln lassen. Schon durch den offensichtlichen Bezug auf die Gesellschaftsimprese der Fruchtbringenden Gesellschaft, die unter dem Motto ‚Alles Zu Nutzen‘ eine exotische Kulturlandschaft mit zahlreichen praktischen Produkten der Gesellschaftspflanze, der Kokospalme, zeigt,217 läuft die Erzählung am Ende der Continuatio auf ein ökonomisches Tableau im engeren Sinne zu. Die Frage, wozu Simplicissimus die nutzbringenden
213 Dieter Breuer: Grimmelshausen-Handbuch. München 1999, S. 77. Hinzu kommt das moralische Problem des Selbstlobs. Gerade die emphatisch-positive Rede von sich selbst dient in der Frühen Neuzeit als Medium, die moralische Fragwürdigkeit oder Torheit einer Erzählinstanz vorzuführen. Dazu Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire, S. 304. 214 W I/1: Continuatio, S. 673 f. 215 Ebd., S. 690. 216 Vgl. ebd., S. 698. 217 Vgl. die Abbildung in Fruchtbringende Gesellschaft. Der Fruchtbringenden Gesellschaft geöffneter Erzschrein. Das Köthener Gesellschaftsbuch Fürst Ludwigs I. von Anhalt-Köthen 1617–1650. 3 Bde. Hg. von Klaus Conermann. Bd. 1: Der Fruchtbringenden Gesellschafft Vorhaben / Nahmen / Gemählde Vnd Wörter. Weinheim 1985, Titelkupfer.
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Dinge braucht, wenn Gott ihm die „Gaben und Güter“ auf der Kreuzinsel doch „so reichlich bescheret“, dass er keine Not leiden muss, bleibt dabei ebenso unbeantwortet wie der weitere Handlungsverlauf, die von diesem Punkt aus zu erwartende ökonomische Funktionalisierung der Eremitage, unerzählt bleibt.218 Dass die vom Autor wohl ungewollten Entlarvungseffekte der Relation erzähltechnisch dabei einen anderen Status haben als die Selbstaussagen des Simplicissimus, braucht kaum der Erwähnung. Mitten in der Continuatio vollzieht Grimmelshausen den Übergang vom ‚Ich‘ zum ‚Er‘ des Simplicissimus und liefert damit nicht nur eine höchst originelle Antwort auf das Kontinuabilitätsproblem pikarischer Narration,219 sondern eröffnet seinem Text auch die Möglichkeit, perspektivische Differenz zu entfalten. Die Folge ist, dass das Programm der frommen Selbstinszenierung, das Simplicissimus auf der Kreuzinsel entwickelt, in seiner Brüchigkeit immer deutlicher beobachtbar wird. Mit dem Kontrollverlust über den Diskurs von seiner Person wird Simplicissimus vor die Herausforderung gestellt, die eigene Agenda möglichst auch in den Erzählungen anderer Figuren so zu verankern, dass die Einheitlichkeit des Wissens von ihm als „schlimme[m] Gesell“, der „dannoch die Gnad von GOtt gehabt“ und gerade deswegen anderen den rechten Weg weisen kann, gewahrt bleiben kann.220 Verhandelt wird der unsichere Status der Figur zwischen simplicianischem Haus und Kreuzinsel dabei im Springinsfeld-Roman, dessen Handlung nach der mysteriösen Rückkehr des Simplicissimus beginnt. Was von diesem plötzli-
218 Auf die intertextuellen Spannungsverhältnisse, unter denen Grimmelshausens InselErzählung damit steht, kann hier nicht weiter eingegangen werden. Einen Vergleich der Texte unternimmt Lars Kaminski: Die Kultivierung des Paradieses. Grimmelshausens ‚Creutz Jnsul‘ vor dem Hintergund des ‚PINESER Eylands‘ von Henry Neville. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2008 (Sonderband Text+Kritik), S. 136–148. 219 Weil sie in ein und demselben Text stattfindet, wird die Überschreitung der Grenze des Ichs bei Grimmelshausen zu einem kalkulierten poetischen Effekt. Der Lebensbericht des Simplicissimus endet mit einer frommen Bekräftigung der zuvor schon formulierten Weltabsage. In seinen letzten Worten legt der simplicianische Eremit dem Leser ein christliches Verständnis seines Lebens nahe. Dieser möge an seiner Erzählung ablesen, „daß so ein schlimmer Gesell wie ich gewesen [!] / dannoch die Gnad von GOtt gehabt / der Welt zu resignirn, und in einem solchen Standt zuleben / darinnen er zur ewigen Glory zukommen / und die seelige Ewigkeit nechst dem heiligen Leyden deß Erlösers zu erlangen verhofft / durch sein seeligs ENDE.“ W I/1: Continuatio, S. 678. Durch die auf Neugier, kolonialer Ambition und ökonomischem Interesse basierende Perspektive des Kapitäns Cornelissen wird die fromme Abschlussgeste des Simplicissimus durchkreuzt und der Leser daran erinnert, dass es in der simplicianischen Diegese keine transzendenten, von den Paradoxien menschlicher Existenz unberührten Orte gibt. 220 Ebd.
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chen Wiederauftauchen und seinen Aktionen rund um die Seelenrettung Springinsfelds zu halten sei, wurde in der Forschung reichlich diskutiert. Der Vorschlag der älteren Interpreten, in ihnen ein simplicianisches Plädoyer für die tätige Nächstenliebe zu sehen, die der Kreuzinsel-Eremit habe vermissen lassen, wurde in neueren Untersuchungen aus guten Gründen in Zweifel gezogen.221 Namentlich Bozza und Kaminski konnten demnach zeigen, dass das Bemühen des Simplicissimus um das Seelenheil Springinsfelds nicht nur in verdächtiger Weise wirkungsmäßig vorkalkuliert erscheint, sondern auch durch mehr oder weniger subtil gesetzte Irritationssignale des Textes unterlaufen wird.222 Insofern dabei die strategische Handlungsposition des Simplicissimus als Herr des simplicianischen Hauses eine zentrale Rolle spielt, sei die dritte (und chronologisch letzte) Standortverschiebung der Figur im Folgenden ebenfalls noch in den Blick genommen. Schauplatz des Springinsfeld-Romans ist zunächst nicht das simplicianische Haus, sondern ein in einer größeren Stadt gelegenes Gasthaus, in das das simplicianische Personal – neben dem arbeitslosen Schreiber Philarchus Grossus von Tromerheim, der als Erzähler fungiert, sind dies Springinsfeld, Simplicissimus, der junge Simplicissimus, Knan und Meuder sowie ein Bauernknecht – nach einem Markttag einkehrt, um dort die Nacht zu verbringen. Philarchus, der von Simplicissimus am Ende des Romans „6. Reichsthaler“ 223 für seine Schreiberdienste erhält, erzählt, wie Simplicissimus seinen alten Kriegsgenossen Springinsfeld zunächst mithilfe der sogenannten Gaukeltasche den Weg zur christlichen Selbsterkenntnis weisen will und dies, wie Philarchus allerdings nur noch vom Hörensagen zu berichten weiß, am Ende auch erreicht:
221 Zu nennen sind hier zumal die Aufsätze Bozzas und Kaminskis, die sich kritisch auf den Forschungsstand bei Wiedemann, Meid und Breuer beziehen. Vgl. Conrad Wiedemann: Die Herberge des alten Simplicissimus. Zur Deutung des ‚Seltzamen Springinsfeld‘ von Grimmelshausen. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 33 (1983), S. 394–409; Meid: Grimmelshausen, S. 163 f.; Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 96–98; dagegen Maik Bozza: ‚Feingesponnen und grobgewirkt‘. Zu Grimmelshausens ‚Springinsfeld‘. In: Daphnis 31 (2002), S. 255– 278; Nicola Kaminski: ‚Jetzt höre dann deines Schwagers Ankunfft‘ oder: Wie der ‚abentheuerliche Springinsfeld‘ des ‚eben so seltzamen Simplicissimi‘ Leben in ein anderes Licht setzt. In: Grimmelshausen. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 2008 (Sonderband Text + Kritik), S. 173–201. 222 In diesem Sinne bemerkt Kaminski, dass Simplicissimus im Springinsfeld-Roman „an der Perfektionierung seines Heiligenscheins arbeitet, wozu einerseits ein ‚wunderbarer‘ Beweis seines tätigen Christentums erforderlich ist (die Bekehrung des bis zum Schluß unbußfertigen Springinsfeld), andererseits die Bezeugung durch einen Dritten, somit ein Hagiograph (Philarchus Grossus)“. Vgl. Kaminski: ‚Jetzt höre dann deines Schwagers Ankunfft‘, S. 188; ähnlich bereits Bozza: ‚Feingesponnen und grobgewirkt‘, S. 271. 223 W I/2: Springinsfeld, S. 294.
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[D]em Springinsfeld selbst aber lude er auff seinen Hoff / bey ihm außzuwinttern / beteuerte aber gegen mir gar hoch / daß er solches nicht seiner par hundert Ducaten halber thu / sondern zusehen ob er ihm nicht auff den Christlichen Weeg eines Gottseeligen Lebens bringen möchte / wie ich mir aber seithero sagen lassen [!] / so hat ihn der verwichne Mertz auffgeriben / nach dem er zuvor durch Simplicissimum in seinen alten Tagen gantz anders umbgegossen und ein Christlichs und bessers Leben zuführen bewögt worden; nahm also dieser abenteuerliche Springinsfeld auff des eben so seltzamen Simplicissimi Bauerhoff (als er ihn zuvor zu seinem Erben eingesetzet) sein letztes ENDE.224
Wie erwähnt, hat die Forschung auf Störsignale hingewiesen, die sich zumal in dieser Finalpassage des Romans reichlich finden.225 So ist zum einen auffällig, dass Philarchus von Simplicissimus dazu aufgefordert wird, auf sein Desinteresse am Besitz Springinsfelds hinzuweisen („beteuerte aber gegen mir gar hoch / daß er solches nicht seiner par hundert Ducaten halber thu“), sich im letzten Nebensatz aber doch nicht enthalten kann, die Erbregelung zwischen Springinsfeld und Simplicissimus zu erwähnen. Zum anderen kommt es zu einer Verschiebung des Adjektivs „seltzam“, das im Titel des Romans auf die SpringinsfeldFigur („Der seltzame Springinsfeld“), an dieser für die erbauliche Pointe der Erzählung entscheidenden Stelle jedoch auf Simplicissimus und seinen Bauernhof bezogen wird („auff des eben so seltzamen Simplicissimi Bauerhoff“). Damit rückt am Ende des Romans unter den Vorzeichen des Wunderlich-Alteritären („seltzam“) sowie des Geldes (Springinsfelds „par hundert Ducaten“ Erbe) die ökonomische Konstellation in den Blick, aus der heraus Simplicissimus sein karitatives Programm unternimmt. Sich in eine – an dieser Stelle eher verräterische – Kürze flüchtend, erläutert Philarchus nicht, was es heißt, im simplicianischen Haus „ein Christlichs und bessers Leben zuführen“. Klar ist aber, dass Simplicissimus im Springinsfeld um die Inkohärenz seines Selbstentwurfes als Träger moralisch-religiöser Weisheit weiß und diese durch den Kauf von Philarchus’ Perspektive zu kaschieren sucht. Deutlich wird dies im Text schon früher, etwa wenn Philarchus anlässlich des gemeinsamen Abendessens zu einem Lob der simplicianischen Familie anhebt. Im schroffen Gegensatz nicht nur zur Perspektive des fünften Buches sowie des Ewig=währenden Calenders,226 sondern auch zur Schilderung der Verhältnisse im Rathstübel Plutonis – dessen Handlung chronologisch nach Simplicissimus’ Rückkehr von der Kreuzinsel und auch nach der fiktiven Veröffentlichung des Springinsfeld-Romans liegt 227 – 224 Ebd., S. 294 f. 225 Vgl. Bozza: ‚Feingesponnen und grobgewirkt‘, S. 271–278; Kaminski: ‚Jetzt höre dann deines Schwagers Ankunfft‘, S. 185 f. u. 196. 226 Vgl. hierzu den Exkurs im Anschluss an dieses Kapitel. 227 Hierauf hat Kaminski hingewiesen: Simplicissimus setzt im Rathstübel Plutonis voraus, dass die anderen Figuren die Lebensgeschichte Springinsfelds bereits gelesen haben. Vgl. Kaminski: ‚Gespräch über die Poesie‘?, S. 287 f.
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zeichnet Philarchus ein Bild der Simplicianer, das, jedenfalls auf den ersten Blick, dem Ideal ökonomischer Ordnung entspricht: Wir machtens mit dem Nachtessen / wie oben gemeldet / nicht lang; bey welchem ich in acht nam / wie freundlich Simpl. seiner beyde alte: und diese hinwiederum ihn und seinen Sohn ehreten und tractirten; da sahe und verspürte man nichts als Lieb und Treu / und ob zwar ein Theil das ander aufs höchste respectirte / so merckte man doch bey keinem einige Forcht / sonder bey jedem blickte ein aufrichtige Vertreulichkeit herfür; der junge Simplicius wuste sich gegen allen am artlichsten zu schicken / und der BaurenKnecht / welches sonst plumpe Grobiani zu seyn pflegen / erzeigte mehr Zucht und Erbarkeit / als mancher eines andern herkommes / der einen eignen Praeceptorem gehabt mores zu lernen; so daß ich mich verwunderte / wie der ehemal gantz rohe und gottlos gewesene Simplicissimus seine Haushaltung auf einen solchen reputirlichen Fuß setzen: und seine so einfältige als grobe Hausgenossen zu solchen löblichen Sitten gewöhnen können […].228
Erscheint dem Leser die Überschwänglichkeit der Rede nicht an sich schon verdächtig – etwa wenn Philarchus meint, der „Bauren-Knecht“ habe es in Sachen „Zucht und Erbarkeit“ mit manchem Adligen aufnehmen können, und damit die inverse Perspektive der Simplicissimus-Exposition wiederaufnimmt –, so gibt spätestens die ins Extreme tendierende Darstellung des Wandlungsprozesses selbst Anlass zum Zweifel. Anstatt es beim Lob der guten Sitten zu belassen, entscheidet Philarchus sich dafür, den Leser an die Niedrigkeit der Figuren zu erinnern – die Bauern seien ehedem einfältige Grobiane und Simplicissimus selbst „gantz rohe und gottlos“ gewesen –, wodurch der Eindruck eines willkürlichen, in seiner Effekthascherei durchschaubaren Umcodierungsmanövers entsteht. Auf welchem Fundament dasselbe sich vollzieht (oder vollziehen soll), macht Philarchus dabei selbst deutlich, wenn er vom „reputirlichen Fuß“ spricht, auf den Simplicissimus das simplicianische Haus gestellt habe. Hinter den wohlfeilen Reden von der moralischen Erneuerung schimmert an dieser Stelle die eigentliche Währung von Philarchus’ Diskurs durch: die reputatio seines Auftraggebers Simplicissimus, der mit seiner „Anordnung“ 229 zum Verfassen der Springinsfeld-Vita eine durchaus eigennützige Agenda verfolgt. Dass an dieser Stelle die Thematik des ökonomischen Selbsterhalts der Figur(en) wieder ins Zentrum der Erzählung rückt, ist in dieser Hinsicht kaum verwunderlich.230 Wie um den einschlägigen Diskurszusammenhang zwischen
228 W I/2: Springinsfeld, S. 208. 229 So die Formulierung im Titel des Romans. W I/2: Springinsfeld, S. 155. 230 Es sei an dieser Stelle kurz erwähnt, dass auch das Leben des Philarchus selbst vom Kampf um den Selbsterhalt geprägt ist. So schildert der Romaneingang seinen Versuch, bei Hofe Anstellung zu finden. Als er dort scheitert, kommen ihm Zweifel an seiner Bestimmung als Schreiber: „Ach sagte ich / warumb haben dich doch deine Eltern nicht ein Handwerck:
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dem fünften Simplicissimus-Buch und der Erzählgegenwart des SpringinsfeldRomans herzustellen, fragt Springinsfeld seinen alten Freund gleich nach ihrem Wiedersehen, womit dieser „sich doch ernähre / und was sein Stand / Hand vnd Wandel wäre“.231 Es ist eine Frage, die auf allen Ebenen der Erzählung für Bewegung sorgt. Denn noch bevor Simplicissimus seine Ankündigung einlösen kann, Springinsfeld seinen Stand „sehen [zu] lassen ehe ein halbe Stund vergeht“, erreichen Knan und Meuder mit „zwey par außgemäste[n] Ochsen“ den Gasthof – eine besondere kompositorische Pointe des Textes, die durch Philarchus’ Hinweis auf den Ewig=währenden Calender intertextuell noch verstärkt wird.232 Lässt diese Pointe sich dahingehend deuten, dass das „Model“, in das das simplicianische Haus im fünften Buch des Simplicissimus-Romans gegossen wurde, grundsätzlich nach wie vor besteht, so fällt dem Hausherrn im Springinsfeld allerdings tatsächlich eine veränderte Rolle zu. Anstatt sich nämlich auf die Position des müßiggehenden ‚Herrn‘ zurückzuziehen, der die Bauern für sich arbeiten lässt, reklamiert Simplicissimus gegenüber Springinsfeld nun, selbst ein Arbeitender zu sein. Am Ende der berüchtigten Gaukeltaschen-Aufführung, die er zum Beweis seiner Fähigkeit, Geld zu machen, vor den Augen Springinsfelds auf dem Marktplatz der Stadt hält, besteht er darauf, das Geld ebenso verdient zu haben wie der Knan und die Meuder das ihrige mit dem Aufziehen und Mästen der Ochsen: „Meine beyde Alten haben die 4. Ochsen mit Mühe und Costen erziehen und ausmästen: ich aber auch laboriren müssen / bis ich die materiam verfertiget / daraus ich heut Gelt gelöst […].“ 233 Nicht nur, weil die Kunst, die er übt, offensichtlich außerhalb des Bereichs legitimer Erwerbspraktiken liegt – mit den Begriffen des ‚Laborierens‘ und der ‚Materie‘ deutet Simplicissimus gar einen alchemischen Hintergrund an –, sondern auch, weil sie die Maßstäbe der traditionellen ökonomischen Mehrwertbildung bei Weitem übersteigt – „da es an ein kauffens gienge“, notiert Philarchus, „hatte Simplicius beynahe nicht Hände genug Gelt einzunemmen“ –,234 fordert Simplicissi-
oder Tröschen / strohschneiden oder dergleichen so etwas lernen lassen / so hettest du ja jetzunder auch bey iedem Bauren Arbeit / und dörfftest nicht vor grossen Herren thun [sic!] stehen / ihnen zuschmaichlen?“ Ebd., S. 164 f. 231 Ebd., S. 194. 232 Ebd. Philarchus weist in diesem Zusammenhang auf das Frontispiz des Kalenders hin, auf dem die simplicianische Familie zu sehen ist: „[…] und als er [Simplicissimus, S. Z.] kaum das Maul zugethan hatte / kam sein Knan / und Meüder sambt einem starcken Bauren Knecht daher / welche zwey par außgemäste Ochsen vor sich trieben / und in Stall stelleten; Er verschaffte / daß besagte seine beyde Alte alsobalden aus der Kälte in die warme Stub gehen musten / welche in der Warheit aussahen / wie ihre Bilder auff Simpl: ewigem Calender darstellen […].“ Ebd. 233 Ebd., S. 201. 234 Ebd., S. 199.
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mus’ Parallelsetzung von oeconomia und Gaukeltaschenkunst den Leser dazu auf, die inneren Verhältnisse der simplicianischen Ökonomie aufs Neue zu hinterfragen. Wie schon im fünften Buch hilft ihm dabei ein Blick auf Schupps Kunst Reich zuwerden, in der sich eine Stelle finden lässt, die die wesentlichen Ingredienzien des simplicianischen Diskurses bereits enthält. Die Stoßrichtung scheint bei Schupp allerdings eine andere. Im Zusammenhang seiner Gelehrtenschelte kommt dessen Erzähler zu der Einsicht, dass das Wissen der Büchermenschen der Kunst der Gaukler zu vergleichen sei, die an die Stelle einer sachorientierten Praxis ihre „eingebildeten Künste[ ]“ setzten: Die jenige müssiggängige Speculanten vnd Disputanten, die jenige sage ich / welche lieber gewolt spitzfündig disputieren / als fromb vnd verständig leben / beduncken mich den Sailtäntzeren vnd Gauckleren gleich zu seyn. Es ist nemblich ein Kunst/ vff dem Sail können tantzen. Es ist ein Kunst/ vnderschiedliche Spil üben / wie der Ieann Potage, oder Ockes Bockes der Ambsterdammer zumachen pflegte. Aber sagt mir / zu was Stand des Menschlichen Lebens dieselben Künsten nutzen?235
Um die Opposition von ökonomischem Nutzen und brotloser gelehrter Einbildung satirisch weiter noch zuzuspitzen, stellt der Erzähler den müßigen Worten im Folgenden die Ochsen als Inbegriff realen Werts gegenüber. Da Ochsen in der Welt „mehr als das studieren“ gälten und man sich für den „gantzen Wald der Wörter […] keine andere Ochsen erkauffen“ könne, mache es keinen Sinn, die Lebenszeit mit Büchern zu verschwenden.236 Schließlich müssten doch auch die Philosophen erkennen, „das die Kunst ohne Gelt dem gelächter vnnd verachtung der schlechtesten Menschen vnderworfen seye. Hingegen / welcher Gelt: vnd wenigst / gemainen verstandt hat / den helt man für verständig vnnd gelehrt genug.“ 237 Die satirische Perspektive, die hier greifbar wird, macht das Geld ironisch zum Maßstab der Nützlichkeitsbewertung menschlichen Wissens und Handelns und kehrt die seit Aristoteles festgeschriebene moralphilosophische Axiologie damit geradewegs um. Die Invention, der Grimmelshausen folgt, um diese Vorlage im Sinne seiner Erzählung noch zu überbieten, setzt am logischen Bruch an, der Schupps Diskurs durchzieht. So leuchtet dem pragmatisch orientierten Leser zwar wohl ein, dass Ochsen und Geld eher reich machen als gelehrte Spitzfindigkeiten. Was jedoch nicht in selber Weise aufgeht, ist der auf dieser Basis unternommene Vergleich der Gelehrten mit den Gauklern. Denn auch wenn die Gaukler Künste
235 Schupp: Über die Kunst Reich zuwerden, S. 20. 236 Ebd., S. 21. 237 Ebd.
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beherrschen, von denen nicht gesagt werden kann, „zu was Stand des Menschlichen Lebens dieselben […] nutzen“ (Schupp) – sie also keine gemeinnützige Funktion haben –, zeichnet sie doch eine handfeste Orientierung am Gelderwerb aus, die den Gelehrten gerade abgeht. Als Agenten des Marktplatzes verkaufen sie ihre Kunst einem Publikum, das, von den angebotenen ‚Einbildungen‘ betört, sein Geld zu geben bereit ist. Müsste daher, der satirischen Logik des Schupp’schen Textes folgend, eigentlich auch den Gauklern die Ehre zuteil werden, zu den „verständig[en] vnnd gelehrt[en]“ Leuten gezählt zu werden, die ihre Kunst mit dem Geldverdienen zu vereinen wissen, so ist es bei Grimmelshausen eben genau das, was Simplicissimus für sich in Anspruch nimmt. Geradewegs entgegen der Argumentationsrichtung Schupps erscheint in seiner Auffassung die Gaukelei sehr wohl ein „Stand / Hand vnd Wandel“ zu sein, ein Gewerbe im Bereich der oeconomia acquisitiva,238 das mit der ‚realen‘ Ochsenwirtschaft der Bauern Knan und Meuder in dem Maße vergleichbar ist, in dem beide Künste einen monetären Mehrwert erzeugen. Deutlich wird dies bei der Rückkehr der Figuren ins Gasthaus. Am Ende des Markttages fließen alle Einnahmen der Familie, die aus dem Gaukelgeschäft und die aus dem Ochsenhandel, in den Säckel des Hausherrn Simplicissimus, dessen ehemals nur auf Landund Viehwirtschaft basierende Ökonomie sich damit endgültig als diversifizierte erweist: […] als er dem Verleyher seinen Willen darvor gemacht / giengen wir wider miteinander in unser Herberg / alwo Simplici Knan die 4. Ochsen albereit um hundert und dreyssig Reichsthaler verkaufft hatte / und fertig war / Simplicio das Gelt darzuzehlen; sihestu nun / sagte Simplicius zum Springinsfeld / womit ich mich ernähre? freylich sihe ichs / antwortet Springinsfeld / ich hab vermeinet / ich sey ein Rabbi Gelt zumachen / aber ietzt sehe ich wohl / daß du mich weit übertriffst; ja ich glaube der Teuffel selbst sey nur vor ein Spitzigslederlein gegen dir zurechnen.239
Erst mit dieser Antwort des Springinsfeld, der mit den Signalbegriffen „Rabbi“ und „Teuffel“ die Abgründigkeit einer rein geldorientierten, über alle Regeln der Moral hinwegsehenden ‚Kunst reich zu werden‘ ausspricht (ohne dabei freilich eine moralische Kritik zu implizieren), verändert Simplicissimus seine Stra-
238 Mit Garzoni umfasst die akquisative Ökonomie sämtliche Praktiken, die dafür sorgen, dass man „ein Ehrliches außkommen habe: Sage ich dißmahl nichts anders als daß das nicht forthfahren / nichts anders sey / als ein zurück fallen / vnnd nichts gewinnen / ein gewisses vnfehlbares verliehren sey. […] Der Gewinne aber wirdt zuwegen gebracht / entweder durch Kauffmannschafft / oder durch Künst vnnd Handwercker / oder durch Gelehrtheit vnd Geschicklichkeit / auch wann man einen vmb eine ehrliche Belohnung oder Vergeltung etwas lehret.“ Garzoni: Piazza Vniversale, S. 178. 239 W I/2: Springinsfeld, S. 200.
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tegie der Selbstinszenierung. Das, was in der Marktszene selbst noch (fast) völlig fehlt – nämlich eine moralisch-religiöse Einordnung der Produktion von ‚Einbildungen‘, die Simplicissimus als Gaukler zu seinem Geschäft macht –, wird in der Folge in einem halsbrecherischen Versuch der Umdeutung des Gaukelspiels in ein von Frömmigkeit getragenes Verfahren christlicher Unterweisung nachgeliefert. Gemäß dessen Bedeutung für Simplicissimus’ (Selbst-) Positionierung als christlicher Autor zwischen Markt, Geld und Eigennutz soll die Gaukelkunst im Folgenden einer näheren Betrachtung unterzogen werden, bevor sich die Arbeit mit den Konzepten von Prosperität und Kommerz weiteren zentralen Phänomenbereichen ökonomischen Wissens in Grimmelshausens simplicianischem Werk widmen wird.
4.1.5 Der Autor auf dem Markt: Simplicissimus und die Gaukeltasche Auch wenn er sich im Springinsfeld-Roman offensichtlich etwas verspätet um die Wahrung seines Ansehens als frommer Mann bemüht, kann Simplicissimus zu diesem Zeitpunkt seines Lebens bereits auf ein gewisses Arsenal an Grundformeln zurückgreifen, die die paradoxe Rechtfertigung seiner markt- und geldaffinen Kunst bewerkstelligen sollen. So hatte er bereits im poetologischen Diskurs zu Beginn der Continuatio für sein Schreiben den „Theologischen Stylus“ verworfen – dieser sei zwar erbaulich, stoße „beym Herrn Omne“ aber auf taube Ohren – und sich für eine ergötzliche Schreibweise ausgesprochen, durch die der Autor, dem Marktschreier gleich, „mehr Zulauffs und Anhörer“ bekomme „als der eyferigste Seelen-Hirt“.240 Der erbauliche Nutzen sollte dabei freilich nicht auf der Strecke bleiben. Wie in einer Frucht, so Simplicissimus, sei in seinem Text ein Kern enthalten, der die eigentliche Erkenntnis berge. Weil er den Leuten „etwas nutzlichs beybringen“ wolle, habe er den Simplicissimum auf die jenige mode außstaffirt / welche die Leute selbst erfordern. läst sich aber in dessen ein und anderer der Hülsen genügen und achtet deß Kernen nicht / der darinnen verborgen steckt / so wird er zwar als von einer kurtzweiligen Histori seine Zufriedenheit: Aber gleichwohl das jenig bey weitem nicht erlangen / was ich ihn zuberichten aigentlich bedacht gewesen […].241
240 W I/1: Continuatio, S. 564. 241 Ebd. Becher zitiert diesbezüglich die berühmte Sentenz aus dem Lehrgedicht De litteris, de syllabis, de metris des römischen Grammatikers Terentianus Maurus (Ende 2. Jh. n. Chr.): „dann es heisset beim Pöfel: pro captu lectoris habent sua fata libelli […]“. Becher: Politische Discurs, Dritte Edition (1688), S. 140.
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Dass hiermit ein poetologisches Schlüsselkonzept nicht nur des Simplicissimus Teutsch, sondern des ganzen Zyklus bezeichnet ist, wird durch das Wiederauftauchen der Metaphorik an einer besonders exponierten Stelle desselben nahegelegt. Denn auch in der Vorrede an den geneigten Leser, mit der der anonyme Sachwalter des Simplicianischen Autors den zweiten Vogel-Nest-Teil einleitet und zugleich die Idee des zusammenhängenden simplicianischen Romanwerks in die Welt setzt, wird das Fruchtmodell – hier sekundiert durch das klassische lukrezische Arzneigleichnis242 – bemüht, um die moralische Natur des Erzählten gegen mögliche Verderbtheitsvorwürfe zu verteidigen. Vorbildlich für den Schreiber ist dabei ausdrücklich das Erzählverfahren, das Simplicissimus in seiner Lebensbeschreibung angewendet habe: Dieser Autor [i.e. der Simplicianische Autor, S. Z.] hat zwar in dieser ernstlichen Sach seinen gewöhnlichen lustigen Stylum gebraucht / und viel lächerliche Schwänck mit eingebracht / wie er in deß Abentheuerlichen Simplicissimi Lebens-Beschreibung auch gethan / so / daß unter 17. Lesern kaum einer ist / der da findet / was er ihn unterrichten will / sondern die mehriste glauben / er hab ihnen seine Schrifften nur zur Zeit-Verkürtzung verfertiget […]; Verständige Leut / denen es gedeyet / werden den Kern schon zu finden / und ihnen zu Nutz zu machen wissen; Man weiß wol / wie ungern die Patienten die bittere / ob gleich heylsame Pillulen verschlucken / dahingegen aber die übergüldte oder verzuckerte leicht zu sich nehmen […].243
Die Forschung hat den Rückbezug des Simplicianischen Autors (bzw. seines Schreibers) auf Simplicissimusʼ Continuatio-Vorrede zumeist als Beleg für deren poetologische Geltung interpretiert.244 Dabei wurde allerdings ausgeblendet, dass das inner-simplicianische Autorisierungskartell nur solange Glaubwürdigkeit beanspruchen kann, wie seine Instanzen selbst glaubwürdig sind. In genau dieser Hinsicht erweist sich das parteiische Votum des Simplicianischen Autors für Simplicissimus’ Autorschaftskonzept freilich als riskant. Je mehr Simplicissimus mit seinen Strategien der auktorialen Selbstinszenierung (als Eremit, als Hausherr, als marktgängiger Autor) unter Zugzwang gerät und sich in Widersprüche verwickelt, desto problematischer erscheint der Transfer ‚seiner‘ Poetik auf die Ebene des Zyklus als übergreifendes Werk, das neben der Lebensbeschreibung des Simplicissimus auch die der Courasche, des Springinsfeld sowie der beiden Vogelnest-Träger enthält. Ein gewisses Misstrauen scheint hier doch wenigstens angebracht: Anstatt die eingängige Formel vom erbaulichen Kern unter der Zuckerhülle der delectatio einfach zu schlucken, ist ein kritisches
242 Die Stelle bei Lukrez findet sich in De rerum natura I, 936–950 u. IV, 11–25. 243 W I/2: Vogel-Nest II, S. 458. 244 So etwa Gersch: Geheimpoetik, S. 68–73; Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 52–56; Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire, S. 78–80.
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Verfahren anzuwenden, das die Möglichkeit der Dysfunktionalität – oder gar intentionalen Scheinhaftigkeit – der strategisch in Anschlag gebrachten integumentumPoetik245 in Betracht zieht. Für die besondere Bereitschaft der Forschung, Simplicissimus Kredit zu gewähren, spricht, dass nach den konzeptuellen Wurzeln der simplicianischen Einmantelungslehre en détail nie recht gefragt worden ist. Indem zumeist nur auf den Ursprung des Topos bei Lukrez sowie, sehr allgemein, auf dessen Beliebtheit in der ‚niederen‘ Poetik des 17. Jahrhunderts verwiesen wurde,246 blieb die weitverzweigte Geschichte des Konzeptes innerhalb der alteuropäischen Rhetorik- und Theologietradition im Dunkeln. Gerade mit Blick auf die von Simplicissimus wiederholt ins Spiel gebrachten Instanzen von Buch, Markt und Leser lohnt es sich jedoch, diese Hintergründe etwas genauer auszuleuchten. Interessant ist dabei neben der rhetorischen Tradition der Antike, die mit dem Begriff der Akkommodation – der Anpassung der Rede an die Denkfähigkeit und Affektlage des Publikums – einen äußeren Bereich der oeconomia der Rede bezeichnet,247 vor allem die christlich-theologische Tradition. In ihr spielt seit dem Neuen Testament, dann vor allem aber bei den Kirchenvätern die Vorstellung einer Akkommodation Gottes an den Menschen eine zentrale Rolle, wobei auch diese übrigens unter dem Begriff der oikonomia gefasst wird.248 Wie ein guter Haushälter richtet Gott die Offenbarung so ein, dass dem Menschen die Wahrheit nach und nach zugänglich wird, wobei es zwei hierarchisch abgestufte Bereiche der Vermittlung sind, in denen sich die oikonomia als Ökonomie der Schrift bzw. der Rede manifestieren kann. Zum einen ist eine Ökonomie der
245 Es seien die verschiedenen Varianten des Modells (Kern/Hülle, bittere Medizin/Zuckerguss etc.) hier unter dem Begriff des integumentum, der Einmantelung, versammelt. Eine einseitig auf die mittelalterliche Auslegungstradition und deren theologischen integumentumBegriff konzentrierte Verwendung soll damit nicht impliziert sein. 246 So, den Forschungsstand affirmativ zusammenfassend, Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire, S. 78–80. 247 Demgegenüber steht die innere Ökonomie der Rede, ihre Disposition. Vgl. Cardauns: Zum Begriff der ‚oeconomia‘; Roos Meijering: Literary and Rhetorical Theories in Greek Scholia. Groningen 1987, S. 134–225. 248 Zum theologischen Begriff der accommodatio vgl. Stephen D. Benin: The Footprints of God. Devine Accommodation in Jewish and Christian Thought. Albany, NY 1993; Lutz Danneberg: Von der ‚accommodatio ad captum vulgi‘ über die ‚accommodatio secundum apparentiam nostri visus‘ zur ‚aesthetica‘ als ‚scientia cognitionis sensitivae‘. In: Hermeneutica sacra. Studien zur Auslegung der Heiligen Schrift im 16. und 17. Jahrhundert / Studies of the Interpretation of Holy Scripture in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Hg. von Torbjörn Johansson u. a. Berlin, New York 2010 (Historia Hermeneutica. Series Studia 9), S. 313–380. Zu Akkommodation und Ökonomie im patristischen Kontext vgl. Richter: Oikonomia; Mondzain: Bild, S. 23–78.
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Heiligen Schrift selbst eingeschrieben, wenn diese laut Origenes „für die Einfachen gemäß der Ökonomie [κατὰ τὴν οἰκονομίαν] gewissermaßen einfach geworden [ist], während [sie] für diejenigen, die tiefer in [sie] eindringen wollen und die dazu imstande sind, […] weise und des Wortes Gottes würdige Dinge“ birgt.249 Zum anderen waltet Ökonomie als „distributive Handhabung des Wahren“ 250 auf der Ebene der sich auf die Offenbarung beziehenden menschlichen Bibelauslegung und Predigt. Über alle Konfessionsgrenzen hinweg vertreten frühneuzeitliche Theologen, unter ihnen Luther und Erasmus, die Meinung, dass es nicht damit getan sei, durch gelehrte Hermeneutik den sensus verus des göttlichen Wortes zu ermitteln. Dieser vielmehr müsse ad captum vulgi akkommodiert werden, um möglichst weit und breit in der Welt ausgestreut zu werden: „Wen ich alhie predige“, so heißt es bei Luther, „so laß ich mich auffs tieffste herunder; non aspicio ad doctores et magistros, quorum vix 40 adsunt, sed ad centum vel mille iuvenum puerorumque: Illis praedico, illis me applico; die durffens.“ 251 Im Konzept der Kondeszenz, das Luther hier formuliert, verdichtet sich die vertikale Logik, die dem homiletischen Akkommodationsbegriff eingeschrieben ist: Wie Gott sich einerseits durch Christus, andererseits durch die Bibel zu den Menschen ‚herabgelassen‘ hat, lässt sich der Prediger in seiner Rede herab, um die Worte Gottes in die Gemeinde zu tragen. Insofern Simplicissimus zu Beginn der Continuatio beim antiken HülleKern-Topos nicht stehen bleibt, sondern seine (schriftliche) Rede insgesamt in den Einzugsbereich der Predigt rückt,252 schließt er an das religiöse Konzept von Akkommodation und Kondeszenz an. Dies geschieht freilich nach Maßgabe der besonderen Bedingungen, die er als Vermittler nützlicher christlicher Wahrheit in seiner Zeit vorzufinden meint. Seine Einschätzung, dass der „eyferigste Seelenhirt / der mit allen Glocken dreymahl zusammen leuthen lassen / seinen anvertrauten Schäfflein ein fruchtbare heilsame Predigt zuthun“, gegen den „Marckschreyer oder Quacksalber […] / wann er am offnen Marckt mit seinem Hanß Wurst oder Hanß Supp auftritt“, keine Chance hat,253 markiert eine Verschiebung des Diskurses, die den Zulässigkeitsrahmen des theologischen Kon-
249 Origenes: Der Kommentar zum Evangelium nach Matthäus. Übersetzt von Hermann Jochen Vogt. Stuttgart 1983, X,1. 250 Mondzain: Bild, S. 66. 251 Martin Luther: Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe). 120 Bde. Weimar, Graz 1883–2009, TR 3, 419, 29–430, 3. Hier zit. nach Danneberg: Von der ‚accommodatio ad captum vulgi‘, S. 331 (Anm. 69). Weitere Stellen in der homiletischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts führt Danneberg an selber Stelle auf. 252 Auf die exegetische Konzeption der simplicianischen Poetik in Continuatio und Springinsfeld hat Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 296–305, hingewiesen. 253 W I/1: Continuatio, S. 564.
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zepts bei Weitem sprengt.254 Das hält den selbsternannten Prediger freilich keineswegs davon ab, die besondere Funktionalität seines erbaulichen bzw. paränetischen Diskurses zu behaupten. Am Schnittpunkt der Kommerzien, auf dem Markt, auf dem die (im doppelten Wortsinn) zerstreute christliche Gemeinde sich versammelt, um unterhalten zu werden – was, wie Simplicissimus feststellt, mit dem „Theologischen Stylus“ der Kleriker nicht zu machen ist –, darf die christliche Wahrheit seiner Meinung nach als solche gar nicht erkennbar sein, sondern muss dem Publikum nach Art der Marktschreier und Quacksalber gleichsam ‚untergejubelt‘ werden. Dass in dieser Ersetzung der oikonomia göttlicher Offenbarung durch ein Verfahren chrematistischer Übertölpelung ein Sprengsatz liegt, der die Stabilität von Simplicissimus’ christlichem Autorschaftskonzept von vornherein bedroht, braucht kaum der Erwähnung. Nicht nur, dass sich insgesamt die Frage stellt, woher die pikarische Figur eigentlich die Autorität nimmt, den eigenen Diskurs an die Stelle priesterlicher Rede zu setzen; auch bleibt im eröffneten Spannungsfeld von Kanzel und Markt völlig offen, ob der Vektor dieser Selbstautorisierung tatsächlich ein religiöser ist oder ob hinter der Rede vom substantiellen Kern der angebotenen Ware nicht doch nur ein Verkaufstrick steckt, den der Leser besser durchschauen sollte, will er nicht einer ausgemachten pikarischen Quacksalberei aufsitzen. Blickt man von diesem Punkt aus nun auf die Gauklerpassage des Springinsfeld-Romans, so wird der enge Bezug der Passagen aufeinander sogleich deutlich. Wie um den Leser an den Stand der Dinge zu erinnern, erklärt Simplicissimus vor Beginn des Spektakels gegenüber Philarchus, dass „vast niemand mehr die Wahrheit gern blos beschauet oder hören will“, weswegen es unverzichtbar sei, „ihr ein Kleid anzuziehen / dardurch sie bey den Menschen angenem verbliebe“.255 Ist der Rahmen damit gesetzt, so füllt der Kreuzinselrückkehrer ihn im Folgenden mit der Aufführung seiner Gaukelkunst einigermaßen spektakulär aus. Auf das präparierte Gaukelbuch zurückgreifend,256
254 Über die theologischen Debatten über die rechte Methode und die Grenzen der Akkommodation informiert Danneberg: Von der ‚accommodatio ad captum vulgi‘, S. 315–317 et passim. 255 Wie im Fall des Lobs der simplicianischen Familie scheint der Diskurs auch hier seltsam choreographiert. Genau im passenden Moment fragt Philarchus den Simplicissimus, weshalb er „in seiner Lebensbeschreibung so manchen lächerlichen schwang eingebracht“. Simplicissimusʼ Antwort lautet im Zusammenhang: „Jenes thät ich / […] weil vast niemand mehr die Wahrheit gern blos beschauet oder hören will / ihr ein Kleid anzuziehen / dardurch sie bey den Menschen angenem verbliebe / und das jenig gutwillig gehöret und angenommen wurde / was ich hin und wider an der Menschen zu corrigiren bedacht war […].“ W I/2: Springinsfeld, S. 172. 256 Dass es sich bei der Gaukeltasche um eine Variante der sogenannten Flickbücher der Frühen Neuzeit handelt, hat Christoph Benjamin Schulz gezeigt. Vgl. ders.: Poetiken des Blätterns. Hildesheim u. a. 2015, S. 113–126.
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schlägt er auf dem Markt eine Zuschauermenge in den Bann, die ihm nach wenigen Worten bereits bedingungslos an den Lippen hängt.257 Der Trick, den er dabei anwendet, scheint ebenso einfach wie wirkungsvoll. Durch gewisse Griffe in den Rücken des Buches ist es ihm möglich, den Zuschauern, die er aus der Menge aussucht, Blätter vor Augen zu führen, auf denen das (vermeintliche) Hauptlaster des Betrachters abgebildet sein soll. Zur Illusion gehört es dabei, das Publikum glauben zu machen, dass nicht der Gaukelkünstler, sondern der jeweilige Betrachter die Bilder und Zeichen im Buch hervorruft. Um diese Illusion zu erzeugen, fordert Simplicissimus die Kandidaten auf, in das Buch hineinzublasen, woraufhin die eben noch leere Seite sich mit vermeintlich entlarvenden pictura-Kombinationen füllt. Einem Soldaten führt der Gaukler auf diese Weise „lauter Wehr und Waffen“ vor, einem Stutzer „eytel Cavalliers und Dames“, einem reichen Bürger „lauter Thaler und Ducaten“, einem Spieler „eitel Würffel und Karten“, einem „Fatzvogel“ „lauter Haasen- Esels- und Narren-Köpff“, einem Kupferhändler „nichts als Trinckgeschirr“ und einem Studenten schließlich „lauter Schrifften“, deren Erscheinen Simplicissimus nutzt, das Buch unter ironischem Verweis auf seine nun wiedererlangten „glaubwürdige[n] Zeugnusse“ zu schließen.258 Die anschließende Gaukelei um das (angeblich) weinverbessernde Wundermittel versteht sich, wie die Forschung mit Recht festgestellt hat, als pseudo-eucharistisches Seitenstück zur vorherigen ‚Predigt‘ mit dem Gaukelbuch.259 Simplicissimus nutzt die zuvor erzeugte Illusion, um sein offensichtlich
257 Nicht überlesen werden sollte dabei, dass das geschilderte Geschehen die Reichweite mündlicher Kommunikation offensichtlich übertrifft und auf die Bedingungen einer druckgestützten literarischen Kommunikationskultur verweist. Laut Philarchus umfasst die Menge der Zuhörenden „bey 1000. Personen“ (W I/2: Springinsfeld, S. 199), also in etwa die Anzahl von Empfängern, auf die der Verleger eines Flugblattes oder einer anderen schnell zirkulierenden Schrift im 17. Jahrhundert hoffen konnte. Vgl. Rolf Wilhelm Brednich: Art. ‚Flugblatt, Flugschrift‘. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Begründet von Kurt Ranke. Hg. von Rolf Wilhelm Brednich zusammen mit Hermann Bausinger u. a. 14 Bde. Bd. 4: Ent.–Fors. Berlin, New York 1983, Sp. 1339–1358, hier Sp. 1344. 258 W I/2: Springinsfeld, S. 195–198. 259 Ein auch nur annähernd auf Vollständigkeit angelegter Überblick über die vorliegenden Deutungen kann hier nicht gegeben werden. Ich nenne daher nur die Titel, die in der Debatte besondere Relevanz entfaltet haben und bestimmte Positionen exemplarisch repräsentieren. Auf der einen Seite stehen Arbeiten, die Simplicissimusʼ Inszenierung christlicher Autorschaft zwar analysieren, aber den – aufgrund der satirischen Anlage unverzichtbaren – Schritt in Richtung Skepsis gegenüber dieser Inszenierung nicht vollziehen. Vgl. Siegfried Streller: Grimmelshausens Simplicianische Schriften. Allegorie, Zahl und Wirklichkeitsdarstellung. Berlin 1957 (Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 7), S. 59–62; Paul Gutzwiller: Der Narr bei Grimmelshausen. Bern 1959 (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur 20), S. 81 f.; Wiedemann: Die Herberge des alten Simplicissimus; Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 294–305;
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wirkungsloses Quacksalber-Elixier hundertfach unters Volk zu bringen. Die Gaukelaufführung mündet somit chronotopisch erwartbar in ein Szenario merkantiler Geldakkumulation: „ehe ein halb Stund herum war“, so berichtet Philarchus, „hatte er allbereit seine Büchsen versilbert / und sein gut baar Gelt darvor eingenommen / also daß er die halbe Theil Leuth / so deren noch begehrten / muste läer hingehen lassen.“ 260 Die durch die massiven Geldflüsse sowie die merkantile Codierung indizierte Brüchigkeit des moralisch-religiösen Diskurses geht mit seiner offensichtlichen Dysfunktionalität einher. So dürfte zwar außer Zweifel stehen, dass das Gaukelspektakel des Simplicissimus in seinem performativen Kalkül höchste Wirkungsgrade erzielt (die Reaktionen der Zuschauer sprechen eine deutliche Sprache). Dies tut es jedoch eben als Spektakel. Seine suggerierte Funktion als Medium der Akkommodation christlicher Wahrheit ad captum vulgi erfüllt es dagegen nicht. Dies hat vor allem damit zu tun, dass der Effekt einer durch das Gaukelbuch ermöglichten Selbsterkenntnis der ‚Leser‘ reine Illusion ist. So geht es in Simplicissimus’ Verfahren gerade nicht darum, den (vermeintlichen) Sinn, den das Buch enthält, auf die Welt und die Menschen abzustimmen. Vielmehr sucht Simplicissimus umgekehrt nach den passenden Menschen, um den Sinn seines Buches zur Geltung zu bringen. Dass es dabei gar nicht darauf ankommt, ob die nach rein äußerlichen Kriterien Auserwählten „tatsächlich sind, wofür sie ausgegeben werden“, wurde in der Forschung zu Recht bemerkt.261 Von der im simplicianischen Diskurs eigentlich vorgesehenen Skepsis gegenüber unbeweglichen topischen Schemata ist in Simplicissimus’ Aufführung keine Spur. Im Gegenteil richtet er alles so ein, dass eine empirische Irritation des pseudoallegorischen Auslegungsverfahrens von vornherein ausgeschlossen ist. Hierzu gehört, dass diejenigen, die durch den Blick ins Buch auf ihre Laster gestoßen
Friedrich Gaede: Substanzverlust. Grimmelshausens Kritik der Moderne. Tübingen 1989, S. 92– 94. Eine Sonderstellung innerhalb dieser Forschungsfraktion nimmt Bergengruen ein, der diabolische Implikationen in der Passage nachweist, von der vermeintlichen moralisch-religiösen Funktionalität der Poetik jedoch überzeugt bleibt. Vgl. Maximilian Bergengruen: Nachfolge Christi – Nachahmung der Natur. Himmlische und natürliche Magie bei Paracelsus, im Paracelsismus und in der Barockliteratur (Scheffler, Zesen, Grimmelshausen). Hamburg 2007 (Paradeigmata 26), S. 235–244. Skeptisch hinsichtlich der Konsistenz des christlichen Autorschaftsmodells zeigen sich insbesondere folgende Studien: Waltraud Wiethölter: ‚Schwarz und Weiß auß einer Feder‘ oder Allegorische Lektüren im 17. Jahrhundert: Gryphius, Grimmelshausen, Greiffenberg. In: DVjs 72 (1998), S. 537–591; Heinz J. Drügh: Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen. Freiburg i. B. 2000 (Rombach Wissenschaft, Reihe Litterae 77), bes. S. 47–49; Bozza: ‚Feingesponnen‘ und ‚grobgewirkt‘, bes. S. 264–271; Kaminski: ‚Jetzt höre dann deines Schwagers Ankunfft‘, bes. S. 188–190. 260 W I/2: Springinsfeld, S. 199. 261 Wiethölter: ‚Schwarz und Weiß auß einer Feder‘, S. 587.
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werden sollen, selbst keine Stimme haben, um ihre möglicherweise abweichende Perspektive ins Spiel einzubringen.262 Vor allem aber basiert der vermeintliche Erkenntnisakt, der durch das Blasen der Kandidaten ins Buch als Inspirationsmoment ausgegeben wird, auf einem von Simplicissimus im rechten Moment ausgelösten Mechanismus, dessen Rasterhaftigkeit an der Komplexität der simplicianischen Diegese völlig vorbeigeht.263 Schnurrt die gesamte Inszenierung auf diese Weise in ihrer gekonnten Performativität zusammen, so untergräbt dies die poetologischen Substanzversprechungen, die Simplicissimus seit der Continuatio-Exposition gemacht hatte. Wie das Elixier, das er im Anschluss an die Aufführung hundertfach an Mann und Frau bringt, erweckt die Gaukelkunst die Illusion eines substantiellen Verfahrens, auf die das anonyme diegetische Publikum, nicht aber der simplicianische Leser hereinfallen muss. Die Inkongruenz von Anspruch und Wirklichkeit der Gaukelkunst tritt in dem Moment noch deutlicher vor Augen, in dem die illusionäre Wirkung des Spektakels verfliegt. Dabei ist es Simplicissimus selbst, der auf Springinsfelds Verdacht, es müsse beim Gaukelbuch der Teufel im Spiel sein, dem ehemaligen Kriegskameraden „alle Vörthel und Griff“ der Kunst entdeckt.264 So prompt die diabolische Keule wirkt, so sehr setzt sie den Gaukler allerdings unter Zugzwang. Mit der von Philarchus dokumentierten Absicht, „durch sein Buch / welches er seine Gauckel-Tasche nennet / den Springinsfeld zu bekehren“,265 setzt Simplicissimus zu einer allegorischen Deutung der Gaukelkunst an, die in erster Linie deren moraltheologischer Rechtfertigung dient. Springinsfeld, dem er das Versprechen gibt, ihm bei strikter Befolgung der Lehre die Gaukeltasche zu überlassen, wird in einem Vortrag über die christlichen Bedeutungen hinter den
262 Dies wird vom Autorschaftskartell des Philarchus und des Simplicissimus auf diegetischer und diskursiver Ebene gleichermaßen sichergestellt. Vgl. ebd. Im Kontext des Springinsfeld-Romans gewinnt die Tendenz zur Ausschaltung dritter Stimmen natürlich noch in einem anderen Zusammenhang Bedeutung. So sehen sich Philarchus und Springinsfeld, vor allem aber Simplicissimus durch den Trutz=Simplex der Courasche in ein falsches Licht gestellt. Was Simplicissimus mangels Kontrolle über den Buchmarkt im Großen also nicht erreichen kann, vollzieht er als Gaukler auf dem Marktplatz im Kleinen: Er bereinigt das Feld der konkurrierenden, konfligierenden Perspektiven zu seinen Gunsten und kann sich dabei auf die Unterstützung der von ihm abhängigen Philarchus und Springinsfeld verlassen. 263 Dies ist gegen die Deutungen Wiethölters und Drüghs einzuwenden, die sich nicht von der dekonstruktiven Vorstellung trennen wollen, dass jeder Leser das in das Gaukeltaschenbuch hineinliest, was er selbst hineingetan hat. Das Gegenteil trifft zu: Der Leseakt ist gar kein Leseakt, sondern eine auktoriale Inszenierung, die eine polyphone Verunsicherung des präsentierten Wissens gerade verhindern soll. Vgl. Wiethölter: ‚Schwarz und Weiß auß einer Feder‘, S. 587; Drügh: Anders-Rede, S. 48 f. 264 W I/2: Springinsfeld, S. 205. 265 Ebd., S. 203.
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profanen Zeichen aufgeklärt. Von den „weisse[n] Blätter[n]“, die im Betrachter „das weisse Kleid der Unschuld“ in Erinnerung rufen sollen, das ihm „GOtt in der heiligen Tauff […] geschenket habe“, über die Warnallegorien der einzelnen Welt-Piktogramme (Waffen, Geld, Trinkgeschirr, Würfel und Karten, Jungfrau, Narr) bis hin zur „Schrifft“, die Simplicissimus nun als „heilige Schrifft“ deutet,266 summiert sich der Diskurs zu einem Set traditioneller christlich-allegorischer Einheiten, die beim Adressaten Springinsfeld, so jedenfalls berichtet Philarchus, „vast ängstige Gedancken“ auslöst.267 Zweifel am Gelingen der simplicianischen ‚Gaukelpredigt‘ bleiben freilich dennoch angezeigt. So sprechen gegen die punktuelle Erfolgsmeldung des Philarchus mindestens zwei gewichtige Indizien: Zum einen erscheint mit Simplicissimi wunderlicher Gauckel-Tasche 1670 eine angeblich von Simplicissimus selbst herausgegebene simplicianische Sprossschrift, die ausgerechnet die anagogische Erkenntnisdimension der Gaukelpraxis ausblendet.268 Zum anderen ist auch im Roman selbst schon nicht zu übersehen, dass Springinsfelds Kooperationsbereitschaft vornehmlich seinem monetären Interesse an der Gaukeltasche entspringt. Zunächst will er Simplicissimus für das begehrte Objekt „lieber die 20. Reichsthaler“ geben, als das allegorische Programm auswendig zu lernen.269 Als er jedoch sieht, dass Simplicissimus von seiner Position nicht nur nicht abrückt, sondern sogar effektvoll auf alles Ablösegeld verzichtet,270 verspricht er „hiemit alles dessen eingedenck zuseyn / was du von mir vor solche Kunst haben wilst“.271 Die Formulierung ist verräterisch: Müsste es Ziel der frommen Anleitung sein, den anagogischen Sinn der Bilder durch die ‚Kunst‘ zu erkennen, so behandelt Springinsfeld das allegorische Programm, der chrematistisch-merkantilen Codierung des Diskurses gemäß, wie eine arbiträre Währung, die er Simplicissimus „vor solche Kunst“ geben muss. Entsprechend mechanisch und äußerlich fällt seine Adaption
266 Ebd., S. 203 f. 267 Ebd., S. 205. 268 Im Springinsfeld ist es noch Philarchus selbst, der die Veröffentlichung ankündigt: „[U]nd demnach sie mich auch zusehen liessen / faste ich die Beschaffenheit desselben so genau ins Gedächtnus / daß ich auch stracks eins dergleichen machen könnte / wie ich dann etliche Tag hernach thät / um solche Simplicianische Gauckeltasch der gantzen Welt gemain zumachen.“ Ebd. Den merkwürdig ‚unmoralischen‘ Charakter dieser Sprossschrift registriert auch Breuer in seinem Stellenkommentar – freilich nicht ohne ihm die Laster-Allegorese aus dem Springinsfeld als Ideal entgegenzuhalten: „Hier ist sogar [!] die Lastersatire in das auf Sinnestäuschung beruhende Gesellschaftsspiel einbezogen und in ihrer Wirkung auf bloßes Verlachen reduziert.“ W 2: Gauckel-Tasche, Stellenkommentar, S. 947. 269 W I/2: Springinsfeld, S. 204. 270 Ebd., S. 205: „ja ich gebe dir das Buch nicht / du verprechest mir dann dich allweg dessen zuerinnern was ich dir gesagt / wann du mir gleich 100. Reichsthaler baar daher zahltest.“ 271 Ebd.
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der Lehre aus, die wenig später unter Simplicissimus’ Aufsicht in einem Gasthaus vollzogen wird. Zwar ordnet Springinsfeld das topische Material, wie Simplicissimus es ihm vorgemacht hat, nach einem einleuchtenden lastertypologischen Schema – ein Vorgang, der mit Blick auf die im Gasthaus anwesenden Studenten erwartungsgemäß auf eine Reproduktion des ‚Cornelius relegatus‘Typus hinausläuft. In religiöser Hinsicht kann die Vorführung dabei jedoch schon deshalb nicht überzeugen, weil Springinsfeld in seiner Umsetzung vor allem auf Geschwindigkeit setzt.272 Buchstäblich in Sekundenschnelle jagt er das topische Schema durch, wobei das Diskurskartell um Philarchus und Simplicissimus dafür sorgt, dass eine Reaktion des Publikums wiederum nicht überliefert wird. Stattdessen ist es Simplicissimus, der nach Beendigung des Spektakels den Lernerfolg Springinsfelds lobend herausstellt: [Springinsfeld] zog alsobald das Buch herfür / und blättert den Studenten die weisse Blätter vor den Augen herum / sagende: Also glatt und unbeschrieben wie diß weisse Papier seynd euere Seelen erschaffen und in diese Welt kommen; und derowegen haben euch euere Eltern hieher gethan (mit solchen Worten wiese er ihnen die Schriften vor) die Schrift zu lernen und zu studieren; aber ihr Kerl pflegt an statt löbliche Wissenschaften zu ergreiffen / das Geld vergeblich (hier wiese er ihnen die Geld-Sorten) durchzujagen und zu verschwenden! dasselbe zu versauffen (hier zeigte er die Trinck-Geschirr) zu verspilen (und hie die Würffel und Karthen) zu verhuren (hie die Dames und Cavalliers) und zu verschlagen (hie das Gewehr) ich sage euch aber daß alle die jenige die solches thun / seyen lauter solche Kerl wie ihr hier vor Augen sehet / und damit zeigte er ihnen die Narren- Hasen- und Esels-Köpfe; und damit wischte er wieder mit dem Buch in Schubsack / dem alten Simpl. gefiel dieses Stuck so wol / daß er zum Springinsfeld sagte / wann er gewust hätte / daß er die Kunst so bald und so wol begreiffen würde / so wollte er ihm nicht halber so viel Lehrgeld abgefordert haben.273
Es sollte nicht überlesen werden, dass Simplicissimus mit dem Hinweis auf das „Lehrgeld“, das Springinsfeld ihm gezahlt habe, am Ende der Episode selbst die im Diskurs zirkulierenden ‚Währungen‘, Geld und Heil, verwechselt. Besonders irritierend wirkt dies, weil er im selben Atemzug bemerkt, er hätte „nicht halber so viel Lehrgeld gefordert“, wenn er Springinsfelds Talent geahnt hätte. Wie kann der Leser das anders verstehen, als als ungewollte, deshalb aber um-
272 Die automatisierte „Auslegemechanik“ Springinsfelds hebt skeptisch bereits Wiethölter: ‚Schwarz und Weiß auß einer Feder‘, S. 588, hervor. Eingehender widmet sich Bozza dem Thema, indem er das Imitationsmoment in Springsinsfelds Gaukeltaschenpraxis herausarbeitet und dabei plausibel macht, dass es „nicht verwunderlich“ sei, dass Springinsfeld „nicht darauf bedacht ist, eine Veränderung bei seinen Zuhörern zu erwirken“; denn: „Er hat schließlich auch nicht verstanden, warum Simplex ihm die Kunst kostenfrei überließ.“ Bozza: ‚Feingesponnen‘ und ‚grobgewirkt‘, S. 269. 273 W I/2: Springinsfeld, S. 207.
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so entlarvendere Depotenzierung des zuvor propagierten anagogischen Programms? Bozza, der als bisher einziger auf den Satz näher eingegangen ist, attestiert Simplicissimus in diesem Zusammenhang einen ironischen Blick auf Springinsfeld. „Würde Springinsfeld die Kunst des Gaukelns nun wirklich beherrschen“, so Bozza, „wäre er auch zu Reflexivität, zu moralisch-kritischer Selbsteinschätzung gelangt, das Erzählen wäre nicht mehr notwendig – da es für Simplex schließlich nicht Selbst-, sondern Mittel zum Zweck ist.“ 274 Diese Deutung greift aber zu kurz. Denn ganz abgesehen davon, dass sie die exoterische Ausrichtung von Simplicissimus’ Autorschaftsentwurf, ihre Orientierung am „Herrn Omne“, aus dem Blick verliert, verortet Bozza die poetologische Friktion an der falschen Stelle. Indem er Simplicissimus’ christliche (Um-)Deutung der Gaukelkunst unkritisch übernimmt – oder durch seinen Ironiehinweis gar zu retten versucht –, entgeht ihm die tieferliegende, strukturelle Ironie der Passage. Und die besteht gerade darin, dass der intellektuell unterlegene Springinsfeld die ihm gezeigte Kunst durchaus „wirklich“ beherrscht.275 Möglich ist dies freilich nur, weil Simplicissimus ihm etwas vermittelt, das in seiner schlechten Universalität tatsächlich dem Geld gleicht: ein für die schnelle Zirkulation auf Märkten und in Gasthäusern entwickeltes topisches Erzählschema, das, weil es über das individuelle Leben, den empirischen Menschen, hinwegsieht, keinen gangbaren Weg zur Offenbarung, geschweige denn zum ‚Kern‘ simplicianischer Poetik eröffnen kann.276
274 Bozza: ‚Feingesponnen‘ und ‚grobgewirkt‘, S. 271. 275 Mit etwas Mut zur Provokation könnte man sogar behaupten, dass er in seiner imitatio die Kunst des Simplicissimus überbietet. Und dies gleich in zweierlei Weise. Erstens inhaltlich: Während Simplicissimus auf dem Marktplatz bloß ein Bild für einen ‚Typus‘ zeigt, entwickelt Springinsfeld, wie erwähnt, entlang des ‚Cornelius relegatus‘-Schemas eine kleine narratio, die die Topik des Studentenlebens in ein Nacheinander fügt. Zweitens artistisch: Springinsfeld sieht, dass es bei der Kunst um Fingerfertigkeit, nämlich um das blitzschnelle, überrumpelnde ‚Hervorwischen‘ der passenden Seite geht, und übertrifft seinen Lehrer Simplicissimus in der Geschwindigkeit dieser Bewegung. 276 Ist diese Einsicht erst einmal gewonnen, so werden rasch weitere Ironiesignale des Textes sichtbar. Wenngleich es insgesamt wohl nicht Philarchusʼ Ziel ist, Simplicissimus zu demontieren, leitet er die Passage, die von Springinsfelds Unterweisung handelt, mit einem im Kontext durchaus unglücklichen Satz ein: „Gleich wie nun in der gantzen Welt sich nichts so eytel und unnütz befindet / daß nicht zu etwas guts könnte employrt und verwendet werden / also gedachte auch Simplicius durch sein Buch […] den Springinsfeld zu bekehren“. W I/2: Springinsfeld, S. 203. Unglücklich ist dieser auf Pliniusʼ d. J. Epistulae (III,5,10) anspielende Satz gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen konzediert Philarchus in ihm, dass das Gaukelbuch „eytel und unnütz“ sei – eine starke Formulierung, die durch den folgenden Hinweis auf Simplicissimusʼ ‚gute‘ Anwendung desselben zumindest nicht völlig neutralisiert wird. Zum anderen wird mit der Verschiebung des Fokus auf die Praxis, also den Umgang mit dem Buch, eine Aporie des gesamten simplicianischen Erbauungsdiskurses sichtbar. Wenn es letztlich auf den morali-
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Exkurs: Der Ewig=währende Calender als simplicianisches Hausbuch Wenngleich nicht Teil des Zyklus und für sich genommen auch kein pikarischer Text, verdient unter den simplicianischen Sprossschriften Des abentheuerlichen Simplicissimi Ewig=währender Calender in dieser Arbeit doch gesonderte Beachtung. Dies hat zum einen mit der Form der Schrift zu tun, die als Kalender und Hausbuch auf zwei genuin ökonomische Genres der Frühen Neuzeit rekurriert, zum anderen mit dem Umstand, dass Simplicissimus als fiktiver Autor des Kalenders in diesem ein Dokument seiner Rolle als simplicianischer Hausvater vorlegt, das erweiterte Einblicke in die innere Verknüpfung von simplicianischer Poetik und ökonomischem Wissen erlaubt. Bereits 1669 als Zugabe zur Neuauflage des Simplicissimus angekündigt, tatsächlich aber erst 1671 erschienen,277 weicht Simplicissimi Ewig=währender Calender dabei erwartungsgemäß schen Status des Lesers ankommt, ob er richtig oder falsch mit dem Buch umgeht, fällt der Anspruch einer literarischen Moraldidaxe als Verfahren der aktiven Besserung des Lesers tendenziell in sich zusammen. Eben dieser Gedanke wird später im Zyklus, nämlich im zweiten Vogel-Nest-Roman vom (vermeintlich) bekehrten Erzähler in derselben, auf Plinius zurückgehenden und, wie erinnerlich, bereits von Lazarillo gebrauchten Formulierung ausgedrückt: „Gleich wie die Bienen Honig / und die Spinnen Gifft auß den Blumen saugen / also schöpffen auch die gute Menschen guts / und die schlimme böses auß den Büchern; Ein Buch kann so ärgerlich nicht seyn / es wird ein frommer Mensch etwas guts drauß lernen können / und ein Buch wird so Gottselig nicht seyn / darauß ein verkehrter Mensch nichts nehmen könnte / das ihm vermeyntlich zu Besteiffung seines verkehrten Sinns nicht dienlich wäre.“ W I/2: VogelNest II, S. 611 f. Die Entlastung, die dieses Konzept für den Autor unterhaltsamer Literatur schafft, ist offensichtlich teuer erkauft: Das Verstecken christlicher Wahrheiten im Text erübrigt sich unter diesen Voraussetzungen, werden sie von denjenigen, die sie nicht schon verinnerlicht haben, doch ohnehin nicht gefunden. 277 Offenbar hat die Veröffentlichung des Kalenders insgesamt etwas gedauert. Felßecker hatte eine Kalenderschrift Grimmelshausens bereits in der vierten Ausgabe des Simplicissimus Teutsch von 1669 angekündigt und auch dort schon mit der fiktiven Autor-Figur Simplicissimus und ihrer Lebensbeschreibung verknüpft. Der Titel dieser Simplicissimus-Ausgabe, die dann tatsächlich aber ohne Kalender erschien, lautet: „Der Abentheuerliche Wiederum gantz neu umgegossene Und mit seinem ewigwehrenden wunderbarlichen Calender / auch anderen zu seinem Lebens-Lauff gehörigen Neben-Historien / vermehrte und verbesserte Simplicissimus Teutsch“. Hier zit. nach Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 119. Der Kalender erschien dann 1671 mit der seinerzeit üblichen Rückdatierung um ein Jahr. Dass Grimmelshausen als Autor darüber hinaus an weiteren Kalenderschriften beteiligt gewesen sein dürfte, wird in der Forschung vermutet, ließ sich bis jetzt aber nicht abschließend klären. Vgl. dazu die Sammelbände Klaus Matthäus, Klaus-Dieter Herbst (Hg.): Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicianische Jahreskalender. Europäischer Wundergeschichten Calender 1670 bis 1672 (Nürnberg), Schreib-Calender 1675 (Molsheim). Faksimile-Ausgabe. Erlangen 2009; Peter Heßelmann (Hg.): Grimmelshausen als Kalenderschriftsteller und die zeitgenössische Kalenderliteratur. Frankfurt a. M. u. a. 2011 (Beihefte zu Simpliciana 5). Außerdem Klaus Matthäus: Nochmals zu den simplicianischen Jahreskalendern: eine Replik. In: Simpliciana 33 (2011), S. 341–345.
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von den im 17. Jahrhundert (nicht zuletzt durch Coler) etablierten Gattungskonventionen ab. Dies beginnt bei der die Autorschaft des Simplicissimus rahmenden Herausgeberfiktion: Mitten in dem auf sechs Rubriken verteilten Text meldet sich ein gewisser Christian Brandsteller, der sich als stolzer „Erfinder dieses Calenders“ 278 vorstellt und dem Leser mitteilt, wie es zur Entstehung und Veröffentlichung desselben gekommen sei. Demnach habe der „so genandte Abenthewrliche Simplicissimus, dessen Lebens=Beschreibung vorm Jahr daß erste mahl getruckt worden“, den Kalender „seinem Sohn Simplicio, welchen er neben seinem Knan und Meuder zu Erben und Besitzern seines Bauernhoffs an Schwartzwald hinderlassen / […] zugefallen geschrieben“.279 Zunächst für den Druck gar nicht bestimmt, habe das Manuskript im Haus des Simplicissimus herumgelegen, bis die Meuder sich dazu entschlossen habe, die Papierseiten, die, aus ihrer Sicht, „niemand nichts mehr nutzten“,280 zum Einpacken von Butter zu verwenden. Als glückliche Fügung bezeichnet Brandsteller es, dass er während seiner Schwarzwälder Sauerbrunnenkur „im verwichenen Julio dieses 1669. Jahrs“ 281 der Meuder mit besagten Butterpaketen begegnet sei, dass er dieselbe anhand der Angaben „auß deß Simplicissimi Lebens=Beschreibung“ sogleich erkannt habe282 und ihr sämtliche „Blätter dieses Calenders“ habe abkaufen können.283 Auf Rat seiner Freunde habe er dann für die Veröffentlichung gesorgt.284 Der Eindruck der Unangemessenheit, der durch das Missverhältnis in der Wertschätzung des Kalenders entsteht – für Brandsteller ist er ein kostbares Dokument, für Meuder allenfalls als Butterpapier zu gebrauchen –, wird durch die Dysfunktionalität des Textes selbst unterstrichen. Laut Brandsteller soll der Kreuzinsel-Exilant Simplicissimus den Kalender „seiner Familia per memoriale“ hinterlassen haben, damit diese wisse, „wie sie etwann ins künfftig nach seinem Todt hausen“ solle.285 Und tatsächlich finden sich über die Spalten (‚Ma-
278 EC, S. 92. Nahezu sämtliche Stellen, die im Folgenden besprochen werden, finden sich in der als ‚dritte Materie‘ bezeichneten Rubrik des Kalenders. 279 Ebd. 280 Ebd., S. 96. 281 Ebd., S. 94. 282 Ebd., S. 96/98: „Weil ich dann nun etliche Tag zuvor ein zimblichs auß deß Simplicissimi Lebens=Beschreibung gelesen hatte / erfrewet ich mich und rechnet es mir vor ein Glück / daß ich auch sein Manu=Script: sehen solte / bildete mir auch stracks ein / daß dieses die Meüder seyn müste […].“ 283 Ebd., S. 100. 284 Diesen Teil der fiktiven Veröffentlichungsgeschichte erzählt Brandsteller gegen Ende der dritten Materie. Vgl. ebd., S. 188. 285 Ebd., S. 94.
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terien‘) verteilt allerhand Informationen, die einer kalenderhaften „Bauren= Practic“ zu entsprechen scheinen:286 Auskünfte zu den „Tag= und Zeitwehlungen“ 287 – womit Termine zum Säen und Ernten, Schlachten und Jagen, für den Aderlass, das Haare- und Nägelschneiden usw. gemeint sind –, Wissen naturkundlicher Art, aber auch Regeln für die „Wetter=Practic“ 288 und die astrologische Prognostik. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass dieses Wissen in seinem pragmatischen Geltungsanspruch durch Simplicissimus’ Schreibverfahren auf allen Ebenen durchkreuzt wird. Nicht nur wird im Kalender selbst, nämlich in den beiden Diskursen zwischen Simplicissimus und den Gelehrten Zonagri (alias Garzoni) und Johannes ab Indagine, über Sinn und Unsinn von Astrologie und Prognostik, d. h. über die epistemologische Basis der Gattung Kalender diskutiert.289 Auch verwickelt der Kalenderschreiber Simplicissimus den Benutzer auf der Ebene der Disposition in „ein Spiel mit Ordnung und Chaos“, das, so Zeller, auf „Desinformation“ hinausläuft.290 Zwar kommuniziere Simplicissimus „alle Informationen, die man in einem Kalender braucht“, jedoch disloziere er sie im Ordnungssystem, enthebe sie ihres alltagspraktischen Nutzens, so dass der Benutzer am Ende nicht wisse, „was richtig und was falsch ist und woran er sich halten soll.“ 291 Weil freilich genau dies von Simplicissimus in seiner Vorrede als poetische Strategie ausgegeben wird – er habe, so schreibt er seinem Sohn, „mit Fleiß ein und andere Sachen durcheinander gesetzt / damit vermittelst ordentlicher Folg und besonderer Ausführung einer jeden Materi dein Fürwitz nicht auf einmal obenhin befriedigt / Sondern vielmehr genöthigt werde / das Lesen zu wiederholen“ –,292 ist die Forschung in
286 Ebd., fol. Aijr (Vorrede „Simplicissimi des Aelteren“). 287 Diese verspricht programmatisch der Titel des Kalenders. Vgl. ebd., fol. Ajr. 288 Ebd., fol. Aijr (Vorrede „Simplicissimi des Aelteren“). 289 Zur Funktion und Literarizität der astrologischen Diskurse im Calender vgl. u. a. Peter Michelsen: Der Wahn vergnügt. Grimmelshausen als Kalendermacher. In: Simpliciana 13 (1991), S. 443–476; Ruprecht Wimmer: Chaos – Mischmasch – Labyrinth. Zur Poetik des ‚Ewigwährenden Calenders‘. In: Simpliciana 15 (1993), S. 241–251; Italo Michele Battafarano: Die simplicianische Literarisierung des Kalenders. In: Simpliciana 16 (1994) S. 45–63; Dieter Breuer: Die Geister unterscheiden lernen. Zur 4. bis 6. Materie von Grimmelshausens ‚Ewig-währendem Calender‘. In: Simpliciana 16 (1994), S. 65–80; Barbara Bauer: ‚Es bleibt doch bey dem alten Brauch: M(undus) V(ult) D(ecipi).‘ Veraltete Astrologie in Grimmelshausens ‚Ewig-währendem Calender‘. In: Simpliciana 16 (1994), S. 81–116. 290 Rosmarie Zeller: Die ‚ordentliche Unordnung‘ als poetologisches Prinzip in Grimmelshausens ‚Ewig-währendem Calender‘. In: Simpliciana 16 (1994), S. 117–136, hier S. 121. 291 Zeller: Die ‚ordentliche Unordnung‘, S. 126. 292 EC, fol. Aijr (Vorrede „Simplicissimi des Aelteren“).
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ihrer Mehrheit darin überein gekommen, den Ewig=währenden Calender als eine, so Wimmer, „in Sachliteratur verkleidete Poetik“ 293 zu verstehen – eine Poetik, bei der es um die Herausforderung von Verstand und „Fürwitz“ durch die Überführung (vermeintlich) eindeutiger Text-Welt-Relationen in uneindeutige, vieldeutige, sich relativierende und labyrinthisch verschachtelnde gehe.294 Diesen Faden aufgreifend, sollen im Folgenden zwei eng miteinander verknüpfte Fragen diskutiert werden. Zu klären ist demnach erstens, was es zu bedeuten hat, dass Simplicissimus diese Poetik (wenn es sich denn um eine solche handelt) in einer der ökonomischen Praxis gewidmeten Gattung entfaltet. Zweitens soll im Rückbezug auf die bisherigen Ausführungen überlegt werden, worin sich die Profilierung des Kalenderautors Simplicissimus von der des Gauklers im Springinsfeld-Roman unterscheidet und was dies über die Verortung der Figur insgesamt aussagt. Ziel ist es, auf diese Weise zu einer Reperspektivierung des Verhältnisses von Ökonomie und Poetik im simplicianischen Werk zu kommen, in die bisher unbeachtet gebliebene Aspekte miteinbezogen werden können. Es sagt einiges über die bisherigen Interessenslagen der GrimmelshausenForschung aus, dass sie sich dem ökonomischen Wissensgehalt des simplicianischen Kalenders, ganz im Gegensatz zu dessen astrologischen Wissensgehalten, bisher kaum gewidmet hat.295 Als bloße ‚Verkleidung‘ (Wimmer) für den eigentlich interessanten poetologischen Diskurs verstanden, wurde dem Sachbezug des Kalenders auf das Haus eine sekundäre, wenn nicht gar arbiträre Bedeutung zugewiesen. Dass sich diese Einschätzung vor dem Hintergrund der bisher gewonnenen Einsichten zur Verknüpfung von Ökonomie und Poetik bei Grimmelshausen nicht halten lässt, braucht kaum der Erwähnung. Ein Blick auf die äußeren Umstände der Handlung bestätigt dies: Irgendwann nach der Einrichtung des simplicianischen Hauses und Simplicissimus’ Aufbruch gen Kreuzinsel entstanden, verweist der Kalender auf die Zeit des „geruhigen Herrn-Handel[s] mitten unter den Bauren“,296 die einen signifikanten Punkt innerhalb der Simplicissimus-Vita markiert. Die Rede ist von der Umstellung des Handelns der Figur von Taktik auf Strategie, die gemäß der inneren Logik pikarischer Narration mit einer (drohenden) Stillstellung des Erzählens einhergeht. Als Herr des von
293 Ruprecht Wimmer: Kalendermachen als Dichten. Sieben Thesen zu Grimmelshausens ‚Ewigwährendem Kalender‘. In: Simpliciana 17 (1995), S. 39–43, hier S. 41. 294 Vgl. hierzu neben der Arbeit von Wimmer: Chaos, S. 241–251, vor allem die Beiträge von Breuer: Die Geister unterscheiden lernen, und Zeller: Die ‚ordentliche Unordnung‘, S. 131 f. 295 Mit Ausnahme Zellers, die, wie bereits erwähnt, auf die enthaltene ‚Bauren=Practic‘ immerhin kursorisch eingegangen ist. Vgl. Zeller: Die ‚ordentliche Unordnung‘. 296 W I/1: Simplicissimus, S. 473 f.
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Knan und Meuder rentabel gemachten Hofes verfügt Simplicissimus über die Mittel, seine Zeit mit müßiger Lese- und Schreibarbeit zu vertreiben, kann dabei jedoch nicht mehr auf eigene neue Erfahrungen zurückgreifen, sondern durchkreuzt den Raum der Bücher, immer auf der Suche nach neuem Wissen, mit dem er dem Mangel an neuen Erfahrungen – und damit, auf poetisch-struktureller Ebene, dem Problem der Sujetlosigkeit des eigenen Lebens – abzuhelfen sucht. Die fiktiven Produkte dieser Mußezeit, Sprossschriften wie der Teutsche Michel, das Galgen-Männlin oder der Bart-Krieg, zeugen von dieser Bewegung aus der Peripherie der Welt in die Peripherie der Bücher, indem sie einerseits das Textuniversum erweitern, in das die Figur sich einwebt, andererseits daran erinnern, dass sie ihre rastlose Bewegung durch die Welt (vorerst) beendet hat. In Analogie zum Standort des simplicianischen Hauses beim Sauerbrunnen, der wirtschaftliche Prosperität und müßige Unterhaltung zugleich verspricht, ist Simplicissimus’ Ort des Eigenen von vornherein doppelt codiert: er ist ein ökonomischer und ein literarischer Ort. Von den genannten Sprossschriften unterscheidet der Kalender sich genau darin, dass er diese doppelte Codierung zum Thema macht. Dabei bewegt sich Simplicissimus gezielt in eine paradoxe Schreibposition. Deutlich wird dies in der Umcodierung des Nutzenbegriffs, der der bedienten Gattung gemäß eigentlich (primär) auf die Praxis der Hauswirtschaft bezogen sein müsste, in Simplicissimus’ Diskurs jedoch auf die Ebene des literarischen Zeitvertreibs verschoben wird. In der „Vorred und Erinnerung“ an den „Jüngsten Simplicium“, seinen Nachfolger auf der Position des müßigen Hausherrn, hebt er diese Funktion des Kalenders gleich zu Beginn hervor: Mein liebes Kind: Wann du über kurtz oder lang nach meinem Hintritt über diesen Calender kommst / so sey ermahnet / daß ich ihn allein vor dich / und zwar mir und dir zu Nutz geschrieben; Mir / daß ich in so langweiliger Zeit [!] auf meinen solchen einzelen Bauern=Hof den Müssiggang vermitten / [...]; dir aber / daß du ihn auch zu müssigen Zeiten gebrauchen sollest / in Durchlesung desselben deinen Verstand zu üben und aufzumuntern [...].297
Entsteht der Nutzen des Kalenders demnach qua Suspension seiner ökonomischpraktischen Funktion – weshalb Brandstellers Einschätzung, Simplicissimus habe den Seinen aufweisen wollen, „wie sie etwann ins künfftig nach seinem Todt hausen“ 298 sollen, geradewegs ins Leere weist –, so bleibt die ökonomische Praxis als Ermöglichungsbedingung des müßigen Spiels mit den kalendertypischen Wissenselementen im Schreibverfahren doch präsent. Dies ist der Fall
297 EC, fol. Aijr. 298 Ebd., S. 94.
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zum einen dort, wo die untermischten Elemente der „Bauren=Practic“ den Leser an den häuslich-agrarischen Sachbezug der Gattung erinnern, zum anderen in den inserierten Gesprächen des Simplicissimus mit Knan und Meuder, in denen die Abständigkeit von Bücherwissen und bäuerlichem Erfahrungswissen satirisch ausgehandelt wird. Auf den epistemologischen Aspekt dieser Gespräche, der ins Zentrum der paradoxen Anlage der Schrift weist, ist ein genauerer Blick zu werfen. Das erste, das dabei ins Auge fällt, ist die affirmative Haltung, die Simplicissimus in den Gesprächen zu den Kalendern einnimmt. Ganz im Gegensatz zu den (chronologisch später entstandenen) Einlassungen gegenüber seinem Sohn, in denen er die Kalenderschreiberei als Lüge und „Narren=Werck“ bezeichnet,299 betont er gegenüber Knan und Meuder immer wieder den Nutzen der Schriften. Dem Vorwurf Meuders, er habe „warhafftig abermahl 6. newe Practicken auff einmahl kaufft“ und sein Geld damit „vernarre[t]“,300 begegnet er mit dem Hinweis auf die große Unterstützung, die die „Bauren-Practic“ dem Menschen in Haus und Hof gebe: Man muß ja gleichwol auch wissen wanns New wird / wann Feyr= und Fastäg kommen / und was es etwann vor Wetter geben möchte / damit man sich beydes in der Haußhaltung und auff dem Feld mit der Arbeit darnach richten kann.301
Diesem mutmaßlich geradewegs von einem Kalendertitel abgelesenen Plädoyer widerspricht Meuder freilich vehement. Unter dem Hinweis, dass die „Gänß und Endten ja unsere Flöhe und Wandläuse / […] besser daß künfftig Regenwetter verkündigen“ könnten, „als die grosse Herrn Doctor Calendermacher mit einander“, greift sie die schrift- und druckgestützte Gelehrtenkultur, die sie als Analphabetin hinter den Schriften vermutet, beherzt an.302 Alles, was in den Büchern stehe, wisse der Bauer aus mündlicher Unterweisung und eigener Beobachtung von Jugend auf. Sie selbst etwa sei schon als „kleines Mägden“ 303 mit ihrem Vater zum Viehhüten gegangen und habe dort alles Wichtige für ihr Leben erfahren:
299 Ebd., fol. Aijr. Auf die Zweifelhaftigkeit der Kalendergattung weist auch das Titelkupfer hin. Hier werden dem auf unzählige Kalenderbücher zeigenden Simplicissimus die Worte in den Mund gelegt: „Her, her, mir [sic!] der Thorheit Noch Immer mehr her, Ich fasse derselben Je lenger Je mehr.“ 300 Ebd., S. 42. 301 Ebd. 302 Ebd., S. 44. 303 Ebd., S. 50.
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[V]ermeinet dann jhr / wir geringe Leuth solten nichts wissen? Mein Knan und Mutter haben mir soviel erzehlet / daß ich wohl kein Calender bedörff / wann ich gleich selbst nichts beobacht hette.304
Auf Nachfrage von Simplicissimus, der „etliche solche Wissenschafften“ 305 erfahren möchte, führt die Meuder ihr breites Erfahrungswissen bezüglich der Wetterprognostik vor306 und beeindruckt ihren Ziehsohn damit derart, dass dieser zwischenzeitlich „halber beredt“ ist, seine Kalender zu entsorgen.307 Dazu kommt es zwar nicht (wie das spätere Gespräch mit dem Knan zeigen wird). Gleichwohl scheint ein erster Schritt zur Einsicht gegangen, dass das Erfahrungswissen der Bauern mit dem Buchwissen der ‚Gelehrten‘ mindestens konkurrieren kann, ja dieses vielleicht sogar übertrifft:308 „Mutter jhr seyt warlich in diesen Sachen geschickter als ich euch zugetrauet hätte / verwundert mich wer euch ein Ding so sagt / und wie jhr alles so wohl im Kopff halten könt.“ 309 Dass die Verunsicherung der Erkenntnisposition des Büchermenschen Simplicissimus im Bezug auf die Erfahrung der Bauern stattfindet, entspricht dem Wissen des Lesers, der das Scheitern der Figur an den praktischen Herausforderungen des Schwarzwälder Haushalts im Simplicissimus-Roman ja bereits zur Kenntnis nehmen konnte. Darüber hinaus entspricht es aber auch einer allgemeinen Tendenz des ökonomischen Diskurses im 17. Jahrhundert. Grimmelshausen konnte die Spannungslinien, die das Erfahrungsparadigma im Schrift-
304 Ebd. 305 Ebd., S. 44. 306 Es handelt sich dabei um Regeln, die Grimmelshausen den Siben (1579) bzw. XV Büchern von dem Feldbau (1588) des Melchior Sebisch entnommen hat – einer Schrift, die zu Beginn der ‚dritten Materia‘ als Quelle auch erwähnt wird. Vgl. Koschlig: Der Mythos vom ‚Bauernpoeten‘ Grimmelshausen, S. 123. In der hier konsultierten Ausgabe der Ökonomik Sebischs findet sich die Passage im ersten Buch, Kap. 4. Vgl. Sebisch: Siben Bücher, S. 9 et passim. Was die Herkunft des Erfahrungswissens Meuders aus einer ökonomischen Schrift der Zeit deutlich macht, ist, dass es im simplicianischen Kalender nicht um tatsächlich nicht-verschriftetes, mündliches Wissen geht. Auch das Erfahrungswissen der Bauern stammt vielmehr aus schriftlichen Quellen, wobei es bei Sebisch, ähnlich wie bei Coler als praktisches, tendenziell mündlich tradiertes Erfahrungswissen ausgegeben wird. Grimmelshausens Unternehmen einer satirischen Kritik am gelehrten Diskurs ist ein genuin literarisches Unterfangen. 307 EC, S. 52. 308 Zur Gelehrtenkritik in Grimmelshausens Kalender vgl. bereits Silvia Serena Tschopp: Wissenschaft und Wahn. Die Inszenierung von gelehrtem Wissen als Erkenntniskritik in Grimmelshausens ‚Ewig=währendem Calender‘. In: Daphnis 31 (2002), S. 349–368. Die folgenden Ausführungen sind darum bemüht, den von Tschopp nicht einmal in Ansätzen aufgezeigten Bezug der Gelehrtenkritik Grimmelshausens auf die ökonomische Literatur seiner Zeit sichtbar zu machen. 309 EC, S. 60.
4.1 Die Häuser des Simplicissimus
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raum seiner Zeit hinterließ, in den von ihm wiederholt konsultierten ökonomischen Texten Schupps, Rists und Colers nachvollziehen. Als Auslöserin der intertextuellen Dynamiken, die diese Schriften miteinander verbinden, fungiert dabei Colers Calendarium-Vorrede. In ihr hatte der Doberaner, später Parchimer Pfarrer die Bedeutung der „erfarungen“ bäuerlicher Praktiker für die Generierung validen ökonomischen Wissens hervorgehoben. Ohne die überlieferte „Theoriam aus den Büchern“ freilich zu ersetzen, würden die „natürliche inductiones“ der Bauern und illiteraten Hauswirte doch häufig die Sache besser treffen, als es diejenigen könnten, die sich nur auf die Bücher verließen:310 Darumb sol man nu diesem mittel [der Ökonomie, S. Z.] fleissig nachtrachten / in die Natur gehen / vnd derselbigen nachdencken / wie denn beyde gelerte vnd vngelerte biß anhero allezeit gethan / vnd findet sich trawen gar offten / das ein schlechter Haußwirt / ja ein schlechter Ackerman […] / so weder schreiben oder lesen können / offt mit jhrer schlechten nachrechnung vnd einfeltigem nachdencken / ex antecedentibus experientijs, in jren sachen / wol so nahe / vnd viel neher / zum ziel schiessen / als jrgent ein Gelerter / der ohne die erfarung nur den Büchern / vnd gelerter Leute gutdüncken nachfolget: Doch hiemit gelerten Leuten nichts zu nah geredt. Denn ich setzte dieses nur zu dem ende / das man gleichwol erfarner Haußwirte / eines jeden in seiner Hantierung / Regeln vnd Prognosticationes / neben den Gelerten mit her spatzieren lassen / vnd sie nicht so gantz vnd gar verwerffen vnd verachten sol / wie etliche thun.311
Das Modell, das Coler vorschwebt, läuft somit auf eine Annäherung von Gelehrten und Praktikern hinaus, in der das hierarchische Gefälle zwischen ihnen zwar nicht aufgehoben wird – am Ende ist es der Gelehrte, nicht der „schlechte[ ] Ackerman“, der das nützliche Buch vom Haushalten herstellt –, die jedoch einen Diskurs ermöglichen soll: Indem die Bauern und Hauswirte in peripatetischer Weise „neben den Gelerten mit her spatzieren“, werden sie zu Agenten
310 Coler: Calendarium Oeconomicum & perpetuum, fol. A4v. Mit dieser Auffassung grenzt sich Coler vom aristotelischen Schulwissen seiner Zeit ab. Demnach gehörte es seit Xenophon und Aristoteles zwar zu den Topoi des ökonomischen Diskurses, den Wert der Erfahrung zu betonen. Dieses Konzept war im akademischen Kontext jedoch zum Abstraktum geworden, so dass an eine Einspeisung zumal bäuerlichen Erfahrungswissens in die gelehrte Debatte nicht zu denken war. Den Hintergrund für diese Verschiebung bildet die Orientierung Colers (und schon seines Vaters) am naturkundlich-empirischen Ökonomiekonzept der römischen Autoren de re rusticae. So betont er in der Calendarium-Vorrede, dass jeder Hauswirt gemäß den sich ändernden Bedingungen der Natur, des Klimas usw. „wider auff ein newes zu lernen“ anfangen müsse, um sich „einen newen Columellam vnd Varronem [zu] machen“. Coler: Calendarium Oeconomicum & perpetuum, fol. A4v–r. Zur antiken Tradition agronomischer und ökonomischer Wissenssammlung bei Cato, Varro und Columella vgl. Diederich: Römische Agrarhandbücher. Zur Nähe insbesondere Catos und Varros zu Oralität und Erfahrungswissen vgl. ebd., S. 156–163. 311 Coler: Calendarium Oeconomicum & perpetuum, fol. A3v–r.
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des Wissens, deren Stimme Coler in seinem Text als solche zwar nicht hörbar macht, aber doch zum integralen Bestandteil des Diskurses erklärt. Colers Schriften sind im Deutschland des 17. Jahrhunderts so einflussreich, dass kaum ein Autor, der sich mit der oeconomia befasst, an ihnen vorbeikommt. Dies gilt auch für Rist, der in der Vorrede zu seinem Adelichen Hausvatter auf Colers Vorrede implizit Bezug nimmt, wobei seine Argumentation zwischen Polemik und Apologie schwankt. So gesteht er „auffrichtig“ ein, dass er „von Haußhaltungen“ in der Praxis „nichtes oder doch gahr weinig verstehe“, weswegen es ihm als eine „Kühnheit“ ausgelegt werden könnte, dass er „von den jenigen Dingen / welche zu Einer vollenkommenen Haußhaltung gehören / Ein Buch zu schreiben“ sich vorgenommen habe.312 Dass der Rüstige zunächst überhaupt in eine Verteidigungshaltung einschwenkt, unterstreicht die Macht des Coler’schen Erfahrungskonzepts. Als Pfarrer und Gelehrter, so Rist, habe er schlechthin keine Zeit für Ausflüge auf den bäuerlichen Acker. Neben den täglichen Mühen bei der Betreuung der Gemeinde sowie der Anstrengung bei der „Erlernung und Außubung allerhand guhter Künste / Sprachen und Wissenschafften“ 313 könne er unmöglich auch noch „bei dem Pfluge her spatzieren / die Eggen auff dem Acker begleiten / mit dem Seeman im Felde Unterredung pflegen“.314 Wie die Unterscheidung zwischen guten Künsten und Wissenschaften und solchen, für die man als Gelehrter keine Zeit hat, schon zeigt, impliziert dieses Argument trotz apologetischer Geste eine Wertung.315 So kann es auch nicht verwundern, wenn genau an dieser Stelle der polemische Gegenangriff Rists auf Coler ansetzt. Man könne ihn, so Rist, „gleich deswegen so viel man immer will“ verlachen, er wisse doch, dass die groben Arbeiten auf dem Feld (und offenbar schon deren bloße Beobachtung) „vor keine gelahrte oder Liebhaber der Bücher / sondern eigentlich vor die starke Bauren“ gehörig seien.316
312 Rist: Der Adeliche Hausvatter, S. 169. 313 Ebd. 314 Ebd. 315 Denn dass der ‚Rüstige‘ in anderen wissenschaftlichen Zusammenhängen sehr wohl die Zeit findet, ins Feld zu schreiten, ist aus seinen Schriften leicht ersichtlich. So wirft er, um nur ein Beispiel zu nennen, in seinem fünften ‚Monatsgespräch‘ von 1667 den Medizinern vor, dass sie sich nur mehr über die galenischen Lehren stritten, anstatt, wie er selbst es tue, „fein zusammen ins Feld [zu spazieren] und darfuer noch einige Kräuter kennen [zu lernen].“ Johann Rist: Die alleredelste Erfindung Der Gantzen Welt […]. In: ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Helga Mannack und Klaus Reichelt hg. von Eberhard Mannack. Bd. VI. Berlin, New York 1976, S. 137. 316 Rist: Der Adeliche Hausvatter, S. 170. Rhetorisch bemerkenswert an Rists Formulierung ist die Inszenierung eines emotionalisierten mündlichen Sprachduktus, der den Leser auf die repulsive Argumentation einstimmen soll: „Nein / nein / mit allen diesen Sachen habe Jch
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Aufgabe des Gelehrten könne es daher nicht sein, den Leser zu unterweisen, wie man sich „mit dem Akkerbau wol zu behelffen und allerhand Ahrt Viehe zu erziehen weis / den auff solchen fall die allergröbeste ungeschikkeste Bauren die vortreflichste Haußhälter sein würden“.317 Vielmehr müsse er sein Augenmerk zuallererst auf die Einhaltung der sittlichen Ordnung im Haus richten. Es verdiene allein derjenige eigentlich den Namen eines guhten und verständigen Hausvatters / der da recht und wol hat gelernet / wie Er mit Seinem Ehegatten freünd- und friedlich leben / Seine Kinder in allen Christlichen Tugenden wol erziehen / sein Gesinde vernünftig regiren und zu der Furcht Gottes halten […] und schließlich in Seiner Haußhaltung / Handel und Wandel also kan leben / daß Er Einen gnädigen Gott über sich / Ein guhtes Gewissen in sich / und einen ehrlichen Namen neben sich / nicht nur erwerben / sondern auch biß an Sein seliges Ende müge erhalten.318
Der religiöse Fluchtpunkt der Vorrede Rists ist damit klar markiert: Dort, wo das Haus gemäß lutherischer Lehre vom „guhten und verständigen Hausvatter“ regiert wird, fügt sich alles nach dem göttlichen ordo. Dies geht einher mit einer deutlichen Abwertung des nur praktisch arbeitenden Bauern. In Ermangelung von Sitte und Tugend kommt er für die Rolle des „Haußhälter[s]“ gar nicht infrage; sein möglicherweise vorhandenes Erfahrungswissen bezüglich Viehzucht und Feldbau ist im Diskurs irrevelant. Mit Schupps Kunst Reich zuwerden konnte Grimmelshausen noch einen dritten, in diesem Fall satirisch tingierten Diskursbeitrag zum Problem ökonomischen Erfahrungswissens studieren. Dass Schupp dabei gemäß der pragmatischutilitaristischen Ausrichtung seiner Schrift in kaum einem Punkt mit Rist übereinstimmt, kann nicht überraschen. Nicht nur kommt in seinem Text, wie schon erwähnt, der Bauer selbst zu Wort, um seine besondere Kompetenz bei der Einrichtung und Unterhaltung ertragreicher Höfe zu betonen.319 Auch wird der Leser durch die polemisch vorgetragene Gelehrtenkritik darauf eingeschworen, die Agenten des Buchwissens als nicht satisfaktionsfähige Beiträger zum ökonomischen Diskurs zu betrachten. Schupps Negativbeispiel, eine kameralistische Exzerptensammlung aus der Feder Maximilian Faust von Aschaffenburgs (1594/ 95–1651),320 wird auf diese Weise satirisch förmlich zerlegt. Wer so gelehrt „von
gantz und gahr nichts zu schaffen / man belache Mich gleich deswegen so viel man immer wil […].“ 317 Ebd., S. 171. 318 Ebd. 319 Schupp: Über die Kunst Reich zuwerden, S. 48–53. 320 Es handelt sich um dessen Consilia Pro Aerario Civili, Ecclesiastico Et Militari, publico atque privato (Frankfurt a. M.: Schleich, Erben 1641).
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der Cassen zunehmung“ schreibe, solle doch einmal „seiner Kunst ein Maisterstuck sehen lasse[n]“ und die „Säck“, die man ihm darlege, „mit Gold und Silber einfüll[en]“: Wann jhr [die hypothetischen Geldempfänger, S. Z.] 10. tausent Ducaten erhalten kundtet / wolt ich den hohen Schuelen in Teutschland rathen / daß sie etliche Lehrer der Haußmannschafft halteten / welche nit allein jenes ICti [Iurisconsulti, S. Z.] Rathschläg examinierten / sonder sucheten die Kunst der Haußhaltung.321
Die Idee einer Erneuerung des akademisch-gelehrten Wissens von der Ökonomie, die auf spätere Initiativen Christian Thomasius’ und anderer vorausweist, rückt somit ins Zentrum der Schupp’schen Schrift. In diesem Zusammenhang schließlich findet sich auch ein expliziter Bezug auf Coler, der als löbliche Ausnahme unter den ansonsten epistemologisch impotenten, weil an Praxis und Erfahrung nicht interessierten gelehrten Ökonomographen angeführt wird. „Jch verwundere mich / ja entsetze mich vilmehr“, so bekundet Schupps Erzähler, „[...] das / [...] / zu dieser gar witzigen zeit keiner / ausser dem Colero, gefunden wird / der die Oeconomische Künsten / mit gelehrter Feder abmahle.“ 322 Ironischerweise – und hierin liegt das autodestruktive Moment der Schrift – muss sich der Erzähler in diesen Tadel am Ende selbst miteinbeziehen, denn als Gelehrter verfügt er ebenfalls nicht über das Erfahrungswissen, um seinem Publikum etwas über profitables Wirtschaften in Haus und Staat mitzuteilen. Es wäre ihm „nichts angenemmers / als lehren / wie [...] / gute Leut mögen reich werden / [...]. Aber ich bekenne es rund vnd gut / das ich diß alles nit weiß.“ 323 Ein sokratischer Umgang mit der Aporie gelehrter Ökonomik, der das von Rist tendenziell affirmierte praktische Nichtwissen der Gelehrten unter negative Vorzeichen setzt, ohne es allerdings zu überwinden. Was lässt sich vor dem skizzierten Hintergrund nun über Simplicissimus’ Gespräche mit den Bauern sagen? Festzustellen ist zunächst, dass der simplicianische Kalenderautor einen Diskurs mit den Praktikern herzustellen sucht, wie Coler ihn dem gelehrten Ökonomographen empfiehlt. „Knan“, so lautet Simplicissimus’ Einladung an seinen Ziehvater, „kombt setzt euch einweil zu mir her zu sprachen [sic!] / weil es ohne das Regenwetter und Feyertag ist.“ 324 Mag dabei freilich schon irritieren, dass der ‚Gelehrte‘ Simplicissimus den Bauern hier nicht an den Orten seiner Praxis aufsucht – nicht „bei dem Pfluge her spatzier[t]“, wie
321 322 323 324
Schupp: Über die Kunst Reich zuwerden, S. 17. Ebd., S. 22. Ebd., S. 92. EC, S. 62.
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Rist schreibt –, sondern ihn umgekehrt in ein müßiges Stubengespräch einlädt,325 so nimmt auch der Diskurs selbst eine – an Colers Ideal gemessen – ‚verkehrte‘ Entwicklung. Zwar scheint es dem Knan, wie schon seiner Frau, zu Beginn zu gelingen, Simplicissimus vom Wert bäuerlichen Erfahrungswissens zu überzeugen; routiniert spricht er von der Bedeutung der Mondstände und Wetterzeichen und wird von Simplicissimus daraufhin für seine memoria gelobt.326 Just bei der Frage nach der ständischen und medialen Codierung ökonomischen Wissens verdüstert sich jedoch das Gesprächsklima. Entgegen der vermittelnden Feststellung Colers, dass „beyde gelerte vnd vngelerte biß anhero allezeit“ in die Natur gegangen seien, um nützliches Wissen zu sammeln,327 reklamiert Simplicissimus die Erfindung der induktiven Methode für die Gelehrten328 – zum großen Ärger Knans, der sich in seiner kernigen Art heftig zur Wehr setzt. Nachdem er seinen „Zweyffel“ ausgedrückt hat, ob die „Herrn Gelehrten“ von ökonomischen Dingen überhaupt „etwas […] wissen / oder ob sie solche jhre Wissenschafften vor uns auß Neyd verbergen“,329 und Simplicissimus auch mit einem ausgiebigen Erasmus-Referat nicht punkten kann,330 kommt der Knan zu dem Schluss, dass das Wissen der Gelehrten doch wohl von den Bauern gestohlen und mittels lateinischer Sprache als eigene Ware ausgegeben worden sei: Ja / ja Herr Sohn: Jhr kombt mir eben recht : Was die alte Bawersleuth / oder unsere Vorfahren hiebevor erfunden / das haben die Gelehrte von jhnen auffgefischt / ein lateinischen Pfeffer darüber gemacht / und solches nachgehents vor jhre eigene Waare der Welt
325 Dabei zeigt Simplicissimusʼ Wahl eines Regen- und Feiertages allerdings an, dass er dazu gelernt hat. Bei seinem Gespräch mit der Meuder war er vom Knan noch ermahnt worden, diese nicht von der Arbeit abzuhalten. Man müsse stets „hinden und forn“ im Haus unterwegs sein, außerdem müsse das Korn gewendet werden, da bald Regen einfalle. Ebd., S. 60/62. 326 Ebd., S. 72: „Ich hätte nicht geglaubt / daß jhr so viel Dings im Kopff behalten hättet können / wann ichs nicht allererst von euch gehöret hätte.“ Bei den prognostischen Aufzählungen des Knan handelt es sich erneut vor allem um Einfrachtungen aus Sebischs Siben Büchern von dem Feldbau, zumal aus dessen Kapitel „Das ein Meyer ein verstand vnd vorwissens haben soll von könfftigem Wetter / vnd änderung des Gewitters“. Vgl. Sebisch: Siben Bücher, S. 40 f. et passim. 327 Wie zitiert: Coler: Calendarium Oeconomicum & Perpetuum, fol. A3v. 328 EC, S. 78: „Simplicissimus. Lieber Knan ich glaube bey nahe allen diesen ewren Regulen / dann ich befinde daß auch Gelerte jhre gewise observationes gehabt / welche jetziger Zeit wann man sie hervor brächte / auch Bawren=Reguln oder Practicken genendt würden.“ 329 Ebd., S. 78. 330 Simplicissimus zitiert meteorologisches Wissen aus Erasmusʼ De duplici copia verborum ac rerum (1521). Vgl. ebd., S. 80/82/84 (dritte Materie). Der Knan befindet, dass das alles wohl so stimme, dass er es aber „bereits in [s]einer Jugend gewust und verstanden“ hätte, weshalb er nicht glaube, „daß wir Bawren etwas weiters von jhnen [den Gelehrten, S. Z.] werden lernen können“. Ebd., S. 84.
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dargeben und verkaufft; Was wollte so ein Kerl der daheimb in der Stuben sitzt zu speculiern / von denen Dingen sagen können damit wir Leuth stündlich umbgehen und selbst Hand anlegen?331
Der Vorwurf provoziert Simplicissimus derart, dass er seine Diskursbereitschaft vorübergehend völlig aufgibt. Aus einer Position eruditer Arroganz heraus erklärt er die Gelehrten zu den eigentlichen Trägern ökonomischen Wissens, wobei diese seiner Meinung nach nicht schuld seien, dass die Bauern ihre Bücher nicht lesen könnten: Daß die Gelehrte auch von solchen Sachen mehr als jhr Bawren wissen / daran ist kein Zweyffel / daß sie aber solches auß Neyd vor euch verbergen sollten ist gar nicht zuglauben / dann sie communiciren ja jhre Wissenschafften der gantzen Welt durch jhre Bücher; […] was könden nun sie darfür / daß die Bawren jhre Bücher nicht lesen : viel weniger verstehen köndten?332
Der Konflikt, in dem Simplicissimus den Knan schließlich als „Knollfincken“ 333 und der Knan Simplicissimus als „Dumnus Docter“ 334 bezeichnet, wird am Ende erwartungsgemäß nicht entschieden. Erschreckt von der freigesetzten Eskalationsdynamik, die die (funktionale) Harmonie im simplicianischen Haus zu beeinträchtigen droht, bricht Simplicissimus den Dialog ab: „Aber was ist das? Wir kommen mit diesem Gespräch viel zu weit auß dem Glaß [sic!] / in dem wir gleichsamb nur von den Bawern=Practicken zureden : und ich dardurch etwas von euch zu lehrnen vorgehabt habe.“ 335 Das Staunen des Simplicissimus über das Scheitern seines Unternehmens lässt sich auf zwei Ebenen deuten. Auf der Ebene satirischer Metatextualität macht es auf strukturelle Aporien des ökonomischen Diskurses aufmerksam, die in den genannten Schriften so nicht beobachtet werden können. Grimmelshausens Trick besteht dabei darin, die Standesdünkel von Gelehrtem und Bauer als eigentliche Basis ihrer Identität erkennbar werden zu lassen, wobei diese bezeichnenderweise erst dort hervortritt, wo der Bauer – der bei Coler und Rist keine eigene Stimme hat, bei Schupp kurioserweise ein durchaus gelehrt anmutender Redner ist – die vom Initiator des Gesprächs stillschweigend vorausgesetzte Prädominanz der eigenen, gelehrten Perspektive infrage stellt. Weisen die Gespräche des Kalenders damit auf den Umstand hin, dass selbst noch in der Vorstellung eines nach dem bottom-up-Prinzip gestalteten ökonomischen
331 332 333 334 335
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd.,
S. 86. S. 78. S. 86. S. 90.
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281
Wissenstransfers am Ende die mediale Macht des Gelehrten den diskursiven Ausschlag gibt – der Bauer kann sagen, was er will, in den Büchern steht, was der Gelehrte schreibt –,336 so zeigen die Reaktionen des Knan und zuvor schon der Meuder, dass dieses Gefälle den mundtot gemachten, bestenfalls zu Erfahrungslieferanten erklärten illiteraten Praktikern durchaus bewusst ist. Ihre ‚von unten‘ vorgetragene Kritik an den Gelehrten und deren Büchern mag dabei komische Züge tragen, etwa wenn Meuder für die Vernichtung der Kalender plädiert, die Titelkupfer mit den Bildnissen „grosser Herrn“ aber gerne aufheben möchte, weil sie diese für halbwegs lebendige Wesen hält.337 Dies nimmt ihr aber nichts von ihrer Berechtigung. Denn auch wenn Simplicissimus am Ende des Gesprächs – nach dessen Verlauf wohl etwas heuchlerisch – bekundet, dass er „etwas von euch [dem Knan. S. Z.] zu lehrnen vorgehabt“ habe, ist er es doch, der die Form des „Glaß[es]“ vorgibt, in das der Diskurs gegossen werden soll.338 Weil er bei der Konstruktion desselben mit der abweichenden Perspektive des Bauern freilich nicht gerechnet hat, sondern vielmehr von deren funktionaler Verfügbarkeit ausgeht, trifft ihn die eigentliche Schuld am Scheitern des Gesprächs. Damit ist die zweite, text- bzw. werkimmanente Deutungsebene bereits angesprochen. Mit Blick auf diese gilt es, nochmals auf die auffällige Differenz einzugehen, die sich zwischen dem sein Werk als lügenhaftes „Narren=Werck“ ausgebenden Prolog-Verfasser Simplicissimus und dem die Kalender, ja das gesamte ökonomische Buchwissen verteidigenden Simplicissimus der Bauerngespräche ergibt. Nimmt Simplicissimus in den Gesprächen gezielt eine Haltung ein, die er im Herzen gar nicht vertritt – etwa um die Bauern zu ‚foppen‘, wie Meuder an einer Stelle vermutet?339 Dagegen spricht einiges. Nicht nur wirkt seine eingangs des Meuder-Gesprächs formulierte Meinung, man brauche Kalender, um sich nach ihnen „beydes in der Haußhaltung und auff dem Feld mit der Arbeit […] [zu] richten“, durchaus authentisch.340 Auch deutet die eska-
336 Dieses Prinzip bleibt auch bei Schupp in Kraft, fahndet dessen Erzähler doch, wie zitiert, nach jemandem, „der die Oeconomische Künsten / mit gelehrter Feder abmahle.“ Schupp: Über die Kunst Reich zuwerden, S. 22. 337 EC, S. 54. 338 Es handelt sich hier allerdings wohl um einen Druckfehler, statt „Glaß“ sollte wahrscheinlich „Glaiß“ stehen. Hierfür spricht, dass Simplicissimus auch an anderer Stelle von der Form des Diskurses als „Glaiß“ spricht. So etwa im Fall Springsinsfelds, der nach einer Digression von seinem Mentor ermahnt wird, „auß dem Glaiß [s]eines aignen Lebenslauffs gefahren“ zu sein. W I/2: Springinsfeld, S. 223. 339 EC, S. 52: „Simplicissimus. Je Mutter wie seyt jhr auch so trutzig? darff ich dann nichts mehr von euch fragen oder thun? Mutter. Ey Herr Sohn behüt GOtt/ in alle weg / ich hab eben gedacht jhr fobt mich nur.“ 340 Ebd., S. 42.
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lative Dynamik des Knan-Gesprächs darauf hin, dass es Simplicissimus hier tatsächlich (noch) um etwas geht. Seine Frage „Aber was ist das?“, mit der er die Eskalation unterbricht, drückt aufrichtiges Erstaunen über den Verlauf des Gesprächs aus, einschließlich der arroganten Zuspitzung der eigenen Rolle als ‚Gelehrter‘, an deren Ende er von einem offenen Diskurs selbst nichts mehr wissen will. Zusammengenommen legen diese Indizien daher doch eher nahe, dass die Gespräche für Simplicissimus selbst einen Umschlagpunkt markieren. In ihnen beginnt seine zunächst noch vorhandene Überzeugung, die Lücke zwischen Erfahrungs- und Buchwissen schließen zu können, der Einsicht zu weichen, dass dieser Anspruch aus seiner Position heraus nicht einlösbar ist. Diese Einsicht wiegt dabei umso schwerer, als sie zugleich einen Abschied vom epistemologischen Supremat des Buches impliziert. Welches Wissen auch immer Simplicissimus aus den Büchern zieht, um Knan und Meuder die Überlegenheit der gelehrten Perspektive zu demonstrieren – ein Vorgehen, das angesichts der Abhängigkeit des Hausherrn vom Erfahrungswissen der Bauern durchaus auch kompensatorische Züge trägt –, die beiden Praktiker zeigen sich unbeeindruckt, ja können in ihrer unverstellten Art plausibel machen, über dieses Wissen bereits seit Kindheitstagen zu verfügen. Für die Poetik des Kalenders hat dies weitreichende Folgen. Betrachtet man die Bauerngespräche als dessen Nukleus – mit ihnen hätte das an Coler geschulte Unternehmen der gelehrten Diskursivierung ökonomischen Erfahrungswissens seinen Anfang nehmen sollen –, so lässt sich von ihnen aus die Chaotisierungstrategie erklären, die Simplicissimus als Kalenderautor verfolgt. Erst aufgrund der Einsicht, dass das Wissen, auf das er sich bezieht – das ökonomische Buchwissen der Kalender und anderer Schriften –, auf der Sach- bzw. Erfahrungsebene der Ökonomie funktionslos ist, kann es aus der „ordentliche[n] Folg“ gelöst und für das in sich leerlaufende, weil zu keinem Ende in der ‚Sache‘ kommende Spiel mit dem „Fürwitz“ des Lesers verfügbar gemacht werden.341 In dieser Verschiebung des iterativen Moments des ‚ewig=währenden‘ Textes vom Lauf der Dinge im Haus (res) zum ad infinitum fortsetzbaren vergnüglich-neugierigen Lesen (verba) vollzieht sich die von der Forschung reklamierte ‚Literarisierung des Kalenders‘ (Battafarano).342
341 Wie zitiert: Ebd., fol. Aijr (Vorrede „Simplicissimi des Aelteren“). 342 Dabei ist festzustellen, dass der Kalender durch diese Funktionsverschiebung seinen Nutzen für die Praktiker im simplicianischen Haus verliert. Nachdem er jahrelang herumgelegen hatte, entscheidet Meuder sich, ihn zum Einwickeln von Butter zu benutzen. Es ist die satirische Schlusspointe der fiktiven Geschichte des Manuskripts: In ihrer besonderen Nahrhaftigkeit verweist die Butter als „schmutzige Materia“ (ebd., S. 94) auf die substantielle Einträglichkeit der simplicianischen Ökonomie. An dieser ist der gelehrte Herausgeber des Kalenders, Christian Brandsteller, aber natürlich nicht interessiert, als er Meuder die gesamte Marktladung Butter abkauft. Ihm geht es um die verba des Simplicissimus, die sich von der Basis
4.1 Die Häuser des Simplicissimus
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Von diesem Punkt aus nun lassen sich die im Springinsfeld zu beobachtenden Bemühungen des Simplicissimus um eine (Re-)Profilierung seiner Rolle als Hausvater noch einmal neu beleuchten. Zu beachten ist dabei der Umstand, dass die Veröffentlichung des Kalenders selbst eine Indiskretion bedeutet, die den Kreuzinsel-Rückkehrer an einem neuralgischen Punkt trifft: seinem müßigen, aus christlicher wie ökonomisch-praktischer Sicht mindestens fragwürdigen Lebensentwurf. Diese Indiskretion erscheint im Handlungskontext umso delikater, als sie nicht nur vom Herausgeber Brandsteller, sondern auch vom jüngeren Simplicius zu verantworten ist. Mit seinem Widmungsschreiben an die „in allen Oertern der weiten und breiten Welt […] Sich in guten Wolstand [!] befindenden SIMPLICISSIMIS“ 343 setzt sich Simplicius junior über das Gebot seines Vaters, den Kalender „sonst niemand unter die Händ kommen“ 344 zu lassen, demonstrativ hinweg. Ob bewusst oder nicht trägt er damit dazu bei, das öffentliche Bild seines Vaters in einer von diesem nicht erwünschten Weise zu beeinflussen345 – sieht der ältere Simplicissimus in der Kalender-Vorrede doch schon voraus, dass man ihn wegen dieses Buches „verlach[en]“ könnte.346 Vor diesem Hintergrund erscheint es durchaus plausibel, in Philarchus’ souffliert wirkendem Lob des Hausvaters Simplicissimus (auch) den Versuch zu sehen, die Scharte des Ewig=währenden Calenders auszuwetzen.347 Die Strategie, der der gelehrte Schreiber folgt, lässt sich anhand des sondierten Textfelds (Coler, Rist, Schupp) dabei gut nachvollziehen. Um die hausväterliche Autorität des Simplicissimus zu befestigen, ohne die Widersprüche zwischen Buch- und Erfahrungs-
der oeconomia, auf die sie verweisen, völlig abgelöst haben. Zu den poetologischen Implikationen des Butterpapierhandels zwischen Meuder und Brandsteller vgl. auch Battafarano: Die simplicianische Literarisierung des Kalenders, S. 55 f. 343 EC, fol. Aijv (Widmungsschreiben des jüngeren Simplicius). 344 Ebd., fol. Aijr (Vorrede „Simplicissimi des Aelteren“). 345 An bloße Naivität des jüngeren Simplicius zu glauben, fällt dabei allerdings schwer, trägt seine Vorrede doch deutlich ironisch-subversive Züge: Indem er den Text den ‚Simplicissimis‘ in aller Welt widmet, erinnert er nochmals daran, dass das Buch eigentlich nur für seine Hände bestimmt war. Das Konzept der Familie als genealogisch integrierter, von der auctoritas des Vaters (und der Vor-Väter) garantierter Einheit wird damit im Veröffentlichungsprozess des Kalenders komisch ad absurdum geführt. 346 EC, fol. Aijr (Vorrede „Simplicissimi des Aelteren“). 347 Dass der Kalender in der empirischen Werkchronologie nach dem Springinsfeld erscheint, spielt dabei keine Rolle. Es zählt hier allein die fiktive Chronologie der Erscheinungen, die in diesem Punkt absolut eindeutig ist: Als der Kalender in der simplicianischen Welt erscheint, ist Simplicissimus noch nicht von der Kreuzinsel zurück – der Springinsfeld kann also noch nicht geschrieben sein. Der schon erwähnte Umstand, dass Grimmelshausen den Kalender 1669 bereits fertiggestellt haben dürfte, räumt letzte Zweifel an der konzeptuellen Abgestimmtheit der Texte aus.
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wissen, verba und res der Ökonomie erneut an die Oberfläche treten zu lassen, gibt Philarchus die Orientierung am Coler’schen Erfahrungsparadigma auf und richtet den Diskurs auf das moralisch-sittliche Ökonomiekonzept Rists aus. Ein Vergleich der Passagen zeigt die Übereinstimmungen. Nach seiner Schilderung der vertraulich-höflichen Umgangsformen der Simplicianer kommt Philarchus zu dem Schluss, Simplicissimus habe „seine Haushaltung auf einen solchen reputirlichen Fuß“ gesetzt und „seine so einfältige als grobe Hausgenossen zu solchen löblichen Sitten gewöhn[t]“.348 Bei Rist hatte es ganz ähnlich geheißen, den Namen eines „guhten und verständigen Hausvatters“ verdiene derjenige, der „da recht und wol hat gelernet / wie Er mit Seinem Ehegatten freünd- und friedlich leben / Seine Kinder in allen Christlichen Tugenden wol erziehen / sein Gesinde vernünftig regiren und zu der Furcht Gottes halten […] und schließlich in Seiner Haußhaltung / Handel und Wandel also kan leben / daß Er Einen gnädigen Gott über sich / Ein guhtes Gewissen in sich / und einen ehrlichen Namen neben sich / nicht nur erwerben / sondern auch biß an Sein seliges Ende müge erhalten.“ 349 Auf die Frage, wie glaubwürdig Philarchusʼ insistente Betonung der ‚Löblichkeit‘ und ‚Reputierlichkeit‘ des simplicianischen Hauses ist – ob hinter derselben tatsächlich die von Rist geforderte Integration transzendenter und immanenter Ordnung (Gott, Gewissen, ehrlicher Name) in der Figur des Hausvaters steht –, braucht hier nicht noch einmal eingegangen zu werden.350 Festzuhalten ist am Schluss dieses Exkurses allerdings, dass von Simplicissimus’ Versuch, seine auctoritas im Rekurs auf ökonomisches Praxiswissen zu begründen, im Springinsfeld keine Spur mehr ist. In Anlehnung an Rist, der in seiner Vorrede im Kanzelton bestimmt hatte, „daß solche Arbeit [Ackerbau und Viehzucht, S. Z.] vor keine gelahrte oder Liebhaber der Bücher / sondern eigentlich vor die starke Bauren gehöre / wie den eben diese Meinung auch der weise Haußlehrer Sirach / im 39. Kapittel Seines Büchleins bestetiget / wen er Spricht: Wer die Schrifft lernen sol / der kann keiner anderen Arbeit warten“,351 inszeniert sich Simplicissimus nach seiner Rückkehr von der Kreuzinsel als ‚Prediger‘, der die einfache „Bauern=Practic“ zugunsten der (Heiligen) „Schrifft“ hinter sich gelassen hat.
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W I/2: Springinsfeld, S. 208. Rist: Der Adeliche Hausvatter, S. 171. Vgl. dazu Kap. 4.1.5 dieser Arbeit. Rist: Der Adeliche Hausvatter, S. 170.
4.2 Prosperität, Zirkulation und Kommerzien im Simplicianischen Zyklus
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4.2 Prosperität, Zirkulation und Kommerzien im Simplicianischen Zyklus Im zweiten Hauptabschnitt dieses Kapitels sollen Aspekte des Ökonomischen beleuchtet werden, die jenseits des auf das Haus bzw. die Familie ausgerichteten oeconomia-Wissens liegen. Die Rede ist vom Markt und dem Bereich des Kommerziellen, der spätestens mit Simplicissimusʼ Continuatio-Prolog ins Zentrum simplicianischer Poetologie rückt. Die in diesem Zusammenhang bereits gemachte Beobachtung, dass die Konzepte traditioneller Moraldidaxe auf dem Markt ihre Geltung zu verlieren drohen, deutet auf einen ersten zentralen Problemzusammenhang. Vorläufig lässt er sich in Form der Frage nach dem moralischen Index merkantilen Handelns greifen, wobei im Fall simplicianischen Erzählens mit Antworten gerechnet werden muss, die mit dem schematischen Antichrematismus der aristotelisch geprägten Tradition nicht in Deckung zu bringen sind. Der Annahme entsprechend, dass die diskursive Formatierung des simplicianischen Wissens vom Markt die in der literarischen Tradition vorhandenen Konzepte sprengt – auf welche Weise, wird im Folgenden zu zeigen sein –, ist der Horizont der Untersuchung an dieser Stelle in epistemologischer wie poetologischer Hinsicht zu erweitern. Gerade aus der Tatsache, dass die Tradition wenig oder keine Ansätze zur formalen Integration der Kommerzien bietet, scheinen im Simplicianischen Zyklus besondere Potenziale der Imagination zu resultieren. Ein Indiz hierfür ist das Auftreten von Elementen des Wunderbaren just in den Erzählzusammenhängen, an denen das Kommerzielle in seiner komplexen Verflechtungslogik fokussiert wird. Drei dieser Erzählzusammenhänge sollen im Folgenden näher beleuchtet werden: Erstens wird es um Simplicissimusʼ Reise ins Zentrum der Erde gehen, die Einsichten über einen Grenzbereich menschlicher Erfahrung liefert, zugleich jedoch als eine Art Modellerzählung fungiert, von der aus die simplicianischen Spekulationen über das Funktionieren komplexer Systeme ihren Anfang nehmen. Zweitens wird es um die sogenannte Schermesser-Episode der Continuatio gehen, in der diese Spekulationen aufgegriffen und im Sinne einer impliziten Poetik simplicianischen Erzählens (als zyklisches Erzählen) weiterentwickelt werden. Und drittens soll mit den Vogel-Nest-Romanen der chronologisch letzte Teil des Zyklus untersucht werden, in dem der spannungsreiche Konnex von Politik, Kommerzien und Moral einer unerwarteten, weil die auf der Textoberfläche entfalteten antichrematistischen Topoi subversiv aushebelnden historischen Aktualisierung unterzogen wird.
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4.2.1 Paradoxien der Prosperität: Simplicissimus und der Stein der Sylphen Um die besondere Bedeutung der Mummelsee-Episode für die Beziehung von Ökonomie und simplicianischem Erzählen zu erschließen, ist zunächst auf ihre Verortung in der Chonologie des Simplicissimus-Romans hinzuweisen. So kann nach den bisherigen Einsichten kaum mehr als Zufall gelten, dass Simplicissimus’ Reise ins Zentrum der Erde, die mit der Wanderung zum Mummelsee beginnt, just an der Stelle angetreten wird, an der Simplicissimus durch Knans und Meuders Hausreform seiner ökonomischen Sorgen ledig wird. Grimmelshausens Roman macht dem Leser die sich damit ändernden Bedingungen des Erzählens deutlich. In direkter Reaktion auf das drohende Eintreten der Erzählung in die Sujetlosigkeit zieht er alle Register frühneuzeitlicher curiositasPoetik, wobei an die Alternative – die Stillstellung des Narrativs – gleichzeitig mehrfach erinnert wird. Der daraus entstehende Strukturkonflikt wird im Text in radikaler Weise als solcher ausgestellt: Eben zeigt sich Simplicissimus noch entschlossen, sich „eines gottseligen Lebens zu befleissen / zumalen meine Unbußfertigkeit zu bereuen / und mich zu befleissen / gleich meinem Vatter seel. auff die höchste Staffeln der Tugenden zu steigen“, da ereilt ihn angesichts der im Sauerbrunnen kursierenden Wundergeschichten über den Mummelsee eine solche Neugier, dass er die Pläne zur Beruhigung seines Lebens gleich wieder verwirft, um den See zu beschauen.352 Sein Aufbruch an der Seite des Knan, der auch an dieser Stelle übrigens nicht vergisst, seine Abwesenheit vom Haus mit ökonomischen Argumenten zu rechtfertigen,353 markiert damit einen doppelten Einschnitt in Roman und Zyklus. Zum einen tritt Simplicissimus’ Lebenserzählung an diesem Punkt ins Stadium ihrer Zirkularität ein, in dem die Bewegungen der Figur (und des Erzählens) am Ort des Eigenen, dem simplicianischen Haus, immer wieder beginnen und enden. Zum anderen – und offenbar eng verbunden damit – öffnet sich der Roman an dieser Stelle in Richtung eines spekulativen, die Kosmologie der erzählten Welt fokussierenden Erzählens, das, wie zu zeigen sein wird, auch auf eine Neubestimmung des Verhältnisses von Poetik und Ökonomie hinausläuft. Im einem für die menippeische Satire typischen Verfahren, in dem vom exzentrischen Punkt des Weltbeobachters der gesamte Aufbau der Welt in den Blick genommen wird, überschreitet Grimmels-
352 Auf die Unvermitteltheit der beiden Konzepte im Text sei hier nochmals hingewiesen. Auf die zitierten Sätze, die den Abschluss von Kap. V,11 bilden, folgt zu Beginn von V,12 Simplicissimusʼ Feststellung: „DJe Begierde den Mummelsee zu beschauen vermehrte sich bey mir [...].“ W I/1: Simplicissimus, S. 489. 353 Der Knan kommt demnach nur mit, weil die „Habersaat fürüber und auff dem Hof weder zu hauen noch zu ernden“ sei. Ebd., S. 490.
4.2 Prosperität, Zirkulation und Kommerzien im Simplicianischen Zyklus
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hausens Roman die eigenen Grenzen, um sich dem Mysterium des Systemischen erzählerisch zu nähern.354 Strukturell wartet die Episode dabei mit einer Doppelung von Auf- und Abwärtsbewegungen auf, wobei verschiedene, in sich widerläufige epistemologische, religiöse und moralische Perspektiven auf das Geschehen ins Spiel gebracht werden. Einen ersten Komplex bilden der von naturphilosophischen Spekulationen und Experimenten begleitete Aufstieg des Simplicissimus zum See und das folgende Abtauchen ins Zentrum der Erde, das im Zeichen des Wunderbaren, genauer: des Staunens über die Wunder der göttlichen Schöpfung – die Kette der Wesen, das mundane System der Wasserzirkulation –, steht.355 Ist für das Erzählen damit ein Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sich das Streben nach Naturerkenntnis mit einer christlich-erbaulichen Wirkungsabsicht des Diskurses durchaus vereinbaren ließe,356 so wird diese in Reichweite liegende Integration im zweiten Teil der Episode satirisch durch-
354 Eine „exuberance in intellectual ways“ attestiert Northrop Frye dem menippeischen Diskurs in seiner klassischen Studie Anatomy of Criticism (Princeton, NJ 1957, S. 311). An dieses Konzept schließt Koppenfels an, der allerdings das Moment des Exzentrischen nochmals stärker profiliert. Vgl. Werner von Koppenfels: Der Andere Blick oder Das Vermächtnis des Menippos. Paradoxe Perspektiven in der europäischen Literatur. München 2007, bes. S. 22–29. Zum menippeischen Moment der Mummelsee-Episode vgl. Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire, S. 298–303. 355 Als klarer topischer Marker fungiert an dieser Stelle das in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Mirabilien-Literatur weit verbreitete Gotteslob aus Psalm 104: „wie seynd die Wunderwerck deß Schöpffers auch so gar im Bauch der Erden / und in der Tieffe des Wassers so groß!“ W I/1: Simplicissimus, S. 492. Dazu auch Breuers Stellenkommentar, ebd., S. 960. 356 Um diese These zu belegen, genügt ein Blick auf zeitgenössische Texte wie Hildebrands Magia naturalis (erstmals 1610). In diesem von Grimmelshausen verschiedentlich konsultierten enzyklopädischen Sammelwerk wird der Leser in Naturwissen eingeweiht, zugleich aber auf Schritt und Tritt an die Schöpfungsökonomie und Providenz Gottes erinnert: „Dannenhero vnleugbar / ja ein jeder verstendiger bekennen mus / daß Gott der allmächtige seine Allmacht / Kunst / Weißheit / vnd Gütigkeit manchfältig in seinen Creaturen / auff vnnd vnter der Erden / in Bergarten / Edelgesteinen / in Wassern / Thieren / Fischen / Vogeln / Kreutern / vnnd andern weiset vnnd zeiget / vnnd ist so wunderbar in Regierung / vnnd Temperierung seines Geschöpffs / vnd Creaturen / […]. Ist derowegen billich vnd recht / daß wir solches nicht als solche Leute / die es nicht angienge / verachten / vnnd in Wind geschlagen / sondern behertzigen / vnd zu Gemüt führen / Gott dafür dancken / vnsern Glauben de providentia, daß Gott täglich für uns sorget / stercken vnd vben.“ Wolfgang Hildebrand: New augirte / weitverbesserte vnd vielvermehrte Magia naturalis […]. Erfurt: Johann Birckner 1635, fol. Bv–Br (Vorrede an den Leser). Zu Grimmelshausen und Hildebrand vgl. Rosmarie Zeller: Naturwunder, Wunderbücher und ihre Rolle in Grimmelshausens Werk. In: Simpliciana 26 (2005), S. 77–103. Als weiteren Referenztext, der für den physikotheologischen Diskurs bei Grimmelshausen vorbildhaft gewesen sein könnte, nennt Breuer Johann Arndts Vier Bücher vom wahren Christenthum. Vgl. W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar, S. 966.
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kreuzt. Just am Scheitelpunkt der Passage, dem Gespräch des Simplicissimus mit dem Sylphenkönig, in dem ersterer Kunde vom Zustand der Welt geben soll, setzt eine pikarische Gegenbewegung des Diskurses ein, durch die das theologischspekulative Register schlagartig auf das Maß simplicianischen Handlungswissens – und damit in die radikale Ambivalenz – zurückgeführt wird. Anstatt dem seelenlosen und darum um die „Endschafft“ der Zeiten besonders besorgten Naturwesen die Wahrheit darüber mitzuteilen, „wie sich die Stände der Welt in ihrem Beruff halten“,357 lügt Simplicissimus im Gespräch das Blaue vom Himmel herunter, nimmt das ihm aus Dankbarkeit angebotene Geschenk des Sauerbrunnensteins beschämenderweise trotzdem an und ergeht sich beim Auftauchen aus dem See in gänzlich profanen Gedanken an seinen zukünftigen Reichtum als Brunnenbesitzer.358 Dass die Ernüchterung auch in diesem Falle auf dem Fuße folgt – Simplicissimus verliert den Wunderstein auf seinem nächtlichen Irrgang im ‚Mucken-Loch‘ und kehrt mit leeren Händen ins simplicianische Haus zurück –, stellt zweifellos eine desillusive Volte der Erzählung dar, sollte als Ausweis einer impliziten Moral der Episode allerdings nicht überbewertet werden. Wenn am Ende der Reise Simplicissimusʼ Einsicht steht, er habe „im Werck wahr zu seyn“ befunden, „was mir mein Knan zuvor gesagt hatte / daß ich nemlich von dieser Wallfahrt nichts als müde Bein / und den Hergang vor den Hingang haben würde“,359 belegt dies nicht nur den radikalen Materialismus der Figur – von der Erfahrung des Wunderbaren scheint der Reisende nichts zu haben, solange kein ökonomischer Mehrwert herausspringt. Betont wird damit auch die Folgenlosigkeit des moralischen Versagens der Figur. Simplicissimus’ ökonomisches Wohl hängt vom Wunderstein der Sylphen nicht ab. Vielmehr kann er sich auf die Prosperität des Hofes mitsamt naheliegendem Sauerbrunnen weiterhin verlassen. Er bleibt – trotz Lüge und Eigennutz – ein Nutznießer der Gaben der subterranen Natur. Erscheint es vor diesem Hintergrund wenig überzeugend, das gesamte menippeische Erzählspektakel als Funktion moralisch-religiöser Wirkungsabsichten des Romans zu deuten,360 so kann umgekehrt auch das in der Episode entfaltete 357 W I/1: Simplicissimus, S. 506 f. 358 Der ironische Gehalt dieses Geschehens wird dadurch noch gesteigert, dass der Sylphenkönig Simplicissimus den Stein überreicht, nachdem er seine Freude darüber ausgedrückt hat, „daß kein Geitz bey euch Christen ist“. Ebd., S. 515. 359 Ebd., S. 523. 360 So aber Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire, S. 302. Nicht bestritten werden soll damit freilich, dass religiöse Diskurse in der Episode eine zentrale Rolle spielen. Heßelmann hat völlig zu Recht auf die zahlreichen allegorischen Konstellationen hingewiesen, die über den literalen Schriftsinn des Erzählten hinausweisen (und damit den frommen Leser ansprechen sollen). Vgl. Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 211–221. Die Frage nach der funktionalen Einordnung dieser Diskurselemente ist damit aber nicht entschieden. So hängt die Wirkung
4.2 Prosperität, Zirkulation und Kommerzien im Simplicianischen Zyklus
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ökonomische Wissen nicht ohne Weiteres ins Tugend-Laster-Schema traditioneller Moralsatire eingeordnet werden. Zeigen lässt sich dies am ökonomischen Kernaspekt der Prosperität, um dessen Verhandlung es in der Passage diesseits religiöser und moralischer Problemgehalte eigentlich geht. Mit dem Kreislauf des Wassers liefert die Mummelsee-Episode eine (erste) Matrix für die Erkundung des Systems der menschlichen Kommerzien, auf dessen reichtumstiftende Kraft der über den Wunderstein verfügende Simplicissimus seine ganze Aufmerksamkeit richtet. Das naturphilosophische Wissen, das Grimmelshausens Roman anzubieten hat, greift dabei mindestens in Teilen die zeitgenössische Diskussion über Aufbau und Funktion des mundus subterraneus auf. Ähnlich wie in den 1660er Jahren Kircher und Schott, die mit ihren Schriften zur unterirdischen pericyclosis des Wassers eine Abkehr von aristotelischen Traditionen vollziehen, stellt der simplicianische Text die (Unter-)Welt „als ein unendlich komplexes Relationen-Gefüge“ vor, „in dem „Sein (esse) […] durch TätigSein (operari) und d. h. In-Bezug-Stehen-Zu ersetzt“ wird.361 Was in Kirchers
der christlichen Botschaften letzthin doch (auch) von ihrer Einbettung in die Handlung des Romans ab. Wenn diese, wie in vorliegendem Fall, gerade aber zeigt, dass die Welt, in der die Figur sich bewegt, auf den allegorischen Nenner christlicher Erbauungsliteratur nicht mehr zu bringen ist, muss dies in die Analyse als Hinweis auf eine funktionale Verschiebung des Erzählens einfließen. 361 Ich übernehme diese Formulierung von Leinkauf, der sie freilich nicht auf Grimmelshausens menippeische Fantasie, sondern auf die naturphilosophischen Weltentwürfe zeitgenössischer Gelehrter wie Leibniz, Kircher und Schott münzt. Thomas Leinkauf: ‚Diversitas identitate compensata‘. Ein Grundtheorem in Leibnizʼ Denken und seine Voraussetzungen in der frühen Neuzeit (II). In: Studia Leibnitiana 29/1 (1997), S. 81–102, hier S. 81 f.; der erste Teil der Studie ist in den Studia Leibnitiana 28/1 (1996), S. 58–83, erschienen. Ob Grimmelshausen über Kirchers Studien zum Wasserkreislauf informiert war, wurde in der Forschung diskutiert – mit, sieht man von einigen Indizien ab, relativ wenig Erfolg. Vgl. Günther Weydt: Neues zu Grimmelshausen. In: Simpliciana 6/7 (1985), S. 7–46, hier S. 10–17. Nach wie vor erwähnenswert scheint, dass Kircher in der erweiterten Auflage seiner Schrift (1678) einen Bericht über den Mummelsee integriert, der ihm vom Gelehrten Elias Georg Loretus zugeschickt worden war. Beigefügt ist hier auch eine Darstellung des Sees, der also auch außerhalb des Werks Grimmelshausens auf Interesse stößt. Vgl. Athanasius Kircher: Mundus Subterraneus, in XII Libros digestus; […] Editio Tertia, […] Tomus II. Amsterdam: Jansson, Waesberge, Anno 1678, S. 112. Aus meiner Sicht ist es trotz aller Forschungsvermutungen bezüglich Grimmelshausen, Loretus und Kircher am Ende doch wahrscheinlicher, dass Grimmelshausen sein hydrologisches Wissen aus Schotts Anatomia Physico-Hydrostatica (1663) bezogen hat. Hier konnte er – in einfachem Latein – sämtliche antike und ‚moderne‘ Lehrmeinungen zum Thema enzyklopädisch geordnet vorfinden und dabei etwa auch auf Schotts Aussage treffen, dass die aristotelische Meteorologie als „[a]ntiquorum sententia de fontium origine, non satisfacit“. Caspar Schott: Anatomia Physico-Hydrostatica Fontium Ac Fluminum Libris VI […]. Würzburg: Johann Gottfried Schönwetter 1663, S. 165.
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Mundus subterraneus (erstmals 1664/65) als Verbundenheit aller Punkte des Systems miteinander gedacht und als Ausweis des perfekten Kalküls Gottes gepriesen wird – Leinkauf spricht mit Blick auf Kircher von einer auf unendlicher Bewegung basierenden „Weltökonomie“ –,362 erscheint bei Grimmelshausen, in menippeisch verzerrter Form, als eine Art globale Wasserkunst, in der die Sylphen die Rolle der (bei Kircher rein funktional gedachten) Operatoren übernehmen. Von Simplicissimus nach dem Nutzen der Wundergewässer gefragt, antwortet der Sylphenprinz, diese seien um „dreyerley Ursachen willen erschaffen“: Denn erstlich werden durch sie alle Meer / wie die Nahmen haben / und sonderlich der grosse Oceanus, gleichsam wie mit Nägeln an die Erde gehefftet; Zweytens werden von uns durch diese See (gleichsam als wie durch Teiche / Schläuche oder Stiefeln bey einer Wasser-Kunst / deren ihr Menschen euch gebrauchet) die Wasser auß dem abyssu deß Oceani in alle Quellen deß Erdbodens getrieben / (welches denn unser Geschäfft ist) worvon alsdenn alle Brunnen in der gantzen Welt fliessen / die grosse und kleine Wasserflüß entstehen / der Erdboden befeuchtiget / die Gewächse erquickt / und beydes Menschen und Viehe geträncket werden; Drittens / daß wir als vernünfftige Creaturen Gottes hierinn leben / unser Geschäffte verrichten / und Gott den Schöpffer in seinen grossen Wunderwercken loben sollen!363
Dass diese in weiten Teilen groteske Spiegelung der jesuitischen pericyclosisModelle im gelehrten Diskurszusammenhang keine Geltung beanspruchen kann, braucht kaum der Erwähnung, sollte jedoch nicht davon abhalten, die epistemologische Funktion der Passage in der Analyse ernst zu nehmen. Wie in der Menippea überhaupt, so scheint auch in diesem Fall das Groteske – der Einsatz von Ironie, das Überschießen der Einbildungskraft, das gleichzeitige Über- und Untertreffen von Lesererwartung – auf die Brüche und Risse zu deuten, die die Bewegung des Wissens in den gelehrten Schriften der Zeit hinterlässt. Mit Blick auf die Hydrologien der 1660er Jahre betrifft dies eben die Umstellung der Systementwürfe von Statik auf Dynamik, die Leinkauf als maßgebliches Transformationsphänomen im naturphilosophischen Diskurs des späten 17. Jahrhunderts identifiziert hat. So darf es durchaus als menippeischer Reflex auf die gelehrte Verabsolutierung des Bewegungsparadigmas gedeutet werden, wenn die Sylphen ihr „Geschäfft“ gerade darin finden, jedwede Stauung zu beseitigen, die die Zirkulation des Wassers behindert. Gleichermaßen grotesk wie satirisch aufschlussreich wird es dabei dort, wo diese Stauungen laut Sylphenprinz vor allem durch die Menschen verursacht werden, die, ohne etwas von den inneren Zusammenhängen des Systems zu wissen, Steine in die
362 Thomas Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwissenschaft am Beispiel Athanasius Kirchers SJ (1602–1680). Berlin 1993, S. 364, Anm. 119. 363 W I/1: Simplicissimus, S. 495.
4.2 Prosperität, Zirkulation und Kommerzien im Simplicianischen Zyklus
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Zu- und Abflüsse des mundus subterraneus werfen. Schon weil Simplicissimus sich dieses Verstoßes gegen die natürliche Ordnung vor Beginn seiner Tauchfahrt selbst schuldig macht, fungiert diese menippeische ‚Verzwergung‘ des naturphilosophischen excessus-Konzepts364 als Brücke von der physica zur philosophia practica und damit zum eigentlichen Bereich satirischen Erzählens. Erst dort, wo der Mensch mit seinen Handlungen in Relation zum System und dessen Funktion tritt, kann das naturphilosophische Wissen seine Funktion als Matrix für die Ordnung der menschlichen „Geschäffte“ erfüllen. Nimmt man diese Konstruktion als Bedingung für die Bewertung des satirischen Fokus der Episode an, verändert sich der Blick auf die Ironie, die Simplicissimus’ lügenhaftem „Bericht von der angeblich lasterfreien irdischen Welt“ eingeschrieben ist.365 Offensichtlich geht es dem Roman an dieser Stelle weniger darum, „mit allem Nachdruck und in gewiß moraldidaktischer Absicht“ darauf hinzuweisen, „daß die verkehrte Gegenwelt eine Spiegelung der Lebenswelt der Leser ist.“ 366 Im Gegenteil, steht die epistemische Valenz des traditionellen ordo-Modells in genau dem Maße auf dem Spiel, in dem dieses hinter den im naturphilosophischen Diskurszusammenhang geweckten Komplexitätserwartungen zurückbleibt. Mit seiner topischen Reproduktion der Ständepyramide, die sich verdächtig affirmativ auf Garzonis enzyklopädische Vorgaben verlässt,367 legt Simplicissimus einen jener statischen Weltentwürfe vor, in denen die Elemente substantiell, nicht aber relational bestimmt sind und die daher keine Aussagen über die Dynamiken zulassen, die das System als operativ erzeugte Einheit des Vielen (emergente Ordnung) zuallererst konstituieren. Die Absenz einer gesteigerten systemischen Komplexität wird dabei umso augenfälliger, je deutlicher sich die ‚Utopie‘ um die Leerstellen herum formiert, die durch das mutwillige Aussparen der empirischen Bedingungen des Handelns in der Welt entstehen. In kaum einem Satz kommt Simplicissimus ohne den Hinweis darauf aus, dass es in der Welt, unter Geistlichen, Fürsten, Kaufleuten, Wirten, Ärzten, Handwerkern, Bettlern, Juden usw., keinen Eigennutz gebe – was im ironischen Doppelbezug des Diskurses erst recht die Frage aufwirft, ob es nicht der Eigennutz sein könnte, der die menschlichen Kommerzien in Bewe-
364 Von Stauungen weiß Kircher natürlich auch, geht dabei aber weder davon aus, dass sie durch Menschen verursacht, noch dass sie von Naturwesen behoben werden. Wo sich das Wasser (oder ein anderes Element) im Innern der Erde staut, komme es vielmehr zu einem excessus naturae, einer Naturkatastrophe, die den Ausgleich, d. h. die Harmonie im System wiederherstellt. Dazu Leinkauf: Mundus combinatus, S. 364, Anm. 119. 365 Trappen: Grimmelshausen und die menippeische Satire, S. 301. 366 Ebd. 367 Vgl. dazu Breuer in W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar S. 968.
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gung hält. Verstärkt wird dieser Verdacht durch die Tatsache, dass die Reihe der ständischen Idealfiguren im Lob derjenigen „vorsichtige[n] Leut“ gipfelt, „die den überflüssigen Vorrath auff den besorgenden künfftigen Nothfall vor das Volck zusammen heben“.368 Nicht erst aus Sicht von Grimmelshausens Musai-Roman (1670), der Fortsetzung des Keuschen Joseph (1667), erscheint diese Beglaubigung des Thesaurierungsparadigmas irritierend.369 Auch schon im naturphilosophischen Kontext der Episode, in dem die Stauung des Wassers, wie gezeigt, als Störung angesehen wird, markiert sie einen offensichtlichen Bruch. Von der Stillstellung der Substanz im Thesaurus, dessen strukturelle Nähe zum Topischen hier durchaus mit angesprochen ist, führt kein Weg zur Logik des Relationalen und Operativen, die dem jesuitischen Wissen von der pericyclosis des Wassers zugrunde liegt. Was in Simplicissimus’ Gespräch mit dem Sylphenkönig damit gewissermaßen nur als Leerstelle präsent ist – das Mysterium der Kommerzien –, tritt im zweiten Teil der Episode mit aller Kraft an die Oberfläche des Diskurses. Mit dem Wunsch, ihm einen „rechtschaffenen Medicinalischen Sauerbrunnen auff [s]einen Hof zukommen“ zu lassen, den der Sylphenkönig ironischerweise als Beweis für die Abwesenheit von Geiz unter den Menschen ansieht,370 verwandelt sich Simplicissimus schlagartig vom staunenden Reisenden in den (post-) pikarischen Akteur zurück, der sich die Kostbarkeit nach allen Regeln ökonomischer Kunst nutzbar zu machen plant. In zweierlei Hinsicht markiert der „SinnHandel“,371 wie Simplicissimus das Produkt seiner aufs Geschäft gerichteten Einbildungskraft bezeichnet, damit eine poetologische Grenze. Zum einen endet mit ihm die Funktion des Wunderbaren als bestimmendes Element des Diskurses. Zum anderen impliziert Simplicissimus’ imaginative Erschließung des „herrliche[n] Sauerbrunnen-Quell[s]“ 372 einen Bruch mit allegorischen Erzähltraditionen, wie sie sich in der Frühen Neuzeit gerade auch im Bereich der Bäderliteratur reichlich ausgebildet hatten. Für die „höhere Wahrheit“, die die Sauerbrunnen-Topik seit Thomas Murners Badenfahrt (1514) für den frommen Christen bereitgehalten hatte,373 ist in den Gedanken des Simplicissimus kein 368 W I/1: Simplicissimus, S. 509. 369 Vgl. dazu den Aufsatz des Verf.: Das verschimmelnde Geld des Pharao. Grimmelshausens Poetik zwischen Ökonomie und Natur. In: ‚Eigennutz‘ und ‚gute Ordnung‘. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert. Hg. von Sandra Richter, Guillaume Garner. Wiesbaden 2016 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 54), S. 429–448. 370 Vgl. W I/1: Simplicissimus, S. 515. 371 Ebd., S. 517. 372 Ebd., S. 515. 373 Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 221. Zur frühneuzeitlichen Bäderliteratur und ihren allegorischen Tendenzen vgl. Simone Loleit: Wahrheit, Lüge, Fiktion: Das Bad in der deutschsprachigen Literatur des 16. Jahrhunderts. Bielefeld 2008; die Sauerbrunnen-Allegorik bei Murner fin-
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Platz – eine Verdrängung des Spirituellen durch das Unternehmerische, die die profane Stoßrichtung der simplicianischen Menippeiade deutlich macht. Im imaginären Handel(n) der Figur wird der Sinn des Steins auf seinen ökonomischen Nutzen reduziert, wobei Simplicissimus’ zwischenzeitlich etwas verblasste Begabung zur Invention, sein Ingenium, erneut sichtbar wird. In einer nicht enden wollenden Kaskade von Einfällen richtet er die simplicianische Ökonomie um den Sauerbrunnen nach Profitabilitätskriterien neu ein: Jm übrigen war ich im Sinn mit meinem Saurbrunnen so reich / daß alle meine Witz und Gedancken genug zu thun hatten / zu berathschlagen / wo ich ihn hin setzen / und wie ich mir ihn zu Nutz machen wollte; Da hatte ich allbereit meine Anschläg wegen der ansehnlichen Gebäu / die ich darzu setzen müste / damit die Badegäste auch rechtschaffen accomodirt seyn / und ich hingegen ein grosses Losament-gelt auffheben möchte; ich ersann schon / durch was vor Schmiralia ich die Medicos persuadiren wolte / daß sie meinen neuen Wunder-Sauerbrunnen allen andern / ja gar dem Schwalbacher vorziehen / und mir einen Hauffen reiche Badgäst zuschaffen solten; ich machte schon gantze Berg eben / damit sich die Ab- und Zufahrende über keinen mühseeligen Weg beschwereten; Jch dingte schon verschmitzte Haußknecht / geitzige Köchinnen / vorsichtige BettMägd / wachtsame Stallknecht / saubere Bad- und Brunnen-Verwalter / und sanne auch bereits einen Platz auß / auff welchen ich mitten im wilden Gebürg / bey meinem Hof / einen schönen ebenen Lust-Garten pflantzen / und allerley rare Gewächs darinnen zielen wolte / damit sich die fremde Herren Badgäst und ihre Frauen darinn erspazieren / die Krancke erfrischen / und die Gesunde mit allerhand kurtzweiligen Spielen ergetzen und erramlen können. Da musten mir die Medici, doch umb die Gebühr / einen herrlichen Tractat von meinem Brunnen und dessen köstlichen Qualitäten zu Papier bringen / welchen ich alsdann neben einem schönen Kupfferstück / darein mein Baurn-Hof entworffen und in Grund gelegt / drucken lassen wolte / auß welchem ein jeder abwesender Krancker sich gleichsam halb gesund lesen und hoffen möchte; ich liesse alle meine Kinder von L. [i.e. Lippstadt, S. Z.] holen / sie allerhand lernen zu lassen / das sich zu meinem neuen Bad schickte / doch dorffte mir keiner kein Bader werden / dann ich hatte mir vorgenommen / meinen Gästen / ob zwar nicht den Rucken / doch aber ihren Beutel dapffer zu schrepffen.374
Für den simplicianischen Prosperitätsdiskurs in seiner großen semantischen Komplexität handelt es sich um eine Schlüsselstelle. Dies beginnt bei der doppelbödigen Verklammerung poetologischer, medizinischer und chrematistischer Aspekte der vorgestellten Sauerbrunnenökonomie. Das eigennützige Kalkül, das Simplicissimus’ Gedanken durchgängig zugrunde liegt, setzt die in der Unterhaltungsliteratur der Zeit allgegenwärtige Verknüpfung von Erquickung
det sich in Thomas Murner: Badenfahrt. Hg. von Victor Michels. Berlin, Leipzig 1927, S. 116– 119. 374 W I/1: Simplicissimus, S. 516 f.
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(delectatio) und Gesundheit in ein ironisches Licht.375 Symptomatisch hierfür steht die imaginäre Werbeschrift, die durch das ihr beigegebene „Kupfferstück“ vom „Baurn-Hof“ auf den (ökonomischen) Ort simplicianischen Schreibens referiert. Simplicissimus’ Bemerkung, dass sich „jeder abwesender (!) Krancker“ an diesem Text „gleichsam halb gesund lesen und hoffen möchte“, macht deutlich, dass es ihm um die „köstlichen Qualitäten“ des Brunnens, seine heilende Essenz, nur insofern geht, als es des Versprechens auf Heilung bedarf, um die Ströme des Publikums – und des Geldes – in die vom Unternehmer bzw. Autor gewünschte Richtung zu lenken.376 Dass die Schrift dabei als strategisch platzierte Eigenwerbung aus (bezahlter) fremder Feder auf den Springinsfeld und das Rathstübel Plutonis vorausweist, lässt die metapoetische Relevanz des Abschnitts nur umso deutlicher werden. Der Diskurs, der in diesem Fall tatsächlich „auß Simplicissimi Brunnquell selbsten geschöpfft“ ist – nämlich seiner überschießenden, das Eigene fest im Blick behaltenden Einbildungskraft –, kündigt das im weiteren Verlauf zu beobachtende eigennützige Operieren der Figur mit Heil(ung)sversprechen aller Art ironisch bereits an.377 Wie schon im Fall der Einrichtung des simplicianischen Hauses erschöpft sich der satirische Zugriff des simplicianischen Textes dabei nicht darin, den Eigennutz als moralisch verwerfliche Praxis darzustellen. Vielmehr geht es ihm auch hier um die satirische Analyse der Bedingungen, unter denen Wohlstand und Reichtum in der Welt erlangt werden können – und dies sowohl im privaten als auch im politischen Bereich. Vorbild für dieses Vorgehen ist einmal mehr Schupp. Dieser verknüpft in seiner Schrift Von der Kunst Reich Zuwerden beide Ebenen ökonomischen Wissens – Staat und Privathaushalt – aufs engste miteinander, indem er für alle Tätigkeiten des Menschen die Losung ausgibt, die „Würckungen“ der Welt zuerst danach zu beurteilen, „ob / vnd wo sie dir nutzlich seyn mögen / in Privat- oder offentlichen Geschäfften? Da werden dir vil sachen vorkommen / welche deiner Haußhaltung können nutzen.“ 378 In der konkreten Praxis impliziert dies bei Schupp, ganz wie bei Simplicissimus, eine
375 Dass es gemäß dem medizinischen Wissen der Zeit dabei auch auf physiologischer Ebene um Zirkulation geht – nämlich um die Bewegung der Körpersäfte, deren Ausbleiben nach galenischer Lehre alle Krankheiten des Leibes verursacht –, darf als zusätzliche Analogieebene des ökonomischen und poetologischen Diskurses im Abschnitt nicht übersehen werden. 376 Ob dieses Versprechen eingelöst wird, erscheint aus Sicht des Simplicissimus dabei völlig sekundär. Sein Ziel besteht allein darin, den „Gästen / ob zwar nicht den Rucken / doch aber ihren Beutel dapffer zu schrepffen.“ W I/1: Simplicissimus, S. 517. 377 Das Zitat stammt aus dem Titel des Rathstübel Plutonis (W I/2: Rathstübel, S. 653), das als ‚chrematistische‘ Sprossschrift eng auf die zitierte Sauerbrunnen-Passage des Simplicissimus bezogen ist. Vgl. Kaminski: ‚Gespräch über Poesie‘?, S. 292 f. 378 Schupp: Über die Kunst Reich zuwerden, S. 80.
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Abkehr von der zweckfreien Neugier zugunsten einer handfesten, auf den wirtschaftlichen Nutzen ausgerichteten Realienorientierung. An einer besonders exponierten, weil auf seinen utopischen Schreibort, das Avellinum an der Lahn,379 bezogenen Stelle spielt Schupp die prosperitätsstiftende Kunst des Wasserbaus (und, auf poetologischer Ebene, der Satire) gegen die vermeintlich nutzlosen Entdeckungen Galileis (und der gelehrten Wissenschaft) polemisch aus: Wann ein Philosophus erstunde / welcher die Lan seines Vatterlandts Fluß / vberal Schiffreich kundte machen / oder dem alten Auellino von Trost der Brunnenwasser verlassen / mit Wasserwerck zu hilff kame / den wolt ich fürwitziger / vnd mir vnd dem Vatterland nutzlicher zu seyn / glauben / als wann er durch das Perspectiv des Galilaei von Galilaeis. alle macul der Sonnen vnd Mond zehlete / oder die grösse und weite der Sternen all erkundigt hette.380
Schupps auf poetologischer Basis unternommene Reflexion privater und staatlicher Konjunktur („mir vnd dem Vatterland nutzlicher“) bietet dem simplicianischen Text, was er zur Entfaltung seiner eigenen, alteritären ‚Poetik der Prosperität‘ benötigt. Hier wie dort geht es um eine alle angesprochenen Medien – das Wasser, das Geld, die Schrift, das Publikum – interrelierende Bewegung des Fließens, die durch keine Hindernisse gestört werden darf, soll sie zum Reichtum (der Natur, der Figur, des Staates, des Textes) beitragen. Mit ihr geht eine Abhorreszenz des Stockens und der Statik einher, der Simplicissimus etwa dadurch Ausdruck verleiht, dass er „gantze Berg eben“ machen will, „damit sich die Ab- und Zufahrende über keinen mühseeligen Weg beschwereten“. In dieser ins Groteske gesteigerten Maßnahme, die die unauflösliche Durchdringung privat- und staatsökonomischer Initiative in Simplicissimus’ chrematistischem Gedankenflug deutlich macht,381 wird die spannungsreiche, auf keinen morali-
379 Schupps Schrift gibt im Titel an, „ex Avellino“ auf den Leser gekommen zu sein – eine Anspielung des Autors auf sein im Krieg verlorenes Gartenhaus an der Lahn, die die eingeweihten Leser des 17. Jahrhunderts leicht verstanden haben dürften. 380 Schupp: Über die Kunst Reich zuwerden, S. 23. 381 Auf die politische Dimension des Sauerbrunnenunternehmens weist mit Blick auf Simplicissimusʼ Baupläne bereits Breuer hin. Vgl. W I/1: Simplicissimus, Stellenkommentar, S. 973. Weitere satirisch gebrochene Elemente des politischen Diskurses sind die auf Berühmtheit zielende Inszenierung des simplicianischen Hauses in Schrift und Bild sowie Simplicissimusʼ Vorhaben, seine „Kinder von L.“ – es handelt sich um die unehelich gezeugten Sprösslinge aus Lippstädter Tagen – in den Schwarzwald umzusiedeln. Eben solche Maßnahmen der ‚Peuplierung‘ werden in zeitgenössischen Herrschaftsratgebern durchweg empfohlen, so auch in dem von Grimmelshausen bearbeiteten Teutschen Friedensrath (1670): „Dann es kan nicht fehlen / wo viel Volck und gut Regiment / da muß ein überfluß an allem / so man erdencken mag / vorhanden seyn / und dahero grosse nutzbarkeit erfolgen.“ Claus von und zu Schauenburg: Teutscher Friedens-Raht. Kommentierte Edition der von Hans Jacob Christoffel von Grimmels-
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schen Begriff zu bringende Relation von Natur-, Ökonomie- und poetologischem Wissen in der Episode paradigmatisch deutlich. Anders als im mundus subterraneus, in dem die seelen- und willenlosen Sylphen für das Funktionieren der Wasserzirkulation sorgen, sind die auf Eigennutz basierenden Ökonomien der Menschen-Welt offensichtlich von Paradoxien geprägt, denen mit überliefertem Moralwissen nicht beizukommen ist (und die daher nur im Modus pikarischen Schreibens überhaupt beobachtet werden können). Dies gilt zumal für den dunklen Grenzbereich von Fürsten- und Untertanenwohl, auf den der simplicianische Diskurs seinen Blick über Simplicissimus’ Auftauchen hinaus richtet. Dass durch den Verlust des Sylphensteins im sogenannten Mucken-Loch, einem entlegenen Waldgebiet im Schwarzwald, der moralische Problemgehalt der Episode nicht etwa geringer wird, wurde oben bereits betont. Wenngleich Simplicissimus seine Pläne als Sauerbrunnenunternehmer damit beerdigen muss, bleibt die Quelle des Reichtums, die er aus dem Innern der Erde mitgebracht hat, doch in der Welt – und mit ihr die Frage nach der kommerziellen Erschließung derselben, die im anschließenden Streit mit den Waldbauern einen noch deutlicheren politischen Index erhält. Verantwortlich für die Zuspitzung ist dabei einerseits die widerständige Haltung der Bauern, die sich aus Angst vor Fronarbeit weigern, ihrem Fürsten von der Quelle Mitteilung zu machen, andererseits Simplicissimus’ Insistieren auf Argumente eines restaurativen Herrschaftswissens, das mit der Erfahrungsperspektive der Bauern schlechthin nicht in Einklang zu bringen ist. In ganz ähnlichen Worten, wie sie der von Grimmelshausen bearbeitete Teutsche Friedensrath (1670) des Claus von Schauenburg im Abschnitt zu den Sauerbrunnen wählt – dort heißt es: Einem Fürsten soll auch angelegen sein / daß er in allen orthen seiner Landschafft fleissig nachsuchen lasse / ob er kein wasser / so Schwebel / Alaun / Salpeter / und Vitriol führet / habe: die laß er was sie halten / durch ein erfahrnen Medicum probiren / diese wasser dienen nicht allein zu wiederlangung der gesundheit / sondern deß Fürsten sein Statt wird desto mehr an Herrlichkeit und Reichthumb zunemmen / dann dahin fliehen die kranck- und presthafften mit ihrem grossen unkosten / und mächtigen nutzen deß Fürsten.382
–, versucht Simplicissimus, die Bauern zur Einsicht in die staatsökonomische Relevanz des Brunnens zu bringen: Jhr Herren könt euch euren neuen Sauerbrunnen trefflich zu nutz machen / wenn ihr nemlich hin gehet / und eurer Obrigkeit dessen Ursprung anzeiget / dann da würde es
hausen redigierten Ausg. von 1670. Hg. von Dieter Breuer u. a. Stuttgart 2014 (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 348), S. 39. 382 Ebd., S. 116.
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eine treffliche Verehrung setzen / weil alsdann der Fürst selbigen zur Zierde und Nutz deß Lands auffbauen / und zu Vermehrung seines Interesse aller Welt bekant machen lassen wird […]. […] und ihr Maußköpff seid nicht so ehrlich / einer besorgenden geringen Arbeit willen / darumb ihr doch mit der Zeit ergetzt würdet / und deren all eure Nachkömmling reichlich zu geniessen hätten / beydes eurem Hochlöbl. Fürsten zu Nutz / und manchem elenden Krancken zur Wolfahrt und Gesundheit diesen heylsamen Sauerbrunnen zu offenbaren […]?383
Die Klage der Bauern über die Ausbeutung durch den Fürsten wurde in der Forschung als Beleg für eine obrigkeitskritische Tendenz der Passage gewertet.384 Diese Deutung ist sicher auch nicht verfehlt: Wenn Simplicissimus in seiner Rede die mutmaßlichen Härten der Fronarbeit herunterspielt („einer besorgenden geringen Arbeit willen“) und stattdessen lieber das Bild vom wohltätigen, seine Untertanen reich beschenkenden Herrscher beschwört („dann da würde es eine treffliche Verehrung setzen“), verdeckt er sein eigentliches Wissen vom Ausmaß der infrastrukturellen Maßnahmen und von der ungleichen Verteilung von Arbeit und „nutz“ hinter einer Fassade altständischer Topoi, deren Inkongruenz mit der irdischen Erfahrungswirklichkeit durch die Lügenrede vor dem Sylphenkönig zuvor bereits offengelegt wurde.385 In Bezug auf die Beobachtung politisch-ökonomischen Wissens ist die satirische Tiefenschärfe der Passage damit jedoch noch keineswegs ganz ausgemessen. So bleibt mindestens ein Teil der Wahrheit über die Funktionsregeln eines prosperierenden Gemeinwesens am Ende doch auf der Seite des Simplicissimus. Es handelt sich um das Wissen darüber, dass die Bewegung der Reichtümer – ähnlich der des Wassers – nicht nur in ihrem Ursprung, sondern auch in der Peripherie Wachstum und Wohlstand stiften kann. Darauf versucht Simplicissimus, selbst ja Hofbesitzer in Sauerbrunnennähe, im Gespräch hinzuweisen, dringt jedoch nur bei
383 W I/1: Simplicissimus, S. 522. 384 So etwa Cordie: Raum und Zeit des Vaganten, S. 438 f. 385 Verschleiert wird dabei nicht zuletzt auch die moralische Indifferenz der fürstlichen Agenda. Im Teutschen Friedensrath wird das Profitieren des Fürsten von den „grossen unkosten“ der „kranck= und presthafften“ völlig unverblümt als eigentliches Ziel der Erschließung des Sauerbrunnens ausgegeben – von einem Reflex der Nächstenliebe mit denjenigen, die auf der Suche nach Linderung zum Brunnen „fliehen“, keine Spur. Simplicissimus macht sich diese außermoralische Perspektive privatim zu eigen, scheut im Streitgespräch mit den Waldbauern jedoch nicht davor zurück, die moralischen Argumente für die politisch-ökonomische Sache des Fürsten zu instrumentalisieren. So erinnert er die Bauern daran, dass die Meldung des Brunnens nicht nur dem Fürsten zu Wohlstand, sondern auch „manchem elenden Krancken zur Wolfahrt und Gesundheit“ gereichen würde – eine subtile Verlagerung der moralischen Verantwortung auf die Untertanen, die die heuchlerische Doppelbödigkeit der Herrschaftsrhetorik deutlich werden lässt.
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einem Teil der Bauern durch, während der andere überzeugt bleibt, vom entstehenden Reichtum nichts zu haben: Hingegen (sagte ich) habt ihr dessen alle zu geniessen / eure Hüner / Eyer / Butter / Viehe und anders / könt ihr besser ans Geld bringen; Nein nein / sagten sie / Nein! die Herrschafft setzt einen Wirth hin / der wird allein reich / und wir müssen seine Narren seyn / ihm Weg und Steg erhalten / und werden noch kein Danck darzu haben! Zületzt entzweyten sie sich / zween wollten den Sauerbrunnen behalten / und ihrer vier mutheten mir zu / ich solte ihn wieder abschaffen […].386
Die Entzweiung der Bauern in diesem Punkt – ansonsten scheint unter ihnen Einigkeit zu herrschen – setzt ein Signal, das im wissenshistorischen Zugriff auf die Passage als (brüchige) Markierung eines Paradigmenwechsels gewertet werden kann. Gerade weil allen Teilnehmern des Streitgesprächs letzthin klar ist, dass das gabenökonomisch organisierte System von Dienst („Arbeit“) und Lohn („Danck“) – und mit ihm die gesamte auf vertikalen Distributionsprozessen basierende stratifikatorische Ökonomie – im chrematistisch ausgerichteten Fürstenstaat nurmehr als Fiktion existiert,387 kann das Versprechen auf Teilhabe am „nutz“ des Fürsten nur aufrecht erhalten werden, wenn das System als ganzes anders gedacht wird. Eben dies tut Simplicissimus, indem er auf Prosperitätseffekte hinweist, die auf kommerziellen anstelle von ökonomischen Beziehungen basieren. Impliziert ist darin eine Aufwertung horizontaler Tauschdynamiken, wie sie in politisch-ökonomischen Schriften der Zeit vermehrt in den Fokus genommen wird. Als Beispiel zu nennen wäre hier Bechers Politischer Discurs (erstmals 1668), eine frühmerkantilistische Schrift, die den „Lauff der Commercien“ als eigentliches Bewegungsprinzip staatlicher Ökonomie identifiziert.388 Wie im zeitgenössischen Diskurs von der Perizyklosis des Wassers, den Becher kaum zufällig ebenfalls mit einer Schrift bereichert,389 geht es dabei
386 W I/1: Simplicissimus, S. 522. 387 Simplicissimus weiß dies, verschleiert sein Wissen jedoch bzw. instrumentalisiert die immer noch mächtigen Topoi altständischer Ordnung. Das Misstrauen der Bauern gegenüber der Obrigkeit verdankt sich dagegen eigener Erfahrung und wird entsprechend affektiv mitgeteilt. 388 Becher: Politischer Discurs, 1668, fol. aiijv. Da Bechers Traktat zur Zeit der Abfassung des fünften Simplicissimus-Buchs noch nicht auf dem Markt war, dürfte er als direkte Quelle Grimmelshausens nicht infrage kommen. Auf eine interessante historische Koinzidenz ist gleichwohl hinzuweisen. Rund ums Jahr 1668 arbeiten Grimmelshausen und Becher an denselben Fragen: Beiden geht es um die Erkundung der Funktionsweise prosperierender Systeme, beide beschäftigen sich dabei mit dem Kreislauf des Wassers, beide rücken von aristotelischen Denk- und Darstellungstraditionen ab. 389 Die entsprechenden Studien betreibt Becher parallel zu seiner Arbeit am Politischen Discurs. Im Jahr 1669 erscheint dann seine Physica subterranea, in der der Kreislauf des Wassers eingehend besprochen wird. Vgl. Johann Joachim Becher: Actorum Laboratorii Chymici Mona-
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um eine Ersetzung von esse durch operari. Die Ordnung der societas civilis wird laut Becher nicht etwa durch die starre Ausrichtung der Ständepyramide auf den Fürsten garantiert; vielmehr muss sie im Prozess des kommerziellen Austauschs zwischen den Ständen immer aufs Neue hergestellt werden. Dieser Austausch findet statt, indem im „Burgerlichen Cörper“ 390 Güter produziert, gehandelt und verbraucht werden – ein Vorgang, den Becher nach niederländischem Vorbild auf den Begriff der consumptio bringt: Mit einem Wort / die Consumption erhält diese drey Ständ [i.e. Bauernstand, Handwerk und Kaufmannschaft, S. Z.] / die Consumption ist ihre Seel / die Consumption ist der eintzige Bindschlüssel welcher diese Stände aneinander bindet und hefftet / auch von einander leben macht […].391
Derlei konsistente Systembeschreibungen lassen sich aus Grimmelshausens Roman natürlich nicht extrahieren. Sie sind aber auch nicht Ziel des simplicianischen Textes. Worum es ihm geht, sind die Friktionen, die der restaurative Diskurs durch die Ersetzung traditionell-ökonomischer durch chrematistische Geltungen erzeugt. Das Fließen des Geldes und der Reichtümer, das zum ‚Wunder‘ der Prosperität führt, ist nur um den Preis einer Entkopplung moralischer von funktionalen Codierungen des auf ‚Nutzen‘ zielenden Handelns zu haben – ein Bruch mit Traditionen ökonomischen Wissens, der in den politisch-ökonomischen Schriften der Zeit tendenziell invisibilisiert, im simplicianischen Text satirisch aber hervorgehoben und ausgeleuchtet wird. Sichtbar wird dieser Bruch dabei nicht nur dort, wo durch Simplicissimus’ lügenhaftes, heuchlerisches Sprechen (und Handeln) wesentliche Teile der moralisch-religiösen Verankerung des Diskurses pikarisch unterminiert werden. Auch in der menippeischen Analogiesetzung von Wasserkreislauf und „Lauff der Commercien“ (Becher) wird er fassbar. Indem die ins Kosmologische ausgreifende Analogie im eigennützigen Streben des Menschen nach Reichtum ihre Grenze findet – hierfür gibt es unter den sonstigen Wesen Gottes kein Pendant –, bleibt das individuelle Antriebsmoment hinter dem irdischen Kommerzienkreislauf letzthin mysteriös: eine unerforschliche Abweichung der Affektstruktur des Menschen von den Vorgaben der
censis, Seu Physicae Subterraneae Libri Duo […]. Frankfurt a. M.: Johann David Zunner 1669, S. 72–116. 390 So die Formulierung in Schauenburg: Friedens-Raht, S. 10 (Vorrede des Hrn. Authoris). 391 Becher: Politischer Discurs, 1668, S. 17. Zu Bechers Rezeption niederländischer Schriften vgl. Thomas Buchner: Arbeit, Ordnung – Produktivität? Ein Vergleich von niederländischem Merkantilismus und deutschsprachigem Kameralismus im 17. Jahrhundert. In: Konzepte von Produktivität im Wandel vom Mittelalter in die Frühe Neuzeit. Hg. von Corinna Laude, Gilbert Heß. Berlin 2008, S. 315–346, hier bes. S. 332 f.
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göttlichen Natur, die sämtliche Ansprüche auf ordo-mäßige Betrachtung, etwa im Rahmen traditioneller Verfahren der Moralsatire, von vornherein ins Leere laufen lässt.
4.2.2 Im Geflecht der Kommerzien: Der Lebenslauf des Schermessers Der Übergang zwischen dem fünften Buch des Simplicissimus-Romans und der Continuatio ruft die strukturellen Spannungsmomente des simplicianischen Lebenslaufes in nuce noch einmal auf. Mit seiner Entscheidung, sich aus der Welt zurückzuziehen und auf dem Schwarzwälder Mooskopf das „Spesserter Leben“ 392 wiederaufzunehmen, definiert Simplicissimus eine Grenze seines Weltparcours, die nur zu existieren scheint, um sogleich überschritten zu werden. In den unscharfen, zu Mutmaßungen einladenden Formulierungen, die der vermeintlich Bekehrte in den letzten Sätzen des Romans wählt, bleibt das verdrängte (oder zu verdrängende) Moment des Begehrens nach irdischem Wohlstand seltsam präsent. Da ist zum einen die Rede vom „Spesserter Leben“ selbst, die missverständlich ist, da mit ihr neben dem frommen Eremitendasein des leiblichen Vaters auch die bäuerliche Existenz des Ziehvaters bezeichnet sein kann – eine Doppelbesetzung, die sich, wie erinnerlich, auch auf der Ebene des fiktiven Schreiborts des Romans (Kreuzinsel/ simplicianisches Haus) findet. Zum anderen plant Simplicissimus zunächst, die Eremitage „bey meinem Saurbrunn im Muckenloch“ einzurichten.393 Mit der Verwendung des Possessivpronomens provoziert Simplicissimus dabei den Verdacht, dass in seinem Innern ein Besitzanspruch am Brunnen weiterhin vorhanden sein könnte.394 Dazu passend wird der Leser durch die Reaktion der ortsansässigen Bauern an das herausragende ökonomische Potenzial des Ortes erinnert. Aus Furcht, Simplicissimus könnte „den Brunnen verrathen / und ihre Obrigkeit dahin vermögen / daß sie wegen nunmehr erlangten Friedens Weg und Steg darzu machen müsten“, verhindern sie die Ansiedlung.395 Die Frage, ob es sich bei dieser Einschätzung um eine Ver- oder Erkennung der eigentlichen Beweggründe des Einsied-
392 W I/1: Simplicissimus, S. 551. 393 Ebd. 394 Unangebracht kann das Possessivpronomen dabei in zweierlei Hinsicht erscheinen: Auf der Basis weltlichen Rechts gehört der Sauerbrunnen nicht dem Simplicissimus, sondern dem Fürsten, auf dessen Gebiet er sprudelt. Gemäß göttlichem Recht handelt es sich um eine Gabe Gottes an alle Menschen, die von niemandem – und erst recht nicht von einem frommen Einsiedler – ‚in Besitz‘ genommen werden sollte. 395 W I/1: Simplicissimus, S. 551.
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lers handelt, bleibt offen – und mit ihr notwendigerweise auch das „ENDE.“ 396 des Textes, dessen Erbaulichkeitsanspruch durch gegenläufige Diskurs- und Affektdynamiken damit von vornherein unterminiert erscheint. Kann es aus dieser Sicht nicht verwundern, dass Simplicissimus’ Eremitage nicht von langer Dauer ist, so werden die Umstände seiner Abkehr vom Einsiedlerleben in der Continuatio doch in großer Differenziertheit geschildert. Immer wieder wird dabei das religiöse Wissen, mit dem Simplicissimus seine Position außerhalb der Welt zu stabilisieren sucht, gegen das Wissen von den Dingen der Welt gestellt. Anstatt zu beten, beginnt der Einsiedler damit, die Gegend um den Mooskopf mit dem Perspektiv zu betrachten, wobei ihm die Stadt Straßburg „gleichsam wie das Herz mitten mit [sic!] einem Leib beschlossen“ vorkommt 397 – ein vor dem Hintergrund politisch-ökonomischer Körpermetaphern der Zeit recht eindeutiger Hinweis auf die systemische Struktur der Kommerzien, deren genauere Erkundung die Continuatio denn auch unternehmen wird (dazu unten mehr). Besiegelt wird das Ende der Eremitage freilich erst, als Simplicissimus im Wald dem Wechselbalg Baldanders begegnet. Durch ihn kommt der Einsiedler an ein Wissen, das die von ihm angenommenen Topoi christlicher Welt- und Geldverachtung nach und nach auszuhebeln geeignet ist.398 In paradigmatischer Weise überlagern sich in der Baldanders-Figur dabei Elemente traditioneller inconstantia-Allegorik – nach seiner Belebung durch Simplicissimus ändert Baldanders seine Gestalt fortwährend und gibt sich selbst als Verkörperung des Prinzips zu erkennen, das die Menschen „bald groß bald klein, bald reich bald arm, bald hoch bald nieder, bald lustig bald traurig, bald bös bald gut und in Summa bald so und bald anders“ werden lässt 399 – mit Spuren eines Wissens vom Geld.400 Deutlich wird dies nicht nur dort, wo der Wechselbalg berichtet, er habe seine Kunst seinerzeit den Nürnberger
396 Ebd. 397 W I/1: Continuatio, S. 565. 398 Der christliche Antichrematismus bzw. Antimonetarismus wird von Simplicissimus dabei durchaus internalisiert. Dies ist vielleicht weniger an seiner formelhaften Beteuerung abzulesen, er habe als Einsiedler „sonderlich […] das Geld [verachtet]“ (ebd., S. 566), als vielmehr an der großen Traumvision vom Höllischen Reichstag, die mit der Geschichte von Julus und Avarus eine typische Geizkritik christlichen Zuschnitts liefert. 399 W I/1: Continuatio, S. 604. 400 Zur Baldanders-Figur vgl. Wilhelm Kühlmann: ‚Baldanders‘ – Grimmelshausen und die altdeutsche Bewegung am Oberrhein. In: Simpliciana 25 (2003), S. 15–32; Waltraud Wiethölter: ‚Baldanderst Lehr und Kunst‘. Zur Allegorie des Allegorischen in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch. In: DVjs 68 (1994), S. 45–65; Peter Heßelmann: Fiktion und Wahrheit. Poetologische und hermeneutische Reflexe in Grimmelshausens Baldanders-Episode. In: Simpliciana 20 (1998), S. 165–188; Drügh: Anders-Rede, S. 77–89.
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Schuster Hans Sachs gelehrt, woraufhin dieser „mit einen Ducaten und einer Roßhaut“ ins Gespräch gekommen sei.401 In Richtung des Geldes weist vielmehr auch der Code, den Baldanders seinem Schüler Simplicissimus zur Entschlüsselung der Arkanlehre mit auf den Weg gibt. Der Satz „Jch bin der Anfang und das End / und gelte an allen Orthen.“ 402 beruft sich in durchaus blasphemischer Weise403 auf die Logik des Kreislaufs, der das Geld und die Waren, kurz: die Elemente des Kommerziensystems unterliegen. In dieser Logik gibt es keinen Ort, der nicht zugleich Anfangs- und Endpunkt einer Bewegung wäre, wobei die ubiquitäre Geltung des Geldes als Voraussetzung der Systemfunktion implizit mit angesprochen scheint.404 Dass sich Simplicissimus angesichts dieser verlockenden „neuen Wissenschafft“ 405 nicht mehr lange in seiner Einsiedelei halten kann, überrascht nicht. Unter der aus religiöser Sicht absurden Annahme, Baldanders sei ihm erschienen, damit er, Simplicissimus, sich „bey zeiten vor[zu]sehen: und in Unbeständigkeit diese Welt [zu] schicken“ 406 lerne, macht er sich als vermeintlicher Pilger, bald jedoch „Landstörtzer[ ]“,407 wieder auf den Weg in die Welt.
401 W I/1: Continuatio, S. 604. Die intertextuellen Anspielungen sind leicht zu entschlüsseln. Demnach handelt es sich um Hans Sachsens allegorische Gedichte Vonn dem verlornen redenten gulden und Die ellend klagent roßhaut. Dass darüber hinaus natürlich auch die BaldandersFigur selbst dem Werk Sachsens entstammt, wird von Grimmelshausen nicht verschwiegen. „Anno 1534. den letzten Julij“ habe Baldanders „mit Hanß Sachßen dem Schuster von Nörnberg“ mündlich geredet. Ebd. 402 Ebd. 403 Die Rolle als Alpha und Omega ist laut Bibel (Offb. 1,8; 21,6; 1,17; 2,8) bekanntlich Gott bzw. Christus vorbehalten. 404 In diesem Punkt kann sich Grimmelshausen ganz auf das Geld-Wissen der Zeit verlassen: Unter Stichwörtern wie ‚Nummus vincit omnia‘ oder ‚Pecunia nervus rerum‘ wird im 16. und 17. Jahrhundert ein Wissen vom Geld ventiliert, das von dessen symbolischer Generalisierung als irdisches Kommunikationsmittel schlechthin ausgeht. Dass solche Vorstellungen in Grimmelshausens Werk virulent sind, zeigt das oben bereits erwähnte Geld-Kapitel des Satyrischen Pilgram. Hier heißt es in Übereinstimmung mit dem dominanten Diskurs der Zeit: „Gleich wie auch aller Welt Händel durchs Geld gerichtet und geschlichtet werden können / eben also können auch die Länder ohne Geld nicht bestehen / weder in den Commertien noch sonsten. Ihme gebürt der Titul Allergroßmächtigst / Hochmögend und Unüberwindlich […].“ GW 7: Satyrischer Pilgram, S. 44. 405 W I/1: Continuatio, S. 606. 406 Ebd., S. 607. 407 Ebd., S. 609. Die Verwandlung findet so rasch statt, dass die Zweifel am frommen Vorsatz des Simplicissimus sich nochmals verstärken. Es genügen ein paar Begegnungen mit anderen Vaganten – schon verfällt Simplicissimus in einen moralisch zerrütteten Zustand, in dem er „zuletzt gar wol vor einen Vorsteher / Zunfftmeister und Præceptor der jenigen Gesellschafft hätte passiren mögen / die auß der Landfahrerey zu keinem andern endt eine profession machen / als ihre Nahrung damit zugewinnen [...].“ (Ebd.)
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Für die Struktur des Zyklus hat diese neuerliche Öffnung des Erzählens eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Die Begegnung mit Baldanders markiert in poetologischer Hinsicht den Punkt, an dem das Prinzip jener ‚ad infinitum‘ fortgesetzten Kontinuation zu greifen beginnt, das die schließliche Vernetzung aller Lebensläufe und Diskurse des simplicianischen Erzählkosmos nach sich ziehen wird. Als Teil einer umfassenden simplicianischen Lehre vom Zusammenhang wird dieses Prinzip also nicht erst vom (Vertreter des) ‚Simplicianischen Autor(s)‘ in der Vorrede zum zweiten Teil des Vogel-Nest-Romans formuliert. Vielmehr lässt sich dessen Bemerkung, dass „alles von diesen Simplicianischen Schrifften aneinander hängt / und weder der gantze Simplicissimus, noch eines auß den obengemeldten letzten Tractätlein allein ohne solche Zusammenfügung genugsam verstanden werden mag“,408 als pointierte Explikation der Lehre vom Zusammenhang verstehen, die in den ‚systemtheoretischen‘ Diskursen des fünften Simplicissimus-Buches und der Continuatio entlang einer erzählerischen Auseinandersetzung mit der „Relationsontologie“ 409 des Kommerziensystems entfaltet wird. Kennzeichnend für diese Diskurse ist die Verknüpfung einer zugleich materialistischen wie skeptizistischen Epistemologie mit einer Poetologie, die in ihrer autosubversiven Tendenz die Unmöglichkeit einer reibungslosen epistemischen Funktionalisierung der Erzählung(en) ausstellt. Beides kommt in der Lehre des Baldanders zusammen: „Magst dir selbst einbilden, wie es einem jeden ding ergangen“, so der ‚Lehrsatz‘ des Wechselbalgs, „hernach einen discurs daraus formirn, und davon glauben, was der wahrheit ähnlich ist, so hastu was dein närrischer vorwitz begehret.“ 410 Bei genauer Betrachtung entpuppt sich der zweifache Brechungscharakter dieser „neuen Wissenschafft“. Demnach ist das Wissen von den Dingen und den Bewegungen, denen sie unterliegen, nicht unmittelbar über die Erfahrung zu haben, vielmehr wird es in einem – wie auch immer erfahrungsgesättigten – Akt der Imagination erzeugt, der in die Formierung einer Schrift oder Rede mündet. Erst im Bezug auf dieses Produkt der Einbildungskraft, den „discurs“, laufen die epistemologischen Prozesse ab, deren Schwanken zwischen Glaube
408 W I/2: Vogel-Nest II, S. 459. 409 Mit diesem von Martin Mulsow geprägten Begriff, der von ihm ursprünglich zur Beschreibung der Denksysteme der sogenannten Third Force-Gelehrten des 17. Jahrhunderts – Georg Ritschel, Johann Heinrich Biesterfeld u. a. – verwendet wurde, sei hier allgemein ein frühneuzeitliches Systemwissen bezeichnet, das die oben beschriebene Verschiebung vom esse zum operari, von der Statik zur Bewegung und von der Substanz zur Relation zur Voraussetzung hat. Vgl. Martin Mulsow: Definitionskämpfe am Beginn der Moderne. Relationsontologie, Selbsterhaltung und appetitus socialis im 17. Jahrhundert. In: Philosophisches Jahrbuch 105 (1998), S. 283–303. 410 So die dechiffrierte Botschaft nach Breuer: W I/1: Continuatio, Stellenkommentar, S. 1017.
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(doxa) und Wahrheit (episteme) auf die Instabilität der simplicianischen Vermittlung von Wissen und Erzählen verweist. Was Simplicissimus vom „discurs“ glauben soll, sind ausdrücklich die Elemente, die „der warheit ähnlich“ sind. Als Signifikat hinter den Prozessen der Zeichenproduktion und Fluchtpunkt der Erkenntnis bleibt die episteme also zwar im Spiel. Vom relativen Punkt des Beobachters aus kann dieses Signifikat als solches jedoch nicht angepeilt werden. Sein Wissen bleibt in diesem Sinne immer ‚vorwitzig‘: Mit seinem Diskurs stellt er Zusammenhänge her, ohne sicher sein zu können, ob und in welchem Grad diese mit den Realien übereinstimmen, die er beobachten will – eine epistemologische Grenze, die die Logik der Kontinuation und Verflechtung der Lebensläufe im Simplicianischen Zyklus gewissermaßen ex negativo bestimmt. Ihre programmatische Umsetzung findet Baldanders’ „neue Wissenschafft“ wenige Kapitel nach Simplicissimus’ Wiederaufbruch in die Welt. Inzwischen als ‚falscher‘ Pilger in der Schweiz angekommen, lässt er sich von einem Zürcher Bürger zur Nacht einladen. Als er am frühen Morgen in dessen Haus erwacht, fühlt er das Bedürfnis, „einer Last abzulegen / der zwar nicht groß / aber doch sehr beschwerlich war“, und macht schließlich eine Tapetentür aus, hinter der sich der gesuchte Ort befindet, „welchen etliche eine Cantzeley zunennen pflegen“.411 Dort „eilents zu Gericht“ gesetzt,412 kommt ihm „des Baldanderst Lehr und Kunst“ 413 in den Sinn, und es entspinnt sich ein Gespräch mit einem „Octav von einem Bogen Pappier“.414 Dieses, von Simplicissimus „Scheermesser“ 415 genannt, klagt über die Ungerechtigkeit, nach seinem so ent-
411 W I/1: Simplicissimus, S. 611. 412 Ebd. 413 Ebd., S. 612. 414 Ebd. 415 Ebd., S. 612 f. Zu Herkunft und Funktion dieser eigenartigen Benennung gibt es bisher nur Vermutungen. Auf Andreas Tharaeus’ Erbermliche Klage Der lieben Fraw Gerste, vnd ihres Brudern Herrn Flachs (erstmals wohl 1609) verweist Joseph B. Dallett: Auf dem Weg zu den Ursprüngen: Eine Quellenuntersuchung zu Grimmelshausens Schermesser-Episode. In: Carleton Germanic Papers 4 (1976), S. 1–36, hier S. 19. Weitere bedeutungs- und sittenhistorische Einordnungen haben Feldges, Kremer und Kaminski vorgenommen. Vgl. Mathias Feldges: Ein Beispiel für das Weiterleben mittelalterlicher Denkstrukturen in der Barockzeit. In: Wirkendes Wort 20 (1970), S. 258–271, hier S. 265; Blake Lee Spahr: Of razors, toilet paper and the fate of books. In: ‚Daß eine Nation die ander verstehen möge‘. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hg. von Norbert Honsza, Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe 7), S. 695–702; Detlef Kremer: Groteske Polyphonie: Zur poetologischen Funktion der Kleinformen im ‚Simplicissimus Teutsch‘ am Beispiel der Schermesser-Episode. In: Simpliciana 29 (2007), S. 89–100, hier S. 96; Nicola Kaminski: Lebensgeschichte als Mediengeschichte. Zum Stellenwert der Scheermesser-Episode in Simplicissimus’ autobiographischer Konfession. In: Simpliciana 32 (2010), S. 101–120, hier S. 116–120.
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behrungsreichen Leben den „endlichen Undergang im Scheißhauß nehmen“ zu müssen, und erhält von Simplicissimus daraufhin Gelegenheit, „etwas [s]einer Unschuld: und dem Menschlichen Geschlecht treugeleisteter Dienste wegen vorzubringen“.416 Daraufhin offenbart das Schermesser seinem Richter den Lebenslauf. Von den Urahnen, die noch „auff ihrem aignen Erdreich in erster Freyheit wohnten“,417 und den Eltern, die bereits „in menschliche Dienste […] gezwungen und samentlich Hanff genennet worden“, sei es „zu Zeiten Wenceslai im Dorff Goldscheur als ein Samen entsprossen“.418 Von dort führt sein Weg weiter entlang der Kette menschlicher Hanfverarbeitung: Aus der aufgegangenen Hanfpflanze wird über verschiedene Stationen des Pressens, Aufweichens, Trocknens, Erhitzens, Zerstoßens und Hechelns Garn, das, inzwischen per Schiff nach Zwolle in die Niederlande verfrachtet, zu Tuch verarbeitet wird;419 eine Magd näht aus demselben ein Hemd,420 das zur Windel und dann zum Lumpen wird,421 in einer lothringischen Papiermühle die Verwandlung in einen „feinen Bogen Schreibpapier“ 422 erfährt, nach Zurzach in die Schweiz verkauft, von einem Zürcher „Factor“ als „ein groß Buch oder Iournal“ 423 verwendet wird und schließlich „zerrissen und zu allerhand Pack-Papier gebraucht“, seinen letzten Aufenthalt im Sekret findet.424 Auf diese Weise in die Hände des Simplicissimus geraten, bittet das Schermesser, es von seinem Schicksal zu „erretten“.425 Sein Richter aber kennt keine Gnade: Mit dem Argument, dass das, was „Wachsthum und Fortzihlung auß Feistigkeit der Erden“ beziehe, auch wieder zu diesem seinem „Ursprung“ zurückkehren müsse, „exequirt[ ]“ 426 er das Todesurteil – ungeachtet der Ermahnung des Schermessers, Simplicissimus möge an seine eigene Vergänglichkeit denken: „wann er [der Tod, S. Z.] dich nemblich wider zu Erden machen wird / davon du genommen worden bist; und darvor wird dich nichts fristen mögen / wie du mich vor dißmahl hettest erhalten können.“ 427 Das spezifische poet(olog)ische Profil der Schermesser-Episode zeigt sich vor dem Hintergrund der Erzähltradition, auf die Simplicissimus mit seinem 416 417 418 419 420 421 422 423 424 425 426 427
W I/1: Continuatio, S. 612 f. Ebd., S. 613. Ebd. Ebd., S. 615–618. Ebd., S. 619. Ebd., S. 620. Ebd. Ebd., S. 621. Ebd. Ebd., S. 622. Ebd. Ebd.
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Hinweis auf Hans Sachs direkt anspielt. Die Diskurse ‚sprechender Dinge‘, die sich ab dem 16. Jahrhundert im Bereich der Schwankliteratur, aber auch im Iocoseria-Segment gelehrter Literatur finden, zielen ihrem Gegenstand gemäß auf das Materielle. Dieses wird in den Texten als solches ausgestellt, wobei die auffällige Präsenz von Leid und Laster, Elend und Tod einer Didaktisierung des Erzählens Vorschub leistet. Wo die Belehrung dabei auf religiöser Basis vorgenommen wird – als Beispiele zu nennen wären hier etwa die von Dornau kompilierten Dingbiographien Bocks und Tharaeus’ –, erschließt sich der Sinn hinter den Erfahrungen der Dinge im Bezug auf die christliche Überlieferung, die mit ihrem Angebot an Allegorien und Symbolen die Reihe der Lebensabschnitte zu einer stabilen Einheit zusammenschließt.428 Erkennbar weniger nahtlos verläuft die Integration der Erfahrung dagegen in jenen Texten, die auf die Generierung und Vermittlung moralisch-praktischen Wissens zielen. Das von Hans Sachs erzählte Leben des sprechenden Gulden etwa endet mit der Einsicht, dass das Geld von jedem anders benutzt werde, weshalb eine einseitige moralische Codierung desselben ausgeschlossen sei.429 Ansatzweise deutet die Überkomplexität des Phänomenbereichs dabei bereits auf die epistemologische Grenze voraus, entlang derer sich die (implizite) Poetik der Schermesser-Episode entfalten wird. Als Subjekt unzähliger Praktiken des Tauschens, Verschwendens und Bewahrens steht der Gulden bei Hans Sachs für eine Pluralität von Erfahrungsmöglichkeiten, die durch die Erzählung als solche nicht mehr eingeholt werden kann. Bleibt das Wissensangebot des Textes in dieser Hinsicht partikular – mit jeder weiteren Bewegung des Gulden könnte neues Erfahrungswissen anfallen –, so
428 Die von Grimmelshausen angezapfte Tradition hat Dallett: Auf dem Weg zu den Ursprüngen, S. 14–26, aufgearbeitet. Außer auf Garzonis Diskurs ‚Von Flachs vnnd Hanff bereitern‘ greift Grimmelshausen demnnach auf die drei Gedichte des Hans Sachs (Baldanderst, so bin ich genannt, Vonn dem verlornen redenten gülden, Die ellend klagend Roßhaut) sowie auf zwei Texte aus Caspar Dornaus Amphitheatrum Sapientiae Socraticae Joco-Seriae (1619) zurück: eine Übersetzung von Hieronymus Bocks Lini miseria (‚Elend des Flachses‘), die in dessen Kräuterbuch De stirpium (1552) enthalten ist; und auf die Erbermliche Klage Der lieben Fraw Gerste, vnd ihres Brudern Herrn Flachs des Andreas Tharaeus, die separat erstmals wohl 1609 erschienen war. Eine ‚Klag-Rede von dem Gerstenkorne‘ aus der Wurstologia et Durstologia (1662) des Marcus Knackwurst (Pseud.) wurde von Heßelmann als weitere Quelle ausgemacht. Vgl. Peter Heßelmann: Marcus Knackwurst und Grimmelshausen. Zu einer bisher nicht ermittelten Quelle des simplicianischen Erzählers. In: Daphnis 14 (1985), S. 590–599. 429 So erklärt der Erzähler gegenüber dem Gulden: „Sie [die Menschen, S. Z.] brauchen dich wol alle sander / Doch einer anderst dann der ander / [...] / Auß dem man bschließlich mercken mag / Du Gold bist weder böß noch gut / An dem leyths der dich brauchen thut / [...].“ Hans Sachs: Vonn dem verlornen redenten gülden. Nürnberg: Georg Merckel 1553, unpag. Dass Grimmelshausen in seinem Satyrischen Pilgram den Topos der moralischen Neutralität des Geldes übernimmt, kann angesichts dieser Vorlage bei Hans Sachs nicht verwundern.
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bedeutet dies jedoch nicht, dass der Anspruch einer moralischen Bewertung menschlichen (Geld-)Handelns damit aufgegeben wäre. Anders als die simplicianischen Erzähler, für die keine der Brücken zwischen Moral- und Erfahrungswissen noch zu tragen scheint, kann sich der Erzähler bei Sachs auf die Geltung der Lasterkataloge noch verlassen – soweit jedenfalls, dass Zweifel an der typologischen Entsprechung von Affektverhalten und Geldwirkung im Text nicht angemeldet werden.430 Beide Rekurssysteme, die die Tradition anzubieten hat, erscheinen in der simplicianischen Ding-Biographie an ihre Grenzen geführt. Dies gilt zweifellos für das Verfahren allegorischer Sinnstiftung, das schon angesichts der schieren Fülle kommerzieller Daten keinen stabilen Ankerpunkt im Diskurs finden kann.431 Dies gilt aber auch für die moralische Betrachtung der Welt, die im Schermesser-Diskurs hinter dem funktionalen Aspekt des Kommerziensystems deutlich zurücktritt. Wurde die Episode in der Forschung entsprechend als satirische „Gegenrechnung“ zur Tradition christlicher Moral- und Heilslehre(n) bezeichnet – „der ewige Naturkreislauf, das Nützliche, das Pathos der technischen Erzeugung, Geld und das Merkantile überhaupt“ definierten eine Wirklichkeit, in der für das „seelische[ ] Drama der Bekehrung“ kein Platz sei –,432 so blieben die epistemologischen Voraussetzungen für diese Verdrängungsbewegung bisher doch im Dunkeln. Als besonders hinderlich erwies sich dabei die Tendenz, das Interesse der Episode an den Kommerzien im Rückgriff auf die eingespielten Schematismen der Sozialgeschichtsschreibung zu erklären. Die in diesem Zusammenhang geäußerte These, in der Verarbeitung und kommerziellen Verwertung des Hanfs spiegele sich das Anbrechen des frühindustriellen Zeitalters,433
430 So gelingt dem Erzähler die Herstellung typologischer Beziehungen zwischen Verhalten und Wirkung des Geldes im Einzelfall noch einigermaßen mühelos: „Gold ist dem Geytzigen ein peyn / Dem milten doch ein zier alleyn / Vnd dem Verrätter ein todtschlag […].“ Sachs: Vonn dem verlornen redenten gülden, unpag. 431 Im Ergebnis ist daher Drügh zuzustimmen, der festgestellt hat, „daß der Roman vor allem in der Baldanders- und der Schermesser-Allegorie […] das Allegorische […] als beständige Sinnverfehlung reflektiert.“ Drügh: Anders-Rede, S. 34. Die Ursache für diesen Zweifel an der Allegorie liegt m. E. jedoch weniger auf semiologischer Ebene als vielmehr in der entlang des Kommerzienkomplexes entfalteten Realienorientierung simplicianischen Erzählens: Je weiter das Erzählen sich in Richtung der Bewegung der Dinge und des Geldes orientiert, desto unwahrscheinlicher ist das Gelingen einer allegorischen Einholung der disparaten, sich in ständiger Bewegung befindlichen Elemente. 432 Busch: Die Lebensbeichte einer Warenseele, S. 61. 433 In typischer Manier vertreten diese Position Gebauer: Grimmelshausens Bauerndarstellung, S. 301; Knopf: Frühzeit des Bürgers, S. 76; Meid: Grimmelshausen, S. 125–129. Auch in neueren Arbeiten bleibt der industriehistorische Ansatz virulent. Vgl. etwa Lämke: Zirkulationsmittel und hermeneutischer Zirkel, S. 145 f.
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konnte und kann kaum überzeugen, ordnet sie den Text doch einer historischen Realität unter, deren Verfasstheit den Autoren dabei offenbar immer schon bekannt ist. Um diesem heuristisch fragwürdigen Projektionsmechanismus zu entgehen, bleibt nichts, als den Blick auf die mikrologischen Wissensbewegungen zu richten, die das spezielle diskursive Gepräge der Schermesser-Episode ausmachen. Woher stammen die im „Körpergedächtnis“ 434 des Schermessers gespeicherten Informationen über Produktions- und Konsumtionsvorgänge, Erlöse, Handelsrouten und Warenkreisläufe? Und welche Folgen hat die Präsenz dieses Wissens für die Entfaltung der in der Episode metareflexiv beobachteten ‚Poetik des Zusammenhangs‘? Einen wesentlichen Anhaltspunkt zur Orientierung im „polyphone[n] Geflecht“ 435 des Schermesser-Diskurses bietet der Teutsche Friedens=Raht des Claus von Schauenburg, den Grimmelshausen, zeitweilig selbst als Schaffner in Schauenburgischen Diensten tätig, als Redakteur bearbeitet und 1670, nur wenige Monate nach Erscheinen der Continuatio, in Straßburg zur Veröffentlichung gebracht hat.436 Nicht zufällig enthält Schauenburgs Traktat seinerseits ein Kapitel „Von Hanff und Flachs“, in dem dem Regenten, neben allgemeinen Informationen zu Anbau und Nutzen der Pflanzen, der Rat gegeben wird, diese niemals als Rohstoffe, sondern immer als verarbeitete Produkte, zumal ‚Leinwand‘, zu exportieren.437 Dieser Rat entspricht zeitgemäßem Wissen um den Zusammenhang von Rohstoffexport, Produktion und politischer Prosperität, das um 1670 zum theoretischen Kernbestand der „Vorstellung / […] eine wolersprießliche Regierung allenthalben wiederumb anzuordnen und einzuführen“,438 avanciert war. „Glückselig“, so heißt es im Friedens=Raht, sei „das Land / darinn der Flachs wächset; aber glückseliger ist das / welches den gebrauch deß Flachs und der Leinwand weiß / und ihn zu weben nicht an andere orth verschickt“.439 Der Paradigmenwechsel gegenüber der oeconomia-Tradition ist offensichtlich. So sieht der Friedens=Raht, Xenophon anführend,440 im Ackerbau zwar noch die „Mater & nutrix omnium artium, das ist ein Mutter und
434 Busch: Die Lebensbeichte einer Warenseele, S. 56. 435 Drügh: Anders-Rede, S. 98. 436 Zu den biographischen Zusammenhängen hinter der Redaktionsarbeit Grimmelshausens vgl. Dieter Breuer, Peter Heßelmann und Dieter Martin: Einleitung. In: Schauenburg: FriedensRaht, S. IX–XXXV, hier S. XXIII–XXX. 437 Schauenburg: Friedens-Raht, S. 95 f. 438 Vgl. ebd., Titel. 439 Ebd., S. 123. 440 Zu den Quellen der Schrift vgl. Breuer, Heßelmann und Martin: Einleitung, in: Schauenburg: Friedens-Raht, S. XXI–XXIII.
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Ernehrerin aller anderer künsten und handwercken“.441 Die für das Prosperieren des Staates entscheidende aktive Handelsbilanz jedoch erreicht der Regent nur, indem er Handwerk und ‚Künste‘ fördert: [D]ann in diesem stuck bestehet das glück und wohlfahrt deß Königreichs / und kein ander stuck mehret gewisser deß Fürsten seckel / und verursachet nichts mehr / daß viel Güter in- und ausser Land geführet werden; auch lockt nichts mehr das gelt von dem äussersten theil der erden / und verursachet / daß man allerhand waaren desto mehr ins Land bringt […] / wann die künst wachsen / so wachset auch das Land / nicht allein an einkommen und gefällen / sonder auch an der menge deß volcks / von welchem das Reich gestärcket wird / und die zöll nemmen umb ein merckliches zu.442
Vorbild für ein solches auf erstens handwerklicher Produktion und zweitens Handel („daß viel Güter in= und ausser Land geführet werden“) basierendes politisch-ökonomisches Programm sind für den Teutschen Friedens=Raht die Niederlande.443 Während niederländisches Tuch im Abschnitt ‚Von Hanff und Flachs‘ aufgrund seiner einzigartigen Qualität gelobt wird,444 gilt die besondere Bewunderung dem auf Amsterdam hin zentrierten System von Import und Export: Allein in dieser Stadt, so Schauenburg, landeten 365 Schiffe am Tag, es würden international Rohstoffe importiert, durch die ansässigen Handwerker weiterverarbeitet und dann wieder exportiert, so dass jedem „sonnen-clar“ sein müsse, „daß man die kauff= und handelsleuth nicht schelten / sonder vielmehr loben / ehren und ihnen sonderliche privilegien geben soll“.445 Entsprechend positiv fällt schließlich die Bewertung des Geldes aus, das sowohl für die politische als auch für die kaufmännische Praxis unverzichtbares Medium ist. An verschiedenen Stellen greift der Text auf den Topos vom Geld als ‚Nerv aller Dinge‘ (pecunia nervus rerum) bzw. ‚Nerv des Staates‘ (nervus rei publicae) zurück.446 Von moralischen oder religiösen Vorbehalten gegen die Omnipräsenz des Geldes findet sich kaum eine Spur, wenn der Friedens-Raht die „Müntz“ als das „stuck“ bezeichnet, das, als dritte Instanz der Gerechtigkeit neben ius divinum und ius positivum, „die Leuth von einander hält / und in commercien und
441 Schauenburg: Friedens-Raht, S. 46. Das Zitat geht, wie der Text selbst transparent macht, auf Xenophons Oikonomikós zurück und repräsentiert insgesamt einen zentralen Topos alteuropäischer Ökonomie-Tradition. 442 Ebd., S. 68 f. 443 Vgl. ebd., S. 69. 444 Bei Schauenburg heißt es: „Alle andere Leinwand übertrifft die […] Niderländische / welche schön weiß und glitzend ist / daß sie das gesicht betriegt / und man nicht wissen mag / ob sie von seiden / oder wovon sie gemacht seie.“ Ebd., S. 96. 445 Ebd., S. 70. 446 Zu dieser Denkfigur in der Frühen Neuzeit vgl. Stolleis: Pecunia nervus rerum, S. 62–68.
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ordentlichen contracten nicht entrathen werden mag“.447 Die „erhaltung menschlicher Societät“ 448 als Aufgabe des Regenten fällt somit logisch mit der Herausforderung zusammen, die Zirkulation von Geld und Handelswaren im erwähnten ‚Burgerlichen Cörper‘ zu befördern und die Untertanen, wie der Imker seine Bienen, „allezeit / bey gutem willen [zu] erhalten / und ihnen ein theil von ihrer arbeit [zu] lassen / dann durch sie wird das gemeine weesen ernehrt / und erhalten / von ihnen kombt handel und wandel / reichthumb / gold / und silber“.449 Blickt man von hier aus wieder auf die Schermesser-Episode, so wird deutlich, dass die Welt, in der die aus dem Hanfsamen gewonnenen Produkte zirkulieren, einen ganz ähnlichen Aufbau hat wie diejenige, die der Schauenburg’sche Traktat entwirft. Durch den Bericht des Schermessers kann der Leser geradezu minutiös nachverfolgen, wie der Hanf vom Schwarzwälder Rohstoff – der materia rudis non exportanda, wie der Friedens-Raht formuliert 450 – zum Exportprodukt wird, das erst nach Straßburg – dem wirtschaftlichen ‚Herz‘ der Region, in der Simplicissimus siedelt –, dann über den Rhein nach Zwolle und Amsterdam und wieder rheinaufwärts nach Spinal (heute Épinal/Lothringen), Zurzach und schließlich Zürich geführt wird. Die besonders lukrative Verarbeitung zum Tuch findet auch in der Continuatio in den Niederlanden statt, wo die per Schiff importierte hanfene „Kauffmanns-Wahr“ 451 erst zu Garn und dann, in Amsterdam, „zu einem feinen Holländischen Leinwad“ gemacht wird.452 Es folgt die zweite Verwertungskette, die, Grimmelshausens zweiter wesentlicher Informationsquelle gemäß – dem Diskurs ‚Von Flachs vnnd Hanff bereitern‘ aus Garzonis Piazza Universale –, mit der Verarbeitung des zum Windellumpen degenerierten Textils zu Papier beginnt und im Zürcher Sekret mit der finalen Verwendung des Schermessers als Klopapier endet.453 Sichtbar wird auf allen Stationen des Weges die Bedeutung des Geldes als nervus der Kommerzien. Nicht nur die verschiedenen Produzenten verdienen jeweils ihren Teil, sondern auch die Transporteure, Krämer, Kaufleute und Zöllner, wobei an den Knotenpunkten des Fernhandels, in Straßburg und den Niederlanden, die monetogra-
447 Schauenburg: Teutscher Friedens=Raht, S. 135. 448 Ebd. 449 Ebd., S. 125. 450 Vgl. ebd., S. 72. Dass Hanfanbau um 1670 zu den wichtigsten Rohstoffen der OrtenauRegion gehörte, in der Grimmelshausen verschiedene Verwaltertätigkeiten ausführte, sei hier immerhin am Rande vermerkt. Vgl. dazu Dallet: Auf dem Weg zu den Ursprüngen, S. 5. 451 W I/1: Continuatio, S. 617. 452 Ebd., S. 618. 453 Vgl. Garzoni: Piazza Vniversale, S. 379 f. Dazu auch Breuer in W I/1: Continuatio, Stellenkommentar, S. 1022–1024.
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phische Aktivität des Schermessers jeweils merklich zunimmt. Fallen auf dem längeren und mühsamen tendenziell agrarisch geprägten Weg vom Verkauf des Samens durch einen Kleinkrämer über den Anbau und die Erstverarbeitung bis zum Hecheln des Hanfes neun Erlöse an, so sind es noch einmal neun allein am Umschlagplatz Straßburg, von wo der Weg des späteren Schermessers in die Niederlande führt: DEn nechsten Marck-Tag trug mich mein Herr in ein Zimmer / welches man eine FaßCammer nennet wurde ich geschauet / vor gerechte Kauffmanns-Wahr erkandt und abgewogen / folgends einem Fürkäuffer verhandelt / verzolt / auff einen Wagen verdingt / nach Straßburg geführt / ins Kauffhauß gelieffert abermals geschauet / vor gut erkandt / verzolt und einen Kauffmann verkaufft / welcher mich durch die Kärchelzieher nach Hauß führen und in ein sauber Zimmer auffheben liese; bey welchem Actu mein gewesener Herr der Hänffer / den zehenden: der Hanff-Schauer den elfften: der Wäger den zwölfften: der Zoller den dreyzehenden: der Vorkäuffer den vierzehenden: der Fuhrmann den fünffzehenden das Kauffhauß den sechszehenden und die Kärchelzieher die mich dem Kauffmann heimführten / den siebenzehenden Gewinn bekammen / dieselbe nahmen auch mit ihrem Lohn den achtzehenden Gewinn hin / da sie mich auff ihren Kärchen zu Schiff brachten / auff welchem ich den Rhein hinunter biß nach Zwoll gebracht wurde / und ist mir unmüglich alles zuerzehlen / wer als unterwegs sein Gebür an Zöllen und anderen und also auch einen Gewinn von meinetwegen empfangen / dann ich war dergestalt eingepackt / das ichs nicht wissen kondte.454
Die stark beschleunigt erscheinende, listenartig verkürzte und numerisch organisierte Registrierung der Erlöse, die das Schermesser als exakten Buchhalter zeigt, lässt den Abstand der simplicianischen Ding-Biographie zu ihren Vorläufern deutlich werden. Dort, wo in der Rasanz der Buchungsvorgänge kein narrativer Keim aufgehen kann, ist auch kein Platz für die Entfaltung moralischen oder religiösen Wissens. Was in dieser Passage eigentlich erzählt werden soll – als solches aber eben nicht erzählt werden kann –, ist die Komplexität des Kommerziensystems selbst, dessen Spuren sich tief ins ‚Körpergedächtnis‘ (Busch) des Schermessers eingegraben haben. Mit jeder Bewegung des werthaltigen Dings, jedem Tauschvorgang, in dem Geld und Ware den Besitzer wechseln, werden Beziehungen gestiftet, deren letzthin globaler Zuschnitt im Diskurs erahnbar wird. In der Welt, die das Schermesser durchquert, sind die Bauern auf dem Hanfacker im badischen Goldscheuer mit den Händlern „Engelländische[r] Wahr“ 455 im Hafen von Zwolle relational verbunden – und zwar in einer fluiden, dynamischen Weise, die die ‚Relationsontologie‘ des Kommerziensystems als emergente Struktur ohne feste topische Ordnung erkennen lässt.
454 W I/1: Continuatio, S. 617. 455 Ebd., S. 617 f.
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Im Bezug auf diese Struktur fungiert das Schermesser als mehrfach besetztes, komplexes Zeichen. Mindestens drei Ebenen lassen sich unterscheiden. Erstens handelt es sich um ein kommerzielles Ding, an dessen Bewegungen sich Feldlinien des Kommerziensystems der erzählten Welt ablesen lassen (Objektebene). Zweitens spiegelt es in seiner Rolle als autodiegetischer Erzähler mit leidvoller, durch Enteignung und Gewalt geprägter Biographie das Erzählmodell des pikarischen Romans bzw. die Lebensläufe des Simplicianischen Zyklus (Subjektebene).456 Und drittens kann es aufgrund seiner Verwandlung in ein Blatt Papier für die materielle Seite der Literatur stehen, eignet sich mithin zur medialen Selbstreflexion simplicianischen Erzählens (mediale Ebene). Zur ersten Ebene konnten wesentliche Einsichten bereits formuliert werden. Entsprechend soll der Fokus im Folgenden auf die beiden anderen Ebenen ausgeweitet werden, wobei die Frage nach der Interdependenz von simplicianischem Kommerzienwissen und simplicianischer (Meta-)Poetik weiterhin im Mittelpunkt stehen wird. Die Art und Weise, wie das Leben des Schermessers erzählt wird, hat größten Einfluss auf die epistemologische Funktion des Diskurses. Die Beobachtung, dass die Welt, die das Schermesser durchquert, ähnlichen Gesetzen zu gehorchen scheint wie die Welt, die der Traktat Schauenburgs entwirft, darf dabei nicht zur Ausblendung der Merkmale führen, die beide Diskurse voneinander unterscheiden. Strukturell betrachtet nämlich, könnten die Unterschiede zwischen der zweistöckigen Autodiegese in der Continuatio und dem traktatistischen Diskurs im Friedens=Raht größer kaum sein. Zentriert auf die Position des Fürsten operiert Schauenburgs Schrift mit einer Fiktion des Überblicks. Diese verspricht dem Leser eine „Deutliche Vorstellung“ 457 der Materie, verleiht dem Wissen mithin eine epistemische Geltung, die durch Referenzen auf autoritative Texte sowie die Anordnung des Wissens gemäß den Loci des Systems ‚Staat‘ nachhaltig stabilisiert erscheint. Das Verfahren der Schrift zielt somit auf Komplexitätsreduktion: Sie geht nicht von einzelnen, möglicherweise heterogenen Erfahrungen, sondern von den Funktionsregeln der Systeme aus, um von dort aus den Elementen – seien es Dinge, Handlungen oder systemische Effekte – ihren epistemischen Ort zuzuweisen.458 Vergleichbares lässt sich über den
456 Dies geschehe im Schermesser-Diskurs, wie Kremer: Groteske Polyphonie, S. 95, schreibt, „in konzentriertester Form, mise en abyme, und gewissermaßen selbstreflexiv“. 457 So die Formulierung im Titel des Traktats. 458 Diese Feststellung schließt zweierlei nicht aus: Erstens bedeutet das Ausgehen von den Funktionsregeln der Systeme nicht automatisch eine Abkehr vom Erfahrungswissen. Vielmehr kann für die kameralistischen Traktate des 17. Jahrhunderts wohl gesagt werden, dass sie Regeln ‚erkennen‘, indem sie Erfahrungen des ökonomischen Aufstiegs und Falls von Staaten sammeln und synthetisieren (wobei die Niederlande, wie im politisch-ökonomischen Schrift-
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Schermesser-Diskurs offensichtlich nicht sagen. Ganz im Gegenteil scheint er die epistemischen Strategien des Friedens-Raht bzw., allgemeiner, der politischen Traktatistik geradewegs zu unterlaufen. So herrscht auf der Ebene des erzählten Lebenslaufes, der Autodiegese des Schermessers, eine Perspektive ‚von unten‘ vor, die dem zentralperspektivischen Beobachtungkonzept der politischen Schrift diametral entgegengesetzt ist. Der implizite Fürst des FriedensRahts überblickt den „Bürgerlichen Cörper“ – oder erliegt der Fiktion, ihn überblicken zu können –, das Schermesser durchquert ihn, indem es dessen kommerzielle Verzweigungen hier und dort erfasst, ohne je in eine Position der souveränen Disposition (Strategie) zu kommen. Wie nachdrücklich diese Perspektive im Text an ein Dispositiv sinnlicher Wahrnehmung gebunden ist, wird dabei an den Stellen besonders deutlich, an denen das Schermesser sein Nicht-Wissen zu Protokoll gibt. So enthält die memoria des sprechenden Dings nur solche Informationen, die qua Autopsie authentifizierbar sind. Im oben zitierten Bericht von seiner Verschiffung über den Rhein nach Zwolle unterbricht das Schermesser die Verbuchung von „Gebür“, „Zöllen“ und „Gewinn“, weil es durch seine Verpackung nichts sehen kann („ich war dergestalt eingepackt / das ichs nicht wissen kondte“).459 Aber auch dort, wo es sieht, kann es nicht auf vorgängiges Weltwissen zurückgreifen. Im einzigen Abschnitt seiner Erzählung, der die Schwanktradition direkt aufgreift – der Amsterdamer Episode um den Ehebruch eines Bürgers mit der Hausmagd –, kommt das Schermesser, als Hemd der Magd am Geschehen hautnah beteiligt, erst in dem Moment zur Einsicht in die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, in dem es Zeuge der sexuellen Ausschweifungen wird: „da erfuhr ich / daß es nicht alle Jungfern seynd die man so nennet“.460 Diese – durchaus poetologisch zu verstehende – Geste in Richtung Hans Sachsens (und anderer) ist bemerkenswert nicht nur deshalb, weil sie ein Schema vorgibt, das in den Vogel-Nest-Romanen narrativ und metareflexiv entfaltet werden wird: das Konzept des in Haushalte aller Art eindringenden ‚unbeobachteten Beobachters‘.461 Sie ist es auch, weil sie den Übergang von der kommerziellen zur häuslichen Existenz des Schermessers als poetologi-
tum der Zeit generell, eine herausragende Rolle als Paradigma erfolgreicher Wirtschaftspolitik spielt). Zweitens ist nicht gesagt, dass im Prozess der Epistemisierung der volatilen Vorgänge im Kommerziensystem nicht ‚Fehler‘ unterlaufen, die das strategische Ziel der Schriften dann u. U. auch unterlaufen können. Der Versuch, dem Wissen von den Kommerzien eine feste Ordnung zu geben, bleibt im politischen Diskurs der Zeit von Zweifeln und Risiken umlagert. Nur so erklärt sich, warum gerade dieses (Nicht-)Wissen zur Transformation des politischen Diskurses im 17. Jahrhundert so entscheidend beitragen konnte. 459 Vgl. W I/1: Continuatio, S. 617. 460 Ebd., S. 619. 461 Dazu Kap. 4.2.3 dieser Arbeit.
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schen Umschlagpunkt markiert: Erst mit dem Eintritt des Dings ins Haus wird ein Erzählen nach Art der Schwanktradition möglich, da die hierfür nötigen Wissensbestände, insbesondere das Moralwissen, im vom Text angepeilten Archiv immer schon bereit liegen.462 Dort, wo dieses Wissen fehlt und die Bewegung des Schermessers von der Geschwindigkeit des Handels bestimmt ist, bleiben entsprechende Versuche der Diskursivierung moralischer Einsichten aus – eine Bestätigung der These, dass sich die simplicianische ‚Poetik des Zusammenhangs‘ von vornherein in metatextueller Abgrenzung zu traditionellen Formen ‚niederen‘ Erzählens reflektiert. Das gesamte epistemologische Alteritätspotenzial der Passage erschließt sich freilich erst vor dem Hintergrund der Brechungen, die der dem „discurs“ zugrunde liegende Imaginationsakt des Simplicissimus nach sich zieht. Wie oben gezeigt, besteht die Pointe der im Zürcher Sekret zur Anwendung kommenden „neuen Wissenschafft“ darin, dass sie keine stabile, intersubjektiv verbindliche Zuordnung von Diskurs und Wahrheit, verba und res, erlaubt. So wird über die Position des Beobachters zweiten Grades, Simplicissimus, einerseits die Illusion zerstört, dass es so etwas wie pikarische Welterfahrung ohne Anteil von Einbildungskraft und formender Diskursivität geben könne – ein klares Votum für die Poetizität simplicianischer Lebenslauferzählungen, deren demonstratives Ausstellen von experientia und curiositas hier als literarische Strategie entlarvt wird. Andererseits bleibt der Beobachter zweiten Grades in seinen Erkenntnismöglichkeiten selbst in charakteristischer Weise beschränkt. Auf den von ihm formierten „discurs“ kann Simplicissimus, der Lehre des Baldanders gemäß, nur im Modus des subjektiven Für-wahr-Haltens zugreifen (was den Rekurs auf eigene, wiederum relative Erfahrungen impliziert). Erscheint das imaginativ erschlossene Erfahrungswissen des Schermessers in diesem Sinne doppelt relativ – auf beiden Beobachtungsebenen bleiben Sicht- und Erkenntnisschranken vorhanden, die eine Abweichung von verba und res im Bereich des Möglichen halten –, so unterstreicht dies die skeptische, autosubversive Tendenz simplicianischer Poetik.463 Über die Auseinandersetzung mit dem überkomple462 In diesem Sinne ist Kaminski: Lebensgeschichte als Mediengeschichte, S. 108, zu widersprechen, die den Wechsel in einen „deutlicher narrativ geprägten Darstellungsmodus“ erst für den Buchhaltungsabschnitt der Schermesser-Episode veranschlagt. Zu beobachten ist vielmehr, dass der Diskurs des Schermessers immer dann ins Narrative wechselt, wenn er den Bereich des Markts verlässt und in die Sphäre des Hauses eintritt. 463 Die Problematisierung der poetischen Einbildungskraft im Werk Grimmelshausens ist dabei noch nicht einmal eingerechnet. Entlang platonischer und aristotelischer Topoi, wie Garzoni sie in seiner Piazza Universale präsentiert hatte, lobt Grimmelshausen im Satyrischen Pilgram demnach zwar einerseits „die Kräffte“ des Poeten, die „durch einen sonderbaren Himlischen Gaist innerlich uffgemuntert: bewegt und angetrieben werden“; andererseits polemisiert er gegen die Dichter, wenn es heißt, „daß alsdann ihr Hirn mit Poetischen Dünsten der
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xen Relationengefüge der Kommerzien kommt Grimmelshausens Text zur Einsicht, dass es ein diskursives Fixieren von Wahrheiten unter den Bedingungen relativer Erkenntnis und interrelationaler Rückkopplungseffekte nicht geben kann. An einem bestimmten Punkt im Diskursgeflecht des Zyklus (oder spätestens der Sprossschriften) verliert sich daher ein jeder der von den Figuren erhobenen epistemischen Ansprüche. Übrig bleibt am Ende nur die eine Aussage, die gilt, weil sie vom poetischen Verfahren selbst beglaubigt wird: dass alles mit allem im Zyklus zusammenhängt und nichts ohne das andere ‚genugsam‘ verstanden werden kann.464 Um das Verhältnis von Zeichen und Dingen, Diskurs und Wahrheit geht es schließlich auch im finalen Abschnitt der Schermesser-Episode, der sich mit dem Thema Buchhaltung befasst. Wie die Forschung verschiedentlich betont hat, kann das „groß Buch oder Iournal“, das der betrügerische „Factor oder Haußhalter“ für seine reichen Herren führt, als Spiegel des medialen Dispositivs gedeutet werden, in das sich die simplicianischen Autoren mit ihren Lebensbeschreibungen einschreiben.465 Das Schermesser, „zu einem feinen Bogen Schreibpapier creirt“, wird vom Schaffner mit Tinte beschrieben und, als es schließlich „überschriben“ ist, „hingestellt biß Herr und Frau den Weeg aller Welt giengen“.466 Die „zimbliche Ruh“, die es in der Hausbibliothek der Zürcher Bürger nun genießt, bleibt freilich nur von kurzer Dauer. Mit der Einsicht der Erben in die Nutzlosigkeit des alten Rechnungsbuches beginnt der endgültige
Thorheit solchergestalt übernäbelt und angefüllt sey / daß beynahe kein Platz mehr übrig bleibt / dahin sich die Gedancken uff Verrichtungen anderer nötigen Geschäfften logiren könten“. GW 7: Satyrischer Pilgram, S. 89 und 93. Dass die kritischen Formulierungen vor dem Hintergrund der ‚nötigen Geschäffte‘, die Simplicissimus im Zürcher Lokus verrichtet, eine besondere ironische Note bekommen, mag Zufall sein, besitzt im Zusammenhang jedoch durchaus heuristischen Wert: Auf der Toilette wird im simplicianischen Text eine groteske Verbindung kruder Materialität (bzw. Körperlichkeit) und ‚dichterischer‘ Muße gestiftet, deren Zugehörigkeit zu einer frühneuzeitlichen Tradition der ‚Absenkung‘ und satirischen Durchkreuzung neoplatonistischer Dichtungsideale eine gesonderte Untersuchung wert wäre. 464 In dieselbe Richtung zielt Merzhäuser: Satyrische Selbstbehauptung, S. 23, wenn er feststellt, dass im Simplicianischen Zyklus „Einheit nur mehr aus der Differenz heraus, im Durchgang durch die Komplexität der Besonderheiten“ denkbar ist. 465 W I/1: Continuatio, S. 621. Die poetologischen und mediologischen Implikationen des Abschnitts betonen einhellig Busch: Die Lebensbeichte einer Warenseele, S. 59; Gaede: Substanzverlust, S. 12 f.; Drügh: Anders-Rede, S. 107 f.; Kaminski: Lebensgeschichte als Mediengeschichte, S. 102–116; Benedikt Jeßing: Doppelte Buchführung und literarisches Erzählen in der frühen Neuzeit. In: Gedächtnis und kultureller Wandel. Erinnerndes Schreiben – Perspektiven und Kontroversen. Hg. von Judith Klinger, Gerhard Wolf. Tübingen 2009, S. 187–200, hier bes. S. 187 und 199. 466 W I/1: Continuatio, S. 621.
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Abstieg des Schermessers, das erst zum „Pack-Papier“ und dann „an diesen Ort contemnirt“ wird, an dem Simplicissimus ‚zu Gericht sitzt‘.467 Voller Ironie inszeniert der Text dabei den Registerwechsel des Diskurses ins Literale: Infolge seiner Papierwerdung eignet sich das Schermesser eine fremdwortgesättigte Diktion an („creirt“, „contemnirt“), die, indem sie auf den prätentiösen Code der Buchgelehrten verweist, ins Zwielicht des Scheinhaften gestellt erscheint. Darüber hinaus verfügt das vormals ganz auf sinnliche Erfahrung angewiesene Ding plötzlich über ein enzyklopädisches Wissen, das seiner Art nach zur Häufung – Thesaurierung – neigt. Um die ‚bibliomane‘ Fixierung des Faktors auf das „groß Buch oder Iournal“ satirisch zu beleuchten, führt das Schermesser in langer Reihe Elemente an, die unter dem Lemma ‚Große Männer und ihre Bücher‘ bzw. ‚Buch der Bücher‘ im enzyklopädischen Archiv bereitliegen: Dieses Buch nun / worin ich als rechtschaffner Bogen Pappier auch die Stell zweyer Blätter vertratte / liebte der Factor so hoch als Alexander Magnus den Homerum; es war sein Virgilius, darin Augustus so fleissig studiert / sein Oppianus darin Antonius Keysers Severi Sohn so embsich gelesen; seine Commentarij Plinij Iunioris, welche Largius Licinius so werth gehalten; sein Tertullianus, den Cyprianus allzeit in Händen gehabt / seine pædia Cyri, welche ihm Scipio so gemein gemacht; sein Philolaus Pithagoricus daran Plato so grossen Wolgefallen getragen; sein Speusippus den Aristoteles so hoch geliebt; sein Cornelius Tacitus, der dem Kayser Tacitum so höchlich erfreut / sein Comminæus den Carolus Quintus vor allen Scribenten hochgeachtet / und in summa summarum seine Bibel / darinnen er Tag und Nacht studirte; zwar nit deßwegen / daß die Rechnung auffrichtig und just seyn: sonder daß er seine Diebsgriff bemänteln: seine Untreu und Bubenstück bedecken: und alles dergestalt setzen möchte / daß es mit dem Iournale überein stimme.468
Die Ironie der Passage ist eine doppelte. Auf einer ersten Ebene bleibt in ihr das satirische Potenzial der Vorlage wirksam. In Garzonis Diskurs ‚Von Factoren / oder Curatoren / so anderer Leute Geschäffte versehen‘ findet sich nicht nur die zitierte Passage in weitgehend wörtlicher Übereinstimmung bereits vor, auch die Argumentation gegen die Buchhalter gleicht der des simplicianischen Textes.469 Im modernisierenden Rekurs auf das lukanische Gleichnis vom ungerechten Schaffner (Luk 16,1–8) warnt Garzoni vor der Möglichkeit des Betrugs, die den Faktoren qua Herrschaft über die ökonomischen Zeichen geboten sei.470 467 Ebd. 468 Ebd. Vgl. die nahezu buchstäbliche Vorlage in Garzoni: Piazza Vniversale, S. 430 f. 469 Vgl. ebd., S. 428–431. 470 Modernisiert erscheint die alte Buchhalter-Erzählung dabei in zweierlei Hinsicht. Erstens geht Garzoni selbstverständlich von einer schriftlichen Buchhaltung aus, während die Aufforderung des biblischen Hausherrn, „Thu rechnung von deinem haushalten“ (Luk 16,2), im Kontext des Gleichnisses eindeutig auf einen mündlichen Rechenschaftsbericht zielt. Das Neue Testament in der deutschen Übersetzung von Martin Luther, Bd. 1, S. 205. Zweitens wird im frühneuzeitlichen Diskurs – und so auch bei Garzoni – die anti-ökonomische Tendenz des
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Nicht selten geschehe es, dass die Schaffner durch Manipulation der Bücher „die Substantiam auff sich […]“ brächten und „denen / so ihnen vertrawen / allerhandt böse accidentia“ hinterließen.471 Genau so kommt es im Zürcher Haushalt: Der Faktor setzt mit seinen Mitteln „alles dergestalt“, „daß es mit dem Iournale überein stimm[t]“, und erleichtert seine Herren auf diese Weise um ein Gutteil ihres Besitzes. Ist die zeichenkritische Botschaft im Kontext damit eigentlich schon übermittelt – sie lautet: jeder Schreibakt, der ökonomische, aber natürlich auch der autobiographische, bietet dem Autor die Möglichkeit, die verba so zu formieren, dass eine täuschende Repräsentation der Dinge (des Hauses, des eigenen Lebens etc.) entsteht –,472 so geht die Handlung im simplicianischen Text über Garzoni in einem Punkt doch hinaus. Anders nämlich als beim Italiener, der wie Lukas von der schließlichen Entlarvung des Schaffners berichtet,473 bleibt der Betrug bei Grimmelshausen bis über den Tod der Beteiligten hinaus unentdeckt. Das „groß Buch“, das voller Unwahrheiten über die Ordnung der Dinge steckt, geht, ohne je tatsächlich ‚gegengelesen‘ zu werden, ins Archiv des Hauses ein. Die zweite Ironieebene der Passage spannt sich an diesem Punkt auf. Durch den veränderten Handlungsausgang verschiebt sich der satirische Fokus im simplicianischen Text. Er richtet sich nicht mehr nur auf den Autor als Produzent (möglicherweise) täuschender Zeichen bzw. den traditionell mit Betrug und Täuschung assoziierten Chrematismus. Vielmehr rückt mit den sich auf ein Buch als Repräsentation der Ordnung der Dinge verlassenden Hauseltern unweigerlich auch das liber librorum-Konzept Garzonis in den Einzugsbereich der Kritik. Beim Italiener werden die großen Männer und ihre Bücher – darunter Aristoteles, Platon, Tacitus, Plinius d. J., Tertullian und die Bibel – als mächtige Gegenspieler des Schaffners in Szene gesetzt; als glaubwürdige Agenten
Gleichnisses nicht eigentlich übernommen. In der Bibel wird der betrügerische Schaffner von Gott schließlich ja gelobt, da er sich mit dem ungerechten Mammon Freunde gemacht habe (vgl. Luk 16,10). Bei Garzoni erscheint ein solches Lob völlig undenkbar – der untreue Buchhalter ist ganz zu einer Figur der Gefährdung ökonomischer Ordnung geworden. 471 Garzoni: Piazza Vniversale, S. 431. In der Folge geht Garzonis Diskurs dann alle zehn aristotelischen Prädikamente durch, um die Machenschaften der betrügerischen Haushälter satirisch zu denunzieren: „Die vntrewe Factores vergreiffen sich an allen den zehen Prædicamentis.“ 472 Dass die Ebene autobiographischen Schreibens dabei implizit mit angesprochen ist, hat Kaminski gezeigt: Insbesondere die kaufmännisch-ökonomische Gattung des ‚Journals‘, in dem alle nennenswerten Ereignisse des Geschäfts (und des davon i. d. R. nicht getrennten Haushalts) verzeichnet werden, fungiert in der Frühen Neuzeit als Basis für Projekte autobiographischer Lebensschreibung. Vgl. Kaminski: Lebensgeschichte als Mediengeschichte, S. 108. 473 Vgl. Garzoni: Piazza Vniversale, S. 430: „solches [wäret] so lang / biß es bißweilen die Herrschafft gewar wirdt / vnd sie mit Spott / Schande vnd Schaden muß abschaffen“.
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humanistisch-christlicher Tradition bieten sie die Kontrastfolie, vor der sich die nicht auf Erkenntnis, sondern aufs Geld gerichtete ‚Bibliomanie‘ des Betrügers in ihrer Nichtswürdigkeit abheben soll.474 Bei Grimmelshausen erscheint die Grenze zwischen den Schrift- und Lesepraktiken dagegen verwischt. Ausschlaggebend dafür ist die strukturelle Parallele, die sich zwischen der Buchgläubigkeit der großen Männer und jener der Zürcher Bürger ergibt. Beide Formen des Lesens erweisen sich als anfällig für den ‚Wahn‘, im „groß Buch“ – seien es nun die Werke des Aristoteles oder das Kontobuch – die Ordnung der Dinge als ganze aufsuchen zu wollen.475 Je entschiedener die Bücher dabei die eigene Evidenz ausstellen, je mehr sie also zur Beglaubigung durch den Leser einladen, desto verdächtiger erscheinen sie dem ‚anderen‘, nicht-zentralperspektivisch organisierten Blick, den der simplicianische Text als Gegenmittel gegen die epistemische Komplexitätsreduktion ins Feld führt. Dass dies auf der Ebene der „Performanz des Erzählens“ schließlich auch den gelehrten Intertext Grimmelshausens, Garzonis Piazza Vniversale, betrifft, liegt auf der Hand.476 Als ein Buch, das sich selbst gleichzeitig als „Marckt“ und „Schauwplatz“ adressiert und seinen Lesern einen Überblick über „alle[ ] Professionen/ Künste[ ]/ Geschäffte[ ]/ Händlen und Handtwercke[ ]/ so in der gantzen Welt geübt werden“ verspricht, steht Garzonis Text geradezu paradigmatisch für das enzyklopädische Dispositiv, das die Vielheit der Dinge in einem „auß allerhand Authoribus“ zusammengestellten Werk zu repräsentieren vorgibt.477 Das Schermesser, indem es Garzoni ‚zitiert‘, mit seinem Lebensweg zugleich aber deutlich macht, dass das aus unendlichen Relationen be- und entstehende System menschlichkommerzieller Interaktion als solches gerade nicht beobachtet werden kann,
474 Auch hier operiert Garzoni also mit dem Verfahren der satirischen Antiperistase – der Erhellung der ‚wahren‘ Eigenschaften der Dinge durch gezielte Kontrastsetzung. Vgl. dazu Kap. 4.1.1 dieser Arbeit. 475 Die Bibel als christliches ‚Buch der Bücher‘ nimmt im satirischen Bezug Grimmelshausens dabei freilich eine Sonderrolle ein. Insofern sie als einziges der genannten Bücher keinem einzelnen Leser zugeordnet ist, steht sie außerhalb des Verdachtes, erst durch das Lesen eigentlich autorisiert zu werden. Gleichzeitig bietet der simplicianische Ansatz jedoch die Möglichkeit, bestimmte Formen des Umgangs mit der Heiligen Schrift in die Kritik miteinzubeziehen – solche nämlich, die von der naiven Vorstellung geprägt sind, die Bibel als Text ersetze alle anderen Formen von Wissen, insbesondere das Erfahrungswissen, dessen tendenzielle Inkompatibilität mit der christlichen Lehre ein Dauerthema des Zyklus ist. 476 Auf eine metareflexive Auseinandersetzung der Schermesser-Episode mit Garzoni weist schon Kaminski: Lebensgeschichte als Mediengeschichte, S. 106 hin. Ihre These, dass sich der simplicianische Text im Spiegel der „Diebsgriff“ des Buchhalters als Plagiat reflektiert, kann dabei m. E. aber insofern nicht überzeugen, als die historischen Voraussetzungen für einen solchen Diskurs um 1670 nicht gegeben sind. 477 Die Zitate entstammen dem Titel der deutschsprachigen Ausgabe von 1619.
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lässt den Abstand zwischen Grimmelshausens Erzählprojekt und seinem bevorzugten enzyklopädischen Referenztext einmal mehr deutlich werden. In der skeptischen Relativierungsmaschine, als die sich das simplicianische Œuvre (spätestens) in der Schermesser-Episode selbst reflektiert, verliert auch das „groß Buch“ Garzonis seine Unschuld und wird als Vertreter eines buchgelehrten Diskurses erkennbar, der von seinem eigenen Nicht-Wissen nichts zu wissen scheint.
4.2.3 Abgrund der Souveränität: Macht, Ökonomie und Geld im Vogel-Nest Das Phänomen der Interrelationalität von Handlungen, Diskursen, Perspektiven, seit der Continuatio als Brücke zwischen Poetik und Kommerzienwissen des Zyklus markiert, prägt – außer der Continuatio selbst – keinen simplicianischen Text tiefgreifender als den am (werkchronologischen) Schluss des Zyklus stehenden zweiteiligen Vogel-Nest-Roman. Nicht nur performiert der Text „Zusammenfügung“ selbst, indem er, ausgehend von der Auffindung des wundersamen Vogelnestes im Springinsfeld, die Geschichten seiner Träger in erkennbarer Nähe zur Dingbiographik der Schermesser-Episode zu einem komplexen Diskursgeflecht verschaltet. Auch findet sich die zitierte poetologische Kernaussage des ‚Simplicianischen Autors‘ eben in diesem Roman, wodurch ihm eine herausgehobene Funktion im metareflexiven Verfahren des Zyklus zugewiesen wird. Dass der Text dabei mit Elementen politischen, ökonomischen und kommerziellen Wissens geradezu gespickt ist, kann vor diesem Hintergrund kaum mehr verwundern. In immer neuen Anläufen löst die fortgesetzte Beobachtung der Praktiken der Vogelnestträger Reflexionen auf die Fundamente menschlicher Sozialität aus, auch und gerade mit dem Ziel, die ‚natürlichen‘, von keinem politischen Machtsystem korrumpierten Dynamiken des Handel(n)s zwischen den Menschen als Anderes der Logik souveräner Intervention herauszustellen. In unmittelbarer Nachbarschaft zu den Einlassungen des ‚Simplicianischen Autors‘, nämlich in der Privilegia-Vorrede zum zweiten Teil, wird dieser Gegensatz mit Blick auf das Buch selbst satirisch entfaltet. In der Tradition menippeischer Fantastik präsentiert sie sich als ein durch und durch gegen-autoritativer Text, in dessen Mut zur ironischen Selbstuntergrabung die von Paradoxien geprägte Beziehung von souveräner Herrschaft und freiem Handel(n) sinnfällig wird. Der Agent der (Gegen-)Macht, der sich in ihr meldet – es handelt sich laut Signatur um Nemonius, den Sekretär des Mondkönigs Nullander –, kommuniziert aus dem unsichtbaren Zentrum des Mondreichs, der „Haupt- und Residentz-Statt Invisibilis“, ein Dekret, das es jedem Menschen auf Erden gestattet, das vorliegende Buch „aller Orten und Enden“
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nachzudrucken.478 Einzige Bedingung sei, dass der Raubdrucker vor der Natur zu seiner Schandtat stehe: auch deßwegen gnugsame Bürgschafft leisten wolle / was massen er sich gantz kein Gewissen machte / wieder das Gesetz der Natur zu handeln / sondern durch den Nachdruck sich befleisse / seinem Neben Menschen / vornemlich aber dem ersten Verleger das Brot Diebischer Weis vorm Maul hinweg zu stehlen […].479
Die Ambivalenz der satirischen Aussage sticht ins Auge. So ist die Selbstaufhebungsgeste der Macht, in deren Namen Nemonius spricht (oder schreibt), sicher nicht nur Ausdruck der Hilflosigkeit frühneuzeitlicher Autoren und Verleger in einem von keinerlei Rechtssicherheit geprägten Literatursystem. Als Bedingung der Möglichkeit einer grenzenlosen Verbreitung des Buches in der Welt („aller Orten und Enden“), wie sie als globale Dispersionsfantasie im Zyklus spätestens seit Jean Cornelissens und German Schleiffheim von Sulsforts Umgang mit der Vita des Simplicissimus motivisch verankert ist, scheint ihr vielmehr auch ein positives utopisches Potenzial eingeschrieben, das durch die gegen das Souveränitätsversprechen des Nestes gerichteten Zerstreuungsrituale am Ende beider Teile im Roman symbolisch reaktualisiert wird (dazu unten mehr). Kann man in diesem Sinne sagen, dass das simplicianische Buch durch den Ausfall souveräner Herrschaft seiner eigentlichen Bestimmung erst zugeführt wird, so akzentuiert das Zitat die sozialen und moralischen Folgekosten dieser Permissivität umgekehrt doch ebenso genau. Der Appell an das „Gewissen“ der Raubdrucker, nicht „wieder das Gesetz der Natur zu handeln“, indem sie Gewinn mit fremdem Eigentum erzielen,480 erinnert nicht zufällig an die Feststellung Simplicissimus’ im Rathstübel Plutonis, dass, wer reich werden wolle, „das Gewissen nicht genaw beobachten“ dürfe.481 Wie in der simplicianischen Gesprächsrunde über das Geld wird auch in der Privilegia-Vorrede die Inkompatibilität überlieferter
478 W I/2: Vogel-Nest II, S. 455 f. 479 Ebd., S. 455. 480 Zumindest am Rande sei hier erwähnt, dass Nemonius an dieser Stelle ausdrücklich nicht auf göttliches, sondern auf natürliches Recht rekurriert. Seine Auffassung des Naturrechts weicht dabei allerdings von den machiavellistischen Deutungen ab, die seine simplicianischen Standesgenossen Erich und Olivier vertreten. Bei Nemonius fordert die Natur vom Menschen offenbar keineswegs, den „andern dem Wasser auff die Mühl laufft“ um der eigenen „Selbsterhaltung“ willen, „zuvertringen und uns an seine Statt zusetzen.“ (So die Überzeugung des Schreibers Erich in: W I/2: Rathstübel, S. 662.) Im Gegenteil kann in seinem Fall von jenem fließenden Übergang zwischen christlicher und naturrechtlicher Sozialethik gesprochen werden, wie Vollhardt ihn als typisch für die Naturrechtsdebatte nach 1670 bezeichnet hat. Vgl. Vollhardt: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 77. 481 W I/2: Rathstübel, S. 662.
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moralisch-religiöser Codes mit den die Kommerzien dynamisierenden chrematistischen Handlungsorientierungen festgestellt – ohne dass die darin liegende textkonstitutive Spannung sich nach einer Seite hin auflösen ließe. Dies zu betonen, ist wichtig, denn, wie im Folgenden zu zeigen, präsentiert auch der Vogel-Nest-Roman keine Lösung für die Paradoxien, die die Diskurse in seinem Innern in Bewegung halten. Im Gegenteil verstärkt er sie noch, indem er den Figuren die Möglichkeit bietet, aus der „gesellschaftliche[n] Kooperationslogik“ auszusteigen, ohne irdische Konsequenzen fürchten zu müssen.482 Angesprochen ist damit in den Texten ein Komplex von souveräner Macht und Erkenntnis, dessen religiöse und politische Konfliktbesetzung in den symbolisch überdeterminierten Auffindeszenen bild- und wortreich ausgestellt wird. Dies beginnt mit der ‚Ur-Sünde‘ der Leyrerin, der Gefährtin des Springinsfeld, die das Nest „auff der Zwickgabel“ eines Baumes findet und dessen dämonischen Versuchungen erliegt.483 Entsprechend dem teuflischen Versprechen des Eritis sicut deus (1 Gen 3,5), das laut Ricœur ja nicht weniger als die Übertragung des „absoluten Blick[s]“ Gottes auf den Menschen in Aussicht stellt,484 bilden Sünde und Laster als Formen menschlicher ‚Empörung‘ gegen Gott das Grundmotiv der Texte. Neben dem Schicksal der Leyrerin, die als Hexe auf dem Scheiterhaufen endet,485 sticht hier die durch allerlei schwarzmagische Praktiken begleitete, gar mit einer Dämonenerscheinung aufwartende Auffindeszene
482 Wie Deupmann: Geldverhältnisse, S. 172, ganz zu Recht betont, unterscheidet dies die Vogelnestträger von den restlichen simplicianischen Figuren. Der Fall der Leyrerin, der ersten Finderin des Nestes, stellt hier die Ausnahme dar. Sie wird, trotz des Schutzes, den das Nest ihr bietet, von ihrem ‚Ehemann‘, einem Bäckergesellen, verraten und kommt in der ihr gestellten Falle ums Leben. Vgl. W I/2: Springinsfeld, S. 286–293. 483 W I/2: Springinsfeld, S. 275. Auf die offensichtlichen Analogien zur christlichen Sündenfallerzählung ist die Forschung wiederholt eingegangen. Vgl. Friedrich Gaede: Homo homini lupus et ludius est. Zu Grimmelshausens ‚Der seltzame Springinsfeld‘. In: DVjs 57 (1983), S. 240–258, hier bes. S. 250; ders.: Substanzverlust, S. 56–58; ders.: Das plicarische Prinzip – Die Astgabel als poetischer Initialpunkt. In: Simpliciana 28 (2006), S. 57–67; Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 323; Friedrich Vollhardt: Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente in literarischen Texten der Frühen Neuzeit (Grimmelshausen). In: Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hg. von Ursula Peters, Rainer Warning. München 2009, S. 243–266, hier S. 257. 484 So die in den Kontext passende, weil auf die Souveränitätsproblematik abhebende Formulierung bei Paul Ricœur: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg i. B., München 1971, S. 100. 485 Laut Springinsfeld ist die Leyrerin zu diesem Zeitpunkt freilich bereits tot. Die Häscher, so heißt es im Roman, hätten ihr „die Brust bis auff den Nabel herunder auff[ge]spielt[ ]“, woraufhin man „Lung und Leber sampt dem Jngeweid in ihrem Leib: und das Hertz noch zapplen sehen kondte“. W I/2: Springinsfeld, S. 291.
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im Übergang der beiden Vogel-Nest-Teile besonders ins Auge.486 Aber auch der im Gegensatz zu den anderen Vogelnestträgern religiös eher skrupulöse Hellebardierer Michael Rechulin verfängt sich in einem Netz von Laster und Sünde. „[W]ie ein geiler Bock und wider Natur strebender Satyrus (deren Gestalt und Annehmung den höllischen Geistern zum höchsten beliebet)“, habe er im Besitz des Nestes gehandelt, so seine Worte im Moment der Bekehrung.487 Dass es ihm bei der (versuchten) Vernichtung des Nests dabei nicht nur ums eigene Heil, sondern auch um die Vermeidung eines „grosse[n] Unglück[s]“ geht, das das Nest „zur Welt gebären mögte / wann es in eines gewaltigen Herrn Händen wäre und vielleicht mißbraucht würde“,488 lässt die doppelte Codierung des simplicianischen Souveränitätsdiskurses deutlich werden. Im innertextlichen Leittheologem der „gröste[n] Abgötterey von der Welt“,489 das auf den Sündenfall als Ursprung von Erkenntnis und Sünde, Macht und Begehren rekurriert, sind die Abgründe eines politischen Handelns auf der Basis totaler Exemtion immer schon mit gemeint. Nur weil dies so ist, kann Rechulin, der ehemalige Wachsoldat im Stadtdienst, vom Nest sagen, es sei etwas, das der „König von Engelland umb alle seine Königreich und Provintzien“ zu erlangen gesonnen sein müsste:490 Als Chiffre für die souveräne Macht ‚an sich‘ steht das Nest bei Grimmelshausen für das abstrakte Prinzip, das den König erst zum König macht – entgegen dem altfeudalen Prinzip territorial begründeter Herrschaft, das an dieser Stelle von Rechulin ironisch verabschiedet wird. Von diesem Punkt aus betrachtet, lässt sich der doppelte Kursus des Romans wie ein Versuchsaufbau lesen, in dem es im ersten Teil um die paradoxe Beziehung von souveräner Intervention und ‚guter Ordnung‘ geht (inneres Prinzip der Souveränität), im zweiten Teil um die expansive Logik souveränen Machthandelns und deren kriegerische Folgen (äußeres Prinzip der Souveränität) – jeweils im Spiegel der subjektiven Erfahrungsgeschichte der Vogelnestträger, durch die die affektiv-mentalen Voraussetzungen für Sünde und Laster, aber auch für die jeweils am Ende stehende „Einsicht in die eigene Sündhaftig-
486 Abgebildet wird das von teuflischen Kräften ermöglichte Geschehen auf dem Frontispiz zum zweiten Teil. Vgl. W I/2: Vogel-Nest II, S. 450 f. 487 W I/2: Vogel-Nest I, S. 430. Zur dämonischen Dimension von Satyr und Satire im 17. Jahrhundert vgl. Bergengruen: Nachfolge Christi, S. 267–285; außerdem Walter E. Schäfer: Der Satyr und die Satire. Zu Titelkupfern Grimmelshausens und Moscheroschs. In: Literatur im Elsaß von Fischart bis Moscherosch. Gesammelte Studien. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Walter E. Schäfer. Tübingen 2001, S. 245–287, hier bes. S. 258. 488 W I/2: Vogel-Nest I, S. 441. 489 Ebd. 490 Ebd., S. 301.
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keit“ 491 im Text bewusst gehalten werden. Wie eng die Frage nach der Macht dabei mit der Frage nach den ökonomischen bzw. chrematistischen Bedingungen machtgestützten Handelns verknüpft wird, wird in den Reflexionen der Figuren auf die wunderbare Wirkung des Nestes deutlich. Schon die Leyerin erkennt den Nutzen des Nestes darin, mit ihm „unsichtbarer weis“ dorthin zu gehen, „da vil Gelt und Guts gelegen“, um sich „einen grossen Schatz“ anzueignen.492 Rechulin, der bei der Tötung seiner Vorgängerin als Wachsoldat anwesend ist, greift nach dem „Nastüchel“, in dem sich das Nest befindet, weil er hofft, „etwas von Geld oder dergleichen darinnen zu erschnappen“.493 Im Besitz des Nestes vergleicht er sich dann mit Gyges und Fortunatus494 – zwei Trägern wunderbarer Dinge mithin, deren Geschichten mit historischen Aushandlungsprozessen von „definitions of political order (tyranny, for example) and of economic forms (money and real estate, for example)“ eng verbunden sind.495 Der Kaufmann des zweiten Teils schließlich, der diese Vergleiche selbst aufgreift,496 wird in der Auffindeszene vor die Wahl gestellt, ob er den ihm von der Leyrerin gestohlenen Schatz oder aber das Nest an sich nehmen will.497 Dass er sich dabei für das Nest entscheidet, unterstreicht die „transökonomische[ ] Logik“ 498 des magischen Objekts: Mit dem Nest, so ahnt der Kaufmann, hat er etwas in der Hand, das mit dem operativen Potenzial des Geldes, wie es im Schatz strategisch disponibel gehalten wird, zwar verwandt ist, dieses letzthin jedoch über-
491 Vollhardt: Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente, S. 257. 492 W I/2: Springinsfeld, S. 276. 493 W I/2: Vogel-Nest I, S. 301. 494 Vgl. ebd., S. 301 (Gyges), 302 (Fortunatus). Zu den Gyges- und Fortunatus-Anspielungen vgl. Andreas Solbach: Grimmelshausens verborgener Erzähler: das Gyges-Motiv erzähltheoretisch gedeutet. In: Simpliciana 15 (1993), S. 207–227; Kaminski: Narrator absconditus, S. 387; Deupmann: Geldverhältnisse, S. 171–173; Jan-Dirk Müller: Mittelalterliche Erzähltradition, frühneuhochdeutscher Prosaroman und seine Rezeption durch Grimmelshausen. In: ‚Fortunatus‘, ‚Melusine‘, ‚Genovefa‘. Internationale Erzählstoffe in der deutschen und ungarischen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Dieter Breuer, Gábor Tüskés. Bern 2010, S. 105–130, hier bes. S. 121–125; Vollhardt: Die interpretatorische Relevanz nichtfiktionaler Elemente, S. 260–262. 495 So hat Shell dies für den Gyges-Mythos und dessen Deutungen seit der Antike festgestellt. Marc Shell: Economy of Literature. Baltimore, London 1978, S. 30. Shells Feststellung, dass Gyges’ Ring auf den mythischen Ursprung des Geldes verweist, wird durch die geradezu selbstverständliche Verschränkung des Unsichtbarkeitstopos mit dem Geldwissen bei Grimmelshausen historisch plausibilisiert. Dass schließlich auch der Fortunatus-Roman von 1509 ein Text über Geld und Ökonomie ist, braucht keine weitere Begründung: Fortunatus besitzt neben dem Wunschhütlein, das ihn an jeden Ort der Erde bringt, das sogenannte Glückssäckel, dem er jede erdenkliche Summe Geldes in der jeweils passenden Landeswährung entnehmen kann. 496 Vgl. W I/2: Vogel-Nest II, S. 516 (Gyges) und S. 583 (Fortunatus). 497 Ebd., S. 477. 498 Deupmann: Geldverhältnisse, S. 170.
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trifft. Auch die (zunächst) auf Reichtumsmehrung zielende Figur des zweiten Teils verfällt daher dem Souveränitätsversprechen des wunderbaren Dings, dessen eigene Geschichte mit der am Schluss des zweiten Teils berichteten Zerstreuung im Rhein zu ihrem Ende kommt. Weniger freilich das Geld als vielmehr die Beziehung von Souveränität und innerer Ordnung (des Hauses, des Staats) steht im Zentrum des ersten Romanteils. Angelpunkt der Reflexionen ist dabei der zeitgenössische Policeydiskurs, der mit der Souveränitätslehre der Frühen Neuzeit bekanntlich eng verbunden ist.499 Lässt sich mit Foucault demnach sagen, dass die Policey „die unmittelbare Gouvernementalität des Souveräns als Souverän“ 500 darstellt, mithin ohne dessen Exemtion aus den Bindungen positiven Rechts nicht zu denken ist, so ergibt sich damit nicht nur eine interessante Parallele zur normativen Außergesetzlichkeit der Satire, wie Berns sie entlang einer paradoxen Sentenz Gottfried Wilhelm Sacers rekonstruiert hat.501 Auch lässt sich eine aufschlussreiche Verbindung zu den diegetischen Praktiken des ‚anderen‘ Souveräns Rechulin herstellen, der bei seinen fortgesetzten Visitationen in den Häusern und sonstigen Handlungsbereichen der Menschen allerlei policeyliche Erkenntnisse – Einsichten in die Ständeökonomie,502 das Bettelwesen,503 das Armen499 Schon Benjamin hat festgestellt, dass das „Ideal einer völligen Stabilisierung“ des Staates, das den Fluchtpunkt des barocken „Souveränitätsbegriff[es]“ markiere, unauflöslich an die Vorstellung der exemptio des Souveräns geknüpft sei. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 47 f. 500 Michel Foucault: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977–1978. Aus dem Französischen von Claudia BredeKonersmann und Jürgen Schröder. Frankfurt a. M. 2004, S. 488. 501 Die Sentenz, die Sacer Scaliger zuschreibt, lautet: „Haec scribendae Satyrae lex est, scribendi sine lege.“ Gottfried Wilhelm Sacer: Reime dich / oder ich fresse dich / Das ist / deutlicher zu geben / ANTIPERICATAMETANAPARBEUGEDAMPHIRRIBIFICATIONES POETICAE oder Schellen- und Scheltenswürdige Thorheit Boeotischer Poeten in Deutschland / […]. Northausen: Barthold Fuhrmann 1673, S. 56. Vgl. Jörg-Jochen Berns: Policey und Satire im 16. und 17. Jahrhundert. In: Simpliciana 13 (1991), S. 423–441. 502 Rechulin beobachtet die komisch-scheiternde Eheanbahnung in einem heruntergekommenen Adelshaus. Vgl. W I/2: Vogel-Nest I, S. 304–317. 503 Rechulin zieht ein Stück Wegs mit einer Gruppe starker Bettler. Vgl. ebd., S. 317–322. Wie deutlich Rechulins Erzähldiskurs von der Diktion der Policey-Traktate geprägt ist, lässt sich in diesem Zusammenhang exemplarisch zeigen: „Jndessen gedachte ich an meine liederliche Bettler / Vaganten und unnütze Landstürtzer / mit denen unser Teutschland gleichsam überschwämt ist; Jch machte allbereit Rathschläg / wie ich mit ihnen verfahren; ihren Orden zu Nutz deß Vatterlands emploirn: und was ich ihrentwegen auff dem Reichstag proponirn wolte / wann ich einmal ein Reichs-Fürst würde; Jch lase die gesunde aus ihne zu Soldaten / das Vatterland zu beschützen / und den Türcken zu bekriegen / und bauete schon Zuchthäuser und Werckstätte in meinem Lande / das ich im Sinn besasse / worinn ich solche Anstalten vor die übrige zu machen gedachte / daß beydes Taube und Stumme / Blinde und Lahme darinnen
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wesen,504 die Religionsausübung,505 die Hygiene,506 die Gastwirtschaften507 und überhaupt die Haushaltsführung508 – zusammenträgt. Dass es dabei letzthin die Unsichtbarkeit ist, die sein „auß aller Menschen Gewalt“ erlöstes Beobachtungs- und Interventionshandeln ermöglicht, passt ins Bild.509 Bereits in der antiken Gyges-Geschichte steht der unsichtbar machende Ring gleichzeitig für den Akt der Usurpation und der Konstituierung einer staatlich-ökonomischen Ordnung, deren Stabilität auf das ursprüngliche Moment totaler Instabilität paradox bezogen bleibt.510 Im engeren Sinne policeylich wird das Konzept des unbeobachtbaren Beobachters dann ab dem 16. Jahrhundert. In Garzonis Diskurs von der ‚Mummerey‘ – einem Text, den Grimmelshausen mit Sicherheit kannte – wird den „Fürsten vnd Herrn“ geraten, sie könnten desto sicherer in vnbekandter Kleidung in jhrem Landt / Hof vnd Stätten [...] vmbher gehen / vnd mit eigenen Augen sehen / wie man vberall Haußhelt / oder mit jhren eignen Ohren hören vnnd vernemmen / was jhre Vnterthanen von jhnen / oder von jhrem Regiment reden / vnnd nemmen darbey Vrsach / beydes was an jhnen selbst / vnnd an jhren Vnterthanen vnnd Hofgesindt sträfflich / zu verbessern […].511
Vor dem Hintergrund der Erzählung Rechulins treten die epistemologischen und poetologischen Implikationen der Stelle deutlich hervor. So erscheint das arbeiten und nicht allein ihr Brod vor sich selbst verdienen: sondern auch die übrige Armselige Krüppel ernehren: ja noch darüber hin alle Jahr ein zimlichen Uberschuß zu deß gemeinen Wesens Nutz vorschlagen und erübrigen könnten; damit das Lumpen-Gesindel abgeschafft: GOtt selbst durch ihr rohes Leben nicht mehr erzörnet: der Landmann durch ihren grossen Uberlauff nicht mehr molestirt; und ein so beschaffene Ordnung gemacht würde / die GOtt wohlgefällig und den Menschen nutzlich seyn solte.“ Ebd., S. 321 f. 504 Rechulin im Haus der armen Familie. Vgl. ebd., S. 368–373. 505 Rechulin beendet die Provokationen einiger Calvinisten gegen zwei Katholiken durch eine beherzte Ohrfeige. Vgl. ebd., S. 323–330. 506 Rechulin beobachtet eine Bäuerin dabei, wie sie auf einen zum Verkauf bestimmten Käse uriniert. Vgl. ebd., S. 334 f. 507 Rechulin beim weinverdünnenden Wirt (vgl. ebd., S. 342 f.) und beim reumütigen Wirt (S. 386 f.). 508 Rechulin beim geizigen Bauern (vgl. ebd., S. 330–334), im Haus des sterbenden Reichen (S. 336–341), im Haus der armen Familie (S. 368–373), bei den Schäfern (S. 385–386). Weitere Episoden könnten angeführt werden. 509 Ebd., S. 441. 510 Laut Platon (Politeia II, 359b–360d) nutzt der Schäfer Gyges den in einer Erdspalte gefundenen Ring dazu, ins lydische Herrschaftshaus einzudringen, die Frau des Königs Kandaules zu verführen, ihn selbst zu töten und die Herrschaft an sich zu reißen. Der Staat, den er fortan regiert, wird damit im Moment souveräner Intervention geboren, erweist sich aber trotzdem – oder gerade deswegen – als stabiles Gebilde. Vgl. dazu auch Kaminski: Narrator absconditus, S. 385–387. 511 Garzoni: Piazza Vniversale, S. 497.
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von Garzoni betonte Primat der sinnlichen Wahrnehmung (mit den eigenen Augen sehen, mit den eigenen Ohren hören) im simplicianischen Text in ein erfahrungsbasiertes Erzählprogramm umgemünzt, das immer neues, zuvor (angeblich) unbekanntes Wissen über die ökonomischen Praktiken der Menschen zutage zu fördern imstande sein soll.512 Hier wie dort geht es dabei um die „sträfflich[e]“ Verbesserung der Sitten, wobei dies im simplicianischen Text eben nicht nur die Interventionen der Figur auf diegetischer Ebene betrifft, sondern auch die per Titelkupfer als ‚satyrisch‘ markierte Schreibweise des Textes selbst:513 Im Tadel der Laster (vituperatio), der laut Garzoni bei den eigenen Verfehlungen der Regenten beginnen soll („an jhnen selbst / vnnd an jhren Vnterthanen“), findet der satirische ‚Policist‘ Rechulin das Format, das seiner Agenda diskursiv gerecht wird. Was Garzonis Einlassung freilich nicht deutlich macht – und machen kann –, ist der Umstand, dass das Konzept des Ausforschens der Untertanen zur Zeit Grimmelshausens keineswegs durchgängig positiv beurteilt wird. Kritik an einer Praxis der Policey, die sämtliche Grenzen des Privaten überschreitet, dabei selbst jedoch für Laster anfällig ist, wird schon vor dem Vogel-Nest-Roman etwa in Harsdörffers Teutschem Secretarius (1655/59) geübt. In diesem als ‚Briefsteller‘ konzipierten Text findet sich die Korrespondenz zweier Figuren, die hinsichtlich der Policey – von Harsdörffer „Rugambt“ (Rüge-Amt) genannt – diametral entgegengesetzte Positionen vertreten. Während der Verfasser des ersten Briefes entschieden pro-policeylich plädiert und anführt, ohne Rüge-Beamte würde erst „dieses und jenes Hauswesen / endlich auch das gantze Regiment / als welches in Haushaltungen bestehet / zu Grund fallen“, da es eben „unmüglich“ sei, „daß die Obrigkeit“ – gemeint ist der Fürst – „aller Orten mit zusehen
512 Auf eine in diesem Zusammenhang besonders interessante Stelle kann hier nur am Rande eingegangen werden. Bei der Beobachtung eines Schäferehepaares meint Rechulin „so viel“ gesehen zu haben, dass man „den treuherzigen Colerum wol beschuldigen“ könne, „er seye den Schäfern noch lang nicht hinter alle ihre Schelmstück und Diebsgriffe kommen / wiewol er deren zimlich in seiner Oeconomia erzehlet.“ W I/2: Vogel-Nest I, S. 386. Die simplicianische Coler-Referenz ist eine bloße Geste, die sich auf der einen Seite Colers epistemologisches Prinzip zu eigen macht – die Erforschung aller Dinge und Praktiken der oeconomia mit den Mitteln der Erfahrung –, auf der anderen Seite aber seltsam uneingelöst bleibt. Was Rechulin bei den Schäfern gesehen haben will – worin Coler also verbessert oder ergänzt werden müsste –, ist dem simplicianischen Text nicht zu entnehmen. Trotz aller Versprechungen wird der Wissensstand des Lesers an dieser Stelle tatsächlich nicht verändert – eine Feststellung, die sich auf die restlichen Passagen, in denen Rechulin vermeintlich ‚Neues‘ erkennt, wohl übertragen ließe. 513 Zum berühmten Titelkupfer, das einen Satyr mit Vogelnest zeigt, der seinen Blick auf die in den Bildhintergrund flüchtende Welt richtet, vgl. Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 100 f.
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könne“,514 sieht der Respondent die Dinge kritisch.515 Aus seiner Sicht sind in dem vom Fürsten regierten Staat „solche[ ] Rugbedienten nicht von nöthen“.516 Sein Argument, das die Gefahren einer „Zerstreuung der Souveränität“ 517 vor Augen führt, setzt dabei an zwei Seiten an. Zum einen will er die naive Überzeugung seines Briefpartners nicht gelten lassen, dass die Rüge-Beamten, solange sie „redliche Leute seyn / welche sich mit Geschenck nicht blenden / mit Freundschafft und Feindschafft die Pflicht nicht vergessen / oder in andere Wege sich von ihrer Ambtsgebühr nicht wendig machen lassen“, zur Ordnung im Staat beitragen würden.518 In der Praxis, so der Policey-Kritiker, werde sich zeigen, „daß die Rüger gleich seyn den Lamien / die von aussen viel und alles übersehen / inwendig aber / was ihre eigne Laster betrifft / blind sind“.519 Zum anderen postuliert er für den Bürger (als Untertan) einen privaten Raum der Freiheit, in den niemand, auch nicht die per Gesetz autorisierten Emissäre souveräner Macht, einzudringen habe: Was bedarff es der Wände und der Fenster / wann die Kundschaffter mein Thun und Lassen / in meinen vier Pfälen erforschen / und an das Liecht stellen? […] Wie nun der Mensch nichts edlers hat / als die Freyheit / so muß man ihm solche durch die Gesetze nicht zu sehr beschrenken […].520
Das Risiko, dass dieser Freiheitsraum vom Menschen zum unbemerkten Lastertreiben genutzt wird, hält der Respondent offenbar für geringer als die Gefahr, dass bestehende Ordnung durch die Intervention der Rüge-Beamten zerstört
514 Georg Philipp Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil. Oder: Allen Cantzleyen / Studier= und Schreibstuben dienliches Titular- und Formularbuch […]. Nürnberg: Christoph und Paul Endter 1661, S. 506. 515 Vgl. ebd., S. 507. Zum „Rugambt“-Abschnitt bei Harsdörffer vgl. auch Bernhard Siegert: Netzwerke der Regimentalität. Harsdörfers ‚Teutscher Secretarius‘ und die Schicklichkeit der Briefe im 17. Jahrhundert. In: Modern Language Notes 105 (1990), S. 536–562, hier bes. S. 551 f. 516 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil, S. 508. 517 Unter diesem Begriff hat Alt die dissoziativen Dynamiken subsumiert, die im ‚barocken‘ Souveränitätsdiskurs durch die (spät-)frühneuzeitliche Entstehung des Beamtenstaats ausgelöst wurden. Peter-André Alt: Der Tod der Königin. Frauenopfer und politische Souveränität im Trauerspiel des 17. Jahrhunderts. Berlin, New York 2004 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 30), S. 204 et passim. 518 Harsdörffer: Deß Teutschen Secretarii Zweyter Theil, S. 506. 519 Ebd., S. 509. Die mythologische Allusion des Respondenten ist drastisch: Die Lamien der antiken Mythologie gehen laut Plutarch (De Pythia oraculis, Kap. 9) auf die libysche Königin Lamia zurück, eine Geliebte des Zeus-Jupiter, der ihr die Fähigkeit verlieh, die Augen aus dem Leib zu nehmen. Nach der Ermordung ihres Sohnes verwandelt Lamia ihr Haupt in einen Schlangenkopf und treibt als grausame Kindermörderin ihr Unwesen. 520 Ebd.
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wird. Obwohl oder gerade weil er weiß, „daß alle Menschen theils aus natürlicher Neigung der verderbten Natur / theils aus Unwissenheit sündigen / theils auch sich durch die allgemeinen böse Exempel / oder unartige sündliche Gewonheiten sich [sic!] verleiten lassen“,521 schließt er eine von außen kommende ‚Policierung‘ innerhäuslicher Angelegenheiten aus. Solange es sich um keine „offenbaren Mißhandlungen“ handelt – also solche, die im öffentlichen Raum für jedermann sichtbar werden –, sei allein auf das Mittel gewissenhafter Selbstkontrolle des Christen zu setzen. „Es ist genug / daß er Gott und seinem Gewissen Rechenschafft geben […] muss“.522 Harsdörffers Text hilft, die Spannungslinien zu erkennen, entlang derer sich die Erzählung Rechulins entfaltet. So lässt sich sagen, dass der Hellebardierer in seinem Kursus einen Erkenntnisprozess vollzieht, der ihn vom Punkt maximaler Affirmation policeylicher Intervention zu den Einsichten zu führen scheint, die der Respondent bei Harsdörffer vertritt. Markant tritt im intertextuellen Verhältnis dabei zumal Rechulins anfängliche Überzeugung hervor, dass wahre Tugend sich nicht hinter Mauern und Türen verstecke, ja, im Gegenteil, die Blicke der anderen geradezu suche. Als größtes Vorbild erscheint ihm „jener edle Römer“, der sein Haus zu einem Ort totaler Durchsichtigkeit habe machen lassen: Wie vermeinest du wol / daß uns Christen jener edle Römer / der doch nur ein Heid war / und den wahren GOtt nicht erkannte / an jenem grossen Tag / daran alle Werck offenbahr werden sollen / beschämen wird / umb willen er nicht gewollt / daß ihm der Bau / oder Werckmeister sein Hauß bauen solte / daß niemand sehen könte / was darinn geschahe / sondern im Gegentheil begehrte / solches also zuzurichten / daß jederman schauen und wahrnehmen könte / was darinnen vorgieng.523
Sichtbar wird hier ein Kurzschluss irdischer und göttlicher Kontrollblicke, wie er für Rechulins präkonversionelle Mentalität charakteristisch ist. Im scharfen Kontrast zum Konzept der relativen politischen „Freyheit“ des Menschen, das bei Harsdörffer an die Praxis eines frommen christlichen Selbstbezugs gekoppelt ist, propagiert der Vogelnestträger die Korrespondenz der absoluten Beobachtungsmacht Gottes mit den (proto)policeylichen Blicken, die die Mitbürger in das Haus des namenlosen Römers werfen. Ein Bewusstsein, dass genau diese ‚Übertragung‘ (Ricœur) den Sündenfall wiederholt, ist bei ihm dabei offenbar nicht vorhanden. Eher verstärkt seine Mahnung, der heidnische Römer werde beim Jüngsten Gericht die Christen beschämen, den Eindruck, dass religiöse Argumente hier zugunsten politischer Steuerungsabsichten instrumentalisiert werden.
521 Ebd., S. 510. 522 Ebd., S. 509. 523 W I/2: Vogel-Nest I, S. 413.
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Es braucht zahlreiche Episoden des Eindringens in Häuser und sonstigen Ausforschens seiner Mitmenschen, bis Rechulin das Sündenbewusstsein entwickelt, das Harsdörffers Policey-Kritiker für den frommen Christenmenschen voraussetzt. Der Weg zur Bekehrung vollzieht sich beim Hellebardierer in zwei Anläufen. Bereits im unmittelbaren Kontext des Römer-Exempels nimmt er sich vor, „ein gantz anderer Mensch zu werden“.524 Auslöser ist ein Bauernbursche, der die Gelegenheit zum Beischlaf mit einem Bauernmädchen ungenutzt lässt, weil er um Gottes Allwissenheit weiß. Lehrt dieses Exempel Rechulin, „in mich selbst zu gehen“, und führt ihn zur Erkenntnis, „daß derjenig Gottloß zu nennen / […] der nicht immer GOtt vor Augen hat und in seinem gantzen Wandel dessen Gegenwart förchtet“,525 so bleibt die Bekehrung doch unvollständig. Symptomatisch hierfür ist der Widerspruch zwischen Sprechen und Handeln, in den sich der Hellebardierer verwickelt. Einerseits beklagt er, dass die Menschen nicht von Gott, sondern nur von anderen Menschen von Lastern abgehalten würden – keines der Vergehen, die er beobachtet habe, wäre passiert, hätten die Sünder um seine „unsichtbare Gegenwart“ 526 gewusst –, andererseits zieht er daraus zunächst nur den Schluss, in Zukunft selbst im Bewusstsein der Präsenz Gottes zu handeln; das Vogelnest bleibt in seinem Besitz. Dies kommt im rekurrenten Reflexionszusammenhang von postlapsarischer Konkupiszenz und souveräner Allmacht einer kapitalen Selbstüberschätzung Rechulins als Christ gleich. In seiner (noch) weit von echter Zerknirschung entfernten Bekehrungsrhetorik schwadroniert er von einem „leicht[en]“ Weg, „darauff zu einem frommen GOtt wolgefälligen Leben zu gelangen“,527 erkennt aber nicht, dass es die Macht des Nests selbst ist, der entsagt werden muss, um die heilstheologisch fatale Wiederholungsschleife der ‚Empörungen‘ gegen Gott zu unterbrechen. Dass die Bekehrung im zweiten Anlauf zur Aufgabe des Nests führt, hat entsprechend mit der Einsicht zu tun, dass die menschliche Partizipation am göttlichen Blick auch dann notwendig in (eigene oder fremde) Sünde mündet, wenn der Mensch sich das Vermeiden von Sünde und Laster zum festen Vorsatz macht. Nach dem Doppelerlebnis der Beschlafung einer betrunkenen Magd, die im unsichtbaren Bettgenossen ihren Liebhaber zu erkennen meint, und der knappen Verhinderung eines schäferlichen Sodomievergehens erkennt Rechulin, dass er von Gott zwar die Fähigkeit erhalten habe, „Gutes und Böses zu unterscheiden“ – eine weitere Anspielung auf den Sündenfall –, dass er im Besitz des
524 525 526 527
Ebd. Ebd., S. 411. Ebd. Ebd., S. 413.
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Nests gleichwohl „nicht allein nicht auffgehört zu sündigen / sondern auch nicht einmal angefangen [s]ich zu bessern“.528 Da in der Folge diskursgemäß auch noch Schmerz und Demütigung hinzukommen – der Hellebardierer wird von einem Bienenschwarm angegriffen, arg zerstochen und rettet sich mit knapper Not in eine „stinckente Cloac“ –,529 steht dem aufrichtigen Bekehrungsakt nichts mehr im Wege: Mit dem schon zitierten Hinweis auf die Gefahr eines Missbrauchs des Nests durch einen „gewaltigen Herrn“, einer eindringlichen Mahnung vor der Abgötterei und der an Harsdörffers Respondenten erinnernden Bannformel, es möge mittels des Nests „hinfort keines Menschen Heimligkeit durch einen andern gesehen und offenbaret werden“, zerreißt Rechulin das magische Ding, streut die etwa „sibenzehenhundert Fetzen“ 530 auf den Waldboden und beobachtet, von frommen Gedanken erfüllt, wie sie von Ameisen in ihren idealen Staat getragen werden.531 Mag die Loslösung Rechulins vom Nest als Schlusspunkt seiner subjektiven Erfahrungs- und Erkenntnisgeschichte damit einigermaßen glaubwürdig vollzogen sein,532 so bleiben dem erzählten Dispersionsgeschehen doch symbolische
528 Ebd., S. 430. 529 Ebd., S. 438. 530 Ebd., S. 441. 531 Ebd., S. 442: „Weilen sich dann eben ein grosser Ameyssen-Hauffe neben mir fande / dessen Jnwohner überauß geschäfftig waren allerhand Materialia, und sonderlich das Genist von dem zerrissenen Vogel-Nest einzutragen; so sahe ich deren emsigen Fleisse und unverdrossene Arbeit mit Verwunderung zu / und erinnerte mich deß Spruchs Salomonis / da er sagt / gehe hin du Fauler zu den Omeysen / etc. da beobachtete ich / wie eine der andern so vernünfftig auß dem Weg wiche / wie eine der andern ihren Last tragen halffe / wie sie alle so einmüthig waren ihre Arbeit zu befördern / und so fortan; darauß nun faste ich allerhand schöne Lehren / und nahm mir einen Hauffen guts Dings hinfort zu vollbringen vor […].“ 532 Gleichwohl könnte es lohnend sein, die Nachhaltigkeit der Bekehrung Rechulins zu hinterfragen. An Hinweisen im Text, die zu Zweifeln Anlass geben, mangelt es nämlich nicht. So ist erstens zu bemerken, dass Rechulin sich, wie schon im Fall des ersten Bekehrungsversuchs, das weitere Leben wohl etwas zu einfach vorstellt: Sein eingangs der Bekehrungsszene geäußerter Plan, forthin „alle verdächtige Oerter der Welt“ zu meiden, „da er besorglich sündigen könnte“ (ebd., S. 433), kann nur als naiv bezeichnet werden – zumal er gleichzeitig schwört, arbeiten zu wollen, „daß mir die Schwarte krachen mögte“ (ebd., S. 442), was mit einem Rückzug aus der Welt kaum vereinbar scheint. Zweitens ist zu bedenken, dass Rechulin im Anschluss an die Bekehrungsszene vom Glück mit dem vom Kaufmann zurückgelassenen Schatz begabt wird. Wenn er diesen dazu zu nutzen gedenkt, „das freundliche Mägdgen / so ich unschuldiger Weis gleichsam im Schlaff beraubet und geschändet / wieder [zu] erfreuen und bey Ehren [zu] erhalten“ (ebd., S. 446), so braucht es keine aufwändige Deutung des sexuellen Subtexts (‚das freundliche Mägdgen‘ ‚wieder erfreuen‘), um die anhaltende Affektgetriebenheit der Figur zu erkennen. Eine Frau zu heiraten, die offenbar dem Alkohol zuneigt und im Rausch bereit ist, sich ihrem Liebhaber hinzugeben, dürfte in keinem Ehebuch der Frühen Neuzeit als ratsames Vorgehen dargestellt sein. Drittens schließlich darf nicht übersehen werden, dass
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Überschüsse eingeschrieben, die auf eine fortbestehende Virulenz – wenn nicht gar Verstärkung – der immanenten Paradoxiepotenziale des Nests und der simplicianischen Erzählung hindeuten. Grimmelshausens Roman, so könnte man sagen, operiert im Übergang zwischen den Teilen mit einer ‚doppelten Optik‘, mittels derer die Relativität der Perspektive des Hellebardierers vor dem Hintergrund der chiffrenartigen Zeichenhaftigkeit des Nests markiert werden kann. Auf (mindestens) drei Ebenen wird die Ereignisfolge der Zerstreuung des Nests und seiner Wiederauffindung im Ameisenhaufen im Text dabei reflexiv: Erstens lässt sie sich deuten als kritische Reflexion auf das Modell eines perfekten ordo-Staats, wie er im Ameisenhaufen allegorisch zur Anschauung kommt. Rechulins ‚Lösung‘ für die politische Gefahr, die vom Nest ausgeht, greift demnach insofern zu kurz, als sie von der Aufhebung des Machtparadoxes im Rahmen der Utopie ausgeht – ein Denkfehler, der im Zyklus bereits anhand der in schreckliche Gewaltszenarien mündenden Staatsutopie des Jupiter (Simplicissimus Teutsch, III. Buch) ironisch verabschiedet worden war.533 Dass sich die „auß aller Menschen Gewalt“ erlöste Macht in einem Akt der Usurpation jederzeit neu formieren kann – eine Lehre, die der Gyges-Mythos eigentlich ja bereithält –, versteht der Hellebardierer nicht vollständig, würde er ansonsten doch erkennen, dass der Aufbau des von ihm bewunderten Ameisenstaats aus den zerstreuten „Materialia“ 534 des Nests das Risiko eines Handstreichs aus dem Innern des politischen Gebildes mit sich bringt. Das Erscheinen des Kaufmanns, dessen Handeln im zweiten Teil, wie noch zu zeigen sein wird, ins Verhältnis zur politischen Konfliktsituation in Europa gesetzt wird, zeigt, wie
Rechulin mit dem Aufschreiben seiner Erfahrungen als Vogelnestträger gegen seinen eigenen Bann verstößt, es mögen durch das Vogelnest „hinfort keines Menschen Heimligkeit [...] offenbaret werden“. Insofern das Nest metonymisch immer auch auf den gleichnamigen Text verweist, der, wie der zweite Teil zeigen wird, in der simplicianischen Diegese zirkuliert, sorgt der Autor Rechulin dafür, dass die Heimlichkeiten der von ihm beobachteten Menschen gewissermaßen der ganzen Welt bekannt werden. In dieser Hinsicht erweist sich die Supplementierung des Vogelnests durch das Vogel-Nest als problematisch: Die unerhörte Macht der Vogelnestträger wirkt in ihren Büchern fort, weil sie als etwas Überindividuelles durch die Konversionsakte der Figuren allein nicht vollständig absorbiert werden kann. 533 Zur Jupiter-Episode und ihrem anti-utopischen Gehalt vgl. Dieter Breuer: Grimmelshausens politische Argumentation. Sein Verhältnis zur absolutistischen Staatsauffassung. In: Daphnis 5 (1976), S. 303–332; C. Stephen Jaeger: Grimmelshausen’s Jupiter and the Figure of the Learned Madman in the 17th Century. In: Simpiciana 3 (1981), S. 39–64; Frank Ganseuer: ‚Teutscher Held‘ und ‚Teutsche Nation‘ – Die Ironisierung der Kaiserprophetie in der JupiterEpisode von Grimmelshausens ‚Simplicissimus Teutsch‘. In: Simpliciana 10 (1988), S. 149–177; Anne-Kathrin Röper: Jupiterepisode und Absolutismus. Eine Auseinandersetzung mit den Thesen Dieter Breuers. In: Daphnis 23 (1994), S. 685–706. 534 W I/2: Vogel-Nest I, S. 442.
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konkret diese Gefahr ist. Im Modus einer transgressiven Operation, die alle religiösen, moralischen und rechtlichen Grenzen ignoriert, greift der zweite Vogelnestträger – assistiert vom schwarzmagisch bewanderten ‚fahrenden Schüler‘ – in den Staat der Ameisen ein, um sich genau die „Handvoll Materien“ 535 anzueignen, die er für die Begründung seiner exemtiven Machtposition benötigt. Die auf dem Frontispiz zum zweiten Teil nochmals betonte Unerhörtheit dieses Vorgangs kann dabei nicht vergessen machen, dass es die Beschränktheit des Wissens Rechulins ist, die dafür sorgt, dass „die Würckung meines gewesenen Vogel-Nests nunmehr wiederumb in einer andern Gestalt einem Herrn dienet[ ]“.536 Des Hellebardierers Intention mag fromm und aufrichtig sein, seine (sit venia verbo) ‚unbewusst‘ weiterwirkende Überzeugung, Souveränität könne durch ihre Zerstreuung zur Konstituierung eines stabilen Staatsgebildes beitragen, stiftet die Bedingungen, unter denen der Usurpationsakt seines Nachfolgers überhaupt erst gelingen kann. Zweitens gewinnt die Handlung im Übergang der Romanteile symbolische Bedeutung auf der Ebene eines politisch-ökonomischen Diskurses, der in seiner simplicianischen Fassung von einer Ähnlichkeit von Geld und Nest ausgeht. Das Ausstreuen der Nestteile durch Rechulin lässt sich vor diesem Hintergrund als Akt verstehen, der die im Staatsschatz konzentrierte absolute Handlungsmacht des Souveräns durch Um- und Rückverteilung in die Peripherie des Staatskörpers prophylaktisch zu entschärfen sucht. Wie präsent dieser Gedanke in Grimmelshausens Werk ist, zeigt die bekannte Stelle im Musai-Roman (1670), an der die gleichnamige Figur ihrem Herrn, dem biblischen Joseph, rät, die thesaurierten Reichtümer des Pharao unters Volk zu streuen, daß nit nur der König / sondern alle Menschen deren geniessen und sich ihrer erfreuen sollten; was vermeynest du wohl? wann ein kriegerischer König auffstünde / der heut oder morgen solchen Schatz zu Waffen und Soldaten anlegte; könte er nicht alsdann die gantze Welt mit Krieg / Mord und Brand betrücken?537
Die Anschlüsse in Richtung der Handlung des zweiten Teils, die von der rücksichtslosen Kriegspolitik Ludwigs XIV. entscheidend mitbestimmt wird, werden hier bereits greifbar, sollen im Einzelnen jedoch erst in der Besprechung der Fortsetzung analysiert werden. An dieser Stelle genügt es darauf hinzuweisen, dass das Aufsammeln der Nestteile durch den Kaufmann symbolisch auf den
535 Ebd., S. 445. 536 Ebd., S. 446. 537 W II: Musai, S. 307. Zu dieser Stelle und dem politisch-ökonomischen Diskurs des biblischen Romans vgl. Breuer: Grimmelshausens politische Argumentation, S. 323 f.; außerdem der Aufsatz d. Verf.: Das verschimmelnde Geld.
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Akkumulationsvorgang deutet, der im Zentrum souveräner Finanzpolitik steht: Ohne Rücksicht auf dessen natürliche Ordnung wird dem Staatskörper die ‚Materie‘ – das Geld – entzogen, die es für die Umsetzung des absoluten Machtanspruchs braucht. Erweist sich dieser Diskursstrang damit als genuin materialistisch geprägt, so darf doch nicht übersehen werden, dass es erst die Kombination zwischen der ideellen und der materiellen Komponente ist, die das Phänomen souveräner Macht in simplicianischer Perspektive erklärlich werden lässt. Wie Gyges’ Ring steht auch das Vogelnest sowohl für die Macht an sich als auch für die Mittel, durch die sie erlangt und erhalten werden kann.538 Drittens lässt sich die Zerstreuung der Nestteile auf symbolischer Ebene als Reflexion auf den Akt der Veröffentlichung des Buches namens Das wunderbarliche Vogel-Nest deuten.539 Hierfür spricht nicht nur die qua Titel hergestellte metonymische Beziehung von Buch und magischem Objekt selbst, sondern eine ganze Reihe weiterer Hinweise. Zu beachten ist zunächst die Parallele zwischen der Passage und dem Druckprivileg des Mondkönigs Nullander, auf das eingangs des Kapitels bereits eingegangen wurde. Hier wie dort, bei Rechulin und im Reich des Mondkönigs, setzt mit dem Verzicht auf die Ausübung souveräner Macht eine Dispersionsdynamik ein, die von namenlosen, in der Peripherie operierenden ökonomischen Agenten (Ameisen, Nachdrucker) getragen wird, durch den ‚Souverän‘ selbst also nicht gesteuert werden kann. Die oben angesprochene Ambivalenz dieser Bewegung zeigt sich im Vergleich der Stellen dabei nochmals deutlich. So lässt sich zwar sagen, dass die Aufhebung des Souveränitätsanspruches in beiden Fällen die Bedingung der Möglichkeit von Zirkulation darstellt und in diesem Sinne mit den utopischen Reichweitenfantasien simplicianischer Literatur korreliert. Der moralische Index, den diese Form von Zirkulation besitzt, bleibt jedoch zweifelhaft. Blickt der Leser auf die erbauliche Allegorie vom Ameisenstaat, in dem „eine [Ameise] der andern so vernünfftig auß dem Weg wiche / [...] eine der andern ihren Last tragen halffe / [...] sie alle so einmüthig waren ihre Arbeit zu befördern / und so fortan“,540 wird er mit der Figurenperspektive Rechulins konfrontiert, in der die Vorstellung eines auf
538 In diesem Sinne impliziert die Analogiebeziehung von Nest und Geld zugleich Ähnlichkeit und Differenz. Dass der Kaufmann sich zwischen Nest und Schatz entscheiden muss, zeigt im symbolischen Zusammenhang, dass es sich zwar um verwandte, nicht aber identische Objekte (bzw. Konzepte) handelt. Insofern das Nest sowohl für das thesaurierte Geld als auch für das abstrakte Machtkonzept ‚Souveränität‘ steht, kann seine Deutung im materialistischen Diskurs allein nicht aufgehen. 539 Die Vermutung, beim Vogelnest handele es sich um eine Allegorie auf den materiellen Träger der Erzählung, äußert bereits Gaede: Substanzverlust, S. 68. Sie ist entsprechend älteren Datums, soll hier aber eine neue, wesentlich erweiterte Auslegung erfahren. 540 W I/2: Vogel-Nest I, S. 442.
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Nächstenliebe und Fleiß aufgebauten Staatswesens die zentrale Rolle spielt. In der bitter-ironischen Perspektive des Mond-Schreibers Nemonius hingegen wird die Bewegung, die zur Verbreitung des Buches führt, auf die chrematistischen Interessen der Raubdrucker zurückgeführt, die sich um das Auskommen ihres Nächsten kein Gewissen machen. Scheint der Abstand von Allegorie und Empirie, Ameisen und Menschen, damit kaum überwindlich, so kann es nicht verwundern, wenn die Widersprüche sich schließlich auch auf der Ebene der Rezeption niederschlagen. In seinem Dispersionsakt zielt Rechulin, symbolisch betrachtet, auf einen ‚Leser‘ des Vogelnests, der bereit ist, die magischen, auf das Machtparadox von Policey und Satire verweisenden Bestandteile desselben im allegorisch vorgestellten ordo-Zusammenhang aufgehen zu lassen; über seine namenlosen ‚Leser‘, die es wie die Ameisen in ihre Häuser ‚hineintragen‘, soll das lehrreiche Buch zur Stabilität des Staats beitragen. Dass das Gefahrenpotenzial des Vogelnests bzw. Vogel-Nests vom Hellebardierer dabei unterschätzt wird, zeigt sich im Auftritt des Kaufmanns. Noch bevor dieser am Ende seines Berichts tatsächlich zum Leser von Rechulins Buch wird – er findet es nach seiner Rückkehr aus Holland „in offenem Truck“ vor und beschließt, der Welt zu kommunizieren, „was mir damit [mit dem Vogelnest, S. Z.] begegnet“ –,541 wird er im Wald in der Nähe seiner Heimatstadt zu dessen symbolischem Leser, der im Akt des (Auf-)Lesens die Integration der magischen Fetzen in das vorgestellte ordoModell rücksichtslos wiederaufhebt. Ob es dabei angebracht ist, den Kursus des Kaufmanns als Weg zu einer richtigen Lektüre des Buches zu sehen, wie sie vom ‚Simplicianischen Autor‘ den „verständigen Leut“ anheimgestellt wird,542 erscheint durchaus zweifelhaft. Im zirkulären Bezug der Lektüreszenen lassen sich die Vektoren zwischen Lesen, Schreiben und Sünde jederzeit umdrehen. Der Kaufmann kann im geschilderten kolossalen Maße überhaupt nur sündigen, weil er das von Rechulin ausgestreute Vogelnest (auf-)gelesen hat. Seine schließliche Abkehr vom Nest bleibt daher von derselben Paradoxie gekennzeichnet, die schon Rechulins Autorwerdung überlagert. In beiden Fällen markiert das Ausstreuen des Vogelnests bzw. Vogel-Nests zugleich den Punkt der Bekehrung, an dem die Figuren sich aus der Sündenverstrickung zu lösen versuchen, und den Moment der epidemischen Fortzeugung eines Buches, dessen vitiogene Potenziale durch die Einsicht der Bekehrten allein nicht vollständig zu bannen sind.
541 W I/2: Vogel-Nest II, S. 650. 542 Ebd., S. 458. Die Frage, was ein Buch nützt, das nur von denjenigen richtig verstanden wird, die in moralisch-religiöser Hinsicht ohnehin schon einsichtig sind, kann hier nicht diskutiert werden – sie betrifft den gesamten vermeintlichen Erbauungsanspruch des Zyklus, müsste mithin auf breiterer Basis gestellt und beantwortet werden. Vorderhand soll nur festgehalten werden, dass im Spiel der relativen Perspektiven selbstverständlich auch der ‚Simplicianische Autor‘ keine absolute Autorität darstellen kann.
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Damit zum zweiten Teil. Auf dessen Hinwendung zur historisch-aktuellen politischen Lage in Europa hat die Forschung hingewiesen543 und dabei die These formuliert, es handele sich um Grimmelshausens „gewagtestes Erzählexperiment“,544 da sich der Kaufmann noch im Moment der Bekehrung als „in Urteilen und Vorurteilen seines Standes gefangen“ 545 zeige. Im namenlosen Helden546 deshalb eine rein negative Exempelfigur zu sehen, wie dies wiederholt getan wurde,547 greift freilich schon deshalb zu kurz, weil die perspektivische Verzerrung des Bekehrungsnarrativs gemäß den mentalen Dispositionen der Figur in Grimmelshausens Werk eben keine Ausnahme, sondern die Regel darstellt. Erscheint es in diesem Sinne unausweichlich, die auffällige Konstellation von stofflicher Aktualität – der Kaufmann gerät mitten hinein in den Feldzug Ludwigs XIV. gegen die Niederlande und das Deutsche Reich – und einer unzuverlässigen, chrematistisch gesinnten Erzählerfigur anders als ‚nur‘ moraldidaktisch zu deuten, so führt der Weg dahin über die Einsicht in die doppelte Codierung chrematistischer Handlungsantriebe in Grimmelshausens Zyklus. Auf moralisch-religiöser Ebene bleibt das bedingungslose Streben nach Reichtum in den Texten – und zweifellos auch im zweiten Teil des Vogel-Nests – eine verwerfliche Praxis, die mit Gewissenlosigkeit und radikalem Eigennutz assoziiert ist. Auf der Ebene des mundanen Kommerziensystems, das die Vernetzung von Menschen, Dingen, Büchern, Wissen und Perspektiven bewerkstelligt, steht profitorientiertes Handeln hingegen für die Bedingung der Möglichkeit von Zirkulation, birgt mithin utopische Potenziale, die den autoreflexiven Diskurs der Texte wesentlich prägen. In diese in sich spannungsreiche, von Paradoxien durchzogene Diskurslage ordnet sich die Figur des Kaufmanns ein, wobei mit dem im Nest chiffrenhaft geborgenen Aspekt der Souveränität ein Wissenselement hinzutritt, das dem politischen Versuchsaufbau des Textes eine eigenständige, von anderen Passagen des Zyklus abgehobene Signatur verleiht. Noch bevor er erzählt, wie er an das Vogelnest gekommen ist, liefert der Kaufmann eine detaillierte Darstellung der Melancholie, in die ihn der Diebstahl
543 Vgl. Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 110. 544 Ebd., S. 114. 545 Ebd., S. 113. Wie Breuer an dieser Stelle bemerkt, wirken die „religiösen Äußerungen“ des Kaufmanns auffällig „formelhaft, penetrant und aufgesetzt“. 546 Einen Eigennamen erhält der Kaufmann nicht. Sollte die Buchstabenfolge ‚Aceeeffghhiillmmnnoorrssstuu‘, die auf dem Titelblatt anstelle eines Verfassernamens angegeben ist, auf die Figur verweisen, kann man allerdings auf ihre Zugehörigkeit zum anagrammatischen Komplex rund um den Namen Grimmelshausens schließen. Vgl. dazu Kaminski: Narrator absconditus, S. 390. 547 Vgl. etwa Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 370; Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 113; Berns: Zauber der technischen Medien, S. 250; Deupmann: Geldverhältnisse, S. 176.
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seines Schatzes durch die Leyrerin versetzt hat. Die Psychographie geht dabei von traditionellen Topoi christlichen Antichrematismus aus. Der Bestohlene klagt die „Reichthumb“ an, ihm den Weg in den „tieffsten Abgrund der Höllen“ geebnet zu haben.548 Er erinnert an den reichen Mann des Lukas-Evangeliums (Luk 16,19–31).549 Und er schließt seine Selbstanklage mit der Einsicht, „wider alle Vernunfft und Billigkeit das Gelt mehr als Gott geliebt“ zu haben.550 Wie an anderen Stellen des Zyklus wird der fromme Rekurs jedoch auch hier durch eine radikale perspektivische Brechung relativiert. So korreliert die Melancholie des Kaufmanns zwar eindeutig mit dem Geiz, impliziert also durchaus eine mit dem Geld assoziierte Affektpathologie. Wie sich zeigt, besteht ihre Therapie jedoch nicht etwa in einer Absage an kaufmännisches Gewinnstreben. Vor dem Selbstmord rettet den Kaufmann vielmehr die Einsicht, dass die Natur, ganz wie die Kaufmannschaft selbst, nach dem Prinzip der Prosperität organisiert sei. Beim Betrachten der Blumenzwiebeln in seinem Garten geht dem Verzweifelten „auß eygener Vernunfft und Göttlicher Gnaden“ die Kraft des Wachstums auf, aus der er seinen „ersten Trost“ schöpft.551 Wo es ihm zur Überwindung seiner Trägheit zuvor an „Weisheit und Wissenschafft“ mangelte, zeigen ihm die Pflanzen, dass aus jedem Samen neuer Reichtum und Überfluss hervorgehen könne.552 Das Resultat der Reflexion ist eine Mobilisierung eben derjenigen chrematistischen Handlungsimpulse, die durch die acedia zuvor betäubt gewesen waren: Nach diesem bedachte ich was ich thun: und wie ich meine Händel anstellen wolte / damit ich wieder recht grün würde / und in solchen Gedancken wurde ich gewahr / wie untüchtig mein bißhero gehabtes Anligen [den verlorenen Schatz wiederzuerlangen, S. Z.] mich zu allen Geschäfften / so die prosperität erfordert / gemacht / und was ich seyter demselben verabsaumt hatte / derohalben setzt ich mir vor / hinfürder anders zu hausen / und alles wieder doppelt einzubringen / was ich bißher verliederlicht / gieng auch in solchen Gedancken eben so frölich wieder auß dem Garten / als bekümmert und zerschlagen ich zuvor hinein gangen war / umb so balden nach Hauß zu gehen / zu dem Meinigen zu sehen / und an dem / was ich mir vorgesetzt / einen guten Anfang zu machen.553
Es ist Breuer keineswegs darin zu widersprechen, dass diese Allegorese physikotheologische Auslegungstraditionen profaniert.554 Auch dem auf die Episode 548 W I/2: Vogel-Nest II, S. 466. 549 Ebd. 550 Ebd., S. 469. 551 Ebd. 552 Ebd. Die anschließend (ebd., S. 469 f.) gezogene Lehre aus dieser Naturbetrachtung lautet: „[H]astu doch noch den Samen / das ist / die Mittel und Gelegenheit / gleich wie diese Blumen-Zwiebeln die Art ihres Wachsthumbs in Händen / grössere Reichthumb und Schätz zu pflantzen und einzuerndten als du verloren […].“ 553 Ebd., S. 470 f. 554 W I/2: Vogel-Nest II, Stellenkommentar, S. 964.
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zurückblickenden Erzähler ist diese Abweichung bewusst, wenn er sich vorwirft, seinen Vorsatz allein „auff Widergewinnung Gelts und Guts / mit nichten aber auß Liebe zu Gott auff Besserung meines Lebens gegründet“ zu haben.555 Eine Eindeutigkeit der Orientierung zwischen dem religiösen, natürlichen und kaufmännischen Konzept des Wachstums geht daraus trotzdem nicht hervor. Denn indem der Kaufmann sein Interesse an den „Geschäfften / so die prosperität erfordert“ wiederentdeckt, überwindet er nicht nur die in die acedia führende, heilsgefährdende Stillstellungslogik thesaurierenden Geizes (und damit die Stauung seiner Körpersäfte). Er findet auch zurück zu seiner irdischen Standesbestimmung, die ohne chrematistische Motivation nicht auskommt. So kann es nicht überraschen, wenn noch der (vermeintlich) Bekehrte die Entschlüsse, die er im Garten gefasst hat, als, „richtig verabfaßte Concepta und Anschläg“ bezeichnet.556 Unter den Bedingungen der simplicianischen Welt, in der Prosperität Effekt chrematistischer Aktivität ist, behauptet die profane Naturreflexion des Kaufmanns ihren Eigenwert gegenüber den moraltheologischen Verdikten, von denen sie umlagert ist. Auch ohne die magischen Praktiken, die zur Erlangung des Vogelnestes führen, hier en détail analysieren zu können,557 ist zu betonen, dass sie nicht nur für den heilstheologischen Rahmen der Erzählung von Bedeutung sind. Indem das Vogelnest dem Kaufmann die Möglichkeit gibt, souverän, weil unsichtbar zu handeln, wirft es auch die Frage nach dem Verhältnis von souveräner Macht und Kommerzien auf. Deupmann hat überzeugend argumentiert, dass dort, wo das magische Ding zum Einsatz kommt, die auf Reziprozität basierenden Regeln kommerzieller Interaktion aufgehoben sind: Insofern das Nest „jenseits des ökonomischen Maßes tauschbarer Güter“ stehe und seinen Träger von Forderungen der Wechselseitigkeit entpflichte, gehorche es einer „transökonomischen Logik“, die in Grimmelshausens Romanen letzthin verteufelt werde.558 An diese Grundüberlegung soll im Folgenden mit der These angeknüpft werden, dass der Roman an der Figur des Kaufmanns auf einer ersten Ebene zwar die Lasterhaftigkeit chrematistischer Profitorientierung aufzeigen mag, dass er diese Kritik auf einer zweiten Ebene jedoch politisch überformt, indem er die
555 W I/2: Vogel-Nest II, S. 471. 556 Ebd. (Hervorheb. S. Z.). 557 Erwähnenswert erscheint mir jedoch die Einsicht der Forschung, dass das Böse im simplicianischen Kontext konsequent psychologisiert erscheint. Der Teufel, anders gesagt, braucht die Affektschwächen der Menschen, um seine Vorhaben auf Erden durchzusetzen. Dazu allgemein Bergengruen: Nachfolge Christi, bes. S. 257–267; direkt zur Beschwörungsszenerie im Vogel-Nest II vgl. Rosmarie Zeller: Magia naturalis, Zauberkunst und Kritik des Wunderbaren im ‚Wunderbarlichen Vogelnest‘. In: Simpliciana 28 (2006), S. 151–167, hier S. 155–160. 558 Deupmann: Geldverhältnisse, S. 170.
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antagonistische Beziehung souveränen und kommerziellen Handelns in den Blick nimmt. Wer unsichtbar ist, so erkennt der Kaufmann vor seiner Abreise zur Leipziger Messe, kann mit anderen Menschen nicht „handlen“.559 Er ist vielmehr prädestiniert, das kommerzielle Band zwischen den Menschen durch Interventionen nach Innen und Außen zu zerreißen. Weil dies gilt, kann das magische Objekt von der Figur auch nicht dazu eingesetzt werden, die Erfolgsaussichten der eigenen kommerziellen Agenda zu verbessern. Ursprünglich nämlich plant der Kaufmann, mittels des Nests Informationen über politische Entscheidungen zu gewinnen, die das globale System der Kommerzien beeinflussen könnten: NJemand kan glauben / oder ihm selbst einbilden / was ich vor seltzame und wunderliche Grillen und Anschläg unterwegs hatte / da ich heimwärts gieng / auff wie vielerley Weisen / und an wie vielerley Orten ich mir nemlich meine Unsichtbarkeit zu Nutz machen wolte! da war ich schon mit meinen Gedancken unsichtbarer Weis Persöhnlich in den Conferentzen / und geheimen Unterredungen der einen und andern Compagnie der allervornehmsten Handels-Herren / und horchte zu / was sie der Handelschafft / und der ein und andern Wahren halber vor hatten / umb mir dasselbe zu Nutz zu machen / und weil ich mich nicht der geringste unter den Kauffleuten unsers Lands zu seyn bedunckt / meine Segel nach ihrem Wind auffzuspannen […]; Eben solcher Ursachen halber kam ich nicht allein auch in den Statt-Rath unserer Regiments-Herren / sondern gesellete mich auch so gar zu den geheimen Staads-Consiliis und Rathschlägen großmächtiger Potentaten / umb daselbst zu meinem Vortheil zu vernehmen / was vor Frieden oder Krieg geschlossen / und wie sich diesem nach die Handelschafften: die Abschlag: und Steigerung der Wahren beyläuffig anlassen würden!560
In der Praxis zeigt sich, dass das Nest die hier imaginierte Spaltung seines Trägers in einen unsichtbaren Spion und einen sichtbaren, unter Einsatz seines Kapitals in „Zeit und Lauffe“ 561 handelnden Kaufmann nicht zulässt. Anstatt sich „unsichtbarer Weis Persöhnlich in den Conferentzen / und geheimen Unterredungen“ der Handelskompagnien sowie „den geheimen Staads-Consiliis und Rathschlägen großmächtiger Potentaten“ ein Bild von der politischen Lage zu machen, um hernach umso erfolgreicher Handel treiben zu können, verwendet der Kaufmann das Nest auf seiner Reise nach Amsterdam bloß zum Stehlen und für den abscheulichen sexuellen Missbrauch der Jüdin Esther. Damit tritt er als kommerzieller Akteur aus dem Spiel – was die mit dem Auftritt des Magiers
559 W I/2: Vogel-Nest II, S. 521: „[I]ch hätte mein Naßtüchel gern mitgenommen / wuste aber nicht auff was weis / dann wann ichs bey mir hatte / so war ich unsichtbar; was wollte ich aber mit jemand haben handlen können / wann man mich nicht sehen könte?“ 560 Ebd., S. 479 f. 561 Mit diesen Begriffen fasst Collybius im Rathstübel Plutonis die kontingente Wirklichkeit, in der der Kaufmann operiert. W I/2: Rathstübel, S. 662.
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beginnende Selbstentfremdung der Figur bis zu ihrer finalen Absage ans Nest besiegelt. Mit der Ankunft des Kaufmanns in Amsterdam erweitert sich der Resonanzraum von Handlung und Erzähldiskurs ins Globale. Dabei stellt die Wahl des Schauplatzes vor dem historischen Hintergrund des Romans in doppelter Weise ein „Politikum“ dar.562 Zum einen steuert der Kaufmann mit Amsterdam jene Stadt an, die die politische Literatur um 1670 – und mit ihr etwa auch der Teutsche Friedens=Raht – als Zentrum der internationalen Kommerzien identifiziert. Des Kaufmanns Bekenntnis, in Amsterdam „die Kauffmanns-Handelschafft“ gelernt zu haben,563 zeigt nicht nur, dass sein käufmännisches Wissen up to date ist, sondern kennzeichnet ihn insgesamt als mondäne Figur.564 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn er die holländische Metropole nach dem Vorbild Zesens zur „kleinen Welt“ erklärt, „worinn man bey nahe die gantze grosse Welt biß auff ein Ding sehen kann“:565 Dort, wo sich die globalen Kommerzien verknoten, entsteht im systemischen Zusammenhang der simplicianischen Diegese ein Ort, der die Vielheit der Dinge und Völker (re-)präsentiert.566 Dies hängt mit dem zweiten Grund für die politische Brisanz des Schauplatzes eng zusammen: der Aktualität der historischen Ereignisse, die im Roman verhandelt werden. Grimmelshausen veröffentlicht den zweiten Teil des Vogel-Nestes 1675 in den französisch-deutschen Krieg hinein, in dessen Vorfeld der Feldzug Ludwigs XIV. gegen die Vereinigten Niederlande stattgefunden hatte.567 Seine Figur trifft
562 So Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 112, über das Programm des letzten Grimmelshausen-Romans. 563 Vgl. W I/2: Vogel-Nest II, S. 528: „Sondern ich setzte mir vor […] eine Zeitlang gar nach Amsterdam zu räisen / allwo ich ohne das bekand war / in dem ich daselbsten von neundten biß in das siebenzehende Jahr meines Alters aufferzogen worden / und den Anfang / die Kauffmanns-Handelschafft zu lernen / den Grund allda gelegt.“ 564 Zur Weltläufigkeit des Vogelnestträgers vgl. Andreas Solbach: Gesellschaftsethik und Romantheorie. Studien zu Grimmelshausen, Weise und Beer. New York u. a. 1994 (Renaissance and Baroque 8), S. 179 f. 565 Vgl. W I/2: Vogel-Nest II, S. 528. In Zesens Beschreibung der Stadt Amsterdam (1664) heißt es, die Stadt Amsterdam halte „die Welt im schoß / die selbst ein auszug ist der Welt“. Philipp von Zesen: Beschreibung der Stadt Amsterdam. In: ders.: Sämtliche Werke. Unter Mitwirkung von Ulrich Maché und Volker Meid hg. von Ferdinand van Ingen. Bd. 16. Berlin 2000, S. 5 (‚Kurtze Erklährung des Titel-blats‘). 566 Dieser Eindruck vermittelt sich dem Leser umso mehr, wenn er dem Zesen-Zitat genauer nachgeht. Auf dem Titelkupfer der Beschreibung der Stadt Amsterdam wird die holländische Metropole als Herrin über das „Volk der weiten Welt“ inszeniert, der gebracht wird, „was jedes Landes art an teuren schätzen hägt“. Zesen: Beschreibung der Stadt Amsterdam, S. 3 (Titelkupfer) und S. 5 (‚Erklährung‘). 567 Dazu Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 112. Dass der Kaufmann gleich zu Beginn seiner Amsterdamer Zeit die Frage formuliert, „was endlich meinem Vatterland darauß [aus
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denn auch, nach der fiktiven Chronologie des Romans wohl im Herbst 1671, auf eine Amsterdamer Kaufmannschaft, die in tiefer Sorge steht, der Aller-Christlichste König möcht ihnen in die Haar gerathen / als der da / wie sie es darvor ansahen / auch ein reicher Kauffmann werden / oder sie auffs wenigst der Landen und Leut / die sie als gemeine Krämer besessen / entsetzen / und solche ihme als einem König / der zum regieren geboren / zueygnen wollte […].568
Die raffinierte doppelte Fokalisierung auf die holländischen Kaufleute, die in ihren Reden dem französischen König anti-niederländische Bemerkungen in den Mund legen – es ist der Blickwinkel Ludwigs, in dem die Holländer als „gemeine Krämer“ rangieren, nicht der der Holländer selbst –, lässt erahnen, worum es dem simplicianischen Text auf politischer Ebene vor allem geht: Im Zentrum steht die komplizierte Beziehung von Kommerzien und Macht und ihre kontroverse Diskursivierung im Resonanzraum des politischen Schrifttums der Zeit. Dass der Roman dabei nicht von einem eindimensionalen Gegensatz von souveräner Macht (Frankreich) und kommerzieller Agenda (Niederlande) ausgeht, sondern vielmehr verschiedene Formen der Konstituierung und Eindämmung von politischer Macht qua Kommerzien beobachtet, macht ihn zu einem – im deutschsprachigen Raum der Zeit – wohl einmaligen Dokument der Einsicht in die paradoxe Doppelstruktur des Kommerziensystems. Das politisch-ökonomische Wissen, das ein ‚biblischer‘ Roman wie der Keusche Joseph mitsamt Musai transferiert, wird dabei bei Weitem übertroffen. In diesem hatte der von Kaufleuten („Mercurialisten“)569 ausgebildete Musai seinem Herrn die kameralistische Thesaurierungsstrategie ausgeredet, indem er ihn vor den Folgen eines Missbrauchs der aufgehäuften Machtmittel durch einen „kriegerische[n] König“ warnte, „der heut oder morgen solchen Schatz zu Waffen und Soldaten anlegte; könte er nicht alsdann die gantze Welt mit Krieg / Mord und Brand betrücken?“ 570 Mit dem Argument, dass damit dem „Gesetz der Natur“ genüge getan wäre, da die Reichtümer „von der Natur gegeben worden“ seien, „daß nit nur der König / sondern alle Menschen deren geniessen und sich ihrer erfreuen sollten“, hatte Musai die Kommerzien in den Rang eines natürlich-wirksamen Antidots gegen die durch Schatzbildung ermöglichten Exzesse souveräner
der Expansionspolitik Ludwigs XIV., S. Z.] zuwachsen möchte“, deutet auf die Zuspitzung der Lage für das Deutsche Reich voraus. W I/2: Vogel-Nest II, S. 529. 568 Ebd. 569 W II: Musai, S. 295. 570 Ebd., S. 307.
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Macht erhoben.571 Diese Gleichung von kommerzieller Bewegung der Reichtümer und Bannung der Kriegsgefahr geht im zweiten Teil des Vogel-Nests so einfach offensichtlich nicht mehr auf.572 Obwohl Grimmelshausen auf entsprechend aktuelle Diskursvorlagen hätte zurückgreifen können – zu nennen wäre hier zumal Eberhard Wassenbergs Flugschrift Frantzösische Goldgrube (1672), in der die Kritik am Kriegstreiber Ludwig XIV. mit einem ausgiebigen Lob der Holländer verknüpft wird –,573 werden die politischen Verhältnisse im Roman als Resultat einer von beiden Seiten betriebenen Ausnutzung der eigenen kommerziellen Macht dargestellt. Ohne eine kluge Kommerzienpolitik, die ihn, wie oben zitiert, zu einem „reiche[n] Kauffmann“ macht, wäre der nach der „Herrschafft über die gantze Welt“ 574 strebende König demnach überhaupt nicht in der Lage, die Mittel für seine Kriege zusammenzubringen – eine Einsicht, die Grimmelshausen im Stoltzen Melcher (1673) entlang der einschlägigen Argumentation Wassenbergs bereits detailliert ausformuliert hatte.575 Umgekehrt 571 Ebd., S. 307. 572 Dass sich der Text damit auch von den allegorischen Einsichten der Auffindeszene (partiell) absetzt, ist an dieser Stelle immerhin zu erwähnen. Die komplexen politischen Verflechtungen, die im zweiten Teil beobachtet werden, entziehen sich der in ihren Ausdrucksmöglichkeiten letzthin eben doch eingeschränkten allegorischen Darstellung. 573 So ist bei Wassenberg zu lesen: „Ich bitte aber / wollet nur auf die Hochmögende Staaten der […] Vereinigten Provintzen / […] eure Augen werffen. […] Sie haben sich zu Wasser und zu Land / durch Wind und Wellen durch Ungewitter und fast alle feindliche Element gewaget / und sich in die fast täglich von neuem vor Augen schwebende Gefahren begeben / über welche sie auch obgesieget […]. Diese / sage ich / sind eben die jenige / welche sich nicht entsetzet / an unterschiedliche Gegenden der beyden Angelstern / und so viel veränderliche Graden hin und wieder in Europa / Asia / Africa und America zu fahren / haben auch bey denen Völckern / so die Füsse gegen uns kehren / wie auch den Periæcis und Antæcis die Kauffmanschafft auß dem Grunde erlernet / und sind in solcher Wissenschafft / im Haußhalten und in der Klugheit vollkommene Meister worden / sind auch / nach dem sie vermercket / und wol erwogen / was die Frantzosen im Sinn haben / bey ihrer gewöhnlichen Großmütig= und Standhafftigkeit ungeändert geblieben / und haben / auß Liebe zu Beruhigung der gantzen Christenheit / am ersten und gantz allein dieses schwere Werck angegriffen / und diesen mit unserem Geld gemästeten / aber nicht ersättigten wanst zu stopffen / und diese erschröckliche tieffe Klufft / […] zu verbauen angefangen.“ Eberhard Wassenberg: Aurifodina Gallica […]. Frantzösische Goldgrube Welche Den Ständen des Heil. Röm. Reichs eröffnet Und Wieder verschlossen vor Augen gestellet wird [...]. In: Continuatio XXV. Diarii Europæi, Insertis variis Actis Publicis. Oder Täglicher Geschichts=Erzählung Fünff und zwantzigster Theil [...]. Wobey ein besonderer Appendix oder Anhang Unterschiedlicher Schrifftlicher Handlungen / und Schreiben / welche / in diesem 1672. Jahre / insonderheit bey dem Frantzösischen Einfalle in die Vereinigte Niederlandt / hin und wieder / pro & contrà, außgegangen und gewechselt worden. Frankfurt a. M.: Wilhelm Serlin 1672, Appendix, S. 185–210, hier S. 204 f. 574 W I/2: Vogel-Nest II, S. 534. 575 Dort heißt es: „[V]nd derowegen sehen wir auß des Saphoyers vnd Schweitzers Relation das sie zu vnsern zeiten vmb vnser Gelt das wir beydes vmb Frantzösische Wahren vnd mit
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werden im großen politischen Diskurs des elften Romankapitels aber auch die niederländischen Handelsgesellschaften kritisiert. Ein Hamburger Kaufmann, der sich vor seinen Kollegen offenherzig zu äußern traut, bezeichnet es als „grossen Hochmut“, dass diese „kein Scheu“ hätten, „einem jeden gewaltigen Potentaten Gesetz vorzuschreiben / welche Hoffart die Fürsten kitzelt / und gemeiniglich den Fall prophezeyet.“ 576 Dass die Strategie des Ausstechens der „zum regieren geborn[en]“ Könige bei der Erschließung, Sicherung und dem Bespielen globaler Handelsrouten riskant ist, weil die anderen Nationen „mit unserm Wolstand und Glückseligen prosperität eyfern“, wird von den holländischen Kaufleuten auch selbst erkannt.577 Die Stabilität der Dreier-Allianz Hollands mit Schweden und England anzweifelnd, erinnert einer von ihnen daran, dass die Politik der niederländischen Handelsgesellschaften den Engländern „zu Wasser und Land / und zwar nicht allein in Europa, sondern in Africa, in Ost- und West-Jndien / ja gar biß in die äussersten Enden der Welt so grossen und gleichsam unüberwindlichen Schaden gethan / den sie [die englische Krone, S. Z.] nimmermehr einbringen wird?“ 578 Zielt der Roman in diesem Sinne darauf, der Komplexität der politischen Lage gerecht zu werden – diese also nicht propagandistisch in die eine oder andere Richtung aufzulösen –, so resultiert daraus eine axiologisch-hermeneutische Ambivalenz, die alle Versuche der Sinnintegration des Erzählten an einem bestimmten Punkt ins Relative überführt. Paradigmatisch deutlich wird dies am
ohnnötigen kostbaren Raiß Kösten in Franckreich hinein vernarren / vnsere junge Manschafft: Und hernach vmb derselbigen Tapfferkeit / Mühe / Arbeit / Blut vnd Leben so wol die grosse Stätte als die Victorien im Feld den Niderteütschen erkauffen / werden auch mit solcher mode vns da vnd dort zuzwacken / nit auffhören / wann wir die Augen nit besser auffthun biß sie vns endtlich nach vnd nach gar vmb vnser Freyheit: vmb Haab vnd Gut: ja vmb alles was Teütschland groß vnd Rhumreich macht gebracht haben werden.“ W II: Stoltzer Melcher, S. 679–705, hier S. 702. Zur Wassenberg-Rezeption im Stoltzen Melcher vgl. Peter Heßelmann: Grimmelshausens ‚Stoltzer Melcher‘ und Wassenbergs ‚Frantzösische Gold-Grube‘: ‚der Fridens-satten-vnd-gern-kriegenden teutschen Jugend zum Meßkram verehrt‘. In: Simpliciana 9 (1987), S. 79–100. Wohl auch, weil die simplicianische Spezialschrift die Hintergründe bereits genau beleuchtet hatte, werden die Einnahmequellen Ludwigs im Vogel-Nest nicht mehr eigens thematisiert. Der Text begnügt sich mit der von einem Amsterdamer Kaufmann getroffenen Feststellung, dass Frankreich „seine Macht beysammen“ habe, „deme man nicht die SennAdern deß Kriegs / wie vor Zeiten den Hispaniern in den Jndien widerfahren / so leicht würde abhauen können“. W I/2: Vogel-Nest II, S. 534. Eine umfassende Aufarbeitung der WassenbergRezeption Grimmelshausens mit Blick auf die Courasche hat Nicola Kaminski unternommen. Vgl. dies.: Ex Bello Ars oder Ursprung der ‚Deutschen Poeterey‘. Heidelberg 2004 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 205), S. 430–442. 576 Ebd., S. 536. 577 Ebd., S. 533. 578 Ebd.
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moralisch-religiösen Deutungsansatz, der durch die berühmt-berüchtigte Laterna magica-Vorführung am Ende der Amsterdam-Episoden textimmanent verankert ist. In ihr wird der Kaufmann Zeuge eines antiken Götterrats, an dessen Ende Jupiter „dem Marte“ befiehlt, er solte der Ceres ihr Cornu Copiæ […] außplündern / zu sehen / ob die Menschen durch Mangel und Noth zur Erkandnus ihrer selbst und ihrer Gebrechen / und also zu ihrer Besserung gebracht werden möchten / und zwar solte er solches bey denen anfangen / wo er finden würde / daß es am mehristen vonnöthen.579
Ohne völlig aufgehoben zu werden – Hochmut ist auf allen Seiten des politischen Konflikts ja durchaus im Spiel –, bleibt das hermeneutische Potenzial der theologischen Allegorese im Kontext der Erzählung doch beschränkt.580 So erscheinen nicht nur die Umstände der vom Kaufmann besuchten Vorführung selbst fragwürdig – bewerkstelligt wird diese von einigen seiner lichtscheuen Bekannten, „darunter der geringste gar wol vor einen Ertz-Schwartz-Künstler passiren konte“ –,581 sondern auch deren Effekt auf den Betrachter, der sich, von der martialischen Logik des Providenznarrativs angestachelt, auf den Weg in den Krieg macht.582 Am schwersten wiegt jedoch ein drittes Argument, das mit der Adressierung der Gottesstrafe zu tun hat. Wenn für den Leser des Romans tatsächlich ersichtlich werden soll, dass gerade die Holländer den Krieg zu ihrer ‚Besserung‘ „am mehristen vonnöthen“ haben, da sie, wie Apollo in der Götter-Projektion bekundet, durch den Wohlstand „gantz muthwillig / gail / außgelassen und verrucht“ 583 geworden seien, so müsste dies in der simplicianischen Darstellung Amsterdams und der dort lebenden Kaufleute einen entsprechenden Niederschlag finden. Eben das aber lässt sich beim Blick auf den Text nicht feststellen. Im Gegenteil bewahrt der Roman trotz politischer Kritik Distanz gegenüber der in der Zeit zirkulierenden anti-niederländischen Propaganda:584 Tadelns- und lobenswerte Eigenschaften der Holländer halten sich in 579 Ebd., S. 611. 580 Insofern wäre zu sagen, dass der Roman die theologische Deutung nicht ausschließt, deren Reichweite jedoch eingrenzt: Die Komplexität der erzählten Welt, die Vielheit der Handlungen, Erkenntnisperspektiven und der diskursiven Verflechtungen, kann in das auf moralische Eindeutigkeit zielende Raster der Allegorese nicht gebracht werden. 581 W I/2: Vogel-Nest II, S. 611. Zum Verhältnis von Magie und Technik in der Laterna magicaVorführung vgl. Berns: Zauber der technischen Medien, S. 250–259. 582 Vgl. W I/2: Vogel-Nest II, S. 617 f. 583 Ebd., S. 610. 584 Als Beispiel sei eine kalvinistisch geprägte Schrift angeführt, die Grimmelshausen in der ihm wohl bekannten Continuatio XXIV. Diarii Europæi (1672) finden konnte, als Intertext jedoch offenbar nicht virulent werden lässt. Vgl. Das Durch den Frantzösischen Kirmiß=Gast entkirmißte Holland. Das ist treuhertzige Vermahnung An alle und jede Einwohner der Vereinigten
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der simplicianischen Darstellung die Waage, und auch der von Zesen panegyrisch eingesetzte Topos von Amsterdam als ‚kleiner Welt‘ bleibt in ihr mindestens partiell positiv besetzt.585 Mag der Leser daher eher dazu tendieren, die (vermeintliche) Strafe Gottes lastertheologisch auf das Handeln des Vogelnestträgers zu beziehen – was angesichts dessen Bekehrung im Krieg zunächst durchaus naheliegend erscheint –, so stößt im komplexen Erzählzusammenhang auch dieser Ansatz an seine Grenzen. Dies hat vor allem damit zu tun, dass die durch das Nest geprägten Handlungen des Kaufmanns die Demarkationslinien zwischen den politischen Lagern auf symbolischer Ebene mehrfach durchkreuzen. Als in Amsterdam ausgebildeter ‚Mercurialist‘, Gesprächspartner der dort ansässigen Kaufleute und schließlich Soldat aufseiten der Vereinigten Provinzen scheint die Figur dem niederländischen Dunstkreis zuzuordnen zu sein – eine Tendenz, die durch die reichhaltige Symbolik der finalen Bekehrungs- und Entsagungsszene auf der Rheinbrücke bei Kehl noch unterstützt wird (dazu unten mehr). Indem die
Niederländischen Provintzien von Kirmessen / Comödien / Fressen / Sauffen und anderem üppigen Leben / mit rechtschaffener Buße abzustehen […]. In: Continuatio XXV. Diarii Europæi, Insertis variis Actis Publicis, 1672, Appendix, S. 169–192. 585 Die von Heßelmann: Gaukelpredigt, S. 487, geäußerte These, dass es der „Sündenpfuhl Amsterdam“ sei, der „wie die üppige Kaufmannsstadt Babylon“ ein Strafgericht Gottes heraufbeschwöre, das in Gestalt des französischen Königs über die Holländer komme, erscheint mir daher nicht überzeugend. So stimmt es zwar, dass der Kaufmann in Amsterdam in einer Art Bordell logiert – ein Punkt, den Heßelmann (ebd.) zur Untermauerung seiner These anführt. Umgekehrt betont der Kaufmann in der Rückschau aber, dass seine Amsterdamer Kollegen „gemeiniglich mit geringen Unkosten“ zusammengekommen seien, „dann wir assen / truncken und spielten nicht so starck / wie es in meinem Heymeth zu gehen pflegte / sondern kamen die mehriste mal nur auff ein Pfeiff Taback / und Trunck Bier zusammen.“ W I/2: VogelNest II, S. 531. Einen Beleg für die tendenziell positive Darstellung der holländischen Gesellschaft liefert die Geschichte des konvertierten Juden Erasmus. Dieser wird trotz seiner Verwicklungen in die Machenschaften des Vogelnestträgers durchaus unironisch als Charakter „von feinem Ansehen / und eines ehrbarn Wandels“ gekennzeichnet (ebd., S. 546). Entsprechend glaubwürdig redet er dem Kaufmann ins Gewissen. Da die Figur in dieser Weise moralisch zuverlässig handelt und spricht, erfolgt ihr mit dem holländischen Handelssystem assoziierter Aufstieg nach einer Logik poetischer Gerechtigkeit. Nachdem Erasmus von der Ostindien-Kompanie schon früh „promessen“ erhalten hatte, „bey nächster Abfahrung einiger Ost-Jndianischer Schiffe / einen so beschaffenen Dienst auff der Flot zu haben / damit er sich nicht allein wol betragen / sondern noch darzu ein namhafftes prosperiren und vorschlagen könte“ (ebd.), endet seine Beziehung mit dem Kaufmann damit, dass er die „schöne Gelegenheit“ zu einer „profitablen Condition“ in der Gesellschaft annimmt (ebd., S. 573). Ebensowenig ironisch erscheint schließlich das Lob der Holländer für ihre Erinnerungskultur. Es lebe heute „kein Volck unter der Sonnen“, so schreibt der Kaufmann, „welches die jenige / so sich umb ihren Staad verdient machen / neben den Venetianern so danckbarlich und ruhmwürdig bedencket / als eben die Holländer [...]“ (ebd., S. 630).
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Figur im Besitz des Nests vom Zwang kommerzieller Interaktion befreit ist, rückt sie umgekehrt jedoch in die Nähe des französischen Königs, dessen souveräne Machtfülle, wie Wassenberg weiß und der simplicianische Text zumindest andeutet, auf der Aneignung der aus den Kommerzien erzielten Reichtümer basiert.586 Je größer der Gegensatz zwischen der ständischen Identität des Kaufmanns und seinen kriminellen und martialischen Abschweifungen wird, je weniger der Kaufmann also als Kaufmann denkt und handelt, desto diffuser erscheint der Konnex von Krieg, Handel und Moral, den die Götterprojektion der Laterna magica-Vorführung als erbaulichen Deutungsschlüssel anbietet. Unterhalb der Ebene einer generalisierten und daher letzthin unspezifischen, den hohen Erzählaufwand allein kaum rechtfertigenden superbia-Exemplarität bleibt unklar, welche moralisch-religiöse Lehre aus der Verklammerung des simplicianischen Lebenslaufs mit der politischen Geschichte der Zeit eigentlich zu ziehen ist. Auf der anderen, der außermoralischen Seite ist es gerade das fluktuierende Sinnmoment des Lebenslaufs, in dem die paradoxe Beziehung von Macht und Kommerzien figural zum Ausdruck kommen kann. Dabei braucht es nur eines Blicks auf Wassenbergs Frantzösische Goldgrube, um deren (latente) Wirksamkeit im zeitgenössischen Diskurszusammenhang zu erkennen. Auf natur- bzw. völkerrechtlicher Ebene werden die Kommerzien von Wassenberg – hier deutlich in der Folge Grotius’ – als Garant der Freiheit erkannt. Durch sie werde das, „was vormals weit voneinander entlegen / auff eine sinnreiche Art und Weise mit einander vereinig[t]“,587 wobei der Handel „krafft deß Völcker=Rechts
586 Wassenberg wirft dem französischen König vor, dieser habe sich zum „Herr über die Commercien seines Königreichs“ aufgeschwungen und alles darauf ausgerichtet, „als daß von Tag zu Tage immer mehr und mehr in sein Franckreich hinein / hingegen aber wenig wieder herauß komme / [...] durch welche Klugsinnigkeit er dann / mit der Zeit / alles Geld in Europa an sich bringen / und durch diesen unerschöpfflichen Schatz der gantzen Welt Gesetze fürschreiben wird.“ Wassenberg: Aurifodina gallica, S. 201. Hier lässt sich durchaus eine Parallele zur ‚souveränen‘ Aneignungspolitik des Kaufmanns erkennen, der dem reichen Juden Eliezer ja nicht nur die Tochter nimmt, sondern auch zehntausend Dukaten seines Vermögens. Ein politischer Subtext scheint im simplicianischen Diskurs immerhin angelegt, wenn der Kaufmann seinen Diebstahl im Nachhinein unter Gebrauch des Worts ‚Steuer‘ zu rechtfertigen versucht: Eliezer, so erklärt er, habe die Verpflichtung, „seine Tochter den habenden Reichthumben gemäß außzusteuren“, wozu er unter den Umständen – Esthers durch Manipulation bewirkte Not-Heirat mit dem konvertierten Erasmus – aber nicht bereit gewesen wäre. W I/2: Vogel-Nest II, S. 601. Dass der Kaufmann das Geld dem jungen Paar schließlich schenkt, stellt vor dem politischen Hintergrund dabei durchaus nicht nur ein Entlastungsargument dar. Die Beeinflussung und Manipulation Dritter durch „Schenck- und Bestechungen“ gehört laut Wassenberg zu den hinterlistigen Tricks des nach totaler Macht strebenden französischen Königs. Wassenberg: Aurifodina gallica, S. 191. 587 Ebd., S. 196.
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und Friedens Vertrag frey seyn soll[ ]“.588 Auf politischer Ebene freilich kann von einem Automatismus des friedlichen Ausgleichs qua Kommerzien nicht die Rede sein. Wenn Ludwig laut Wassenberg darauf zielt, „das Vereinigte [zu] trenne[n] / und das an einander Hangende auff[zu]löse[n]“, um die Herrschaft über die ganze Welt an sich zu reißen,589 so tut er dies eben auf Grundlage der Kommerzien, deren Fluss er in Richtung seiner Schatzkammer zu leiten weiß; gerade die Deutschen, so Wassenberg, würden mit dem Erwerb zweifelhafter französischer Luxuswaren „Franckreich [...] gantz verblendet glückselig machen / welches hernach auß dem Köcher / den wir demselben selbst in die Hand gegeben / auff seinen eigenen Bogen legt / und die Pfeile gegen uns abschiesset.“ 590 Um die staatliche Freiheit zu erhalten, bedarf es aus Sicht Wassenbergs deshalb einer gezielten Einschränkung der kommerziellen Freiheit. Deutschland solle hohe Zölle auf ausländische Waren erheben, auf dass die positive Außenhandelsbilanz ihm die an Frankreich verlorene Macht und damit nationalen Ruhm zurückbringe: [...] so werden die außländische Wahren / wann man sie sonderlich mit hohen Zöllen / Frantzösischem Gebrauch nach / beschweren würde / von sich selbsten [...] aussen bleiben. Das Teutschland würde allgemach werden / was Frankreich gewesen ist / und mit ihren Handelswahren nit allein sich selber / sondern auch beyde Jndien / wovon doch die Frantzosen bißhero fast eben so grossen Nutzen / als die Spanier selber / durch jhre Spitzfindigkeit genossen / genugsam versehen können.591
Es ist diese, auf den inneren Widerspruch des politisch-ökonomischen Diskurses verweisende Übertretung der Grenze zwischen Kommerzien und Kriegsmacht, die im Erfahrungsbericht des Vogelnestträgers symbolisch verhandelt wird. Dies zeigt sich darin, dass seine im Zeichen des Nests unternommene Reise, wie die Kommerzien im Krieg, „ehender den Krebsgang / als ihren erwünschten richtigen Lauff“ 592 nimmt, wobei seine Ankunft in Amsterdam mit dem Aufkommen des Kriegsgerüchts unter den Kaufleuten in auffälliger Weise verknüpft wird. Die „Frag / was neus?“ erhält in diesem Zusammenhang geradezu Leitmotivcharakter.593 Die Kaufleute Amsterdams sind in ihren Entschei588 Ebd., S. 203. 589 Ebd., S. 190. 590 Ebd., S. 201. 591 Ebd., S. 206 f. 592 So die Befürchtung der Amsterdamer Kaufleute hinsichtlich der Handelsaussichten in einem möglichen Krieg mit Frankreich. W I/2: Vogel-Nest II, S. 531 f. 593 Ebd., S. 529. Zu Nachricht, Zeitung und dem Status von Neuigkeiten bei Grimmelshausen vgl. Jörg Jochen Berns: Medienkonkurrenz im siebzehnten Jahrhundert. Literarhistorische Beobachtungen zur Irritationskraft der periodischen Zeitung in deren Frühphase. In: Deutsche Presseforschung. Hg. von Elger Blühm, Hartwig Gebhardt. Bd. 26: Presse und Geschichte II.
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dungen von der Deutung politischer Nachrichten abhängig. Entsprechend legen sie jede informationelle Spur auf mögliche Veränderungen im politischökonomischen System hin aus. Der Vogelnestträger, der zahlreiche alte Bekannte unter ihnen hat, wird um Neuigkeiten zunächst geradezu bestürmt: „[...] dann es hatte mich kaum einer heissen Willkommen seyn / so kam er gleich mit dieser Frag auffgezogen“.594 In ihrer Beratung kommen die Kaufleute schließlich zum Urteil, „es würde einen Krieg zwischen Franckreich und Holland setzen / der sich endlich über gantz Europam außbreiten dörffte“.595 Die Folgen dieser Entwicklung für die Kommerzien werden dem Leser aufgezeigt, indem die Erzählung in erstaunlicher Detailliertheit über die „Veränderungen im Wirtschaftsleben durch Waren- und Kapitalflucht“ in die vom Krieg nicht betroffenen Gebiete berichtet.596 Dies kommt nicht von ungefähr, denn erst dadurch kann der Roman die Selbstdifferenz des Kaufmanns mit den Handlungen seiner Standesgenossen auf politischem Beobachtungsniveau korrelieren. Entgegen der Strömungsrichtung des Geldes, die durch die politischen Ereignisse vorgegeben wird, bewegt sich der Vogelnestträger mitten hinein in das Gebiet, in dem sich das Gewaltpotenzial des merkantilistischen Systems entlädt. Und während der Krieg nach seiner Verwundung weiter tobt, versucht der in einem Utrechter Haushalt Genesende, das in Amsterdam liegende Restvermögen zu sich zu holen – was ihm zu überaus günstigen Wechselkonditionen („10. pro Cento“ Aufgeld zu seinen Gunsten) auch gelingt, verlangt seinen Utrechter Wechselpartner doch nichts mehrers [...] / als seine Baarschafft [...] / sonst irgendswo in Sicherheit zu wissen / ein tausend zu Amsterdam / sagte er / wären ihm allbereit lieber / als zweytausend in Utrecht / als worvon er nicht eine Stund versichert wäre / daß es sein Eygenthumb sey [...].597
Für die bereits bemerkte Doppeldeutigkeit der Bekehrung des Kaufmanns ist es bezeichnend, dass es dieses durch den Krieg erst ermöglichte Geschäft ist, mit dem der Prozess seiner tätigen Reue beginnt. Mit dem Kommentar „Solches war nun ein erwünschte Sach vor mich“ 598 nimmt der eben erst dem Sterbebett entstiegene Beichtling das ihm nach Marktkonditionen, kaum aber wohl moralisch
Neue Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. München u. a. 1987, S. 185–206, hier S. 191–195. 594 W I/2: Vogel-Nest II, S. 529. 595 Ebd., S. 537. 596 Dies bemerkte schon Breuer: Grimmelshausen-Handbuch, S. 112. 597 W I/2: Vogel-Nest II, S. 629. 598 Ebd.
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zustehende Geld an und verteilt den größten Teil davon an seinen französischen Beichtvater, die Ärzte und Diener, bevor er sich in Begleitung des ersteren auf den Weg zurück in die Ortenau macht.599 Damit beginnt der letzte, in die Vernichtung des Nests mündende Abschnitt des Kaufmanns-Parcours, in dem sich die Zeichen der politischen Doppelcodierung des Geschehens nochmals verdichten. Dazu trägt neben der Tatsache, dass die politisch-ökonomischen Interpretamente der ersten Vernichtungsszene zum Import gewissermaßen ja schon bereit stehen, vor allem die symbolisch hochgerüstete topologische Struktur des Finales bei. Die entscheidende Rolle in diesem Zusammenhang spielt der Rhein. Wie der simplicianische Leser seit der Schermesser-Episode weiß, bildet der Strom die kommerzielle Lebensader der Städte, Regionen und Länder an seinen Ufern. Zielgenau erinnert der Kaufmann an die wichtigsten unter ihnen, wenn er mitteilt, von Utrecht aus „auff der Cöllnischen Seiten deß Rheins sicher biß nacher Straßburg / und von dannen über den Kniebs hinauß vollends nach Hauß“ gezogen zu sein.600 Dabei wird der Rhein, der in Zeiten des Friedens für multilateralen Austausch und allgemeine Prosperität sorgt – „nicht allein die Holländer“, so eine zeitgenössische Flugschrift, „sondern alle Europäische Völcker / die an den Meeren und Flüssen wohnen / [hätten] von der Zeit an / an Reichthum zugenommen / da die Vereinigte Niederländer die Commercien weit und breit zu treiben angefangen“ –,601 in Zeiten des
599 Dass in diesem Zusammenhang auch die Figur des Paters ins Zwielicht rückt, sollte nicht übersehen werden. Während der Geistliche sich um die Seele des Kaufmanns zweifellos verdient macht – er nimmt ihm die Beichte ab und überredet ihn auf dem Heimweg in die Ortenau dazu, das Nest zu vernichten –, zögert er doch keinen Moment, das ihm vom Kaufmann „zu einem neuen Kloster“ gespendete Geld anzunehmen. Besonders seltsam erscheint dabei, dass er dem Vogelnestträger im Gegenzug rät, dem Utrechter Wirt für seine Gastfreundschaft nichts zu geben: „unserm Wirt wolte ich auch etwas vor meine Kost entrichten / aber der Pater wolte es nicht haben [...].“ W I/2: Vogel-Nest II, S. 630. Sollte es dem Geistlichen hier um die Reinhaltung des karitativen Diensts von monetären Gegenleistungen gehen, so stellt sich die Frage, warum er diesen hohen Maßstab für seine eigenen Dienste bzw. die der Kirche nicht anlegt. Dass der Wirt das Geld schließlich gar nicht angenommen hätte, da er den Kaufmann, wie sich herausstellt, aus patriotischer Dankbarkeit verköstigt hat – auch das ein Aspekt des im Roman angelegten ‚Lobs der Holländer‘ –, spielt für die Bewertung des Verhaltens des Paters keine Rolle – im Gegenteil erscheint es vor dem Hintergrund der patriotischen Geste des Utrechter Bürgers nur umso undurchsichtiger. 600 Ebd., S. 646. 601 [Anonym:] Politische Betrachtungen / Uber Den gegenwertigen Zustand Europä. Oder Ein Bedencken. Von den Ursachen der uns ob dem Halß schwebenden Kriegen. Und dannenhero entsprungen Gemüths=Bewegungen. In: Continuatio XXV. Diarii Europæi, Insertis variis Actis Publicis, 1672, Appendix, S. 212–234, hier S. 231. Wie die anderen Schriften dieser Ausgabe des Diarium Europæum dürfte der proniederländische Text Grimmelshausen bekannt gewesen sein.
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Kriegs zu einer mit politischer Bedeutung geradezu überladenen Grenze. Ablesen lässt sich dies auf politisch-diskursiver Ebene an Wassenbergs GoldgrubenSchrift, die Grimmelshausen wohl auch in dieser Hinsicht zum Vorbild gedient haben dürfte. Mindestens drei verschiedene Liminalfunktionen werden dem Rhein von Wassenberg zugewiesen. Die erste wurde bereits genannt: Der Fluss fungiert als fluide Brücke zwischen Städten, Regionen und Ländern, er bringt die von ihm begrenzten politischen Räume in kommerzielle Beziehung zueinander.602 Die zweite Bedeutung verweist auf die Problematik der Verzollung von Gütern und das daran hängende Machtspiel zwischen den Handel treibenden Nationen: Die deutschen Kurfürsten, Herzöge und Fürsten am Rhein und seinen Nebenflüssen, so Wassenberg, sollten die Ausfuhrzölle beschränken, um die günstige Lage ihrer Territorien an „trefflich bequemen Flüssen“ zum Export ihrer Produkte nutzen zu können und dadurch die kriegerischen Franzosen auszustechen.603 Die dritte Bedeutung schließlich kombiniert die konkrete militärische Relevanz des Rheins mit seinem Gewicht als Symbol der (nicht vorhandenen) Einheit des Reichs: Die unter Ludwig XIII. an Frankreich gefallenen Festungen „Philippsburg / Elsaß am Rhein / und Breysach über Rhein“ seien „die gantz wol gelegene[n] Warten / auß welchen das so auffrichtige Franckreich vorgibt / daß es desto bequemer unsern unter sich streitenden Fürsten zum Besten / und zu ihrer Vereinigung außerbaueten Schiffbrücken gantze Armeen überführen wolle“, was die Kurfürsten zu Mainz und Pfalz denn auch schon zu spüren bekommen hätten.604 Alle drei Bedeutungen sind im engsten intertextuellen
602 Bei Wassenberg schlägt sich dies etwa in der auf Karl den Großen zurückgeführten Idee nieder, den Rhein mit der Donau zu verbinden, um so alle Weltgegenden für den Handel aus Deutschland zugänglich zu machen: „Und diesen letzten Haupt=Fluß [die Donau, S. Z.] in Europa / hat unser Käyser Carl der Grosse / dem Teutschland zum Besten und zu Ehren / mit dem Rhein zu vereinigen sich vorgenommen / damit er was die Tanais, Phasis, der Pactolus, Hellespontus, an Orientalischen / und der Occident für an [sic!] Menschen Händen gemachten Erfindungen hat / durch Hülff dieser vereinigten beyden Flüsse unserer Nation zuwegen bringen / und dem Mercurio einen beständigen Sitz mitten in Teutschland machen möchte.“ Wassenberg: Aurifodina gallica, S. 207. 603 Ebd., S. 208: „[...] wann ihr Churfürsten / Hertzoge und Fürsten am Rhein / der Mosel / und dem Mäyn / diese stattliche Gelegenheit / nur zeitlich ergreiffen / wann ihr das / woran Euch so viel gelegen ist / reifflich erwegen / wann ihr durch Erleichterung der Zölle / und Abhelffung der Handels=Städte Beschwerden der Holländer Euch sehr zuträglichen Vorhaben zur Hand gehen / die Schiffart leichter machen / und verschaffen werdet / daß man Eure Weine umb einen erträglichen Preiß kauffen könne / so werden alsdann die Frantzösische auff ewig verbannt seyn / der Kauffhandel mit Euch stets fort geführet / und ihr alle Jahr / [...] wegen des grossen und vielfältigen Gewerbs / umb den vierdten Theil reicher werden.“ 604 Ebd., S. 191. Von der strategischen und nationalen Bedeutung des Rheins geben viele weitere Schriften der von Grimmelshausen (wahrscheinlich) gelesenen Ausgabe des Diarium Europæum Auskunft.
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Dunstkreis des Romans präsent, wodurch ein Bezugsfeld entsteht, das die simplicianische Operation einer aktualisierenden Überbietung der ersten Vernichtungsszene erst ermöglicht. Dabei sorgt der Text mit einigem Vorlauf dafür, dass der Leser die topologische Zuspitzung der Passage nicht überliest. Noch vor dem Aufbruch in Utrecht überreicht der Kaufmann dem Pater ein ganzes Arsenal magischer Utensilien, darunter das Vogelnest, das der Geistliche als einzigen Gegenstand nicht gleich ins Feuer wirft, sondern versiegelt an sich nimmt, „biß er ihm ohne Gefahr einen andern Todt anthun könte“.605 Dass er die Vernichtung dann auf der Rheinbrücke von Kehl ins Werk setzt, scheint von langer Hand geplant, bekundet der Pater doch, sein Vorhaben sei „vorlängst auff diesen bequemen Ort gericht gewesen“.606 Warum aber genau die Rheinbrücke von Kehl? Auf diegetischer Ebene ergibt die Einschätzung des Paters, es handele sich um einen „bequemen Ort“ für die Vernichtung des Nests offensichtlich wenig Sinn. Das Nest hätte sich im Rhein bereits in Utrecht oder Köln zerstreuen lassen, der Aufschub birgt aus seelsorgerischer Sicht Risiken, ohne dass der Pater eine Erklärung liefern würde, warum er diese eingeht.607 Gerade die dadurch entstehende Leerstelle freilich gibt dem Leser das Signal, die Handlung des Finales auf symbolischer Ebene zu lesen.608 Aus der Kombination der involvierten Chiffren ‚Vogelnest‘ und ‚Rhein‘, gespiegelt durch die Erfahrungsperspektive des Kaufmanns (als Repräsentant eines bestimmten Wissens, eines Standes, einer Nation), entsteht das komplexe Schlusstableau des Zyklus, in dem mehrere Schichten politischer, kommerzieller und poetologischer Semantik sich überlagern: Mit der Einwilligung in die Zerstreuung des Nestes im Rhein609 setzt der Kaufmann ein Zeichen gegen die Macht des Objekts, die ihn von den „richtig verabfaßte[n] Concepta und Anschläg“ des Romanbeginns, nämlich durch kauf-
605 W I/2: Vogel-Nest II, S. 643. 606 Ebd., S. 650. 607 Ausgehend von der Utrechter Verbrennungsszene lässt sich vermuten, dass der Pater mehr über die magischen Qualitäten des Nests weiß, als er sagt. So hält er offenbar nicht Feuer, sondern Wasser für das geeignete Vernichtungsmittel. Dies erklärt jedoch nicht, warum es Rheinwasser sein muss, und erst recht nicht, warum ausgerechnet das Wasser unterhalb der Rheinbrücke von Kehl. 608 Unterstützt wird er dabei durch die wiederholte Erwähnung des Ameisenhaufens als Fundort des Nests: Der Text stellt eine starke innere Verbindung zwischen den Vernichtungsszenen her. Vgl. W I/2: Vogel-Nest II, S. 643 und 649. 609 Die Vernichtung selbst wird vom Pater übernommen, der mit dem Nest in der Hand kurzzeitig unsichtbar wird – ein prekärer Moment, in dem eine Fortsetzung des Romans unmittelbar in der Luft liegt –, dann aber wieder auftaucht und das Nest in den Rhein streut: „[...] da sahen wir ihn wiederumb / hernach schürete er das Genist bey einem Stäublein vollends in den Rhein und sagte / nun dancke ich GOtt von Hertzen / daß diese schändliche Kunst in
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männischen Fleiß sein Vermögen zu mehren, abgebracht hatte.610 Wie schon in der Utrechter Beichtszene, auf die das dubiose Geldwechselgeschäft gefolgt war, werden im Romanfinale dabei religiöse und kommerzielle Motive untrennbar miteinander verbunden: Die Zerstreuung des Nests ist Resultat eines (wenig überzeugenden) Akts christlicher Selbsterkenntnis, lässt sich zugleich aber als implizites, zur Figur passendes Votum für den offenen Handel verstehen – insofern nämlich, als die Einspeisung der Nestpartikel in den Rhein im Diskurszusammenhang (auch) auf die Zirkulationsbewegung verweist, die die Ortenau mit den Niederlanden und dem gesamten Kommerziensystem der Welt verbindet. Würde dieses Signal allein freilich noch ganz dem positiven Argumentationsmuster des Musai entsprechen – gegen das auf Thesaurierung der Machtmittel (Geld, Korn etc.) basierende Gewaltmonopol des Souveräns hilft nur deren Ausstreuung unter das Handel treibende Volk –, so liegt die Pointe des zweiten Vogel-Nest-Teils gerade darin, diese Positivität aufzubrechen und, kraft der Mehrdeutigkeit der involvierten Chiffren, die Paradoxie in der Beziehung von Kommerzien und Macht sichtbar zu machen. In diesem Zusammenhang gewinnt die Verortung des Geschehens auf der Kehler Rheinbrücke ihre symbolische Bedeutung. Der Blick auf Wassenberg hat gezeigt, dass die politische (De-)Regulierung der Geld- und Warentransfers an der Grenze des eigenen Territoriums auf einem Machtkalkül basiert, in dem der vermeintlich Freiheit und Frieden garantierende Handel zum Instrument gegen den Anderen, in diesem Fall den französischen König, wird: Würden die deutschen Fürsten einsehen, dass zu hohe Ausfuhrzölle die Kommerzien im eigenen Land ruinierten, „so [würden] alsdann die Frantzösische auff ewig verbannt seyn / der Kauffhandel mit Euch [den deutschen Fürsten, S. Z.] stets fort geführet / und ihr alle Jahr / [...] wegen des grossen und vielfältigen Gewerbs / umb den vierdten Theil reicher werden.“ 611 Die Bannung der Franzosen durch eine kluge Zollpolitik, die den Rhein zur Achse der Freiheit und des machtpolitischen Aufstiegs deutscher Fürstentümer macht – auf dieses von Wassenberg (und anderen) formulierte Programm spielt der simplicianische Text an, indem er den wichtigsten Zollpunkt der Region zwischen Straßburg und der Ortenau, die Rheinbrücke zu Kehl, zum Schauplatz der Absage ans Nest macht.612 Er tut es jedoch – und
eurer gegenwart so Glücklich abgeschafft worden / ihr hättet sonst vermeynen dörffen / ich hätte euch solche abgeschwätzt / umb mich derselben selbst zu bedienen [...].“ Ebd., S. 649 f. 610 Ebd., S. 471. 611 Wassenberg: Aurifodina gallica, S. 208. 612 Über die Bedeutung des befestigten Zollpunkts Kehl im 17. Jahrhundert gibt die 1775 erschienene Straßburg-Chronik Johann Andreas Silbermanns Auskunft. Die von Straßburg ausgehenden Maßnahmen zur Sicherung des Orts beginnen demnach mit einer Umschanzung des Dorfs Kehl (1619) und dem Ausbau einer Schanze „vor der jetzigen kleinen Rheinbrücke beym
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4 Vom Bauernhaus zum Weltmarkt: Grimmelshausens Simplicianischer Zyklus
diese Ergänzung ist wichtig – im Modus der Kritik an der Ignoranz des merkantilistischen Machtdiskurses gegenüber der ihm selbst eingeschriebenen eskalativen Logik. So wie es am Ende des ersten Teils Rechulins Nichtwissen von den inneren Paradoxien des Policey-Staats ist, das durch die Wiederauffindung des Nests satirisch aufgedeckt wird, bleibt auch das Wissen und Handeln des Kaufmanns bzw. der merkantilistischen Politici auf eine Grenze bezogen, an der sich die Agenda von Freiheit und Kommerzien in eine Agenda der Ausgrenzung und des Kriegs verwandelt. Symbol dieses paradoxen Umschlags ist das im Rhein zerstreute Nest, dessen dämonische Wiedererstehung aus den Fluten, entgegen der Versicherung des Paters, alles andere als unmöglich erscheint. Dafür spricht nicht nur die eigentümliche Wortwahl des Geistlichen, der das Nest an diesem Ort „cassirn“ 613 will – eine Formulierung, in der ausgerechnet der kameralistische bzw. merkantilistische Leitbegriff der cassa aufgerufen wird und die eine mögliche Wiederkehr des Nests schon deshalb nahelegt, weil Rechulin genau dieselbe Formel benutzt hatte –,614 sondern auch die Tatsache, dass die symbolische Bannung der souveränen Macht (des Nests, des französischen Königs) in der erzählten Welt des Romans offenbar nicht gelingt. In der Retrospektive weiß der Kaufmann davon zu berichten, dass das „Land deß Friedens“, das er durch die Rheinüberquerung bei Kehl betreten hatte, „seyther durch den Krieg sehr ruinirt worden“ sei.615 Auch nach der Dispersion des Nestes also folgt die Gewalt
damaligen Zoll=Hause [...], so daher die Zoll=Schanze genennet worden“ (1622), sie setzen sich fort in einer Befestigung der großen Brücke (1631) und der Befestigung des Dorfes mit Wällen und Flanken (1633) und finden am Ende der Lebzeiten Grimmelshausens mit der Errichtung von „zwey starken Blockhäuser[n]“ auf der großen Rheinbrücke (1671) und der Verschanzung der Insel zwischen großer und kleiner Rheinbrücke (1676) ihren vorläufigen Abschluss. 1678, also erst nach dem Tod Grimmelshausens, beginnen mit dem Einfall der „Frantzösischen Völker unter dem Marschal von Crequy“ dann die neuerlichen Kämpfe um Kehl, die die weitgehende Zerstörung des Dorfes, der Brücken und Schanzen nach sich ziehen. Johann Andreas Silbermann: Local=Geschichte der Stadt Straßburg. Straßburg: Jonas Lorenz 1775, S. 229 f. 613 W I/2: Vogel-Nest II, S. 650. 614 In seiner Worterklärung übersetzt Breuer die Infinitivkonstruktion „zu cassirn“ mit „wegzunehmen“. Ebd., S. 650. Eine bessere Übersetzung gelingt ihm am Ende des ersten Teils, wenn er Rechulins Formulierung „daß es [das Nest, S. Z.] unverweilet cassiret [...] werden solte“ mit „aus dem Verkehr gezogen“ übersetzt. W I/2: Vogel-Nest I, S. 441. Das, was in der cassa landet – sei es nun eine Asservatenkammer oder die Geldtruhe des Fürsten –, ist eben nicht ein für allemal verschwunden, sondern für den gemeinen Mann nur nicht mehr erreichbar. Dass im Fall der Zerstreuung des Nests damit ein markanter Widerspruch formuliert ist – das Nest wird kassiert, indem es gewissermaßen wieder in Umlauf gebracht wird –, liegt auf der Hand. Es ist genau dieser Widerspruch, der die Paradoxie einer auf den Kommerzien basierenden Macht zur Anschauung bringt. 615 Dies geschieht im Zusammenhang des Abschieds vom Pater: „Zu Kehl frühstückten wir / ehe wir voneinander schieden / welches meines Theils mit nassen Augen geschahe / und weil
4.2 Prosperität, Zirkulation und Kommerzien im Simplicianischen Zyklus
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des Souveräns der Figur auf dem Fuße und umlagert damit die finale Schreibszene des Zyklus, in der das Buch namens „das wunderbarliche Vogel-Nest / ein so genanntes Tractätlein in offenem Truck“ wieder auftaucht, um vom Kaufmann, um seine „eygene Histori“ ergänzt, erneut in Umlauf gebracht zu werden.616 Es beginnt damit ein mutmaßlicher weiterer Zyklus der abgründigen „Kunst und Materi“ des Vogel-Nests, den Grimmelshausen aufgrund seines eigenen Todes dann aber nicht mehr aufschreiben konnte.
ich mich in einem Land deß Friedens befand (wiewol ich höre / daß es seyther durch den Krieg sehr ruinirt worden) zumahlen noch etwas Gelts übrig hatte / kauffte ich mir ein Pferd / womit ich in etlichen Tagen Glücklich nach Hauß kam.“ W I/2: Vogel-Nest II, S. 650. 616 Ebd.
5 Der Andere als Kameralist: Beers kluge Picaros Vom Simplicianischen Zyklus Grimmelshausens führen verschiedene Spuren zu den Romanen des Weißenfelser Hofmusikers Johann Beer (1655–1700). Zum einen greift Beer bzw. sein Verleger, wie viele andere Autoren und Verleger der Zeit, auf das seit Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch auf dem Buchmarkt etablierte Label des ‚Simplicianischen‘ zurück.1 Zum zweiten lassen sich in den Romanen Beers zahlreiche Motive, Figurenkonzepte und Erzählmuster wiederfinden, die bereits bei Grimmelshausen eine Rolle gespielt hatten.2 Und zum
1 So trägt Beers erster zwischen 1677 und 1679 erschienener Picaro-Roman den Titel: Simplicianischer Welt=Kucker / Oder Abentheuerlichen Jan Rebhu. Rein technisch gehört Beers Roman damit zur Gruppe der sogenannten ‚Simpliziaden‘, also der Texte, die gemäß einer Wortbildung Hubert Rausses auf den Signalbegriff der satirischen Werke Grimmelshausens zurückgreifen. Vgl. Hubert Rausse: Zur Geschichte der Simpliziaden. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 4 (1913), S. 195–215. Dass es sich darüber hinaus um ein Dokument direkter GrimmelshausenRezeption handelt, hat Peter Heßelmann gezeigt. Vgl. ders.: ‚Simplicissimus redivivus‘. Eine kommentierte Dokumentation der Rezeptionsgeschichte Grimmelshausens im 17. und 18. Jahrhundert (1667–1800). Frankfurt a. M. 1992 (Das Abendland 20), S. 136–140. 2 Die Forschungsbeiträge, die sich seit Richard Alewyns wegbereitender Habilitationsschrift Johann Beer. Studien zum Roman des 17. Jahrhunderts (Leipzig 1932) mit den inneren und äußeren Beziehungen der Romane Grimmelshausens und Beers beschäftigen, sind Legion. Ich nenne nur diejenigen, die den Vergleich der Autoren zum Hauptaspekt der Untersuchung machen: Arnold Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Ein Beitrag zur Entstehung des bürgerlichen Weltbildes [erstmals Frankfurt/M. 1934]. Unveränderter Nachdruck der von Herbert Singer besorgten, 2. Aufl. Köln, Wien 1979 (Literatur und Leben, Neue Folge 1), S. 26–34; Alan Menhennet: Narrative and Satire in Grimmelshausen and Beer. In: Modern Language Review 70 (1975), S. 808–819; Kenneth G. Knight: Die Träume des Simplicius, Philanders und Jan Rebhus. In: Daphnis 5 (1976), S. 267–274; ders.: Grimmelshausen, Beer und die politische Satire: In: Simpliciana 13 (1991), S. 29–46; Siegfried Schneiders: Das Lob des Erasmus bei Grimmelshausen – die Anerkennung seiner Autorität bei Beer. In: Wolfenbütteler Barock-Nachrichten 13 (1986), S. 116–118; Robert Aylett: Alewyn Revisited: Realism in Grimmelshausen and Beer. In: Daphnis 19 (1990), S. 81–104; Walter Busch: Poetischer Experimentalismus und artistische Form. Zur Bedeutung des Monströsen im Werke Johann Beers und Grimmelshausens. In: Simpliciana 13 (1991), S. 363–389; Manfred Kremer: Wirklichkeitsnähe in der Barockliteratur. Zur Gestaltung der Realität bei Grimmelshausen und Johann Beer. In: Simpliciana 13 (1991), S. 143–156; Andreas Solbach: Transgression als Verletzung des Decorum bei Christian Weise, J. J. Chr. v. Grimmelshausen und in Johann Beers ‚Narrenspital‘. In: Writing on the Line. Transgression in Early Modern German Literature/Variationen zur Literatur im Umbruch. Grenzüberschreitungen in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Lynne Tatlock. Amsterdam 1991 (Daphnis 20,1), S. 33–60; Peter Rusterholz: Scherz und Ernst bei Grimmelshausen und Johann Beer. Zur Typologie der Moralisation. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655–1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 327–342. https://doi.org/10.1515/9783110486636-005
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dritten teilen die Romane Beers und Grimmelshausens – darin beide freilich in der Tradition pikarischen Erzählens stehend – das Problem der Unvereinbarkeit von Welterfahrung und überliefertem moralisch-religiösen Wissen, wobei ausgerechnet der irdische Erfolg der Figuren einer Destabilisierung überlieferter „Normengerüst[e]“ Vorschub zu leisten scheint.3 Dass diese Spannung auch in Beers Texten mit einer anhaltenden Beobachtung von Formen ökonomischen Handelns einhergeht, ist in der Forschung zwar bemerkt, bisher jedoch nicht untersucht worden.4 Wie schon Grimmelshausen geht es Beer beim Erzählen von der ökonomischen Aktivität der Figuren nicht darum, aus einer autoritativ gesicherten Diskursposition heraus moralische Normverletzungen zu indizieren. Auf dem Spiel stehen vielmehr einerseits die tradierten moralisch-religiösen Geltungen selbst, die im Zuge einer erfahrungsbasierten Reformulierung ökonomischen Wissens ihre integrative Kraft einbüßen. Andererseits scheint die Beobachtung der Ökonomie bei Beer stets auch als Knotenpunkt für die metapoetische Selbstverständigung der Texte zu fungieren: Die Verlustanzeigen, die diese mit Blick auf einige der mächtigsten Traditionen alteuropäischen Ordnungswissens aufgeben – den Nexus von Tugend und Wohlstand, die Einheit von ökonomischer und providentieller Ordnung, die gottgewollte Invarianz des stratifikatorischen Systems –, provozieren reflexive Diskurse der Erzähler, in denen diese Fragen der Poetik mit Fragen nach dem eigenen ökonomischsozialen Status korrelieren. An diesem Punkt greift Beer Grimmelshausen auf,
3 So mit Bezug auf den Simplicianischen Welt=Kucker Jörg Krämer: Johann Beers Romane. Poetologie, immanente Poetik und Rezeption ‚niederer‘ Texte im späten 17. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1991 (Mikrokosmos 28), S. 133: „Das Normengerüst der Moralisatio-Ebene wird von der Darbietungsstruktur des Textes nicht mitvollzogen. Diese enthüllt eben gerade keine theologische ‚Wahrheit‘, die an den Gesetzmäßigkeiten von Tugendlohn und Sündenstrafe die Allmacht Gottes erwiese, wie es für andere Erzählformen der Zeit signifikant scheint.“ Die Feststellung, dass Moral und Welterfahrung bei Beer auseinandertreten, traf in seiner frühen Untersuchung bereits Hirsch. Vgl. ders.: Bürgertum und Barock im deutschen Roman, S. 31. Sie wurde in der Forschung seither außer von Krämer vor allem von Solbach und Späni aufgegriffen. Vgl. Solbach: Gesellschaftsethik und Romantheorie, bes. S. 260–278; ders.: Johann Beer. Rhetorisches Erzählen zwischen Satire und Utopie. Tübingen 2003; Marc Späni: Poetische Gärtner und phaetonische Himmelsflieger. Formen poetologischer Reflexion im niederen Roman des 17. Jahrhunderts. Bern u. a. 2004 (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700 41), S. 254–279. 4 Einen frühen Hinweis auf die Relevanz der romaninternen Reflexionen über rechte Haushaltung bei Beer gibt Jörg-Jochen Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers. Marburg 1965 (Marburger Beiträge zur Germanistik 9), S. 73. In neuerer Zeit hat Solbach: Johann Beer, S. 381 (hier Anm. 105), angemerkt, dass es Beer bei der Beschreibung adliger Güter um „Praxisnähe“ gehe. Was damit allerdings genau gemeint ist und um welche Praktiken es geht, wird von ihm nicht weiter ausgeführt.
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indem er Grundbesitz, kluge Organisation der häuslichen Verhältnisse, Muße und Erzählen eng zusammenschließt, setzt sich von ihm gleichzeitig aber auch ab, wenn in den Texten Formen der operativen Vernunft verhandelt werden, die erweiterte Rekursareale kameralistischen Wissens in den Blick rücken lassen. Durchaus in greifbarer Nähe zu seinen Generationsgenossen Christian Weise (1642–1708) und Johannes Riemer (1648–1714), die die Mittel der Satire nutzen, um Formen der Weltklugheit zu verhandeln, verweisen Beers Romane immer wieder auf den Zusammenhang von Erfahrung, Klugheit und gelingender Ökonomie. Anders als diese Autoren jedoch entscheidet sich der Weißenfelser, das auf diese Weise in seinen Texten präsente Wissen im Medium pikarischen Erzählens zu transferieren.5 Durch diese Entscheidung, so die These folgender Untersuchung, entstehen in sich gebrochene, (auto-)subversive Narrationen, in denen der im Zeichen von Weltklugheit und Vernunft stehende Diskurs der Picaros zugleich das Eigene und Andere der Ordnung darstellen kann: Die Figuren kommen zu einem Punkt der ökonomischen Etablierung, der die Verhältnisse im simplicianischen Haus an Stabilität und funktionaler Organisation sogar noch übertrifft. Sie schaffen dies aber nur, indem sie die (vermeintlich) gottgewollte Architektur der Welt durchkreuzen oder parasitär unterwandern, wobei die moralsatirische Konvention des Insistierens auf Tugend und Ordnung in ihrem robusten (Erzähl-)Handeln immer wieder selbst dem Lachen preisgegeben wird. Sichtbar wird auf diese Weise nicht nur – wie etwa bei Weise – eine Paradigmensetzung der Texte im Sinne ‚kluger‘ Handlungskonzepte, sondern auch, und vielleicht wichtiger noch, deren latent Unabgegoltenes, das als das Andere von Vernunft und Ordnung in den Erzählungen sein Unwesen treibt. Dies beginnt beim Fundament der Narration selbst: der Erzähl- und Erkenntnisposition der Beer’schen Picaros, die sich selbst in einem paradoxen Zwischenraum zwischen Grund und Ungrund, Strategie und Taktik, Ordnungswissen und Subversion verorten.
5.1 Un/Grund der Dinge: Poetik und Ökonomie bei Beer Für die metapoetischen Diskurse, die sich im Romanwerk Beers finden, ist eine rhetorikfeindliche Grundgeste kennzeichnend, die sich, wie kaum anders zu erwarten, an der schwülstigen Sprache der Ritterromane ebenso abarbeitet 6 wie 5 Auf die Differenz zwischen pikarischem und ‚politischem‘ Roman wird im Schlusskapitel vorliegender Arbeit noch einzugehen sein. 6 Zu Beer und den Ritterromanen vgl. Rosmarie Zeller: Beers ‚Rittergeschichten‘, der ‚Amadis‘ und die Volksbücher. Zur Unterhaltungsliteratur des 17. Jahrhunderts. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655–1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion
5.1 Un/Grund der Dinge: Poetik und Ökonomie bei Beer
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an den weltfernen Logizismen der akademischen Gelehrtenkultur.7 Dem Verdikt gegen den Leerlauf logisch-rhetorischer bzw. prunkvoll-poetischer Rede korrespondiert dabei ein fortgesetzter Reflexionsprozess auf das Verhältnis von Sachen (res) und Wörtern (verba), das Beers Erzähler Jan Rebhu bereits in der Vorrede zum ersten Teil des Welt=Kuckers (1677) als Schlüssel zur Poetik des Werkes anbietet. Wenn er, Rebhu, dem Leser „keinen Ritter Pontus auß Cypern / keinen Stradio Baldo auß America, keinen Schild=Knecht vom Berg Pisai auß Indien, […] keinen Riesen auß Picardia, oder einen verlogenen Keyser Octavianus“ liefere, dann deshalb, weil „was du hierinnen [also im Welt=Kucker, S. Z.] abentheuerliches findest / […] mit der Sach selbsten / wie ein Ermel mit seinem Wammes vereinbaret“ sei.8 Denselben Gedanken äußert Beers CoryloFigur in der Vorrede zum zweiten Teil seiner Lebensgeschichte: „[A]uff die Sachen selbsten“ komme es beim Erzählen an, weshalb er „auff Zierligkeit der Wortt“ keine größere Energie verschwendet habe.9 Und auch am Knotenpunkt des Beer’schen Romanwerkes, der sogenannten Willenhag-Dilogie (1681/82), findet sich das Lob der res wieder. Unter den Figuren, die sich zum Thema äußern, ist es hier zumal der Ludwig der Teutschen Winternächte (1681), der mit seinem beherzten Vortrag über die Nutzlosigkeit gelehrten Wissens die Konfliktlinien der Poetik Beers evident werden lässt.10 Die Opposition, von der er dabei ausgeht, ist die zwischen den „Gelehrten“ und den „Satyri“, deren „Schrifften und andere Romanen […] zu dem menschlichen Leben viel tauglicher und nothwendiger“ seien „als die Logic und alle andere Definitionen“.11 Der Grund hierfür liege darin, dass das akademische Wissen die Empirie der Welt verfehle. Bereits während des Studiums habe er, Ludwig, sich nicht an die Professoren, sondern an diejenigen Bücher gehalten, in denen man „als auf einem Theatro“
in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 377–400; außerdem Krämer: Johann Beers Romane, S. 146–151; Solbach: Johann Beer, bes. S. 9–46. 7 Die Kritik an den Gelehrten entfaltet Beer erstmals im Artlichen Pokazi, der parallel zum Welt=Kucker entsteht und 1679 erscheint. Dazu Solbach: Johann Beer, S. 47–59. Zu Beers Kritik an der Rhetorik außerdem Krämer: Johann Beers Romane, S. 267–280. 8 Johann Beer: Der Simplicianische Welt=Kucker. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. 12 Bde. Bd. 1: Der Simplicianische Welt=Kucker. Bern u. a. 1981, S. 383. Aus den Texten Beers wird im Folgenden nach dieser Ausgabe unter Angabe der Sigle ‚SW‘ (= Sämtliche Werke), der Bandnummer, dem Kurztitel sowie der Seitenzahl zitiert. 9 SW 3: Corylo, S. 99. 10 Zur Ludwig-Figur, die in Beers Doppelroman eine zentrale Rolle spielt (in den Kurtzweiligen Sommer=Tägen dann unter dem Namen Wilhelm von Abstorff), vgl. Solbach: Johann Beer, S. 370 f. 11 SW 7: Winternächte, S. 200.
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sehen könne, „wie es die Welt zu treiben pfleget“.12 Sei er dann in den politischen Händeln seiner Jugend mit „Sachen“ konfrontiert worden, „welche […] in dem Buche begegnet“, habe er sich „eben durch diesen Vortheil heraus[gewickelt]“.13 In seinen weiteren Ausführungen wird allerdings klar, dass die (satirischen) Bücher für Ludwig zwar gewisse Anteile an Welterfahrung verfügbar machen, dies jedoch in so engen Grenzen, dass der in der Welt Handelnde nicht umhin kommt, darüber hinaus eigene Erfahrungen zu machen.14 Als Beispiel für das Scheitern der Bücher an der Aufgabe der Vermittlung validen Weltwissens führt Ludwig die Kunst der rechten Haushaltung an, die man nicht nach abstrakten Definitionen oder Regeln, sondern allein durch eigene Erfahrung erlernen könne: [E]ntgegen will ich flugs einen Eid schweren / wann ich solche Klugheit in der Lection gelernet hätte: dann die Definitionen taugten gar nicht in meinen Kram / und es ist mir jetzt weit ein grösserer Nutze / daß ich weiß / wie und wann man das Feld pflügen / das Korn säen / das Graß schneiden / die Aepffel abschütteln / die Schweine in die Mast thun / die Kälber abnehmen / das Holtz fällen / das Hausgesind regiren / und dergleichen nützliche Sachen thun solle / als wann ich ein grosser Doctor wäre / und meine Scheunen prangen viel herrlicher angefüllet mit Geträid / als mit Büchern.15
Die Gegenüberstellung von Getreide und Büchern bildet den Auftakt für eine im Erstdruck immerhin fünf Duodezseiten umfassende Aufzählung von Gegenstandsbereichen häuslicher Klugheit, die Ludwig bis in die Details der „Trang= Steuren“, „Winckel=Zinsen“, „Erb=Zinsen“, „Haus= und Grund=Steuren“ „Land=Steuren“, „Kopff=Steuren“ „Extraordinar-Steuren“, „Anlagen“, „Aufschläge“, „Dätz“, „Umgeld“, „Gebühr=Fuhren“, „Bitt=Fuhren“, „Kirchen= Dienste“, „Amts=Dienste“, „Fron=Dienste“, Ackermaße („Viertel=Aecker“, „Halbe=Aecker“, „gantze Huffen“) und Wetterlagen („Brenn=Reife“, „starcke Nebel“, „gifftigen Tau“, „früh Tau“, „Georgen Tau“, „Viti Regen“) hinein ausführt. Leitend bleibt dabei der Gedanke, dass die res allein durch Erfahrung erkannt werden könnten, während sie dem Buchgelehrten, der „alle Wissen-
12 Ebd. Unter den zahlreichen Texten, die Ludwigs Literaturkatalog enthält, finden sich unter anderem Grimmelshausens Simplicissimus, Moscheroschs Philander von Sittewalt, Barclays Argenis, „alle Schrifften des sinnreichen Harstörffers“ (ebd.), der Francion Sorels, der Simplicianische Jan Perus, aber auch Schriften von Balde, Masen und Jeremias Drexel. 13 Ebd. 14 Dies wird schon dadurch deutlich, dass Ludwig einschränkt, er sei durch die Bücher nur „ein halber Politicus“ geworden (ebd., Hervorheb. S. Z.). 15 Ebd., S. 200 f.
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schafften des Aristotelis mit Haut und Haar […] gefressen hätte“,16 verborgen blieben: Ich habe mein Tag keine Ordnung eine Oration zu thun / gelernet / aber ich wolte flugs mit einem Gelehrten ex tempore auftretten / und vielleicht mehr res auf die Bahn bringen / als jener Wort. Dann wann mir anietzo ein Gelehrter reden solte vom Acker=Bau / da kommen sie daher mit einem abstrahirten exordio, sie fangen an einen Umschweiff zu suchen / und brauchen unter dem Schein ihrer Gelehrsamkeit einen hauffen Phrases […]. Aber ich mache es schlecht und recht / ich greiffe der Sach geschwind ins Maul / und lauter res, lauter res, rede auch in einer Viertel Stund so viel / als jener in 18. Wochen […].17
Blickt man von diesem Punkt – meiner These nach dem punctum saliens der Poetik Beers18 – auf die Kontexte, die Ludwigs Rede eröffnet, so ergeben sich deutliche Parallelen zum ökonomischen Diskurs der Zeit. Gegen die künstliche „Ordnung der Oration“ (Ludwig) und für unbedingte Sachbezüglichkeit werben in ihren Schriften nicht nur etwa Schupp bzw., vor ihm, die Autoren der realienwissenschaftlichen Bewegung im deutschsprachigen Raum (u. a. Christoph Helwig, Wolfgang Ratke, Andreas Reyher). Auch der wohl einflussreichste Traktat der deutschen Kameralistik vor 1700, Veit Ludwig von Seckendorffs Teutscher Fürsten=Stat (erste Ausgabe 1656), besteht auf der Empirizität seiner Darstellungsweise. Die drei Argumente, die der Gothaer und Zeitzer Hof- und Geheimrat dabei liefert, um die nicht-schulmäßige Anlage seines „Stylus“ und seiner „Disposition“ zu rechtfertigen, finden sich in den poetologischen Reden der Figuren Beers in nahezu wortgleichen Formulierungen wieder.19 Erstens be-
16 Ebd., S. 202. 17 Ebd., S. 201. In ihrer geradezu an Büchners Lenz erinnernden Redundanz und Brüchigkeit („ich greiffe der Sach geschwind ins Maul / und lauter res, lauter res, rede auch in einer Viertel Stund so viel / als jener in 18. Wochen […].“) performiert Ludwigs Rede eine Rhetorik der AntiRhetorik: Die ökonomischen res fügen sich nicht in den Fluss der Worte, sie stehen vielmehr heraus, was die in der Frühen Neuzeit virulente Frage nach ihrer Diskursivierbarkeit aufwirft. 18 So auch schon Krämer: Johann Beers Romane, S. 268 f. 19 Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher Fürsten=Stat / Oder Gründliche und kurtze Beschreibung / Welcher Gestalt Fürstenthümer / Graff= und Herrschafften im H. Römischen Reich Teutscher Nation [...] von Rechts- unnd löblicher Gewonheit wegen beschaffen zu seyn/ Regieret/ mit Ordnungen und Satzungen/ Geheimen und Justitz Cantzeleyen/ Consistoriis und andern hohen und niedern Gerichts-Instantien, Aemptern und Diensten/ verfasset und versehen/ auch wie deroselben Cammer- und Hoffsachen bestellt zu werden pflegen […]. Hanau: Johann Aubry, Frankfurt a. M.: Thomas Matthias Götze 1656, fol. )( )(ijr (Vorrede an den Günstigen Leser). Da die Erfahrungsbasiertheit der Ökonomie (und der Politik) seit der Antike einen festen Topos darstellt, muss die punktuelle Nähe zwischen Beers Romanen und Seckendorffs Traktat nicht bedeuten, dass gerade dieser Text Beer tatsächlich vor Augen stand. Unwahrscheinlich ist es aber nicht. Wie einer historischen Bestandsliste zu entnehmen ist, war
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merkt Seckendorff im Gestus des dauerbeschäftigten Practicus, dass er zum Schreiben neben seinen „tägliche[n] Ampts= vnd Privatgeschäften“ wenig Zeit gehabt habe und daher der Sprache „wenig Betrachtung vnd Fürsorge“ habe widmen können20 – ein Argument, das auch bei Beer zu finden ist, wenn er im Widmungsgedicht der Winternächte bemerkt, seine Erzählung habe „den Schein der Zierlichkeit verlohren“, da ihr „Bau in finstern Nächten“ errichtet worden sei.21 Das zweite Argument Seckendorffs betrifft die Rezeptionsseite. Demnach verdanke sich die Wahl der exoterischen Vermittlungsweise, d. h. „eines freyen vnnd aneinander hengenden Discursus“, der auf „weitläuffige zergliedernde Erklärung“ verzichtet, dem Ziel, insgesamt „mehr Personen“, vor allem aber solche zu erreichen, „welche sich nicht eben vnter die Gelehrten rechnen“.22 Auch dieses Argument kommt dem Beer-Leser vertraut vor. In der Vorrede zu den Kurtzweiligen Sommer=Tägen (1682) rechtfertigt der Erzähler Wolffgang von Willenhag seinen Verzicht auf „zierliche[ ] Beredsamkeit“ damit,
Seckendorffs Traktat in der Abteilung ‚Libri Politici Miscellanei‘ der Weißenfelser Fürstenbibliothek greifbar und konnte, wie viele weitere Schriften der ökonomischen und politischen Literatur des späten 17. Jahrhunderts vom Weißenfelser Hofmusiker und späteren Hofbibliothekar (ab 1697) Beer studiert werden. Vgl. Roswitha Jacobsen: Zu Geschichte und Bestand zweier aufgelöster Weißenfelser Bibliotheken des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Stadt und Literatur im deutschen Sprachraum der frühen Neuzeit. 2 Bde. Hg. von Klaus Garber. Bd. 1. Tübingen 1998 (Frühe Neuzeit 39), S. 616–634, hier S. 632 f. Dass darüber hinausgehende Verbindungen zwischen Beer und Seckendorff (1626–1692) bestanden haben mögen, ist angesichts des Wirkens Seckendorffs in Sachsen-Gotha und Sachsen-Zeitz nicht völlig ausgeschlossen, wenngleich – schon aufgrund der Standesunterschiede beider Autoren – wenig wahrscheinlich. Als sicher kann indes gelten, dass Seckendorffs Ruf als erster Autor der Kameralwissenschaft in Beers Weißenfelser Umfeld durchaus verbreitet gewesen sein und dazu beigetragen haben dürfte, dass Beer die Schriften des Gothaer und Zeitzer Hof- und Geheimrates genau rezipiert hat. Zu Seckendorffs Wirken im sächsischen Raum vgl. Roswitha Jacobsen: Die Brüder Seckendorff und ihre Beziehungen zu Sachsen-Gotha. In: Ernst der Fromme (1601–1675). Staatsmann und Reformer. Hg. von Roswitha Jacobsen, Hans-Jörg Ruge. Bucha bei Jena 2002 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 39), S. 95–120. 20 Seckendorff: Fürsten=Stat, fol. )( )( iijl (Vorrede an den Günstigen Leser). 21 SW 7: Winternächte, S. 10 (Der Author / an sein Buch.). Ganz ähnlich äußert sich der Erzähler Zendorio am Ende des IV. Buches (ebd., S. 225), wobei er auf die Trennung von Leben und Rhetorik insistiert: „Ob auch jemand sagte: daß keine Zierlichkeit der Worte hierinnen anzutreffen; so ist zu wissen / daß ich diese Schrifft an einer langen Zeit=Ele nicht ausmessen können / und ich sie meistens zu Nachts=Zeit ausgearbeitet / dahero sich nicht zu verwundern / daß kein Glantz einer Beredtsamkeit darinnen anzutreffen. Ich habe dardurch des Menschen Leben / und nicht seine Beredsamkeit / zu unterrichten / gesuchet / deren ich selbsten unerfahren bin.“ Dass das Motiv des Schreibens in den nächtlichen (bzw. winterlichen und sommerlichen) Mußestunden in Zusammenhang mit Beers Poetik der Kurzweiligkeit zu sehen ist, ist an dieser Stelle bereits zu erwähnen. Auf diesen Aspekt wird im Abschnitt 5.2 genauer einzugehen sein. 22 Seckendorff: Fürsten=Stat, fol. )( )( iijl (Vorrede an den Günstigen Leser).
5.1 Un/Grund der Dinge: Poetik und Ökonomie bei Beer
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dass seine „Histori“ nur so „von allen kan verstanden werden“.23 Von besonderer Relevanz für Beers Poetik scheint schließlich Seckendorffs drittes Argument, das das rechte Verhältnis von Darstellung und Gegenstand behandelt. Sein Buch, so Seckendorff, folge nicht einer künstlichen, sondern der natürlichen Ordnung der Dinge und bereite die Sachen demgemäß so auf, wie sie dem Handelnden in der Welt tatsächlich begegneten („wiewol auch die Materi also beschaffen daß man sie mehr auß Erfahrung / alß auß den Büchern suchen müssen“): [E]ndlich aber was die Ordnung belangt [habe ich] mich nach der Anweisung derer Natur vnnd der Sache selbst / wie sie sich nicht eben nach künstlicher Außdenckung vnd Eintheilung / sondern nach dem Handgrieff vnnd eusserlichen Vmbständen ergeben / vnnd dißmahls die eigentliche Regeln der Schulen / in etwas zurück gesetzet.24
Wenn in Beers Erzählungen, wie Solbach bemerkt, „die so oft beschworene Äquivalenz von res und verba“ im „Erleben des Helden“ realisiert werden soll,25 so impliziert dies aufseiten des Erzählens eine (vermeintliche) Natürlichkeit des Diskurses, dessen Verlauf durch keine rhetorische Strategie, sondern durch die erlebten Dinge selbst bestimmt sein soll.26 Er sei, so bemerkt Jan Rebhu, der Erzähler des Welt=Kuckers, beim Verfassen des Buchs ganz „der Freyheit [s]einer Natur gefolget“.27 Dass Freiheit hier nicht nur Missachtung der „eigentliche[n] Regeln der Schulen“ (Seckendorff) heißt, sondern darüber hinaus auf das von moralischen Bedenken umstellte Leitprinzip des pikarischen Lebens rekurriert, macht Rebhus Formulierung schon deutlich: Die Freiheit der Figuren Beers korreliert mit bzw. resultiert aus ihrem weltklugen Handeln, dessen Dar-
23 SW 8: Sommer=Täge, S. 10 (Nothwendiger Unterricht / und allgemeiner Eingang zur folgenden Histori). 24 Seckendorff: Fürsten=Stat, fol. )( )( iijl (Vorrede an den Günstigen Leser). 25 Solbach: Johann Beer, S. 338. 26 In der Analyse sollte man dem Natürlichkeitspostulat der Texte freilich nicht auf den Leim gehen. Wie der inkriminierte ‚zierliche‘, so stellt auch der ‚naturale‘ Erzählmodus ein Produkt diskursiver Verfahren dar, die nach rhetorischen (Kunst-)Regeln organisiert sind. Zum Verhältnis von offener und dissimulierter Rhetorik bei Beer vgl. Andreas Keller: ‚Confuse‘ oder ‚artige‘ Ordnung? Zum Spannungsverhältnis von forensischer Disposition und adressatenorientierter Dissimulation der oratischen Kunst bei Johann Beer am Beispiel der ‚Weiber=Hächel‘ (1680). In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655–1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, HansGert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 517–573. 27 SW 1: Welt=Kucker, S. 295. Wie bei Seckendorff führt die „Freyheit“ der Rede bei Jan Rebhu dazu, „daß ich mit meine [sic!] Feder das Papier schnell hindurch geloffen / und mich nicht viel besonnen / welches füglicher / oder welches besser lautete“ (ebd).
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stellung im Lebenslauf einen Diskurs voraussetzt, der dem ordo naturalis als Prinzip einer von Künstlichkeit befreiten Rede folgt.28 Lassen sich die poetologischen Einlassungen der Figuren damit in einen einigermaßen klar umrissenen Diskurskontext einordnen, so besteht die Pointe der Beer’schen Picaro-Romane freilich gerade darin, die Funktionalität dieser Selbstverortung selbst wiederum infrage zu stellen. Dies geschieht durch die gezielte satirische Ambiguisierung der Elemente, die die Differenz zum gelehrten Diskurs eigentlich ausmachen sollen. Wenn Ludwig demnach einerseits seine Abstinenz von jeglicher „Lection“ beteuert, andererseits in einer nicht enden wollenden Aufzählung die quantitativen Momente ökonomischen Wissens präsentiert, führt er – absichtlich oder nicht – vor, dass der von ihm gewählte praktische Weltzugang im Moment seiner Diskursivierung selbst ins rein Formale abzudriften droht. Ironisch ist das im Kontext, weil die möglichst detaillierte Erfassung der einzelnen Bestandteile der Ökonomie in zeitgenössischen Traktaten als Vorzug des praktischen Diskurses gegenüber dem – auch von Ludwig abgelehnten – Systemzwang des aristotelischen Schulwissens ausgegeben wird. Da „die durch Erfahrniß hier gesetzte Reguln und Anmerckungen nicht füglich anders woher können gelernet werden“, so heißt es beispielsweise in Johann Wilhelm Wündschs Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum (erstmals 1669), und man uff hohen Schulen nicht solche particularitäten und sonderbahre Stücke eines ieden Dinges / sondern meistentheils die Sachen in generali suo oder in ihrer Gemeinheit beschauet und beybringet. Ja ich will ungescheuet sagen / daß man die heutige Art und Kunst Hauß zu halten besser auß diesem Buche / als auß allen sonst unverwerfflichen Büchern / die von der Oeconomia geschrieben / deß Weltweisen Aristotelis begreiffen kann.29
28 Daran, dass die Romane gemäß pikarischer Tradition auf das Strukturmuster der Lebensschreibung rekurrieren, lassen die Titelblätter keinen Zweifel. In den im Folgenden zu betrachtenden Texten tauchen entsprechende Signalbegriffe auf: „Lauff seines geführten Lebens“ (Welt=Kucker), „Geschicht des Corylo“ (Corylo), „Lebens-Beschreibung“ (Jucundus Jucundissimus) und „Lebens=Geschicht“ (Winternächte). Zum Lebenslauf als Strukturmuster bei Beer vgl. Krämer: Romane, S. 119–127. Auf die naturale, nach der Erfahrung des Helden geordnete Struktur des Erzählens Beers weist bereits Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 37, hin: „Der Willenhag-Erzähler nutzt seine Macht nur in sehr geringem Maße. Er bewerkstelligt keine gewaltsamen Umstellungen von objektiv Ereignishaftem, sondern folgt der Sukzession der subjektiven Erfahrensweise.“ 29 Johann Wilhelm Wündsch: Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum, Das ist Kurtze doch nützliche und außführliche Unterrichtung Eines Haushaltischen Beambten und Hoffbedienten / Wie er sich in seinem Ambte dem Stylo Chür= und Fürstl. Aembter gemäß / in allen Puncten und Clausuln verhalten / das Ambt wol dirigiren und anordnen soll […]. Leipzig 1669, fol. ):( iiijl–r (Vorrede an den Leser).
5.1 Un/Grund der Dinge: Poetik und Ökonomie bei Beer
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Im Zitat tritt das Paradox der Diskursivierung von Erfahrungswissen deutlich hervor, wenn Wündsch behauptet, die „durch Erfahrniß hier gesetzte Reguln“ könnten „nicht füglich anders woher [...] gelernet werden“ als aus seinem (angeblich) diesseits der buchgelehrten Tradition stehenden Buch. Verstärkt wird der inszenierte Traditionsbruch dabei noch dadurch, dass Wündsch seinen Anti-Aristotelismus im Anschluss bis zu dem Punkt treibt, an dem Ökonomie und Chrematistik buchstäblich ineinanderfallen. Der Leser, so heißt es im Memoriale weiter, solle sich dieses Buches glückselig [gebrauchen] / daß er dadurch reich und wol begütert oder ja in erhaltenem Wolseyn behalten werde und bleibe / auff welche Chrematisticam doch pfleget in allen Haußhaltungen als auff einen Endzweck gesehen zu werden […].30
Die Kopplung des Erfahrungsparadigmas an ein genuin chrematistisches Verständnis der Ökonomie, wie Beer sie im seinerzeit populären Ratgebertext für höfische Beamte finden konnte, spiegelt sich in Ludwigs Diskurs ihrerseits ironisch wider. In seiner Rede zerfällt das Haus in eine Menge monetärer Bewegungen, wobei die behauptete Nähe zur Erfahrungswelt der Bauern durch die Aufführung der Zinsen und Steuern als Ertragsgaranten des adligen Gutsbesitzers tendenziell konterkariert wird. In dieser Hinsicht impliziert die Ersetzung des Reichtums an nutzlosen Büchern durch die herrschaftlich angeeigneten Produkte ökonomischer Arbeit („meine Scheunen prangen viel herrlicher angefüllet mit Geträid / als mit Büchern“) beim „Skopticus“ Ludwig31 nicht nur eine – moralisch zweifelhafte – Deregulierung von Eigennutz und Gewinnstreben. Auch bleibt sie an die (unterstellte) dysfunktionale Logik des gelehrten Diskurses insofern gebunden, als sie dessen Tendenz zur Anhäufung als Selbstzweck teilt: Wenn Ludwig prahlt, im Gespräch mit einem Gelehrten „vielleicht mehr res auf die Bahn [zu] bringen / als jener Wort“, stellt er die postulierte Differenz der Wissenstypen auf struktureller Ebene selbst wiederum infrage. Unterhalb der rhetorischen Ebene erweist sich der angeblich von „lauter res, lauter res“ erfüllte Diskurs der Figur als mit erheblichen moralischen und konzeptuellen Zweifeln behaftet. Vor diesem Hintergrund bieten sich für die von der Forschung festgestellte Tendenz der Romane Beers zum epistemologischen Relativismus weiterführende Deutungsmöglichkeiten. Demnach geht es in den Texten nicht nur um die – für pikarisches Erzählen ohnehin typische – „perspektivische Brechung“ des
30 Ebd., fol. ):( iiijr. 31 Zur Figur des klugen Spötters bei Beer vgl. Solbach: Johann Beer, S. 370 f.
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Erzählten.32 Vielmehr spielen sie darüber hinaus mit wiederkehrenden Denkfiguren des Ökonomisch-Materiellen, die für die Selbstbeobachtung des Erzählens deshalb so relevant sind, weil sie zum Konzept des freien, naturalen Diskurses und der Erfahrung in einem zugleich komplementären wie subversiven Verhältnis stehen. Paradigmatisch zeigen lässt sich dies an der doppelten Codierung dessen, was in den Texten selbst als ‚Grund‘ des Erzählens angesprochen wird. Dies geschieht zunächst in einem genuin erkenntnistheoretischen Sinn, wobei die Einlassungen der Figuren von einem philosophischen Rechtfertigungsdruck zu zeugen scheinen, wie er etwa auch für Beers musiktheoretisches Werk kennzeichnend ist. Es sei auf dieses daher hier ein kurzer Seitenblick gestattet: In seinen Musicalischen Discursen gibt sich Beer als Praktikus zu erkennen, der die musikalischen „Terminos“ „nicht definitive, sondern discursive“ verhandelt, zugleich jedoch reklamiert er – ganz im Sinne frühaufklärerischer Vernunftkultur – die theoretische Beurteilung von Musik „aus dem Grund des Verstandes“ als letzthin überlegene Methode.33 In der Welt, so Beer als Musikologe, könne „nichts ohne seinem Fundament bestehen“: Ein Gebäude möchte über der Erde noch so zierlich und ausgekünstelt und mit Stocatur= Arbeit versehen werden / im Fall es an dem guten Fundament mangelte / so wäre die Arbeit nichts und eitel / müste endlich fallen / und könte in die Länge keinen Bestand haben.34
32 So die Feststellung bei Peter Strohschneider: Zeit Tod Erzählen. Ansichten der ‚Teutschen Winter=Nächte‘ Johann Beers vor der Tradition des Novellare. In: Mittelalterliche Denk- und Schreibmodelle in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. von Wolfgang Harms, JeanMarie Valentin. Amsterdam, Atlanta 1993 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 16), S. 269–300, hier S. 286. 33 Vgl. Johann Beer: Musicalische Discurse durch die Principia der Philosophie deducirt, und in gewisse Capitel eingetheilt, Deren Innhalt nach der Vorrede zu finden. Nebst einem Anhang von eben diesem Autore, genannt der Musicalische Krieg zwischen der Composition und der Harmonie. Nürnberg: Peter Conrad Monath 1719, fol. )( 4v. Hier zitiert nach SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 291 und 345. 34 Ebd., S. 342 f. Zur Musiktheorie Beers liegen exzellente Aufsätze Achermanns und Wirtz’ vor. Vgl. Eric Achermann: Zahl und Ohr. Musiktheorie und musikalisches Urteil bei Johann Beer. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655–1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 255–275; Irmgard Wirtz: Musikauffassung und Poetik bei Johann Beer. In: Beer. 1655–1700. Hofmusiker. Satiriker. Anonymus. Eine Karriere zwischen Bürgertum und Hof. Hg. von Andreas Brandtner, Wolfgang Neuber. Wien 2000, S. 147–176. Außerdem instruktiv Michael Heinemann: Stil und Polemik. Zur Musikanschauung von Johann Beer. In: ebd., S. 117–145; ders.: Die Würde der Musik. Zur Auseinandersetzung zwischen Johann Beer und Wolfgang Caspar Printz. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655–1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 305–327.
5.1 Un/Grund der Dinge: Poetik und Ökonomie bei Beer
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Wo in Beers Musiktheorie damit schließlich die Deduzierbarkeit des Wissens „durch die Principia der Philosophie“ 35 postuliert wird, bleibt im pikarischen Kontext das Verhältnis von Erfahrung, Wissen und Diskurs unsicher. Wie vor ihm schon Corylo und nach ihm noch Wolffgang bemerkt Zendorio in den Winternächten, dass er „[a]lles“, worüber „in diesem Buche discurriret“ werde, „nicht [...] vor einen unbeweglichen Grund“ ausgebe, „sondern nur / als gewisse Meinungen / die ich von den jenigen Sachen halte / von welchen ich geredet“.36 Als ehrliche Demutsgeste gelesen, scheint sich diese Formulierung in das auf musiktheoretischer Ebene geltende Muster prima facie zu fügen: Der Picaro sieht ein, dass er seine sinnlichen Erfahrungen nicht in die Form einer auf dem „Grund des Verstandes“ fußenden epistemischen Struktur bringen kann, und reklamiert für sie daher, gut platonisch, nicht mehr als den Status der ‚gewissen Meinung‘.37 Eine solche Lektüre freilich übersieht die Ironie hinter der philosophischen Zurückhaltung Zendorios (und der anderen Figuren) und damit auch die eigentliche Kerndifferenz von musiktheoretischem und pikarischem Text. Sie zeichnet sich schon darin ab, dass Zendorio der Gewissheit seiner Meinungen offenbar selbst nicht ganz traut, stellt er es dem Leser im Folgenden doch frei, über das Buch zu denken, was er wolle: „Darum vergönne ich auch einem jeden / dieses Buch nach seinem Gutdünken auszulegen [...].“ 38 Vor allem aber liegt die Ironie in der Tatsache, dass die Einsicht in die epistemische Grundlosigkeit des Diskurses von Zendorio (und den anderen Figuren) aus der Position größtmöglicher materieller Absicherung geäußert wird: Die Beer’schen
35 So die Formulierung im Titel der zitierten Schrift. Ob der Zusatz von Beer selbst stammt oder dem postumen Herausgeber zuzuschreiben ist, muss offen bleiben. Beers Musicalische Discurse werden erst 1719 veröffentlicht, es könnten zur besseren Vermarktung hier also auch Signalbegriffe einer anderen, historisch jüngeren Wissenskonstellation hinzugetan worden sein. 36 SW 7: Winternächte, S. 225. Corylo betont – werkchronologisch einige Jahre früher schon –, dass er die „Discurs“ seiner Lebenserzählung nicht „vor unbewegliche Lehr-Sätze“ verstanden wissen wolle, da er nicht „als ein Scholasticus, sondern als ein Satyr auff die Land-Strassen“ daher komme. SW 3: Corylo, S. 97. Zendorios alter ego Wolffgang versichert in den Sommer= Tägen schließlich: „Was ich discurrire / gebe ich vor keine allgemeine Lebens=Regeln aus / sondern nur vor gewisse Meinungen / die damalen unter uns vorgelauffen sind.“ SW 8: Sommer=Täge, S. 9. 37 Zur alēthēs doxa als Wissen auf Basis sinnlicher Erfahrung vgl. Platons Theaitetos (201c7– 210b3). Dazu die Erläuterungen bei Gustav Adolf Seeck: Platons Theaitetos: Ein kritischer Kommentar. München 2010 (Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft 137), S. 133. 38 SW 7: Winternächte, S. 225. Zu dieser Formulierung bereits Strohschneider: Zeit Tod Erzählen, S. 286 (Anm. 43), der hier eine „Konkurrenz der Interpretationen“ poetologisch bereits antizipiert sieht.
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Picaros wissen ihren Grund und Boden sicher unter sich und verfügen damit über ein Fundament des Handelns und Erzählens, von dem aus die GrundMetaphern des gelehrten Diskurses als sachferne Denk- und Sprachkonstruktionen diskriminiert werden können. Offen zutage tritt dieser Subtext wiederum in den Ausführungen Ludwigs. In dessen Angriff auf das Buchwissen der Gelehrten werden diese als unproduktive Geister gegeißelt, die in ihrer Eitelkeit übersähen, dass es die Bauern seien, die mit ihrer Arbeit das Spekulieren an den Akademien erst ermöglichten: „[D]ann ackerte der Bauersmann nicht / so würde der Doctor in der Schule wenig zu essen bekommen / ist also der Bauer als ein Principium und causa sine qua non zu respectiren und in acht zu nehmen.“ 39 Metonymisch für den Früchte bringenden Ackerboden stehend, repräsentiert der Bauer für Ludwig die Produktivität des Grunds (als fundus), die der gelehrten Suche nach causa, principium und ratio mit polemischer Verve gegenübergestellt wird. Dass diese Ausrichtung des Wissens am bäuerlichen Praktiker dabei ihrerseits brüchig –wenn nicht gar heuchlerisch – ist, da sie die strukturelle Ähnlichkeit von literaler Wort- und herrschaftlicher Güterhäufung ebenso unterschlägt wie das Problem der Diskursivierbarkeit der res, wurde oben bereits betont. Durch das bei Beer geradezu serienmäßige Motiv der Verwandlung des Picaro in einen „guten“, d. h. reichen „Hauß-Wirth“ 40 lösen sich die Spannungen zwischen Grund und Ungrund des Erzählens offenbar gerade nicht auf. Im Gegenteil scheint die ökonomische Territorialisierung der Figuren die subversive Tendenz ihrer Diskurse erst eigentlich auszulösen. Auf dieses spezifische Funktionsprinzip der Romane Beers sei im Folgenden das Augenmerk gerichtet.
5.2 Postpikarisches Erzählen: Beers Picaros und der adlige Besitz Die Forschung hat bereits mit Berns’ Studie zu den Willenhag-Romanen auf die Konzentration der Erzählungen auf „zwei nach Herkunft, Besitz und demnach Unabhängigkeit zu unterscheidende Personengruppen“ hingewiesen, die in immer neuen Figurationen in den Texten auftauchen: „Da ist einmal der Kreis seßhafter, begüterter Landadliger und zum andern eine riesige Schar besitzloser, unsteter Menschen, die keine feste Wohnstatt haben und meist nur kurze Zeit auf den Gütern der Landadligen Unterschlupf finden.“ 41 Dass diese Dualität
39 Ebd., S. 202. 40 Ebd. 41 Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 71.
5.2 Postpikarisches Erzählen: Beers Picaros und der adlige Besitz
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des Personals den figuralen Reichtum der Romane Grimmelshausens bei Weitem untertrifft, braucht kaum der Erwähnung.42 Umso signifikanter freilich erscheint die Grenze, um die herum sich das Figurenschema bei Beer anordnet. Zu bemerken ist hier zunächst, dass dasselbe von traditionellen Mustern stratifikatorischer Ordnung deutlich abweicht.43 Dies betrifft an erster Stelle die Lebensläufe der Erzählerfiguren selbst, die – im Corylo, dem Jucundus und auch in der Willenhag-Dilogie – als junge Männer aus der Gruppe der Fahrenden in die Gruppe der Landadligen ‚aufsteigen‘.44 Wie Berns bemerkt hat, ist dieser „Wechsel von der ‚unteren‘ Schicht in die Adelsschicht“ 45 in den Texten, anders als zunächst wohl zu erwarten, nicht mit einer Konfrontation moralischer, ästhetischer oder sozialer Normen verbunden. Vielmehr impliziert er bei näherem Hinsehen ausschließlich materielle Statusunterschiede. „Wie also die Landadeligen nach Lebensstandard und Temperament von anderen sozialen Gruppen nicht wesentlich sich unterscheiden, so sind sie auch in moralischer Hinsicht kaum irgendwie ausgezeichnet.“ 46 Und weiter: Aus all dem bisher Gesagten läßt sich schließlich folgern, daß Beer nicht etwa deshalb die Hauptfiguren seiner Willenhag-Romane als Adelige darstellt, weil er ein Anhänger und Verfechter der Prädestinationsideologie gewesen wäre und demnach im Adel ein sittlichcharakterliches Optimum gesehen hätte, sondern allein deshalb, weil dieser Stand einen Lebensstatus hatte, der eine relative Autarkie und Autonomie gewährleistete.47
Erst aufgrund der Autonomie, die der adlige Besitz ihnen bietet, kommen die Figuren in die Lage, aus gesicherter Existenz heraus zu erzählen.48 Dies hängt,
42 Man wird bei Beer nach besonders komplexen Figuren wie Simplicissimus, Courasche oder auch Springinsfeld lange suchen. Allenfalls Jan Rebhu, die Hauptfigur des pikarischen Erstlings Beers, scheint in der Anlage am simplicianischen Figurenkonzept orientiert. Durchgehalten wird das aber auch hier schon nicht. Immer wieder ‚verflacht‘ die Figur und tritt soweit hinter die abenteuerliche Handlung zurück, dass der Text den frühen Picaro-Romanen schließlich doch näher zu sein scheint als den hybriden Pikaresken Grimmelshausens. 43 Dazu schon Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 75–79. 44 Der Begriff des Aufstieges ist hier in Anführung zu setzen, da Beer das Muster variiert. Der Erzähler der Willenhag-Dilogie, Zendorio-Wolffgang, ist nicht mehr, wie seine Vorgänger Jan Rebhu, Corylo und Jucundus, Kind nicht-adliger Eltern, vielmehr stellt sich heraus, dass er adliger Abstammung ist – was ihm den Zugang zum geselligen Bund der Willenhag-Adligen ermöglicht. Auf diese Variation und ihre Bedeutung für die Statik der erzählten Welten wird unten noch genauer einzugehen sein. 45 Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 78. 46 Ebd. 47 Ebd., S. 79. 48 Ganz ähnlich, wenngleich auf Beers eigene Situation bezogen, betont auch Solbach: Johann Beer, S. 152, dass sich „Beers Sehnsucht nach der Adelsidylle […] nicht primär auf den
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wie Strohschneider gezeigt hat, mit der Poetik der Texte aufs engste zusammen. Denn mit der „Betonung der Zeitvertreibungsfunktion“ des Erzählens, die in den Vorreden und poetologischen Digressionen der Erzählerfiguren gebetsmühlenartig wiederholt wird, erinnern die Romane daran, dass „Aristokratie […] auch von der Kategorie der Zeit her gefaßt werden kann. Adlig sind diejenigen, welche die Zeit haben, sie zu vertreiben.“ 49 Es ergibt sich damit eine interessante Verknüpfung der beiden Grundelemente Beer’scher Poetik. Die Fixierung auf den materiellen „Grund“ des Erzählens, den (Adels-)Besitz, impliziert die oben aufgezeigte Hinwendung zu den ökonomischen res, stellt zugleich jedoch die Voraussetzung dafür dar, dass den Figuren das Medium des Erzählens, die Zeit, in ausreichendem Maße zur Verfügung steht. Ökonomischer und literarischer Nutzen erscheinen bei Beer ineinander verklammert. Nur wo Besitz vorhanden ist, kann auch erzählt werden. Von dieser Seite her betrachtet, überrascht es, dass die Forschung den ökonomischen Implikationen der Texte bisher keine größere Aufmerksamkeit gewidmet hat. Sowohl Berns als auch Solbach, die den Voraussetzungen einer solchen Analyse am nächsten kommen, vertreten die These, dass der Wohlstand der Figuren, der mit ihrer „Nobilitierung“ 50 einhergeht, märchenhafte Züge trage – was von beiden Autoren als Hinweis auf unterdrückte Aufstiegsfantasien des bürgerlichen Hofmusikers Beer verstanden wird.51 Übersehen wird dabei freilich, dass Beer seinen Figuren nicht nur die typisch attraktive Affektstruktur, sondern auch eine spezifische Form der Klugheit einschreibt, die sie dazu prädestiniert, in der sozialen Hierarchie aufzusteigen. Dies wird in den Romanen vor der Willenhag-Dilogie besonders deutlich. Corylo etwa, Kind armer Bauern, verwaltet die häuslichen Angelegenheiten seines adligen Herrn
Stand bezieht, sondern auf die materielle Sicherheit, die er allerdings nolens volens mit der Adelsexistenz assoziiert.“ 49 Strohschneider: Zeit Tod Erzählen, S. 294. 50 Diesen Begriff setzt Kremer gegen Arnold Hirschs These von der ‚Verbürgerlichung‘ des Schelmen bei Beer. Manfred Kremer: Vom Pikaro zum Landadligen: Johann Beers ‚Jucundus Jucundissimus‘. In: Der deutsche Schelmenroman im europäischen Kontext: Rezeption, Interpretation, Bibliographie. Hg. von Gerhart Hoffmeister. Amsterdam 1987 (Chloe 5), S. 113–126, hier S. 123. Auf die Thesen Hirschs wird im abschließenden Kapitel noch einzugehen sein. 51 So Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 79: „Beer hat wohl auch sein eigenes Gesellschafts- und Lebensideal in diesen Adel projiziert; und im Eifer dieser Projektion erhält seine dargestellte Gesellschaftswelt, wenn so märchenhaft leicht alle Schranken verwischt oder übersprungen werden, mitunter auch utopische Züge.“ Ähnlich Solbach: Johann Beer, S. 381 (Anm. 105), der von „romanhaftem Reichtum“ der Figuren spricht und diesen fragwürdigerweise mit Sehnsüchten des empirischen Autors Beer erklärt.
5.2 Postpikarisches Erzählen: Beers Picaros und der adlige Besitz
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so, dass dieser ihm bald die Stelle eines Hofmeisters anbietet.52 Ganz ähnlich geht es seinem Standesgenossen Jucundus, der als Jüngling in die Obhut einer adligen Dame kommt, deren Hofmeister wird und schließlich, zum Alleinerben eingesetzt, seinen Aufstieg in eine adlige Existenz erlebt. Die beweglichen Figuren der früheren Romane tauchen damit wiederholt an einer Stelle in den Haushalten ihrer Herren auf, die von der Fachliteratur der Zeit mit besonderer Aufmerksamkeit beobachtet wird. Als Verwalter und Hofmeister begegnet hier ein Typus, der die Last der operativen Aufrechterhaltung des ökonomischen Systems zu tragen hat und dafür eine Fülle an Wissen und praktischen Kompetenzen benötigt. Einen guten Eindruck davon gibt das bereits erwähnte Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum Johann Wilhelm Wündschs – eine Schrift, die in Beers näherem sächsischen Umfeld entsteht und sich per Titel direkt an die „Haußhaltischen Beambten und Hoffbedienten“ richtet.53 Diese Zielgruppenbestimmung impliziert ein soziales Aufstiegsversprechen, das die Karrieren von Figuren wie Corylo und Jucundus auf den ersten Blick zu bestätigen scheinen. In der Vorrede adressiert Wündsch sein Buch an all diejenigen, „so dermal eins bey fürnehmen Herren zur Verwaltung ihrer Höfe und Häuser befördert [!] zu werden gedencken (darzu es manchem Studenten / nicht nur allein Schreiberey=Bedienten gedeihet)“.54 Trotz dieser Einladung sieht Wündsch die Motive der standesfremden Karrieristen keineswegs durchweg positiv. Die vertikale Dynamik, die dem beruflichen Streben der Verwaltungs- und Hofbeamten eignet, entfaltet sich im Memoriale vielmehr in einem Spannungsfeld, in dem die Notwendigkeit funktionaler Optimierung adliger Ökonomien und die Gefahr ihrer Unterwanderung durch parasitäre Subjekte die beiden Pole besetzen. Außer Zweifel steht für das Memoriale, dass jeder adlige Herr auf professionelle Verwalter zurückgreifen muss, die eben aus der Menge der „Studenten“ und „Schreiberey=Bedienten“ – also einer der beson-
52 Der junge Edelmann versucht, den zum Aufbruch geneigten Corylo bei sich zu halten, indem er ihm eine Stelle als „Haußmeister der Vorwercke“ anbietet (SW 3: Corylo, S. 84). Später dann plant Corylo zurückzukehren, um die Stelle als „Hoffmeister“ anzutreten (ebd., S. 166). Zwischen beiden Episoden liegt die Zeit Corylos beim Pariser Kaufmann, in der er sich als ökonomisches Faktotum bewährt: „Nebenst meiner Buchhalterey informirte ich auch des Kauffmans Kinder im lesen / schreiben rechnen und tantzen / denn es war mir gar keine Arbeit zugeringe / dero ich mich nicht in genemhaltung meines vorigen Zustandes / alsobalden und mit Freuden unterworffen hette; Ich sahe in dem Hauße hin und wieder / wo ich meine Dienste leisten konte / und unterließe nicht die geringste Gelegenheit zuzeigen / daß ich vielmehr zuthun gesinnet seye / als mir zuverrichten aufgetragen worden.“ Ebd., S. 119. 53 Wündsch: Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum, Titel. 54 Ebd., fol. ):( iiijl–r.
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ders beweglichen Gruppen unterhalb des Adels – rekrutiert werden müssen.55 Zugleich jedoch verpasst die Schrift kaum eine Gelegenheit, auf die verdeckten Umtriebe der Hofmeister, Verwalter, Haushälter und Schreiber hinzuweisen.56 Hinter jedem von ihnen, so lehren es die von Wündsch reichlich kommentierten „XI. Prædicamentis eins ungetreuen Haushalters“,57 kann ein „unergründete[r] Partitenmacher“ 58 stecken, einer also, der – selbst ohne Grund (Besitz) – zum unberechenbaren Anderen im Ordnungsgefüge des Hauses wird. Die Spannung zwischen Beweglichkeit und Grundbesitz findet sich in den einschlägigen Passagen des Corylo und Jucundus wieder.59 Unermüdlich spielen die Texte Varianten parasitären Handelns durch. Corylo nimmt im ersten Buch seiner Lebensgeschichte in den Haushalten des alten Edelmanns die Rolle des Schmarotzers ein: Die Dame des Hauses und ihre Töchter machen ihm in der Hoffnung auf Liebesdienste Geldgeschenke, und nur ein Zufall – nämlich ein Jagdunfall des Herrn – verhindert, dass es zwischen Corylo und seiner Herrin zum Äußersten kommt.60 In der Folge zeigt sich die satirische Umkehrlogik, die Beers pikarisches Figurenkonzept bestimmt. Corylo, seines Zeichens „unergrün-
55 Noch deutlicher als in der Erstausgabe von 1669 wird dies in der wesentlich erweiterten Ausgabe des Memoriale, die in vier Teilen zwischen 1680 und 1683 erscheint. In der Vorrede zum ersten Teil erklärt Wündsch, dass adlige Haushaltungen zumeist „weit umb sich greiffen / und über wichtige Einkünffte oder Einnahme / und vieler Sachen Verpflegung sich erstrecken / die ein Herr und Besitzer nicht selbst abwarten kan / sondern darzu er andere / als Verwalter / Amtmänner / Haushalter / Vorsteher und Schreiber gebrauchen muß“. Johann Wilhelm Wündsch: Neu vermehrt= und verbessertes Memoriale Oeconomico-Politico-Practicum […]. Frankfurt a. M., Leipzig: Christian Kirchner [Teil 1, 1680], fol. iijr. 56 Dabei ändert sich die Perspektive innerhalb des Traktats deutlich. Die Fokalisierung auf die unterständische Beamtenklientel, die im Titel als Leser und Käufer angesprochen wird, weicht der traditionellen Perspektive des Fürstenspiegels: Junge Adlige sollen auf die Fährnisse eines Lebens als Staats- und Hausregenten vorbereitet werden. 57 Vgl. Wündsch: Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum, S. 80–90. 58 Ebd., S. 84. 59 Sie ist in zahlreichen Varianten in allen Romanen Beers präsent. Die Beschränkung auf die frühen pikarischen Texte dient einer exemplarischen Analyse, die sich vor allem für die ökonomischen Implikationen der Figur-Welt-Beziehung interessiert. Eine ergänzende Analyse späterer Texte, insbesondere des satirischen Narrenspitals (1681) oder des Bruder Blaumantel (1700), wäre in der Lage, die Befunde im Einzelnen zu differenzieren, würde jedoch wohl keine wesentlichen Abweichungen zutage fördern. 60 Vgl. die ausgedehnte Passage in SW 3: Corylo, S. 22–37. Die typisch Beer’sche Verschränkung von monetärem und erotischem Schmarotzertum, die bereits im ersten Teil des Welt= Kuckers eine entscheidende Rolle spielt, wird in dem Abschnitt einmal mehr deutlich. So fordert Corylo von der Tochter des Edelmannes für eine Gefälligkeit eintausend Taler Lohn. Sie zahlt ihn in Küssen: „da sagte ich / das mir dieser Kuß lieber wäre / als tausend Thaler […].“ Ebd., S. 35.
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dete[r] Partitenmacher“ (Wündsch), wird durch die Instruktionen eines erfahrenen Schreibers mehr und mehr zu einer Figur, die ihre Klugheit (und wachsende Affektkontrolle) zur Wartung der „Confusen Ordnung“ 61 des Hauses einsetzt: aus dem Parasiten wird ein Garant ökonomischer Funktionalität. Die Beweglichkeit – und damit auch das subversive Potenzial – verliert er dadurch freilich nicht. Deutlich wird dies in der Begründung, die Corylo für die Kündigung seines Dienstes beim Schwiegersohn des Edelmannes gibt. Nicht nämlich die moralische Abscheu vor den im Hause begangenen Lastern, sondern die Überzeugung, sein „junges Leben in einer solchen Sclaverey und Bachanterey gar nicht zuzubringen“,62 drängt ihn zum Aufbruch. Es ist der Impuls individueller „Freyheit“,63 den alle Figuren Beers teilen: die Suche nach dem Hebel des Glücks und den Kniffen der Klugheit, die aus dem pikarischen Ort des Anderen das Eigene eines einträglichen Grundbesitzes machen. Während Corylo am Ende seines Parcours’ auf die durch Heirat erlangten Adelsgüter in der Normandie verzichtet und sich, eingedenk seiner niedrigen Geburt, ins Kloster zurückzieht, präsentiert Beer im Jucundus eine Hauptfigur, die in ihrem Handeln das Skandalon einer „Gesellschaft, in der alle Klassenunterschiede aufgehoben und durch eine kraß materielle Werteskala ersetzt sind“, unter weitgehender Ausklammerung moralischer und religiöser Normen verkörpert.64 Die Adoption, die Jucundus zum Ziehkind der alten Gräfin macht, kann nur vordergründig befestigen, was im Innern der erzählten Welt in Bewegung geraten ist. Der Weg vom angenommenen Bauernkind zum Herrn über die Güter seiner Ziehmutter ist, anders als im zweiten Buch des Corylo, kein Spiegel komödienhafter Verwechslungen, sondern entspricht einem Plan, den Jucundus (gegenüber dem Leser) freimütig bekennt: [W]eil ich sonsten nichts zu suchen hatte / kehreten wir auf einen andern Weg wieder zurück zu unserer alten Mutter / auf das Schloß / alwo ich entschlossen war / meiner Hofmeisterey abzuwarten / und zu sehen / wie ich endlich das Schloß gar an mich partieren möchte.65
Wohl an keiner Stelle im Werk Beers tritt der parasitär-usurpatorische Handlungsimpuls der Figuren klarer zutage. Jucundus taktiert mit der Zuneigung der
61 Ebd., S. 84. 62 Ebd. 63 Die beiden Aspekte des Beer’schen Freiheitsbegriffes fasst Zendorio zusammen, wenn er seine (ökonomische) Freiheit als Adliger mit der Freiheit des Lesers korreliert, „dieses Buch / nach seinem Gutdüncken / auszulegen“. Beer: SW 7: Winternächte, S. 225. 64 So Gerhard Dünnhaupt: Bibliographisches Handbuch der Barockliteratur. Hundert Personalbibliographien deutscher Autoren des 17. Jahrhunderts. 3 Bde. Bd. 1: A–G. Stuttgart 1980, S. 281. 65 SW 4: Jucundus, S. 172.
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alten Edelfrau. Und dies mit Erfolg: In ihrem Testament überschreibt sie ihm ihren Besitz unter der Bedingung, dass er den Fortbestand des Hauses durch eine Ehe sichert: Indem begiebt sichs / daß die Edelfrau zur Bezeugung ihrer Lieb gegen mich / mir das ganze Geld testaroriè zum Erb vermachet / und zu Ende deßen / heißet sie mich aufs neue ausreisen / und eine Liebste suchen / die mir am bästen anstehen würde. Ich kan nicht glauben / daß ein Mensch auf Erden jemaln eine größere Vergnügung als ich dazumal empfunden / da ich zu einem solch schätzbaren Reichthum / und zwar ganz unverdient gelanget […].66
In seiner Untersuchung des Textes hat Solbach angemerkt, dass Jucundus durch seine Rede vom „gantz unverdient[en]“ Erbe „die Bedeutung des Ungeplanten und Zufälligen als Mittel zur Verwirklichung der Lebensutopie“ herausstellen würde.67 Doch das wird der tatsächlichen Handlungsweise der Figur kaum gerecht. Auf den ersten Blick scheint sich Jucundus demnach zwar an das Formelrepertoire der nicht-adligen „Meritokratie“ 68 – der Hofmeister, Verwalter, Hofmusiker – zu halten, die ihre Ambitionen hinter rhetorischen Demutsgesten zu verbergen gewohnt ist. Ein typisches Beispiel hierfür gibt die Vorrede, die der Bürgersohn Wündsch der erweiterten Fassung seines ökonomischen Memoriale vorausschickt. Er sei, so Wündsch, in sein erstes Hofamt „in dem 24. Jahre meines Alters unverdient gesetzet / [welches ich offenbarlich vor Gott und Menschen bekenne]“.69 Hernach jedoch – und dies ist bei der Wündsch’schen Selbstrepräsentation das Entscheidende – habe er sich „niemals auf der Faul= oder Luder=Banck […] finden lassen / sondern […] ohne Saumsal verrichtet / was einem verpflichteten Diener oblieget und gebühret“.70 Die Ähnlichkeit zur Wortwahl des Jucundus, der seine „Hofmeisterey ab[ ]warten“ will, sticht ins Auge. Noch interessanter sind jedoch die Unterschiede. Schon die Semantik des „Abwartens“ birgt eine Doppeldeutigkeit, die bei Wündsch so nicht zu finden ist. Zunächst ist der Begriff zwar auch im Jucundus seiner frühneuzeitlichen Hauptbedeutung nach zu verstehen und meint: einen Dienst oder einen Haushalt „in pflege und sorge nehmen“.71 Konnotiert ist dieser Bedeutung in Jucundus’ Rede jedoch eine zweite Sinnebene, die das Deutsche Wörterbuch mit den Begriffen „prospicere, speculari, expectare“ fasst:72 Indem Jucundus das Haus
66 67 68 69 70 71 72
Ebd., S. 181. Solbach: Johann Beer, S. 151. Kremer: Vom Pikaro zum Landadligen, S. 123. Wündsch: Neu vermehrt= und verbessertes Memoriale, Teil I, fol. )o( iijv. Ebd. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 1: A–Biermolke, Sp. 147. Ebd.
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wartet, wartet er darauf, zum Herrn des Hauses zu werden. Ihm geht es, anders als Wündsch, nicht um einen Aufstieg innerhalb der Hierarchie der Beamten und Bedienten; er will vielmehr an die Stelle des Herrn bzw. der Herrin treten, um die Mittel zu haben, andere für sich arbeiten zu lassen. Die Karriere der pikarischen Figur schießt im Jucundus damit über das ökonomisch-politische Koordinatensystem des Memoriale ebenso weit hinaus wie über das Raster der Ständeordnung, das diesem zugrunde liegt.73 Ein drittes Modell des ‚Aufstiegs‘ spielt Beer schließlich in der WillenhagDilogie, dem Gipfel- und Schlusspunkt seiner pikarischen Romanserie, durch. Dabei handelt es sich um eine unter satirischen Vorzeichen stehende Reaktivierung des heliodorischen Topos von der unbekannten hohen Geburt, wie sie vor Beer ja bereits Grimmelshausen zum Angelpunkt seines simplicianischen Erzählunternehmens gemacht hatte. Zendorio, so erfährt der Leser im zweiten Buch der Teutschen Winternächte, stammt nicht von dem einfachen Schinder ab, bei dem er aufwächst und den er bis zur Begegnung mit dem adligen Isidoro für seinen Vater hält. Vielmehr ist sein leiblicher Vater, wie Isidoro sich ausdrückt, „doch ein Edelmann“ – und zwar natürlich einer „von solchen Mitteln / als du selbst nicht weißt“.74 Auf diese Weise aus seiner prekären Lage als mittelloser Vagant befreit, übernimmt Zendorio – ganz anders als Simplicissimus – seinen Erbbesitz, heiratet das adlige Fräulein Caspia und wird zum Gründungsmitglied des ‚Ordens der Vertrauten‘, jenem Zusammenschluss landadliger Herren, deren munteres Geselligkeitsideal zum Ausgangspunkt des Erzählens Wolffgangs, Zendorios alter ego in den Sommer=Tägen, wird. Dass die Verwendung des heliodorischen Motivs in diesem Zusammenhang nicht etwa eine Entschärfung, sondern vielmehr eine Verstärkung des subversiven Potenzials des Erzählens bedeutet, lässt sich an den Umständen der Anagnorisis deutlich ablesen. Hierfür spricht zum einen die Tatsache, dass diese strukturell gewissermaßen vorzeitig geschieht – nur kurz nach dem Aufbruch Zendorios in die Welt –, so dass sich ein Netzwerk der Vorausdeutungen und Verwicklungen mitsamt kunstvoller Einlösung des providentiellen Gehalts gar nicht erst entfalten kann. Zum zweiten greift Beer bei der Schilderung der ver-
73 Dafür spricht nicht zuletzt auch die ständeoffene Brautschau, die der Bauernsohn Jucundus unternimmt. Seine frömmlerische Begründung kann dabei kaum anders als ein ironischer Wink verstanden werden: „Aus diesen Worten des Studenten entschloße ich mich / mir eine fromme und Gotts-Fürchtige zu suchen / und weil doch ein Frauen-Bild wie das andere geschaffen wäre / nach Art der Leibs-Glieder / achte ichs sehr wenig / ob ich müchte eine von Adel oder eines Bürgers Tochter heyrathen / ja ich entschloße mich / auch vor einer Bäurischen nicht zu fliehen / so ich nur versichert wär / daß sie fleissig betete […].“ SW 4: Jucundus, S. 184. 74 Beer: SW 7: Winternächte, S. 89.
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meintlichen Herkunft Zendorios mutwillig eine Etage zu tief ins soziale Register: Indem er die Figur mit einem Schinder (dem Ziehvater) assoziiert, heftet er ihr den Makel der ‚Unehrlichkeit‘ an, der nach frühneuzeitlichen Maßstäben auch durch die folgenden Enthüllungen nicht ganz abgestreift werden kann.75 Und drittens dokumentiert gerade die Willenhag-Dilogie die bereits erwähnte Gleichartigkeit der adligen und nicht-adligen Figuren in den Romanen. Anders als Jucundus oder Corylo kommt Zendorio dank des väterlichen Erbes zwar schneller in den Besitz des notorischen Landguts. Sein Denken, Handeln und Sprechen deuten dabei jedoch weder auf einen genealogischen Determinismus noch auf ein übergeordnetes Tugendkonzept, das die Differenz der Schicksale auf sozialer oder moralischer Ebene rechtfertigen würde.76 Macht der Umbau der Romanarchitektur in diesem Sinne insgesamt eher die Substituierbarkeit von Figurenkonzepten, Motiven und Erzählmustern sinnfällig, so führt die Vorverlegung des Zielpunkts des pikarischen Lebenslaufs zu einer Schwerpunktverlagerung von der histoire auf den discours − auf das Erzählen, das in der WillenhagDilogie auf seine innere Beziehung zu den Faktoren Besitz und Zeit reflexiv befragt wird. Symptomatisch hierfür ist die Koinzidenz, die sich zwischen der Niederlassung Zendorios als adliger Hausherr und seiner Peripherisierung als Erzähler ergibt. Das Phänomen als solches ist der Forschung bekannt. Solbach hat darauf hingewiesen, dass der pikarische Diskurs in den Winternächten auf erster Ebene „[m]it der einmal erreichten Sicherheit in der Nobilitierung und der Ehe“ 77 keinen Raum zur Entfaltung mehr findet; der gewesene Vagant Zendorio ist als adliger Grundbesitzer im Raum fixiert: „Die weitere Handlung muß neue Elemente und Schemata präsentieren, um fortschreiten zu können.“ 78 Die Lösung, die die Dilogie für dieses Problem findet, zeichnet sich in den Vorgängertexten punktuell bereits ab. Wie schon Jan Rebhu am Ende seines Lebens – er lebt als Erbe einer Dame in landadligen Verhältnissen –, „[w]ann ihme die Zeit lang war“, die „Bettel-Leute in dem Dorff“ auffordert, ihm ihren „Lebens=Lauff“
75 Auf diesen Aspekt hin hat Solbach: Johann Beer, S. 338, die Anagnorisis in den Winternächten eingehend analysiert. Auf die Relevanz der Kategorie der Unehrlichkeit für das weitere Romanwerk Beers hat er darüber hinaus in einem weiteren Artikel hingewiesen. Vgl. ders.: Unehrlichkeit: Spuren einer sozialhistorischen Kategorie in Texten Johann Beers. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655–1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 131–168. 76 Dies wird im Weiteren noch genauer zu zeigen sein. 77 Solbach: Johann Beer, S. 367. 78 Ebd.
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zu erzählen,79 entwickelt sich der Willenhag-Erzähler zum, so Solbach, „‚WeltJunkie‘“, dessen Hunger nach Erzählungen Dritter geradezu unersättlich scheint.80 Befriedigt wird dieser einesteils durch die adligen Lebensläufe, die in der geselligen Runde des ‚Ordens der Vertrauten‘ zirkulieren.81 Vor allem aber verlangt es Zendorio nach den Lebensgeschichten besitzloser Figuren, deren keine, wie er selbst bemerkt, „sicher vor mein Schloß passiren können / der mir nicht seinen gantzen Lebens=Lauff von Wort zu Wort erzehlen müssen“.82 Die Formulierung ist in ihrer Doppeldeutigkeit kennzeichnend für das postpikarische Konzept des Romans. Irgendwo zwischen den Modellen von Raubrittertum und Zollökonomie angesiedelt, konstituiert sich Zendorios Diskursmacht aus der Aneignung fremder Erzählungen, wobei das im ‚Orden der Vertrauten‘ geltende Prinzip der hierarchiefreien Zirkulation auf dieser Ebene einer Struktur von Herrschaft und Unterwerfung weicht. Wenn Solbach insgesamt daher zuzustimmen ist, dass in den Willenhag-Romanen „das freiheitliche Lebensprinzip des Landadels“ zu einer „gelebte[n] Poetik“ wird,83 dann jedoch auf Basis der Einsicht, dass diese Poetik sich ihres Ursprungs in der Dialektik von pikarischer Bewegung und adliger Sesshaftigkeit durchgängig bewusst ist. Spannend wird es dabei dort, wo das dialektische Konzept den Blick auf die Kreuzung der Ökonomien von Besitz und Erzählung lenkt. In den für Beer typischen Begegnungen von Grundherrn und Vaganten (Bettlern, Dienern, Schreibern, Soldaten, Studenten etc.) kristallisiert eine Doppelbeziehung materieller und immaterieller res, die sehr an das erinnert, was Serres mit Blick auf den seine Geschichten
79 SW 1: Welt=Kucker, S. 352. 80 Solbach: Johann Beer, S. 431. 81 „[S]einen gantzen geführten Lebens=Lauff […] zu entwerffen“, gehört entsprechend zu den Pflichten eines jeden Ordensmitgliedes. SW 7: Winternächte, S. 250. Strohschneider hat überzeugend gezeigt, dass das Erzählen der Ordensmitglieder deren Identität als Adlige eigentlich erst stiftet: „Im Zweifelsfall werden die Figuren ihres Adels im Medium von Geschichten inne, und zwar: nur in diesem Medium! Weder kann man diesen Adel, wie im Epos oder im mittelalterlichen Roman, am Körper der Figuren oder in ihren Taten sehen, noch ist es so, daß einer selbst um seinen Geburtsadel wüßte und nur allein seine Umwelt davon zu überzeugen hätte. Nein: Wenn es darauf ankommt, gibt es adlige Identität in den ‚Winter=Nächten‘ [sic!] nur im Modus des […] Erzählens von adliger Abkunft.“ Strohschneider: Zeit Tod Erzählen, S. 288. 82 SW 7: Winternächte, S. 311. Nahezu dieselbe Formulierung verwendet Wolffgang in den Sommer=Tägen: „[M]ir aber ware / nach Hinwegscheidung meiner guten Freunde / nichts angenehmers / als die Einsamkeit / und wo ich nur einen Bettler / oder sonsten einen Landstreichenden Vaganten auf der Strasse / oder vor meinem Schlößlein / sahe / der muste mir / um ein gutes Tranckgeld / seinen Lebens=Lauff erzehlen / dadurch ich mir / nebenst Anmerckung der besten Sachen / zugleich meine traurige Zeit trefflich vertrieben habe.“ SW 8: Sommer= Täge, S. 150. 83 Solbach: Johann Beer, S. 385.
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erzählenden Mitesser (parasitos) als ‚andere‘ Logik parasitären Handelns herausgestellt hat: Der Parasit erfindet eine neue Möglichkeit; weil er nicht wie alle speist, konstruiert er eine neue Logik. Er kreuzt, er diagonalisiert den Austausch. Er tauscht nicht, er wechselt die Münzart. Er versucht, Stimme gegen Substanz zu tauschen […]. Man lacht, man vertreibt ihn, macht sich über ihn lustig, man schlägt ihn, er betrügt uns, aber er erfindet etwas Neues.84
Das Muster des von Serres beschriebenen diagonalen, die Hierarchien gleichzeitig bestätigenden wie unterlaufenden Austauschs lässt sich im Roman in immer neuen Varianten nachweisen. In besonderer Deutlichkeit reflektiert der Willenhag-Erzähler sie am Ende des dritten Buches der Sommer=Täge. Sich gegen Vorwürfe rechtfertigend, dass er den „alte[n] Krach=Wedel“ 85 – einen abgedienten Soldaten, der sich schließlich kurioserweise als leiblicher Bruder Wolffgangs herausstellt – in sein Haus aufnimmt, profiliert er ein asymmetrisches Tauschverhältnis, das sich zwischen dem, der (res) erzählt, und dem, der (res) besitzt, ergibt: Diese und dergleichen Historien erzehlte mir der alte Krach=Wedel (so hiesse sein Name) etliche nach einander / die nicht unangenehm zu hören waren; daraus kan der Leser leichtlich urtheilen / wie ich nicht übel gethan / daß ich ihn in seinem hohen Alter / zu meiner eigenen Belustigung / aufgenommen / und ihme die Beschreibung seiner Geschichte aufgetragen habe. […] Darum / so brauchte ich diesen guten wer da? zu meiner Zeit Verkürtzung / davon er weiter nichts / als mein Bißlein Brod genossen / und zuweilen einen alten Lappen davon getragen […]. Dennoch kame das Geschrey von mir aus / also hielte ich überflüssige Leute / und verzehrte mein Gütlein in sauß und brauß; wie frölich ich aber dazumal gewesen / ist niemand besser / als mir selbst bewust. Doch bin ich nicht schuldig / jemand davon Rechenschafft zu geben; dann das Gut war mein / und nicht einem andern / drum lebte ich / wie mirs / und nicht einem andern wol anstünde […].86
Die Präsenz des Parasiten im Haus87 hat hier, deutlich erkennbar, nichts mehr mit jenem vermeintlich nützlichen Transfer von Erfahrungswissen zu tun, den
84 Serres: Der Parasit, S. 58. 85 SW 8: Sommer=Täge, S. 164. 86 Ebd., S. 164 f. 87 Von Krachwedel als einem Parasiten zu sprechen, erscheint trotz seiner – sich später herausstellenden – Verwandtschaft mit Wolffgang angemessen. Anstatt nämlich aus der Position des erzählenden Ichs auf die Blutsbande anzuspielen und etwa zu betonen, es sei ihm Krachwedel wie ein Bruder ans Herz gewachsen, bleibt Wolffgang an dieser Stelle gegenüber dem mittellosen Soldaten auffällig distanziert. Die providentielle Dimension der Figurenkonstellation wird auf diese Weise einmal mehr als spielerische Abweichung von etablierten Erzählmustern (und zwar des ‚hohen‘ und ‚niederen‘ Romans) erkenntlich.
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die Figuren in ihren literaturtheoretischen Einlassungen propagieren. Entgegen der Tradition ‚niederer‘ Poetik macht Wolffgang gar nicht erst den Versuch, den Tausch materieller Güter gegen Worte dadurch zu rechtfertigen, dass man aus Krachwedels (und damit seiner eigenen) Erzählung etwas über die Welt lernen könne. Der alte Soldat wird vielmehr allein zum Zweck der „eigenen Belustigung“ des Adligen ausgehalten. Im Zentrum des Textes steht an dieser Stelle damit die Frage nach der Rechtfertigung der adligen Lust um ihrer selbst willen – und zwar vor dem Hintergund der kritischen Beobachtung durch eine Öffentlichkeit, die jeden Vorgang im Haus des Adligen genau zu registrieren scheint.88 Das Signalwort, um das sich die Vorwürfe dabei formieren, ist das des Überflusses. Aus der Perspektive der Beobachter ist die Präsenz „überflüssige[r] Leute“ in Wolffgangs Anwesen ein klares Zeichen für dessen baldigen Niedergang: Wer nutzlose Leute halte, verzehre sein „Gütlein in sauß und brauß“ und müsse dem Ruin ins Auge sehen. Dem hält Wolffgang einerseits sein Recht entgegen, die eigenen Mittel – Güter und Zeit – zu seinem eigenen Wohlsein zu verwenden, wozu die Geschichten Krachwedels nicht unwesentlich beitrügen („wie frölich ich aber dazumal gewesen / ist niemand besser / als mir selbst bewust“).89 Andererseits ist Wolffgang auffällig bemüht, den Eindruck zu zerstreuen, über seiner „eigenen Belustigung“ die Gebote ökonomischen Wohlstandes aus dem Blick zu verlieren. Zwar beteuert er, sich als freier Edelmann keineswegs verpflichtet zu fühlen, „jemand davon Rechenschafft zu geben“. Doch tut er gegenüber dem Leser genau das, wenn er betont, durch Krachwedels Anwesenheit im Haus seien keine „unnöthige Kosten“ entstanden.90 Mehr als ein „Bißlein Brod“, einen alten „Lappen“ zum Anziehen und eine „Pfeiffe Toback“, die bei „dergleichen Leute“ mehr bewirke, als „eine[ ] Handvoll halben Thaler“, habe er nicht investieren müssen, um die „Lust“ täglicher Unterhaltung zu genießen.91 Es ist eine Argumentation, die bekannte kameralistische Muster ironisch spiegelt, indem sie sie
88 Dies zeigt auch die Tatsache, dass Krachwedels Lebensbericht in den Sommer=Tägen letzthin nur in kurzen Ausschnitten wiedergegeben wird. Nicht der Inhalt der Soldatenvita, sondern die Beobachtung der funktionalen Interdependenz von pikarischem Erzählen, adliger Ökonomie und Öffentlichkeit steht im Fokus der Episode. 89 Beers Figur rekurriert hier offensichtlich auf das Konzept vom Erzählen als Melancholietherapeutikum. Dazu Dieter Breuer: ‚Lindigkeit‘. Zur affektpsychologischen Neubegründung satirischen Erzählens in Johann Beers Doppelroman. In: Simpliciana 13 (1991), S. 81–96. Zu Beers Poetik der Zeitverkürzung insgesamt vgl. Robert Vellusig: Johann Beer und die Poetik des Zeitvertreibs. Zur Medien- und Kulturgeschichte des kurzweiligen Erzählens. In: Daphnis 37 (2008), S. 487–522. 90 SW 8: Sommer=Täge, S. 164. 91 Ebd.
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auf das ‚niedere‘ Niveau des landadligen Haushalts und seiner pikarischen Insassen absenkt. So lässt sich etwa in Seckendorffs Additiones zur Neuausgabe des Fürsten=States von 1665 der genuin ökonomische Ratschlag finden, für die ‚adlige Lust‘ nur soviel auszugeben, wie an überflüssigen Mitteln im Haushalt vorhanden sei: „Man halte wol Hauß / und schaffe Geld und Vorrath durch redliche Mittel / so kan man manchen guten Lust und reputation haben / wenn Stand und Land darbey ist.“ 92 Aus dem angefügten Konditionalsatz erschließt sich der Rechtfertigungsdruck, der auf Wolffgang lastet: Auch dort, wo die moralische Bewertung adliger Vergnügungen durch eine im engeren Sinne ökonomische Perspektive ersetzt wird – und dies ist nicht erst bei Beer, sondern bereits im kameralistischen Diskurs der Fall –, bleibt das Ausgeben von Mitteln zum Zweck der Lust ein prekärer Vorgang, schaltet der adlige Haushälter dabei doch zwangsläufig auf ein verschwenderisches Handeln um, das die Stabilität seiner Ökonomie zumindest potenziell gefährdet. Genau dieses Moment betont Beers Roman, wenn er den Fokus der Ironie auf die äußerst sparsame Mittelzuteilung Wolffgangs an Krachwedel richtet. Dem riskanten diagonalen Fluss der Güter und Wörter zwischen Wirt und Parasit setzt der adlige Ökonom eine Strategie der Rationalisierung entgegen, die ein Aufbrechen des Machtverhältnisses zugunsten des Anderen verhindert. Strohschneiders bereits zitierte Beobachtung, adlig seien bei Beer „diejenigen, welche die Zeit haben, sie zu vertreiben“,93 ist in diesem Sinne zu ergänzen: Der Adlige bei Beer, der Zeit zum Vertreiben haben will, ohne dabei „sein Gütlein in sauß und brauß“ durchzubringen, muss auf den von Ludwig beschworenen „Nutz“, das „tägliche[ ] Aufnehmen“ seiner Haushaltung achten.94 Erst durch die Erzielung ökonomischer Überschüsse, die in den Sommer=Tägen schließlich sogar in den Mittelpunkt der Agenda des ‚Ordens der Vertrauten‘ rückt,95 entsteht der Raum des Überflusses, in dem Erzählen und Literatur bei Beer möglich werden: als Spielarten eines paradoxen Tauschs, in dem die Möglichkeit des Umkippens der Machtverhältnisse einerseits latent zwar gegeben bleibt – man denke an die usurpatorische Aktion des pikarischen Parasiten Jucundus –, den
92 Veit Ludwig von Seckendorff: Teutscher FürstenStat. Nun zum drittenmahl übersehen und auffgelegt / Auch mit einer gantz=neuen Zu=Gabe / Sonderbarer und wichtiger Materien umb ein grosses Theils vermehret. […] Frankfurt a. M.: Thomas Matthias Götze 1665. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe in zwei Bänden. Mit einem Vorwort von Ludwig Fertig. Bd. 2. Glashütten im Taunus 1976, S. 152. 93 Strohschneider: Zeit Tod Erzählen, S. 294. 94 SW 7: Winternächte, S. 202. 95 Wie eingangs des zweiten Romanteils betont wird, dient der Orden nicht nur dem Zweck, kurzweilige Erzählungen auszutauschen, sondern auch dazu, „eines jeden Vermögen reichlich“ zu vermehren. SW 8: Sommer=Täge, S. 8.
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der besitzende Herr andererseits jedoch qua Rationalisierung ins funktionale Ganze des Haushalts einzugliedern versteht. Scheint gerade hierin – in der von moralischen Geltungen absehenden funktionalen Ausdifferenzierung eines Bereichs ‚literarischer‘ Kommunikation96 innerhalb der nach Nützlichkeitskriterien organisierten adligen Ökonomie – das post- bzw. metapikarische Prinzip der Willenhag-Dilogie zu wurzeln, so gibt dies Anlass, die spezifische Rationalität der Figuren Beers (und ihrer Haushalte) nochmals genauer unter die Lupe zu nehmen. Woher stammt das Wissen, das sie bei der Einrichtung ihrer Haushalte verwenden, und was geschieht mit ihm, wenn es im satirischen Kontext Gegenstand moralisch ambivalenter Handlungen und Sprechweisen wird? Löst der rational handelnde adlige Ökonom den Picaro gewissermaßen ab, oder schreibt das Beer’sche Modell die subversive Tendenz des Genres fort, indem es sie auf ein anderes, neues Paradigma bezieht? Um zu möglichst differenzierten Antworten auf diese Fragen zu gelangen, erscheint es sinnvoll, einen weiteren Seitenblick auf das Wissen des Hofmusikers Beer über die kameralistische Hofökonomie seiner Zeit zu werfen.
5.3 Der Andere als Kameralist oder Die Verbergung der ‚Raison‘ Das Profil des ökonomischen Wissens Beers lässt sich erschließen, indem man den Ökonomiebegriff seiner musikologischen Schriften mit demjenigen Athanasius Kirchers abgleicht, an dessen Musurgia universalis (1650/dt. 1662) Beer sich wiederholt kontrovers abgearbeitet hat.97 Bei Kircher wird Ökonomie als integratives Konzept gedacht, das die verschiedenen Teilbereiche des Wissens von der Musik – Theologie, Arithmetik, Geometrie, Physik und Physiologie – epistemisch zusammenschließt. Das Ökonomische, mit anderen Worten, garantiert die Einbindung disparater Elemente in eine höhere Ordnung, wobei die Vorstellung von der „hülzern Regel / welche gar gebogen / gleich wieder gerad wird“ auf das dynamische Moment dieser Funktion hindeutet.98 In einem System von
96 Für Beers Abkehr von einem moralisch begründeten Literaturbegriff kann exemplarisch die Spottrede Ludwigs stehen, der die moralinsauren Beiträge der Frau von Pockau im Erzählkreis des ‚Ordens der Vertrauten‘ mit dem Hinweis geißelt, dieser sei ein „Ort / da man nur [!] wegen Kurtzweil beysammen wohnet“. SW 7: Winternächte, S. 208. 97 Dazu Wirtz: Musikauffassung und Poetik bei Johann Beer, bes. S. 159–176. 98 Athanasius Kircher: Artis Magnæ de Consono & Dissono Ars Minor; Das ist / Philosophischer Extract und Auszug / aus deß Welt-berühmten Teutschen Jesuitens Athanasi Kircheri von Fulda Musurgia universali in Sechs Bücher verfasset [...]. Schwäbisch Hall: Hans Reinh. Laidig 1662, S. 338. Wie Achermann betont, geht es in der Musiktheorie Kirchers vor allem
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Analogien und kosmologischen Korrespondenzen entfaltet Kircher das Panorama einer Welt, die von der großen „Welt-Haußhaltung“ 99 Gottes über die Ordnung politischer und häuslicher Regimenter auf Erden bis hin zur „Oeconomy“ des menschlichen Körpers100 vom Klang der divina musica durchdrungen ist. Erst aus der Vielheit der „underschiedlichen tonis“ resultiere die „Welt=Harmony“, die die „hohen / niedern und mittlern Ordnungen“ des Seins im Sinne des „bonum publicum“ – des gemeinen Nutzens aller Wesen – erhält.101 Von derlei spekulativen Ansätzen fehlt bei Beer jede Spur. Sein musikologisches Werk konzentriert sich ganz auf die musica humana – und hier vor allem auf die Musik als praktische ‚Kunst‘, die in konkrete Produktions- und Rezeptionszusammenhänge eingebunden ist.102 Die epistemologische Entscheidung, die dieser Fokussierung vorausgeht, findet sich – in satirischer Form – bereits in den Romanen formuliert: Beers musikologisches Erkenntnismodell löst sich dort aus der Tradition, wo es, wie Wirtz formuliert, „seine Gesetze aus der Empirie gewinnt“.103 Dass diese Ausrichtung zahlreiche Akzentverschiebungen in kunst- und musiktheoretischer Hinsicht impliziert, hat die Forschung aufgezeigt.104 Völlig unbeachtet blieb dabei allerdings die Rolle der Ökonomie, die sich bei Beer gemäß den institutionellen Voraussetzungen grundlegend ändert. Liegt Beers Hauptkritikpunkt gegenüber Kircher darin, dass dieser über der gelehrten Spekulation die res aus den Augen verliere,105 so scheint im Gegenzug darum, ein ‚Mittel‘ zwischen geometrischer und arithmetischer Weltbeobachtung zu finden, seien diese ansonsten doch nicht miteinander zu verbinden. Achermann: Zahl und Ohr, S. 267– 269. 99 Kircher: Artis Magnæ de Consono & Dissono Ars Minor, S. 2. 100 Ebd., S. 297 f. 101 Ebd., S. 332. 102 Nicht zuletzt dies hat Beer die Aufmerksamkeit des aufgeklärten Musikologen Mattheson eingebracht, der in seiner Schrift Das beschützte Orchester (1717) Kirchers Musurgia als „Auslaufmodell mathematischer Spekulation“ verabschiedet. So Achermann: Zahl und Ohr, S. 271 (Anm. 42). 103 So der Forschungskonsens in den Worten Wirtz’: Musikauffassung und Poetik bei Johann Beer, S. 163. Zu Recht freilich betont Wirtz an selber Stelle, dass Beers Empirismus „letztlich durch eine, wenn auch entrückte, prästabilierte Harmonie abgesichert“ sei, die auch Analogienbildung zulasse. Die Ablösung vom Kircher’schen Modell ist in diesem Sinne also keine absolute, sondern eine partielle: Die Voraussetzungen für Wahrnehmung und Erkenntnis werden von Beer empirisch reformuliert, ohne dass dabei das frühneuzeitliche ordo-Denken als Ganzes verabschiedet würde. Mit dieser differenzierten Betrachtung des Verhältnisses von Kircher und Beer entschärft Wirtz die in der Forschung gelegentlich verbreitete These, Beer habe Kirchers Schriften schlichtweg abgelehnt. 104 Es sei hier außer auf die Arbeit Wirtzʼ nochmals verwiesen auf Achermann: Zahl und Ohr; Heinemann: Stil und Polemik; ders.: Die Würde der Musik. 105 So nachzulesen u. a. in der Streitschrift Ursus murmurat (1697), die sich freilich nicht hauptsächlich gegen Kircher, sondern gegen den Pietisten Gottfried Vockerodt (1665–1727)
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die empirische Berücksichtigung der res durch den Weißenfelser Hofmusiker zunächst in eine politisch-ökonomische Pragmatik zu münden. Zumal in den ersten Kapiteln seiner Musicalischen Discurse legt Beer eine Anleitung vor, wie die Verhältnisse am Hof so einzurichten seien, dass das „Interesse Reipublicæ“ mit dem „musicalischen Interesse“ im Zeichen beidseitigen „Nutzen[s]“ verbunden werden könne.106 Bevor überhaupt vom epistemischen „Grund“ der Musik die Rede ist, entsteht auf diese Weise das Modell einer Hofmusik, in der nicht die harmonia mundi, sondern die Kriterien einer auf „Interesse“ ausgerichteten Ökonomie die Argumentation bestimmen.107 Dies lässt sich auf allen Ebenen der Verbindung von Hofmusik und Fürstenstaat beobachten. Auf die Frage „Wie viel eigentlich Leut zu einer vollständigen Music erfordert werden?“, antwortet Beer zunächst mit einem polemischen Seitenhieb gegen die sachfernen Gelehrten, die „[h]ierinnen“ einmal mehr „nicht einerley Meinung“ seien.108 Die Gründe dafür sind für Beer freilich nicht auf musikologischer Ebene zu suchen, sondern liegen in der Unfähigkeit der Gelehrten, die politisch-ökonomischen Umstände der Hofmusik zu erkennen. Eigentlich, so Beer, sei „die Sach“ doch „leichtlich aufzulösen / wenn sich jeder Hoff oder Republique nach denen Intraden reguliret / welche sie hierinnen anzuwenden gedencket“.109 Gibt auf diese Weise der fürstliche Haushalt die Rahmenbedingungen vor, in denen Hofmusik entsteht, so imaginiert Beer folgerichtig den Hofkapellmeister als Haushälter zweiter Stufe.110 Seine Aufgabe sei es zu verhindern, dass die Kapelle „mit unnöthigen Leuten beschweret“ wird und die „zur Music destinirte Gelder“ auf
richtet: „Kircherus und dergleichen dienen nihil ad scopum, habet interdum judicium sine judicio. Multæ lectiones, sed nullius probationis testes sunt. Ist bloße Prahlerey. Seine Realien hätten auf zwey Bogen Papier statt gehabt.“ SW 12/1: Ursus murmurat, S. 110. 106 SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 300. 107 Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass auch die Verschiebung des politisch-ökonomischen Leitterminus von „bonum publicum“ (Kircher) zu „Interesse“ (Beer) den Registerwechsel anzeigt. Kircher bedient mit seinem Modell eine ökonomische Semantik, in der es in erster Linie um dispositio und conservatio geht. Beer hingegen setzt mit seiner Formulierung auf eine Semantik, die an die Konzepte der deutschsprachigen Staatsräson-Literatur nach 1650 (u. a. Seckendorff) anschließt: Die handelnden Personen und Institutionen haben ihre je eigene Agenda; das Gemeinwohl entsteht aus der von den jeweiligen Interessen bestimmten Aushandlung einer Praxis, die allen Beteiligten nutzt. 108 SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 301. 109 Ebd. 110 Es wird hier deutlich, dass sich Beer auf einem Argumentationsfeld bewegt, auf dem es um die Vermittlung zwischen kameralistischen Ordnungsansprüchen mit ganz anders gearteten Ansprüchen höfischer Repräsentation geht. Zu diesem Spannungsfeld vgl. Bauer: Hofökonomie, S. 163–165.
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diese Weise „in Unordnung gebracht werden“.111 Auch hier zeigt sich das kameralistische Muster: Die Beobachtung des Haushalts der Kapelle, nicht der Kapelle selbst, bestimmt, welche Elemente zur Ordnung gehören und welche nicht; eine Ableitung der Hofmusik aus einem transzendenten Harmonieprinzip kommt dabei nicht infrage. Ökonom dritter Stufe schließlich ist in den Musicalischen Discursen der einzelne bestallte Musiker. Dieser hat sich in einem Interaktionskontext zu bewähren, der in neuzeitlichen Begriffen als Arbeitsmarkt zu bezeichnen wäre. Geradezu modern mutet dabei Beers Einsicht an, dass Löhne keine vergleichbaren Größen seien, solange nicht „darbey“ gesagt werde, „wie theuer an dem Ort die Zehrung und in was höhern Preiß die Victualien seyn“.112 Der Musiker, der anderswo mehr verdienen könne oder bei selber Bezahlung billigere Lebensmittelpreise vorfinde, würde das Orchester sogleich wieder verlassen. Daher lautet Beers Vorschlag an die politischen Herren: [W]er einen guten und beständigen Chor will haben / der gebe eine solche [d. h. landesübliche, S. Z.] Summa / und erhöhe sie etwas mehr / als man an benachbarten / oder auch andern Orten zu hoffen hat. Wird dieses übersehen / so hat man nur so lange beständige Diener / biß sie die erste die beste Gelegenheit / um ihre Interesse zu befördern / an einen andern Ort träget.113
‚Interesse‘ wird in diesen Sätzen auf zweierlei Weise gedeutet: Zum einen schlägt Beer eine kameralistische Handhabe der Hofmusik vor, die bei der Rationalisierung der Verhältnisse nicht den Fehler macht, das Eigeninteresse der Musiker aus dem Blick zu verlieren: Es hieße gegen die „Vernunfft“ 114 gehandelt, würde man riskieren, dass das „Corpus“ 115 des Orchesters – als Teil der 111 SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 301. Beers Formulierung ist schon deshalb beachtenswert, weil mit den „unnöthigen Leuten“ die Gruppe der Musiker-Parasiten am Hof in zwei Untergruppen eingeteilt wird: auf der einen Seite die, die im ökonomischen Sinne überflüssig, aber für die Selbstrepräsentation des Hofes nötig sind; auf der anderen Seite die, die auf beiden Seiten des Ökonomie-Repräsentation-Dilemmas keine Funktion haben. Sie sind, zugespitzt gesagt, Parasiten zweiter Stufe und werden daher vom Hofkapellmeister, der selbst auf den Tausch von Immateriellem gegen Materie angewiesen ist, verfolgt und beseitigt. 112 Ebd., S. 303. 113 Ebd., S. 304. 114 Es ist immerhin auffällig, dass der Begriff der „Vernunfft“ in Beers Schrift Tendenzen zur Ausbildung einer positiven Selbstreferentialität zeigt. Formulierungen wie „Welches die Vernunfft von sich selbst lehret.“ (SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 303) erfüllen den Zweck, die Beobachtung der Welt auf rationale Gründe zurückzuführen. Dass Ähnliches zu gleicher Zeit etwa bei Christian Weise geschieht, wird unten noch zu zeigen sein. 115 Ebd., S. 6. Stabilität – und damit Unbeweglichkeit – wird an dieser Stelle als zentrales politisches Ziel von Beer benannt: „Denn also stehet das Corpus feste / und ist bey allem vorfallenden Zweiffel / Uneinigkeit= und andern unterlauffenden Widerwertigkeiten desto unbeweglicher.“
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Hofökonomie – durch ständige Abgänge auseinanderfiele. Zum zweiten bildet dieser Rat auf ‚vernünfftige‘ Weise das Eigeninteresse des Hofkapellmeisters selbst ab. Um bei der Verteilung der Gelder nicht zu kurz zu kommen, führt Beer Gründe an, die gerade dadurch überzeugen (sollen), dass sie die Argumentation nicht von der Seite der ‚Kunst‘ oder gar eines spekulativen Musikbegriffs, sondern von der Seite der Hofökonomie aufziehen. Im interessengeleiteten Handeln der Personen – vom subalternen Musiker bis hin zum Fürsten selbst – liegt der Schlüssel zur Erfassung des Funktionszusammenhangs ‚Hofmusik‘, dessen kluge Rationalisierung der Kapellmeister erklärtermaßen im Auge hat. Im Werkkontext sind diese Ausführungen der Musicalischen Discurse schon deshalb interessant, weil sie gewissermaßen ex post einen Themenkomplex erhellen, der ganz zu Beginn der Serie pikarischer Romane, nämlich im ersten Buch des Simplicianischen Welt=Kuckers (1677), von Beer schon einmal aufgegriffen worden war. Die Geschichte von Jan Rebhu, der als verwaister Spross eines „bekandte[n] Geschlecht[s]“ 116 auf Umwegen zum Sänger ausgebildet wird, Gelegenheit bekommt, erfahrenen Musikern beim Fachgespräch zuzuhören und schließlich zum Favoriten eines „Cavaliers“ 117 aufsteigt, liefert dabei nicht nur gewissermaßen das pikarische Gegenstück zum sachlichen Diskurs der Musik-Schrift. Sie kann, bei aller Vorsicht vor biographischen Schnellschüssen, auch als Schlüsselpassage hinsichtlich Beers Verhältnis zu den Herzögen von Sachsen-Weißenfels in den Jahren um 1680 gelesen werden. Durch Jan Rebhus Bemerkung, er werde „wegen gewissen Ursachen so wol des Orts als auch meines Herrn ohne dem Bekanten Nahmen vorübergehen“, insinuiert der – selbstverständlich anonym erschienene – Roman, dass hinter dem Kavalier eine reale Person steckt.118 Dies ließe sich als bloße satirische Spielerei abtun, läge mit Beers Hausbuch nicht ein historisches Dokument vor, das eine auffällige Verwandtschaft zwischen der Romanfigur und Beers Herrn, Herzog Albrecht von Sachsen-Weißenfels (1659–1692), erkennbar werden lässt. So dichtet Beer dem Kavalier im Welt=Kucker eine besondere Leidenschaft für Rollentausche mit seinem jungen Favoriten an. Jan soll als Herr auftreten, während dieser selbst den Bediensteten gibt: „[...] und also musste ich Herr / Er aber auff der Reise Diener seyn.“ 119 Ganz Ähnliches berichtet Beer in seinem Hausbuch von Albrecht. Im Jahre 1677, dem Jahr der Veröffentlichung des Welt=Kucker I, sei er
116 SW 1: Welt=Kucker, S. 40. An dieser Stelle spielt Beer mit dem Motiv der ‚hohen‘ Geburt und stellt den Romanbeginn damit in den Kontext der ‚Nobilisten‘-Debatte, mit dem Grimmelshausen den Simplicianischen Zyklus eröffnet. 117 Ebd. 118 Ebd., S. 41. 119 Ebd. Die Episode wird unten noch genauer zu besprechen sein.
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mit dem Herzog „von Halle gen Freyburg“ gereist, wobei dieser zu ihm gesagt habe: „Bähr, Ich gäbe viell darum, wan Ich Bähr und ihr Herzog Albrecht wäret.“ In Beers Kommentar auf die notierte Erinnerung wird das kokette Gedankenspiel des Herzogs mit ironischer Lakonie beantwortet: „Aber er mochte viel oder wenig geben, so blieb doch jeder wer er war.“ 120 Die sich hier ausdrückende latente Spannung zwischen Diener und Herrn lässt den Status der Romanepisode als satirische Codierung der Erfahrungswirklichkeit bei Hofe deutlich werden – nicht freilich in dem (fragwürdigen) psychologischen Sinn, dass der Höfling Beer im Roman seine eigenen Erlebnisse verarbeitet oder gar kompensiert habe, sondern als Komponente eines komplexen (privat)politischen Diskurszusammenhangs, den der Autor in seinen Schriften gattungsübergreifend (PicaroRoman, Hausbuch, musikologischer Traktat) in den Blick genommen hat. Die Rationalisierungsagenda spielt dabei auf allen Ebenen des Diskurses eine zentrale Rolle. Im Welt=Kucker ist es der erfahrene Kastrat Balmazini, der, noch bevor Jan die Hofhaltung des Kavaliers kennenlernt, auf die menschliche Notwendigkeit hinweist, sich in der Welt ‚raisonabel‘ zu behaupten. Auf der ganzen Welt, so Balmazini, gebe es keinen Chor, in dem alle Mitglieder alles beherrschten. Vielmehr sei es mit den Menschen wie mit den Ländern: Dem einen verleihe Gott diese Gabe, dem anderen jene; am Ende seien beide, Menschen wie Länder, aufeinander angewiesen, müssten dabei aber eben lernen, mit dem Eigenen klug zu wirtschaften: [A]lles können wir nicht alle thun. Man sehe die Länder an: diß hat Wein / jenes Saltz / das dritte Eisen / das vierdte Silber-Berge / das fünffte Getreid / also ernehret sich dieses von diesem / und jenes von jenem / thut das die grosse Welt / so hat die kleine Welt nemlich der Mensch auch seine Dona, mit welchen er sich Raisonabel durchbringet.121
Der finale Schwenk der Rede zur raison bzw., politisch formuliert, zur ratio status markiert die Differenz des Konzepts zur Tradition der harmonia-Allegorik, wie Kircher sie in der Musurgia universalis präsentiert hatte. Unter dem Stichwort „Symphonismus Mundi politici“ 122 hatte der Jesuit hier unter anderem auch den Topos vom Zusammenklang der menschlichen Stände aktualisiert. In der poly-
120 Johann Beer: Sein Leben von ihm selbst erzählt. Mit einem Nachwort von Richard Alewyn hg. von Adolf Schmiedecke. Göttingen 1965, S. 138. 121 SW 1: Welt=Kucker, S. 29. Dass der Autor Beer Balmazinis Ansicht teilt, geht aus einer Stelle in der bereits erwähnten Streitschrift Ursus murmurat hervor. Hier heißt es: „Nun ist es an dem / quod non cuilibet liceat adire Corinthum, alle können wir nicht alles / und muß ein jeder mit dem von GOtt ihme verliehenen Pfund vorlieb nehmen […].“ SW 12/1: Ursus murmurat, S. 13. 122 So die Überschrift zum zitierten Abschnitt in Kircher: Artis Magnæ de Consono & Dissono Ars Minor, S. 332.
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phonen Vielfalt der Welt-Musik erfülle sich die providentielle Weisheit Gottes, der als großer Konzertmeister jedem Stand seine eigene Stimme gegeben habe: Also auch im Gemeinen Wesen / da finden sich Herrschende und Gehorchende / Reich und Arme / Edel und Gemeine / Gelehrte und Ungelehrte / und noch andere Ständ / Grad und Personen mehr: daraus wird aber ein schöner Concent / ein liebliche Harmony / und gleich wie in der Music ein Stimme der andern hilft / wann lauter unisonæ zusammen stimmeten / wäre es kein Harmony: also könte auch das Gemeine Wesen nicht bestehen / wann wir alle gleich wären. Dise harmonische Gleichheit leuchtet aus den underschiedlichen Ständen selbsten / darein die göttliche Providentz die Menschen gesetzt hat […].123
Die Unterschiede zu Balmazinis Diskurs fallen ins Auge. Bei Kircher geht es um den Stand, dem der einzelne Mensch gewissermaßen untergeordnet wird.124 Beim italienischen Sänger ist vom Stand dagegen gar nicht die Rede. Vielmehr legt die gewählte Analogie zum Staat eine relative Handlungsautonomie des Menschen nahe, wobei es hier wie dort der Aspekt des ‚raisonablen‘ Umgangs mit knappen Gütern ist, der die Bedingung der Möglichkeit von Selbsterhalt markiert. Die ungleiche Verteilung der Güter auf Erden (unter den Staaten, unter den Menschen) mag demnach zwar Gottes Plan sein. In der praktischen Konsequenz bedeutet sie jedoch keinesfalls, dass der Mensch sich seinem Schicksal in Demut zu fügen habe. Im Gegenteil treten religiöse Geltungen in Balmazinis Rede deutlich zurück und machen einem politischen Wissen Platz, in dem das kluge Handeln des Einzelnen zum entscheidenden Faktor wird. Für die Episodenreihe um Jan Rebhus Dienst beim namenlosen Kavalier liefert Balmazinis Rede den intellektuellen Rahmen. Beide Aspekte der politischökonomischen Anthropologie, die Dynamisierung altständischer Ordnungsschemata und die Rationalisierung der Verhältnisse in Haus und Hof, treten in der pikarischen Erzählung deutlich hervor. Dabei ist die Perspektive auf den reformorientierten Herrn und seine Residenz von einer tiefen Ironie geprägt. Schon die einleitende Formulierung Jans, die ein Lob der ökonomisch vorbildlichen Hofstatt des Kavaliers enthält, weist Doppeldeutigkeiten auf, die die Bewertung des Erzählten gewissermaßen auf ‚beweglichen Grund‘ stellen:
123 Ebd., S. 334. 124 Dass diese ständetheologische Auffassung konfessionell relativ unmarkiert ist, zeigt ein kurzer Seitenblick auf Luther. In dessen Haußpostille (erstmals 1521) heißt es ganz ähnlich wie bei Kircher: „Aber für Gott ist alles gleich. Von Gott haben wir alles empfangen / was wir haben / Der kan einem andern eben so wol geben / das / So er mir gegeben hat. Auff Erden können wir nicht alle Gleich sein / Da können wir nicht alle Herrn sein / Sondern etliche müssen Herrn / vnd etliche müssen Knechte sein.“ Martin Luther: Haüßpostilla Vber die Sontags vnd der fürnemesten Feste Euangelien durch das gantze Jar. [...] Das ander Stück des Sommerteils. o. O. 1562, S. 495 f.
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Diese Hof-Stadt / ob sie zwar etwas klein / konte sie doch warhafftig ein Spiegel eines Politischen Compendii genennet werden / weil alles in dieser so enge zusammen gezogen / und sehr ordentlich eingerichtet war.125
Zwischen den Zeilen offenbart sich die subversive Tendenz des Satzes. Da ist erstens das topische Gepräge des Herrscherlobs selbst, das im Kontext höfischer Rede immerhin den Verdacht erregt, das Gesagte könnte unaufrichtig sein bzw. die eigentliche Agenda des Sprechers verbergen – ein Verdacht, der sich an dieser Stelle weniger gegen das (noch) naive erzählte Ich richtet als vielmehr auf das in diesem bereits angelegte pikarische Subjekt.126 Zweitens irritieren im enkomiastischen Zusammenhang die Hinweise auf die Kleinheit bzw. Enge der Hofstatt: Was von Jan großspurig als Spiegel des politischen Wissens der Zeit adressiert wird, erweist sich bei näherem Hinsehen als eine Art Miniaturgebilde, das Ansprüchen auf höfisch-mondäne Repräsentation insgesamt kaum gerecht werden dürfte.127 Drittens steht die Formulierung von der Hofstatt als „Spiegel eines Politischen Compendii“ als solche seltsam quer zu der bei Beer sonst reflexhaft geäußerten Polemik gegen das Buchwissen: Ein Ort, der einem Buch entsprungen scheint, ist – so könnte man vermuten – gar kein realer Ort, sondern eine Fiktion, die auf die Literarizität des Diskurses selbst verweist. Gerade dieser Punkt ist bei der Analyse der ökonomisch-sozialen Implikationen der Passage zu beachten. Indem der Text die Darstellung der Residenz unter das Vorzeichen politischen Buchwissens stellt, lädt er zum Abgleich der Erzählung mit entsprechenden Kompendien und Abhandlungen ein. Es entsteht auf diese Weise ein satirisch-literarischer Metadiskurs, in dem das Andere des geltenden kameralistischen Wissens subversiv zum Vorschein kommen kann. Dass sich der Roman dabei wiederum auf den Aspekt der ‚adligen Lust‘ konzentriert, wird durch die Rolle Jans als Hofmusiker und Favorit seines Herrn vorgegeben, entspricht zugleich jedoch dem satirischen Zweck der Erzählung, insbesondere die neuralgischen Stellen des kameralistischen Dispositivs zu be-
125 SW 1: Welt=Kucker, S. 41. 126 Hierzu würden die privatpolitischen Zielsetzungen einer Figur wie Jucundus (vgl. Kap. 5.2) dann das entlarvende Gegenstück liefern. Was Jan im zitierten Satz sagt, wäre demnach weniger wichtig als die Tatsache, dass er diesen Satz sagt. Als Teil einer auf den Erzähldiskurs – vielleicht sogar auf die empirische Ebene des Autors Beer – durchschlagenden politischen Klugheit der Figur verlören die Äußerungen, skeptisch gelesen, an faktischem Aussagewert, würden dafür auf performativer Ebene aber umso interessanter. 127 Gerade diese Aussagen erweisen sich im Kontext einer (möglichen) verdeckten Ironisierung Weißenfels’ durch den Hofmusiker Beer als einigermaßen brisant: Der hohe politischsoziale Anspruch der sächsischen Klein-Fürsten erscheint lächerlich, wenn man ihn vor dem Hintergrund der Überschaubarkeit der tatsächlichen Verhältnisse betrachtet.
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obachten. Die ‚Ergetzlichkeiten‘ bei Hofe hatte demnach ja schon Seckendorff, seinerzeit wohl einflussreichster Kompendien-Autor in politicis, in sehr bedachten Ausführungen ins ökonomische Konzept seiner Schrift einzubauen versucht. Seine Mahnung, dass bei der Bestallung des entsprechenden Hofpersonals – genannt werden u. a. „Ballenmeister / Ballonenschläger Armbrustirer / Tantzmeister / Feuerwercker / Kunstmahler Kunstdreßler / Bild-Schnitzer“, außerdem „etliche[ ] Diener / welche seine [!] inventiones zu Auffzügen Comoedien, und dergleichen / an die Hand geben / und außarbeiten können“, schließlich „ein Bibliothecarius“ und „ein Capellmeister / Hoff-Canter / und so viel Personen / als zu Bestellung der Vocal und instrumental Music nötig“ 128 – stets auf die finanziellen Möglichkeiten der Kammer zu achten sei, scheint am Hof des namenlosen Kavaliers in jeder Hinsicht Gehör zu finden. Wenn an diesem „gleich alles in höchsten [sic!] Flor gestanden“,129 so verdankt sich dies einer kameralistischen Strategie, die, wie Jan bemerkt, „mehr auf Raison, als Zusammenschabung“ setzt.130 In praxi heißt das, dass der Herr auf Vergnügungspersonal und damit auf standesgemäße Repräsentation nicht etwa verzichtet – wie es der Geizkragen täte –, sondern die Dinge so disponiert, dass der Nutzen des Haushalts gewahrt bleibt. Am Beispiel der Hofkapelle erklärt Jan das Funktionsprinzip der ‚raisonablen‘ Hofökonomie seines Herrn. Jeder der Musiker der Kapelle habe bei Hofe eine weitere Aufgabe übernommen, so dass unter den Dienern und Schreibern des Kavaliers jede Menge Sänger und Instrumentalisten zu finden gewesen seien: Mein Herr hatte sehr noble Musicanten, die zugleich mit andere Ämpter verrichteten / als nehmlichen einen Tenoristen zum Kammer-Diener / einen Bassisten zum Silber-Diener / einen Altisten zum Secretario, ich sange einen Discant, und ward zugleich page […]. Es waren auch der Instrumentisten nicht wenig an dem Hof / als Cancelisten / CanceleySchreiber / wie dann einer unter diesen ein lustiger tremulant war / welcher manche Ergötzlichkeit angerichtet.131
Geht man von der Regelfunktion aus, die das Motiv der Doppelbestallung in Satire und Komödie des 17. Jahrhunderts erfüllt, müsste sich hier ein Ansatz zur moralischen Kritik am Adligen ergeben. Ob in Molières plautinischer GeizKomödie L’Avare ou l’École du mensonge (1668), wo der Diener Jacques als
128 Seckendorff: Fürsten=Stat, S. 282. Es fällt ins Auge, dass Seckendorff hier sämtliche Planstellen der ‚Ergetzlichkeit‘ aufzählt, die Beer im Laufe seiner Zeit in Weißenfels besetzt hat (Hofmusiker, Hofkapellmeister, Bibliothekar). Die Stelle könnte den Autor daher besonders interessiert haben. 129 SW 1: Welt=Kucker, S. 51. 130 Ebd., S. 48. 131 Ebd., S. 41.
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Kutscher und Koch gleichzeitig fungiert, oder etwa in Grimmelshausens VogelNest I, in dem sich der Erzähler über eine sogenannte „Viertels-Köchin“ lustig macht, d. h. eine Bedienstete, die wegen der Vielfalt ihrer Aufgaben „kaum die vierte Stund ihres Dienstes in der Küche zu[bringen]“ kann132 – die Aufhebung der Kongruenz von Person und ökonomischer Funktion dient in den Texten der Kenntlichmachung von Lastern und Unzulänglichkeiten der Herren, die zur Zerrüttung häuslicher Ordnung führen. Dies ist bei Beer offensichtlich nicht in derselben Weise der Fall. Vielmehr scheint der satirische Mechanismus hier – entlang des im Text transferierten kameralistischen Wissens – ganz anders ausgerichtet.133 So mag Jans Aussage, dass der Herr kein Geizhals, sondern ein ‚raisonabler‘ Ökonom gewesen sei, zwar einen ironischen Index besitzen. Spätestens mit einem Blick in Beers Musicalische Discurse wird aber deutlich, dass das epistemische Bezugssystem dieser Ironie sich von dem der Texte Molières oder Grimmelshausens grundlegend unterscheidet. In seiner musikologischen Schrift nämlich antwortet der Weißenfelser Kapellmeister auf die Frage, wie man trotz knapper Mittel „mit gutem Vortheil einen stattlichen Chor bestellen könne“, ausgerechnet mit der Empfehlung, das Personal nach Möglichkeit mit mehreren Aufgaben zu betrauen. Der „erste Haubt=Vortheil“, den er „dem gemeinen Wesen zum besten ertheilen“ könne, liege „hierinnen / daß man einen solchen Directorem bestelle / welchen man zu mehr / als einerley Arbeit gebrauchen könne“.134 Zwar sei ein Künstler an sich „weiter nichts schuldig […] zu thun / als das / worzu ihn die Natur addressiret“.135 Tatsächlich aber verträgt sich diese Sichtweise in der Perspektive des Politicus Beer nicht mit den Vorgaben hofökonomischer Klugheit. Er spreche „nur de Interesse Reipublicæ, so fern man ein subjectum an mehr / denn einen Pflug spannen könne“.136 Dass unter diesen Bedingungen der Hebel traditioneller Geizsatire nicht mehr greift, liegt auf der Hand. Anders als seine ‚Verwandten‘ bei Molière oder Grimmelshausen handelt der Kavalier im Welt=Kucker im Einklang mit dem geltendem Wissen von der rechten Haushaltungsführung. Das Florieren seines kleinen Hofes und die Tatsache, dass ihm in einer wirkungsvoll erzählten Episode eine geizige Figur als ‚Opfer‘ höfischer Demütigungsorgien gegenübergestellt wird, belegen dies:137 132 W I/2: Vogel-Nest I, S. 312. 133 Ob dies auch für die anderen Stellen in Beers Werk gilt, die den Topos der Doppelbestallung präsentieren, sei damit nicht gesagt. Sie wären in derselben detaillierten Weise zu untersuchen wie die vorliegende Stelle, um Aussagen über ihre satirische Funktion zu treffen. Vgl. SW 8: Sommer=Täge, S. 303; SW 10: Der verkehrte Staatsmann, S. 155–158. 134 SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 300. 135 Ebd., S. 301. 136 Ebd., S. 300. 137 Die Sanktionierung der Figur des geizigen Cornelius erfolgt im Rahmen von deren Hochzeit, die der Kavalier als ein „Mann von grossen Capitalien“ ausrichtet (SW 1: Welt=Kucker,
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Der namenlose Adlige des Welt=Kucker repräsentiert kein Laster, sondern ein Wissen, dessen Geltung im politischen Diskurs offensichtlich unhintergehbar geworden ist. Die Pointe der Passage besteht demnach darin, dass sie im Diskurs beides zur Anschauung bringt: Wie Beer selbst, der in den Musicalischen Discursen durch die Erwähnung der natürlichen Freiheit des Künstlers einen Aspekt des Widerstands gegen die kameralistische Rationalisierungsagenda immerhin andeutet, um dieser dann jedoch das Wort zu reden,138 spaltet sich Jan in seiner Erzählung in einen funktionalen Agenten und einen ironischen Kritiker der ‚Raison‘-Kultur am Hof seines Herrn auf. Auf die Einstreuung subversiver Kommentare in die Vorstellung der Residenz als „Spiegel eines Politischen Compendii“ wurde oben bereits hingewiesen. Im Abschnitt rund um den Komplex von Hofmusik und ‚Ergetzlichkeit‘ setzt sich diese rhetorische Unterwanderungstaktik fort. Während Jan in seinem Handeln auf diegetischer Ebene die Erwartungen der vom Kavalier verkörperten Macht geradezu übererfüllt – wie kein anderer Diener versteht er die Lust des Adligen (und des Lesers) mit immer neuen inventiones zu befriedigen –, bleibt in seinen Formulierungen das Unbehagen an der Rolle des an die Pflüge seines Herrn gespannten ingeniösen „subjectum“ unterschwellig greifbar. Besonders deutlich wird dies, wenn er, wie zitiert, bemerkt, sein Herr habe „sehr noble Musicanten“ gehabt, „die zugleich mit andere Ämpter verrichteten“. In der Art, in der das Attribut der nobilitas hier auf die Seite der Künstler verschoben wird, vollzieht sich das ironisch gebrochene Erzählen des Picaro insgesamt als Prozess der rhetorischen Selbstbehauptung an
S. 48). Jan, zu diesem Zeitpunkt bereits Favorit seines Herrn, erweist sich bei dieser Gelegenheit als einer jener von Seckendorff hervorgehobenen Diener, die ihre „inventiones zu Auffzügen Comoedien, und dergleichen / an die Hand geben / und außarbeiten können“. Erst sorgt er zur Freude der höfischen Jagdgesellschaft beim Bräutigam Cornelius für einen Rohrkrepierer: „[...] gienge also die Comœdia auff ein Gelächter aus.“ (Ebd.) Bei der anschließenden Bootsfahrt schneidet er die Schnüre durch, an denen die geheime Weinreserve des Geizigen hängt, woraufhin dieser vor versammelter Hofgesellschaft nur lose Enden aus dem Wasser zieht (ebd., S. 49). Dabei präsentiert Jan sich als multipel einsetzbarer Virtuose der ‚Ergetzlichkeit‘. Während er mit der einen Hand die hochzeitliche Wassermusik dirigiert, verrichtet er mit der anderen die zerstörerische Tätigkeit an der Schnur, die schließlich im Lachen der Gesellschaft – und im Verlachen des Bacchus-Fischers Cornelius – mündet. 138 Wie zitiert, schreibt Beer, der Künstler sei eigentlich „weiter nichts schuldig […] zu thun / als das / worzu ihn die Natur addressiret“ (SW 12/1: Musicalische Discurse, S. 301). Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Einfügung der Partikel ‚nur‘ im (vermeintlichen) Votum für das Interesse des Staats: Er spreche „nur de Interesse Reipublicæ, so fern man ein subjectum an mehr / denn einen Pflug spannen könne“. Ebd., S. 300. Die Formulierung impliziert, dass es neben der kameralistischen Perspektive noch andere gibt, die u. U. alternative, vielleicht konträre Sichtweisen auf die Bestallungspraxis eröffnen würden.
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jenem Ort des Anderen, der durch die Macht der Eigentümer bestimmt ist. An den realen Besitzverhältnissen, wie sie im Abschnitt geschildert werden, ändert dies natürlich aber nichts. Hier bleibt es dabei, dass auch die besondere Gunst des Kavaliers den Sänger-Pagen nicht davor schützt, selbst immer wieder zum Spielball der Gewalt zu werden. Ganz im Gegensatz zur wunschgetriebenen Wahrnehmung der naiven erzählten Ich-Instanz, die meint, „stets als sein leiblicher [!] Sohn neben und umb ihn“ 139 gewesen zu sein – eine Rolle, die einen endgültigen Wechsel auf die Seite der Macht nach sich ziehen würde (siehe Zendorio) –, münden die in der Episode gespielten Verkleidungsspiele und Rollentausche140 regelmäßig darin, dass der Kavalier „eine Comoedia mit mir [Jan, S. Z.]“ hielte, „da ich dann den meisten Pickelhäring drein spielen muste / da ihn offtermahls meine Frau gebeten / Er wolle sich doch nicht so gar ärgerlich gegen mich stellen“.141 Die Erniedrigung des ‚noblen‘ Musikers durch seinen Herrn wird im ersten Buch des Welt=Kucker durch keine tatkräftige pikarische Gegenagenda kompensiert. Allein die ironischen Akzente in der Erzählung lassen die latente Widerständigkeit der Figur erkennen. Blickt man von diesem Punkt auf das weitere Werk Beers, so fällt ins Auge, dass sich die Texte vom Begriffsfeld der „Raison“ zunehmend distanzieren.142
139 SW 1: Welt=Kucker, S. 41. 140 Auf den möglicherweise einen autobiographischen Reflex bergenden Kernsatz wurde oben bereits verwiesen: „und also musste ich Herr / Er aber auff der Reise Diener seyn.“ Ebd. 141 Ebd., S. 42. 142 Dies gilt für die pikarischen Texte. Die sogenannten ‚politischen‘ Romane Beers – Der politische Bratenwender (1682), Der Verliebte Europäer (1682) und Der Verkehrte Staats=Mann (1700) – behalten das Feld der „Raison“ sehr wohl im Auge, kommen jedoch, soweit ich sehe, an die ästhetische Vielschichtigkeit des Welt=Kuckers nicht heran. Zu den ‚politischen‘ Romanen Beers vgl. Solbach: Johann Beer, S. 191–235. Mit Blick auf den weiteren Werkkontext ist zu erwähnen, dass Beers erzählerische Produktion nach Veröffentlichung der Willenhag-Romane 1682 weitgehend zum Erliegen kam. Später erschienene Texte – darunter etwa auch der Bruder Blaumantel (1700) und Der Verliebte Österreicher (1704) – waren zu diesem Zeitpunkt wohl bereits geschrieben und wurden von Beer bzw., postum, von seiner Familie oder seinem Verleger erst Jahre später veröffentlicht. Zu diesem Umstand, den Beer selbst in keinem Dokument kommentiert, stellt Solbach: Johann Beer, die Vermutung auf, dass Beer mit der Dilogie gleichsam die Summe der Experimente aus seinem „erzählerischen Laboratorium“ (S. 317) gezogen und dasselbe hernach geschlossen habe. Eine auf die sozialen Bedingungen am Weißenfelser Hof rekurrierende These vertritt dagegen Roswitha Jacobsen. Demnach sei Beer in den 1680er Jahren klar geworden, dass eine literarische Produktion nach Art seiner Romane keinen Prestigegewinn bei Hofe mit sich bringe, sondern im Gegenteil seinen bereits erreichten Status gefährde. Beer habe daraufhin seine kreative Energie auf andere Projekte konzentriert bzw. aus privatpolitischer Vorsicht insgesamt gedrosselt. Vgl. Roswitha Jacobsen: Johann Beer in Weißenfels: Auseinanderfall von Autorität und Diskurs. In: Simpliciana 13 (1991), S. 47–80, hier bes. S. 59–63; außerdem dies.: Fürstendienst, Hofdichter und Johann Beer. In: Beer. 1655–1700.
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Nicht nur, dass das Wort in den pikarischen Romanen nach 1677 kaum noch zu finden ist.143 Insgesamt vermeidet es Beer nun auch, seine Picaros überhaupt in die Gefilde reformorientierter Höfe nach dem Vorbild der Residenz im Welt= Kucker zu versetzen. Insbesondere die Figuren der Willenhag-Dilogie bleiben den größeren Höfen und Städten fern und kultivieren ihre Haushalte bewusst in der Peripherie, in der, wie Berns schreibt, „politische oder soziale Maximen“ keine Rolle zu spielen scheinen.144 Hinzu kommt, dass Beer die Handlung seines Doppelromans historisch distanziert. In der Vorrede zu den Teutschen Winternächten gibt eine namenlose Erzählinstanz darüber Auskunft, dass das Manuskript Zendorios „allgemach etlich sechtzig Jahr / in einer Cantzeley eines adelichen Schlosses urheblich geschrieben / und daselbsten / biß zu gegenwärtiger Zeit im Verborgenen […] aufbehalten worden“.145 Die Verlegung des Geschehens in die vorrestaurative Epoche – von etwa 1680 auf etwa 1620 – könnte als Entaktualisierungsgeste eines Textes gedeutet werden, der den Wirren der Politik eine Welt der Ordnung und altständischen Verhältnisse entgegenhält. So jedenfalls hat es die Forschung gesehen. Namentlich Solbach spricht von Zendorio-Wolffgangs Darstellung adligen Landlebens als „Idylle“ 146 und verknüpft dies mit der These, Beer sei es im Roman zumal um die Verabreichung einer „Arznei gegen die Entzweiung und Störung des ordo“ gegangen.147 In der Territorialisierung des hochwohlgeborenen Picaro als adligen Grundbesitzer, Mitglied des ‚Ordens der Vertrauten‘ und frommen Mann drücke sich das „Begehren des Wurzellosen nach Heimat als Ausdruck eindeutiger und konstanter Sinnbezüge“ aus.148 Am Ende der Romane, so Solbach, stehe die Erreichung des Hofmusiker. Satiriker. Anonymus. Eine Karriere zwischen Bürgertum und Hof. Hg. v. Andreas Brandtner, Wolfgang Neuber. Wien 2000, S. 83–115, hier bes. S. 111–115. 143 Eine Ausnahme stellt der Corylo dar. Hier findet sich eine Passage, in der sich der Protagonist zu einer frömmlerischen Wutrede hinreißen lässt, deren Gegenstand die „Raison“ ist: „So verblendet ist aber das heutige Weltwesen / das man fast nichts als von Raison, Raison, Raison, zu reden / zu schreiben und zusagen hat / vergessend aller Mittel und beförderlichen Vorschub / vermittelst welchen in den Hafen der ewigen Sicherheit zugelangen.“ SW 3: Corylo, S. 121. Wie glaubwürdig diese Zuwendung zur Religion im Kontext der Erzählung ist, steht dahin. Immerhin erzählt Corylo in derselben Passage, wie er durch Klugheit und Geschick in der Welt französischer Kaufleute reüssiert hatte. Die Paränese hängt auch hier also seltsam in der Luft. Sie ist Warnung vor einer Verhaltensweise, zu der es im Diesseits einerseits keine Alternative gibt, deren angeblich zerstörerische Folgen für Mensch und Welt andererseits vom Text nicht abgebildet werden. 144 Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 72. 145 SW 7: Winternächte, S. 7. 146 Solbach: Johann Beer, S. 215. 147 Ebd., S. 390. 148 Ebd. Da die Doppelfigur Zendorio-Wolffgang nicht wurzellos ist, sondern sich, im Gegenteil, am Ort ihres genealogischen Ursprungs reterritorialisieren darf, spricht Solbach hier offen-
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Ideals einer gottgefälligen Lebensweise, die das Gebot ökonomischer Stabilität integriere: „Das Ziel ist für den Erzähler die religiöse securitas, ohne dabei die materielle Sicherheit zu verlieren.“ 149 Ob die Integration von Religion und ökonomischer Sicherheit allerdings tatsächlich in derart tröstlicher Weise gelingt, wie Solbach behauptet, darf bei näherem Hinsehen durchaus bezweifelt werden. Zwar trifft sicher zu, dass die „vita quasi-contemplativa“,150 die Wolffgang am Ende der Sommer=Täge führt, eine Dauerhaftigkeit besitzt, die die vorgängigen Weltfluchtversuche in dieser Form nicht aufweisen.151 Und offensichtlich gibt sich Wolffgang rhetorisch große Mühe, die alternative Lebensform als Ausweg aus dem Dilemma christlicher Weltexistenz zu verkaufen. Gerade das Leben zwischen Einsiedelei und Welt sei für seine fromme Herzensverfassung überaus förderlich gewesen und habe darüber hinaus auf wundersame Weise auch seinen Reichtum gefördert: Jch begabe mich ingleichen wieder nach meiner alten Clause zu der alten Capelle im Wald / […] meiner fernern Andacht nachzuhangen / nichtsdestoweniger entschlosse ich bey so beschaffenem Zustande dann und wann / gleich wie ehedessen Herr Friderich gethan hatte / in dem Land herum zu gehen / und meinen guten Bekandten zuzusprechen / doch mit dem Unterschied / daß ich nicht / wie er gethan / mit einem Sack betteln / noch auch den Einsidlers=Habit antragen wolte / dannenhero liesse ich mir ein ehrbares Reise=Kleid mit starcken Bund=Schuhen verfertigen / wohl wissend / daß weder das Kleid noch der einsame Ort / sondern der innerliche Schmuck / und die Absonderung von der Erden ein frommes Leben mache. […] Also vertrieb dazumal in dem Wald meine Zeit / unterweilen enthielte ich mich auch auf dem alten Schloß zu Steinbruch / und habe daselbst denen Bauren Audientz / welche mich schon eine ziemliche Zeit nicht mehr gesehen hatten. Führte also ein halb geistlich halb weltlich Leben / und je andächtiger
bar vor allem vom Autor Beer selbst. Dass derlei Kurzschlüsse problematisch sind, bedarf keiner weiteren Erklärung: Die Hausbuchnotizen und Romane reichen sicher nicht hin, um aus dem Abstand von etwa dreihundert Jahren irgendetwas Haltbares über die seelische Verfassung des Autors zu sagen. 149 Ebd., S. 431. 150 So Solbachs Bezeichnung für die semi-religiöse Lebensweise Wolffgangs. Vgl. ebd., S. 430. 151 Dies gilt, obwohl Wolffgang – in nahezu denselben Worten wie Simplicissimus am Schluss des V. Buchs – das Fortbestehen seiner Lebensweise bis zum eigenen Tod infrage stellt: „[…] ob ich aber darinnen bleiben / oder sonsten meine Lebens=art wegen hereinbrechendem Alter / verändern werde / das muß man der künfftigen Zeit anheim stellen […].“ SW 8: Sommer=Täge, S. 332. Zu den scheiternden Eremitagen Wolffgangs vgl. Müller [d. i. Berns]: Studien zu den Willenhag-Romanen Johann Beers, S. 141–144; Solbach: Johann Beer, S. 420– 439. Einen Vergleich der Weltentsagungsmanöver bei Beer und bei Grimmelshausen hat Aylett vorgenommen und gezeigt, dass Beers Romanen eine Anthropologie der Geselligkeit eingeschrieben ist, die keinen anderen Weg zur Frömmigkeit zulässt als den ‚mittleren‘, den der Willenhag-Erzähler einschlägt. Vgl. Aylett: Alewyn revisited, S. 101–103.
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ich war / je grösser wuchse mein Reichthum / biß ich endlich unter die Reichesten im gantzen Land gezählet worden.152
Dass zumindest aus theologischer Sicht hier etwas nicht stimmt – oder zugespitzt gesagt: zu schön ist, um wahr zu sein –, zeigt ein kurzer Blick auf die religiösen Referenzkonzepte, die Wolffgang zur Behauptung der spirituellen Validität seines Habitus anführt.153 Da sind zum einen die sich auf den letzten Seiten der Lebensbeschreibung häufenden Hinweise auf De imitatione Christi des Thomas a Kempis (um 1380–1471) – eine bekanntlich zur vita contemplativa einladende, im 17. Jahrhundert ungebrochen populäre Erbauungsschrift, die den Gedanken des Lohns für gute Werke zwar kennt, diesen jedoch selbstverständlich nicht auf den Bereich irdischen Reichtums ausgedehnt sehen will. Während Wolffgang angeblich durch Andacht nach und nach „unter die Reichesten im gantzen Land“ kommt, ruft Thomas – mit Blick auf die monastische Ökonomie – zur Förderung des bonum commune auf, die mit dem Verzicht auf eigenen Besitz beginnt.154 Da ist zum anderen aber auch die Bezeichnung des hybriden Lebensstils selbst, die dessen theologische Uneindeutigkeit – um nicht zu sagen: Fragwürdigkeit – erkennen lässt. Wenn der Landadlige von seinem Leben als „halb geistlich halb weltlich Leben“ spricht, sticht er damit tatsächlich nämlich in ein Wespennest der geistlichen Schrifttradition. Es seien dabei hier nur zwei der Texte genannt, die als zeitgenössische Prä- bzw. Gegentexte zur zitierten Stelle bei Beer in Frage kommen: In Prokop von Templins Juventutale (1663) findet sich eine Passage, in der das halb geistliche, halb weltliche Leben („halb leinens / halb Schweinens / halb Geistlich / halb Weltlich“) als Verstoß gegen das „nemo potest duobus Dominis servire, Matth. 6. V. 24. […].“ der Bibel gedeutet wird – und dies unter Aufrufung nahezu derselben Räume, Bewegungen und Metaphern, die Wolffgang zur Bekräftigung seines Lebensentwurfs anführt:
152 SW 8: Sommer=Täge, S. 313 f. 153 Eine erhellende Studie zu Beers Umgang mit konfessionellem und religiösem Wissen hat Eybl vorgelegt. Seine These, dass Beer Religion und Konfession satirisch funktionalisiert, ohne zu einer festen Positionierung zu kommen, wird durch die folgenden Ausführungen bestätigt. Vgl. Franz M. Eybl: Zur erzählerischen Funktionalisierung des Konfessionskonfliktes bei Johann Beer. In: Beer. 1655–1700. Hofmusiker. Satiriker. Anonymus. Eine Karriere zwischen Bürgertum und Hof. Hg. von Andreas Brandtner, Wolfgang Neuber. Wien 2000, S. 55–82. 154 Thomas’ Formel lautet hier: „Et qui quaerit habere privata: amittit communia.“ („Und wer Eigenes besitzen will, verliert das Gemeinsame.“) Thomas von Kempen; De imitatione Christi. Nachfolge Christi und vier andere Schriften. Lateinisch und deutsch. Hg. eingeleitet und übersetzt von Friedrich Eichler. München 1966, S. 228/229. Auf die Stelle bei Thomas und ihre Relevanz für Wolffgangs Eremitage weist bereits Solbach: Johann Beer, S. 416, hin.
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[…] wann jhm aber [dem jungen Mann, S. Z.] das Closter eine melancolische Keichen [ein Kerker, S. Z.] zu seyn geduncket / vnd das Clösterliche Leben eine lautere Langweil / also daß man jhn nie besser trösten kan / als wann man jhn lasset außgehen / damit er seinen Spaß vnd Kurtzweil suchen möge bey den Weltlichen Uppigkeiten / Schnacken vnd Possen / so ist es vmb die Reinigkeit seines Gewissens geschehen! darumb vor Eingang in den Orden müsset jhr ewre Jntention vnd Meynung so formiren vnd richten / sonst wird ewer Ordens=Kleyd zwar Geistlich / jhr selber aber werdet Weltlich darinnen seyn; Habitus enim & tonsura non faciunt Monachum, sed sancta ac religiosa vita.155
Mindestens ebenso einschlägig – gattungshistorisch aber wohl noch interessanter – dürfte die zweite intertextuelle Dialogstelle sein. So wird im Rahmen der Pilger-Allegorese im zweiten Teil von Albertinus’ Landstörtzer Gusman vor dem „Stab der falschen Hoffnung“ gewarnt, den der Teufel dem heilsuchenden Christen in die Hand zu geben versuche. Unter den verschiedenen allegorischen Bedeutungen, die dieser Stab annehmen kann, erscheint die sechste besonders bedrohlich. Es handelt sich um die diabolische Erscheinung einer politisch unterwanderten Religiosität, in der alles doppelt, gemischt und zwiespältig, nichts aber eindeutig und klar ist: Der sechst Stab deß Sathans ist schecket oder bundt vnnd geknöpfflet / vnnd denselben führen die Politici, welche halb Geistlich / halb Weltlich / oder halb Christlich vnd halb Teufflisch seindt / […] vnd sich nach allen Winden richten vnd schicken können / von denen aber / so ein solcher vitam mixtam & duplicem in delitiis leben / die seyen gleich Layen oder obseruanzer, geschriben stehet / vsque quo claudicatis in duas partes, si Dominus Deus est sequimi eum […].156
Das von Albertinus am Schluss angeführte Bibelzitat entspricht 1 Kön 18,21 und gehört zum Aufruf des Propheten Elia an das Volk Israels, nicht weiter zwischen Gott und Baal zu schwanken, sondern sich für eine Seite zu entscheiden. Es handelt sich damit um das alttestamentliche Pendant zur Stelle aus dem MatthäusEvangelium (Matth 6,24), die Prokop bemüht und die bekanntlich in der für den christlichen Antichrematismus wegweisenden Sentenz mündet, der Mensch
155 Prokop von Templin: Juventutale. Das ist: Dreyssig Gelehrte / Geistreiche / doch mit grosser Klarheit wohl außgeführte dieser Zeit nothwendige nützliche Discursen oder Predigten Von der Jugend Wohl= vnd Vbelverhalten […]. Passau: Georg Höller 1663, S. 208 f. Dass Beer diese Schrift gekannt haben könnte, wird nicht nur durch den Textbefund nahegelegt. Auch der Umstand, dass Prokop in den 1660er Jahren am Passauer Mariahilfkloster tätig war, während Beer 1669/1670 an der Passauer Lateinschule lernte und dort wahrscheinlich auch mit geistlichem Schrifttum der Stadt in Berührung kam, liefert ein Indiz in diese Richtung. Zu Beers Ausbildung und konfessioneller Sozialisation vgl. Eybl: Zur erzählerischen Funktionalisierung des Konfessionskonfliktes bei Johann Beer, bes. S. 56–65. 156 LG, S. 600.
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könne nur entweder Gott oder dem Mammon, nicht aber beiden dienen. Spätestens hier schließt sich der intertextuelle Kreis um Wolffgangs Einlassung. Seine Strategie, die von Albertinus und Prokop verachtete vita mixta & duplex anzupreisen, indem er sie zur Garantin eines vermeintlich aus göttlicher Gnade zunehmenden irdischen Reichtums erklärt, steht so auffallend quer zum theologischen Diskurs, dass eine skeptische Gegenlektüre des Lesers geradezu herausgefordert wird.157 Eine solche kommt nicht umhin, die satirischen Signale der Hybridität und Zwiespältigkeit wahrzunehmen und nach dem im Roman möglicherweise doch eher ironisch beobachteten Verhältnis von Religion und Ökonomie noch einmal neu zu fragen. Wie sich dabei zeigt, spielt das, was Jan Rebhu im Welt=Kucker als Kunst der ‚raisonablen‘ Haushaltung bezeichnet hatte, in der Dilogie eine zentrale Rolle. Gewissermaßen auf seiner Rückseite liest sich der Roman wie eine satirische Genealogie kameralistischer Praktiken, in der, wie Peter es treffend, aber
157 Es ist übrigens durchaus möglich, die Reibungen zwischen Roman und theologischem Diskurs auch für die andere, die protestantische Seite nachzuweisen. Ein Ansatzpunkt böte hier Wolffgangs Aussage, er beneide die Brüder vom „Orden der fratrum ignorantiae“ darum, nichts von den politischen Fallstricken der Welt zu wissen: „[...] und ich wolte/ daß ich auch ein solcher Bruder seyn/ und um all diese Schelmen=Stücke nicht wissen könnte/ welche die Welt zu treiben pfleget.“ SW 8: Sommer=Täge, S. 324. Verräterisch ist diese Aussage zum einen deshalb, weil sie die Stoßrichtung der docta ignorantia einfach umdreht: Anstatt auf die geistlichen Dinge bzw. Gott bezieht sich die Unwissenheit der frommen Brüder laut Wolffgang auf die Welt, ist also überhaupt nicht theologischer Natur. Zum anderen legt sich die Beer’sche Figur mit dieser Aussage ausgerechnet mit Luther selbst an, der in seinen Tischreden eine deftige Polemik gegen die fratres ignorantiae vorgelegt hatte. Indem diese weder etwas von Gott, noch vom weltlichen Regiment und der rechten Haushaltungsführung wüssten, seien sie für keinen der drei Stände zu gebrauchen: „Daher kamen die [...] Fratres ignorantiæ, die vnwissenden Brüder / das waren grewliche Wunderthier von Leuten / wider die Natur / Denn alle Menschen sind Natürlich also gesinnet / das sie gern wolten etwas wissen / vnd gebraucht werden / Wie Aristoteles sagt / Allein die Mönche sind vngehewre Thier / grobe vngelerte Eselsköpffe / die nichts lernen noch wissen wollen / wider alle Natur / Wissen nicht wie man einen jeglichen nach seiner geschickligkeit vnd gelegenheit halten sol / Wissen nichts von den Göttlichen Stenden / die von Gott geordnet vnd gestifftet sind / Der Hausstand mehret vnd neeret / Der Weltliche schützt vnd schirmet / Der Geistliche oder Kirchenstand leret vnd vnterrichtet. Dauon wissen die Kappenhengste gar nichts.“ Hier zitiert nach der Ausgabe: Martin Luther: Colloquia Oder Tischreden D. Mart: Luthers / So er in vielen Jaren / gegen Gelarten leuten / auch frembden Gesten / vnd seinen Tischgesellen geführet [...]. Eisleben: Urban Glaubisch 1566, S. 373r–374v. Angesichts dieses Textbefundes kann von einem positiven, gar frühaufklärerisch gewendeten Votum des Romans für die docta ignorantia des Nikolaus von Kues natürlich keine Rede sein. So aber Ulrich Breuer: Herz und Kleid. Melancholie der Kommunikation in Beers Romandilogie. In: Johann Beer: Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter (1655– 1700). Beiträge zum Internationalen Beer-Symposion in Weißenfels Oktober 2000. Hg. von Ferdinand van Ingen, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 2003, S. 487–504, hier S. 501 f.
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ohne nähere Begründung ausgedrückt hat, der Einzug der „neue[n] Rationalität des modernen, weltlich orientierten Fürstenstaates in den Mikrokosmos einer adligen Haushaltung“ sukzessive vollzogen wird.158 Manifest wird diese Entwicklung dabei nicht nur in der Verfassung des ‚Ordens der Vertrauten‘, der laut Gründungsakte eigentlich als Stiftung adliger Geselligkeit angelegt ist, von Wolffgang jedoch unter der Hand zu einer Institution materieller Prosperitätsförderung umgedeutet wird.159 Auch und vor allem die Handlung um den Gutsherrn Zendorio-Wolffgang selbst lässt auf einen Wissenszuwachs in kameralistischen Dingen schließen. Der Ursprung dieses Wissens bzw. sein personaler Transfer wird in der Erzählung dabei allerdings verschleiert. Auf dem Höhepunkt seiner verwaltungstechnischen Umstrukturierungsmaßnahmen, die die endgültige Delegation der ökonomischen Aufgaben an den namenlosen Studenten und den alten Krachwedel mit sich bringen, wird Wolffgang von ersterem auf die Überlegenheit seines Wissens von der Haushaltung angesprochen. Wolffgang, so bemerkt der gewitzte Scholar, habe „eine weit bessere Mode / [sein] Hauswesen in gutem esse zu conserviren“ als die Gelehrten, die von der Akademie in die Armut ihrer Haushalte zurückkehrten.160 Auf die Provokation, die in diesem Lob verborgen ist – mit dem epochalen Reizwort „Mode“ suggeriert der Student die Neuartigkeit, ja moralische Fragwürdigkeit des Wissens, auf das Wolffgang setzt –, antwortet der Gelobte mit der Behauptung, er habe das Haushalten von seinem „seeligen Vatter gelernet“.161 Eine offensichtliche Lüge: In keinem der beiden Romanteile gibt es Spuren eines solchen Unterweisungsdiskurses, der von der staffageartigen, über wenig Autorität verfügenden Vaterfigur Monsieur Pileman alias Alexander von Willenhag wohl auch kaum zu erwarten wäre.162 Die genealogische Leerstelle, die auf diese Weise als solche erst markiert wird, lässt den vom Studenten ins Spiel gebrachten Verdacht der
158 Emanuel Peter: Verhaltensethik und Erzählgeselligkeit in Johann Beers ‚Teutschen WinterNächten‘. In: Geselligkeit und Gesellschaft im Barockzeitalter. Unter Mitwirkung von Knut Kniesant, Winfried Schulze und Christoph Strosetzki hg. von Wolfgang Adam. Bd. 2. Wiesbaden 1997 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 28), S. 781–791, hier S. 786. 159 Wie schon erwähnt, bezeichnet Wolffgang es zu Beginn der Sommer=Täge als Ziel des Ordens, das Vermögen der Mitglieder zu vermehren. Das Konzept der amicitia – unverzichtbare Basis der Ordensgeselligkeit – wird in diesem Zuge zur Voraussetzung ökonomischer Prosperität umgedeutet. Wenn Wolffgang die „Freundschafft“ preist, hat er den Aufschwung der adligen Landgüter stets mit im Blick: „Dann in guter Eintracht wächset das Land / und nimmt eines jeden Vermögen reichlich zu / da sich hingegen im Groll / Feindschaft / Haß und Widerwillen / alles zerreisset und verlieret.“ SW 8: Sommer=Täge, S. 8. 160 Ebd., S. 186. 161 Ebd. 162 Dass diese Unterweisung stattgefunden hat, von Zendorio bzw. Wolffgang im Lebenslauf aber nicht erwähnt wird, ist unwahrscheinlich, dokumentiert der Erzähler sonst doch sämtli-
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Traditionslosigkeit damit plötzlich plausibel erscheinen: Aus der Intention heraus, seinen Ruf als guter, frommer Hausvater zu wahren (oder überhaupt erst herzustellen), lenkt Wolffgang den Blick des Lesers ungewollt auf die Abweichungen seiner Praxis von der Überlieferung, in der der Topos von der väterlichen Haushaltsdoktrin noch im 17. Jahrhundert – etwa bei Coler oder auch im Teutschen Friedensrath – allgegenwärtig ist. Der Verlauf der Erzählung legt einen anderen Ursprung dieses Wissens nahe. Von einem Lernprozess in ökonomischen Dingen spricht Zendorio demnach zuerst im Zusammenhang eines Beratungsgespräches mit seinem Hofmeister, der als Figur eben jenes Profil erfüllt, das zeitgenössische Schriften wie Wündschs Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum für den Verwaltungsexperten bei Hofe entwerfen. Anlass der Beratung sind dabei wenig überraschend die die Stabilität des höfischen Haushalts besonders gefährdenden „extraordinar Auffgänge in Ehrensachen“ (Seckendorff).163 Zendorio, der erfährt, „daß 100. Gulden in die Cantzley eingelauffen“ sind, plant, das Geld in eine „Gasterey“ zu investieren.164 Der zu diesem Zweck herbeigerufene Hofmeister rät ihm jedoch ab, da das Geld, wie er erklärt, für die Deckung der laufenden Kosten mitsamt Sonderausgaben für das Gastmahl nicht ausreiche. Mit einer exakten Aufführung der zu erwartenden Ein- und Ausgänge der Kammer gelingt es ihm, den Herrn von seinem akuten Bedürfnis nach ‚adliger Lust‘ abzubringen: ‚Mein Herr‘ / sagte der Hoffmeister / […] ‚die Cassa ist dermalen sechs hundert und 13. Gulden reich. Die bevorstehende Mahlzeit richtet der Herr unter dreyhundert Gülden schwerlich aus / nun / wann diese hinweg sind / bleiben noch dreyhundert übrig / mit diesen reichen wir nicht / das Gesind zu bezahlen / sollte man einen Vorschuß thun / oder Geld deswegen aufnehmen / das macht eine Irrung in die Cantzley / und wenn mans betrachtet / ist diesem Schloß an der bevorstehenden Gasterey und Mahlzeit wenig gelegen / wir wollens versparen biß künfftigen Sommer / da die Renten vollständig sind / alsdann kan man ohne Schaden und Nachtheil mit einem guten Hinterhalt sich hervorthun und sehen lassen [...].‘165
Das kameralistische Wissen, das der Hofmeister vertritt, ist durchaus up-todate. So hatte etwa Seckendorff in seinem Fürsten=Stat zum selben Vorgehen geraten – es solle in ‚Ehrensachen‘ „alles ordentlich eingenommen vnd außgegeben“ werden, „was aber zu prächtig vngewöhnlich vnd vberflüssig / oder der Zeit vnd Gelegenheit nach nicht ohne schaden / Borg vnd Vnordnung zu
che Ereignisse und Diskurse, die die Entwicklung seines Haushaltes betreffen. Dazu im Folgenden mehr. 163 Seckendorff: Fürsten=Stat, S. 293. 164 SW 7: Teutsche Winternächte, S. 230. 165 Ebd.
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haben / lieber eingestellt oder verschoben“ werden – und dabei betont, dass auch in diesen Dingen die „richtige Ordnung“ der Kammer das erste Stück sei.166 Auf den diesbezüglich wissbegierigen Zendorio167 übt die Argumentation jedenfalls eine große Überzeugungskraft aus. Wenn er gegenüber dem Leser bemerkt, er habe „[a]us solcher Antwort des Hoffmeisters“ erst verstanden, „wie nötig es seye / eine richtige Ordnung zu halten“, benutzt er nicht nur genau die Worte Seckendorffs.168 Auch legt er entlang des kameralistischen Wissens des Hofmeisters den Grundstein für die funktionale Ausdifferenzierung der Bereiche von Ökonomie und Lust, die ihm die für die postpikarische Poetik des Romans ausschlaggebende strategische Beherrschung der exzessiven Dynamiken des Erzählens als ergötzliche Unterhaltung erlauben. Im Weiteren ergeht sich die Erzählung im steten Wechsel von Affirmation und subversiver Ironisierung des kameralistischen Wissens. Mag schon des Hofmeisters Bemerkung, es sei „diesem Schloß an der bevorstehenden Gasterey und Mahlzeit wenig gelegen“, ironisch erscheinen, da sie die Agenda der Institution der ihres Herrn überordnet (und damit den Kameralisten als radikalen Funktionalisten entlarvt),169 so zeugen zumal Zendorios eigene Einlassungen von der axiologischen Zwiespältigkeit des kameralistischen Haushaltskonzepts. In dem an die zitierte Passage anschließenden Selbstlob unternimmt der Hausherr den Versuch, die kameralistische Wirtschaftspraxis mit der katholischen Gnadenlehre kurzzuschließen. Dabei kollidieren die religiösen Begriffe so heftig mit dem praktischen Verwaltungswissen, dass die Inkompatibilität der Diskurse komisch zum Vorschein kommt: [U]nd dahero hielte ich einen rechten Christenlichen Staat / und kann es kein Mensch mit Grund der Warheit nachsagen / daß ich von denen Obersten biß zum Untersten einen
166 Seckendorff: Fürsten=Stat, S. 293. 167 Die Frage Zendorios an den Hofmeister, „ob es sich thun liesse / eine Gasterey auszurichten / und wie / oder auf was Weise solches anzufangen wäre“, zeugt von einem grundlegenden Erkenntnisinteresse. SW 7: Winternächte, S. 230. 168 Ebd. 169 Hinzu kommt, dass der Hofmeister von Zendorio später der „Causenmacherey“ und des Betrugs überführt wird, also letzthin sogar eine Gefahr für den Haushalt darstellt. Interessanterweise wird der für Zendorio trotz allem wichtige Wissenstransfer in der finalen Streitrede zwischen den Figuren nochmals betont. Auf seinen Rauswurf reagiert der Hofmeister mit den Worten, Zendorio „solle doch daran gedencken / wie treulich er [ihm] offt wegen ein und anderer Sachen gerathen und beygestanden.“ Zendorios Antwort enthält bei aller herrschaftlichen Strenge eine implizite Anerkennung dieser Ratschläge: „[…] aber ich sagte / daß das letztere das erste gantz verderbet / und daß es nunmehr gantz vergebens wäre / sich mit solchen Sachen zu entschuldigen / die er ohne dem / wegen Erforderung seines Amts / zu verrichten / wäre schuldig gewesen.“ Ebd., S. 231 f.
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Kreutzer vom Lohn bin schuldig geblieben: dann / ware schon klein meine Cammer / so war doch darinnen nicht Angst und Jammer / desgleichen war in meiner Cantzeley kein grosses Elend noch Armutey. Weil ich auch der Catholischen Religion zugethan ware / gab ich alles nach Verdienst / und wenig / oder gar nichts / aus Genaden […]. Auf eine solche Art machte ich fleissige Leute / und verhütete viel Diebstahl / der sonsten / in Ermanglung meiner guten Auszahlung / wäre verübet worden. Dann / das Gesind / welches nicht richtig noch völlig bezahlt wird / suchet allerley Gelegenheiten ihres Schadens theilhafftig zu werden […].170
Wenn Eybl darin zuzustimmen ist, dass es sich hier nicht um eine ernst gemeinte Theologisierung der Ökonomie, sondern um einen „konfessionellen Witz[ ]“ handelt, so lässt dies hinsichtlich der aus der materiellen Sicherheit heraus entstehenden religiösen Ansprüche der Figur tief blicken.171 Dass Zendorio in seinem als „recht[ ] Christenliche[r] Staat“ adressierten Landgut 172 „alles nach Verdienst / und wenig / oder gar nichts / aus Genaden“ gibt, macht ihn zu einer Art Präfiguration der theologisch windschiefen Gottes-Imago des zweiten Teils, in der die materielle Belohnung des seine frommen Werke verrichtenden Menschen von Wolffgang als Wahrzeichen der Gnade Gottes (fehl-)gedeutet wird. Zugleich und vor allem aber macht es den Rationalisierungsanspruch des sein Wissen durchsetzenden Kameralisten deutlich. Hierzu gehört, dass die Steuerung des ökonomischen Systems für Zendorio offenbar keine moralische Komponente mehr besitzt. Kommt es im Haus zu „Diebstahl“, so ist dies seiner Auffassung nach kein Beleg für die sittliche Zerrüttung der Dienerschaft. Vielmehr vertritt der Dieb in dieser Sichtweise eine rational nachvollziehbare Agenda, die
170 Ebd., S. 230 f. 171 Eybl: Zur erzählerischen Funktionalisierung des Konfessionskonfliktes bei Johann Beer, S. 73. Eine wichtige Frage beantwortet Eybl allerdings nicht: Wer macht diesen Witz? Ist es der Text bzw. dessen impliziter Autor, der auf diese Weise die Selbststilisierung der Figur zum christlichen Hausvater unter ironische Vorzeichen stellt? Oder ist es die (katholische) Figur, die hier ihre ironische Haltung zur (katholischen) Heilstheologie zum Ausdruck bringt? Die Tatsache, dass diese Frage nicht endgültig entschieden werden kann, sagt einiges über die bewegliche Diskursstruktur der Romane Beers aus: Es scheint in ihnen generell keinen autoritativen Fixpunkt zu geben, von dem aus die ironischen Aussagen der Figur(en) nach Kriterien der Wahrheit, der Moral oder des Glaubens ins Eigentliche übersetzt werden könnten. 172 Es darf immerhin als interessante Randnotiz angemerkt werden, dass der auch an dieser Stelle intertextuell präsente Seckendorff nur wenige Jahre nach Beers Willenhag-Dilogie mit dem Christen-Stat (1685) eine Abhandlung vorgelegt hat, die das praktisch-kameralistische Wissen in den Rahmen lutherischer Theologie einzufassen versucht. Ob Beer von diesem langjährigen Projekt Seckendorffs Kenntnis hatte, ist nicht zu sagen. Wäre dem so, besäße die zitierte Formulierung einen sehr konkreten satirischen Index, der das dichte Netz an Anspielungen auf Seckendorffs Fürsten=Stat um eine weitere Facette erweitern würde. Mit großer Sicherheit allerdings liegt hier eine Anspielung auf Johann Valentin Andreaes Utopie Christianopolis (1619) vor.
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ihm vorschreibt, „in Ermanglung […] gute[r] Auszahlung“ nach „Gelegenheiten“ zu suchen, seines „Schadens theilhafftig zu werden“.173 Dass unter diesen Umständen das Konzept hausväterlicher Moraldidaxe seine Leitfunktion einbüßt, kann nicht verwundern: Wo die Entstehung subversiver Aktivitäten im Haus ausschließlich an der Arithmetik der Verteilung materieller Güter hängen soll, greift der Rekurs auf moralisch-religiöse Normen ins Leere. Übrig bleibt die von Einzelhandlungen absehende sekundäre Beobachtung von „Cammer“ und „Cantzley“, deren absolute Bedeutung im kameralistischen Diskurs durch Zendorios hölzern-alberne Reime („Cammer [...] nicht Angst und Jammer“, „Cantzeley [...] kein Elend noch Armutey“) allerdings wiederum komisch unterlaufen wird. Unter den Mitgliedern des ‚Ordens der Vertrauten‘ macht das Beispiel Schule. Wenn auf ihren Landgütern etwas im Argen liegt, werden Zendorio und Wolffgang konsultiert, um bei der Reform der Haushalte behilflich zu sein. Ob im Fall Caspars in den Winternächten, der sich in einer Kreditspirale verfangen hat und von Zendorio den Rat erhält, umzuschulden und die Außenstände hernach möglichst rasch zurückzuzahlen,174 oder Friedrichs in den Sommer=Tägen, dem Wolffgang „in der Anrichtung seines neuen Haußwesens behülfflich“ ist „und sonsten mit allerhand Rathschlägen an die Hand gehen möchte / wie ein und anderer Hauß=Vorthel, derer er in seiner Einsidlerey biß daher ziemlich vergessen hatte / am füglichsten möchte unter Handen genommen werden“ 175 – stets scheint der Befragte Mittel und Wege zu kennen, die Haushalte in Ordnung zu bringen und ‚Nutzen‘ für die Freunde zu erzeugen. Die Figur Friedrichs spielt dabei in Beers subversivem Erzählverfahren offensichtlich eine besondere Rolle. Als Spiegelfigur Wolffgangs angelegt, tritt Friedrich gleich in mehreren Situationen als Empfänger ökonomischer Ratschläge in Erscheinung. Dass es den beiden Teilzeit-Eremiten dabei vor allem ums Materielle geht, macht die zitierte Feststellung Wolffgangs, der Freund habe die „Hauß=Vorthel [...] in seiner Einsidlerey biß daher ziemlich vergessen“, bereits deutlich. Vollends desillusioniert wird der an die Frömmigkeit der Figuren möglicherweise noch glaubende Leser schließlich in der Passage um Friedrichs Verwalter. Dieser wird von sei-
173 Auch hier hat Beer offenbar Seckendorff vor Augen. So rät der Fürsten=Stat, dass der Herr dem Diener „seine Besoldung […] zu rechter Zeit reichen […] lest / damit er seine Dienste mit Frewden vnd ziemlichen Ergetzung verrichte / vnd so viel weniger Anlaß zu untrew vnnd Ergreiffung vngebührlicher Mittel habe“. Seckendorff: Fürsten=Stat, S. 84. 174 SW 7: Winternächte, S. 275. Caspar dankt es ihm mit den Worten, Zendorios „Lehre“ sei „nützlicher / als der gantze Discurs / den wir / Zeit meiner Hochzeit / untereinander geführet haben“ (ebd.) – eine Bestätigung der These, dass Zendorio über ein Wissen verfügt, das von den Figuren der erzählten Welt als besonders nützlich angesehen wird. 175 SW 8: Sommer=Täge, S. 54.
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nem Konkurrenten, einem Schreiber, angeklagt, ein Faulpelz, Dieb und Leuteschinder zu sein. Und tatsächlich trifft Wolffgang bei seinem Besuch in Ichtelhausen, Friedrichs Schloss, eine Gestalt an, die Misstrauen erregt. Der Schreiber, von Wolffgang sofort als Heuchler erkannt, trägt seine Vorwürfe vor, während der Angeklagte sich unbeholfen zu verteidigen sucht, dabei aus Diskretionsgründen immer wieder ins Lateinische übergehend, „welches ob ers wol abscheulich untereinander hervor brachte / dennoch von dem Friderich wol verstanden wurde. Also muste sich der Verwalter jämmerlich lassen durch die Hechel ziehen [...].“ 176 Im Verlauf der Handlung gelingt es dem Verlachten jedoch, seine Tauglichkeit als Haushälter nachzuweisen. In Ermangelung rhetorischer Mittel kommt ihm der durchaus witzige Einfall, die res, auf die das Begehren der Adligen ausgerichtet ist, einfach direkt zu präsentieren. Mit einem Nachtischkorb voller Geld – Wolffgang identifiziert auf einen Blick „vier Schaalen [...]: Zwey voll Ducaten / zwei voll Reichs=Thaler / und das übrige Theil [...] war voll halbe Thaler und alter Groschen“ – und dem dazugehörigen Haushaltsbuch wischt er die gegen ihn erhobenen Zweifel vom Tisch.177 In seiner folgenden Erklärung, die sich einmal mehr an Wündschens Memoriale zu orientieren scheint,178 treten die von allen moralischen Bedenken absehenden Kriterien seines Handelns zutage. Wenn kein Korn in der Scheune zu finden sei, so liege dies daran, dass er sich entschieden habe, es „mit grösserem Profit unter die Ausländer zu verkauffen“.179 Das Vieh habe er während Friedrichs Abwesenheit abgeschafft, um die Wiesen zu einem „richtigen Zinß“ zu verpachten, „da mancher hingegen vor sein Vieh nebenst seinen Wiesen noch Futter darzu kauffen und schaffen muß“.180 Da alle gedacht hätten, die Herren würden „ihr eremiti-
176 Ebd., S. 110. 177 Ebd. 178 Im Abschnitt von „Defectis in Rechnungen“ behauptet der sächsische Fürsten- und Beamtenratgeber, „ein Oeconomus“ sei „einem Kauffmann nicht unbillich gleich zu schätzen / denn wie ein Kauffmann seine Waaren auffs beste verkauffet / oder außhocken läst / als er immer kann / also soll auch der Verwalter seyn“. Wündsch: Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum, S. 231–247, hier S. 232. 179 SW 8: Sommer=Täge, S. 110. Dies ein Beispiel für die satirische Überdrehung der bei Wündsch gegebenen Ratschläge. Heißt es im Memoriale demnach, der Verwalter „soll auffs beste zusehen / wie er sein Getreyde auffs theureste loß werden […] kan“ (Wündsch: Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum, S. 232), so folgt Friedrichs Verwalter diesem Rat genau. Durch den Verkauf des Korns an die Ausländer, der bei Wündsch so natürlich nicht empfohlen wird, hebt Beers Text jedoch die bedenklichen Konsequenzen der Chrematisierungstendenz hervor: Der Nutzen des Kornverkaufs mag für dessen Besitzer, Friedrich, vorhanden sein; jedoch entzieht er bzw. sein Verwalter den Untertanen und Landsleuten damit die Nahrung. Im Fall einer höheren Zahlungskräftigkeit der Ausländer ziehen sie auf dem Markt den Kürzeren. 180 SW 8: Sommer=Täge, S. 110.
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sches Leben in der Einsidlerey zubringen“, sei ohnehin „nicht viel Pferde noch Gesind nütze“ gewesen, infolgedessen habe er „auf das genaueste Haus gehalten / und das unnöthige Volck abgeschaffet / dadurch [er] viel an dem Jahrlohn ersparet“ habe.181 Schließlich habe er sogar beim Almosengeben auf den Nutzen des Hauses geachtet, denn das ans Spital gegangene Korn sei „wurmicht“ und die Schweine „pfünnig“ gewesen, was den Kranken aufgrund ihres schon vorhandenen Leidens aber keinen Schaden habe bereiten können.182 Krachend satirisch endet die Episode damit, dass die beiden Adligen die „schöne Baarschafft / welche der Verwalter in so geringer Zeit / mit so behutsamer Bescheidenheit [!] / gesammlet hatte“,183 glücklich einstreichen und den verleumderischen Schreiber mit Prügeln vom Hof jagen. In dessen dabei ausgerufenen Schmähungen, das Geld im Korb sei „armer Leute Schweiß“, aber „[w]as fragen die Edelleute darnach / er mag es herhaben / wo er will / wenns nur da ist“, steckt eine subversive Wahrheit, die in der erzählten Welt allerdings folgenlos verhallt.184 Das letzte Wort im Kapitel behält der Verwalter, der die Herren nochmals an die alle rhetorischen Argumente ausstechende Präsenz des Geldes erinnert: „Jhr habt zwar gemeynet / des Schreibers seine Wort sind lauter Gold und Silber; aber sehet hie diese Hauffen an; gelt / ihr Herren / es glänzet besser / als Tauben=Pfifferling [...].“ 185 Angesichts dieser chrematistischen Abgründe bleibt das Projekt Wolffgangs (und Friedrichs), sich durch Weltflucht einen „Vorthel“ im Himmel zu verschaffen, ein Muster ohne Wert. Je mehr der Roman dem Ende entgegengeht, desto klarer wird, dass die prekäre Doppelerzählung vom kameralistischen Profitmaximierer und frommen Eremiten nur um den Preis der Ausblendung des (eigenen) Hauses als Erzählraum zu haben ist. Die Tendenz dazu zeichnet sich in den Winternächten schon ab, wenn Zendorio bemerkt, niemand könne die
181 Ebd., S. 111. 182 Ebd. Die unchristliche Motivation des Verwalters wird im Folgenden per Publikumsanrede auf die Spitze getrieben: „Wer meine Freygebigkeit eine Verschwendung heissen kan / der trette hervor / und sage mir / wo ich die pfinnige Säue / und mit was für einem Gewissen ich sie hätte verkauffen sollen? Es sage mir einer / was ich mit dem faulen Korn solte angefangen haben? Die Leute / denen ich es gegeben / musten [!] mir die Bäume butzen / den Mist auf dem Felde ausbreiten / und also dörfft Ihr euch nicht verwundern / daß so wenig im Hoffe liget / weil über die hundert Fuder auf denen Feldern ligen / dort nützet er mehr als in der Miststatt [...].“ Ebd. 183 Ebd., S. 112. 184 Die einzige Folge ist, dass der Schreiber im Anschluss aufgegriffen und ins Verlies geworfen wird, wo er für die „höchst frevelhafftig aus seiner verleumbderischen Zungen=Scheide heraus gestossen[en]“ (ebd.) Exklamationen büßen muss. 185 Ebd.
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„Causen aller erzehlen / die sich in solchen Zufällen“ – gemeint sind die Vorfälle mit der Dienerschaft – „ereignen“.186 Was hier freilich noch als kokette Geste in Richtung des nach immer neuen „Causen“ dürstenden Publikums gedeutet werden kann – der Entzug macht das Begehren als solches erst sichtbar –, nimmt in den Sommer=Tägen schließlich die Gestalt einer innerhäuslichen Erzähl- und Nachrichtensperre an. In seinem an den Studenten, den späteren Verwalter, adressierten Regelkatalog setzt Wolffgang das Gebot absoluter Verschwiegenheit über die häuslichen Dinge an erste Stelle: Erstlich schwätzet mir nichts zu. Es mag in dem Schloß vorüber gehen / was da will / so solt ihr mir doch nichts davon in das Ohr blasen / noch euren Nächsten durch ein lästerliches Achseltragen bey mir oder auch bey meinem Weib verkleinern / hinein hauen / oder ihme ein Klämplein anhängen.187
Dass dieses Dekret vom kameralistischen Diskurs nicht gedeckt ist, braucht kaum der Erwähnung. So lassen sich in den Schriften zwar Stellen finden, an denen vor den Gefahren von Denunziation und Spitzelei gewarnt wird – etwa wenn Wündsch in seinem Memoriale betont, es geschehe oft, dass in einer Haushaltung „ein grosser Dieb den kleinen Dieb vom Dienste“ bringe, „damit es das Ansehen haben soll / ob wäre er der Redlichste“.188 Selbstverständlich läuft dies bei den kameralistischen Autoren aber nicht auf die Empfehlung hinaus, die Information über subversive Praktiken zu unterbinden.189 Auch aus der Handlung des Romans lässt sich keine in der ökonomischen Sache begründete Motivation für Wolffgangs Gebot erschließen. Nimmt man das diesbezüglich besonders einschlägige Beispiel von Friedrichs Schreiber, so erhellt aus diesem im Gegenteil gerade die Zweckmäßigkeit der herrschaftlichen „Inquisition“.190 Nicht nur gelingt es Wolffgang offenbar mühelos, die „Häßligkeit der Verleumbdung und heimlichen Nachrede“ des Schreibers zu erkennen.191 Auch kann durch die Befragung der Beteiligten der Sachverhalt so aufgeklärt werden, dass der Hausherr am Ende der Episode seinen Nutzen wiederhergestellt sieht.
186 SW 7: Winternächte, S. 230. 187 SW 8: Sommer=Täge, S. 185. Die beiden weiteren Gebote erscheinen weniger ungewöhnlich. So wird der Student aufgefordert, auf Schmiergeld zu verzichten und keine heimlichen Buhlschaften zu unterhalten. 188 Wündsch: Memoriale Oeconomicum Politico-Practicum, S. 234. 189 Ganz im Gegenteil findet sich bei Seckendorff oder Wündsch kaum ein Kapitel, in dem vergessen wird, an die Pflicht zur sorgfältigen Überprüfung und Überwachung der Bediensteten zu erinnern. 190 SW 8: Sommer=Täge, S. 109. 191 So Wolffgangs Formulierung gegenüber dem Schreiber, den er nach dem Skandal in Ichtelhausen als geläuterten Mann übrigens wieder einstellt. Ebd., S. 145.
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Erst der zweite Blick dringt tief genug in die Struktur der doppeldeutigen Erzählung ein, um das Interesse Wolffgangs am Schweigen seines Verwalters zu erklären. Wie die Episode um Friedrichs Schreiber letzthin ja auch zeigt – und hierin liegt die Dialektik der hofmeisterlichen Aufklärung –, droht im Transfer von Wissen aus dem Innern des Hauses stets auch ein Teil der Wahrheit über die Ursachen des Reichtums der Landadligen ans Licht zu kommen. So hatte der vom Schreiber angeklagte Verwalter in der Befragung nicht nur die Praktiken kameralistischer Profitmaximierung schonungslos geschildert, sondern sich in seiner Apologie auch auf den göttlichen Segen berufen, den er „zum grossen Aufnehmen des Guts“ durch die Spende des verdorbenen Korns und der kranken Schweine auf seinen Herrn gelenkt habe („Durch was hat man aber einen mehrern Seegen / als durch das Allmosen zu hoffen?“).192 Wenn Wolffgang, wie vor ihm schon Zendorio,193 diese Formel am Ende des Romans bedient, um seine Erhörung von Gott zu reklamieren, sollte dies entsprechend den Verdacht des Lesers erregen – zu zwiespältig bleibt die Freude der Figur über den wachsenden Reichtum, zu offensichtlich dienen auch ihre frommen Stiftungen dem Zweck profaner Selbstinszenierung.194 Zur Komplementär192 Ebd., S. 111. 193 „Erstlich glaubte ich / es gienge der Cantzley zu gut / aber […] es gienge mir im gantzen Hauß=Wesen sehr unglücklich / weil ich den Seegen verlohren / durch welchen alles erhalten und conservirt wird.“ SW7: Winternächte, S. 231. 194 Nachdem Wolffgang erfahren hat, dass sich seine „Güter indessen ein merckliches vermehret“ haben, und er eine offene Schuld von Dietrich „gleichsam doppelt“ zurückgezahlt bekommen hat, entscheidet er sich, mit „diesem Schatz […] eine Kirche zu bauen / und mir dadurch viel ein länger Gedächtnuß zu stifften / als wann ich ungerathene Kinder gezeuget hätte / welche mich in dem Grab geschimpffet / und meinen Nahmen der Nachwelt zum Spott gemacht hätten. Ha / es ist dir besser / sagte ich / daß du ohne Kinder stirbest / als daß du eine ungerathene Frucht auf Erden lässest. Wilst du ein Gedächtnuß nach dir / so baue eine Kirche / begabe sie mit guten Einkünfften / so ist der Handel schon richtig.“ SW 8: Sommer= Täge, S. 313. Die Ironie der Erzählung tritt auch hier deutlich hervor: Von der flapsigen Sprache einmal abgesehen, bleibt Wolffgangs Verzicht auf genealogische Fortzeugung in dem Maße zweifelhaft, in dem er von seinen Kindern bloß üble Nachrede erwartet. Dies provoziert zum einen die Frage, was der fromme Mann zu verbergen hat bzw. warum er an ein positives Nachleben im Kreis der Familie partout nicht glaubt. Zum anderen schneidet Wolffgang mit dieser Formulierung die von ihm selbst zuvor (lügenhaft) ausgezogene Linie häuslich-familiärer Kontinuität ab. Was er angeblich von seinem Vater gelernt haben will – die Art und Weise gut hauszuhalten –, geht mit ihm ins Grab – ein weiterer Hinweis auf die tendenzielle Traditionslosigkeit des Wissens, auf dem der irdische Erfolg der Figur basiert. Mit der Bezeichnung der frommen Stiftung als „Handel“ lenkt der Weltflüchtling schließlich den Verdacht des Chrematismus auf sich: Noch dort, wo er aus religiösen Motiven zu handeln vorgibt, ist seine Sprache von einer Semantik des Marktes und des Profits gekennzeichnet. Hierzu passt, dass auch die Stiftung der Kirche das ökonomische Engagement der Figur nicht beendet. Ihr Aufstieg zu immer größerem Reichtum geht vielmehr ungebrochen weiter. Noch zum Zeitpunkt des Erzäh-
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lektüre regt die Erzählung dabei schließlich umso mehr an, je deutlicher der der Beobachtung entzogene Raum des Hauses ex negativo – nämlich im Modus des Entzugs – auf die Möglichkeit pikarischen Erzählens selbst verweist (und damit aus dem kameralistischen Diskurs subversiv ausscheidet). Spätestens mit der Einsetzung des abgedienten Krachwedel als „Hauß-Hoffmeister“ und des zu Streichen aufgelegten Studenten als „Verwalter“ wird Wolffgangs Schloss zu einem institutionellen Spiegel jenes Begehrens nach Abweichung, Störung und Unterhaltung, das der Schlossherr durch sein beredtes Schweigen zugleich dementiert und verstärkt.195 Mitten in Wolffgangs Ordnung des Eigenen, in den Ellipsen des postpikarischen Diskurses, leben und wirken die Anderen, denen die Aufrechterhaltung der ökonomischen Struktur zuzutrauen, heißt, dieser Struktur selbst nicht recht zu trauen.
lens gilt, was Wolffgang kurz vor Ende seines Lebensberichts von sich sagt: dass er „endlich unter die Reichesten im gantzen Land gezählet worden.“ Ebd., S. 314. 195 Ebd., S. 260, 264.
6 Offenes Ende: Pikarisches Erzählen vor und nach 1700 Auf der Suche nach einem Ort des Eigenen durchkreuzen, unterwandern, usurpieren Picaros Ordnungen ökonomischer Art. Auf dieser einfachen Annahme basierte die Thesenbildung vorliegender Arbeit. Was die Analyse des in den Romanen je unterschiedlich inszenierten Widerspiels von Mustern taktischen und strategischen Handelns, von haltloser Bewegung und (vermeintlich) erlangter Raum- und Diskursbeherrschung zutage gefördert hat, ist eine Vielzahl von Bruch-, Schnitt- und Nahtstellen, an denen pikarisches Erzählen ökonomisch codiert erscheint. Von der abgründigen Spiegelung von Parasitentum und ökonomischer Macht im Lazarillo und der brüchigen heilsökonomischen Überschreibung des Pikarischen bei Albertinus bis hin zum parasystemisch aufgefächerten, metaökonomischen Romanzyklus Grimmelshausens und den zweideutigen Ökonomisierungsprojekten der Picaros Beers präsentieren die Texte poetische Syntaxen der Störung, Unordnung und nicht-autorisierten Neuordnung, die die Ordnungs- und Funktionalitätsbehauptungen ökonomischer Diskurse variantenreich unterlaufen. Dabei deutet die nur teilweise offene, häufig auch subkutane und ironische Subversivität der Erzählungen auf deren strukturelles Reflexionspotenzial hin. Offenbar ist es nicht die seit Bachtin immer wieder postulierte Entfaltung (und autoritäre Bekämpfung) einer ‚karnevalistischen Gegenkultur‘, die die pikarische Durchkreuzung des Ökonomischen im 17. Jahrhundert zu einem anhaltend interessanten literarischen Verfahren macht. Vielmehr führen die Handlungen und Bewegungen der Figuren, sei es der Aufstieg Lazarillos oder die Bekehrung Gusmans, sei es Simplicissimus’ Etablierung als Herr des simplicianischen Hauses, Jucundus’ Übernahme des adligen Schlosses oder Zendorios und Wolffgangs verdeckter Import kameralistischen Wissens, die Grenze vor Augen, an der das Eigene und das Andere der Ökonomie ununterscheidbar zu werden drohen. Erst an dieser Grenze – der Demarkationslinie sozialer, aber auch epistemischer In- und Exklusionsprozesse der erzählten Welten – wird das pikarische Spiel mit den Paradoxien und Brüchen des transferierten Wissens ‚spannend‘ genug, um den Erzählungen ihr sujethaftes Gepräge und ihre alteritäre Reflexivität zu verleihen. Die These vom Picaro als Dritten, der, indem er in den „Zwischenräumen der Codes“ 1 handelt, die paradoxen Voraussetzungen dieser Codes erst beobachtbar macht, hat sich als Schlüssel zu den zentralen Erzähl- und Erkenntnisproblemen der Romane erwiesen.
1 Certeau: Kunst des Handelns, S. 237. https://doi.org/10.1515/9783110486636-006
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Im Rückgriff auf systemtheoretische Begriffsbildungen ließe sich damit feststellen, dass pikarische Romane der Frühen Neuzeit ihren literarischen (und epistemischen) Mehrwert aus Verfahren der Selbstreferenzunterbrechung generieren. Was darunter zu verstehen ist, sei mit einem Seitenblick auf vorhandene Ansätze der philologischen Frühneuzeitforschung kurz erklärt. In seiner Arbeit zur medialen und epochalen Transitivität der Werke Christian Weises hat ClausMichael Ort auf die Fähigkeit literarischer Texte im Allgemeinen und der Dramen Weises im Besonderen hingewiesen, die Einheit von Leitdifferenzen zu thematisieren und auf diese Weise die Selbstbezüglichkeit der auf deren Basis operierenden Semantiken zu unterbrechen. Eine solche „Unterbrechung paradoxer (tautologischer, zirkulärer) Selbstreferenz“, die sich in der Zeit vor 1700 zumal auf die Unterscheidungen von Tugend und Laster sowie Ergötzung und Nutzen beziehe, indiziere, daß die jeweiligen Unterscheidungen im Rahmen alternativer Unterscheidungen zur Disposition stehen. Unterscheidungen, die im Kontext gleichwahrscheinlicher Alternativen kontingent werden, büßen ihre soziale Funktionsfähigkeit ein: Wenn Literatur sowohl als ‚Lust‘ oder ‚Nutz‘ als auch als ‚schön‘ oder ‚häßlich‘ bewertet werden kann, hat sie nicht nur die gestiegene Komplexität verdoppelter Wahlmöglichkeiten zu verarbeiten, sondern auch intrinsisch zu vermitteln, welche der Optionen erfolgreich sein soll […].2
Dass diese Beobachtungen auch zur Beschreibung pikarischen Erzählens herangezogen werden können, steht am Ende vorliegender Untersuchung fest. Sowohl die horazische Unterscheidung von prodesse und delectare als auch moralische und religiöse Leitcodes (Laster/Tugend, Sünde/Heil, Gott/Geld usw.) verlieren in den zwiespältigen Erzählungen der Picaros ihren Halt und werden dadurch auf ihre ‚blinden Flecke‘ hin durchsichtig. Da dies jedoch auf der Ebene einer als abweichend markierten, hybriden Diskursivität geschieht, bleibt die indizierte Dysfunktionalität der Codes in den Romanen von vornherein auf einen Rahmen bezogen, der Resonanzen in anderen Diskursarealen zwar nicht völlig unterbindet – man denke hier nur an die funktionalen Überschneidungen von Albertinus’ Landstörtzer-Roman und seinen (sonstigen) Erbauungsschriften –, sehr wohl aber dämpft und segmentär entschärft. Was Ort von der Komödie des 17. Jahrhunderts sagt, die die „Einheit literaturfremder Unterscheidungen thematisier[en]“ könne, „ohne daß deren Funktion dadurch beeinträchtigt würde“, gilt auch und erst recht für den pikarischen Roman.3 Auch ohne die
2 Claus-Michael Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz. Christian Weise und die literarische Epistemologie des späten 17. Jahrhunderts. Tübingen 2003 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 93), S. 6. 3 Ebd.
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problematische, weil anachronistische Unterstellung einer autonomen Funktion ‚der‘ Literatur vor 1700 lässt sich das Differenzverhältnis der Erzählungen zu anderen literarischen Diskursen der Zeit erklären: als Voraussetzung und Produkt ihrer spezifischen generischen Anlage, die die Eröffnung eines dritten Diskursraumes, das Auserzählen der alteritären Agenda des Picaros, gestattet. Wie die Einschränkungen der letzten Sätze schon andeuten, geht die Anwendung der von Ort und anderen literaturwissenschaftlich adaptierten Systemtheorie4 auf den frühneuzeitlichen Picaro-Roman allerdings nicht ohne bedenkenswerte Problemreste auf. So scheint es insbesondere kaum angebracht, das Korpus der Texte ins Raster einer Evolutionsgeschichte der Literatur einzuspannen, in dem Phänomenen frühneuzeitlicher ‚Selbstreferenzunterbrechung‘ Relevanz nur als Symptome historisch-epochaler Übergängigkeit zugeschrieben wird.5 Einsprüche sind von zwei Seiten zu erheben: Zum einen ergibt sich die Gefahr, aus der Analyse eines eher marginalen Teils des frühneuzeitlichen Lite-
4 Zum systemtheoretischen Ansatz der Literaturwissenschaft vgl. die theoretischen Arbeiten von Harro Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft. In: Neue Literaturtheorien. Eine Einführung. Hg. von Klaus-Michael Bogdal. Opladen 1990 (WV-Studium 156), S. 201–217; Dietrich Schwanitz: Systemtheorie und Literatur. Ein neues Paradigma. Wiesbaden 1990 (WV-Studium 157); Niels Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation. Opladen 1992; Georg Jäger: Systemtheorie und Literatur. Teil I. Der Systembegriff der Empirischen Literaturwissenschaft. In: IASL 19 (1994), S. 95–125; Claus-Michael Ort: Systemtheorie und Literatur. Teil II. Der literarische Text in der Systemtheorie. In: IASL 20 (1995), S. 161–178; Oliver Jahraus, Benjamin M. Schmidt: Systemtheorie und Literatur. Teil III. Modelle systemtheoretischer Literaturwissenschaft in den 1990ern. In: IASL 23 (1998), S. 66–111; Christoph Reinfandt: Systemtheorie und Literatur. Teil IV. Systemtheoretische Überlegungen zur kulturwissenschaftlichen Neuorientierung der Literaturwissenschaften. In: IASL 26 (2001), S. 88–118; Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, bes. S. 31–64. Außerdem die maßgeblichen Sammelwerke: Siegfried J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven. Opladen 1993; Gerhard Plumpe, Niels Werber (Hg.): Beobachtungen der Literatur. Aspekte einer polykontexturalen Literaturwissenschaft. Opladen 1995; Jürgen Fohrmann, Harro Müller (Hg.): Systemtheorie der Literatur. München 1996 (UTB 1929); Niels Werber (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Begriffe – Methoden – Anwendungen. Berlin 2011. Die neben Orts Studie wichtigste systemtheoretisch inspirierte Untersuchung zur Literatur vor und nach 1700 hat Stöckmann vorgelegt: Ingo Stöckmann: Vor der Literatur. Eine Evolutionstheorie der Poetik Alteuropas. Tübingen 2001 (Communicatio 28). 5 Nach dem Vorbild Luhmanns versteht Ort die Frühe Neuzeit als „Phase des Wandels von der älteren zur neueren Literatur“. Ort: Medienwechsel und Selbstreferenz, S. 2. Abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, ob ‚Wandel‘ ein spezifisches Epochenkriterium sein kann, bleibt die Zuweisung von ‚alt‘ und ‚neu‘ im bezeichneten Zusammenhang unklar. Der Hinweis auf Foucaults These von einer historischen Ablösung analogischer durch repräsentationslogische Wissensordnungen und einen Medienwechsel zwischen Mittelalter und Neuzeit kann die problematische Entdifferenzierungstendenz jedenfalls nicht ausreichend auffangen (ebd.).
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ratursystems auf dessen teleologische Entwicklung als Ganzes zu schließen – bzw., andere Seite desselben Problems, diese Entwicklung einfach vorauszusetzen und anhand der Beispiele dann zirkulär nur zu ‚bestätigen‘.6 Zum anderen stellt sich die Frage nach der historischen Einordnung dessen, was in systemtheoretischer Terminologie als ‚Selbstreferenzunterbrechung‘ bezeichnet wird. Dem evolutionslogischen Ansatz der Luhmann’schen Systemtheorie zufolge indiziert das Heraustreten von Paradoxien aus der Latenz – etwa eben die literarische Thematisierung der Einheit von Leitdifferenzen – zugleich ein „Problemund ein Problemlösungspotenzial“.7 Mit der „Blockade der Unterscheidung als (paradoxe) Einheit“ sinke die Anschlussfähigkeit des Diskurses in seiner herkömmlichen Form, könne durch Verfahren der hierarchischen und/oder temporalen Differenzierung jedoch auf höherem Komplexitätsniveau wiederhergestellt und ausgebaut werden: „Beide semantischen Strategien machen Anschlußkommunikation und Anschlußunterscheidungen wahrscheinlicher und Selbstreferenz in ihrer Unterbrechung zugleich als solche sichtbar [...].“ 8 Ob eine solche Funktion literarischen Texten der Frühen Neuzeit überhaupt zugeschrieben werden kann – ob sie im historischen Prozess tatsächlich an der Entparadoxisierung systemrelevanter Semantiken mitarbeiten und um welche Texte, Schreibweisen, Gattungen es sich dabei handelt –, ist eine ebenso komplexe wie weitreichende Frage, die hier nicht zu beantworten ist.9 Was nach der Analyse der pikarischen Romane aber sicher gesagt werden kann, ist, dass diese die durch das Zusammenbrechen der Codes sichtbar werdenden Paradoxien offensichtlich gerade nicht entschärfen, sondern, ganz im Gegenteil, durch Auf-
6 Auch diese Tendenz tritt bei Ort deutlich zutage. So konzediert er einerseits, „allein anhand von Weises Dramen“ sei „nicht zu entscheiden“, „[o]b und wie sich um 1700 ein weitreichender literarischer Wandel vollzieht und auf welche Weise dieser etwa als Funktion außerliterarischer Wandelsprozesse interpretiert werden kann“; andererseits wird aber gerade dieser Wandel für die Thesenbildung zu Weises Dramen positiv in Anschlag gebracht. Ebd., S. 7. 7 Ebd. 8 Ebd., S. 5 f. 9 Ein seinerseits von systemtheoretischen Konzepten ausgehender, tendenziell jedoch konträr argumentierender Ansatz wäre der Alts, der feststellt, es gehöre zu den „erbrachten Beobachtungsleistungen“ der Literatur, „dass sie Synkretismen, Anachronismen und Paradoxien verarbeitet, sie aber nach den Regeln der Logik nicht auflöst, sondern auf sich beruhen lässt.“ Peter-André Alt: Beobachtungen dritter Ordnung. Literaturgeschichte als Funktionsgeschichte kulturellen Wissens. In: Grenzen der Germanistik: Rephilologisierung oder Erweiterung? DFGSymposion 2003. Hg. von Walter Erhart. Stuttgart, Weimar 2004 (Germanistische SymposienBerichtsbände 26), S. 186–209, hier S. 199 f. Durch Alts Konzentration auf die Zeit nach 1750 stellt sich freilich die Frage, ob und in welchem Maße diese Funktion auch für die Literatur der Frühen Neuzeit postuliert werden kann. Sie ist, so scheint mir, nur über den Weg gattungsmäßiger Differenzierung der Analyse zu beantworten.
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schub, Abbruch und elliptisches Erzählen formal auf Dauer stellen. Die vorliegender Arbeit vorangestellte Frage Serres’, ob wir bei den Operationen des Parasiten „vor der Pathologie der Systeme oder vor ihrer Entstehung und Entwicklung“ stehen, sollte in ihrer paradoxen Absage an evolutive Denktraditionen für den pikarischen Roman daher ernst genommen werden.10 Gerade dort, wo Picaros erfolgreich handeln, wo sie mittels Klugheit, List oder durch Glück dauerhaft funktionale ökonomische Systeme implementieren, laden die Texte dazu ein, den Anspruch der vorgestellten Ordnungen auf ein paradoxiefreies Weltverhältnis skeptisch zu hinterfragen. Dies – nicht mehr, aber auch nicht weniger – ist der Beitrag des Genres zum Ökonomiewissen der Frühen Neuzeit, dessen erhebliche Komplexität sich mithin auch (und vielleicht gerade) an den Rändern des offenen literarischen Systems, in den Zonen subversiven Erzählens, manifestiert. In diesem Sinne ist abschließend nochmals für eine Literaturgeschichtsschreibung der Frühen Neuzeit zu argumentieren, die sich von epochalen Großthesen löst, um in der synchronen und diachronen Analyse einzelner Gattungen und Schreibweisen haltbarere Antworten auf die Frage nach den Bedingungen und Folgen von Wissenswandel im diskursiven Bezugsfeld der Texte zu finden. Dabei liegt auf der Hand, dass diese etwa im Fall des Schuldramas Weises anders ausfallen müssen als im hier untersuchten Fall des pikarischen Romans: Die formalen und sonstigen institutionellen Unterschiede zwischen den Gattungen sind so groß, dass sich die in der Analyse gewonnenen Einsichten nicht ohne erhebliche Verluste in ein kompaktes Epochenbild fügen dürften. Heuristisch aussichtsreicher, wenngleich wiederum segmentär beschränkt, erscheint der Vergleich enger verwandter Gattungen, wie sie im Bereich ‚niederen‘ Erzählens des späteren 17. Jahrhunderts im politischen und pikarischen Roman vorliegen. Auf Grundlage der These, dass der aus der historischen Makroperspektive erkennbare (oder zumindest postulierte) „Normwandel“ 11 ‚der‘ Literatur um 1700 das heterogene Produkt einer Vielzahl von Dynamiken der Fortsetzung, der Transformation, aber auch der Ersetzung und des Abbruchs von Schreibweisen auf den verschiedenen Ebenen des historischen Diskurssystems ist, ließe sich vermuten, dass die dominanten Figurationen politischer Klugheit in den Romanen Weises, Riemers, Ettners oder auch Kuhnaus12 Symptome einer funk-
10 Serres: Der Parasit, S. 30. 11 Peter-André Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik. 3., aktualisierte Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S. 65. 12 Dass längst nicht alle Romane, die im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert unter dem Rubrum des ‚Politischen‘ veröffentlicht werden, neuartige Auffassungen von Klugheit und operativer Vernunft verbreiten, hat Kremer bereits in den 1970er Jahren festgestellt. Demnach verbirgt sich hinter dem ‚Politischen‘ in vielen Texten nichts anderes als die seit der Renais-
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tionalen Aussetzung pikarischer Poetik sind.13 Um dies sicher zu beurteilen, wäre eine umfassende formale Analyse der Texte vorzunehmen, die hier nicht geleistet werden kann. Es muss ein kursorischer Blick auf die Konstellationen genügen, in denen sich das Phänomen ‚politischen‘ Erzählens vor 1700 entfaltet. Historisch signifikant erscheinen dabei vor allem die Umbauprozesse auf dem Feld praktischer Philosophie, die im deutschsprachigen Raum zumal mit den Namen Weises und Christian Thomasiusʼverbunden sind.14 Diese Autoren
sance bekannte Kritik am Politicus, der dabei als machiavellistisch handelnder, alle moralischen Normen negierender Höfling auftritt. Vgl. Manfred Kremer: Zur Genesis des politischen Romans im 17. Jahrhundert. In: Akten des V. Internationalen Germanistenkongresses Cambridge 1975, Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A 2/3 (1976), S. 74–81. Entsprechend offen und vielschichtig ist der Begriff des ‚Politischen‘ selbst. Barner hat insgesamt fünf Bedeutungsfelder unterschieden, wobei in der fünften, für vorliegende Arbeit maßgeblichen Bedeutung die zeitgenössische Ambivalenz des Begriffs besonders deutlich zutage tritt: „‚Politisch‘ handelt, wer in ‚kluger‘, auch skrupelloser Weise, unter konsequenter Ausnutzung sich bietender Gelegenheiten seinen individuellen Erfolg, sein irdisches ‚Glück‘ sucht.“ Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 142. Zum Begriff des ‚Politischen‘ im 17. Jahrhundert außerdem vgl. Gotthardt Frühsorge: Der politische Körper. Der Begriff des Politischen im 17. Jahrhundert und in den Romanen Christian Weises. Stuttgart 1974; Volker Sinemus: Poetik und Rhetorik im frühmodernen Staat. Sozialgeschichtliche Bedingungen des Normenwandels im 17. Jahrhundert. Göttingen 1978 (Palaestra 269), S. 100–206; Gunter E. Grimm: Literatur und Gelehrtentum in Deutschland. Untersuchungen zum Wandel ihres Verhältnisses vom Humanismus bis zur Frühaufklärung. Tübingen 1983 (Studien zur deutschen Literatur 75), S. 426 f. 13 Diese These könnte zu einer kritischen Prüfung der bisherigen Forschungsannahme beitragen, dass der pikarische Roman in Deutschland (vorübergehend) verschwunden sei, weil die „parasitäre und moralisch fragwürdige Lebensform“ des Picaros dem von aufklärerischen Konzepten geprägten Publikum „keine Möglichkeit der Identifikation mehr“ geboten habe. Jacobs: Art. ‚Schelmenroman‘, S. 670. Auf die Problematizität dieser Annahme wurde in der Einleitung bereits hingewiesen. Zwei Aspekte sind zu beachten: Zum einen wäre zu erklären, warum das ebenfalls ja ‚aufgeklärte‘ Publikum in Frankreich oder England neu erschienene pikarische Romane (Bspe. Lesage, Defoe) durchaus zu schätzen wusste, worin genau der kulturelle Unterschied in der Beziehung von pikarischem Roman und ‚Aufklärung‘ also bestanden hat. Zum zweiten birgt die Annahme, wie jede scharfe Epochenaussage, die Gefahr, mögliche subkutane Transfers zwischen den Genres in die Literatur des 18. Jahrhunderts zu übersehen. Auf einige dieser Transfers wird abschließend noch kurz hinzuweisen sein. 14 Zu Weise ist außer auf die Studien Orts auf folgende Forschungsbeiträge zu verweisen: Frühsorge: Der politische Körper, bes. S. 124–205; Solbach: Gesellschaftsethik und Romantheorie, S. 193–278; Friedrich Vollhardt: Die Tugendlehren Christian Weises. In: Christian Weise. Dichter – Gelehrter – Pädagoge. Beiträge zum ersten Christian-Weise-Symposium aus Anlass des 350. Geburtstages, Zittau 1992. Hg. von Peter Behnke u. a. Bern u. a. 1994 (Jahrbuch für internationale Germanistik; Reihe A, Kongreßberichte 37), S. 331–349; ders.: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 116–134. Die Forschungsliteratur zu Thomasius füllt Regalmeter. Es sei daher nur auf die aus literaturwissenschaftlicher Sicht besonders wichtigen Publikationen der letzten
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lösen sich vom Schematismus der aristotelischen Schulethik, indem sie alle menschlichen Handlungen, die in den Bereich von Moral, Politik oder Ökonomie fallen, dem Primat eines „rechten Gebrauch[s] der Vernunfft“ unterstellen.15 In seiner Einleitung zur SittenLehre (1693) profiliert Thomasius in diesem Sinne „die Gelahrtheit / wie er [der Mensch] glücklich leben soll“ 16 als ‚vernünfftiges‘ Mittel gegen alle Einflüsse, die geeignet sind, im einzelnen Individuum, aber auch im Gemeinwesen Unordnung zu stiften. Der Mensch, so heißt es hier, müsse stets darauf bedacht seyn / wie er die Hindernüssen aus dem wege räume / die ihn abhalten / diese Glückseligkeit zu erlangen. […] Die Hindernüssen kommen entweder von ihm selbst her durch seine affecten […]; oder sie kommen von aussen. […] Und zwar entweder durch Mangel / den zu vertreiben die Oeconomica oder Haußhaltungs=Kunst unterweiset / oder durch Furcht für äußerlicher Gewalt und List / wider welche Hinderniß die Politic ihre Lehr=Sätze giebt.17
Von diesem Punkt aus erklärt sich nicht nur der vehemente Einsatz des Thomasius für die Einrichtung kameralistischer Lehrstühle.18 Auch lässt sich damit der didaktische Impetus der Autoren erklären. So wie Thomasius den Menschen in der Pflicht sieht, „[t]äglich fort[zu]fahren / seinen Verstand außzubessern“,19 und mit seinen Schriften die Mittel dafür zu liefern sucht, stellt Weise sein lite-
Jahrzehnte verwiesen: Werner Schneiders: Naturrecht und Liebesethik. Zur Geschichte der praktischen Philosophie im Hinblick auf Christian Thomasius. Hildesheim 1971 (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 3); ders. (Hg.): Christian Thomasius, 1655–1728: Interpretation zu Werk und Wirkung. Hamburg 1989 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 11); Friedrich Vollhardt (Hg.): Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37); ders.: Selbstliebe und Geselligkeit, S. 170–210; Leander Scholz: Das Archiv der Klugheit. Strategien des Wissens um 1700. Tübingen 2002 (Communicatio 30); Manfred Beetz, Herbert Jaumann (Hg.): Thomasius im literarischen Feld. Neue Beiträge zur Erforschung seines Werks im historischen Kontext. Tübingen 2003 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 20); Jörn Steigerwald: Galanterie. Die Fabrikation einer natürlichen Ethik der höfischen Gesellschaft (1650–1710). Heidelberg 2011 (Neues Forum für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft 41), hier S. 217–340. 15 Christian Thomasius: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben […] / Oder Einleitung zur SittenLehre. […] Halle: Christoph Salfeld 1693, fol. b2v (Vorrede), S. 51 f. 16 Thomasius: Von der Kunst Vernünfftig und Tugendhafft zu lieben, S. 52. 17 Ebd. 18 Vgl. dazu Gerald Hartung: Die Sorge um eine ‚handgreifflichere Politic‘. Thomasius’ Interesse an der Ökonomie als Fachdisziplin an preußischen Universitäten. In: Christian Thomasius (1655–1728). Neue Forschungen im Kontext der Frühaufklärung. Hg. von Friedrich Vollhardt. Tübingen 1997 (Frühe Neuzeit 37), S. 99–118. 19 Christian Thomasius: Einleitung Zu der Vernunfft-Lehre […]. Halle: Christoph Salfeld 1691, S. 78.
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rarisches Programm ganz in den Dienst einer „pragmatisch geprägten Moralistik“,20 die dem Publikum Varianten eines klugen – d. h. gleichzeitig erfolgreichen und sittlich einwandfreien – Handelns vor Augen führen soll. Sichtbar wird dies nicht zuletzt in seinen politischen Romanen. Schon der „Prototyp der Gattung“,21 Die drey Ärgsten Ertz=Narren in der gantzen Welt (1672), grenzt sich von den parallel erscheinenden pikarischen Romanen Grimmelshausens, später denen Beers, dadurch ab, dass die Bewegung der Hauptfigur durch die Welt nicht auf eine Durchkreuzung, sondern auf die Bestätigung der Codes ausgerichtet ist, die die ‚Welt‘ bedeuten. Wenn der noch unerfahrene Adlige Florindo, von dessen Europareise erzählt wird, unter Anleitung des Hofmeisters Gelanor am Ende des Romans auf dem besten Weg ist, das dreifache, nämlich das „Ewige / das Politische […] und endlich das also genante PrivatGlücke / welches in einem wohlblühenden Hauswesen genossen wird“ 22 zu erlangen, so vollendet er damit einen Kursus, der ganz im Zeichen dessen steht, was Weise in seinen Politischen Fragen (1691) als „rechte Vernunfft“ 23 bezeichnet. Über die Praxis klugen Handelns integriert diese das Modell eines Staats, „darinne die Einwohner nach Anleitung der wahren Religion mit Gott verbunden / in einen tugendhafften und gerechten Wandel erhalten […] werden“ 24 mit dem kameralistischen Ideal von Wachstum und Prosperität und führt damit eben die zwei Konzepte zueinander, die bei Grimmelshausen und Beer bedrohlich auseinanderdriften: Hergegen erfordert sie [die Vernunft, S. Z.] auch eine gute Ordnung / dadurch ein gemeines Wesen wol regieret / in guten Wachsthum erhalten / vor aller besorglichen Gewalt verwahret / und so viel möglich ist / durch redliche und zuläßliche Mittel in ein besseres Auffnehmen gesetzet wird.25
Anders als die Picaros bleiben die Figuren bei Weise den ihnen normativ zugewiesenen Rollen treu. Dies gilt für den Adligen, der durch die auf der Reise gesammelten Erfahrungen und Lehren für das tugendhafte Regieren des Staats und seines eigenen Hauses tauglich gemacht wird. Dies gilt aber auch für die
20 Alt: Aufklärung, S. 67. 21 Meid: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock, S. 642. 22 Diese Erläuterung des Glücksbegriffes findet sich nicht im Roman von 1672, sondern in dessen Pendant von 1675, den Drey Klügsten Leuten in der gantzen Welt. Christian Weise: Die drey Klügsten Leute in der gantzen Welt. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. XVIII: Romane II. Hg. von John D. Lindberg, Hans-Gert Roloff. Berlin, New York 2005, S. 210. 23 Christian Weise: Politische Fragen / Das ist: Gründliche Nachricht Von der Politica […]. Dresden: Johann Christoph Mieth 1691, S. 414. 24 Ebd. 25 Ebd.
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niederständischen Figuren, den Hofmeister Gelanor, den Verwalter Eurylas und den mitreisenden Maler, die im Roman zwar ganz unterschiedlich profiliert werden – Gelanor übertrifft alle anderen, auch Florindo, in Sachen Klugheit –, dabei aber keinerlei subversive Agenda entfalten. Im Gegenteil dient auch der durch Weises satirisches Erzählverfahren herbeigeführte „Perspektivismus der verschiedenen Erzählebenen, Reflexionsstufen und Redeformen“ 26 dem Ziel, die gundsätzlich binäre Struktur des Weltwissens zu bestätigen. Entlang der vom nullfokalisierten, sich wiederholt belehrend an den Leser wendenden Erzähler gezogenen Linie ordnen sich die Diskurselemente einer Leitdifferenz von Klugheit und Narrentum unter, die Gradationen der Vernunft, aber eben kein Drittes kennt. Auch die Gestalten der erzählten Welt, die dem praktischmoralischen Vernunftparadigma nicht genügen, bleiben auf dasselbe bezogen: Als Narren werden sie bei Weise zu Lach- und Schmähfiguren, deren Handeln keine Signifikanz besitzt, außer den je vorhandenen „Mangel der Klugheit“ möglichst drastisch zur Anschauung zu bringen.27 Mögen im Roman „pikarische Elemente“ dennoch virulent bleiben, wie in der Forschung zuletzt betont wurde, so wäre in diesem Sinne zu unterscheiden zwischen dem – im satirischen Kontext fast schon unvermeidlichen – Transfer einzelner ‚pikarischer‘ Motive oder Handlungsmuster auf der einen Seite und der Adaption pikarischer Erzählverfahren auf der anderen, deren subversive Energien geeignet sein müssten, die Stabilität autoritativer Systeme zu untergraben.28 Erst wo Letzteres nachgewiesen werden kann – bekannte Beispiele
26 Peter Rusterholz: Vom Öffnen und Schließen der Grenzen komischer Schriften: Christian Weises ‚Die drey ärgsten Ertznarren in der gantzen Welt‘. In: Delectatio. Unterhaltung und Vergnügen zwischen Grimmelshausen und Schnabel. Hg. von Franz M. Eybl, Irmgard M. Wirtz. Bern u. a. 2009 (Beihefte zu Simpliciana 4), S. 169–184, hier S. 174. 27 So Weises bekannte Definition der „Thorheit“ in seinen Drey Haupt-Verderbern in Teutschland (1671): „Die Thorheit ist nichts anderes / als ein Mangel der Klugheit. Darumb wer die Klugheit erkennet / kan auß dem Wiederspiel leicht abnehmen / was ein Narr sey.“ Vgl. Christian Weise: Die drey Haupt-Verderber in Teutschland. In: ders.: Sämtliche Werke. Bd. XVII: Romane I. Hg. von Charles D. Lindberg, Hans-Gert Roloff. Berlin, New York 2006, S. 290. Zur Narrenfigur bei Weise vgl. den instruktiven Aufsatz von Peter Heßelmann: Narrheit und Klugheit in Christian Weises ‚Die drey ärgsten Ertz-Narren‘. In: Der Narr in der deutschen Literatur im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Kolloquium in Nancy (13.–14. März 2008). Hg. von Jean Schillinger. Bern u. a. 2009 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A. Kongressberichte, Bd. 96), S. 279–298. 28 Jörg Krämer: ‚Frommer Betrug‘ am Leser? Unterhaltung und Klugheitslehre in Christian Weises ‚Politischem Näscher‘ (1678). In: Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Jan Mohr u. a. Berlin, Boston 2016 (Frühe Neuzeit 206), S. 225–244, hier S. 233–237. Dieselbe Frage wäre dann auch für die ‚politischen‘ Romane Ettners zu stellen, denen Ort im selben Band eine pikarische Tendenz bescheinigt hat. Vgl. Claus-Michael Ort:
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hierfür wären Johann Georg Schielens Deß Frantzösischen Kriegs-Simplicissimi Hoch-verwunderlicher Lebenslauf (1682/83)29 und Christian Reuters Schelmuffsky (1696/97) –,30 sollte von pikarischen Romanen im engeren Sinne gesprochen werden. In anderen Fällen sollte die Verwendung des Attributs nicht ohne sehr genaue Prüfung erfolgen, um die von Arnold Hirsch stammende, heute problematisch wirkende Vorstellung einer mehr oder weniger linearen Transformation pikarischen Erzählens in ein Medium bürgerlich-aufklärerischer Vernunftpropaganda nicht, auch nicht unter der Hand, weiterzuführen.31 Einige der Texte, die Hirsch anführt, um seine These zu bekräftigen – zu nennen wären neben der um 1690 entstandenen Erzählung Die Lustig- und Listige Kauffmanns-Jungen vor allem die deutschen Übersetzungen dreier niederländischer Romane (Der Ruchlose Student, 1682; Das verderbte Kind, 1687; Die verblendete Jungfrau, 1690) sowie die sogenannten Aventurier-Romane ab den 1730er Jahren –, kämen für
Medizinisches Wissen und die Funktion pikaresken Erzählens in Johann Christoph Ettners ‚Medicinischen Maul-Affen‘-Romanen (1694–1720). In: ebd., S. 275–310. 29 Zu diesem post-simplicianischen, radikal offenen Roman vgl. Carolin Struwe: Der ‚homo variegattus‘ und die Diversität der Erfahrung. Johann Georg Schielens ‚Deß Frantzösischen Kriegs-Simplicissimi Hoch-verwunderlicher Lebenslauf‘ (1682/1683). In: Pikarische Erzählverfahren. Zum Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Jan Mohr u. a. Berlin, Boston 2016 (Frühe Neuzeit 206), S. 245–273. 30 Zu Reuters Roman vgl. Alice Villon-Lechner: Der entschwindende Erzähler. Zur Selbstreflexion des Mediums in Christian Reuters Roman ‚Schelmuffsky‘. In: Simpliciana 8 (1986), S. 89–96; Yahya Elsaghe: Schelmuffsky als närrischer Odysseus. In: Simpliciana 13 (1991), S. 485–492; Lynne Tatlock: Quixotic marvel. Emesis and Miscarriage of Subjectivity in Christian Reuter’s ‚Schelmuffsky‘. In: Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig. Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans-Gert Roloff von Freunden, Schülern und Kollegen. Hg. von James Hardin u. a. Bern u. a. 1992, S. 297–319; Klaus-Detlef Müller: Einfallslosigkeit als Erzählprinzip. Zu Christian Reuters ‚Schelmuffsky‘. In: Geschichtlichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag. Hg. von Hans Esselborn u. a. Köln u. a. 1994 (Kölner Germanistische Studien 34), S. 1–12; Gunter E. Grimm: Christian Reuter, ‚Schelmuffskys warhafftige curiöse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und Lande‘. Kapriolen eines Taugenichts. Zur Funktion des Pikarischen. In: Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. von Max L. Baeumer. Stuttgart 1996, S. 47–77. 31 Vgl. Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman. Über die Thesen Hirschs ist in jüngerer Zeit eine kleine Kontroverse entbrannt. Gegen Rötzer, der in seinen Studien ihre Validität behauptet hatte, argumentierte Martino, dass das von Hirsch angewandte sozialhistorische Raster die Texte eigentlich verfehle. Zu einer kritischen Verteidigung Hirschs (und der Literatursoziologie) trat zuletzt dann Maren Lickhardt an. Vgl. Rötzer: Picaro, S. 160; ders.: Der europäische Schelmenroman, S. 109; Alberto Martino: Der deutsche ‚Buscón‘ und der literatursoziologische Mythos von der Verbürgerlichung des Picaro. In: Daphnis 30 (2001), S. 319–332; Maren Lickhardt: Schwankhaftes und Biographisches im ‚Ruchlosen Studenten‘ (anonym, 1681). Zum Um- und Abbau von pikareskem Syntagma und pikaresker Figur im späten 17. Jahrhundert. In: Daphnis 45 (2017), S. 277–303.
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eine gattungshistorisch präzise Relektüre diesseits des Paradigmas der ‚Verbürgerlichung des Picaros‘ in Frage.32 Was diese Erzählungen gegenüber den ‚politischen‘ Romanen dabei auszuzeichnen scheint, ist eine strukturelle, aus der Erzählpoetik resultierende Verunsicherung der moralischen Funktion.33 Dort, wo die Figuren „eine Art soziale Mimikry“ betreiben, um ihre tatsächliche Neigung zum Exzess zu kaschieren, wo sie als wandelnde und erzählende „Gegenbild[er] die Systematisierung des Genußstrebens zu einem negativen Lebensprinzip ausbilden“ und in immer neuen Ausbrüchen die Raster bürgerlicher bzw. kalvinistischer Ethik sprengen, liegen offensichtlich andere Muster der Selbstreferenzunterbrechung vor als etwa in den Romanen Weises.34 Auf den Spuren dieser und ähnlicher Erzählungen, die die Grenze zwischen kaufmännischökonomischer Rationalität und haltloser Verschwendung, zwischen List und Begehren, zwischen Vernunft und Affekt als ‚dritten Raum‘ des Handelns und Erzählens der Figuren erkennen, könnte eine Fortsetzung der in vorliegender Studie angefangenen Geschichte der Beziehungen von pikarischem Roman und Ökonomie unternommen werden.
32 Vgl. Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman, S. 13–22, sowie die Bibliographie der Romane auf S. 134 f. Zum deutschen Aventurier-Roman, der wesentlich auf Nicolaas Heinsius’ De vermakelyke Avanturier (1695) und damit in gebrochener Linie bis auf Quevedos Buscón zurückgeht, vgl. Dietrich Reichhardt: Von Quevedos ‚Buscón‘ zum deutschen ‚Avanturier‘. Bonn 1970 (Studien zur Germanistik, Anglistik und Komparatistik 7). Auf die französische BuscónAdaption durch La Geneste, die die wesentliche Transformationsstufe zwischen Quevedo und der europäischen, auch der deutschsprachigen Aventurier-Tradition darstellt, ist Mohr: ‚Buscón‘ französisch, detalliert eingegangen. 33 Bezüglich des Ruchlosen Studenten äußert Hirsch selbst Zweifel, „[o]b die moralische Kritik, die schon in der Titelgebung erscheint, wirklich ernst gemeint war, oder ob der Verfasser, was wahrscheinlicher ist, lediglich einen spannenden Unterhaltungsroman durch moralisierende Zutaten vor dem Zugriff der Zensur schützen wollte“. Hirsch: Bürgertum und Barock im deutschen Roman, S. 17. 34 Ebd., S. 18 und 21. Die erste der zitierten Aussagen Hirschs gilt dem Protagonisten aus dem Verderbten Kind, lässt sich mutatis mutandis aber auch auf die anderen genannten Romane beziehen.
Literaturverzeichnis Die Literatur wird im Folgenden in alphabetischer Reihenfolge nach dem ersten Buchstaben des Verfasser- oder Herausgebernamens angegeben. Hierzu zählen bei modernen Verfassern auch genuine Bestandteile des Nachnamens wie etwa ‚von‘, ‚van‘, ‚de‘. Bei antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verfassern gelten die jeweiligen historischen Namenskonventionen. Anonym erschienene Schriften werden nach dem ersten Buchstaben des ersten Worts des Titels aufgeführt. Soweit bekannt, wird bei Drucken vor 1800 zur Unterscheidung paralleler Ausgaben und genaueren historischen Einordnung der Verleger bzw. Drucker mitangegeben.
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Register Historische Autoren und Personen, anonyme Werke Im Register finden sich neben den historischen (vor 1800 geborenen) Autoren und Personen auch die in der Studie behandelten anonymen Werke. Letztere wurden nach dem ersten Buchstaben des Titels in die alphabetische Reihenfolge aufgenommen. Aegidius Romanus 20 Alberti, Leon Battista 22–24, 26, 64, 131 Albertinus, Aegidius 29, 51, 79, 80, 88, 117– 122, 129, 133, 150–188, 215, 242, 394, 395, 406, 407 Albrecht, Herzog von Sachsen-Weißenfels 383 Alemán, Mateo 3, 39, 45, 46, 51, 53, 55, 117, 122–155, 158–160, 163, 164, 168, 174, 176–178, 181, 183, 187, 242 Andreae, Johann Valentin 399 Antoninus von Florenz 21 Aperger, Andreas 58, 60, 61, 114, 115 Aristoteles, aristotelisch 10, 15–21, 24–27, 29, 31, 34, 35, 37, 128, 132, 141, 145, 146, 244, 255, 275, 285, 289, 298, 314, 317, 318, 362, 412 Arnaldus de Villanova 7 Arndt, Johann 204, 287 Athanasios von Alexandria 27 Augustinus, Aurelius 19, 89, 90, 123, 126, 127, 134, 135 Azpilcueta, Martín de 127, 145 Bacon, Francis 9–11, 245 Báňez, Domingo 127, 134 Barros, Alonso 127 Baudoin, Jean 197 Becher, Johann Joachim 11, 36, 37, 257, 298, 299 Beer, Johann 51, 52, 82, 354–406, 413 Bernhardin von Siena 21 Besold, Christoph 35 Boccalini, Traiano 36, 38 Bock, Hieronymus 306 Böckler, Georg Andreas 23 Bodin, Jean 95, 99 Bornitz, Jakob 35 Büchner, Georg 359 https://doi.org/10.1515/9783110486636-008
Cato d. Ä., Marcus Porcius 275 Cervantes Saavedra, Miguel de 1–13, 15, 40, 45, 47, 55, 56, 58, 59, 62, 67, 98, 103 Cicero, Marcus Tullius 47, 63, 65, 109 Clemens von Alexandria 27 Coler, Johann 25, 26, 30, 31, 189–194, 197, 239, 241, 243, 244, 246, 269, 274–276, 278–280, 282–284, 326, 397 Columella, Lucius Iunuis Moderatus 24, 25, 275 Conring, Hermann 35 Das Durch den Frantzösischen Kirmiß=Gast entkirmißte Holland 343 Defoe, Daniel 50, 411 Dornau, Caspar 306 Eberlin, Johann 11 Erasmus von Rotterdam, Desiderius 260, 279 Ernewerte Mandata unnd Landtgebott 170 Estella, Diego de 117 Estienne, Charles 211, 213 Ettner, Johann Christoph 410, 414 Faust von Aschaffenburg, Maximilian 277 Felßecker, Wolff Eberhard 268 Feyerabend, Sigmund 69, 71 Fischart, Johann 202 Frewdenhold, Martin [Pseud.] 186, 187 Fronsperger, Leonhard 114 Garzoni, Tommaso 35, 152, 153, 189–191, 199–202, 205, 206, 256, 270, 291, 306, 310, 314, 316–319, 325, 326 Geiler von Kayersberg 118, 177–185 González de Cellorigo, Martín 127 Gracián, Lucas 55
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Register
Grimmelshausen, Hans Jakob Christoffel von 50, 51, 71, 189–355, 358, 367, 373, 383, 388, 392, 406, 413 Grotius, Hugo 345 Guarinonius, Hippolytus 117 Guevara, Antonio 162
Ludwig XIII., König von Frankreich 222, 349 Ludwig XIV., König von Frankreich 332, 339– 341 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 258, 259 Luther, Martin 28–31, 33, 34, 60, 70, 169, 214, 260, 277, 385, 395, 399
Harsdörffer, Georg Philipp 209–211, 213, 326–330 Harvey, William 33, 35 Heinrich, Nikolaus 53, 58–61, 115, 117, 169, 179 Heinsius, Daniel 210 Heinsius, Nicolaas 416 Helwig, Christoph 359 Hieronymus, Sophronius Eusebius (Kirchenvater) 167 Hildebrand, Wolfgang 287 Histoire plaisante, facetievse, et recreative; dv Lazare de Tormes Espagnol 56, 57, 101, 114, 115 Horaz (Quintus Horatius Flaccus) 59, 61, 407 Hörnigk, Philip Wilhelm von 37, 38
Machiavelli, Niccolo 33, 63, 160, 162, 320, 411 Malvenda, Luis de 162 Martí, Juan 117, 158 Martianus Capella 5, 6, 13 Martínez, Miguel 55 Mattheson, Johann 380 Maximilian I. von Bayern 60, 61, 63, 119, 155, 161, 169, 171 Menius, Justus 30 Mercado, Tomás de 145–147 Molière (Jean Baptiste Poquelin) 387, 388 Molina, Luis de 127, 134, 145 Montchrestien, Antoine de 31, 32 Montemayor, Jorge de 209, 210 Moscheroschs, Johann Michael 36, 358 Murner, Thomas 292
Jobin, Bernhard 202 Johannes ab Indagine 270 Karl der Große, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 349 Karl V., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches 57, 60, 63, 114, 116 Kircher, Anthansius 289–291, 379–381, 384, 385 Klock, Kaspar 35 Knackwurst, Marcus [Pseud.] 306 Konrad von Megenberg 20 Küefuß, Paul 116 Kuhnau, Johann 410 Latini, Brunetto 20 Lazarillo de Tormes 39, 41, 45, 53, 56, 58, 75, 82, 97 Leben Vnd Wandel Lazaril von Tormes 56, 70 Leibniz, Gottfried Wilhelm 289 León, Luis de 155 Lesage, Alain-René 50, 411 Loretus, Elias Georg 289
Neumayr von Ramsla, Johann Wilhelm 35 Nikolaus von Kues 395 Nikolaus von Oresme 20 Obrecht, Georg 35 Origenes 27 Ortiz, Luis 127 Osório, Jerónimo 160 Ossa, Melchior von 35 Osuna, Francisco de 166, 168 Pacioli, Luca 85, 131–133, 136, 147 Paduanius, Fabricius 63 Palladius, Rutilius Taurus Aemilianus 24 Pérez de Herrera, Cristobál 127 Petrarca, Francesco 63 Petrus Johannis Olivi 21 Peutinger, Konrad 63, 64, 102 Philipp II. von Spanien 10, 11, 127 Philipp III. von Spanien 10, 55 Philo von Alexandria 199 Pinelli, Luca 117
Historische Autoren und Personen, anonyme Werke
Platon, platonisch 314, 315, 317, 325, 365 Plinius d. J. (Gaius Plinius Caecilius Secundus) 267, 268, 317 Politische Betrachtungen / Uber Den gegenwertigen Zustand Europä 348 Prokop von Templin 393–395 Quevedo, Francisco de 46, 416 Ratke, Wolfgang 359 Raulin, Jean 118, 177, 178 Reuter, Christian 415 Reyer, Andreas 359 Riemer, Johannes 356, 410 Riminaldo, Oracio 55 Rist, Johann 197–201, 204–206, 216, 275– 280, 283, 284 Sacer, Gottfried Wilhelm 324 Sachs, Hans 302, 306, 307, 313 Sattler, Johann Rudolph 73 Scaliger, Iulius Caesar 203, 324 Schauenburg, Claus von und zu 189, 296, 308–310, 312 Schielen, Johann Georg 415 Schott, Caspar 289 Schottelius, Justus Georg 203, 204 Schupp, Johann Balthasar 244–246, 255, 256, 275, 277, 278, 280, 281, 283, 294, 295, 359 Schweicker, Wolffgang 85, 86 Sebisch (Sebizius), Melchior 211, 213, 214, 274, 279 Seckendorff, Veit Ludwig von 35, 359–361, 378, 381, 387, 389, 397–400, 403 Seneca, Lucius Annaeus 22, 64, 130, 131 Silbermann, Johann Andreas 351
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Soto, Hernando 127, 145 Spangenberg, Cyriacus 95 Tacitus, Publius Cornelius 317 Tasso, Torquato 197–199, 204, 206 Terentianus Maurus 257 Tharaeus, Andreas 304, 306 Thomas a Kempis 393 Thomas von Aquin 19, 20, 165–167, 169, 171, 183 Thomasius, Christian 278, 411, 412 Ulenhart, Nikolaus 56, 58, 59, 61, 115 Valdes, Luis de [Pseud.?] 128 Vallés, Francisco 147 Varro, Marcus Terentius 24, 99, 275 Velasco, Juan López de 54, 56 Vergil (Publius Vergilius Maro) 210, 245 Vives, Juan Luis 75, 76, 78, 85, 89, 107, 108, 169, 173 Vockerodt, Gottlieb 380 Wassenberg, Eberhard 341, 342, 345, 346, 349, 351 Weise, Christian 52, 356, 382, 407, 409–414, 416 Wündsch, Johann Wilhelm 362, 363, 369– 373, 397, 401, 403 Xenophon 16, 17, 24, 275, 308, 309 Zamora, Lorenzo de 179 Zesen, Philipp von 339, 344 Zincgref, Julius Wilhelm 224 Zwo kurtzweilige / lustige / vnd lächerliche Historien 56–116