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German Pages 386 Year 2009
BUCHREIHE DER ANGLIA ZEITSCHRIFT FÜR ENGLISCHE PHILOLOGIE Herausgegeben von Stephan Kohl, Lucia Kornexl, Martin Middeke, Hans Sauer und Hubert Zapf 41. Band
NORBERT LENNARTZ
»My Unwasht Muse« (De-)Konstruktionen der Erotik in der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2009
Für meine Eltern Lisa Lennartz-Will (in memoriam †2007) Norbert Lennartz sen. und meinen Sohn Ezra Leon
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-484-42141-7
ISSN 0340-5435
© Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2009 Ein Imprint der Walter de Gruyter GmbH & Co. KG http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts-gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. Satz: Dörlemann, Lemförde Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen
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Vorwort Nachdem ich in einem früheren Zusammenhang bereits das Wesen des amor absurdus beschrieben hatte, entstand nun die Idee, das Thema der Erotik kulturgeschichtlich weiter zu verfolgen und den Zeitpunkt einzukreisen, an dem die – heute oft Befremden verursachende – Allianz von Theologie und Erotik zugunsten einer bloß körperdefinierten Sexualität aufgekündigt wurde. Bei der Durchführung diese Projektes, das in einer früheren Fassung Ende 2003 schließlich der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Habilitationsschrift vorgelegt wurde, wurde ich stets von vielen wohlmeinenden Kollegen und Kolleginnen meiner alma mater unterstützt. Nicht zuletzt bin ich daher an dieser Stelle Frank J. Kearful und Uwe Baumann zu großem Dank verpflichtet. Mein besonderer Dank gilt aber vor allem meinem akademischen Lehrer Rolf Lessenich, der mir sowohl im persönlichen Gespräch als auch in seinen Oberseminaren immer wieder Gelegenheit gab, Aspekte der Arbeit zur Diskussion zu stellen, Gedichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu lesen und konstruktive Kritik zu erfahren. Mein Dank gilt auch dem Kölner Gymnasialen Stiftungsfonds, der es mir mit zwei großzügigen Zuwendungen in der Anfangsphase der Arbeit ermöglichte, umfangreiche Recherchen im In- und Ausland durchzuführen. Gerne danke ich auch Wolfgang G. Müller, der in wichtigen Phasen der Textinterpretation mir fachliche wie auch moralische Unterstützung zuteil werden ließ, und Matthias Bauer, der mir nicht nur durch die Lektüre seiner eigenen Habilitationsschrift zu den Metaphysicals viele unverzichtbare Anregungen gab, sondern mir überdies durch die Mitarbeit an seinem Lehrstuhl in Saarbrücken den zeitlichen wie auch finanziellen Rahmen gewährte, in dem ich meine Arbeit in Ruhe fertig stellen konnte. Den Herausgebern der Anglia-Reihe, Hubert Zapf, Martin Middeke und vor allem Stephan Kohl sei schließlich für ihr Engagement und ihr beherztes Eintreten für die Drucklegung dieser Arbeit gedankt. Ohne die zahlreichen Korrekturleser, Kritiker, Impulsgeber und Musen (ob nun “unwasht,” männlich oder weiblich) ist solch eine Arbeit wie V
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die vorliegende undenkbar. Daher danke ich besonders Eberhard Weihermüller und Stefan Kummer, ersterer versorgte mich, einem Lord Houghton nicht unähnlich, mit delikatem Material zu Rochester, letzterer öffnete mir unbürokratisch das Fotoarchiv des Kunsthistorischen Instituts der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und ersparte mir hierdurch unzählige Mühen und Formalitäten; überdies sei Shona Allan, Claus Daufenbach, Claudia Flasdieck, Andrea Rummel und Petra B. Schubert gedankt für Anregungen, Korrekturen und die Bereitschaft, mit mir wiederholt und unerschrocken in die enfers des Abdominalen hinabzusteigen. Ebenso danke ich meinen früheren Saarbrücker Mitarbeiterinnen Diana Loew und Simone Aßmann für die vielen kleinen und großen Recherchen am Rande der Arbeit, aber vor allem Petra Jakob, die mit unendlicher Geduld und großer Professionalität die Arbeit formatierend begleitete und mit stets bester Laune auf meine unzähligen Änderungswünsche reagierte. Und zuletzt sei Birgitta Zeller-Ebert und Norbert Alvermann vom Verlag Niemeyer / de Gruyter gedankt sowohl für ihre Kooperation als auch für die umsichtige editorische Betreuung der vorliegenden Arbeit. Bonn, im Dezember 2008
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Norbert Lennartz
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Inhaltsverzeichnis I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2. 2.1. 2.2. 3.
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II. Konstruktionen der barocken Erotik: ars poetica – ars (homo-) erotica . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2.
Desiderate und Zielsetzungen . . . . . . . . . . . . Terminologische Definitionen . . . . . . . . . . . . Zum Barockbegriff in der englischen Literatur . . . Erotik – Pornografie – Obszönität . . . . . . . . . Zur Kontextualisierung der barocken Körper- und Erotikauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Leben und Schreiben sub specie coitus . . . . . . . . . Visionen androgyner Autonomie – Männer im Wochenbett . . . . . . . . . . . . . . . . Der Dichter und Künstler als ‘catamite’ . . . . . . . Zwischen Maskulinität und homosexuellem coming-out: Donne und Traherne . . . . . . . . . . . Exkurs I: Horror amoris divini als Inspirationsquelle bei Francis Thompson und anderen . . . . . . . . . .
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III. Erotische Theophanien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der bisexuelle Christus. Über ein kontroverses Leitmotiv im erotischen Diskurs des Barock . . . . 2. Christus im Zeichen karnevalesker Anthropologie 2.1. Exkurs II: Swinburne in der Rolle des Crashaw à rebours . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. ‘The Weeper’ – Maria Magdalena: ein erotisches Paradoxon im Barock . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Erotik des Todes in der Kunst und Literatur der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IV. Erotische Typologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. 2. 3.
Christus im erotischen Pantheon . . . . . . . . . . . . 155 Exkurs III: Swinburne – Typologie als satanistisches Anti-Barock . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 Die Beschneidung als erotisches und typologisches Ereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181
V. Dekonstruktionen barocker Erotik in der klassizistischen Früh-Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 1. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. 4. 4.1. 4.2.
Der Fall Thomas Carew . . . . . . . . . . . . . . . . Der jardin d’amour – Vom Liebesidyll zum locus communis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Öffnung des hortus conclusus bei den Libertins . Der hortus voluptatum und andere Gärten der Lüste Ennui und der erotische Desillusionismus . . . . . . Suckling und der Ekel des Dandys vor der genitalen charogne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abraham Cowleys The Mistress und der Antagonismus der Geschlechter . . . . . . . . . . . . Das erotische Mahl – Der Gourmet zwischen Gourmands und Bulimikern . . . . . . . . . . . . . . Bacchus, Ceres und Venus – Prekäre Garanten erotischer Tafelfreuden . . . . . . Libertinistische Erotik: Konsum, schlechte Tischmanieren und das Ende der sexuellen Etikette .
. 193 . . . .
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. 219 . 232 . 246 . 246 . 253
VI. Formen und Deformationen der Erotik in der Literatur und Kunst der klassizistischen Früh-Moderne . . . . . . . . 267 1. 2. 2.1. 2.2. 3. 3.1. 3.2. VIII
Erotische Infernokrisen – Ein Überblick über die Emanzipation des monströsen Sexus . . . Die Hölle des weiblichen Genitals . . . . . . . Die Vagina zwischen Arkadien und Inferno . Charakteristika des vaginalen Malebolge – descensus ad faeces . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende des Zentaurs – Der phallozentrische Mensch und seine Inszenierungen der Macht . Ubu avant la lettre . . . . . . . . . . . . . . . Das corpus bestiale des Königs . . . . . . . . .
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4. 5.
Erotische Flucht(t)räume und der Schock des Erwachens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs IV: Rochester versus Goethe oder Libertinismus versus Romantik . . . . . . . . . . . . .
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VII. Ausblick und Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX. Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2.
Quellen und Editionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Forschung und Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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X. Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung 1. Desiderate und Zielsetzungen Seit der Publikation von Michel Foucaults dreibändiger Histoire de la sexualité (1976–84) hat der literatur- und kulturwissenschaftliche Diskurs über Erotik und Körperlichkeit eine schier unüberschaubare Vielzahl von kontroversen Monografien, Aufsätzen und Miszellen hervorgebracht. Die Tatsache, dass gerade in den vergangenen drei Jahrzehnten die menschliche Sexualität seit der Antike immer häufiger zum Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse und Klassifizierung geworden ist, scheint die von Foucault aufgestellte These von der Ablösung der ars erotica durch eine moderne (und philologische) scientia sexualis auf eindrucksvolle Weise zu bestätigen.1 Eine nur selektive Sichtung des Materials fördert hierbei jedoch Desiderate zutage, die dem Verfasser Möglichkeiten aufzeigen, abseits mancher zu Modethemen avancierten Gebiete den literarischen Diskurs der Erotik präziser zu beleuchten. Inspiriert durch die seit den 1980ern etablierten gender studies wie auch durch die einflussreichen gay and lesbian studies hat die literaturwissenschaftliche Debatte über das Erotische inzwischen eine Akzentuierung erfahren, die sich zum einen auf die Fragen der historischen und in der Literatur gespiegelten Geschlechterdifferenzen und zum anderen auf die unterschiedlichen kulturhistorischen Bewertungen der Homosexualität konzentriert. Der – in vielen Fällen durchaus nützliche und erhellende – Versuch, den Kanon der Literatur und seine exegetischen Rahmenbedingungen in Frage zu stellen, erweist sich jedoch nur allzu oft anfällig für Präjudizierungen und ideologische Simplifikationen: Eine genaue werkanalytische Textstudie wird daher immer wieder die Grenzen solcher Lesarten aufzeigen, die zum einen konstatieren, der literarische Diskurs der Frühen Neuzeit schließe in sei1
La volonté de savoir (Paris: Gallimard, 1976). Aus dem Franz. übersetzt v. Ulrich Raullf / Walter Seitter, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. Bd. 1 (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1998), 87.
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ner Insistenz auf einen maskulinen Stil (‘strong lines’2) das Weibliche kategorisch aus, und die zum anderen alle männlichen Interaktionen im Kontext der Renaissance und des Barock in einen zeit- und kulturübergreifenden dark room verlegt sehen wollen. Allein der von Thomas Carew gewählte Begriff der ‘masculine expression’3 möge in seiner oxymorontischen Verknüpfung von Maskulinität und weiblicher Gebärfähigkeit (lat. exprimere = herauspressen) vor einer übereilten Etikettierung der Barockdichter als misogyn warnen. Eine differenzierte Überprüfung der damaligen Geschlechterkategorien macht deutlich, dass die heutigen Begriffe von Männlichkeit und Weiblichkeit in der Anwendung auf das 17. Jahrhundert ebenso versagen wie eine Übertragung späterer Homosexualitätskonzepte auf die Frühe Neuzeit. Ein groß angelegtes homosexuelles re-mapping der gesamten kanonischen Literatur und Kunst vor der Postmoderne,4 demzufolge vor allem die starken Bande der Freundschaft zwischen Romeo und Mercutio, zwischen Antonio und Bassanio und letztlich sogar die zwischen Iago, Othello und Cassio (“I lay with Cassio lately”5) als körperliche Intimität ausgelegt werden, verkennt die Tatsache, dass die Homoerotik des 16. und 17. Jahrhunderts streng von dem Homosexualitätsverständnis des 19. und 20. Jahrhunderts zu trennen ist.6 Wie in den Selbstinszenierungen der Dichter und ihren erotisierten artes poeticae augenfällig wird, ist die Homoerotik, sowohl in ihrer aktiven als auch in ihrer passiven Variante,
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Jonson, der maskuline Dichter par excellence seiner Zeit, prägte diesen einflussreichen Begriff in bezug auf die Dichtung der Metaphysicals in ‘An Execration upon Vulcan’ Z.78. Ben Jonson, hg. C. H. Herford / Percy Simpson / Evelyn Simpson (Oxford: Clarendon P, 1947), The Poems / The Prose VIII, 206. ‘An Elegy upon the death of the Deane of Pauls, Dr. John Donne’ Z. 39. The Poems of Thomas Carew, hg. Rhodes Dunlap (Oxford: Clarendon P, 1949), 72. Vgl. Queering the Renaissance, hg. Jonathan Goldberg (London / Durham: Duke UP, 1994) und Gregory Woods, A History of Gay Literature in the Male Tradition (New Haven: Yale UP, 1998). Das aus der Bibel entlehnte ‘to lie with’ (Lev, 18,20) ist in Othello kaum homoerotisch gemeint; zum einen reflektiert der Begriff die üblichen Gepflogenheiten bei der Unterbringung der Soldaten, zum anderen bezieht sich seine Erotisierung auf einen Traum, den Iago Cassio unterstellt: “In sleep I heard him say ‘Sweet Desdemona, / Let us be wary, let us hide our loves,’ / And then, sir, would he gripe and wring my hand, / […] and then kiss me hard / […] lay his leg o’er my thigh, / and sigh, and kiss, and then cry ‘Cursed fate / That gave thee to the Moor!’” Othello III, iii, 421–28 (The Arden Shakespeare), hg. E. A. J. Honigmann (London: Thomson Learning, 2004), 236. Vgl. zu dieser Kontroverse zwischen Essentialisten und ‘strict social constructionists’ Bruce Smith, Homosexual Desire in Shakespeare’s England. A Cultural Poetics (Chicago / London: U Chicago P, 1991), 10ff. und Alan Bray, Homosexuality in Renaissance England (London: Gay Men’s P, 1982).
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stets ein wesentliches Element, das das androgyne und proteushafte Ich in der Pluralität der zur Verfügung stehenden Diskurse geschickt einzusetzen vermag. Wie sich im Verlauf der vorliegenden Arbeit häufig herausstellen wird, tritt an die Stelle des modern szientifischen Entweder-Oder das heutige irritierende und oft Unbehagen bereitende Sowohl-als-Auch – ein rezeptionsästhetisches Problem, das bereits Wilde in seinen Auseinandersetzungen mit Shakespeare in The Picture of Dorian Gray und The Portrait of Mr W. H. aufwirft.7 a. Die von den gay and lesbian studies zeitweise dominierte Erforschung der Erotik ist überdies zumeist gekoppelt an eine chronologische Fokussierung sowohl auf die Shakespeare-Zeit als auch auf die Gattung des elisabethanischen Theaters. Die Konzentration auf nur ein Genre und hierbei auf seinen wichtigsten Repräsentanten hat nicht nur zur Folge, dass eine kulturgeschichtliche Anbindung spätelisabethanischer und jakobäischer Werke an die Literatur des kontinental-europäischen Barock zu wenig in Betracht gezogen wird; sie hat auch maßgeblich dazu beigetragen, dass neben der vorzugsweise untersuchten Vorliebe Shakespeares für komisches cross-dressing,8 für die Dichotomie zwischen “romantic love” und derber Sexualität9 wie auch für das Wechselspiel zwischen idealisierender Homo- und degradierender Heterosexualität die Werke anderer Autoren unweigerlich in die Zweitrangigkeit verbannt werden. Doch gerade in einem weiter abgesteckten Rahmen, in der wechselseitigen Erhellung nicht nur der Künste, sondern vor allem der Dichter jener rivalisierenden Schulen um Ben Jonson und John Donne lässt sich die wiederholt an Shakespeare exemplifizierte Liebes- und Erotikdichotomie10 nicht nur besser einordnen, sondern als ein Konstrukt moder7
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In der Rechtfertigung jener “love as Michel Angelo had known, and Montaigne, and Winckelmann, and Shakespeare himself” verkennt auch Wilde, dass besonders in Michelangelo und Shakespeare Homoerotisches durchaus auch eine heterosexuelle Komponente haben kann. The Picture of Dorian Gray, hg. Isobel Murray (Oxford: Oxford UP, 1998), 98. Vgl. hierzu als pars pro toto den Beitrag von Barbara Hodgdon ‘Sexual Disguise and the Theatre of Gender’ The Cambridge Companion to Shakespearean Comedy, hg. Alexander Leggatt (Cambridge: Cambridge UP, 2002), 179–97. Vgl. Valerie Traub, Desire and Anxiety. Circulations of Sexuality in Shakespearean Drama (London / New York: Routledge, 1992), 2. Bezüglich der Polaritäten im Liebesdiskurs des Renaissance-Dramas siehe auch Mary Beth Rose, The Expenses of Spirit. Love and Sexuality in English Renaissance Drama (Ithaca / London: Cornell UP, 1988), 28ff. Ein weiteres Werk, das nicht nur der Fokussierung auf Shakespeare, sondern auch der vermeintlichen Widersprüche und Risse
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ner Bewertungskriterien enttarnen. Im Rückgriff auf Grundlagen des new historicism und einer kulturgeschichtlich fundierten Komparatistik (comparative arts) erweisen sich die augenscheinlich unüberbrückbaren Polaritäten weniger als weltanschaulich unvereinbare Kontraste, sondern vielmehr als spannungsgeladene Facetten einer Welttotalität, in der Homo- und Heterosexualität, Männliches und Weibliches wie auch ‚Romantisches‘ und Zotiges gemäß einem Muster von Text (texte) und Gegentext (contre-texte) sich noch gegenseitig spiegeln und ergänzen. In ihrer Studie Gärten der Lust: Eine Geschichte erregender Lektüren, die in ihrer Intention, die „Wirkung auf den Leser“ zu dokumentieren, einen rezeptionsästhetischen Ansatz verfolgt, rekurriert Carolin Fischer auf den hilfreichen Terminus des contre-texte bzw. Gegentext.11 Am Beispiel des zweiten Teils des Roman de la rose, in dem Jean de Meun die Erstürmung der Festung und das Pflücken der Rose als metaphorische Umschreibungen für die Defloration einsetzt, zeigt Fischer, wie sich innerhalb eines etablierten literarischen Codes ein parodierender Gegentext entwickelt. Unter Berufung auf den Mediävisten Pierre Bec, den Kenner der Troubadour-Dichtung und Urheber des Terminus, weist sie jedoch darauf hin, dass eine säuberliche Unterscheidung zwischen texte und contre-texte problematisch ist und zu Verzerrungen führt, zumal in der Literatur der Frühen Neuzeit der parodierende Gegentext oft bereits im Werk angelegt ist.12 Vor diesem Hintergrund lässt sich nicht nur die von den Aufklärern mit Ressentiments bewertete Komik in den Tragödien Shakespeares erklären; das Konzept der contre-textualité bietet auch einen Deutungsansatz für das oft vexatorische Spiel, das der Dichter durch die Anverwandlung vielfältiger Masken, Rollen und Geschlechter mit seinem oft erstaunten Leser treibt. Die explizite Erotik, die den vertrauten Umgang des frühneuzeitlichen Sprechers mit Gott bestimmt, kann somit als akzeptierter Gegentext zum theologischen Diskurs gedeutet werden, der letztlich seit dem alttestamentlichen Hohelied oder dem prokreativen Konzept der Genesis (lat. generare = zeugen) in der jüdisch-christlichen Religion fest verankert ist. Im Unterschied zur klassizistischen Parodie des Augustan Age, wo der Gegentext eine von außen herangetragene Schmähschrift mit dem erklärten Ziel der Verhöhnung oder gar der Zerstörung des ursprünglichen Textes darstellt, kommt in
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im elisabethanischen Liebesdiskurs Rechnung trägt, ist der von Catherine M. S. Alexander und Stanley Wells herausgegebene Sammelband Shakespeare and Sexuality (Cambridge: Cambridge UP, 2001). (Stuttgart / Weimar: Metzler, 1997), 22. Ebd., 113.
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dem parodierenden contre-texte der Frühen Neuzeit immer wieder die Freude des Menschen am komplementären und konzeptistischen Spiel mit Paradoxa und Gegenperspektiven zum Ausdruck. Ist der Begriff der contre-textualité in der Auseinandersetzung mit den Paradoxa und Stilbrüchen von Einzelwerken erhellend, so greift er allerdings dort zu kurz, wo konträre Gebiete wie Medizin, Jurisprudenz, Staatsphilosophie, Neuplatonismus und die Literatur des körperbetonten Barock zusammentreffen. Hier ist es Michel Foucault zu verdanken, dass der Begriff des Diskurses sich in der literaturwissenschaftlichen Diskussion eingebürgert hat. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sieht Foucault die sexuellen Praktiken der Menschen durch drei große explizite Codes bzw. Diskurse beherrscht: durch das kanonische Recht, die christliche Pastoraltheologie und das Zivilrecht.13 Erst danach komme es, so Foucault, zu einer „diskursiven Gärung,“14 zu einer „Explosion verschiedener Diskursivitäten.“15 Wenngleich die Anzahl der Diskurse in der Moderne drastisch zugenommen hat und in den virtuellen Welten der Postmoderne diese sich mit rasanter Geschwindigkeit zu multiplizieren scheint, ist Foucaults Reduktion der frühneuzeitlichen Sexualität auf nur drei Diskurse eine nützliche, aber allzu simplifizierende Konstruktion. In seinem Aufsatz ‚Erotik und Körperlichkeit in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit‘ unterscheidet der Mediävist Walter Haug bereits fünf erotische Diskurse,16 die im Verlauf des 16. und 17. Jahrhunderts durch weitere ersetzt oder ergänzt werden. Das Wissen um die Pluralität der Diskurse ist notwendig, um zu erkennen, dass nicht nur ein Sprachcode die Sexualität der Frühen Neuzeit beherrscht, sondern dass z.B. neben dem von Paulus geprägten kirchlich-kanonistischen Diskurs und seiner Präferenz der sexuellen Abstinenz eine von Galen bestimmte Sichtweise tritt, die unter dem Aspekt der Diätetik und Regulation des Säftehaushalts einen regelmäßigen Geschlechtsverkehr vorschreibt.17 Der Gefahr, die einzelnen Diskurse als monolithische Einheiten zu begreifen, beugt bereits Haug vor, wenn er in der Beschreibung seines philosophisch-theologischen Diskurses die Vorstellung des erotischen ascensus bereits im Mittelalter durch eine zunehmende Anthropo13 14 15 16 17
Foucault, Der Wille zum Wissen Bd. 1, 51. Ebd., 28. Ebd., 47. In Kulturen des Eros, hg. Detlev Clemens / Tilo Schabert (München: Fink, 2001), 135–78. Siehe hierzu ausführlicher Foucault, Sexualität und Wahrheit Bd. 2. Der Gebrauch der Lüste (Frankfurt/M: Suhrkamp, 1997), 141ff.
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logisierung des neuplatonischen Aufstiegsmodells verändert sieht.18 Auf die Literatur der Frühen Neuzeit bezogen gilt es nun, den von Haug beschrittenen Weg fortzusetzen, obgleich dieser sich auch als selektiv erweist, wenn er in der Konzentration auf die neu entstandene erotische Lyrik- und Romankultur im 12. Jahrhundert den lasziveren Duktus der fabliaux-Dichtung oder der Carmina Burana gänzlich ausblendet. Dabei sind es gerade die derben und körperbetonten contre-textes, die im Verlauf mehrerer Jahrhunderte nicht nur den petrifizierten platonischen Liebesdiskurs in Frage stellen, sondern ihn schließlich am Ende der Shakespeare-Zeit vollends desavouieren und in neue und divergierende Richtungen lenken. b. Der für diese Arbeit gewählte Zeitabschnitt des 17. Jahrhunderts ist somit paradigmatisch: Das Zusammentreffen der letzten Zeugnisse des Petrarkismus mit dem ausgeprägten Sensualismus der geistlichen Dichtung des Barock wie auch mit den schockierenden Inszenierungen des weiblichen Genitals bei den Cavaliers macht die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts in der Darstellung der Erotik zu einer Phase des Umbruchs und des tentativen Neubeginns. Trotz der Brisanz dieses an sexuellen wie auch politischen Revolutionen so reichen Jahrhunderts, scheinen die Varietäten der erotischen Diskurse in der Zeit nach Shakespeare nur auf eine mäßige wissenschaftliche Resonanz zu stoßen. Dies bezeugt geradezu exemplarisch ein 2000 veröffentlichter Sammelband zu einem interdisziplinären Kolloquium, der von Theo Stemmler und Stefan Horlacher herausgegeben wurde: Das für die Entwicklung der modernen Erotikauffassung grundlegende 17. Jahrhundert wird hier – von Michael Gassenmeiers Aufsatz zur sexuellen Imagination des Earl of Rochester abgesehen – nahezu in toto ausgespart.19 Die lyrische Gestaltung der Erotik nach Aretinos Sonetti lussuriosi bekommt somit den Status einer terra incognita, eines unwegsamen Geländes, das innerhalb der letzten Jahre die Forschung versäumt hat, konsequent zu erschließen.20 18 19
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Haug, 158. Sexualität im Gedicht. 11. Kolloquium der Forschungsstelle für europäische Lyrik, hg. Theo Stemmler / Stefan Horlacher (Tübingen: Narr, 2000). Dies gilt auch für die Studie Premodern Sexualities, hg. Louise Fradenburg / Carla Freccero (London / New York: Routledge, 1996), die dem Begriff ‘pre-modern’ entsprechend – bis auf Tirso de Molinas Burlador de Sevilla – auf das ‚vor-moderne‘ Mittelalter beschränkt bleibt. Vielversprechende Ausnahmen stellen Matthias Bauers Studie Mystical Linguistics: George Herbert, Richard Crashaw and Henry Vaughan (z.Z. noch unveröffentlichte Habilitationsschrift) und der Sammelband von Helen Wilcox / Richard Todd / Alasdair
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Der Paradigmenwechsel, wie er sich sowohl in der Repräsentation des Erotischen als auch im Denken des 17. Jahrhunderts abzeichnet und bereits in den späten Dramen Shakespeares antizipiert wird, ist bereits 1921 von T. S. Eliot diagnostiziert worden. Mit dem oft zitierten Schlagwort der ‘dissociation of sensibility,’ das für ihn die Trennung von Fühlen und Denken, von Emotionalität und Intellektualität seit dem Ende des Barock bezeichnet, beschreibt Eliot einen kulturgeschichtlichen Hiatus, der sich vornehmlich in der Sprache Miltons und Drydens widerspiegele. Jener bei Donne und den anderen Metaphysicals noch ausgeprägten “direct sensuous apprehension of thought”21 verlustig gegangen, formulieren nach Eliots Ansicht die Versdichtungen Miltons, Drydens und die der anderen Restaurationsliteraten die Disparität des beginnenden modernen Lebensgefühls. Ist hierbei die Aversion der Modernisten gegen Milton ideologisch begründet, und mutet Eliots Projekt, die ‚chinesische Mauer Miltons‘ (“the Chinese Wall of Milton”22) zu überwinden, als propagandistische Spiegelfechterei an, so ist trotz aller Vorbehalte seitens der Literaturkritik nach 194523 die Gültigkeit der Theorie von der Dissoziation der Sensibilität nicht gänzlich von der Hand zu weisen. Bei allen Schwächen, die der veralteten Eliotschen Terminologie zugrundeliegen, so lässt sich jedoch nicht verhehlen, dass im 17. Jahrhundert sich Prozesse vollziehen, die nicht nur Eliot, sondern bereits vor ihm auch Matthew Arnold wahrgenommen und analysiert hat.24 Die Gründe hierfür sind mannigfaltig: Wie Wolfgang Weiß darzustellen vermag, bilden das puritanische Interregnum mit der Hinrichtung des Königs und die Glorious Revolution von 1688 die wesentlichen historischen Ursachen für ein markantes Zäsur-Bewusstsein im 17. Jahrhundert. Weiß räumt aber unter Berufung auf Studien von J. A. Mazzeo und C. Webster ein, dass „neben den politischen Revolutionen eine Fülle weiterer Revo-
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MacDonald, Sacred and Profane: Secular and Devotional Interplay in Early Modern British Literature (Amsterdam: VU UP, 1996) dar. ‘The Metaphysical Poets’ Selected Essays (London: Faber and Faber, 1963), 290. Der ‘dissociation of sensibility’ stellt Eliot den späteren, nicht zur Erfüllung kommenden “struggle toward unification of sensibility” (288) in der Romantik entgegen. ‘Notes on the Blank Verse of Christopher Marlowe’ The Sacred Wood. Essays on Poetry and Criticism (London: Faber and Faber, 1928). Pound spricht sogar von “the blight of the Miltonic or noise tradition” Literary Essays (London: Faber and Faber, 1954), 232. Vgl. Wolfgang G. Müller, ‚T.S. Eliots Poetik und seine Barockrezeption‘ Europäische Barock-Rezeption, hg. Klaus Garber (Wiesbaden: Harrassowitz, 1991), II, 1038. So in ‘A Guide to English Literature’ Essays on Religion and Mixed, hg. R. H. Super (Ann Arbor: U Michigan P, 1972), 246 oder in ‘The Study of Poetry’ English Literature and Irish Politics, hg. R. H. Super (Ann Arbor: U Michigan P, 1973), 179.
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lutionen entdeckt wurde.“25 Zusätzlich unterstützt durch Arthur Hübschers frühe These vom antithetischen Lebensgefühl des Barock,26 besteht in der Literaturwissenschaft somit heute ein Konsens darüber, dass das 17. Jahrhundert von Revolutionen, Umbrüchen und Antithesen, bald auf kulturellem, bald auf naturwissenschaftlichem Gebiet, umgetrieben wird. Dabei hat man es jedoch bislang versäumt, die Bedeutung und Tragweite einer weiteren tiefgreifenden Revolution zu bewerten: die der Erotik und der Wahrnehmung des Körpers. Dass das Zustandekommen dieser erotischen Revolution zu einem erheblichen Teil auf einer Dissoziation der Sensibilität, auf der Abspaltung von Körper und Geist, von Theologie und Sinnlichkeit beruht, wird bei einer kontrastiven Analyse der Metaphysicals und der Cavaliers evident werden. Was bei diesem Ansatz jedoch kritisch hinterfragt werden muss, ist das auffallend Arbiträre der Einteilung, wie sie nicht nur Eliot, sondern auch die spätere Literaturhistoriografie vorgenommen hat. Dass sich Milton und Dryden durch “a dazzling disregard of the soul” auszeichnen,27 gilt heute als ebenso widerlegt wie die These von Chapmans Amalgamierung von Denken und Fühlen; was es jedoch immer noch zu beweisen gilt, ist die Tatsache, dass die Polarität von Barock und Moderne sich weniger kataklysmisch durch politische Umwälzungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausgebildet hat, sondern vielmehr das Ergebnis eines früher einsetzenden und graduell sich vollziehenden Wertewandels ist. Weiß Eliot an so heterogenen Autoren wie Racine und Donne lobend hervorzuheben, dass beide tiefer dringen als in das Herz, entsprechen sie doch einem Postulat, das er wie folgt umschreibt: “One must look into the cerebral cortex, the nervous system, and the digestive tracts,”28 so entlarven Dichter wie Thomas Carew, Sir John Suckling, Richard Lovelace in zeitlicher Parallelität zu Donne die unfreiwillige Ironie dieser Forderung. In der zunehmenden Fokussierung auf das Körperliche, auf das Abdominale und Genitalische antizipieren sie, unter dem Eindruck des Niedergangs der platonischen Liebesphilosophie stehend, den modernen ‚Weltriss‘ bereits in den 1630ern und verweisen auf ein Erotik- und im weitesten Sinne auch Existenzverständnis, das unter dem Vorbehalt des Satirischen und Dystopischen auch 25 26 27 28
Wolfgang Weiß, ‚Das 17. Jahrhundert in England: Zeitalter der Revolutionen oder des literarischen Barock?‘ Europäische Barock-Rezeption II, 966. ‚Barock als Gestaltung antithetischen Lebensgefühls: Grundlegung einer Phraseologie der Geistesgeschichte‘ Euphorion (1922/23), 517–62. ‘The Metaphysical Poets,’ 290. Ebd.
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schon bei Shakespeare und Jonson thematisiert wird. Eliots Befund, der in seiner Knappheit weniger Präzision als provokatorische Diagnostik anstrebt, gilt es daher nicht so sehr in der Sache als in der chronologischen Klassifikation zu modifizieren. Die Restaurationsepoche, die 1660 mit der Krönung Karls II. einsetzt und einen Dichter wie Dryden zum Poeta Laureatus kürt, stellt im Hinblick auf ihre hier behandelten Repräsentanten Rochester, Etherege oder auch Behn weniger einen die Moderne inaugurierenden Neuanfang in der Bewertung der Erotik dar als eine Fortsetzung des spätestens bei den Cavaliers einsetzenden Libertinismus. In eroticis gesprochen, beginnt die Revolution der Moderne bereits mit der Erfindung des Don Juan im Jahr 1613: Seine quantifizierenden Lust-, Körper und Frauenkonzeptionen begründen zum einen – neben den Lebensentwürfen von Hamlet, Faustus und Don Quijote – einen weiteren modernen Mythos.29 Zum anderen leitet diese auf den Mercedarier-Mönch Tirso de Molina zurückgehende Innovation die Auflösung des altüberkommenen und in nahezu allen Kulturen belegbaren mixtum compositum aus Erotik und Theologie ein,30 stellt sie doch nichts anderes dar als die Inkarnation der ‘dissociation of sensibility’ avant la lettre. So kommt es in der Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts zu einem eigentümlichen und einmaligen Neben-, Mit- und Gegeneinander unterschiedlicher Erotik- und Körperauffassungen. Nicht nur die von Foucault beschriebene „diskursive Explosion“ kann dabei für die Erklärung oft frappierender Widersprüchlichkeiten herangezogen werden; auch die Zersplitterungen und Mutationen innerhalb des erotischen Diskurses führen gerade dort zu einer eruptiven Gestimmtheit, wo paulinisch-kalvinistische Doktrinen der Askese und Residuen des absterbenden Neoplatonismus in Konkurrenz treten zu hedonistisch physischen Inszenierungen der Sinne. In der auf das Interregnum folgenden Restaurationsepoche lässt sich bereits die Tendenz zur Vereinheitlichung des erotischen Diskurses ausmachen: Misogyne Frivolität und laszive fêtes galantes stimmen den Leser sowohl auf die erotische Rokoko-Kultur bei 29
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Der Parallelismus zwischen Leib und Seele, den Martin Schneider mit dem Bild zweier „gleichlaufender Uhren“ beschreibt, erfährt im literarischen Diskurs eine richtungsweisende Einschränkung. Das Weltbild des 17. Jahrhunderts. Philosophisches Denken zwischen Reformation und Aufklärung (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004), 167ff. Siehe zu diesem wichtigen, im Kontext dieser Arbeit aber unterrepräsentierten interkulturellen Aspekt Geoffrey Parrinder, Sexualität in den Religionen der Welt (London: Sheldon P, 1980) und auch Annemarie Schimmel ‚Liebe – himmlisch und nicht ganz himmlisch‘ Kulturen des Eros, 17–57.
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Crébillon fils als auch auf das ‚Pornutopia‘ bei Cleland und Rowlandson ein.31 In der Zeit Jakobs I. und Karls I. sorgen dagegen die letzten Ausläufer einer mystizistischen Barockliteratur dafür, dass der krude Sensualismus der Cavaliers stets in einem spannungsgeladenen Verhältnis zu einer theologisch motivierten Erotik steht. Dabei kommt es allerdings, wie Robert Herricks kurzes Traumgedicht ‘The Vine’ beweist, zu sonderbaren Kreuzungen und Überblendungen von Texten mit ihren contretextes: So geschieht es, dass in einer Traumvision Herricks persona sein Geschlechtsteil (“this most mortal part of mine”32) zu einer – von jeher christologisch konnotierten – Weinrebe transformiert sieht, die mit ihren wuchernden Ranken den Körper der Geliebten ganz zu umschlingen trachtet. Wie weit sich das Gedicht von der christologischen Symbolik entfernt zu haben scheint, kommt schließlich in der lasziven Coda zum Vorschein, wenn beim Erwachen der Sprecher seinen durch den erotischen Gehalt des Traumes erigierten Penis nunmehr mit dem harten Stock der Weinrebe korreliert: “And [I] found (ah me!) this flesh of mine / More like a stock than like a vine.”33 Sakrales und Frivoles, Bacchantisches und Christliches verschmilzt hier zu einer proto-Freudianischen Traumphantasie. Umgekehrt bedienen sich die Metaphysicals immer wieder eines sensualistischen Idioms, wenn sie nicht nur wie Donne Gott als einen (inspirativen) Schänder und Päderasten, sondern die Religiosität im generellen mit einem prolongierten Liebes- und Geschlechtsakt in Verbindung setzen. Diese vielfältigen und bereits früh bei Carew und Crashaw nachgewiesenen Wechselbeziehungen zwischen den Diskursen34 wie auch zwischen den Texten und ihren contre-textes werden somit – besonders unter Einbeziehung der Malerei und ihrer subtilen Verschränkung von traditioneller Ikonografie und kodifizierter Gegenbildlichkeit – im Mittelpunkt dieser kulturhistorisch ausgerichteten Arbeit stehen.
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Vgl. zum weiteren und den Rahmen dieser Arbeit transzendierenden Kontext Hiltrud Gnüg, Der erotische Roman. Von der Renaissance bis zur Gegenwart (Stuttgart: Reclam, 2002), Peter Wagner, Lust und Liebe im Rokoko (Nördlingen: Delphi, 1986) und Paul Gabriel Boucé (Hg.), Sexuality in Eighteenth-Century Britain (Manchester: Manchester UP, 1982). Z. 1. The Poetical Works of Robert Herrick, hg. L. C. Martin (Oxford: Clarendon P, 1963), 16f. Ebd., Z. 22–23. Arno Esch, Die religiöse Lyrik in England. Studien zu Donne, Herbert, Crashaw, Vaughan (Tübingen: Niemeyer, 1955), 126.
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c. Um die Pluralität der Körper- und Erotikkonzeptionen des frühen 17. Jahrhunderts noch besser greifbar und die Alterität des heterogenen barocken Liebesdiskurses verständlicher zu machen, soll außerdem immer wieder der Versuch unternommen werden, in punktuellen Vergleichen mit der Romantik, vor allem aber in kontrastiven Gegenüberstellungen der barocken Literatur und Kunst mit den sowohl neo- als auch anti-barocken Tendenzen des Fin de Siècle eine Kontrastfolie zu erstellen. Bereits 1959 hat Joseph E. Duncan im Rahmen einer Einfluss- und Rezeptionsstudie nachweisen können, dass seit der Romantik die von den ‚Augustäern‘ so verpönten und diffamierten Metaphysicals wieder anthologisiert und kritisch bewertet werden.35 Wie Duncan darlegt, zeigen sich noch vor Alexander Grosarts editorischer Pionierleistung in den 1870ern Dichter wie Thomas Lovell Beddoes, Thomas Hood, aber auch Robert Browning von den Autoren des Barock fasziniert. Gegenüber dem okkultistischen “riddle of words” in der Dichtung des frühen 19. Jahrhunderts räumt Coleridge sogar Herberts “enigma of thoughts” den Vorzug ein.36 Die Tatsache, dass das spätere Wiedererstarken des Katholizismus im Zuge des Oxford Movement eine Rezeption der Metaphysicals beschleunigt, die schließlich im metaphysical revival um Grierson und Eliot gipfelt, wird bei Duncan ausdrücklich betont.37 Worin jedoch letztlich die Affinität zwischen einem poète maudit wie z.B. Francis Thompson und den Barockdichtern besteht, bleibt jedoch verschwiegen. Auch die Möglichkeit einer Beeinflussung ex contrario, ein Rekurs auf die Bildlichkeit und Thematik der Metaphysicals, um hieraus wie bei Swinburne eine provozierende Ikonografie des ‚Anti-Barock‘ zu schaffen, findet in Duncans früher Studie noch keine Erwähnung. Dabei erweist es sich als äußerst lohnend aufzuzeigen, in welchem Ausmaß Autoren der sogenannten décadence wie Rossetti, Johnson, Thompson und nicht zuletzt Swinburne sich der literarischen und ikonografischen Muster der Metaphysicals bedienen, um sie dann im Sinne eines neuzeitlichen Hedonismus umzuwerten und bald mit blasphemischen, bald mit sexuell pervertierten Inhalten zu füllen. Epochenüberspannende Kontrastierungen dieser Art lassen auch die Bevorzugung der Maria Magdalena-Figur in der barocken Kunst und
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The Revival of Metaphysical Poetry. The History of a Style, 1800 to the Present (Minneapolis: U Minneapolis P, 1959). Ebd., 35. Ebd., 89ff.
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Literatur in neuem Licht erscheinen: In der Personalunion von Hure und Heiliger verkörpert sie par excellence die barocke Verschmelzung von Sakralem und Sinnlichem, die, wie die Darstellungen bereits bei Francesco Furini beweisen, sukzessive zugunsten einer profanen RokokoLüsternheit aufgegeben wird. Wie kaum eine andere Heiligenfigur steht sie in einer Zeit, in der die Prostitution und die Bordelle Southwarks noch die Protektion des Bischofs von Winchester (‘liberty’) genießen,38 für die Vorstellung der sinnlichen Gottesliebe, wie sie einst in der Institution der antiken Tempelprostitution und im Ritual der sakralen Kopulation (hieros gamos) gepflegt wurden.39 Das 19. Jahrhundert hingegen – und dies bestätigt nicht zuletzt auch die masturbierende ‚Büßerin‘ bei Félicien Rops – rekurriert weniger auf erotische Integrationsgestalten als vielmehr auf Oppositionspaare und Kontrastpole. Salomé und Iokanaan (Wilde / Moreau), Venus und Tannhäuser (Beardsley) oder Kundry und Parsifal (Wagner) stehen antagonistisch zueinander40 und dokumentieren nach dem Scheitern der Romantik den endgültigen Bruch zwischen Erotik und Transzendenz. Eine Figur wie der Hl. Sebastian, die sowohl im Barock als auch im Fin de Siècle den Status eines Kultheiligen hat, bestätigt letztlich abermals die hermeneutische Gültigkeit eines kontrastiven Vergleichs zwischen beiden Epochen. Als von phallischen Pfeilen durchbohrte Leidensgestalt personifiziert sie im Rahmen des theologischliterarischen Diskurses des 17. Jahrhunderts ein integratives Homosexualitätsverständnis, das in der Aufhebung der Geschlechterdifferenzen zugunsten einer ephebenhaften Androgynität die Gottesliebe zu einer erotischen unio mystica verwandelt. Diese – im Gegensatz zum staatspolitischen Diskurs vorgenommene – Nobilitierung der Homosexualität kontrastiert auffällig mit dem desintegrativen (Homo-) Sexualitätsverständnis der Viktorianer, die jede Form der Homophilie zur res tacenda erklärt und mit dem Odium des Entarteten belegt. Im Kontext dieser rigoristischen Sexualethik wird der Hl. Sebastian zur Inkarnation des homosexuellen poète maudit, zum Symbol des Geächteten in einer Zeit, in der Erotik und Theologie in einem polaren Verhältnis zueinander stehen und die hieraus resultierenden Spannungen sich zuweilen in Perver38 39
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Vgl. zu diesem Aspekt ausführlicher Eric Burford, The Bishop’s Brothels (London: Hale, 1993). Zum erweiterten Kontext der antiken Tempelprostitution und den sakralen Beischlafritualen vgl. Volkert Haas, Der babylonische Liebesgarten (München: Beck, 1999), bes. 122ff. Vgl. hierzu auch das reichhaltige Anschauungsmaterial in den bildenden Künsten bei Bram Dijkstra, Idols of Perversity (Oxford: Oxford UP, 1986).
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tierungen wie dem Satanismus, jener sexuellen Inszenierung der Blasphemie, entladen.41 So wie die eingestreuten kontrastiven Vergleiche und Exkurse die Epoche des Barock in einem größeren kulturgeschichtlichen Gesamtzusammenhang erscheinen lassen, so dient auch die Analyse der Texte nach motivgeschichtlichen Kategorien der Dokumentation einer Revolution, die sich weniger eruptiv als in evolutionären Schüben vollzogen hat. Es gilt heute als ein Gemeinplatz der Literaturkritik, dass kultur- und geistesgeschichtliche Paradigmenwechsel stets in einem Kontinuum, in einer prekären Balance von Reaktion und Gegenreaktion verlaufen. So ist es zunächst eine Selbstverständlichkeit, dass ein Autor wie Rochester sich in seinen Gedichten mal auf die theologische Sprache Donnes, mal auf die pastorale Tradition der Antike und der Renaissance kapriziert. Eine detaillierte Untersuchung der verwendeten Sprach- und Motivmuster offenbart hierbei, dass der eklatante Bruch, das Skandalon letztlich in der verzerrten und parodistischen Fortführung der Traditionen liegt. Weder das Barock noch die parallel hierzu entstehende Strömung des Libertinismus sind somit ex nihilo entstandene Phänomene; ihre Relevanz lässt sich erst dann ermessen, wenn man ihre intertextuellen Verflechtungen mit den vorhergehenden wie auch nachfolgenden Epochen zu betrachten bereit ist. Der Hiatus, der sich zwischen den im folgenden mehrfach verwendeten (und kontroversen) Begriffen wie Frühe Neuzeit und Moderne, Barock und Klassizismus aufzutun scheint, ist daher oft nur ein gradueller, der gerade in der Repräsentation des weiblichen Genitals oder des Körpers als erotischer Topografie die Verbindungen und Wechselwirkungen unter den Autoren (seit dem Mittelalter) vor Augen führt. Erst in dem sukzessiven Auseinanderstreben von texte und contretexte, in der Verwandlung der sprachlichen Komplementarität zu einer dualistischen Aufspaltung von Text und satirischem Gegentext zeigen sich die Differenzen zwischen den Metaphysicals und den Cavaliers, zwischen Shakespeare und Jonson, aber auch zwischen Rochester und Donne einerseits und Goethe andererseits.
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So in Joris-Karl Huysmans’ Là-bas (1891) oder bei Rops, der die Intimität zwischen Christus und Maria Magdalena in ithyphallischen Teufelsdarstellungen zu einer satanistischen Passionsgeschichte verkehrt.
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2. Terminologische Definitionen 2.1. Zum Barockbegriff in der englischen Literatur Eine Arbeit über die Erotik des heterogenen Barockzeitalters unterliegt in zweifacher Hinsicht einem Definitionszwang: Sowohl das der Frühen Neuzeit zugeordnete Barock als auch die Erotik sind immer wieder Gegenstand terminologischer Kontroversen geworden, im Fall des ersteren aufgrund einer bis heute andauernden Skepsis in der britischen Literaturgeschichtsschreibung gegenüber dem Barockbegriff, im Fall des letzteren aufgrund einer sich immer wieder verschiebenden Demarkationslinie innerhalb der Trias von Erotik, Pornografie und Obszönität. a. Das 1603 mit dem Tod Elisabeths I. zu Ende gegangene elisabethanische Zeitalter hinterlässt zunächst nicht nur in dynastischer, sondern vor allem in kultur- und geistesgeschichtlicher Hinsicht eine lacuna, die erst mit der Restauration wieder terminologisch gefüllt zu werden scheint. Selbst neuere Literaturgeschichten, so auch die 1991 von Hans Ulrich Seeber herausgegebene, tendieren dazu, den Begriff des Barock zu vermeiden, indem sie – in bewusster Anlehnung an frühere Gesamtdarstellungen der englischen Literatur wie z. B. an A. C. Baughs Literary History of England (1948) – sich auf zuweilen vage wie auch gewagte Periodenkonstrukte berufen.42 Wie eine Vielzahl der Literatur- und Kulturhistoriker, die dazu neigen, Paters generöser Periodisierung zu folgen und die Epoche der Renaissance bis weit in das 17. Jahrhundert auszudehnen, so kapriziert sich auch Manfred Pfister in seinem Beitrag zu Seebers Literaturgeschichte, ‚Die frühe Neuzeit: Von Morus bis Milton,‘ auf einen gewaltigen Zeitabschnitt, der von 1517, dem Publikationsjahr von Morus’ Utopia, bis 1674, dem Todesjahr von Milton, reicht. Sich durchaus der Problematik eines solch großzügigen Epochenbegriffs bewusst rechtfertigt Pfister seine Abweichung von der kontinentalen Periodisierung unter anderem auch durch seine Skepsis gegenüber dem der zentraleuropäischen Kunstgeschichte entlehnten Begriff des Barock für das England des frühen 17. Jahrhunderts, „in dem Inigio Jones und Sir Chris-
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Auch die von H. R. Woudhuysen besorgte Anthologie The Penguin Book of Renaissance Verse 1509–1659 (London: Penguin, 1992) dehnt die Renaissance von der Thronbesteigung Heinrichs VIII. bis zum Beginn der Restauration aus und gelangt somit zu einem Epochenkonstrukt von 150 Jahren, das von Skelton bis Marvell reicht.
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topher Wren ja gerade der klassizistischen Ordnung und Klarheit eines palladianischen Klassizismus zum Durchbruch verhelfen.“43 Obwohl er später im Rückgriff auf Foucaults Schlagwort von der ‚Explosion der Diskurse‘ ausdrücklich auf die Dialogizität und Widersprüchlichkeit der Kultur jener Zeit hinweist,44 so zeigt sich Pfister in der Bewertung des Renaissance- wie auch Barockbegriffs offenkundig von dem Gedanken geleitet, dass es sich hier um importierte und monolithische Gebilde handelt, die einer differenzierten Beschreibung jenes kulturellen Zeitraums nicht genügen. Darüber hinaus vermag Pfister in seiner kunst- und architekturhistorisch begründeten Verteidigung des britischen Klassizismus nicht zu sehen, dass die Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in der Literatur (Sidney, Jonson) sich stets in einem Konkurrenzverhältnis sahen zu den Vertretern von ‘mongrel plays,’ konzeptistisch-obskurer Lyrik und emblematisch-irrationaler Mischkünste. Der Durchbruch klassizistischer Ordnung und Klarheit muss daher relativiert werden und kann allenfalls auf einen von Wren und Jones repräsentierten Teilaspekt der Kunst- und Kulturgeschichte angewendet werden. Der Einsatz des Barockbegriffs versus Renaissance und Klassizismus soll daher dazu dienen, jene Dynamik und spannungsgeladene Vielfältigkeit zum Ausdruck zu bringen, die der gesamten Frühen Neuzeit in allen ihren Teilfacetten eigen ist. Die Präferenz der britischen Literaturgeschichtsschreibung für eine minutiöse Periodeneinteilung, die sich bald nach Dichterschulen (Metaphysicals versus Cavaliers), bald nach den Stuart-Herrschern Jakob I. (Jacobean) und Karl I. (Caroline) orientiert, führt dagegen zur einer Parzellierung des 17. Jahrhunderts in kleine, oft über wenige Dekaden reichende Einheiten. Dies hat nicht nur einen reduktionistischen Blick auf die Kultur zur Folge, sie perpetuiert überdies den auch heute noch sorgsam gehüteten Mythos von der kultur- und literaturgeschichtlichen Singularität Großbritanniens.45 Der Aversion der britischen Forschung gegenüber dem Barockbegriff tritt bereits früh in der deutschen Litera43 44 45
,Die frühe Neuzeit: Von Morus bis Milton’ Englische Literaturgeschichte, hg. Hans Ulrich Seeber (Stuttgart: Metzler, 1991), 44. Ebd., 45. Auch die seit 2002 im Erscheinen begriffene Oxford English Literary History scheint hier kaum anders zu verfahren: Das 17. Jahrhundert wird lediglich in eine frühe (1603–1660; Bd. IV Literary Cultures of the Early Seventeenth Century, hg. Katharine Eisaman Maus) und in eine späte Periode (1645–1714; Bd. V The Later Seventeenth Century, hg. Margaret Ezell) eingeteilt. Der leitende Gedanke ist hier wieder die Periodisierung nach englischen Königen und Dynastien, die eine Anbindung an die europäische Geistesgeschichte von vornherein ausschließen soll.
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turwissenschaft eine euphorische (und nicht minder problematische) Akzeptanz des Terminus entgegen. In der Folge von Heinrich Wölfflins Studie Renaissance und Barock (1888) kommt es geradezu zu einer Inflation des Barockbegriffs. Während Erwin Panofsky noch behauptet, der Barockbegriff sei „das Eigentum von Kunsthistorikern,“46 so wird bald alles vom Dreißigjährigen Krieg bis zu Hogarth und Voltaire unter dem Signum des Barocken subsumiert.47 Dabei bildet sich vor allem eine fragwürdige Form der Komparatistik heraus, die mit Oskar Walzel beginnend die Strukturen der Barockarchitektur auf das dramatische Werk Shakespeares und anderer zu übertragen sucht. Diese Modeerscheinung der comparative arts, der Mario Praz noch 1970 in seiner Studie Mnemosyne: The Parallel between Literature and the Visual Arts Rechnung zu tragen bemüht ist48 und schließlich in Robert Harbisons Applikation des Barocken auf amerikanische Autos der 1950er und 60er gipfelt,49 hat sich für die Einführung des Barockbegriffs als ebenso abträglich erwiesen wie die – gleichermaßen verzerrende – Tendenz, das Barock zugunsten von partikularen Dichtergruppen oder der von Samuel Johnson ererbten Invektive gänzlich zu ignorieren. Im Gegensatz zur Reserve der britischen Literaturhistoriker ist es die anglo-amerikanische Komparatistik, die nicht nur wie Austin Warren in ihren monografischen Studien,50 sondern auch in ihren theoretischen Schriften für die Anwendung des Barockbegriffs eintritt.51 In seinem ausführlichen Essay ‘The Concepts of Baroque’ versucht René Wellek zunächst, die zögerliche Annäherung an den Begriff – “its slow penetration
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Was ist Barock?, hg. Michael Glasmeier / Johannes Zahlten (Hamburg: Philo and Philo Fine Arts, 2005), 15. Egon Friedell, Kulturgeschichte der Neuzeit (München: DTV, 1986; 1. Aufl. 1927–1931), 411–647. Friedell bevorzugt überdies in Analogie zu der häufig gewählten Abstufung von ‚Früh- und Hochbarock‘ die dramatischen Begriffe ‚Ouvertüre‘ und ‚Agonie der Barocke.‘ (Princeton NJ: Princeton UP, 1974). Die Problematik dieses Ansatzes zeigt sich vor allem, wenn Praz die strukturellen Elemente der barocken Kuppelarchitektur in Drydens Bearbeitung von Shakespeares Antony and Cleopatra zu sehen glaubt, 143ff. “Hollywood Biblical epics, Miami hotels and American cars of the late 1950s or early ’60s are also prime hunting grounds for Baroque in the loosest sense – Baroque reduced to kitsch, consciously crass and devoid of irony.” Reflections on Baroque (London: Reaktion Books, 2000), 201f. Crashaw and the Baroque Sensibility (London: Faber and Faber, 1939). Vgl. hierzu in verknappter Form auch Norbert Lennartz, ‚Sinn(e) und Sinnlichkeit im Barock. Eine Einführung‘ The Senses’ Festival. Inszenierungen der Sinne und der Sinnlichkeit in der Literatur und Kunst des Barock (Festschrift zum 65. Geburtstag von Rolf P. Lessenich), hg. Norbert Lennartz (Trier: WVT, 2005), 7–11.
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into English and American scholarship”52 – dadurch zu erklären, dass Ruskins Desavouierung des Barock noch im kulturellen Gedächtnis der Briten weiterwirke und eine Korrektur dieses Verdikts überdies durch das Fehlen einer ausgeprägten Barockarchitektur in Großbritannien beeinträchtigt werde.53 Ohne Rückgriff auf weitere, der Kunstgeschichte entnommene Termini wie z.B. den Manierismus – für den so unterschiedliche Wissenschaftler wie Rudolf Stamm,54 Gustav René Hocke55 oder Wolfgang Drost56 plädieren – unternimmt Wellek des weiteren den Versuch, das Barock als einen pan-europäischen Epochenbegriff von einer anti-chronologischen und periodisch wiederkehrenden Stilkategorie zu trennen. Diesem diffusen und oft präjudizierten Etikett, das im Gegensatz zu einem attizistischen Stilideal bald mit dem ‚Asianismus,‘57 bald mit Ausprägungen des Gotizismus58 in Verbindung gesetzt wird, setzt er die Vorstellung einer zeitlich begrenzten Barockepoche entgegen, auf deren tentativer Definition es im folgenden aufzubauen gilt: The term baroque is most acceptable […], if we have in mind a general European movement whose conventions and literary style can be described fairly narrowly, from the last decades of the sixteenth century to the middle of the eighteenth century in a few countries. Baroque points out that Sir Thomas Browne and Donne, Góngora and Quevedo, Gryphius and Grimmelshausen have something in common, in one national literature and all over Europe.59
Das Gemeinsame, das so unterschiedliche und individuelle Dichter wie Donne, Góngora, Quevedo, Gryphius, aber auch Marino und Crashaw verbindet, sieht Wellek zunächst in stilistischen Eigentümlichkeiten begründet, die nicht als Dekadenzerscheinungen auf Phasen einer Hochkultur folgen, sondern die für einen bestimmten Zeitraum, vom Ende des 52 53 54 55
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Concepts of Criticism (New Haven / London: Yale UP, 1963), 88. Ebd., 89. ‚Englischer Literaturbarock?‘ Die Kunstformen des Barockzeitalters, hg. Rudolf Stamm (Bern: Francke, 1956), 382–412. Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur (Reinbek: Rowohlt, 1987). – Hockes Manierismus-Begriff stellt eine epochenübergreifende StilKategorie dar, die bis zu den Surrealisten reicht. Strukturen des Manierismus in Literatur und bildender Kunst. Eine Studie zu den Trauerspielen Vincenzo Giustis 1532–1619 (Heidelberg: Winter, 1977). Siehe hierzu Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern: Francke, 1984 [1948]), 76. Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (München: Beck, 1991 [1923]), Kap. 3.II ‚Apollinische, faustische, magische Seele,‘ 265. Wellek, 93f.
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16. Jahrhunderts bis vereinzelt in die Mitte des 18. Jahrhunderts den literarischen Diskurs prägen. Dass der dominierende Diskurs des Barock hierbei stets von klassizistischen Gegendiskursen (Jones, Wren, Jonson) flankiert wie auch modifiziert und ergänzt wird, bedarf kaum einer expliziten Erwähnung. Neben einer deutlich zu verzeichnenden Präferenz für rhetorische Positionsfiguren wie dem Asyndeton oder dem Oxymoron verweist Wellek in seiner stilistischen Charakterisierung des Barock auf die Popularität des conceit, jener bereits von Johnson kritisierten Manier, Disparates und logisch weit Auseinanderliegendes miteinander zu verknüpfen.60 Die Hinwendung zu Konzeptismen und komplexen metaphorischen Bildern, bei denen tenor und vehicle augenscheinlich so weit auseinanderstreben, dass die tertia comparationis in kasuistischen Schein-Argumentationen herauskristallisiert werden, veranlasst Frank J. Warnke dazu, an der Bezeichnung ‘metaphysical poetry’ festzuhalten. Die sich in den conceits manifestierende “tough reasonableness,” die er nicht nur einer hochbarocken Neigung zur Groteskerie und Inkohärenz – “High Baroque grotesqueness and disjointedness”61 –, sondern auch einer Crashaw unterstellten Methode der freien Assoziation entgegensetzt, beruht auf der Annahme, dass im Unterschied zur logischen Diskursivität der metaphysical poetry das Barock lediglich eine Exuberanz schwülstiger Sensualismen darstelle. Genaue Analysen der Gedichte Crashaws und ihrer vermeintlich “more than slightly perverse sexuality”62 machen jedoch offenkundig, dass ‘The Weeper’ oder die Teresa-Gedichte weit entfernt davon sind, ein bloß neo-mystizistischer stream of consciousness zu sein. Die von Crashaw verwendeten Bilder und Paradoxa unterscheiden sich von Donnes oder Herberts conceits eher graduell und sind mutatis mutandis gleichermaßen Manifestationen jener “sensuous apprehension of thought,” jener Interaktion von Sinnlichkeit und Vernunft, wie sie Eliot bereits 1921 betont.63 Warnkes Vorschlag, den bislang auf eine Nation 60
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“The most heterogeneous ideas are yoked by violence together; nature and art are ransacked for illustrations, comparisons, and allusions.” ‘Cowley’ Lives of the English Poets, hg. George Birkbeck Hill. 3 Bde (Oxford: Clarendon P, 1905), I, 20. European Metaphysical Poetry (New Haven / London: Yale UP, 1961), 11 und 15. Ebd., 15. Zum Gebrauch des Paradoxons und des erotisch aufgeladenen paradoxalen conceit in der metaphysical poetry, „einem englischen Zweig der Barocklyrik,“ vgl. Wolfgang G. Müller, ‚Das Paradoxon in der englischen Barocklyrik: John Donne, George Herbert, Richard Crashaw‘ Das Paradox. Eine Herausforderung abendländischen Denkens, hg. Paul Geyer / Roland Hagenbüchle (Tübingen / Basel: Stauffenburg, 1992), 355–84; 355, 361ff.
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beschränkten Begriff der metaphysical poetry auf die europäische Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts in toto zu übertragen, stellt insofern nur eine Verlagerung des definitorischen Problems dar, als neben den stilistischen Eigenarten wie den epigrammatisch verknappten strong lines und der obscuritas eine Berücksichtigung der inhaltlichen Aspekte ausbleibt. Wiederum ist es Wellek, der entgegen allen nationalistischen Vereinnahmungen des Barockbegriffs sich für das Barock als eine geistesgeschichtliche Kategorie Europas ausspricht. Sich hierbei ebenso vehement gegen eine Konfessionalisierung des Barock wendend64 gelangt Wellek zu der verallgemeinernden Feststellung, dass eine Definition des Terminus nur dann sinnvoll erscheint, wenn sie stilistische und inhaltliche Kriterien – “stylistic and ideological criteria”65 – umfasst. Worin letztlich die thematischen Besonderheiten, jene “ideological criteria,” bestehen, zeigt Wellek jedoch nur in vagen Andeutungen. b. Gleichsam um dieses definitorische Vakuum auszufüllen, rekurriert die deutsche Geistesgeschichte auf die Vorstellung einer Dichotomie zwischen Spiritualismus und Sensualismus in der englischen Literatur des 17. Jahrhunderts, auf die Emergenz eines ‚antithetischen Lebensgefühls.‘ Dieser Ansatz, wie er sowohl das Denken Arthur Hübschers als auch das Werner P. Friedrichs bestimmt,66 erweist sich heute als ebenso erhellend wie auch in seiner Konstrukthaftigkeit als verzerrend. Letztlich hat es zu einem mirage der Barockliteratur geführt, der von unversöhnlichen Gegensätzen und wasteland-Szenarien geprägt ist. Dementsprechend betont Walter F. Schirmer in seinem 1929 in Tübingen gehaltenen Vortrag ‚Die geistesgeschichtlichen Grundlagen der englischen Barockliteratur,‘ dass das Distinktivum des 17. Jahrhunderts in der Uneinheitlichkeit, in der Aufspaltung bestehe.67 Die „jetzt als unmöglich empfundene Renaissance-Einheit-des-Disparaten“ sei, so argumentiert Schirmer, in zwei Hälften auseinandergeschnitten: „in eine ethische und ästhetische.“68 Schirmers Sicht des Barockzeitalters wird hierbei von zwei grundsätzlichen Mystifikationen geleitet: Zum einen wird die Renaissance, hier vor 64 65 66 67 68
Wellek, 104. Ebd., 108. Werner P. Friedrich, Spiritualismus und Sensualismus in der englischen Barocklyrik (Wien: Braumüller, 1932). Kleine Schriften (Tübingen: Niemeyer, 1950), 119. Ebd., 121.
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allem als pars pro toto vertreten durch Spensers Synkretismus, als ein Arkadien der Ordnung und der Stabilität verklärt; zum anderen wird das Ende der elisabethanischen Ära durch die Feststellung einer ästhetischen Abkoppelung von Schönheit und Moral allzu sehr aus der Perspektive des Modernismus bewertet. Die Konstruktion wird schließlich in ihrem Übermaß an Simplifizierung allzu augenfällig, wenn Schirmer die These verficht, dass Shakespeares dramatisches Œuvre einer Totalität verpflichtet sei, die erst in der darauffolgenden Generation in ihre Einzelteile, und zwar in den „nackten Realismus“ Middletons, in das „nackte Melodrama“ Websters und in die „nackte Farce“ Beaumonts, zerfalle.69 Das von Schirmer entworfene Bild des Barock als einer Zeit der dichotomischen Gegensätzlichkeit, wo die Auflösung des Renaissancestils unvermittelt auf die Neubildung des klassizistischen Ästhetikverständnisses stößt, entbehrt in erheblichem Maße der Prozessualität. An die Stelle des von ihm propagierten Entweder-Oder – „Jetzt schreibt man entweder graziös über die oberflächlichen Aspekte des Lebens wie Herrick, Carew und die Kavaliere, oder aber religiöse Verse wie Herbert, Wither und der mystische Crashaw“70 – tritt bei genauerem Hinsehen ein differenziertes Geflecht von Ablösungen und Übergängen, von Transformationen und Innovationen. Dabei zeigt sich immer wieder, dass, wie bereits erwähnt, Brüche oft auch camouflagierte Kontinuitäten darstellen und dass Paradigmenwechsel sich als langsame (An-)Verwandlungen herausstellen. Obgleich ein vergröbender Schematismus den von Schirmer und anderen vorgebrachten Barockdefinitionen zugrunde liegt, so scheint man jedoch darüber im Einklang zu sein, dass das Barock eine folgenreiche Umwertung des bis dato gültigen Wertesystems darstellt, einen Umbruch, der sich in der Folge des Verblassens des Platonismus vor allem im Bereich der Erotik und des Körpers offenbart. Während Peter N. Skrine in seinem Porträt der Barockkultur lediglich zu konstatieren vermag, dass “the language of love became a baroque lingua franca,”71 so lässt sich im folgenden umfassend demonstrieren, dass die barocken Inszenierungen der Erotik einen Wandlungsprozess reflektieren, der allen nationalen Sondererscheinungen zum Trotz ein länder- und disziplinübergreifendes kulturgeschichtliches Phänomen darstellt.
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Ebd., 127. Ebd., 121. The Baroque. Literature and Culture in Seventeenth-Century Europe (London: Methuen, 1978), 127.
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Bereits Stephan Kohl hat in der Anwendung der kultursemiotischen Kategorien J. M. Lotmans betont, dass das Barock als ein „besonders klar ausgeprägtes Beispiel für einen […] ‚nicht-geschlossenen‘ Kulturtyp“ zu verstehen sei.72 Berücksichtigt man überdies die „barocke Qualität der kulturellen Widersprüche,“73 wie sie in den weltanschaulich geschlossenen Perioden der Renaissance und des Klassizismus nicht (in so verstärktem Maße) zu verzeichnen sind, so lässt sich auf den Gebieten der Erotik und des Körpers ablesen, wie unvermittelt Sakrales und Säkulares aufeinanderstößt, aber auch wie durchlässig die Liebesdiskurse der barocken Metaphysicals und der früh-klassizistischen Cavaliers in jener Zeit sind. Louis Martz’ 1969 veröffentlichte Studie The Wit of Love muss hierbei als eine erste tentative Annäherung an die veränderte Körper- und Erotikkonzeption nach Shakespeare gesehen werden. Unter dem Signum des ‘wit,’ des verblüffenden und zuweilen auch schockierenden Spiels mit den althergebrachten Liebestraditionen und artes amandi gelingt es Martz, nicht nur Verflechtungen zwischen so disparaten Dichtern wie Crashaw und Carew, sondern auch erste Brüche aufzuzeigen, wie sie in Marvells schein-dialogizistischem Gedicht ‘A Dialogue between the Soul and Body’ latent verborgen sind.74 Obwohl sich der Polarität zwischen libertinistischem Zynismus und theologischer Devotion im Werk Donnes bewusst, verzichtet Martz jedoch darauf, diesen Einzelbefund weiter und an einer größeren Auswahl von Dichtern und Dichterinnen (Lanyer, Behn) zu verifizieren und auf die Offenheit der Barockkultur zu applizieren. Stattdessen favorisiert auch er einen geradezu ausgeweiteten und ‚zerdehnten‘ Renaissancebegriff, wenn er behauptet: “Donne stands forth as symbolizing all the rich and warring interests of the Renaissance man.”75 Welleks Forderung nach einer Verknüpfung von stilistischen und inhaltlichen Aspekten in der Definition bzw. in der Deskription der offenen Barockkultur kommt schließlich Rolf Lessenich nach.76 Rekurrierend auf die geistesgeschichtliche Tradition der Bonner Philologen Schirmer, Esch und Alewyn zögert Lessenich nicht, sich des bis heute
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,Kulturtypologie und englischer Barock: Zur Rechtfertigung eines Epochenbegriffs’ Europäische Barock-Rezeption II, 984. Ebd. The Wit of Love (Indiana: U Indiana P, 1969), 138, 158. Ebd., 31. ‘The “Metaphysicals”: English Baroque Literature in Context’ Erfurt Electronic Studies in English (2001) Multimedia Database [http.// webdoc.sub.gerdg.de/edoc/ia/eese/ eese.html.].
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umstrittenen Barockbegriffs zu bedienen und in einem komparatistischen Ansatz seiner Offenheit und diskursiven Mehrschichtigkeit Rechnung zu tragen. Dabei zeigt er, dass die häufig unter die Kategorie des ‘wit’ subsumierten stilistischen Elemente wie Konzeptismen, Paradoxa oder Syllogismen Ausdruck eines prekären Weltempfindens sind, das sich vor allem in der Darstellung der Erotik niederschlägt. Ohne den formalistischen Ansatz der früheren comparative arts zu verfolgen, macht seine durch Exkurse in die Malerei, in die Architektur wie auch in die Musik untermauerte Studie zwar evident, dass die englischen Metaphysicals wie Donne oder Crashaw sich als poetische Absolutisten in ihren individualistischen private modes verstanden wissen wollen; in thematischer Hinsicht, und das heißt insbesondere in der Darstellung des Körpers und seiner Erotik, sind sie jedoch mit Marino, Rubens, El Greco, Ribalta, Hoffmannswaldau u.a. auf das engste verzahnt. Die im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte ins Feld geführten Termini wie ‘poetry of meditation’ (Martz), religiöse Lyrik (Esch), Literatur des Manierismus oder unlängst Inge Leimbergs Bezeichnung ‚geistliche Lyrik der Frühaufklärung‘77 haben in ihrer perspektivischen Einengung durchaus ihre Gültigkeit, doch verstellen sie grundsätzlich den komparatistisch geschulten Blick dafür, dass das Barock in seiner diskursiven Polyvalenz und Offenheit diese verschiedenen Partikularaspekte miteinschließt. Selbst frühklassizistische bzw. -aufklärerische Gegendiskurse werden somit zu integralen Bestandteilen einer offenen Barockkultur, sodass Schirmer sich bereits früh legitimiert sieht, Crashaw poetologisch in die Nähe Alexander Popes zu rücken.78 c. Mag man sie nun meditativ, manieristisch, metaphysical, karolinisch oder gar frühaufklärerisch nennen, ein wesentliches und verbindendes Charakteristikum der im ersten Teil dieser Studie als barock kategorisierten Werke ist, dass sie generell Erotik und Theologie und – im partikularen – die Liebe zu Christus und sexuelles Begehren immer wieder zu neuen und spannungsgeladenen Konzeptismen und Bilderfindungen zusammenfügen. Gerade im Bereich der theologisierten Erotik kommt es somit in nahezu allen Künsten zum Kulminationspunkt einer sowohl aus der Antike als auch aus dem Mittelalter ererbten Neigung, augenscheinlich 77 78
Heilig Öffentlich Geheimnis. Die geistliche Lyrik der englischen Frühaufklärung (Münster / New York: Waxmann, 1996). Schirmer, 134.
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Heterogenes ohne Rücksicht auf die Dekorumsregeln miteinander zu verschmelzen und alchimistisch zu veredeln. Im Vergleich mit den Dichtern und Künstlern der Renaissance, die der mediocritas und der Zurückhaltung verpflichtet sind und im Vergleich mit den Rationalisten und Frühklassizisten wie Suckling, Lovelace, Etherege oder Rochester, die gemäß dem Primat des distinguo das Unvereinbare und Widersprüchliche sondern und somit unweigerlich zu einem modernen erotischen Antagonismus gelangen, zelebriert in eroticis das frühneuzeitliche Barock – und dies gilt vor allem für Donne, Crashaw, Southwell wie auch für Rubens und Bernini – das Vexatorische, das Grenzen sprengende Paradoxale der Liebe. Wie fremdartig solch eine amalgamierende Liebesauffassung sich in der Konkurrenz und im Austausch mit dem Frühklassizismus ausnimmt, zeigt sich nicht zuletzt in einer Vielzahl genuin barocker Topoi. In Bilderfindungen wie der vaginalen Seitenwunde Christi oder der conceptio per oculos, in hermaphroditischen Inszenierungen des Dichters als Erzeuger, Gebärer und Geburtshelfer (midwife) oder in immer wieder neuen und verblüffenden chimärischen Wort- und Bildzentauren entziehen sich die Barockdichter sowohl dem späteren augustäischen Postulat rhetorischer claritas als auch dem mit der Renaissance einsetzenden Streben nach Plausibilität, Ornamentreduktion und Proportion.79 Je mehr im Verlauf des 17. Jahrhunderts sich der klassizistische Dichtungsgeschmack durchsetzt, desto mehr verändern sich die ästhetischen Bedingungen für konzeptistische Bildverknüpfungen und für erotische discordia concors-Analogien. Mit der Abkehr vom offenen Körper, mit der dandyistischen Distanzierung von der Sexualität und der Präferenz neo-paganer Formvollendung wird auch die Einsicht vermittelt, dass neben den ästhetischen auch die moralischen Bewertungskriterien für das Erotik- und Körperverständnis einer Epoche nicht konstant bleiben. Die hieraus resultierende Dynamisierung des Erotikbegriffs bringt es mit sich, dass im Kontext des 17. Jahrhunderts die terminologische Trias von Erotik, Pornografie und Obszönität neu definiert und die Abgrenzungslinie zwischen den einzelnen Bereichen nachhaltig korrigiert wird. Die Konfrontation von Barock und klassizistischer Früh-Moderne, wie sie das auf Shakespeare folgende Zeitalter der Metaphysicals und Cavaliers prägt, umfasst somit einen sowohl ästhetischen als auch einen kulturphilosophischen und weltanschaulichen Paradigmenwechsel. 79
George Puttenham, The Arte of Poesie, hg. Gladys Doidge Willcock / Alice Walker (Cambridge: Cambridge UP, 1970 [1936]), 23ff.
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2.2. Erotik-Pornografie-Obszönität Der im 17. Jahrhundert eintretende Wandel in den Ästhetik- und Moralvorstellungen, und damit die kulturelle Unterscheidung zwischen bienséance und malséance, zwischen erotischem Raffinement und obszöner Transgression zeigt sich nirgendwo so deutlich wie im Umgang mit der Literatur des Barock und der gesamten Frühen Neuzeit. So weiß sich Schirmer durchaus im Einklang mit einer Vielzahl von Forschern, wenn er von der Warte eines gegen die décadence gerichteten Rationalismus Crashaw als den „englische[n] Repräsentant[en] jener vergeistigten Sinnlichkeit und femininen morbidezza“ bezeichnet.80 Die unüberbrückbare Kluft, die hier die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts von dem vermeintlichen Bas-goût des Morbiden im Barock trennt, deutet sich bereits bei Goethes Umgang mit Shakespeare an: In seiner Bearbeitung von Romeo and Juliet für das Weimarer Theaterpublikum sieht sich Goethe genötigt, das „Possenhafte“ und „Anzügliche“ des Stücks zu tilgen und sowohl die Amme als auch Mercutio als Vertreter des „disharmonische[n] Allotria“81 auf ein expurgiertes Minimum zu reduzieren. Die Notwendigkeit, in den Text einzugreifen, die Goethe ebenso wie der Herausgeber des Family Shakespeare, Thomas Bowdler, als gegeben sieht, entspringt letztlich aus der Konturlosigeit des Obszönitätsbegriffs und der Variabilität des Erotikverständnisses im direkten Kulturvergleich zweier Epochen. Obgleich es Gustav Freytag ist, der die Phasen der klassischen Tragödie in einem Vokabular beschreibt (‚Höhenpunkt,‘ ‚das erregende Moment‘), das nicht zuletzt aufgrund der ursprünglichen Verortung des Dramas im Dionysus-Kult an den Ablauf eines Geschlechtsaktes erinnert,82 so neigt die (offizielle) Literatur des 19. Jahrhunderts – im Gegensatz zu dem verbalisierten Exhibitionismus in den Werken von Rabelais, Aretino, Shakespeare oder Donne – zu einer Poetik der rigorosen Aussparung, zu einem zensorischen Verzicht auf Erotik. Notorisch für diese Kultur des Verschweigens ist nicht nur der von
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Schirmer, 134. Friedrich weitet dieses Verdikt auf alle englischen Barockdichter aus, wenn er ihnen „zügellose, oft gar perverse Triebe“ attestiert, 51. Brief an Caroline von Wolzogen von 28. Juni 1812. Zitiert nach Walter Hinck, ‚Vom Ärgernis der Klassiker-Inszenierungen: Goethes Bearbeitung von „Romeo und Julia“ und Hans-Günter Heymes Bearbeitung des „Wallenstein“‘ Verlorene Klassik? Ein Symposium, hg. Wolfgang Wittkowski (Tübingen: Niemeyer, 1986), 361. Freytag, Die Technik des Dramas. Gesammelte Werke (Leipzig: Hirzel, 1897), XIV, 102ff. Siehe Brechts Kleines Organon für das Theater, wo das Drama explizit mit dem „Beischlaf“ verglichen wird. Werke. Schriften III, hg. Werner Hecht / Jan Knopf et al. (Berlin / Weimar / Frankfurt/M.: Aufbau, 1993), Nr. 6, 68.
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Thomas Anz zitierte Gedankenstrich in Kleists Novelle Die Marquise von O., den Benn als den „gewaltigste[n] der deutschen Literaturgeschichte“ hervorhebt;83 selbst in Arthur Schnitzlers Reigen werden sexuelle Handlungen konsequent ausgeblendet, und die Vergewaltigung der Protagonistin in Thomas Hardys Skandalon Tess of the d’Urbervilles (1891) vollzieht sich nicht nur umhüllt von Nebelschwaden – “a pale nebulousness”84 –; sie wird auch vor den Augen des Lesers in toto verschleiert und lediglich durch einen intertextuellen Bezug auf Shakespeares Rape of Lucrece – “she had learnt that the serpent hisses where the sweet birds sing”85 – in chiffrierter Form in die Erzählung einbezogen. Rückt durch die im 19. Jahrhundert praktizierte Strategie des Unterdrückens und Separierens die Erotik somit immer wieder in die Nähe des Obszönen und Psychopathologischen, so zeigt sich im Umgang mit Texten früherer Epochen in weit gesteigertem Maße, wie sehr die terminologische Abgrenzung von Erotik, Pornografie und Obszönität auf kulturellen Variabeln beruht. a. Thomas Nashes auf 1592 datiertes Gedicht ‘The Choise of Valentines,’ jene “wanton Elegie,”86 deren Bedeutung als Gegentext zum neoplatonischen Liebesdiskurs evident wird, gilt in der Literaturhistoriografie als eines der frühesten Beispiele für pornografisches Schreiben in der britischen Kultur. Was Eduard Fuchs in seiner Illustrierten Sittengeschichte allzu bald an die eng gefassten Grenzen seiner wissenschaftlichen Dokumentationspflicht führt, nämlich die „ungeschminkte Art, in der jene Zeit dieses Thema [= den Penis und seine Erektionen] behandelte,“87 wird bei Nashe nicht nur mit exzeptioneller und geradezu barocker Fabulierfreude, sondern vor allem mit großer Liebe zum Detail ausgeführt. Auf der Suche nach seiner Geliebten, die zunächst ganz im Einklang mit der tradierten Vorstellung von der Liebe als sakralem Ritual als “my la83 84 85
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Zitiert nach Thomas Anz, Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen (München: Beck, 1998), 210. Tess of the d’Urbervilles, hg. Tim Dolin (London: Penguin, 1998), 73. Ebd., 74. Die Stelle aus The Rape of Lucrece (“The adder hisses where the sweet birds sing” [Z. 871]) entstammt der Episode, als Lucrezia in einer ausgedehnten Klage ihre perfide Schändung betrauert. The Poems (The Arden Shakespeare), hg. F. T. Prince (London: Thomson Learning, 2000), 107. Z.4. The Works of Thomas Nashe, hg. Ronald B. McKerrow (London: A. H. Bullen, 1905), III, 397–416. Alle Textstellen beziehen sich auf diese Ausgabe. Illustrierte Sittengeschichte vom Mittelalter bis zur Gegenwart I, ‚Renaissance‘ (München: Langen, 1908–09), 141.
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dies shrine” (17) bezeichnet wird, gelangt der Liebespilger Tomalin in ein Sanktuarium besonderer Art: in ein Bordell, “an house of venerie” (24). Hier erwartet ihn ein sexuelles Erlebnis mit buchstäblich allen Höhen und Tiefen: Der Anblick des gewölbten weiblichen Unterleibs, an dessen topografischem Ende der vaginale Brunnen (“a fountaine;” 12) situiert ist, “[t]hat hath his mouth besett with uglie bryers / Resembling much a duskie nett of wyres” (113–14), hat nicht nur den Verlust der Erektion zur Folge, sondern zugleich die Preisgabe der männlichen Superiorität im Liebeskampf: “I am all unarm’d …”(123). Doch nachdem “gentle mistris Francis” (56) mit Hilfe ihrer Hände jenen erschlafften “sillie worme” (133) wieder aus der Ohnmacht der Impotenz erweckt hat (“till she rais’d it from his swoune;” 142), kommt es zum Geschlechtsverkehr, der in Übereinstimmung mit dem erotischen Diskurs patriarchalischer Kulturen wie eine Züchtigung und Verletzung des weiblichen Körpers anmutet: And then he [= Penis] flue on hir as he were wood, And on hir breeche did thack, and foyne a-good; He rubd, and prickt, and pierst hir to the bones, Digging as farre as eath he might for stones. (143–46)
Bei aller Aktivität, mit der der Phallus sich des weiblichen Genitals bemächtigt, erweist sich die männliche Dominanz als eine Illusion: Eine ejaculatio praecox setzt dem Rhythmus des Geschlechtsakts (“crotchettime”) wie auch der stöhnenden Begleitmusik der Frau – “she […]. / Vnto our musike fram’d a groaning dittie” (189f.) – ein vorzeitiges Ende. Da die von der Natur vorgegebene Ökonomie der männlichen Potenz dem Mann ein strenges Haushalten mit seinen Körpersäften auferlegt, kann Tomalin nicht umhin zuzusehen, wie seine erotische Kombattantin Zuflucht sucht bei ihrem Dildo, dessen Vorzüge und anti-teleologische Lustverheißung sie enkomiastisch rühmt: A knaue, that moues as light as leaues by winde; That bendeth not, nor fouldeth anie deale, But stands as stiff, as he were made of steele, And playes at peacock twixt my leggs right blythe […] And neuer make[s] my tender bellie swell. (240–43/46)
Lange vor Rochesters Gedicht ‘Seigneur Dildoe’ macht Nashe jenen bijou indiscret, jenes Penis-Surrogat aus Samt, Seide oder ausgehöhltem Murano-Glas zum machiavellistischen Mitstreiter in einer eigentümlich 26
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promiskuitiven Dreiecksbeziehung. Im unmittelbaren Vergleich mit der vom Petrarkismus vorgegebenen platonischen Liebeskasuistik stellt Nashes Gedicht einen beispiellosen Affront dar, zeichnet es sich doch durch einen kruden genitalischen Realismus aus, wie er zuvor nur in Werken der Romania, in Aretinos Ragionamenti, in Boccaccios Decameron oder gar in Villons Balladen zum Ausdruck gekommen ist. Als ‘the English Aretine’ seiner Zeit verschrien und von Gabriel Harvey als effeminierter Sittenverderber diffamiert88 scheint sich Nashe in der Rolle des enfant terrible zu gefallen und auch die Vorliebe des Italieners für eine variantenreiche und durchaus komische „Metasprache der Sexualität“89 zu teilen. Vermeidet Aretino in seinen Ragionamenti jeden Vulgärjargon, wenn er von dem Gesäß einer Nonne als einem aufgeschlagenen Messbuch (“le carte de messale culabriense”) oder von dem Dildo als dem Hl. Bernhard (“Bernardo di acqua scaldata”)90 spricht, so rekurriert auch Nashe auf eine aus verschiedenen Lebensbereichen gespeiste Metaphorik, um die hedonistische Freude am Körper, aber auch seine Unzulänglichkeiten und Groteskerien adäquat in Szene zu setzen. b. So ist es letztlich diese Sprachartistik, die sich (nicht nur) in den Werken Aretinos und Rabelais’ immer wieder in verblüffenden Wort- und Metapherneruptionen entlädt und selbst für das Genital eines männlichen Kleinkindes bis zu 15 Paraphrasen offeriert;91 sie stellt letztlich auch das ästhetische Distinktivum dar, das den erotischen Diskurs der Frühen Neuzeit von der Idiomatik der späteren Pornografie trennt. Aus diesem Grund ist Ian Frederick Moulton unbedingt beizupflichten, wenn er in seiner Studie Before Pornography: Erotic Writing in Early Modern England die Anwendung des Pornografiebegriffs auf die durchaus ex-
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Zur Rezeption von Aretino in England und insbesondere zu Nashes Wirkung auf seine Zeitgenossen siehe Ian Frederick Moulton, Before Pornography: Erotic Writing in Early Modern England (Oxford / New York: Oxford UP, 2000), bes. Teil II, 113ff. Hiltrud Gnüg, Der erotische Roman, 67. I Ragionamenti, hg. Adriano Spatola (Bologna: Sampietro, 1970), 28. – Den späteren Vorwurf, Aretino und den Autoren der Frühen Neuzeit habe die vox propria für das Genitalische gefehlt und diese sei wie das Wort ‚Schwanz‘ in Goethes Venetianischen Epigrammen aus dem öffentlichen Diskurs entfernt worden, entkräftet Aretino bereits im ersten Teil des Romans, 38. „L’une la nommoit ma petite dille, l’aultre ma pine, l’aultre ma branche de coural, l’aultre mon bondon, mon bouchon, mon vibrequin, mon passouer, ma teriere, ma petite andouille vermeille, ma petite couille bredouille.“ Gargantua, hg. Ruth Calder / M. A. Screech (Genève: Droz, 1970), X, 81.
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pliziten erotischen Schriften des 16. und 17. Jahrhunderts entschieden zurückweist.92 Ein Gedicht wie Nashes ‘Choise of Valentines’ ist pornografisch lediglich im etymologischen Sinne, bezieht sich doch das erst seit 1850 im OED belegte93 und aus dem Griechischen (pornegraphein) entlehnte Wort auf die schriftliche wie auch bildkünstlerische Darstellung von Huren (porne). Doch die wesentlichen Ingredienzien der Pornografie – eine durch die Unmittelbarkeit des Vulgärjargons erreichte Stimulation des Lesers wie auch die Illusion der unerschöpflichen Wiederholung des sexuellen Aktes als alleiniges Strukturprinzip94 – lassen sich weder bei Nashe noch bei den späteren Cavaliers oder Metaphysicals ausmachen. An die Stelle der utopistischen Inszenierung des unersättlichen Körpers, die Luce Irigaray als einen beständigen „Zwang zur Erektion und zur Entladung,“ als eine mechanische Penetration einer nach Löchern unterteilten physischen Fläche dekuvriert,95 treten bei Nashe wie auch bei Rochester, Suckling, Etherege oder gar Goethe prononciert anti-pornografische Anzeichen eines erotischen Unbehagens bzw. Versagens. Die bei Nashe noch humoristisch eingekleidete Tatsache, dass die Frau in der Masturbation mit einem Dildo sich über die sexuellen Unzulänglichkeiten des Mannes hinwegzusetzen und sich somit der tradierten Ökonomie der Lust96 zu entziehen vermag, gehört zwar zur späteren Topik des pornografischen Schreibens; hier wird sie jedoch als eine Bedrohung oder gar Kränkung des patriarchalischen Sexualgebarens beschrieben:97 “Curse Eunuke dilldo, senceless, counterfet, / Who sooth maie fill, but neuer can begett” (263–64). Enwickeln sich die pornografischen utopoi erst im 18. Jahrhundert, wo durch das Aufkommen der sentimental novel und der intimen Beichte manch einer Brief- oder Tagebuchschreiberin ein voyeuristischer Blick in das Boudoir bekennen-
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Moulton, 3ff. OED VII, 136. Die hier zugrundegelegte Definition der Pornografie als utopistische Inszenierung niemals versiegender Lust stimmt jedoch nicht mit D. H. Lawrences Sichtweise überein: Seine Bestimmung der Pornografie als “the attempt to insult sex, to do dirt on it” (‘Pornography and Obscenity’ Selected Literary Criticism, hg. Anthony Beal. [London: Heinemann, 1955], 37) wird hier mit dem Obszönen gleichgesetzt. Ce sexe qui n’est pas un (Paris, 1977). Aus dem Franz. übertragen v. Hans-Joachim Metzger et al. Das Geschlecht, das nicht eins ist (Berlin: Merve, 1979), 206. Siehe zu dieser der Antike entlehnten Vorstellung bes. Foucault, Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit III (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1997), ‚Das Regime der Lüste,‘ 163ff. Vgl. auch Moulton, 177ff.
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der Frauen (Fanny Hill, Thérèse) ermöglicht wird, so stößt der Rezipient Nashes wie auch der der Cavaliers weniger auf ein „bürgerliches sexuelles Sauber- und Schlaraffenland“98 als auf einen locus terribilis, wo Krankheit, Versagen, aber auch althergebrachte Ängste vor der infernalischen vagina dentata vorherrschen. Mit der Fokussierung auf das (hässliche und furchteinflößende) weibliche Genital – auf die Vagina als pudenda im etymologischen Sinn, als ‘sink of the body’ im Kontext der insistenten vetula-Thematik – etabliert sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts eine geradezu anti- oder pseudopornografische Bewegung, die in der ostentativen Zurschau- und Bloßstellung des abscheuerregenden Körpers sich einer Obszönität annähert, die über die klassische Frauenschelte Horazscher Provenienz99 weit hinausgeht. Während D. H. Lawrence in seinem Essay ‘Pornography and Obscenity’ das Obszöne als eine individuelle und rein subjektiv auslegbare Kategorie vorstellt,100 gehen Wissenschaftler wie Allison Pease differenzierter vor und verweisen in ihren Arbeiten auf eine Ästhetik des Obszönen, die auf eine Distanzierung der Sinne abzielt und einer bloßen Vereinnahmung des Individuums durch die Pornografie vorbeugt.101 In diesem Kontext spricht sich auch Hiltrud Gnüg für eine Auffächerung und genauere Ausarbeitung des Obszönitätsbegriffs aus: Angesichts der von Ludwig Marcuse initiierten Debatten um das Obszöne und seine etymologische Herleitung102 schlägt sie eine konsequente Trennung des „bewußt Obszönen als einer künstlerischen Kategorie“ von dem „dumpf, unreflektiert Obszönen“ vor.103
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Gnüg, 159. Vgl. Horaz, Epoden VIII. Alle Ingredienzien der Frauen- und vetula-Satire sind hier zu finden: „dens ater“ (3), „podex velut crudae bovis“ (6), „venterque mollis“ (9). “What is obscene to Tom is not obscene to Lucy or Joe …” Selected Literary Criticism, 32. Allison Pease, Modernism, Mass Culture and the Aesthetics of Obscenity (Cambridge: Cambridge UP, 2000). Peases These, dass “[i]n contrast to the pornographic, the aesthetics of the obscene seeks to be accepted into the cultural mainstream” (35) lässt sich in Anbetracht der hier untersuchten Texte nicht bekräftigen. Nach Marcuse leitet sich das Obszöne von caenum (= Schmutz) ab (Obszön. Geschichte einer Entrüstung [Zürich: Diogenes, 1984], 11), wohingegen D. H. Lawrence die These vertritt, das Obszöne stamme von ob-scena, dem hinter den Kulissen Versteckten und dem Publikum nicht Zumutbaren, Selected Literary Criticism, 32. Diese Definition des Obszönen als einer Handlung “off the scene” wird auch von Havelock Ellis in seinen Studies in the Psychology of Sex (1936) vorgebracht. Vgl. Gnüg, 11. Gnüg, 16.
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c. Folgt man dieser Unterscheidung, ist es fortan möglich, das sensationsheischend Obszöne einer öffentlichen Autopsie, einer pornografisch inszenierten Fötenschändung104 oder der in Talkshows exhibitionistisch ausgebreiteten Inimitäten von der Obszönität im Dienste eines ästhetischen Tabubruchs zu sondern. Bewusst gegen das pornografische Postulat der Identifikation des Lesers mit seinem Text verstoßend rekurrieren Suckling, Rochester, aber auch der Marquis de Sade oder Baudelaire auf ein Kunstkonzept der provozierenden Obszönität, das durch die Inszenierung des Hässlichen und sexuell Widerwärtigen veraltete Strukturen und Denkmodelle zu dekonstruieren versucht. So führt de Sade lediglich Rochesters Kulturkritik fort, wenn er – analog zur Dehumanisierung des Individuums im Werk des Briten – die Menschen in den Cent-Vingt Jours de Sodom immer wieder zu neuen „Fickmolekülen“ zusammensetzt,105 um somit schonungslos die Aporie der Aufklärung vor Augen zu führen und den Menschen als eine die Vernunft ad absurdum führende Bestie zu entlarven. Und wenn Baudelaire schließlich einen verwesenden Tierkadaver in einer verkehrten Zeugungs- und Geburtsmetaphorik mit einer sexuell erregten Frau vergleicht – “Les jambes en l’air, comme une femme lubrique, / Brûlante et suant les poisons …”106 – so rebelliert er hier mit Hilfe der ästhetischen Kategorie des Obszönen gegen die aus dem 17. und 18. Jahrhundert ererbte Tradition der erotischen Bukolik.107 Obgleich die Cavaliers jenen de Sadeschen Destruktionswillen, jenes besondere Raffinement des Lasterhaften noch nicht zu goutieren scheinen und auch nur bedingt Baudelaires ésthetique du mal vorwegnehmen, 104
Vgl. das Rochester zugeschriebene Gedicht ‘Written under Nelly’s Picture’ She was so exquisite a Whore, That in the Belly of her Mother She plac’d her – so right before Her father --- them both together.
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Reba Wilcoxon bezeichnet diese Form des Tabubruchs lediglich als “a brief but clear example of simplistic pornography” ‘Pornography, Obscenity and Rochester’s “Imperfect Enjoyment”’ Studies in English Literature 1500–1900 (1975), 378. Michael Pfister / Stefan Zweifel, Pornosophie und Imachination: Sade, LaMettrie, Hegel (München: Matthes und Seitz, 2002), 100. ‘Une charogne’ Z. 5–6. Les Fleurs du mal, Œuvres complètes, hg. Claude Pichois (Paris: Gallimard, 1976), I, 31. Baudelaires ‚obszöne‘ Reaktion auf das 18. Jahrhundert zeigt sich ebenfalls in dem von Watteau angeregten Gedicht ‘Un Voyage à Cythère.’ Statt eines Liebestempels im Schattenhain, „un temple aux ombres bocagères“ wird der Leser konfrontiert mit dem Kadaver eines Gehenkten, „un pendu déjà mûr.“ Les Fleurs du mal, Œuvres complètes, 118f.
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greifen sie ebenso auf das Obszöne zurück, um die erstarrten Konventionen der platonischen Liebeshermeneutik zu zerstören. Im Gegensatz zur pornografischen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, die auf die aphrodisierende Wirkung des Erzählens ausgerichtet ist, erreichen die Cavaliers durch den Rückgriff auf die erotische Obszönität eine Distanzierung vom Körper, die in ihrer Verneinung des Offenen und Materialistischen nicht nur klassizistisch, sondern auch eminent dandyistisch anmutet. Die Anleihen am pornografischen Vokabular, die sowohl Suckling und Rochester als auch später Baudelaire vornehmen, dienen somit weniger der Stimulation des Lesers, als dass sie den sexuellen Überdruss und die Abscheu des Sprechers vor dem Physischen nachhaltig zum Ausdruck bringen. Lässt sich jedoch bei Baudelaire und den Autoren der das gesamte 19. Jahrhundert umspannenden ‚Schwarzen Romantik‘ eine vielschichtige und komplexe libidinöse Gegenbesetzung des Ekels nicht verleugnen,108 so scheint bei den Cavaliers selbst jener Wechselrhythmus von Ekel und lustvoller Entladung, von Lust und Transgression zu fehlen. Die Tatsache, dass der Autor im Prolog zu Rochesters Sodom behauptet, das Verfassen des Dramas habe ihn so erregt, dass er sich nur durch Masturbation Erleichterung verschaffen konnte, scheint die These von der Verunglimpfung der Erotik durch ästhetische Obszönität nicht überzeugend zu widerlegen. In Anbetracht der zuvor geschilderten und auch im Verlauf des Fünfakters detailliert erörterten erotischen Ausschweifungen handelt es sich hier eher um ein weiteres Beispiel für eine Pseudo- oder Anti-Pornografie, die letztlich an de Sades Phantasmagorien erinnert, wo überdrüssige Aristokraten auf der Suche nach perversen nouveaux frissons über ihre sexuell erniedrigten Opfer ejakulieren. Während die Cavaliers sich somit einer kalkuliert eingesetzten Obszönität bedienen, um sich letztlich von der barocken Erotik und der sexuellen Offenheit des Körpers zu distanzieren, schlagen die Metaphysicals gerade den umgekehrten Weg ein. Zwar sind grundsätzlich die Übergänge so fließend, dass Crashaw sich für seine geistliche Dichtung sogar des obszön-frivolen Idioms Thomas Carews bedient, dennoch fällt auf, dass die Metaphysicals sich gerade in bezug auf die Inszenierung des Körpers und seiner Sexualität auf ein anderes, radikal divergentes Kunstverständnis berufen. Dort, wo die Cavaliers beabsichtigen, den Leser abzustoßen und zu brüskieren, versuchen Crashaw und Southwell, im Einklang mit den Prinzipien der Meditationskunst ihn sukzessive in den 108
Winfried Menninghaus, Ekel: Theorie und Geschichte einer starken Empfindung (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999), 270.
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Text einzubeziehen und somit seine Distanz aufzuheben. Weit entfernt von Jean Pauls Argument in der Vorschule der Ästhetik, dass „die Ausmalerei der sinnlichen Liebe“ mit dem Kunstgenuss unvereinbar sei,109 arbeiten die Metaphysicals mit den Instrumentarien der Pornografie, indem sie den Leser bzw. Adressaten des Gedichts nicht nur zum Voyeur ihrer sexualisierten Gottesliebe, sondern auch – wie in ‘The Flaming Heart’ oder in ‘To the Countess of Denbigh’ – zum aktiven Konsumenten ihrer aphrodisierenden Literatur machen. Diese Missachtung gegenüber der später von Kant formulierten ästhetischen Autonomie der Kunst hat ihnen immer wieder den Vorwurf des Morbiden, Geschmacklosen, Perversen wie auch Obszönen eingebracht. Was den Obszönitätsbegriff angeht, so lässt er sich wohl nur so weit auf die Metaphysicals und ihre Barockkultur applizieren, wie man bereit ist, die Sexualisierung Christi als einen schockierenden Bruch mit dem scholastischen Gottesbild zu interpretieren. Was aber letztlich die Anwendung des Pornografiebegriffs auf die Metaphysicals verhindert, ist das allenthalben hervortretende sensualistische Vergnügen der Barockliteratur, die Vorstellung einer erotisierten Theologie immer wieder mit neuen und überraschenden Metaphernkomplexen und image clusters zu paraphrasieren. Reicht für die bislang „ungeschriebene Poetik literarischer Darstellungen sexuellen Handelns“110 ein limitierter Kanon von Bildern, Chiffren und Vulgärausdrücken (zumeist aus dem Tierbereich),111 so warten vor allem die Barockdichter mit einer reichhaltigen Metasprache der Sexualität auf, die, von einigen Invariablen wie der vaginalen Seitenwunde oder dem Sperma als Tränen oder Nektar abgesehen, durch stets neue und verblüffende Bilderfindungen charakterisiert ist. Obgleich Aretino, Rabelais oder die vielen anonymen fabliaux-Dichter des Mittelalters ihre phantasievollen „Bildcocktails“112 und groteske Sprachartistik überwiegend in den Dienst des Lachens stellen und somit sich einer karnevalesken Körpereuphorie verpflichtet zeigen, erweisen sich die Barockdichter dieser Kultur enger verbunden als der modernen Pornografie des 18. Jahrhunderts, die unter dem Einfluss La Mettries den
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Zitiert nach Gnüg, 17. Anz, 227. Die heute in der Pornografie verwendeten Begriffe sind in die Alltags- und Vulgärsprache eingesunkene Residuen einer ursprünglich komplexen Metasprache, in der die TierMetaphorik – wie sie insbesondere Iago benutzt – nur ein Aspekt unter vielen darstellte. Erst in der Reduktion des Geschlechtsakts auf das Animalische zeigt sich ein wesentliches Charakteristikum des modernen Sexualverhaltens. Vgl. Gnüg, 67.
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Menschen zu einer aggressiven Kopulationsmaschine reduziert. Im Gegensatz jedoch zu der von Aretino favorisierten Form des Grotesken, die schwarze Messen und sodomitische Orgien zu einem satirischen und antiklerikalen Genrebild arrangiert, liegt den meisten Metaphysicals das sowohl karikierende als auch exponierende Potential der sexuellen Komik fern. d. Der Erotikbegriff der Barockdichter beruht in seiner Abgrenzung vom nur Obszönen und nur Pornografischen auf einer Theologiekonzeption, die jenseits aller Blasphemie den Körper des menschgewordenen Gottessohns ad gloriam majorem Dei zu zelebrieren versteht. Blendet das Pornografische den spirituellen Aspekt rigoros zugunsten der Suprematie des Genitalischen aus, so zeichnet sich die Erotik in den Werken des europäischen Barock besonders durch jene heute so befremdende Verknüpfung mit dem Transzendenten aus. Ebenso wie der Sprecher in Hoffmannswaldaus Persuasionsgedicht ‘An Lauretten’ seine Adressatin auffordert, „mit geist und armen“ umgeben zu sein,113 um somit durch die Analogie von Himmel und Bauch („Dein himmels-rundter bauch“) eine Korrespondenz von Physischem und Metaphysischem herzustellen,114 so entspricht es durchaus dem Erotikverständnis der Frühen Neuzeit, das Verlangen nach Gott in der Idiomatik der säkularen Liebesdichtung zu artikulieren. Hiermit folgen die Dichter einer langen Tradition, die in erster Linie in der Hochzeitsmystik des Hohelieds begründet liegt;115 zugleich enttarnen sie sich jedoch als Ikonoklasten, die gegen die körperskeptischen Erostheorien im Rahmen des neoplatonischen Liebesdiskurses vehement verstoßen. Lässt sich der Schlussvers der Divina Commedia – “L’Amor che muove il sole e l’altre stelle …” – geradezu als ein Resümee der platonischen Erosauffassungen begreifen, wonach der Eros ausschließlich eine kosmologische Kraft darstellt, die stets danach 113
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,An Lauretten’ Zitiert nach der Anthologie Die Entdeckung der Wollust. Erotische Dichtung des Barock, hg. Joseph Kiermeier-Debre / Fritz Franz Vogel (München: DTV, 1995) Z. 6. Dieser Text folgt der Neukirchschen Sammlung, wie sie von Angelo George de Capua u.a. (Tübingen, 1961–91) neu gedruckt und kritisch ediert wurde. Ebd., Z. 24. – Auch die dem Gedicht inhärente Aufwärtsbewegung – „Und wenn du deine Lenden rührst / Und deinen schooß gen himmel führst“ (16–17) – zeugt noch von einer Sakralisierung der Erotik, die der Abwärtsrichtung, der descensus ad inferos-Thematik der Cavalier-Gedichte diametral widerspricht. Zur Rezeption des Hohelieds in der Dichtung des 17. Jahrhunderts vgl. vor allem Stanley Stewart, The Enclosed Garden: The Tradition and the Image in SeventeenthCentury Poetry (Milwaukee / London: U Wisconsin P, 1966).
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strebt, sich der Körperlichkeit als Kerker der Seele zu entledigen,116 so kommt es in den Eroskonzeptionen des Barockzeitalters zu einer nachdrücklichen Rehabilitierung des Körpers und seiner Funktionen. Nicht von ungefähr spricht Donne gegen Ende seines Gedichts ‘The Extasie’ von der Notwendigkeit, zum Körper zurückzukehren, zumal die Offenbarung der Liebe stets einer materiellen und fassbaren Erscheinung bedarf: “To’our bodies turne wee then, that so / Weake men on love reveal’d may looke.”117 Schweiß, Blut, Tränen – jene unverzichtbaren Elemente des Bachtinschen Konzeptes eines offenen und karnevalesken Körpers werden in den Werken nicht nur sexualisiert und dem Bild eines sowohl laktierenden als auch priapistischen Gottes zugeordnet, sie erfahren überdies eine Ästhetisierung zu einer bizarren erotischen Ornamentik. Die hieraus sich ergebenden Bilder der Blutstropfen als rubinrote Juwelen, der spermatischen Tränen als prokreativer Himmelsleiter oder der Seitenwunde als Balsam spendenden Schamlippen verleihen dem Erotikund Körperbegriff des Barock somit einen hohen Grad an Artifizialität, der sowohl zu der obszönen Inszenierung der Sekrete bei den Cavaliers als auch zu der kruden Materialität späterer pornografischer Körperfiktionen in Widerspruch tritt. Dem Facettenreichtum des barocken Erotikbegriffs, der stets in einem engen und spannungsgeladenen Bezugsgeflecht zwischen Obszönität und Pornografie einerseits und neoplatonischer Liebesphilosophie andererseits steht, soll mit Hilfe einer chronologischen Kontextualisierung im folgenden nun weiter Rechnung getragen werden. Das Irritierende der erotischen Gottesverehrung, das sich dem terminologischen Purismus der Moderne stets verweigert, lässt sich nur vor einer großzügig ausgebreiteten kulturgeschichtlichen Folie bewerten und einordnen, zumal wenn man bedenkt, dass seit der Antike das Erotische, Pornografische und Obszöne immer wieder eine eigentümliche Dreieckskonstellation bilden, deren wesentliches Charakteristikum ein dynamischer Prozess des Austauschs und des Abgrenzens ist.
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Vgl. auch Haug, 140f. ‘The Extasie’ Z. 69–70. Poetical Works, 48.
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3. Zur Kontextualisierung der barocken Körperund Erotikauffassung Mit dem Einzug des rationalistischen distinguo in die europäische Kulturgeschichte wird im 18. Jahrhundert nicht nur das scheinbar ästhetisch Inkompatible und konzeptistisch Monströse verworfen; auch die vielgestaltigen mixta composita aus Erotik und Theologie, aus Sakralem und Profanem wie auch aus quasi-pornografischer Stimulation und artifizieller Sprachartistik werden aus der Sicht des vernunftgeleiteten, auf Klarheit des Dekorums zielenden ‚Augustäers‘ als unzulänglich eingestuft und durch die Wahl der negativen Epitheta wie ‘metaphysical’ oder ‘barock’ zu ästhetischen Kuriositäten erklärt.118 Durch die Abkehr vom barocken Körper- und Erotikbegriff zugunsten einer neuen „Analytik der Sexualität“119 hat sich in der Literatur- und Kulturwissenschaft inzwischen das Bild vom 18. Jahrhundert als einer Epoche verfestigt, in der sich nicht nur „um den Sex spezifische Wissensund Machtdispositive entfalten,“120 sondern auch die Prämissen für eine eigentümliche Lebensform der frivolen Rokoko-Galanterie herausbilden. Hierbei wird jedoch der Blick für die Tatsache verstellt, dass bereits im 17. Jahrhundert die Schnittstelle zutage tritt, wo prämoderne Traditionen in Konkurrenz treten zu neuen Körper-Konstruktionen, die fortan das Ganzheitliche zugunsten des Partiellen aufgeben und somit die Erotikauffassung nicht nur des Augustan Age, sondern der Moderne etablieren helfen. Den Beginn der Moderne auf das Barockzeitalter zu datieren, wie Panofsky vorschlägt, lässt sich mit dem holistischen Erotikkonzept des Barock kaum in Einklang bringen; dass aber die ersten Dekaden des 17. Jahrhunderts eine Übergangsphase darstellen, kann literatur- und kulturwissenschaftlich allenthalben belegt werden.121 Während 118
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Die Auswirkungen dieses Paradigmenwechsels lassen sich auf vielfältige Weise belegen: Thomas Rymers vehemente Kritik an Shakespeare (“un-hallowing the Theatre, profaning the name of Tragedy.” ‘A Short View of Tragedy’ The Critical Works of Thomas Rymer, hg. Curt A. Zimansky [New Haven: Yale UP, 1956], 145) wie auch Samuel Johnsons Abrechnung mit den Barockdichtern liegen in der Ablehnung des Chimärenhaften und Konzeptistischen begründet. Auch die Tatsache, dass Voltaire für Rabelais nur das Urteil der (negativ konnotierten) Extravaganz bereithält, zeigt, wie modern analytisches Denken mit der frühneuzeitlichen Poetik des Überbordenden und sexuell Inkontinenten umzugehen pflegt. Foucault, Der Wille zum Wissen, 176. Ebd., 125. Panofsky, Was ist Barock?, 95. Wolfgang Reinhards These, dass „um 1860 […] die Geschichte der modernen Sexualität an[fängt],“ dass eine „offensiv genital- und orgasmuszentrierte Sexualität“ im 19. Jahrhundert ihren Ursprung hat, ist eine Fehleinschätzung.
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Crashaw in seiner Blut- und Wundenmystik die Vorstellung eines offenen und grotesken Körpers noch ohne ästhetischen Vorbehalt auf die Passion Christi zu übertragen vermag, sind es vornehmlich die frühklassizistischen Cavaliers, die zur gleichen Zeit die ehemals karnevaleske Offenheit des Körpers negativ konnotieren und die Sexualität per definitionem mit dem Odium des Dekadenten behaften. Swifts misogynes und häufig skatologisch gebrochenes Sexualitätsverständnis, das sich in dem Gedicht ‘A Beautiful Young Nymph Going to Bed’ wie eine satirische Palinodie auf Donnes 19. Elegie liest,122 muss daher als der Höhepunkt einer bereits im 17. Jahrhundert beginnenden Skepsis gegenüber dem weiblichen Körper und seinen Ausscheidungen begriffen werden. a. Der moderne Gegendiskurs zur Literatur der Renaissance und des Barock, der somit bereits im Frühklassizismus des 17. Jahrhunderts einsetzt, hallt noch im 20. Jahrhundert bei Kulturhistorikern wie Egon Friedell nach, insbesondere wenn letzterer die ganzheitlich begriffene Literatur der Frühen Neuzeit als ein bloßes „Läuten mit der Sauglocke“ bezeichnet und Rabelais’ literarisches Œuvre lediglich auf eine nostalgie de la boue zurückführt.123 Einer der Gründe hierfür wie auch für die vielen expurgierten oder ‚verbesserten‘ Fassungen der frühneuzeitlichen Literatur basiert letztlich auf einer gegen das Mittelalter und das Barock gerichteten verzerrten Rezeption der griechisch-römischen Antike und einer bis weit in das 19. Jahrhundert reichenden Einschätzung, dass die Menschheit zwischen Hellenen und Barbaren, zwischen Connaisseurs geschlossen vollendeter Körperschönheiten und sensualistischen Genießern von Blut, Schweiß und Exkrementen geteilt sei.124 Aber nicht nur die bacchantischen Orgien oder die ritualisierten Venus- und Priapuskulte, wie sie in den Carmina Priapea der Nachwelt
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Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie (München: Beck, 2004), 82, 84. Corinna, “pride of Drury Lane” (1), fördert im Akt der Entblößung keine Schätze und faszinierenden terrae incognitae zutage, sondern dekuvriert sich zunehmend als übertünchte und abscheuerregende vetula mit “flabby dugs” (22) und unerotischen Blessuren: “she next explores / Her shankers, issues, running sores …” (29f). The Complete Poems, hg. Pat Rogers (Harmondsworth: Penguin, 1983), 453f. Kulturgeschichte der Neuzeit I, 320. Diese vor allem anti-jüdische und anti-christliche Bewertung der Kulturgeschichte wird im 19. Jahrhundert zu einem Topos: Heine (‘An die Mouche’), Arnold, Pater, Wilde, Swinburne, aber auch Hardy qua Sue Bridehead in Jude the Obscure (II, Kap.5, 106) rekurrieren auf die Vorstellung, dass mit dem Juden- und Christentum sich das Hässliche des Körpers etablieren konnte.
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überliefert sind, legen Zeugnis ab sowohl von der genitalischen Lust des antiken Menschen als auch von der engen, bis ins Barock tradierten Verquickung von Sexualität und Religion, von derber Körperlichkeit und inbrünstiger Gottesverehrung. Bereits die kursorische Lektüre der Oneroikritika des Artemidor von Daldis, jenes berühmtesten Traumexegeten der griechischen Spätantike, konfrontiert den Leser mit einem „Wust von Abnormitäten und Ungeheuerlichkeiten,“125 mit Inzest, Sodomie und oral-genitalen Ausschweifungen. Überdies beweist sie nachdrücklich, dass die Thesen von der Zügelung und Sublimierung des erotischen Impulses in der Antike126 ebenso nur einen diskursivischen Teilaspekt darstellen wie das gesamte idealisierte Bild der Alten Welt, das sowohl von Winckelmanns Vorstellung einer „edle[n] Einfalt und eine[r] stille[n] Größe“ als auch von den philhellenistischen Romantikern mit ihrer glorifizierten Lorrain-Perspektive geprägt wird. Gustav von Aschenbachs (Alp-) Traum vom „fremden Gott“ führt drastisch die Aporie dieses einseitigen Bildes der antiken Kultur vor Augen: Tagsüber der serenitas des Phaidros verpflichtet kann der neo-klassizistische Schriftsteller nachts nicht umhin, in der Abgeschiedenheit seiner Traumwelt dem „obszönen Symbol,“127 jener orgiastischen und vom Geruch der Böcke begleiteten Erhöhung des hölzernen Phallus seine Reverenz zu erweisen. Was aus der traumzensorischen Perspektive von Aschenbachs als ‚obszön‘ deklariert wird, ist grundsätzlich nichts anderes als die in der Antike wie auch in den anderen vor-modernen Kulturen mehrfach belegte Korrespondenz zwischen dem Sakralen und Profanen, zwischen dem amor eroticus und dem (paganen) amor divinus. Mircea Eliade128 wie auch Volkert Haas129 verweisen aus unterschiedlichen Positionen auf die Institution der Tempelprostitution im Altertum; und auch die Tatsache, dass antike und archaische Gottheiten als Signum ihrer sprichwörtlichen Omnipotenz mit überdimensionierten Geschlechtsor-
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Artemidor von Daldis, Das Traumbuch, übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort v. Karl Brackertz (Zürich / München: DTV, 1979), III, 388. Siehe auch Wilhelm Richard Berger, Der träumende Held. Untersuchungen zum Traum in der Literatur, hg. und mit einem Nachwort versehen v. Norbert Lennartz (Göttingen / Namur: Vandenhoeck und Ruprecht / Presses Universitaires de Namur, 2000), 44ff. John J. Winkler, The Constraints of Desire. The Anthropology of Sex and Gender in Ancient Greece (New York / London: Routledge, 1990). Thomas Mann, Der Tod in Venedig. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Frühe Erzählungen, hg. Peter de Mendelssohn (Frankfurt/M.: Fischer, 1981), 632. Die Religionen und das Heilige. Elemente der Religionsgeschichte. Aus dem Franz. v. M. Rassem / I. Köck (Frankfurt/M.: Insel, 1998 [1949]), 410ff. Babylonischer Liebesgarten, 43ff.
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ganen öffentlich zur Schau gestellt werden,130 bekräftigt die These, dass das spätere Barock keine kulturgeschichtlich isolierte Monade darstellt, wenn der inkarnierte Gottessohn bald in ithyphallischer Pose, bald mit weiblichen Brüsten oder vaginaler Seitenwunde imaginiert wird. b. Die auf einem rezeptionsästhetischen Irrtum des 19. Jahrhunderts beruhende Dichotomisierung von Antike und Barock verweist somit auf eine ideologische Konstruktion, die um bestimmter, zumeist juden- und christentumsfeindlicher Traditionen willen, die unterschiedlichen Diskurse des sowohl antiken als auch christlichen Sexualitätsverständnisses in eine antagonistische Relation setzt. Diesen Vorwurf erhebt Walter Haug letztlich auch in bezug auf die als „Großentwürfe“ konzipierten Ansätze von Norbert Elias und Hans-Peter Duerr.131 Ihre kontrovers geführte Debatte über die Theorie des Zivilisationsprozesses macht evident, wie wenig die Verabsolutierung einzelner Diskurse einer so komplexen und widersprüchlichen Epoche wie dem ausgehenden Mittelalter und dem unter der Frühen Neuzeit subsumierten Barock gerecht wird. Wie bereits Gaby Herchert in ihrer Untersuchung zu den erotischen Liederbuchtexten des späten Mittelalters konzise zusammenfasst,132 geht Elias von einem traditionellen mechanistischen Denkmodell aus, das, in Analogie zu Freuds These von der Transzendentalität der Psyche, den Geschlechtstrieb als ein atavistisches Relikt begreift, dessen Aggressivität der moderne Mensch in Zivilisationsschüben zu unterdrücken verstanden hat. Am Beispiel der humanistischen Anstands- und Manierenbücher, und hier vornehmlich fokussiert auf Erasmus von Rotterdams De civilitate morum puerilium (1530), versucht Elias das „Vorrücken der Peinlichkeitsschwelle“ zu dokumentieren.133 Dabei stellt er fest, dass der 130
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In diesem Kontext sei vor allem auf den ithyphallischen Satyrn- und Hermenkult verwiesen. Dieses ungenierte Zurschaustellen des ebenso Fruchtbarkeit verheißenden wie auch apotropäischen Phallus in der antiken Kunst wird – wie die expliziten Koitusdarstellungen auf den indischen Tempelfassaden – in der Kulturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts weitgehend verschwiegen. Mißachtungen dieses Tabus wie William Payne Knights Studie zum antiken Phallus-Kult werden strengstens sanktioniert. Haug, 135. ‚Acker mir mein bestes Feld:‘ Untersuchungen zu erotischen Liederbuchliedern des späten Mittelalters (Münster / New York: Waxmann, 1996), 28f. Über den Prozeß der Zivilisation (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 21. Aufl. 1997 [1. Aufl. 1939]), 13. – Auch Alain Corbin ist in seiner Studie Le miasme et la jonquille. L’odorat et l’imaginaire social XVIIIe – XIXe siècles (Paris, 1982. [Aus dem Franz. übertragen v. Grete Osterwald, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs Frank-
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Mensch des 16. Jahrhunderts noch ein „Doppelgesicht“ hat,134 denn in dieser zivilisatorischen Übergangsphase entspricht es für die Zeitgenossen Erasmus’ durchaus den Dekorumsregeln, über körperliche Verrichtungen und Verhaltensweisen zu reden, die zwei Jahrhunderte später, bedingt durch das Bedürfnis nach Privatheit und Intimität, mit einer Aura der Peinlichkeit umgeben werden. Die mehrfach in den Tagebüchern zu konstatierende Tatsache, dass für Samuel Pepys das Defäkieren immer häufiger zu einem medizinischen Problem zu werden scheint,135 und im Verlauf des 18. Jahrhunderts die in den mittelalterlichen Novellen und Schwänken so manifeste Skatophilie sich zu einer Skatophobie entwickelt, spricht prima facie für Elias’ These. Inwieweit jedoch die koprophagen Phantasmagorien und sexuellen Pandämonien des Marquis de Sade und seiner dekadenten wie auch surrealistischen Adepten sich in das Konzept eines Zivilisationsprozesses einfügen, und ob letztlich Joyces skatophile Schilderungen in der ‚Calypso‘-Episode des Ulysses nur als anal-erotische Regressionen eines Anti-Helden abgetan werden können, bleibt in Elias’ evolutionärem Anthropologie- und Geschichtssystem unerwähnt. In seiner mehrbändigen Replik auf die Darstellung des Zivilisationsprozesses wirft Duerr Elias nicht nur einen teleologischen Schematismus vor; er stellt überdies in Abrede, dass der Mensch am Ende des Mittelalters eine niedere Schamgrenze habe und dass sich die Sexualität vor den Augen der Öffentlichkeit abspiele. In seinem mit einer Vielzahl von interkulturellen Belegen angereicherten Plädoyer für die Schamhaftigkeit des frühneuzeitlichen Menschen konstatiert Duerr, dass das Unbehagen vor der Entblößung des Genitalbereichs keine historische Zufälligkeit sei, sondern zum Wesen des Menschen sui generis gehöre. Der Elias’schen These, dass sowohl die körperlichen Funktionen wie Defäkation, Urinieren als auch der Geschlechtsakt erst zu Beginn der Neuzeit – d.h. für Elias zu Beginn des 19. Jahrhunderts – als peinlich und
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furt/M.: Fischer, 1988]) diesem Denkmodell verpflichtet, wenn er seit dem 18. Jahrhundert ein Absenken der Toleranzschwellen konstatiert. Der nunmehr aromatisierte Mensch ächtet, so Corbin, die „ursprüngliche Anziehungskraft der Sexual- und Körpergerüche.“ 90 u. 103f. Elias, 199. Es ist frappierend festzustellen, in welchem Ausmaß Pepys das Verrichten der Notdurft in einem medizinischen Kontext anspricht. So schreibt er am 13. Oktober 1663 vom “strain I put myself to to shite,” an anderer Stelle von der Gewohnheit, sich ein Klistier zu verabreichen (“once a week a glister”) und von der Notwendigkeit, “loosening grewell” essen zu müssen (17. November 1663). The Diary of Samuel Pepys, hg. Robert Latham / William Matthews (Berkeley / LA: U California P, 1974), IV, 332, 345/385.
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privat empfunden werden, hält Duerr entgegen, dass das Spätmittelalter nicht nur eine strenge Geschlechtertrennung in den Bade- wie auch in den Gasthäusern praktizierte, sondern auch der Verrichtung der Notdurft stets einen abgesonderten Raum, eine privata camera, zuwies.136 Auch der Vorstellung von der ungezwungenen und geradezu ostentativ zur Schau getragenen Nacktheit des frühneuzeitlichen Menschen begegnet er unter anderem mit dem Verweis auf die Tradition der langen und gänzlich unerotischen Nachtbekleidung der mittelalterlichen Frauen, jener chemise à trou, die zur pragmatischen Erledigung der ehelichen Pflichten nur ein Mindestmaß an Entblößung erforderte.137 Und allein die Tatsache, dass das tiefdekolletierte Kleid und das kalkulierte Exponieren der weiblichen Brüste sowohl im 16. als auch im 19. Jahrhundert Anlass zur Entrüstung gab,138 scheint Duerr schließlich in der Überzeugung zu bestärken, dass Elias’ Theorie von der progressiven Affektkontrolle und Triebsublimation eine kulturwissenschaftliche Konstruktion und einen realitätsentrückten Mythos darstelle.139 Die hier nur skizzierte, aber repräsentative Diskussion über den erotischen Diskurs zum Beginn der Frühen Neuzeit macht augenfällig, wie eingeschränkt die wissenschaftlichen Ausschließlichkeitsmodelle des ausgehenden 20. Jahrhunderts sich auf das Spätmittelalter – und mutatis 136
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Nacktheit und Scham. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1988), 211. In seinem letzten Band, Die Tatsachen des Lebens. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2002), 120 räumt Duerr jedoch die Schwierigkeiten ein, die die Menschen der Frühen Neuzeit hatten, eine Intimsphäre herzustellen. Die Geräuschdurchlässigkeit der Zwischenwände machte das Geschlechtsleben nahezu öffentlich. Darüber hinaus wird Duerrs Plädoyer für die Privatheit und Schamhaftigkeit des frühneuzeitlichen Menschen relativiert zum einen durch die Inszenierungen der Körperlichkeit der Monarchen, „samt dem öffentlichen Sitzen auf dem Kackstuhl“ (Reinhard, 59) und zum anderen durch den „analen Jubel,“ den nicht nur Richard Muchembled als ein Charakteristikum des Prä-Modernen beschreibt (L’invention de l’homme moderne. Sensibilités, mœurs et comportements collectifs sous l’Ancien Régime [Paris, 1978]. Aus dem Franz. von Peter Kemp, Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus [Reinbek: Rowohlt, 1990], 51ff). Vgl. auch Valerie Allen zur lange für gültig erachteten Vorstellung der “fruitfulness of the fart” und zur öffentlich zelebrierten Bilderfindung des “musical butt.” On Farting. Language and Laughter in the Middle Ages (Basingstoke: Palgrave / Macmillan, 2007), 26, 66. Duerr, Nacktheit und Scham, 178. Vgl. zur Entblößung der Brüste als „politische[r] Drohgebärde“ Reinhard, 66. Der erotische Leib. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1999), 78ff. Duerrs mit Vehemenz verfochtene These von der Kontinuität des menschlichen Schamempfindens wird von vielen Mentalitätsforschern, u.a. von Richard van Dülmen, nicht geteilt; eine zunehmende Verachtung und Verhüllung des Körpers verortet van Dülmen erst in der Kultur des 18. Jahrhunderts (Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit I: Das Haus und seine Menschen [München: Beck, 1990]), 185.
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mutandis – auf das Barockzeitalter anwenden lassen. Obgleich alle von Duerr vorgebrachten Argumente und Bildzeugnisse auf einer gesicherten Faktizität beruhen, berücksichtigen sie dennoch nicht, dass die prämodernen Äußerungen über Sexualität oft unterschiedlichen, gar paradoxen Diskursen entlehnt sind, die weniger einander widersprechen als sich zu einer komplexen Totalität ergänzen. So ist allein die Disparität der erotischen Diskurse, auf die Kultur- und Mentalitätsforscher wie Foucault140 und van Dülmen141 hinweisen, ein hinreichender Grund dafür, dass die Sexualität aus den Perspektiven der Medizin und der Strafjustiz konträre Bewertungen erfährt: Zwar stellt die galenische Medizin eine eigentümliche Analogie zwischen Epilepsie und Geschlechtsakt her, dennoch befürwortet sie im Rahmen einer auf das rechte Maß abgestimmten Diätetik der Lüste eine regelmäßige Sexualität sowohl als notwendige Reinigung überschüssiger Körpersäfte als auch als remedium concupiscentiae.142 Die vom Kirchenrecht stark beeinflusste Jurisprudenz hingegen beruft sich nicht nur in der Ächtung aller porneia auf die von Paulus iniitierte Sexualethik; sie versucht auch durch einen ausgeklügelten Strafkatalog die Zeiten für den Geschlechtsverkehr festzulegen und bestimmte Praktiken und Vorlieben wie den Koitus a tergo oder oral-genitalische Stimulationen zu unterbinden.143 Auch das literarische Sprechen über die Erotik und den Körper bleibt bis weit in die Barockepoche gekennzeichnet von Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen, die aus dem Kontext herausge-
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Der Wille zum Wissen, 41. Kultur und Alltag, 185. Siehe hier vor allem Foucault, Die Sorge um sich, 146, 163ff., und Danielle Jacquart / Claude Thomasset, Sexuality and Medicine in the Middle Ages (Princeton NJ: Princeton UP, 1988). Noch der Viktorianer William Acton empfiehlt in seiner Studie The Functions and Disorders of the Reproductive System (London, 1858) – trotz seiner rigoristischen Ansichten über die Gefahren der Masturbation – als gesundheitsförderndes Mittel einen zweimaligen Orgasmus alle 10 bis 14 Tage, 23. Siehe hierzu James A. Brundage, Law, Sex, and Christian Society in Medieval Europe (Chicago / London: Chicago UP, 1987), 60ff., 452f., vor allem aber Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England 1500–1800 (London: Penguin, 1990). Stone zeigt, wie ein aus Bußbüchern abgeleiteter restriktiver Diskurs dem “plumber’s view of the body” entgegengesetzt wird: Keuschheit ist somit obligatorisch 3 Tage vor der Kommunion, an allen kirchlichen Feiertagen, an Sonntagen und den beiden Fastentagen, mittwochs und freitags, 40 Tage während der Fastentage und 40 Tage vor Weihnachten (312ff.). Die Tatsache, dass diese Vorschriften sowohl in der Vielzahl der Literaturgenres als auch in Figurenkonzeptionen wie Falstaff, Mercutio oder Julias Amme konterkariert werden, bleibt in Katherine Crawfords Studie European Sexualities 1400–1800 (Cambridge: Cambridge UP, 2007) unberücksichtigt. In ihrer Konzentration auf “[t]he policing of sexuality in religious terms” (56) wird der Pluralität der erotischen Diskurse keine Rechnung getragen.
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löst, bald Elias’ These vom ungeschlachten Sensualismus des frühneuzeitlichen Menschen, bald Duerrs Gegenargument von der Invarianz des menschlichen Schamempfindens unterstützen. c. Ohne Berücksichtigung der eigentümlichen Komplementarität des frühneuzeitlichen Weltbildes mutet es dem heutigen Leser geradezu wie eine Vorwegnahme (post-) moderner Beliebigkeit an, wenn in den Texten der Metaphysicals wie auch in den Gemälden des europäischen Barock der Virginitätskult und die Verherrlichung der virgo immaculata unvermittelt neben einen mystizistischen und nicht nur in Maria Magdalena konvergierenden Sensualismus tritt; wenn die obszöne und durch Misogynie gespeiste Frauenschelte als contre-texte zum enkomiastischen Frauenlob begriffen und wenn der auf Verzicht ausgerichtete Petrarkismus144 mit seinen unnahbaren donne angelicate und seinen hyperbolisch leidenden Sprechern im lasziven Anti-Petrarkismus sowohl parodiert als auch komplementiert wird. Während die Moderne diese nahezu jede Gattung begleitende contre-textualité preisgegeben hat und, wie in Baudelaires Fleurs du mal, spleen und idéal stets antagonistisch auffasst, hat sich bis zum Barock – z.B. im Blason und Contre-Blason, im Masken- und Anti-Maskenspiel wie auch in der aus der Antike übernommenen Tradition der Geminae Veneres145 – die Vorstellung einer dualistischen und facettenreichen Welt- und Lebenstotalität erhalten. Diese spiegelt sich insbesondere bildkünstlerisch in der Technik des chiaroscuro und literarisch in der syllogistischen Verknüpfung paradoxer Bildbereiche wider; im Vergleich hierzu zielt die Moderne eher darauf ab, dem Gefühl der erotischen Isolation in der Vorliebe für das Fragment, in der chaotischen Aneinanderreihung von “withered stumps of time”146 Ausdruck zu verleihen. Die typisch frühneuzeitlich-barocke Verschränkung von Gegensätzlichem, der in der heutigen Kulturwissenschaft nur allzu zögerlich Rechnung getragen wird, lässt sich sogar bis in die Persönlichkeitsstruktur einzelner Individuen zurückverfolgen: So ereifert sich der schottische König Jakob VI. 1599 in dem an den prospektiven Thronfolger, seinen 144
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Inwieweit dem Petrarkismus bereits sein sinnlicher contre-texte inhärent ist, ist eine Frage, die schon Byron aufwirft, wenn er versucht, Petrarka als “the Platonic pimp of all posterity” seines neoplatonischen Nimbus zu berauben (Don Juan, V, 1, 8; The Complete Poetical Works, hg. Jerome J. McGann [Oxford: Clarendon P, 1986–93] V). Vgl. Erwin Panofsky, Studien zur Ikonologie (Köln: DuMont, 1980 [1939]), 203ff. T. S. Eliot, The Waste Land II, ‘A Game of Chess,’ Complete Poems, 104.
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Sohn Prinz Heinrich, gerichteten Traktat Basilikon Doron über die Homosexualität, indem er sie neben der Falschmünzerei, der Ketzerei und dem Inzest als ein crimen laesae majestatis, als ein frevelhaftes Verbrechen deklariert “that ye are bound in conscience neuer to forgiue.”147 Wie ausschließlich diese Einschätzung homosexuellen Verhaltens einem staatsphilosophischen Diskurs verpflichtet ist, der im Rückgriff auf Leviticus (18,22) die gleichgeschlechtliche Liebe als einen Verstoß gegen das den body politic erhaltende Fortpflanzungsgebot anprangert, zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die Paradoxa in Jakobs Biografie und den radikal divergenten Diskurs in seiner privaten Korrespondenz. Wie David M. Bergeron untersucht hat,148 macht Jakob nach der Besteigung des englischen Throns im Jahr 1603 keinen Hehl daraus, dass er – in Analogie sowohl zum mignon-Kult des späten Mittelalters als auch zum Verhältnis zwischen Christus und dem Hl. Johannes149 – den notorischen Duke of Buckingham homoerotisch favorisiert. Dieser Konflikt, der für die moderne Psychonanalyse und Biographistik eine Herausforderung darstellen mag und in Thomas Manns Künstlernovelle Der Tod in Venedig mit dem Cholera-Tod des sowohl durch die Krankheit als auch durch die Homosexualität infizierten Gustav von Aschenbach endet, gilt in der Frühen Neuzeit lediglich als eine Bestätigung der Pluralität der Diskurse und der Lebensentwürfe. Wird es mit dem Beginn der Moderne immer schwieriger, unterschiedliche Diskurse und Verhaltensweisen konzeptistisch miteinander zu verbinden, so lässt sich für den hier zur Diskussion stehenden Zeitraum konstatieren, dass – im Einklang mit dem vorherrschenden one sex model150 – Sexualität noch längst nicht als identitätskonstituierend, sondern vielmehr als schillernde Facette eines heterogenen männlichen Persönlichkeitsbegriffs gesehen wird. Wie umfassend, und gemessen an modernen Identitätskonzepten, wie wenig reduktionistisch diese Auffassung des homo se-
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Basilikon Doron of King James VI, hg. James Craigie (Edinburgh / London: William Blackwood and Sons, 1944), 65. King James and Letters of Homoerotic Desire (Iowa City: U Iowa P, 1999). Zur Rechtfertigung seiner homoerotischen Neigung soll Jakob vor dem Privy Council folgende Typologie aufgestellt haben: “Jesus Christ did the same and therefore I cannot be blamed. Christ had his John, and I have my George.” Zitiert nach The Oxford Illustrated History of the British Monarchy, hg. John Cannon / Ralph Griffiths (Oxford / New York: Oxford UP, 1992), 363. Thomas Laqueur, Making Sex. Body and Gender from the Greeks to Freud (Cambridge/ Mass.: Harvard UP, 1992). Auch Reinhard weist darauf hin, dass eine „homosexuelle Identität von Individuen […] sich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet“ hat, 89.
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xualis jenseits der theologischen und staatsphilosophischen Diskurse ist, zeigt sich nicht zuletzt an der Tatsache, dass Könige wie Heinrich III. von Frankreich sich unter Berufung auf Herakles’ Transvestitentum in Frauenkleidern abbilden ließen.151 Die Tendenz zum self-fashioning, wie sie Stephen Greenblatt am Beispiel des Renaissancemenschen beschreibt,152 vollzieht sich somit auch in erotischer Hinsicht in einem breiten und paradoxen Spektrum – vorausgesetzt, die ordnungsgarantierende Ökonomie der Lüste, die auf allen Ebenen zu respektierende via media, bleibt unangetastet. Dies macht Mortimer, der Widersacher Eduards in Marlowes Tragödie Edward II, in einem Gespräch über die Verfehlungen des Königs unmissverständlich deutlich, wenn er sich weniger über die Art der sexuellen Ausschweifungen (“wanton humour”) als über die der chain of being zuwiderlaufende Exzessivität der königlichen amour passion eschauffiert: Unckle, his wanton humor greeves not me; But this I scorne, that one so baselie borne [= Gaveston] Should by his soveraignes favour grow so pert, And riote it with the treasure of the realme, While souldiers mutinie for want of paie.153
d. Konfrontiert mit der diskursiven Heterogenität der Frühen Neuzeit geht die heutige Kritik immer wieder dazu über, ihre eigenen Dekorumsregeln auf das Kunstschaffen vergangener, prä-rationalistischer Epochen anzuwenden. So hat sich überdies der Eindruck verfestigt, dass die vielfältigen Inszenierungen der Sexualität und des Körpers eher ein Merkmal volkstümlicher und dem genus humile zugeschriebener komisch-humoresker Literaturgattungen darstellt. Dass solche Bewertungen ebenso wie die Thesen zum Zivilisationsprozess der Frühen Neuzeit stets einer präjudizierten Sichtweise entspringen, lässt sich nicht nur an den diversen ‘mongrel plays’ der elisabethanischen und jakobäischen Zeit belegen; auch die unterschiedlichen Kunstformen seit der Antike machen evident, dass bis zur klassizistischen Differenzierung zwischen bienséance und malséance Komisches und Ernstes ebenso miteinander verquickt bleiben wie Se151 152 153
Stephen Orgel, Impersonations. The Performance of Gender in Shakespeare’s England (Cambridge: Cambridge UP, 1996), 83ff. Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare (Chicago / London: U Chicago P, 1984). Edward II, I, iv, 404–08. The Complete Works of Christopher Marlowe, hg. Fredson Bowers. 2 Bde (Cambridge: Cambridge UP, 1973) II, 35.
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xuelles und Spirituelles oder Eschatologisches und Skatologisches. In seiner Studie Image on the Edge: The Margins of Medieval Art legt Michael Camille überdies dar, dass das sowohl Homo- als auch Heteroerotische nicht nur auf die sogenannten niederen Gattungen wie die fabliaux, die Schwankliteratur oder die Fastnachtsdichtung beschränkt bleibt. Durch die grotesk-phantastischen und überwiegend derben Buch-Illuminationen der Mönche findet das Erotische auch Eingang in die hoch reputierte höfische und sakrale Literatur der kostbaren Psalmenbücher, der Bibelabschriften (Wenzelsbibel) oder des Rosenromans.154 Camilles unerwartete Schlussfolgerung, dass es die generelle Marginalisierung der Sexualität sei, die im Mittelalter dazu führe, dass ihr nur noch die Peripherie des Textes zugeteilt wird,155 wird allein durch die Fülle des von ihm ausgebreiteten Materials widerlegt: Wie auch das im folgenden untersuchte Text- und Bildmaterial nachdrücklich unter Beweis stellt, handelt es sich in den Künsten seit dem Mittelalter, vor allem aber im Barock weniger um eine Marginalisierung der Sexualität als vielmehr um den insistenten Versuch, die kanonischen Texte und Topoi durch groteske und erotische contre-textes bzw. contre-peintures zu parodieren und zu erweitern. Dies gilt mutatis mutandis auch für das ästhetisch äußerst divergente, aber weltanschaulich nicht unähnliche Skulpturen- und Ornamentprogramm156 der mittelalterlichen und barocken Kathedralen. Obgleich das Barock die Akzente anders setzt, und die unumschränkte Neigung des mittelalterlichen Menschen zum erotischen Realismus nunmehr in den Hintergrund rückt, so zeugen doch die vielen erotisierten Heiligen- und Märtyrerfiguren – nicht zuletzt in ihrer oft phallischen Insistenz auf Fruchtbarkeit und Potenz – von einer körperlichen und genitalen Euphorie, die nicht davor zurückschreckt, die Unfassbarkeit der göttlichen Liebe in einer immer wieder variierten Metasprache der Sexualität zum 154
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(London: Reaktion Books, 1992). Vgl. hierzu auch Gabriele Bartz / Alfred Karnein / Claudio Lange, Liebesfreuden im Mittelalter. Kulturgeschichte der Erotik und Sexualität in Bildern und Dokumenten (Stuttgart / Zürich: Belser Verlag, 1994), 26f. Ebd., 40. Vgl. zu den erotischen wie auch bewußt obszönen Skulpturen in den mittelalterlichen Kathedralen Anthony Weir / James Jerman, Images of Lust: Sexual Carvings on Medieval Churches (London: Batsford, 1986). Anhand einer Vielzahl von Beispielen zeigen sie, wie auf Zwickelreliefs und Friesen durch eine Schar ithyphallischer Figuren, Anus bleckender (‘Zanner’) und ihre Genitalien präsentierender Wesen (‘sheela-na-gigs’) das Erotische und Körperliche in das Innere der Kirche transportiert wird. Ob es sich hierbei um bloß ikonografische exempla horrenda und misogyn gefärbte Warnungen vor der Fleischeslust handelt, wie Weir und Jerman allzu einseitig argumentieren (15ff.), lässt sich durch einen Verweis auf die typisch mittelalterliche Ästhetik des Grotesken und die Praxis der contre-textualité modifizieren.
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Ausdruck zu bringen. Wie wenig die Moderne sich in diesen komplementären Dualismus von Erotischem und Sakralem, von Komischem und Tragischem wie auch von Banalem und Seriösem hineinzuversetzen vermag, lässt sich abschließend nicht nur an Tobias Smollett dokumentieren, der sich angesichts Michelangelos Pietà im Petersdom peinlich berührt fühlt.157 Auch Schiller stellt unter Beweis, dass er in seiner Auseinandersetzung mit Shakespeare dem Urteil Goethes in nichts nachsteht und ebenso zensorisch mit Texten der Frühen Neuzeit verfährt.158 Konfrontiert mit der notorischen Pförtnerszene im zweiten Akt des Macbeth, in der der sich als Höllenwächter ausgebende Portier über die Auswirkungen des Alkohols auf die Erektionsfähigkeit des Penis, über das sogenannte “nose-painting,”159 reflektiert, beugt sich auch Schiller in seiner deutschen Übertragung der Tragödie dem Diktat des Dekorums. Bereits William Davenant hatte die häufig als dissoziiertes comic relief missverstandene Szene in seiner Bearbeitung auf eine einzige marginale Zeile reduziert.160 Somit unweigerlich an der modernen Konvention, Shakespeare zu verbessern, partizipierend entschließt sich Schiller letztlich dazu, den ‚obszönen‘ Monolog des Pförtners zu einem Morgengebet in der Tradition der aubade umzugestalten: Lob sei dem Herrn und Dank gebracht, Der über diesem Haus gewacht, Mit seinen heiligen Scharen Uns gnädig wollte bewahren. […]161 157
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Im 31. Brief seiner Travels through France and Italy (1766) zeigt sich Smollett ganz als Neoklassizist, wenn er seinem Unmut über die erotische Kunst des Christentums Ausdruck verleiht: “The figure of Christ is as much emaciated, as if he had died of consumption: besides, there is something indelicate, not to say indecent, in the attitude and design of a man’s body, stark naked, lying upon the knees of a woman.” Travels through France and Italy, hg. Frank Felsenstein (Oxford: Oxford UP, 1981), 255. Septimus Warren Smiths Umdeutung Shakespeares als Menschen- und Körperfeind – “How Shakespeare loathed humanity – the putting on of clothes, the getting of children, the sordidity of the mouth and the belly!” – ist nur die (fiktionale) Konsequenz einer im 19. Jahrhundert systematisch vorangetriebenen Ent-Erotisierung der frühneuzeitlichen Literatur. Mrs Dalloway, hg. David Bradshaw (Oxford: Oxford UP, 2000), 75. Macbeth II, iii, 27. (The Arden Shakespeare), hg. Kenneth Muir (London / New York: Thomson Learning, 2006), 60. The Dramatic Works of William Davenant, hg. J. Maidment / W. H. Logan (Edinburgh / London: William Paterson, 1874), V, 340. – Im Libretto zu Verdis Opernfassung (1847) verschwindet sie letztlich vollkommen. Schillers Werke (Nationalausgabe) XIII, Bühnenbearbeitungen, hg. Hans Heinrich Borcherdt (Weimar: Böhlau, 1949), 102f.
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So wie Goethe die in Mercutio und der Amme personifizierte Animalität des menschlichen Sexus zu tilgen versucht, so ist auch Schiller bestrebt, die vom Mittelalter übernommene barocke Freude am „Nasen-Phallozentrismus“162 durch eine dem Dekorum angemessene Seriosität zu ersetzen. Das aus der Sicht des ‚sentimentalischen‘ Menschen befremdende Interesse der Frühen Neuzeit am Körper als Ort des Grotesken, wie es sich von Rabelais, Quevedo bis hin zu Sternes anachronistischem Tristram Shandy (wenn auch in letzterem schon die Kastrationsangst den Rabelais’schen Kastrationshumor verdrängt163) erstreckt, ist im 19. Jahrhundert nicht nur der neurotischen Verhüllung aller genitalen Protuberanzen, sondern vor allem der Fiktion eines ‘unknown Eros’ platonischer Provenienz (Patmore) zum Opfer gefallen. Nur vor diesem Hintergrund wird dann aus einer Persiflage des romantischen Doppelgängers wie Gogols Die Nase (1836) unvermittelt der Kafkaeske Angsttraum der Moderne, in der der genitale Stolz früherer Epochen einer ubiquitären, oft auf Femmes fatales wie Judith, Delilah164 oder Salomé projizierten Kastrationsphobie weicht.
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Kay Himberg, ‚Phantasmen der Nase. Literarische Anthropologie eines hervorstehenden Organs‘ Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, hg. Claudia Benthien / Christoph Wulf (Reinbek: Rowohlt, 2001), 91. – In diesem Kontext lässt sich auch Othellos plötzliche, gegen Cassio gerichtete Nasen-Phobie als Angst vor der phallischen Konkurrenz erklären: “I see that nose of yours” (IV, i, 141). Ebd., 96. Wie ausgeprägt die Kastrationsphobie die Literatur des 19. Jahrhunderts beherrscht, zeigt sich paradigmatisch in Hardys Roman Jude the Obscure (1895), wo das Schicksal des Protagonisten sich im Schatten eines leitmotivisch wiederkehrenden Simson und Delilah-Gemäldes vollzieht.
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II. Konstruktionen der barocken Erotik: ars poetica – ars (homo-) erotica 1. Leben und Schreiben sub specie coitus Die herausragende Bedeutung der Erotik als eine der wesentlichen Chiffren für das ganzheitliche Ineinandergreifen heterogener Lebensbereiche kommt im Barock allenthalben und in vielfältigen Konstellationen zum Ausdruck. So entdecken, wie im folgenden detaillierter gezeigt werden soll, die Zeitgenossen Donnes und Shakespeares nicht nur in solch alltäglichen Verrichtungen wie dem Essen, dem Beten oder dem Kriegführen eine erotische Komponente; auch politische Macht, das Auftreten des Herrschers als „Inbegriff natürlicher prokreativer Energie“1 wird erotisch inszeniert und in einem variantenreichen System der sexual politics eingesetzt. Die Sexualisierung des frühneuzeitlichen Lebens wird zunächst nicht unmaßgeblich gefördert durch die grundsätzlich organizistische Weltauffassung, die sowohl den Staat (body politic) als auch das gesamte geozentrisch geordnete Weltgefüge als einen Körper begreift.2 Diese eigentümliche Interdependenz von Körper und Welt, die das Universum unter konkret physisch-sexuellen Vorzeichen erscheinen lässt und den menschlichen Organismus als einen Kosmos in nuce bzw. Mikrokosmos definiert, wird vor allem – gemäß der damaligen Korrespondenzenlehre – in den okkultistischen Gebieten der Astrologie und der Alchimie propagiert. So ist seit dem Mittelalter die Vorstellung virulent, dass in Analogie zur geschlechtlichen Vereinigung von Sol und Luna, jener felix coniunctio des Disparaten, die Entstehung der Welt auf einen kosmischen Koitus 1 2
Renate Schruff, Herrschergestalten bei Shakespeare. Untersucht vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen vom Herrscherideal (Tübingen: Niemeyer, 1999), 166. Die Dominanz dieser Metapher zeigt sich exemplarisch in Macbeth, wenn der tragische Titelheld in dem Satz “let the frame of things disjoint” (III, ii, 16) die Welt als einen Körper (frame) mit Gelenken (joints) visualisiert. Vgl. auch Hamlets Ausspruch “the time is out of joint” Hamlet I, v, 186 (The Arden Shakespeare), hg. Ann Thompson / Neil Taylor (London: Thomson Learning, 2006), 227.
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zurückzuführen ist,3 den der Alchimist – durch die Mixtur männlich und weiblich konnotierter Ingredienzien im uterus-ähnlichen Glaskolben (alembic), “his pregnant pot”4 – im Partikularen nachzuvollziehen hofft. a. In diesem ‚pansexualistisch‘ geprägten Weltbild5 spiegelt sich die Bedeutung der Erotik aber nicht nur in den Bereichen arkaner Wissenschaften und hermetischer Gelehrtenwelten; in Analogie zu dem oft erotisch empfundenen Vorgang des Lesens, den David Lodge gar mit einem Striptease vergleicht,6 wird auch der alchimistisch verstandene Prozess des Dichtens deutlich sexuell akzentuiert, sodass Alexander Leggatt unbedingt beizupflichten ist, wenn er schreibt: “Writing, printing, and reading all have erotic overtones.”7 Obgleich in bezug auf die literarische Kreativität die Prämissen sich grundlegend verändert haben und der verfemte Dichter in der Folge von Lautréamonts Chants de Maldoror es vorzieht, sich 3
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Die Tatsache, dass die Alchimisten die Vereinigung heterogener Elemente als einen Koitus begreifen, lässt sich an zahllosen Illustrationen zur coniunctio belegen. Im Rosarium Philosophorum (1550) sieht man zwei gekrönte Liebende, die als symbolische Verkörperungen für Schwefel und Quecksilber stehend, den Geschlechtsakt vollziehen. Auch in Michael Maiers Atalanta fugiens (1618) wird die Beziehung zwischen Sol und Luna als sexuelles Begehren dargestellt. Die Dekonstruktion des alchimistischen Vokabulars zur Darstellung kruder genitalischer Vorgänge zeichnet sich bereits in Donnes ‘Loves Progress’ ab. Der libertinistische Sprecher lehnt es ab, das Liebesritual im Gesicht der Angebeteten zu beginnen, und beruft sich hierbei auf die Alchimie, die sich in ihrer Konzentration auf das Gold ebenfalls mit den unteren, d.h. vaginalen Regionen der Erde (“the Centrique part;” 36) beschäftigt. Die Auflösung des alchimistischen Vokabulars zugunsten eines reinen Materialismus wird dann in Jonsons The Alchemist (1612) vorgeführt: Die Alchimisten-Küche ist nun unverhohlen zu einem Bordell transformiert worden, an die Stelle der felix coniunctio zwischen Sol und Luna ist nun der merkantile Beischlaf mit einer Prostituierten, Dol Common, getreten. Durch geringfügige linguistische Akzentverschiebungen hat sich der Jargon der Alchimisten zu einem Gauner- und Prostituierten-Argot verwandelt, wobei die Semantik des Blasens und Anfachens (lungs, blow) nun auschließlich oral-genitalisch zu verstehen ist. Zum allgemeinen Kontext der Alchimie in der Literatur vom Mittelalter bis zur Restauration siehe Stanton J. Linden, Darke Hierogliphicks: Alchemy in English Literature from Chaucer to the Restoration (Diss., Univ. of Kentucky, 1996) wie auch Daniela Tandecki, ‚Phönixwispern: Arkane Welten und Wonnen im englischen Barock‘ The Senses’ Festival, hg. Norbert Lennartz, 253–75; besonders 262. John Donne, ‘Loves Alchymie’ Z.8, Poetical Works, 35f. Hocke, 219. Small World (London: Penguin, 1984), 26: “The classical tradition of striptease, however, which goes back to Salome’s dance of the seven veils and beyond, and which survives in a debased form in the dives of your Soho, offers a valid metaphor for the activity of reading.” ‘Comedy and Sex’ The Cambridge Companion to Shakespearean Comedy, hg. Alexander Leggatt (Cambridge: Cambridge UP, 2002), 142.
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in bezug auf sein Werk als perniziöser Giftmischer und skrupelloser Mörder seines Publikums zu inszenieren,8 gehören auch heute noch Topoi und Wendungen wie der Musenkuss und das Werk als zerebrale Geburt und Geisteskind zum festen Bestand des uneigentlichen Sprechens. Abgesunken in den Bereich der lexikalisierten Metapher lässt sich in einem Zeitalter des kommerzialisierten Schreibens kaum noch ermessen, in welchem Ausmaß die Genese eines Werks körperlich bedingt und inwieweit der Dichter mit seinem erzeugten Textkorpus erotisch verbunden ist. In dem Bereich der bildenden Kunst wird anhand des Pygmalionund Galatea-Stoffes nachdrücklich unterstrichen, dass das Verhältnis des Künstlers zu seinem Werk einen unverhohlen erotischen und generativen Charakter hat: Der von der Lasterhaftigkeit des weiblichen Geschlechts (“offensus vitiis, quae plurima menti / femineae natura”9) zunächst angewiderte Pygmalion erklärt seine in Stein fixierte Idee der femininen Schönheit zu seinem “bedfellow”10 und zeugt mit ihr, nachdem sie durch Venus’ Intervention animiert wurde, “a Sun that Paphus hight.”11 Diese ausgesprochen erotische Verbindung zwischen dem Künstler als alter deus und seiner Kreation, die Jean-Léon Gérôme in seinem Fin de SiècleGemälde Pygmalion (1892; New York, Metropolitan Museum of Art) nachdrücklich thematisiert und die bei Shaw hinter der Frankensteinschen Problematik des egozentrischen Schöpfertums gänzlich zurücktritt, hat in der Literatur eine lange, sich über alle literarische Gattungen erstreckende Tradition.12 8
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Das Lesen ist hier eine gefährliche Expedition „à travers les marécages désolés de ces pages sombres et pleines de poison;“ das Buch des poète maudit hält nur noch „émanations mortelles“ für den Leser bereit. Les Chants de Maldoror / Poésies et Lettres, hg. Philippe Sellier (Paris / Bruxelles: Bordas, 1970), Chant Premier, 19. Metamorphosen, Liber X, Z. 244f. Lateinisch-Deutsch, hg. Niklas Holzberg (Zürich / Düsseldorf: Artemis und Winkler, 1996), 370. Arthur Golding, Shakespeare’s Ovid Being Arthur Golding’s Translation of the Metamorphoses hg. W. H. D. Rouse, (London: Centaur P, 1961) X, Z. 291. Ebd., 323. Das Theater, das im Prolog zu Henry V als “wooden O” bezeichnet und somit als vaginaler Ort identifiziert wird, ist somit ein weiteres Beispiel für die Sexualisierung der Künste (Prolog, Z. 13. King Henry V, hg. T. W. Craik [The Arden Shakespeare] London: Thomson Learning, 2005. 120). Obgleich Gordon Williams vor einer Korrelierung des Theaters mit dem weiblichen Körper warnt (Glossary, 221), sind die Belege für die Sexualisierung der Bühne und ihrer Produktionen eindeutig: In Two Noble Kinsmen werden die Theaterstücke sogar mit “maidenheads” in Verbindung gesetzt (“New plays and maidenheads are near akin.” Prolog Z.1. The Two Noble Kinsmen, hg. Lois Potter [The Arden Shakespeare] London: Thomson Learning, 2002. 137). Die Theaterliteratur ignorierend, bezeichnet Lodge das Epos cum grano salis als ein phallisches Genre, wohingegen die Romanze mit ihren vielen Aventüren dem weiblichen Sexualempfinden entspreche und “a multiple orgasm” darstelle. Small World, 322f.
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Der Augenblick der Inspiration steht somit am Anfang der sexualisierten Textproduktion: Bereits Dante beschreibt das Verhältnis zwischen Dichter und Musen als ein eminent physisches und taktiles, wenn er die Töchter der Mnemosyne, und hier insbesondere Polyhymnia, in einem proto-barocken Bild als Ammen imaginiert, die die Dichter mit der süßen Milch ihrer Brüste ernähren.13 Während im Verlauf der Renaissance das Bild der Musen sich verändert, und im Zuge des Libertinismus bald von “Ovid’s wanton Muse” und bald von Carews “unwasht Muse” die Rede sein wird,14 so lässt sich dennoch konstatieren, dass im Einklang mit der generellen Erotisierung der Literatur die Konzeption eines literarischen Werks einem sexuellen Schöpfungsakt gleichkommt, der, weit entfernt davon, eine Parthenogenese zu sein, mit der musischen Insemination oder Laktation seinen Ausgang nimmt. Vor diesem Hintergrund formuliert Thomas Dekker im Vorwort zu seinen News from Hell (1606) einen poetologischen Gemeinplatz, wenn er schreibt: “the begetting of Bookes is as common as the begetting of Children …”15 b. Aus den Reihen der feministischen Literaturkritik wird nun als Besonderheit hervorgehoben, dass – vom erotischen Musenanruf abgesehen – der Dichter in der Tradition des jüdisch-christlichen Abendlandes das Weibliche marginalisiert und in Analogie zum patriarchalischen Schöpfergott das ‚Austragen‘ wie auch die ‚Geburt‘ des Textes als eine ausschließlich männliche Fähigkeit propagiert.16 Geht Elizabeth Sacks in ihrer Studie Shakespeare’s Images of Pregnancy gar so weit, dass sie die Popularität dieser Schwangerschaftsmetaphorik auf einen männlichen Gebärmutter-Neid zurückführt,17 so zeigt ein differenzierter Blick auf 13 14 15
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Purg. 22, 102ff und Par. 23, 56. Vgl. zum weiteren Kontext Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (Bern: Francke, 1984; 1. Aufl. 1948), 235ff. Siehe Moulton, 186 und Carews später ausführlicher behandeltes Gedicht ‘To my worthy friend Master Geo. Sands, on his translation of the Psalmes’ Z. 3. News from Hell, Prolog. The Non-Dramatic Works of Thomas Dekker, hg Alexander Grosart (New York: Russell und Russell / London: Hazell / Watson and Viney, 1963 [1885]), II, 87. Margaret Wise Petrochenkov, Pregnancy and Birth as Metaphor for Literary Creativity (Ann Arbor: University Microfilms, 1993). (London: Macmillan, 1980), 4. – Katharine Eisaman Maus setzt sich mit dieser These ebenfalls auseinander, kommt jedoch zu dem Schluss, dass es sich hier weniger um Neid als um eine Form der Appropriation handelt, so in ‘A Womb of his Own: Male Renaissance Poets in the Female Body’ Sexuality and Gender in Early Modern Europe: Institutions, Texts, Images, hg. James Grantham Turner (New York: Cambridge UP, 1993), 266–88.
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die erotisierte ars poetica der Frühen Neuzeit, dass die Dichter sich immer wieder auf ein komplexes Rollenspiel kaprizieren, das sich den binären Geschlechterkategorien der modernen gender studies beharrlich entzieht. Dennoch gilt es zunächst, Literaturkritikerinnen wie Sandra Gilbert, Susan Gubar, Hélène Cixous, Cathérine Clément u.a. beizupflichten, wenn sie – teilweise unter Berufung auf Lacan – eine Verbindung zwischer linguistischer Kreativität (lingua) und dem Phallus (lingam) feststellen.18 Die eindeutig sexuelle Konnotierung des Schreibvorgangs als phallischen Aktes wie auch die seit dem Mittelalter belegte metaphorische Überblendung von Federkiel und Penis19 macht die männlich dominierte Literatur der Frühen Neuzeit zu einem erotisierten Medium des “homosocial bonding,”20 zu einem durchaus doppeldeutigen SchriftVerkehr – “textual intercourse”21 –, gegen dessen homophile Exklusivität Autorinnen wie Aemilia Lanyer und Aphra Behn zunächst vergeblich aufbegehren. Nicht nur die Metaphysicals scheinen durch ihren Rückzug in den private mode und in der von ihnen praktizierten verborgenen Zirkulation der Manuskripte an dieser Form der literarisch-homoerotischen Intimität teilzuhaben; in Übereinstimmung mit den Werken ihrer elisabethanischen Vorgänger verraten ihre Gedichte überdies eine eigentümliche Vorliebe für ein literarisches gender crossing, für einen transvestitischen Umgang mit Rollen- und Geschlechterzuordnungen. Dass es sich aber hierbei kaum um eine weitere Spielart und Ausprägungsform jenes Ventriloquismus handelt, den Ina Schabert für einige der in weiblicher Ichform geschriebenen Werke Michael Draytons konstatiert,22 wird sich 18
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Sandra Gilbert / Susan Gubar, The Madwoman in the Attic (New Haven: Yale UP, 1979), 4 wie auch Hélène Cixous / Cathérine Clément, La jeune née (Paris, 1975), in der englischen Übersetzung The Newly Born Woman (Minnesota / Manchester: U Minnesota P, 1986). Die beiden letzten Autorinnen sprechen hier von “this solidarity between logocentrism and phallocentrism” Hélène Cixous Reader, hg. Susan Sellers (London: Routledge, 1994), 39. Die homophone Ähnlichkeit von ‘pen’ und ‘penis’ im Englischen macht dies besonders augenfällig; vgl. Gordon Williams, A Dictionary of Sexual Language and Imagery in Shakespearean and Stuart Literature (London: Athlone, 1994 [im folgenden mit DSL abgekürzt]), II, 1007f.; dass Schreibutensilien wie ‘quills’ ebenso eine phallische wie erotische Bedeutung haben (DSL, III, 1129), zeigt nicht zuletzt der Film Quills (2001) mit Geoffrey Rush in der Rolle des Marquis de Sade. Eve Kosofsky Sedgwick, Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire (New York: Columbia UP, 1985). Jeffrey Masten, Textual Intercourse. Collaboration, Authorship, and Sexualities in Renaissance Drama (Cambridge: Cambridge UP, 1997). Englische Literaturgeschichte aus der Sicht der Geschlechterforschung (Stuttgart: Kröner, 1997), 140ff.
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im folgenden herauskristallisieren. Überdies wird sich zeigen, dass in einer Zeit, in der der spanische Maler Ribera einen bärtigen Mann mit entblößter weiblicher Brust in den Mittelpunkt eines Gemäldes rückt (Maddalena Ventura, con su marido / la Mujer Barbuda [1631; Madrid, Prado]), Autoren und Gebärer von Texten sich aus verschiedenen Gründen als androgyne Vexierrätsel präsentieren. Männliches Dominanzverhalten wird somit unvermittelt mit weiblichen Attributen verknüpft und im Rückgriff auf die Figuren des von Pfeilen durchbohrten Hl. Sebastian und des ephebenhaften Ganymed in einen homoerotischen Kontext übertragen.
2. Visionen androgyner Autonomie – Männer im Wochenbett Ein Blick auf die Literatur der Renaissance und des Barock offenbart, dass die paradox anmutende Vorstellung vom (intellektuell) schwangeren und kurz vor der Niederkunft stehenden Mann ubiquitär ist: Während der diabolische Schurke Iago seine machiavellistischen Aktivitäten mit dem Bild einer monströsen Kopf-Geburt – “this monstrous birth”23 – umschreibt, lässt sich Hamlets paralysierendes Zögern nicht zuletzt auch auf den Umstand zurückführen, dass er, wie er in einem Monolog nach der Aufführung von ‘The Mousetrap’ darlegt, “unpregnant” ist.24 Chronologisch so disparate Übersetzer wie August W. Schlegel und Erich Fried fühlen sich gleichermaßen genötigt, diese neologistische Metapher zu entschärfen,25 dabei entgeht ihnen jedoch die mehrschichtige Bedeutung des Bildes und der wichtige Hinweis auf das androgyne Männlichkeitskonzept der Frühen Neuzeit. a. Der locus classicus dieses – aus der Retrospektive – irritierenden hermaphroditischen Dichter- und Schöpferverständnisses, dem sich auch Sidney verpflichtet fühlt, wenn er sich zu Beginn von Astrophel and Stella 23 24 25
Othello I, iii, 403. Hamlet II, ii, 562. Schlegel übersetzt das Wort mit „meiner Sache fremd“ (Sämtliche Dramen Bd. III Tragödien [München: Winkler, 1988], 634) und Fried mit „nicht voll“ (Hamlet / Othello [Berlin: Wagenbach, 1999], 52); lediglich Frank Günther bringt den Mut auf, „unschwanger“ zu schreiben, um somit auch der Androgynität Hamlets Rechnung zu tragen. Hamlet. Zweisprachige Ausgabe (München: DTV, 2000), 127.
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(1591) als “great with Childe to speak, and helplesse in my throwes” beschreibt,26 lässt sich bereits in der Antike ausmachen. In Platons Theaetetus wird berichtet, dass Sokrates nicht nur die Vorstellung einer (Geistes-) Schwangerschaft auf seine männlichen Gesprächspartner appliziert; aufgrund seiner ausgeklügelten Fragetechnik definiert er überdies seine Rolle im philosophischen Erkenntnisprozess als die einer männlichen Hebamme: For I have this in common with the midwives: I am sterile in point of wisdom, and the reproach which has often been brought against me, that I question others but make no reply myself about anything, because I have no wisdom in me, is a true reproach […] [T]he god compels me to act as a midwife, but has not allowed me to bring forth.27
Dieses provokante Paradoxon besteht – allen weiblichen Singularitätsansprüchen zum Trotz in der Geburtsheilkunde – auch bei Donne noch fort, wenn er am Anfang seiner 19. Elegie ‘To his Mistress Going to Bed’ sich zunächst als eine Frau in Wehen inszeniert – “I labour, I in labour die”28 – und in den abschließenden Zeilen ferner nicht zögert, in die Position einer Hebamme zu schlüpfen, um seine Geliebte zur völligen Entblößung zu überreden: “Then since I may know, / As liberally as to a midwife show / Thyself; cast all, yea this white linnen hence …”29 In diesem tabulosen Spiel mit den Konventionen des Persuasionsgedichts gelingt es Donne sogar, das Paradoxon zu potenzieren und die ohnehin nicht fest umrissenen Geschlechterdifferenzen jener Zeit weiter in Frage zu stellen: zusätzlich zu den von ihm gewählten weiblichen Inkarnationen stellt er sich gleichzeitig als einen männlichen Verführer und miles amoris dar, dessen Erektion keinen Aufschub duldet und zu einem schnellen Liebesvollzug drängt: “The foe ofttimes, having the foe in sight, / Is tired with standing …”30 Die in Donnes Gedicht zutage tretende Simultanität der Rollen und Geschlechter liegt zum einen in der Langlebigkeit des antiken one sex model begründet: In einem Menschen26 27 28 29
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I, Z.12. The Poems of Sir Philip Sidney, hg. William A. Ringler (Oxford: Clarendon P, 1962), 165. Theaetetus. Plato with an English Translation, hg. Harold North Fowler (London / Cambridge Mass.: Harvard UP, 1961), 35. Z. 2. Poetical Works, 106. Siehe hierzu auch Elizabeth Harvey, ‘Matrix as Metaphor: Midwifery and the Conception of Voice’ John Donne, hg. Andrew Mousley (Basingstoke: Macmillan, 1999), 135–56. Z. 3f.
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bild, das die Eigenständigkeit des weiblichen Geschlechts geradezu negiert und die Frau lediglich als eine aberratio und Fehlevolution klassifiziert, ist es nur folgerichtig, dass der Mann als ein autonomes Wesen erscheint, in dem sich die Rollen des Befruchters, der Schwangeren und der Geburtshelferin nicht widersprechen, sondern zu einem schillernden Bildkonglomerat zusammenfügen. Nur vor dem Hintergrund dieses geschlechtlichen Isomorphismus ist es ferner möglich, dass umgekehrt in dem Gedicht ‘The Second Anniversary’ Elizabeth Drury, die im Alter von nur 10 Jahren verstorbene Tochter Robert Drurys, nicht so sehr – wie man zu erwarten glaubt – als weibliche Inspirationsquelle, sondern als ein männlicher Begatter der Muse angerufen wird; und so wie das Mädchen Männliches und Weibliches in sich vereint, so vermag sie, nach dem Prinzip der Juxtaposition von Extremen, die Muse dazu zu veranlassen, eine weitere Polarität, nämlich die von Keuschheit und Prokreation, aufzuheben: Immortall Maid, who though thou would’st refuse The name of Mother, be unto my Muse A Father, since her chast Ambition is, Yearely to bring forth such a child as this.31
b. Ein weiteres Erklärungsmodell für den in der Frühen Neuzeit häufig anzutreffenden Topos des schwangeren Dichters bzw. des geschlechtlich multifunktionalen Mannes bietet die im medizinischen Diskurs jener Zeit verbürgte Interdependenz von Intellekt und Uterus. Ein wesentlicher Beleg für die terminologische Verknüpfung zwischen Gehirn und Uterus ist vor allem die der klassischen arabischen Tradition folgende Bezeichnung der Gehirnhöhlen als “ventricles,” als kleine Bäuche (lat. venter = Bauch) bzw. kleine ‚Gebärmütter.‘32 Aber auch die in der damaligen Geburtsheilkunde weit verbreitete Ansicht, dass man durch die Vorstellungskraft Einfluss nehmen könne auf die äußere Gestalt des Fötus, scheint die Dichter der Renaissance und des Barock in der Annahme zu bestätigen, dass jede Form intellektuellen Schaffens eng mit einer Niederkunft verknüpft ist – einschließlich ihrer Begleiterscheinungen und Gefahren wie Wehen oder der Aussicht auf eine Tot- bzw. Missgeburt.
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‘The Second Anniversary’ Z. 33–36. Poetical Works, 228. Siehe auch Sacks, 4.
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Wie unmissverständlich dem Kopf überdies die Funktion eines Geburtsorgans übertragen wird, zeigt sich zum einen in der mythologischen Begebenheit der göttlichen Kopfgeburt: Hephaistos – in der Rolle eines martialischen Geburtshelfers – spaltet das (schwangere) Haupt des Zeus mit einer Axt, und verschont vom Kontakt mit den oft als schmutzig diskreditierten Geschlechtsteilen der Frau, springt Pallas Athene in voller Rüstung aus ihm hervor. Auch im christlichen Kontext spielt die Fruchtbarkeit des Kopfes und damit die unverhohlene Sexualisierung von Worten und Blicken eine nicht zu unterschätzende Rolle. So lässt Milton die Sünde aus dem Kopf Satans entstehen33 und schafft somit in Analogie zur Geburt der Pallas Athene das Bild einer invertierten zerebralen Fruchtbarkeit, die in deutlichem Kontrast steht zu Marias conceptio per aurem. Nicht zuletzt aufgrund seiner äußeren Ähnlichkeit mit einer Muschel und seiner allzeit penetrierbaren Offenheit ist das (männliche wie weibliche) Ohr in der Symbolsprache verschiedener Kulturen mit der Vagina korreliert:34 Die auf Marias Ohr gerichteten Strahlen des göttlichen Wortes umschreiben in der christlichen Ikonografie den Akt der Insemination und konterkarieren durch die Überblendung Marias mit Danaë den Sündenfall der Menschen, der ebenso durch eine conceptio per aurem, durch die verbalen Verführungskünste einer phallischen Schlange herbeigeführt wurde.35 Neben dem Ohr und dem stets genital konnotierten Mund, jenem Villonschen ‚Erdbeermund,‘ ist es vor allem das Auge, das in der Unterleibsanatomie des Gesichtes eine sowohl vaginale als auch gebärmutterähnliche Bedeutung annimmt. Wie schon die conceptio per aurem, so stellt auch die conceptio per oculos eine Möglichkeit der zerebralen Insemination dar, auf die Dichter wie auch ihre Adressatinnen gleichermaßen in 33 34
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Paradise Lost, hg. Alastair Fowler (London: Longman, 1971), II, 754–60. Vgl. J. C. Cooper (An Illustrated Encyclopaedia of Traditional Symbols [London: Thames and Hudson, 1978]), der die Vaginalsymbolik des Ohrs auch in der buddhistischen Religion verfolgt, 58f. Die diabolische Variante dieser conceptio per aurem lässt sich nicht nur in Botticellis Gemälde Venus und Amor, sondern vor allem in Hamlet nachweisen, wo der rechtmäßige König durch den Usurpator aural penetriert wird. – Der erotischen wie auch vaginalen Bedeutung des Ohrs bei Shakespeare geht überdies Wes Folkerth in seiner Studie The Sound of Shakespeare (London / New York: Routledge, 2002) nach. Wie sehr die Vorstellung der conceptio per aurem im kulturellen Gedächtnis der Shakespeare-Zeit verhaftet ist, zeigt sich auch an Othellos Schicksal: Auf dem Höhepunkt seiner Macht ist er es, der Desdemonas Ohr “a greedy ear” (I, iii, 150) zu penetrieren und mit Geschichten zu füllen versteht. Je mehr er dem Einfluss Iagos erliegt, desto weniger kann er sich der Penetration seines eigenen Ohrs erwehren. Inseminiert durch seinen Widersacher muß er fortan dessen teuflischen Gedanken-Fötus austragen.
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ihrem Liebesdialog zurückgreifen. Dabei wird erneut deutlich, dass in intellektueller Hinsicht der Mann keine Scheu zeigt, für sich eine Vagina bzw. einen Uterus zu reklamieren. So beschreibt Donne in ‘The Extasie’ einen Zeugungsvorgang, bei dem die Liebenden ‚sich gegenseitig Babies in die Augen schauen:‘ So to entergraft our hands, as yet Was all the meanes to make us one, And pictures in our eyes to [be]get Was all our propagation.36
Obgleich Donne keinen Zweifel daran lässt, dass es sich hier um ein erotisches Präludium handelt, so beweist die Diktion, dass auch der Augenkontakt eindeutig unter dem Signum des Körperlichen und Koitalen steht. Das Entdecken des Abbildes des jeweils anderen in den Augenpupillen setzt einen wechselseitigen Zeugungsakt voraus; dabei wird der hermaphroditische Mann sowohl zum Penetrierer als auch zu einem von den phallischen Blicken der Geliebten Penetrierten, der im Uterus des Auges das Bild seiner Geliebten in einem extremen private mode austrägt. Bereits diese begrenzte Selektion von Beispielen mag genügen, um zu demonstrieren, dass der frühneuzeitliche Dichter und Mann in seinem androgynen Selbstverständnis sich auf eine lange, medizinisch sogar abgesicherte ikonografische Tradition stützen konnte. In diesem Kontext lassen sich auch einige Portraits jener Zeit einordnen, in denen Männer ostentativ ihre Androgynität zur Schau stellen, indem sie sich nicht nur mit lange wallendem Haar, sondern vor allem als feminine Provokateure mit weit dekolletiertem Hemd, Schmuck und anderen weiblichen Accessoires abbilden lassen. Nicht nur Gemälde dieser Art, sondern auch eine Vielzahl von literarischen Figuren, Höflingen und Schauspielern in Frauengewändern oder mit weiblichen Attitüden, drag queens avant la lettre,37 – von denen nicht alle nach einer begrenzten Zeit der karnevalesken Unordnung die Dominanz des Männlichen wiederherstellen – unterstreichen, dass dem Postulat der Maskulinität und dem (vermeintlichen) Phallozentrismus in der Frühen Neuzeit stets ein feminines Element inhärent ist. Die notwendige Voraussetzung besteht einzig darin, dass im Rahmen der chain of being ein gewisses Maß an Weiblichkeit – anders als 36 37
‘The Extasie’ Z. 9–12. “get” in Zeile 11 ist lediglich die aphäretische Form von ‘to beget.’ So z.B. der Pagen, der für einen bestimmten Zeitraum Slys Ehefrau spielen muß in The Taming of the Shrew, ‘Induction’ Z. 100ff. (The Arden Shakespeare), hg. Brian Morris (London/New York: Methuen, 1981), 168ff.
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im Falle von Marlowes Eduard II. oder Shakespeares Patroclus in Troilus and Cressida – nicht überschritten werden darf. Gilt im umgekehrten Fall die Inszenierung der Androgynität bei Mann-Weibern und shrews wie Lady Macbeth und Katherine als ein Frevel gegen die Seinsordnung, der in der Tragödie mit dem Tod und in der Komödie mit der Einsicht gebüßt wird, dass die phallischen Waffen der Frauen nur aus Stroh sind,38 so stößt das propagierte Bild vom ‚niedergekommenen‘ Mann bzw. vom Dichter, der Geburtswehen erleidet und seine Geisteskinder nach einer Phase der Schwangerschaft (her-) ausdrückt, im Kontext der sexualisierten ars poetica auf eine weitverbreitete Akzeptanz.
3. Der Dichter und Künstler als ‘catamite’ Die männliche Aneignung des Uterus liegt Katharine Eisaman Maus zufolge in der Tatsache begründet, dass die Fortpflanzungsorgane der Frau im Inneren des Körpers verborgen sind und somit eine geeignete Chiffre darstellen für die Gestaltungsfreiheit des im private mode agierenden Dichters. Dabei stellt sie apodiktisch fest, dass es sich hier ausnahmslos um eine Schwangerschaft ohne vorhergehende Befruchtung, also um eine Auto-Insemination handelt, die ganz im Sinne der barocken Vorliebe für das Paradoxon nach dem Prinzip verläuft: “something comes out, but nothing came in.”39 Auch der Muse wird im Enstehungsprozess des literarischen Werks nur eine marginale Rolle zugewiesen: Sie ist mehr Assistentin und Geburtshelferin als inseminierende Miterzeugerin des Geisteskindes.40 Diese Einschätzung erweist sich angesichts der oben nachgewiesenen expliziten Sexualisierung der Muse bei den 38
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Am Ende der Komödie, in ihrem langen Schlussmonolog, sieht Katherine ein, dass “our lances are but straws” (Taming of the Shrew V, ii, 174). Lady Macbeth hingegen überschreitet gender-Grenzen, wenn sie mit einer sexualisierten maskulinen Sprache das (vaginale) Ohr ihres Mannes penetriert und mit der Ergreifung der Dolche in geradezu phallisches Gebaren verfällt. Schriftstellerinnen wie Aphra Behn, die sich weniger martialische Gerätschaften als das männliche Prärogativ des phallischen Schreibutensils anmaßen und sich ihrerseits zu einer heterogenen Zwitter-Persönlichkeit bekennen (“the Priviledge for my Masculine Part the Poet in me” [The Lucky Chance, Prologue; Works VII], 217), müssen mit kruden Verunglimpfungen ihren Einbruch in die männliche Domäne büßen. So werden Aphra Behn als Dichter-Hure und ihre Werke als Produkt ihres vaginalen Ausflusses diffamiert. Siehe Cathrin Brockhaus, ‘Aphra Behn’ Englische Frauen der Frühen Neuzeit, hg. Gesa Stedman (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002), 136. Eisaman Maus, 275. Ebd.
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Dichtern der Frühen Neuzeit als zweifelhaft, zumal die Feminisierung des Dichters einherzugehen scheint mit der Vorstellung von der Muse als einer befruchtenden Kraft, deren Geschlecht nicht eindeutig festgelegt ist. a. Während vereinzelte Poetologien der Renaissance wie die George Puttenhams oder Sir Philip Sidneys die Genese eines literarischen Textes auf die autonome Schöpferkraft des Poeten in der Position eines alter deus zurückführen – “without any trauell to his diuine imagination”41 –, machen andere Dichter unmissverständlich deutlich, dass der Produktion des Werks eine als Liebesakt erfahrene Form der erotischen Inspiration vorausgegangen ist. Edmund Spensers Anrufung Gottes nimmt in dieser Hinsicht wesentliche Komponenten der barocken ars poetica vorweg, wenn er zu Beginn seiner Dichtung ‘A Hymne of Heavenly Love’ um die Einhauchung des göttlichen afflatus wie folgt bittet:42 Vouchsafe to shed into my barren spright Some little drop of thy celestial dew, That may my rymes with sweet infuse enbrew …
Während Gott als Zeichen seiner androgynen Totalität an anderer Stelle als schwanger – “pregnant still with powerful grace”43 – imaginiert wird, erscheint er hier in der traditionell maskulinen Rolle des Befruchters, der den Dichter bereits mit einem kleinen Tropfen himmlischen Taus zu imprägnieren vermag. Wie auch an den späteren Gedichten zu belegen sein wird, hat der Tau – als Relikt alter Natur- und Vegetationsriten – stets die Zusatzbedeutung von Samen und natürlicher emissio genitalis;44 darüberhinaus unterstützt die Paraphrase der göttlichen Inspiration als “sweet infuse” den Befund, dass der Dichter bei weitem nicht als ein autonomer Schöpfer auftritt, sondern in seinem Verlangen nach einer injectio seminis sich bei der Zeugung des poetischen Geisteskindes als ein devoter Sexualpartner Gottes begreift. Von besonderer Relevanz ist es hierbei nun, dass im Gegensatz zum Bild vom maskulinen und phallozentrischen Dichter Spenser sich in die Rolle des passiven und effeminierten Liebha41 42
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Puttenham, The Arte of Poesie, 3. Z. 45–47. The Works of Edmund Spenser. A Variorum Edition. The Minor Poems, hg. Edwin Greenlaw / Charles Grosvenor Osgood et al. (Baltimore: Johns Hopkins UP, 1943), I, 214. Ebd., Z. 50. DSL I, 381.
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bers fügt – eine Rolle, die zwar seit der Antike verpönt und im Kontext der Homoerotik mit solch negativ konnotierten Termini wie ‘catamite’ oder ‘ingle’45 belegt, aber im androgynen Männlichkeitskonzept häufig anzutreffen ist. Gerade die Figur des ‘catamite,’ die in einer päderastischen Liaison den jüngeren und passiven Liebhaber definiert und – entlehnt aus dem lateinischen catamitus – eine Korrumpierung von Ganymed darstellt,46 verdichtet sich nicht nur in der Regierungszeit des homophilen Jakob I., sondern auch schon bei Marlowe zu einem besonders femininen Männertypus:47 Dem mythologischen Mundschenk nachempfunden, den Zeus in der Gestalt eines Adlers entführt, steht der ‘catamite’ bzw. Ganymed für einen androgynen Jüngling, der als Gegenleistung für koitale Umarmungen – “I’le hugge with you an hundred times”48 – von seinem älteren Liebhaber mit Geschenken und Zuwendungen überhäuft wird. Eine auffallende Vielzahl von Gemälden und Zeichnungen, denen James M. Saslow in einer Studie über Homosexualität in der Kunst der europäischen Renaissance Rechnung trägt,49 zeigt die Vorliebe jener Zeit für den spannungsreichen und erotischen Kontrast, der sich zwischen dem ebenso geraubten wie geschändeten50 Jüngling und den animalisch aggressiven Gelüsten des reiferen Mannes darbietet. Während Rembrandt aus der Sicht des Protestanten bereits 1635 zu einer Ent-Erotisierung des Ganymed-Mythos ansetzt, indem er den in den Klauen des Adlers gefangenen Knaben zu einem urinierenden Kleinkind (puer mingens) bzw. Mannekepis infantilisiert, fasst Eustache Le Sueur in seinem Gemälde L’Enlèvement de Ganymède die Topik der 45 46 47
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Im OED zum ersten Mal 1592 belegt (VII, 960), die etymologische Herkunft ist jedoch ungeklärt. DSL I, 216f.; siehe auch OED II, 968f. Siehe Marlowes Dido, Queen of Catharge (Complete Works, I, 6): In der Regieanweisung zu Akt I, i wird Zeus dargestellt, wie er Ganymed, seinen catamite, auf den Knien liebkost (“dandling”). In der Ikonografie der damaligen Zeit ist dies, wie auch Eva Gesine Baur (Meisterwerke der erotischen Kunst [Köln: DuMont, 1995], 72ff.) an weiteren Beispielen darlegt, eine eindeutige Koitalmetapher. – Zu weiteren Aspekten dieses Männertypus, wie er sich in der Renaissance und im Barock herausbildet, siehe Jonathan Goldberg, Sodometries: Renaissance Texts, Modern Sexualities (Stanford: Stanford UP, 1992), bes. 126ff. Dido, Queen of Catharge I, i, 8. Ganymede in the Renaissance: Homosexuality in Art and Society (New Haven / London: Yale UP, 1986). Vgl. auch Saslow, Pictures and Passions. A History of Homosexuality in the Visual Arts (New York / London: Viking, 1999). Entlehnt aus dem lat. rapere bezeichnet ‘rape’ sowohl den Raub als auch die Schändung eines Menschen. Im Französischen sind beide Bedeutungen noch semantisch getrennt: vol = Raub und viol = Vergewaltigung.
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allenthalben favorisierten ‘catamite’-Liebe zusammen: In Anlehnung sowohl an Michelangelos richtungsweisende Ganymed-Zeichnung im Fogg Art Museum als auch an Correggios Ölgemälde Ratte di Ganimede (1530; Wien, Kunsthistorisches Museum) bemächtigt sich der Adler seines ephebenhaften und nahezu entblößten Opfers von hinten. Dass er hierbei mit seinen Krallen die Beine Ganymeds gewaltsam auseinanderreißt, um mit seinen Schwanzfedern zwischen die Unterschenkel des Jünglings zu fahren, ist in der Ikonografie der erotischen Kunst ein unzweideutiges Indiz dafür, dass es sich hier um die Chiffrierung eines coitus in ano handelt – einer Form des Geschlechtsverkehrs, die in der verwirrenden Pluralität der Diskurse oft als contra naturam verschrien ist, in der Literatur und Kunst jedoch durch einen besonderen ikonografischen Erfindungsreichtum immer wieder thematisiert und umschrieben wird. Die Tatsache, dass ein Dichter wie Spenser sich implizit als ‘catamite’ Gottes inszeniert und selbst ein zuweilen so abstrakter Mystiker wie Thomas Traherne sich bedenkenlos als “His [God’s] Ganimede” tituliert,51 zeigt die offen eingestandene homoerotische Abhängigkeit des Dichters von Gott, der seinen androgynen poeta vates mit phallischer Gewalt schwängert und zur Geburt des Text-Korpus nötigt. Bevor im einzelnen an John Donnes 14. Sonett der Holy Sonnets und an Trahernes Gedicht ‘Love’ dargelegt werden soll, wie unumwunden ein maskuliner Sprecher die Rolle des passiven und effeminierten Liebhabers akzeptiert, mag an der Figur des Hl. Sebastian, jenes im Barock und Fin de Siècle favorisierten Heiligen, zusätzlich demonstriert werden, wie offen Künstler und Literaten unterschiedlicher Epochen immer wieder sich auf das Homoerotische ihres Schaffens kaprizieren. b. Stellt für Gustav von Aschenbach die Sebastian-Gestalt „das schönste Sinnbild, wenn nicht der Kunst überhaupt, so doch gewiss der in Rede stehenden Kunst“ dar,52 so verkörpert sie überdies – spätestens seit Sodomas Ölgemälde von 1525 – die Lust nicht nur des androgynen Mannes, sondern auch des Künstlers an der passiv durchlittenen Perforation durch Gott: Den Blick verzückt zum Himmel gerichtet, nur mit einem Lendentuch umhüllt, das vor allem bei Rubens in der Schürzung seines 51 52
‘Love’ Z. 31. Centuries, Poems, and Thanksgivings, hg. H. M. Margoliouth (Oxford: Oxford UP, 1958), II, 167–68. Der Tod in Venedig, Frühe Erzählungen, 568.
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Abb. 1: Eustache Le Sueur, L’Enlèvement de Ganymède. Paris, Louvre. © Fotoarchiv des Kunsthistorischen Instituts der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
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Knotens die phallische Erregung suggeriert, scheint der Märtyrer sich an den sexuell konnotierten Qualen zu delektieren. Um diese äußerst komplexe Verflechtung von Homosexualität und Kunst, von göttlicher Schändung und Kreativität, noch genauer zu verstehen, sei an dieser Stelle ein Blick auf Tennessee Williams’ Drama Suddenly Last Summer (1958) erlaubt: Der bereits verstorbene, in der Rede der Bühnenfiguren jedoch stets präsente Schriftsteller Sebastian Venables schlägt insofern einen hermeneutischen Bogen zurück zum Fin de Siècle und zum Barock, als auch er auf der Suche nach einem gewalttätigen und betont maskulinen Gott sein Lebenskunstwerk mit einem beispiellosen Opfer- und Liebestod zu vollenden trachtet. Jedes Jahr, nach einer neunmonatigen intellektuellen Schwangerschaft – “The length of a pregnancy …”53 – verfaßt er nur ein Gedicht; und als krönenden Höhepunkt seines literarischen Schaffens inszeniert er nun, im Alter von nur 40 Jahren, seinen Tod auf Melvilles Encantadas: Umzingelt von einem Schwarm verwahrloster – und teilweise auch von ihm sexuell benutzter – Slumkinder wird er auf offener Straße umgebracht, indem jene kannibalistischen “featherless little black sparrows”54 seinen Körper geradezu verstümmeln und sein Fleisch gierig verzehren. Durch einen einfachen, aber wirkungsvollen linguistischen Kunstgriff haben sich die phallischen ‘arrows’ von einst hier in ‘sparrows’ verwandelt.55 Auch ohne die ikonografische Tradition der Frühen Neuzeit bei Williams vorauszusetzen, die nicht nur in Aretinos Ragionamenti den Spatz (‘passerotto’) mit dem Penis korreliert, hat der Tod des androgynen Dichters eine deutlich sexuelle und vor allem sado-masochistische Konnotation. Vor dem Hintergrund der vielen ‘catamite’-Dichter und -Künstler, die in der persona des Ganymed oder des Hl. Sebastian ihre Inspiration als eine homosexuelle Insemination und Schändung umschreiben, bekommt Williams’ Drama eine neue intertextuelle und geradezu barocke Bedeutungsschicht, und zugleich erteilt es allen denen eine Absage, die die Literatur jedweder Epoche auf eine phallozentrische Domäne elitärer und misogyner Männer zu beschränken versuchen. Denn Sebastian Venables ist, wie seine barocken
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Plays 1957–1980, hg. Mel Gussow / Kenneth Holdich (New York: The Library of America, 2000), 104. Ebd., 147. Für eine detailliertere Interpretation von Williams’ Stück im Kontext von (neo-barocken) Maskulinitätskonzepten siehe vor allem Horst-Jürgen Gerigk, ‚Tarzan und der heilige Sebastian. Zur Ikonologie des nackten Mannes‘ Abschied vom Mythos Mann. Kulturelle Konzepte der Moderne, hg. Karin Tebben (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2000), 120–37; 132.
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und dekadenten Vorgänger, als Poet sowohl gebärfähige Frau als auch Päderast, er ist aktiv und zugleich mehrfach penetriertes Liebesopfer und schließlich sogar – im barocken, an Crashaw erinnernden Arrangement seiner Wunden – sowohl selbstinszeniertes Kunstwerk als auch ästhetische Inspirationsquelle für andere Diskurse: “a big white-paper-wrapped bunch of red roses [that] had been torn, thrown, crushed! – against that blazing white wall …”56
4. Zwischen Maskulinität und homosexuellem coming-out: Donne und Traherne Gestaltet Caravaggio in seiner ersten Version des Heiligen Matthäus mit dem Engel (1602) die Inspiration des Evangelisten als ein amouröses Anschmiegen, als eine zärtliche Berührung zwischen einem älteren Mann und einem androgynen Engel,57 so rekurrieren die Dichter im Kreis der Metaphysicals bei der Beschreibung ihrer Gedankeneingebung auf die Semantik der Vergewaltigung und der phallischen Durchbohrung. Thomas Carews Epicedium auf John Donne bekommt in diesem Kontext eine Schlüsselfunktion, prägt es doch ein Bild vom Dichter, das die Faszination des Hl. Sebastian ebenso verstehen hilft wie die vexatorische Vorstellung vom schwangeren Schöpfer und homo faber. a. Aus der Retrospektive einer Dekadenzepoche – “in this last age” (68)58 – beklagt Carew zunächst das Ende einer Ära, in der Dichter und Prediger wie Donne kraft ihrer vitalen und maskulinen Sprache gleich absolutistischen Monarchen über ihr Reich des ‘wit’ unumschränkt verfügten; zugleich schaut er mit Nostalgie zurück auf eine Zeit, als große Dichtervorbilder und Mentoren ihre Eleven durch heilige (Geistes-) Vergewaltigungen in Ekstase zu versetzen und somit erotisch zu affizieren vermochten. Attestiert ihm sein Mitstreiter Sir John Suckling in dem Gedicht ‘[The Wits] (A Sessions of the Poets)’ Mangel an sprezzatura auf56 57
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Plays 1957–1980, 147. Dieses ehemals im Kaiser-Friedrich-Museum in Berlin ausgestellte Bild ist 1945 verbrannt. Eine zweite Version dieses Themas, das Altarbild der Contarelli-Kapelle in der Kirche San Luigi dei Francesci in Rom (1602), ist in eroticis deutlich entschärft und zeigt den Engel schwebend über dem Evangelisten. The Poems of Thomas Carew, 71ff. Alle folgenden Zitate beziehen sich auf diese Ausgabe.
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grund der Hartleibigkeit seiner Muse – “His Muse was hard bound”59 –, so erscheint es mehr als verständlich, dass Carew eine Vergangenheit rekonstruiert, wo Kreativität in die Nähe eines sexuellen Höhepunkts rückte, und wo “The flame / Of thy [= Donne’s] soul” Committed holy rapes upon our will Did through the eye the melting heart distil […]. (17–18)
Die erotischen Konnotationen von ‘flame’ (= sexuelle Leidenschaft) und ‘soul’ (= Sperma60) bewusst miteinbeziehend schildert Carew, wie die von Donne poetisch vergewaltigten Dichter – und dies galt auch für einige Angehörige des konkurrierenden ‘tribe of Ben’ – im Moment ihrer Inspiration eine Feminisierung erfahren, die sich nicht zuletzt in Bildern des Verflüssigens und Schmelzens mitteilt.61 Trägt man abermals der in der Physiologie der Liebe seit der Antike nachweisbaren vaginalen Bedeutung des Auges Rechnung,62 so beschreibt der spätere Cavalier den Einfluss Donnes als einen Geschlechtsakt, wobei dem jüngeren Dichter gemäß der Rollenverteilung zwischen dem passiven erastes und dem aktiven eromenos im alten Griechenland der Part des ‘catamite’ zufällt. Vor diesem Hintergrund bekommt die Textpassage, in der Suckling seinen Dichterkollegen mit einem Mundschenk identifiziert – “his Grace / Considered he was well he [= Carew] had a Cup-bearers place”63 – eine ebenso brisante wie subtile Nebenbedeutung: Als Mundschenk Kit Villiers’, des Bruders des notorischen Duke of Buckingham, spielt Carew, aus der Perspektive des spottenden Rivalen, die effeminierte Rolle des Ganymed, der in der traditionellen Ikonografie bald mit Kelch, bald mit
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Z. 39f. The Works of Sir John Suckling: The Non-Dramatic Works, ed. T. Clayton (Oxford: Clarendon P, 1971), 71ff. ‘Soul’ wie auch ‘spirit’ deuten auf die alt überkommene und in der Frühen Neuzeit fest etablierte Auffassung vom pneumatischen Sperma. So beruft sich Crooke auf Epikur und definiert Sperma als “[a] fragment of the Soule and the Body.” Das männliche Ejakulat besteht somit aus zwei Komponenten: “the Excrement of the last Aliment, and Spirits” (Microcosmographia V, 277). Den Augenblick der Ejakulation beschreibt Hoffmannswaldau dementsprechend als ein Ausfließen der Seele: „Und sollte durch die heisse brunst / […] / Mir auch die Seele gleich entfliessen …“ (‚An Lauretten‘ Z.23ff). Es ist vielsagend, dass an dieser Stelle Werner Vortriede in seiner Übersetzung des Epicediums eine lacuna lässt. (Homo-) erotische Implikationen führen somit nicht nur bei Goethe und Schiller, sondern noch bis ins 20. Jahrhundert zu einer Wiederbelebung der Tradition der expurgierten Fassungen. Metaphysische Dichtungen (Frankfurt/M.: Insel, 1961), 5. DSL I, 453f. – Vgl. überdies die Ausführungen zu Crashaws Gedichten, die das vaginale Auge geradezu leitmotivisch thematisieren. ‘[The Wits]’ Z. 35f.
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Köcher als ein androgynes Wesen mit vaginalen bzw. analen Öffnungen dargestellt wird. Bekommt in der bissigen Satire Sucklings die Ganymed-Rolle des Dichters eine durchweg zynische und pejorative Konnotation, so versucht Carew die Feminisierung des Dichters in den positiven Kontext der epideiktischen Rhetorik einzufügen.64 So wird im weiteren Verlauf des poetischen Nachrufs Donne nun weniger als jovialer Schänder denn als vitaler und maskuliner Gärtner und Sämann inszeniert, der zum einen den verwahrlosten Garten der Musen von den trägen Saaten der Imitation säubert und zum anderen der männlichen Dichter-Nachwelt einen Ideenreichtum (“a mine / Of rich and pregnant fancy;” 37f.) hinterlässt, den Carew – in partieller Übereinstimmung mit Cesare Ripas weiblicher ‘Imaginatione’ – als geschwängertes weibliches Wesen allegorisiert. Das in diesem Zusammenhang benutzte Wort ‘mine’ im Sinne einer vaginalen Goldmine, auf das Donne selbst in seiner ursurpierenden Erschließung des weiblichen Körpers, in seiner dis-covery der erotischen Topografie seiner Geliebten zurückgreift,65 weist den betrauerten Dichter als Pionier in doppelter Hinsicht aus: Die traditionelle Rolle der Muse ausschaltend wird er gemäß der etymologischen Bedeutung von husband zum priapistischen Pflüger66 der weiblichen wie auch männlichen „liebes-äcker“ (Hoffmannswaldau), zum Schwängerer der unfruchtbar gewordenen bzw. vaginal noch verschlossenen Phantasie und damit gleichzeitig zum kreativen Schänder einer ganzen Dichtergeneration.
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Eine Absage an den homosexuellen Ganymed-Dichter hatte er mit seinem Maskenspiel Coelum Britannicum verfasst. Wie die wenigen biografischen Quellen zu Carew belegen, ist der Autor in diesem Parade-Genre des früh-klassizistischen public mode nicht frei von Kalkül und dem Streben nach Protektion. Vgl. hierzu Saslow, Ganymed in the Renaissance, 194 und Norbert Lennartz, ‚Thomas Carew‘ Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren, hg. Ansgar Nünning / Eberhard Kreutzer (Stuttgart / Weimar: Metzler, 2002), 96. ‘To his Mistress: Going to Bed’ Z. 29. Der Terminus dis-covery, der die Sprache der Entdeckungsreisen mit der Vorstellung des Entblößens zu einer erotischen Kartografie verbindet, ist Werner von Koppenfels’ Aufsatz ‘Discovering the Female Body. Erotic Exploration in Elizabethan Poetry’ Shakespeare Survey (1994), 127–37 entlehnt. Zur Identität von Phallus und Pflug vgl. neben Aphra Behns Gedicht ‘The Golden Age,’ Z. 31 (Works I, 165ff.) auch Eliade, 298. Wie sehr Donnes Zeitgenossen sich der phallischen Konnotation des Schreibens bewusst waren, zeigt schließlich ein Nachrufgedicht, das in bezug auf Donne von “[t]he Fore-skinne of thy phansie” spricht. Thomas Browne, ‘To the deceased Author,’ zitiert in Ben Saunders, Desiring Donne. Poetry, Sexuality, Interpretation (Cambridge / Mass.: Harvard UP, 2006), 41.
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b. Während Donne in dieser poetischen Hommage konsistent als maskuliner Autor wie auch als (bisexueller) Kolonisator der weiblichen Poesie und ihrer androgynen ‘catamite’-Dichter verehrt wird, scheint er es in seinen eigenen Gedichten – wie bereits zuvor im Kontext seiner Geburtsmetaphorik nachgewiesen – nicht zu vermeiden, auch immer wieder die femininen Komponenten des Mannes zu betonen und in den Holy Sonnets gar die Semantik der Vergewaltigung – und hiermit das barocke Paradoxon von Gewalt und Lust – auf sein lyrisches Ich zu beziehen. In dem – der Grierson-Ausgabe zufolge67 – 14. Sonett seiner Holy Sonnets verzichtet der Sprecher gänzlich auf die sonst so favorisierte Pose des ovidian rapist und bittet seinerseits inständig darum, vom dreifaltigen Gott gezüchtigt zu werden. Dabei wird Gott implizit als zu milde und barmherzig kritisiert, sehnt sich das Ich doch nach einem martialischen und grausamen Schöpfer, der in der Anwendung brachialer Gewalt bald dem alttestamentlichen Jehovah, bald dem wütenden Jupiter tonans der Antike gleicht: Batter my heart, three person’d God; for, you As yet but knocke, breathe, shine, and seeke to mend; That I may rise, and stand, o’erthrow mee; and bend Your force, to breake, blowe, burn and make me new. (1–4)
Das erste Quartett dieses Sonetts thematisiert ein Paradoxon, das deutlich zu den phallozentrischen Inszenierungen der Maskulinität in Widerspruch tritt: Wie in Caravaggios Darstellung der Bekehrung des Hl. Paulus (1601), in der der Apostel und ideologische Wegbereiter des miles christianus auf dem Rücken niedergestreckt und mit gespreizten Beinen das Licht Gottes gleich einer männlichen Danaë empfängt, so bittet auch Donnes Sprecher um eine drastische physische Unterwerfung. Das Ziel dieser – alliterativ unterstrichenen – körperlichen Dekonstruktion (batter, bend, breake, blowe, burn) ist jedoch das diametral Entgegengesetzte: die resurrectio in der Nachfolge Christi – “[t]hat I may rise, and stand …” (3). Wie unmissverständlich in dieser Bestrafungsphantasie vor allem eine homoerotische Komponente zutage tritt, zeigt die hier literarisch umgesetzte Analogie von erectio und resurrectio. Das der christlichen Theologie zugrundeliegende felix culpaPrinzip wird nun sexualisiert, indem der Sprecher das auf den Fall erfol-
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Poetical Works, 299.
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Abb. 2: Caravaggio [Michelangelo Merisi], Conversione di San Paolo. Rom, Santa Maria del Popolo © bpk / Scala.
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gende Sich-Erheben und Stehen auch auf die eigene Potenz und das Erektionsvermögen seines Penis bezieht. Diese dialektische Verknüpfung von Maskulinität und (weiblicher) Opferbereitschaft, von phallischer Dignität (‘stand’) und homoerotischer Passivität (‘o’erthrow mee’) tritt nun im weiteren Verlauf des Sonetts immer wieder in den Hintergrund zugunsten einer zunehmenden Feminisierung des Sprechers. So vergleicht er sich im zweiten Quartett mit einer usurpierten Stadt, die in den Fängen des Feindes der Befreiung vergeblich harrt: I, like an usurpt town, to another due, Labour to admit you – but Oh, to no end! Reason, your viceroy in mee, mee should defend, But is captiv’d, and proves weake or untrue. (5–8)
Die spätere erotische Kartografie Bernard de Mandevilles um Jahrzehnte vorwegnehmend und modifizierend68 bedient sich Donne hier eines Bildkomplexes, der seit dem Mittelalter – mitsamt seinem Wortfeld von Stadttor, Rammbock, Standarte, Graben etc. – einen konstituierenden Bestandteil der konventionellen Liebeskrieg-Ikonografie darstellt: Geradezu innovativ im Sinne des barocken Originalitätsanspruchs ist in diesem Kontext jedoch, dass Donne diese geschlechtsspezifisch fixierte Bildkonstellation – Frau / Stadt versus Mann / Belagerer69 – nun auf das androgyn homoerotische Verhältnis zwischen Sprecher bzw. Dichter und Gott anwendet. Das zuvor noch eindeutig priapistisch sich gebärdende Ich scheint sich nun vollends in einen effeminierten ‘catamite’ transformiert zu haben: Der männlichen Komponente, der ratio, “your viceroy in mee” (7), verlustig gegangen hat sich das seinen weiblichen Eigenschaften überlassene Individuum ganz dem Prinzip der Promiskuität verschrieben. Die im Rückgriff auf die Geburtsmetaphorik geschilderten Bemühungen – “I … / Labour to admit you” (5/6) –, den rechtmäßigen Statthalter des homoerotischen body politic einzulassen, erweisen sich jedoch so lange als uneffektiv, als der Feind Gottes, der Teufel, das urbane Territorium des Geliebten besetzt hält und damit Gott zum homophilen Hahnrei degradiert.
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Siehe hierzu Felicity A. Nussbaum, Torrid Zones. Maternity, Sexuality, and Empire in Eighteenth-Century Narratives (Baltimore: Johns Hopkins UP, 1995), 100f. Vgl. z.B. Shakespeares Rape of Lucrece, wo Tarquin mit seinem “[r]ude ram” die elfenbeinernen Mauern (“an ivory wall”) von Lucrezias Stadt-Körper belagert und zum Einsturz bringt. Z. 464.
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Um der polyvalenten und vor allem gleichgeschlechtlichen Mésalliance zwischen Sprecher und Teufel in diesem sexualisierten Moralitätenspiel nun ein Ende zu bereiten, verlangt der überdrüssige erastes nach der Intervention des göttlichen Liebhabers – oder, wie Richard Rambuss provokativ formuliert, nach einer in der Literatur beispiellosen Form eines “trinitarian gang-bang.”70 Mit dreifacher Kraft möge Gott jenen amor diabolus vernichten und somit jenen “knot” (11),71 jene eheliche wie koitale Verknüpfung zwischen Mensch und Teufel, zerschlagen: “Divorce mee, untie, or breake that knot againe …”(11). Aber erst in den chiastisch angelegten Abschlussversen dieses Gedichts gelingt Donne im Sinne der barocken Ästhetik des Paradoxen und Verblüffenden ein coup de foudre, den Kritiker72 wie Übersetzer in der Folgezeit entweder geflissentlich ignoriert oder zu entschärfen versucht haben. So fleht der Sprecher: Except you enthrall mee, never shall [I] be free, Nor ever chast, except you ravish mee. (13–14)
Bis zum Ende das distanzierende ‘you’ nicht aufhebend charakterisiert der Sprecher sein Verhältnis zu Gott expressis verbis als eine sado-masochistische Sexualbeziehung: Gott möge – so die Wunschprojektion – seinen androgynen Geliebten vergewaltigen und versklaven, um ihn dadurch wieder frei und keusch zu machen. Trägt das in der Übersetzung von Annemarie Schimmel gewählte Reimpaar ‚bedrückst-berückst‘ zu einer Abmilderung jenes intendierten Schockpotentials bei,73 so setzt sich unter dem Einfluss der gay and lesbian studies und ihrer – nicht immer unbedenklichen – Strategie des queering der Geistesgeschichte heute die Lesart durch, die trotz Berücksichtigung der mystischen Ekstase das körperlich Sexuelle und Gewaltsame in der Interaktion von Sprecher / Dichter und Gott betont. 70 71 72
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‘Pleasure and Devotion: The Body of Jesus and Seventeenth-Century Religious Lyric’ Queering the Renaissance, hg. Jonathan Goldberg, 272. DSL II, 768. A. L. Frenchs Aufsatz ‘The Psychopathy of Donne’s Holy Sonnets’ (The Critical Review [1971], 111–24) stellt ein Musterbeispiel für die von Foucault konstatierte „Psychiatrisierung der Sexualität“ dar. Wenn auch eingestehend, dass Donne anderen Dekorumsregeln unterworfen ist, hält French es grundsätzlich für kontradiktorisch und psychisch auffällig, dass jemand um eine Vergewaltigung bittet, 123. John Donne. Nacktes denkendes Herz. Aus seinen poetischen Schriften und Prosawerken (Köln: Hegner, 1969), 114. Auch in Werner von Koppenfels’ Übertragung selektiver Donne-Gedichte (Alchimie der Liebe. Gedichte Zweisprachig [München: Diogenes, 1986], 131) wird das sexuell-masochistische Bedeutungspotential durch die Wendung „tust Du mir nicht Gewalt“ abgeschwächt.
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Das für die Moderne Befremdende des Gedichts liegt zunächst darin, dass Donne zwei später sich widersprechende, allenfalls im Satanismus ex negativo verquickte Diskurse miteinander verschmilzt und somit den vorherrschenden theologischen Text durch den unerwarteten Einbezug seines erotischen contre-texte ergänzt und konterkariert. Überdies resümiert das Sonett in äußerst konzentrierter Form das wechselseitige Verhältnis von Glauben bzw. Inspiration und Vergewaltigung, von Maskulinität und Weiblichkeit, von phallischer Aktivität und homoerotischer Passivität. Im Vergleich zu den zeitgenössischen und durchaus populären ovidian rapes, wie sie sowohl in den zahlreichen Bearbeitungen des Philomelastoffes wie auch in der auf Livius zurückgehenden Legende um Lukrezia in Kunst und Literatur seit dem 16. und 17. Jahrhundert thematisiert werden, erscheint hier die Vergewaltigung als eine erflehte Manifestation des amor divinus. Die sexuelle Transgression, die der ‘catamite’-Dichter unausgesprochen als eine pedicatio erleidet und genießt, steht somit im eklatanten Gegensatz zu der Verstümmelung, die Philomela und ihre Erbinnen in Shakespeares Titus Andronicus und in T. S. Eliots The Waste Land – mal als ein gewaltsames Verstummen, mal als ein stakkatohaftes “‘Jug, Jug’ to dirty ears”74 – erfahren. Während Philomelas Vergewaltigung mit Sprachlosigkeit und physischer Reduktion einhergeht,75 ist sie bei Donne – als ‘holy rape’ verstanden – die Ursache für rhetorische Eloquenz und die Vervollkommnung des Dichters zu einem androgynen und totalen Wesen, das sowohl zu empfangen als auch zu zeugen vermag. Der Dichter des Barock übersetzt somit die zu den Exordialtopoi gehörende Inspirationsformel in eine sinnliche und homoerotisch gefärbte Körpersprache, und damit unterscheidet er sich von jenen Autoren des Fin de Siècle, die wie Francis Thompson und Lionel Johnson die inspirative Nähe Gottes als einen lastenden Fluch, als eine schuldbeladene homoerotische Begegnung beschreiben. c. Ein abschließender Blick auf Thomas Trahernes Gedicht ‘Love’ gibt Aufschluss über die Explizität, mit der im Gegensatz zum dekadenten Dichter der spätbarocke Sprecher die inspirative Liebe Gottes physisch gou-
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The Waste Land II, ‘A Game of Chess’ Z. 103; V ‘The Fire Sermon’ Z. 203ff. Collected Poems, 66 und 71. Durch die Korrelation von Zunge (lingua) und Phallus (lingam) lässt sich die Verstümmelung der Philomela auch als eine Kastration bzw. genitalische Sektion verstehen. Vgl. Manfred Lurker, Wörterbuch der Symbolik (Stuttgart: Kröner, 1991), 856f.
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tiert. Der süße Strom der Liebe – “so Sweet a Stream” (23)76 – bekommt nicht nur durch seine Korrelierung mit Nektar eine erotisch-sinnliche Konnotation; er wird in der dritten Strophe sogar mit jenem spermatischen Goldstrom gleichgesetzt, in dessen Gestalt Jupiter Danaë geschwängert hat: And Jove beyond the Fiction doth appear Once more in Golden Rain to come. To Danae’s Pleasing Fruitfull Womb. (28–30)
Im Nachvollzug dieses Zeugungs- und Beischlafmythos fällt dem nunmehr vollends effeminierten Dichter die Rolle der permissiven Danaë zu,77 die sich im erzwungenen private mode ihres Turmverlieses für den goldenen Sperma-Regen empfänglich zeigt und trotz aller äußeren Widrigkeiten die Fruchtbarkeit ihres Uterus einzusetzen weiß. In dem vexatorischen Spiel mit den Geschlechterkategorien, das im Fin de Siècle und seiner von Degenerationslehren geprägten scientia sexualis als eine „konträre Sexualempfindung“ diffamiert wird,78 inszeniert sich der Sprecher bereits in der nächsten Zeile als Gottes Ganymed (“his Ganimed;”31), wobei die Gemeinsamkeit der beiden mythologischen Figuren in deren sexueller Passivität zu finden ist. Das Verlangen, Gottes ‘catamite’-Liebhaber zu sein und als sein “Boy” (33) und Mundschenk ihm auch in erotischer Hinsicht zu Willen zu sein, erweist sich gemäß dem Ineffabilitätstopos als unausdrückbar: “Too Weak and feeble Pictures to Express / The true Mysterious Depths of Blessedness”(38). In Ermangelung anderer und gewagterer Wendungen und Bildformulierungen beschließt Traherne das Gedicht mit einer – besonders in der letzten Zeile ausgeprägten – asyndetischen Reihung, in der der Dichter, nicht ohne Selbstvertrauen und einem übersteigerten Maß an erotischem self-fashioning, seine Nähe zu Gott resümierend zum Ausdruck bringt:
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Centuries, Poems, and Thanksgivings, 167f. Alle nachfolgenden Zeilenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Auf einer weiteren Bedeutungsebene kommt dem Dichter sogar die Rolle einer (Tempel-) Prostituierten zu: In der Überlagerung der erotischen und ökonomisch-kapitalistischen Diskurse jener Zeit stellt Danaë oft eine Prostituierte dar, die sich nach dem Geschlechtsakt reichlich entlohnen lässt: “Houlde wyde thy lap, my lonelie Danae, / And entretaine the golden shoure so free / That trilling falles into thy treasurie” (Nashe, Choise of Valentine III, 411). Auf verschiedenen Bilddarstellungen von Tizian bis Tintoretto wird ihr eine vetula beigesellt, die mit laszivem Grinsen die Münzen in ihrer Schürze einsammelt. Richard von Krafft-Ebing, Psychopathia Sexualis (1884), mit Beiträgen von Georges Bataille u.a. (München: Matthes und Seitz, 1984), 234.
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I am his Image, and his Friend. His Son, Bride, Glory, Temple, End. (39–40)
Ebenso erstaunlich wie die Selbst-Inszenierung des Sprechers als Gottes telos (“End”) mutet auch der Kontrast an, der in der unvermittelten Juxtaposition von ‘Son’ und ‘Bride’ entsteht: Entgegen allen modernen szientifischen Regeln besteht der Dichter vor dem Aufkeimen der romantischen Bekenntnislyrik aus einem Konglomerat von Masken, Geschlechtern und Sexualitäten, die es ihm erlauben, sich sowohl als die Braut des Hohelieds als auch auf einer anagogischen Sinnebene als erotische ecclesia (“Temple”) darzustellen. So wie bei Donne aus dem notorischen Verführer und roué der Elegien plötzlich das urbane Territorium eines weiblichen Körpers wird, so verwandelt sich Trahernes persona im Verlauf von nur wenigen Verszeilen zu einer Danaë, zu einem homoerotischen Epheben, zu einem hermaphroditischen Ebenbild Gottes, das wie sein Schöpfer Weibliches und Männliches, Aktives und Passives, Homo- und Heterosexuelles in sich konzeptistisch vereinigt. Es ist schließlich der Verlust dieses vielschichtigen Konzeptismus seit dem Ende des Barockzeitalters, der letztlich verantwortlich ist für die Ausprägung jener Homophobie, wie sie sich, insbesondere im Spätviktorianismus, in der ambivalenten, das Barock konterkarierenden Ausgestaltung des von Gott verfolgten und bedrohten poète maudit bei Francis Thompson und anderen paradigmatisch niederschlagen sollte.
5. Exkurs I: Horror amoris divini als Inspirationsquelle bei Francis Thompson und anderen In einer Zeit, in der Havelock Ellis von der Homosexualität als Inversion spricht79 und sowohl Wilde als auch Thomas Mann die homoerotische Initiation als einen Teufelspakt respective als einen descensus ad inferos gestalten,80 steht das intime Liebesverhältnis zwischen Gott und Dichter gleichermaßen unter dem Signum des Anrüchigen und Abnormen. 79 80
Studies in the Psychology of Sex (New York: Random House, 1937), I, 4. Gustav von Aschenbachs Weg in die Homosexualität ist begleitet von zahlreichen Todesinkarnationen und Psychagogos-Gestalten, die mit gekreuzten Beinen und freigelegtem Gebiss an Hadesfiguren und Totenköpfe erinnern. Auch Dorian Grays Erfahrungen mit der Homoerotik ist eine Höllenfahrt, die ihn in Kap. 16 mit brennenden Hochöfen und “monstrous marionettes” konfrontiert. Das Londoner East End wird somit zu einer Höllenstadt, das Treiben in den Bordellen und Opiumhöhlen zu einem Hexensabbath. Dorian Gray, 152.
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a. Während Donnes Sprecher sich bereitwillig mit der effeminierten Rolle des promiskuitiven ‘catamite’ identifiziert und – wie später die Hl. Teresa bei Crashaw und Bernini – sich der sexuellen Aggression Gottes passioniert aussetzt, stellt Thompson seine erotische Liebe zu Gott als eine Hetzjagd, als eine erfolglose Flucht vor einem gigantischen ‘hound of heaven’81 dar. Um dessen bedrohliche Unfassbarkeit zu steigern, tritt der göttliche Widersacher und Verfolger im Verlauf des ganzen Gedichts nur in fragmentarischer Form, bald als Füße – “those strong feet” (9)82 –, bald als mahnende Stimme auf. Während Hildegard Feinendegen allzu apodiktisch behauptet, dass bei Thompson „die Gottesliebe immer idealisiert und losgelöst vom Körper betrachtet“ werde,83 stellt allein das berühmteste seiner Gedichte den klaren Gegenbeweis dar: Trotz Thompsons Sympathie für Coventry Patmores Mystizismus ist sein amor divinus ein unmissverständlich homoerotisches und in seiner Körperlichkeit nahezu erdrückendes Phänomen, das es zunächst, im Gegensatz zum Barock, in einer rastlosen Reise durch Zeit, Raum und die Abgründe der Seele zu fliehen gilt. Somit setzt das Gedicht mit der Emphase einer dreifachen anaphorischen Satzkonstruktion ein, die die paradoxe Flucht vor dem “tremendous Lover” (32) zum Programm erklärt: I fled Him, down the nights and down the days; I fled Him, down the arches of the years; I fled Him, down the labyrinthine ways Of my own mind … (1–4)
Doch alle irdischen und heterosexuellen paradis artificiels – “many a hearted casement, curtained red” (17) – erweisen sich vor der göttlichen Allmacht des fordernden Geliebten als illusionär: But, if one little casement parted wide, The gust of His approach would clash it to [.] (22–23)
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Das OED (VII, 432, Absatz 3) verweist bei dem Eintrag zu ‘hound’ auf die aus der Antike überlieferte Wendung ‘hound of hell,’ mit der der Höllenhund Zerberus gemeint ist. Vor diesem Hintergrund bekommt die homoerotisch gefärbte Liebe zu Gott sogar eine diabolische Konnotation. Zitate und Zeilenangaben folgen der Ausgabe The Poems of Francis Thompson (London: Oxford UP, 1946), 99ff. Zur erotischen Konnotation des Fußes siehe im Zusammenhang mit Crashaws ‘The Weeper’ Kap. III, 3. Dekadenz und Katholizismus. Konversion in der englischen Literatur des Fin de siècle (Paderborn: Schöningh, 2002), 106f.
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Nachdem der Sprecher, im Bewusstsein seiner Verfemtheit (“outlawwise;” 16), alle Refugien verschlossen vorfindet und selbst an den Brüsten der Natur keine Linderung seiner Tantalus-Qualen erfährt – “Never did any milk of hers once bless / My thirsting mouth” (103f.) –, fügt er sich schließlich in die Unausweichlichkeit der erotischen Begegnung mit Gott. Erst in der geschilderten Gewalt, mit der Gott seinen auserwählten ‘catamite’ züchtigt und die auch vor der Verstümmelung des Geliebten nicht mehr Halt zu machen scheint (“My mangled youth lies dead beneath the heap;” 121), zeigt das Gedicht eine Affinität zu Donnes Sonett. Der trügerischen ahasverischen Bewegungsfreiheit plötzlich beraubt erwartet nun das lyrische Ich das Theophanie-Erlebnis, das trotz oder gerade wegen seiner martialischen Grausamkeit eine sinnliche und homoerotische Bedeutung hat.84 Wie Donnes als Stadt personifiziertes Ich setzt sich auch Thompsons Sprecher in absoluter Passivität und überdies gänzlich entblößt der phallischen Offensive Gottes aus: Naked I wait Thy love’s uplifted stroke! My harness piece by piece Thou hast hewn from me, And smitten me to my knee; I am defenceless utterly. (111–14)
Thompsons Darstellung der völligen physischen Unterwerfung, der am Ende ein tentativer dialektischer Sinn zugeschrieben wird, paraphrasiert letztlich den Prozess eines sowohl homoerotischen als auch religiösen coming-out. Nach langen Ausflüchten und Maskeraden ist nun der Augenblick der schmerzhaften göttlichen Penetration (“Thy love’s uplifted stroke!”) gekommen; in vollkommener Schutzlosigkeit sieht der Sprecher – trotz poetischer Anleihen bei Herberts ‘The Collar’ und zahlreicher anderer intertextueller Täuschungsmanöver –, dass alle sorgsam gehegten psychologischen Panzerkleider (“harness”) und auch zuvor erwünschten kosmischen Camouflagen (“young skiey blossoms;” 31) sich vor dem (erigierten) phallischen Schwert Gottes als untauglich erweisen. Während Donnes androgyne persona immer wieder versucht, durch die vaginale-anale Öffnung des Stadt-Körpers Gottes Penetration zu ermöglichen (“[I] Labour to admit you”), um somit das Liebes-Joch seines Widersachers zu brechen, folgt Thompsons religiöses wie auch sexuelles Erwachen auf einen Zustand des Schlafes und der Lethargie: 84
Während Brigid Boardman in ihrer Biografie zu Thompson (Between Heaven and Charing Cross [New Haven / London: Yale UP, 1988]) den erotischen Aspekt gänzlich ausspart, geht Beverly Taylor nur kurz auf diese Bedeutungsebene ein, siehe Francis Thompson (Boston: Twayne, 1987), 29ff.
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I slept, methinks, and wake, And, slowly gazing, find me stripped in sleep. (115–16)
Die transgressive Liebe Gottes zu seinem Geschöpf bzw. Dichter ist jedoch nur in bedingtem Maße inspirativ und befreiend. Dort, wo Donne die Einkerkerung durch Gott als Entgrenzung zu sehen vermag, bleibt bei Thompson der Eindruck des Bedrückenden und Restriktiven bestehen. So fragt sich der Sprecher, ob die diktatorische Liebe jenes ‘hound of heaven’ letztlich nicht nur vampiristisches Unkraut sei, das den übrigen Blumen die Lebensgrundlage entzieht – “A weed, albeit an amaranthine weed, / Suffering no flowers except its own to mount” (131f.); und auch in den letzten Zeilen des Gedichts deutet die Zuordnung der liebkosenden Hand Gottes zu dem dominierenden Wortfeld des Schattens und der Depression (“gloom;” 178) eher auf die Fortsetzung der Versklavung und Verfolgung.85 Bis zuletzt beharrt Thompson somit auf einem Existenzund Dichterverständnis, das mit der barocken Vorstellung der inspirativen Insemination nur schwer in Einklang zu bringen ist. b. Im Rückgriff auf die Gebäudemetaphorik scheinen Lionel Johnsons ‘Visions’ (1892/93)86 prima facie der Gedankenwelt der Donneschen Holy Sonnets näher zu stehen als Thompsons paranoides Gedicht einer Treibjagd, die zuweilen an die Ausweglosigkeit der Protagonisten in Godwins Caleb Williams und anderen Gothic novels erinnert.87 Im Kokon der düsteren Melancholie verhaftet (“Each in his proper gloom;”1) lebt jedes Individuum in der solipsistischen Isolation seines existentiellen Gebäudes, in das die Sünde sich – wie Donnes usurpatorischer Teufel – eingenistet hat: O miracle of sin! That makes itself an home, So utter black within, Thither Light cannot come! (13–16) 85
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Lothar Hönnighausen sieht am Ende des Gedichts eine positive Kehrtwende. Der Schatten des deus malignus werde schließlich als das Dunkel der ausgestreckten, liebenden Hand begriffen (Präraphaeliten und Fin de Siècle. Symbolistische Tendenzen in der englischen Spätromantik [München: Fink, 1971], 333). Durch die Frageformel wird dieser Ansatz jedoch merklich in Zweifel gezogen. The Complete Poems of Lionel Johnson, hg. Iain Fletcher (London: Unicorn P, 1953), 76. Die sexuell motivierte Jagd auf eine weibliche Opfergestalt durch einen übermächtigen oder sadistischen Tyrannen ist seit Richardsons Pamela (1740) ein wesentlicher Bestandteil der Schauerliteratur, und besonders in Matthew G. Lewis’ The Monk (1796) und Horace Walpoles The Castle of Otranto (1760) ausgeprägt.
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Die in dem Seelengebäude vorherrschende Finsternis ist nicht nur gegenüber dem Licht Gottes undurchdringlich; jenes mächtige aedificium des Hasses (“O mighty house of hate!”; 17) erscheint auch so befestigt, dass die Liebe sich keinen Zutritt zu verschaffen vermag: Stablished and guarded so, Love cannot pass the gate, Even to dull its woe! (18–20)
Erst im Vergleich mit Donnes Sonett entfaltet sich sukzessive der homoerotische Subtext des Gedichts: Durch Sünde und Hass versiegelt widersetzt sich der Sprecher jeder Penetration; doch trotz dieses erotikfeindlichen Belagerungszustandes gelingt es ihm – wie auch Donnes Sprecher –, an den göttlichen Liebhaber gerichtete Botschaften gleichsam Kassiber herauszuschmuggeln. Während Thompsons persona nur im Schlaf von seinem Harnisch des Widerstands befreit werden kann, bittet Johnsons lyrisches Ich um die gewaltsame Intervention Christi: Now, Christ compassionate! Now, bruise me with thy rod: Lest I be mine own fate, And kill the Love of God. (21–24)
Das Verlangen des Sprechers nach der Verletzung durch die (phallische) Rute Christi (“rod”) bekommt vor allem vor dem Hintergrund des im Fin de Siècle grassierenden Flagellantismus, jenes englischen Lasters (le vice anglais), eine besondere Nuance. Im Einklang mit dieser sowohl homoerotischen als auch masochistischen Gottesliebe erfolgt auf das Inferno der irdischen Existenz im zweiten Teil das visionär geschaute Purgatorium, in dem die Seelen sich einer mystischen Algolagnie hingeben: An diesem Ort ‚glücklicher Schmerzen‘ – “O place of happy pains” (25) – delektieren sich die Seelen an “sweet fires” (28) und “ardent agonies” (34). Unterlegt man der triadischen Struktur dieses Gedichts die Vorstellung einer dialektischen Progression, so manifestiert sich die Synthese darin, dass der Sprecher im dritten Teil, nach der Überwindung des irdischen Leidens – “earth’s ordeal done” (45) – sein höchstes Ziel in der Versklavung durch Christus sieht: “I crave […] / But to be Christ’s poor slave” (55f.). Während Thompson bis zuletzt sein homoerotisches Verhältnis zu Gott skeptizistisch in Frage stellt, fügt sich Johnsons persona bereitwillig und mit erotischer Schmerzenslust in ihre Rolle als Gottes Liebesmärtyrer und ‘catamite.’ Die Tatsache jedoch, dass es sich bei diesen drei 78
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separaten und zu unterschiedlichen Zeiten verfassten Gedichtteilen um Visionen, um halluzinatorische Erlebnisse und Traumgesichte handelt, relativiert nicht nur den Gehalt der Verse, sondern überführt ferner die Chiffren der Homoerotik und des inspirativen Masochismus in den Bereich des Okkulten und Unwirklichen. c. Daher bleibt zu konstatieren, dass im 19. Jahrhundert die Erfahrung der transgressiven Gottesliebe nur unter Vorbehalten thematisiert wird: Entweder kleidet sie sich in die Form einer existentiellen Bedrohung, oder sie wird im Kontext einer Dantesken Traumvision durch intertextuelle Bezüge zensiert. In diesem Prozess der Zurückdrängung und Sublimierung der homoerotischen Komponente verliert der Dichter seine bei Donne noch deutlich nachweisbare androgyne Totalität: Weder Thompson noch Johnson rekurrieren auf den Topos des schwangeren Dichters; als reduktionistische Epigonen des frühneuzeitlichen ‘catamite’-Dichters verfügen sie in ihrer aussschließlichen Passivität selbst nicht mehr über jene “sanglante mamelle,”88 die Alfred de Musset im Rückgriff auf das Mythologem eines weiblichen Pelikan-Christus wie auch auf das Konzept der romantischen Androgynität für sich noch in Anspruch nimmt. Zwar gehört das Hermaphroditische zu den Leitmotiven des symbolistischen und dekadenten Denkens, wovon nicht nur Werke von Gautier, Dowson, Solomon oder Burne-Jones zeugen;89 doch gerade die Überblendung der Geschlechter verweist in der décadence immer wieder auf eine platonisch motivierte Körperskepsis, oder, wie die insistente Wiederkehr der grotesken und geschlechtslosen Fötus-Gestalten in Beardsleys Zeichnungen nahelegt, auf eine abortive, alle Totalitätskonzepte ad absurdum führende Anti-Erotik. Tiresias in Eliots The Waste Land, “old man with wrinkled dugs,”90 ist schließlich die missgestaltete Ausgeburt dieses gescheiterten Hermaphroditismus, und nicht zuletzt in seiner Reduktion auf einen ohnmächtigen Voyeur auch die bittere Parodie auf den frühneuzeitlichen Dichter als zeugendes und gebärendes Wesen.
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‘La Nuit de Mai’ Z. 170. Premières Poésies / Poésies nouvelles, hg. Patrick Berthier (Paris: Gallimard, 1976), 242ff. Alan Richardson geht in seinem Aufsatz ‘Romanticism and the Colonization of the Feminine’ (Romanticism and Feminism, hg. Anne K. Mellor [Indianapolis: Indiana UP, 1988], 19) auf diesen Aspekt ein, ohne jedoch an die Traditionen des androgynen Dichters im Barock anzuknüpfen. Siehe hierzu auch Feinendegen, 107ff. The Waste Land III ‘The Fire Sermon’ Z. 228.
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Wird im Fin de Siècle wie auch im Modernismus des Waste Land die homosexuell akzentuierte Androgynität bald nur noch als erotisches l’art pour l’art, bald als Manifestation einer jenseits des Männlichen und Weiblichen aufgefassten Dekadenz eingestuft, so kommt nun den zahllosen homophilen Künstlern und Poeten des späten 19. Jahrhunderts in ihrem misogynen Verzicht auf die weibliche Gebär- und Ausdruckskraft nur noch die Rolle einer ästhetizistischen oder monströsen Kuriosität zu. An die Stelle der barocken ‘holy rapes,’ die in dem Uterus der männlichen Phantasie eine prokreative Fülle zu hinterlassen pflegten, treten nun die ‘sterile ecstasies’91 der dekadenten Stil-Retorten und des modernen Sprachikonoklasmus.
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Joseph Bristow, ‘“Sterile Ecstasies”: The Perversity of the Decadent Movement’ Essays on Criticism (1985), 65–88.
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III. Erotische Theophanien 1. Der bisexuelle Christus. Über ein kontroverses Leitmotiv im erotischen Diskurs des Barock Das androgyne Selbstverständnis des Dichters, der allem Anspruch auf Männlichkeit zum Trotz immer wieder in die Rolle der sponsa Dei bzw. des homoerotischen ‘catamite’ schlüpft und darum bittet, von Gott geschändet und penetriert zu werden, setzt in theologischer Hinsicht ein Gottesbild voraus, das den menschlichen Aspekt hinter dem Abstraktum der Dreifaltigkeit betont. Durch die Gegenreformation gefördert und in der auf Meditation abzielenden Literatur und Kunst allenthalben visualisiert setzt das Barock die Menschwerdung Christi mit einer Erotisierung des Gottessohnes gleich.1 Im Gegensatz sowohl zum theologischen Diskurs der mittelalterlichen Patristik als auch zur kalvinistischen Gottesauffassung2 entwickeln die Metaphysicals in ihrer Funktion als Dichter und Geistliche eine erotisierte Theologie, in der aus Christus, dem einst entpersonalisierten filius Dei und ohnmächtigen wie abjekten3 Opfer vä-
1
Auch Giles Fletcher der Jüngere, trotz seiner protestantischen Gesinnung und Ausbildung in Cambridge, beschreibt die Menschwerdung Christi in seinem Epos Christ’s Victorie and Triumph als eine sowohl mystische als auch körperlich erotische Vereinigung zwischen Gott und Mensch wie zwischen Himmel und Erde: How God and Man did both embrace each other Met in one person, Heau’n and Earth did kiss […] Descended from the bosome of the High […]
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(Christ’s Victorie in Heaven, 2, 1–2/6) The Poems of Giles Fletcher, hg. Alexander Grosart (London: Nisbet, 1868), 91. Deborah Kuller Shuger verweist in ihrer Studie The Renaissance Bible. Scholarship, Sacrifice and Subjectivity (Los Angeles / London: U California P, 1994) auf die kalvinistische Inszenierung Gottes als strafender Vater wie auch auf die Kreuzigung “as a desexualized version (if such a thing is possible) of the oedipal agon,” 108. Shuger bedient sich hier der Terminologie Julia Kristevas in deren Studie Pouvoirs de l’horreur (1980) und bezieht das ‚Abjekte‘ auf Christus, 114. Dabei zeigt sich, dass das, was Kristeva unter dem Begriff der ‘abjection’ zusammenfasst (Tränen, Urin, Kot, Spei-
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terlichen Zorns, nun ein homo eroticus Michelangelesker Prägung geworden ist, dessen ambivalente Geschlechtlichkeit und erotische Faszination aus der Perspektive verschiedener homo- wie auch heterosexueller personae gespiegelt wird. a. So ist es abermals Donne, der in der religiösen Dichtung neue Wege beschreitet, wenn er in dem Gedicht ‘A Hymne to Christ, at the Authors last going into Germany’4 auf die Konventionen der säkularen Liebesdichtung zurückgreift, um sein amourös-erotisches Verhältnis zu Christus in allen seinen Nuancen von Zuneigung und Eifersucht zu beschreiben. Erscheint in den Holy Sonnets der Gott der Dreifaltigkeit noch in der Pose eines martialischen Liebeskriegers und erotischen Züchtigers, so entsteht hier nun aus der autobiografisch gefärbten Perspektive des Sprechers ein Bild von Christus, das prima facie der inhaltlichen Tradition des Petrarkismus verpflichtet zu sein scheint. Wie die unzähligen kapriziösen donne crudele der Sonettzyklen, die von ihren in der de-profundis-Haltung verharrenden Liebhabern bedingungslose Lehenstreue einfordern, so scheint auch Christus in seinem Liebesverlangen von despotischem Egozentrismus bestimmt zu sein: Nor thou nor thy religion dost controule, The amorousnesse of an harmonious Soule, But thou would’st have that love thy selfe … (17–19)
Wie sehr die Verknüpfung von erotischem und theologischem Diskurs die Lesegewohnheiten des Publikums auf die Probe stellt, zeigen dann im folgenden jene Zeilen, in denen der menschgewordene Christus vordergründig als allzu menschlich erscheint. Steht er zunächst in seiner Eifersucht dem irdischen Geliebten in nichts nach, so muss er sich zugleich Vorhaltungen der Indifferenz und Kälte gefallen lassen: […] As thou Art jealous; Lord, so I am jealous now, Thou lov’st not, till from loving more, thou free My soule […] (19–22)
Sowohl der Sprecher / Autor als auch sein geschlechtlich ambivalenter Christus-Geliebter konterkarieren die inzwischen zu Formalismen er-
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chel, Schleim und Sekrete jeder Art), in der Frühen Neuzeit nicht tabuisiert und im Barock sogar (partiell) erotisiert wird. Poetical Works, 321f.
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starrten Topoi der petrarkistischen Liebesdichtung.5 Zum einen handelt es sich bei dem Adressaten – ähnlich wie bei Shakespeares hermaphroditischer “master-mistress” im 20. Sonett6 – nicht um eine dem Schönheitskatalog entsprechende donna angelicata, sondern um einen androgyn imaginierten Christus, wie er in den verschiedenartigen Gemälden der Barockkünstler – vor allem bei Bernardo Strozzi und Annibale Carracci – mit alabasterfarbenem Inkarnat visualisiert wird; zum anderen insistiert der Sprecher im Gegensatz zu den demütigen Liebhabern im Petrarkismus sogar auf Verständnis für seine anderen Liaisons. Somit sieht sich Christus, anders als in der von Shakespeare imaginierten ménage à quatre, gar mit vielen Rivalen konfrontiert, die er als paradoxen Beweis der ihm entgegengebrachten Liebe akzeptieren muss: O, if thou car’st not whom I love Alas, thou lov’st not mee. (23–24)
Auch Crashaw bedient sich dieses im Rahmen der sacred parody so favorisierten Themas der erotischen Rivalität. In seiner ‘Ode to a Prayerbook’ ist der sponsus divinus zunächst nur ein Bewerber unter vielen in der Gunst der in ihrer Konversion noch zögerlichen Adressatin. Während Yvor Winters behauptet, das Sexuelle sei für die Erfahrung des Religiösen irrelevant und fördere nichts als Konfusion,7 zögern die Metaphysicals nicht, Gott bzw. Christus mit allen positiven wie negativen Attributen eines erotisch begehrenswerten Menschen auszustatten. Dabei kommt es im Kontext eines verbal ausgetragenen Liebes- oder Ehekriegs zumeist erst im zweiten Teil zu einer Versöhnung oder gar Annäherung zwischen den Liebenden, die vor dem Hintergrund politischer wie religiöser Umwälzungen zwar nicht “star-crossed,”8 aber doch stets widrigen Verhältnissen ausgesetzt sind. So auch bei Donne: Erst in der vierten Strophe dieser eigentümlich barocken ‚monologischen Zwiesprache‘ mit dem Geliebten und eifersüchtig attackierten Christus erklärt das lyrische Ich sich bereit, seiner jugendlichen Promiskuität endgültig abzuschwören und seine Liebe nur auf Gott konzentrieren zu wollen. Zurückgreifend auf den semantischen 5 6 7 8
Vgl. hierzu Donald L. Guss, John Donne. Petrarchist. Italianate Conceits and Love Theory in The Songs and Sonets (Detroit: Wayne State UP, 1966). Z.2. Shakespeare’s Sonnets (The Arden Shakespeare), hg. Katherine Duncan-Jones (London: Thomson Learning, 2006), 151. Zitiert nach R. V. Young, Richard Crashaw and the Spanish Golden Age (New Haven / London: Yale UP, 1982), 26. Romeo and Juliet, Prolog Z. 6. (The Arden Shakespeare), hg. Brian Gibbons (London: Methuen, 1983), 81.
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Bereich der Hochzeit und der Ehe bezeichnet es die in der Jugend umworbenen Ziele wie “Fame, Wit, Hopes” als falsche Mätressen und Bettgenossinnen – “false mistresses” (28) –, auf die es seine partialisierte und abgeschwächte Liebe verschwendet hat. Daher fordert der Sprecher nachdrücklich den androgynen göttlichen sponsus auf, seinen Zustand der Polygamie zu beenden, die Scheidung von den zahllosen oberflächlichen Partnern der Jugend zu besiegeln – “Seale then this bill of my Divorce to All” (25) –, um dann die ebenso diffusen wie auch phallischen Liebesstrahlen (“those fainter beams of love;” 26) im ehelichen Vollzug zu bündeln: “Marry those loves, which in youth scattered bee …” (27). Im Unterschied zu den mit der Gattung der Pro- und Epithalamien verbundenen Hochzeitsbräuchen ist die hier evozierte mystisch-erotische Vereinigung des Individuums mit Gott kein öffentlich zelebriertes Ereignis. Spielte sich – trotz Duerrs grundsätzlichem Zweifel an öffentlich zelebrierten Intimitäten – das säkulare Hochzeitsritual weitgehend vor den Augen der sozialen Gemeinschaft ab,9 so ist es eine Besonderheit des Barockdichters, dass er sich nun in ein privates Refugium zurückzieht, um dort seine homoerotisch gefärbte unio mystica mit Christus in Analogie zum sakralen Beischlaf mit der Geliebten zu vollziehen. Der dabei in die Position des privilegierten Voyeurs10 gedrängte Leser vermag lediglich aus der Distanz zu bezeugen, wie radikal und endgültig dieser private mode ist, insbesondere wenn der Dichter in Donnes Hymne bereit ist, für seine Leidenschaft zu Gott seine Heimat “[a]nd all whom I lov’d there and who lov’d mee” (10) zu opfern. Wie der Lebenssaft der Vegetation im Winter sich in die Wurzeln zurückzieht, so gibt der Dichter in einem elaborierten Vergleich die Absicht kund, am Ende seines Lebens (“in my winter;” 14) sich dorthin zu begeben, wo er in völliger Abgeschiedenheit sich mit seinem Geliebten vereinigen kann: Where none but thee, th’Eternal root Of true Love I may know. (15–16; Hervorhebung NL) 9
10
Nacktheit und Scham, 303. Dass die Scham bzw. die Peinlichkeitsschwelle in der Frühen Neuzeit anders definiert wird, zeigen vor allem auch solche Bräuche wie das öffentliche Brautbad, das im Beisein der gesamten Hochzeitsgesellschaft veranstaltet wird. Vgl. Walter Hartinger, Religion und Brauch (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992), 157ff. Voyeurismus im religiösen und erotischen Sinne ist auch ein bevorzugtes Thema in der bildenden Kunst. Nicht nur der Susanna- sondern auch der Aktaeon-Stoff wird im Barock mehrfach bearbeitet. Auch dem intimen, geradezu koitalen Kontakt zwischen Christus und dem Hl. Thomas in den Gemälden Strozzis und Caravaggios wohnen interessierte Zuschauer aus der Distanz bei.
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Diese erotisch konnotierte Sehnsucht nach dem Tod, wie sie nicht nur bei Donne, sondern im Barock allenthalben zu finden ist und in der Literatur der Romantik weiterwirkt, ist im Gegensatz zur Erotisierung des Todes im Fin de Siècle, jener “seductiveness of dissolution,” wie sie Jonathan Dollimore für Conrad und Thomas Mann konstatiert,11 nicht nur eine besondere Form des private mode, sondern vor allem eine barocke Variante des Liebestodes. Da in bezug auf Crashaws Teresa-Gedicht die barocke Erotik des Todes detaillierter analysiert wird, bleibt an dieser Stelle lediglich zu konstatieren: Der dekadente und säkularisierte (Liebes-) Tod stellt als Ausdruck eines existentiellen Überdrusses eine lustvolle Rückkehr zur Materie dar, wobei der suizidale Aspekt von zentraler Bedeutung ist; hinter der barocken Todeserotik, wie sie Donne und andere Barockdichter in stets neuen Variationen thematisieren, steht das Verlangen nach einer erotisch imaginierten Vereinigung mit Gott. Sie ist somit eine Umschreibung für die orgasmische Vermählung mit dem himmlischen Bräutigam, für die allenthalben gesuchte erotische Theophanie, wobei ‘root’ – trotz oder gerade wegen ihrer homophonen Affinität zu ‘rood’ (= Kreuz) – eine durchaus genitalische Zusatzbedeutung trägt,12 die durch das biblisch konnotierte Wort ‘to know’ (= erkennen) noch zusätzlich hervorgehoben wird. Das Erkennen der radix vera amoris stellt für den Barockdichter stets eine mystische wie auch sexuelle Erfahrung dar. Durch die Reformation seiner religiösen communio beraubt wie auch nach dem Zusammenbruch des alten geozentrischen Weltbildes seiner Geborgenheit verlustig gegangen findet das Individuum des 17. Jahrhunderts in einem privaten und oft befremdlich intimen Dialog mit Gott einen Weg, dem späteren horror vacui zu entrinnen. Literaturhistoriker wie Anthony Low versuchen überdies, diese eigentümlich barocke Korrespondenz von amor eroticus und amor divinus (wie auch ihre Desintegration) vor dem Hintergrund der veränderten politischen und ökonomischen Situation – “the alienation produced by large-scale industrialization and a market economy” – zu interpretieren.13 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die unverhohlene Erotisierung Christi im Barock Teil einer geistesgeschichtlichen Entwicklung ist, die bereits 11 12
13
Death, Desire and Loss in Western Culture (London: Penguin, 1998), 146. DSL III, 1168f. Auch Partridge verweist in seinem Standardwerk zum erotischen Wortspiel Shakespeare’s Bawdy (hg. Stanley Wells [London / New York: Routledge, 2001], 228) auf die Bedeutung von ‘root’ als penis erectus und greift hier zurück auf Shakespeares Pericles IV, v, 86f. Vgl. hierzu The Reinvention of Love. Poetry, Politics and Culture from Sidney to Milton. (Cambridge: Cambridge UP, 1993), 49.
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in der mittelalterlichen Sexualisierung der Marterinstrumente beginnt und in den koitalen Vereinigungs- und Vermählungsmeditationen bei Crashaw und anderen Dichtern kulminiert. Somit handelt es sich um eine paneuropäisch wirkende ikonografische und semantische Tendenz, deren Sog sich selbst eine protestantische Autorin wie Catharina Regina von Greiffenberg ebenso wenig entziehen kann14 wie der kalvinistische Agitator Francis Rous, der 1631 in dem The Mysticall Marriage betitelten Traktat schreibt:15 There is a chamber within us and a bed of love within that chamber wherein Christ meets and rests with the soule.
Trotz aller Ent-Erotisierungstendenzen seitens der Kalvinisten16 setzt sich auch hier das Bild eines Liebesgemachs durch, wo Christus in einem Bett sich mit der Seele des Menschen koital vereinigt. Donnes Rechtfertigung des säkularen Liebesdiskurses für die theologische Sprache gilt somit über die Konfessionsgrenzen hinaus und ist wesentlicher Bestandteil des religiösen Denkens im 17. Jahrhundert. b. Wie fest hierbei die Vorstellung von Christus als einem homo eroticus in der Imagination des Barock verankert ist, lässt sich des Weiteren paradigmatisch in den mystizistischen Gedichten Crashaws wie auch in den Gemälden von Francisco Ribalta, Bernardo Strozzi, Caravaggio oder El Greco ablesen.17 Dass hierbei die seit dem 18. Jahrhundert etablierten Geschlechterkategorien und binären Oppositionen sich abermals als unzulänglich und problematisch erweisen, zeigt sich vor allem darin, dass je nach der gewählten Perspektive der poetischen persona bzw. des Bildprotagonisten der erotisch imaginierte oder intim adressierte Christus bald 14
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16 17
Wie sehr der Protestantismus die barocke Erotisierung Christi übernommen hat, zeigt u.a. Greiffenberg in einem Sonett, in dem sie ihre „sichtbar Greif-Begier“ nach dem Körper Christi mit ihrem „Küß-Verlangen“ rechtfertigt. Gedichte, hg. Hubert Gersch (Berlin: Henssel, 1964), 65. – Zum weiteren Kontext vgl. Burkhard Dohm, Poetische Alchimie. Öffnung zur Sinnlichkeit in der Hohelied- und Bibeldichtung von der protestantischen Barockmystik bis zum Pietismus (Tübingen: Niemeyer, 2000), 19ff. Zitiert nach Low, 96. Auch Richard Rambuss weist auf die von Rous betonte “spirituall concupiscence” hin, die die Sexualisierung des Sakralen auch im Kalvinismus hinlänglich belegt. Closet Devotions (Durham / London: Duke UP, 1998), 1. Shuger, 108. Die Nähe Crashaws zu Malern der Gegenreformation unterstreicht auch Mario Praz in seinem Aufsatz ‘The Flaming Heart: Richard Crashaw and the Baroque’ Essays on Crashaw, Machiavelli and Other Studies in the Relations between Italian and English Literature from Chaucer to T. S. Eliot (New York: Doubleday, 1958).
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mit heterosexuellen, bald mit homoerotischen und oft mit androgynen Assoziationen versehen wird. Nur vor diesem – für die Moderne irritierenden – Hintergrund lässt sich das Christus-Bild der Barockdichter und -maler genauer bestimmen und die geschlechtliche Ambivalenz Christi wie auch die seines unmittelbaren Kontrahenten, des Teufels,18 bewerten. Dieser Aspekt wird häufig marginalisiert, wenn im Kontext der gender studies Christus im Denken der Frühen Neuzeit ausschließlich zu einer Muttergottheit umgeformt und ein Dichter wie Crashaw als ein proto-feministischer Autor und Vorläufer der Cixous’schen écriture féminine neu entdeckt wird.19 Dabei wird übersehen, dass im Barock nicht nur eine modern antagonistische Geschlechterzuweisung unbekannt ist, sondern dass im Sinne einer spielerischen “transgressiveness” bzw. eines “courting of liminal experience”20 die maskulinen strong lines oft durch weiblich konnotierte Bildinhalte ergänzt und parodiert werden. Während in ‘The Weeper’ und in den Teresa-Gedichten Crashaw sich weiblicher personae bedient, um Christus als einen betont männlichen und phallisch penetrierenden Liebhaber und Bräutigam zu inszenieren, rekurriert er in den (lange verpönten) Kreuzigungs- und Passionsgedichten wie ‘On Our Crucified Lord Naked, and Bloody’ und ‘On the Bleeding Wounds of Our Crucified Lord’ auf eine ikonografische Tradition, die seit dem Mittelalter den Körper Christi in seiner femininen Offenheit und Penetrierbarkeit abbildet. Gemäß der von Rambuss konstatierten “spectacularization of the body that is penetrable and penetrated,”21 sehen insbesondere die gay studies in ihrem Bestreben, die Literatur unter dem Blickwinkel der Homosexualität neu zu kartieren, in den Metaphysicals, und vornehmlich in Crashaw, extravagante Außenseiter, die sich den öffentlich sanktionierten Dekorumsregeln der geistlichen
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Zur “ambisexuality of the devil” siehe Karl Siegfried Guthke, The Gender of Death. A Cultural History in Art and Literature (Cambridge: Cambridge UP, 1999), 127. Hélène Cixous’ Theorem eines weiblichen Schreibens, das in seinem prä-linguistischen und unbewussten Potential sich von der geschlossenen Form des männlichen Schreibens und der phallozentrischen Ordnung abhebt, lässt sich sowohl an Crashaw als auch an vielen anderen Autoren der Frühen Neuzeit belegen. Dennoch versteht sich die écriture féminine des Barock nicht ausschließlich als ein ‚somatisches Schreiben,‘ sondern zeigt, dass durch das zerebrale Element der Wortspiele und theologischen Verweise eine Verschmelzung von (männlicher) Logik und weiblicher Körper-Sprache jenseits binärer Gegensätze möglich ist. Susannah B. Mintz, ‘“Forget the Hee and Shee”: Gender and Play in John Donne’ Modern Philology (2001), 577–603; 580 und 594. Rambuss, 26.
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Versdichtung in der Renaissance und im Barock widersetzen und Christus ausschließlich mit homoerotischen Attributen versehen. Dabei wird jedoch nur unzureichend in Betracht gezogen, dass die von ihnen vorausgesetzte Polarität zwischen homosexuell und heterosexuell, zwischen feminin und maskulin sich noch nicht in jener Intensität ausgeprägt hat, wie sie die Moderne charakterisiert, und Christus nur allzu selten exklusiv männlich imaginiert wird. In Konkurrenz zur Vorstellung eines one sex model und der damit verbundenen Verabsolutierung des männlichen Geschlechts22 scheint sich in den Bildern von Christus eine – noch bei Novalis propagierte23 – Verschmelzung von Weiblichem und Männlichem zu vollziehen, die alle Versuche, Christus für ein Geschlecht einzunehmen, scheitern lässt. Die diesbezüglich nach dem modernen Ausschließlichkeitspostulat ausgefochtene – und im folgenden in gebührender Kürze skizzierte – Kontroverse zwischen Caroline Walker Bynum und Leo Steinberg macht, wie im Fall Elias versus Duerr, somit die Grenzen einer präjudizierten Kultur- und Geisteswissenschaft erneut augenfällig. In seiner 1996 erweiterten Studie The Sexuality of Christ in Renaissance Art and Modern Oblivion24 argumentiert Steinberg, dass zur Illustration der Menschwerdung Christi die Künstler der Renaissance in Analogie zur kanonischen ostentatio vulnerum den Topos der ostentatio genitalium hervorgebracht haben. Anhand einer überwältigenden Vielzahl von Beispielen tritt Steinberg den Beweis an, dass der inkarnierte Gottessohn in der Vorstellungswelt der Frühen Neuzeit nur ein männliches Wesen sein kann, denn in der Darstellung sowohl seiner Geburt als auch seines Todes versuchen die Künstler, das Paradoxon von Christi Allmacht und Verletzbarkeit durch seinen Phallus zu veranschaulichen. Während der
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Während im Rückgriff auf Galen und andere spätantike Autoritäten Helkiah Crooke das Ein-Geschlecht-Modell bekräftigt und die Geschlechtsteile der Frau als nach innen gestülpte männliche Geschlechtsorgane deklariert – wobei der Klitoris die Funktion des Penis zugeordnet wird: “it is called the womans yard” (Microcosmographia IV, Kap. 17, 238) –, betont die Forschungsliteratur in der Folge von Laqueur noch zu wenig, dass die Dichter immer wieder die engen Grenzen (pseudo-) wissenschaftlicher Faktizität durchbrechen. Wie die Satzstruktur in der letzten Strophe der Hymnen an die Nacht nahelegt – „Hinunter zu der süßen Braut, / Zu Jesus, dem Geliebten“ (VI, 25f.) – vermischt sich in der mystisch-erotischen Ekstase die Sehnsucht nach der verstorbenen Geliebten mit der nach Christus. Das Versenken „in des Vaters Schoß“ in der letzten Zeile bringt die sexuelle Ambivalenz Gottes nochmals auf den Punkt. (Chicago / London: U Chicago P, 1996). Die Kontroverse mit Caroline Walker Bynum ist in der Neuauflage dokumentiert.
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beschnittene Penis des Jesusknaben – nach Steinberg – ein Zeichen der Selbsterniedrigung und der Opferbereitschaft Christi darstellt, das mit der aggressiven Maskulinität des phallischen Dionysos kontrastiert, inszenieren die vielen Kreuzigungs- und Grablegungsszenen Christus in all seiner priapistischen und eschatologischen Potenz.25 Der Triumph Christi über die Sterilität des Todes findet Ausdruck in einem, wie Steinberg es formuliert, “genital vigour,”26 der gemäß der Entsprechung von resurrectio und erectio in zweifacher Hinsicht bildkünstlerisch übersetzt wird: Während Lucas Cranach in seinem Gemälde Die Heilige Dreifaltigkeit (ca. 1515–18) das Erektionsmotiv äußerst explizit darstellt, indem er dem aufgeschürzten Lendentuch des Gekreuzigten eine unzweifelhaft phallische Form gibt, rekurriert er mit Malern wie Wolf Huber, Albrecht Dürer und Hans Baldung Grien auf das Bildelement der “wings of excess,”27 das aus dem ursprünglich spärlichen perizonium eine opulent geknotete und wehende Draperie macht. Der Eindruck, der dadurch entsteht, ist nicht nur der einer unzulänglich kaschierten Erektion, sondern überdies der einer reichlich verströmenden Ejakulation – ein Aspekt, den Steinberg nicht in Betracht zieht, obgleich das von Christus reichlich vergossene Blut, jener “blood hyphen,”28 der allen Gravitätsregeln zum Trotz die Seitenwunde mit dem beschnittenen Penis symbolisch verbindet, häufig eine prokreative Bedeutung hat. Das von Steinberg rekonstruierte, in der Moderne in Vergessenheit geratene Bild eines ithyphallischen Christus, dessen Geschlecht nicht nur im Motiv der Anbetung der Drei Heiligen Könige dargeboten, inspiziert und manipuliert wird, ist kein Tabuthema, das, wie Hans Belting glaubt, „die Lust auf Skandale fördert;“29 vielmehr steht es im Einklang mit der generellen ostentatio genitalium des Renaissancemenschen, wie sie nicht zuletzt in der selbstbewussten Inszenierung der männlichen Potenz
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Steinberg, 47f. Ebd., 301. Diese ‚genitale Vitalität‘ bezüglich der Wiederauferstehung lässt sich auch in der Oster-Predigt von 1616 bei Lancelot Andrewes nachweisen. Allerdings wird bei ihm die resurrectio als eine Regeneration im wortursprünglichen Sinne und weniger als eine erectio verstanden: “And, these two, Resurrection, and regeneration match well. […] For, then was Christ himselfe regenerate (as it were) begotten in a sort anew, and brought forth out of the grave, as out of the wombe, the very wombe, wherein He was borne to the immortall, that is, to the true life” Sermons, hg. G. M. Story (Oxford: Clarendon P, 1967), 182. Ebd., 199f. Ebd., 168ff. Hans Belting, Das Echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen (München: Beck, 2005), 109.
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durch die Schamkapsel, jenes „hypertrophen Gebildes“30 der Frühen Neuzeit, gesellschaftlich gebilligt wurde. Die Epiphanie Gottes wird somit – und dies beweist nicht zuletzt Rubens’ athletischer, an Michelangelo orientierter wiederauferstandener Christus – zu einer ‚Phallophanie,‘ zu einer Apotheose der göttlichen Potenz, die, wie im Anschluss an Steinberg Alexandre Leupin zu beweisen vermag, bis zu den Kreuzigungstafeln des Mittelalters zurückreicht.31 c. Diesem durch eine Vielzahl von Beispielen untermauerten phallischen und maskulinen Christus-Bild stellt Bynum ihre Auffassung eines mütterlichen und nährenden Christus entgegen.32 Zurückgreifend auf die Metaphorik des Zisterziensermönchs Bernhard von Clairvaux, der, wie in Alonso Canos Gemälde San Bernardo y la Virgen (Madrid, Prado) nachdrücklich dargestellt, im Wunder der Laktation die Muttermilch Marias empfängt, versucht Bynum zu dokumentieren, in welchem Ausmaß sich die Vorstellung eines weiblichen Erlösers etablieren konnte. So wird zum einen Christus in Bernhards Predigten und Traktaten über das Hohelied die ursprünglich Maria zugewiesene Rolle der virgo lactans übertragen – eine Bildtradition, die insbesondere seit dem Physiologus in die Symbolik des Pelikans eingegangen ist, der als Sinnbild für Christi Opfertod sich mit dem Schnabel die Brust aufreißt und mit dem Blut seine Jungen nährt. Zum anderen wird in vielen anderen Schriftzeugnissen seine Seitenwunde sowohl mit der Vagina als auch mit dem Uterus oder anderen vaginalen Einbuchtungen33 in Verbindung gebracht. Die
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Duerr, Obszönität und Gewalt. Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. (Frankfurt, M.: Suhrkamp, 1993), 205. – Die Schamkapsel als Indikator einer phallischen Euphorie zeigt sich sowohl in Breughels Darstellungen von Bauerntänzen als auch in Portraits von Fürsten und Königen. Tizians Bildnis Karls V. mit einer Dogge (ca. 1532–33, Madrid, Prado) zeigt die ostentatio genitalium der Frühen Neuzeit exemplarisch: Die Schamkapsel steht im Zentrum der Komposition; Petschaft und Schwert unterstreichen zusätzlich die phallische Symbolik des Gemäldes. Phallophanies. La chair et le sacré (Paris: Editions du Regard, 2000). Leupin vermag nachzuweisen, wie in der Darstellung der Bauchmuskulatur des Gekreuzigten eine Erektion chiffriert wird. In Mantegnas Kreuzigung (Paris, Musée du Louvre) lässt sich diese Form der ‚phallophanie‘ besonders deutlich nachweisen. Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. (Berkeley, L. A. / London: U California P, 1982). So spricht Robert Southwell in dem Gedicht ‘Man to the Wound in Christ’s Side’ von Christi Wunde als “this bowre” (11) und “this sacred cave” (26). Poems from Mœniæ, 72f. The Poems of Robert Southwell S. J., hg. James H. McDonald / Nancy Pollard Brown (Oxford: Oxford UP, 1967). Während der Alkoven im Rückgriff auf Spensers
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erotischen Koitus-Metaphern, die im Hohelied auf die als hortus conclusus imaginierte Geliebte angewendet werden,34 werden nun auf den weiblich personifizierten Christus bezogen. Zur Bekräftigung ihrer These führt Bynum Wilhelm von Thierry an, der in Anlehnung an den 5. Vers des Hohelieds in allegoretischer Sprache sowohl um die Öffnung der vaginalen Seitenwunde als auch um die Erlaubnis zur Penetration des göttlichen Körpers bittet: Open to us your body’s side, that those who long to see the secrets of your Son may enter in, and many receive the sacraments that flow therefrom, […]35
Obgleich Bynum sich in ihrer Argumentation auf das Mittelalter beschränkt, so findet die von ihr konstatierte Feminisierung der religiösen Sprache seit dem 12. Jahrhundert36 auch in der bildenden Kunst bis zum Barock zahlreiche Entsprechungen: Nicht nur in einem Gemälde des Kölner Meisters der Heiligen Sippe zeigt sich die feminine Komponente Christi, wenn die Seitenwunde explizit mit Marias entblößter Brust in Verbindung gesetzt wird, auch in dem Katalog zu der im Jahr 2000 in der Londoner National Gallery veranstalteten Ausstellung Seeing Salvation findet sich unter einer Vielzahl von Beispielen eine aus dem 15. Jahrhundert stammende florentinische Christusfigur aus Terrakotta, die ihre vaginale Seitenwunde mit beiden Händen offenhält und den Betrachter – analog zum Hl. Thomas – zur Penetration einlädt. Auch ein auf das späte 17. Jahrhundert datiertes Gebets- und Meditationsblatt zeigt in zwei Versionen die vom Körper losgelöste Seitenwunde Christi mit deutlichen Anspielungen sowohl an ein weinendes Auge37 als auch an eine mit blutigen Tropfen benetzte Vagina. Der die Mitte des Blattes einnehmende und als Synekdoche für die arma passionis fungierende Nagel hat nicht nur die Form eines erigierten Penis; auch das die Meditationsobjekte begleitende Gebet an den „gütigen Pelikan“ lässt keinen Zweifel daran, dass
34
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‘bower of bliss’ nur indirekt eine genitale Bedeutung beinhaltet, ist die Höhle eine gängige Umschreibung für die Vagina in der Frühen Neuzeit, vgl. DSL I, 221f. Hohelied, 5, 1: “I am come into my garden, my sister, my spouse: I have gathered my myrrh with my spice; I have eaten my honeycomb with my honey” Authorized Version, 762. Zitiert nach Bynum, 87. Bynum, 135. Vgl. hierzu Crashaws metaphorische Identifizierung von Auge und Vagina in ‘The Weeper’ und anderen Gedichten.
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die „honigfließende Wunde,“38 die Christus hat „empfangen“ müssen, letztlich nur auf eine gewaltsame Penetration des phallischen Nagels, auf einen schmerzlichen Liebesakt, zurückzuführen ist. Die seit dem Mittelalter belegte und in der Literatur und Kunst des Barock allenthalben vorgenommene Ästhetisierung und Erotisierung der Wunden Christi auf eine „infantilisierte Wahrnehmungsform“ oder gar auf eine Freudsche Traumverschiebung zu reduzieren,39 wird der Komplexität der Thematik ebenso wenig gerecht wie Bynums Strategie, die Koitus- und Vermählungsvisionen der mittelalterlichen Mystik gänzlich zu ent-erotisieren. In bezug auf die mystische Hochzeit der Katharina von Siena, die in ihrem Zustand der Ekstase nicht nur einen Ring aus dem beschnittenen Präputium Christi zu erhalten glaubt,40 sondern auch das Blut aus dessen Seitenwunde in oralerotischer Verzückung trinkt, warnt Bynum sogar vor einer erotischen und somit anachronistischen Auslegung.41 Ohne hinzuweisen auf die Vorstellung von der Eucharistie als einem Liebesmahl (agape) zwischen Christus und seiner Gemeinde, als einer erotisch sensuellen theophagia, in der ganz im Sinne der späteren Gegenreformation der wiederauferstandene Gottessohn geschmeckt und gefühlt werden kann, plädiert Bynum für eine Akzentverlagerung in der Exegese mystischer Texte, für eine Abkehr von der erotischen zugunsten einer rein spirituellen Deutung. Nicht nur hält sie die auf Schmerz und Leid basierende Vereinigung mit Christus für “extremely unerotic;”42 auch die Tatsache, dass Christus weiblich imaginiert werde, aber im Kontext der Katharina-Legende “a piece of flesh” sei “that one puts on oneself or sinks into,”43 stehe einer erotischen, auf die Hochzeitsikonografie des Hohelieds zurückgehenden Interpretation deutlich im Wege. Mit Bynum artikuliert sich somit eine Forschungsrichtung in der Christologie, die das Bild von Christus als homo eroticus zunehmend in Zweifel zieht, 38
39 40 41 42 43
In der Verbindung von Honig und Wunde wird im Englischen die vaginale Bedeutung mehr als offenkundig. Im Englischen hat Honig überdies auch die Bedeutung von Sperma vgl. DSL, II, 675f., wohingegen Johann von Besser in seinem Schoßgedicht (‚Ruhestatt der Liebe / oder die Schooss der Geliebten‘) die Vagina als einen Ort identifiziert, „[w]o die ergötzligkeit von milch und honig rinnt“ Z. 75. Zitiert nach Die Entdeckung der Wollust, 53ff. Elisabeth von Samsonow, ‚Die verrutschte Vulva. Entwurf einer neuen Organtheorie‘ Körperteile: Eine kulturelle Anatomie, 356. Viele Barockgemälde widmen sich diesem Sujet, obgleich die Beschaffenheit des Rings nicht deutlich wird. Vgl. die Werke von Parmigianino, Fetti, Rubens, Vouet u.a. Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women. (Berkeley, L. A. / London: U California P, 1987), 165ff. Ebd. 178. Ebd.,
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bald eine Abkehr von der sensualistischen Deutung der Menschwerdung Christi propagiert und bald die These vertritt, dass es bei der Darstellung der Genitalien Christi nur um die Codierung der „Unschuld der Sexualität“ gehe.44
2. Christus im Zeichen karnevalesker Anthropologie In ihrer Skepsis gegenüber einer erotischen Mystik, die mit Steinbergs Genitalisierung kaum in Einklang zu bringen ist, setzt Bynum die im 19. Jahrhundert einsetzende Tendenz zur Enterotisierung sakraler Vorgänge fort. Appliziert auf die Literatur und Kunst des Barock, und hier im speziellen auf die Gedichte Crashaws, erweisen sich Steinbergs wie auch Bynums monoperspektivische Forschungsergebnisse als ebenso nützlich wie auch verwirrend. Eine genaue, nach dem Prinzip der ‚wechselseitigen Erhellung der Künste‘ vorgenommene Untersuchung der Gedichte der Metaphysicals wie auch der Barockkunst macht im folgenden evident, dass Christus im Denken der Frühen Neuzeit stets ein komplexes hermaphroditisch angelegtes Wesen ist, das sowohl spirituelle als auch erotische, hetero- als auch homosexuelle Deutungen zulässt. Hier manifestiert sich ein Phänomen, das bald durch die Umdeutung und Entmythologisierung Christi zu einem Sozialisten und „Prediger der kleinen Leute“ im 19. Jahrhundert,45 bald durch die Verniedlichung Christi zu einem geschlechtslosen Jesukind in den Hintergrund gedrängt wird.46 Doch nicht nur die Erotisierung und die geschlechtliche Ambivalenz Christi stoßen mit dem Beginn der Moderne auf Unverständnis. Geradezu als Affront für das moderne Ästhetikempfinden in der Folge Winckelmanns und Lessings wird es aufgefasst, dass der barocke Christus überdies – im Gegensatz zu den formvollendeten und geschlossenen Figuren der Antike – ein eminent groteskes und karnevaleskes Wesen 44 45
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Belting, 111. Friedrich Nietzsche, Also Sprach Zarathustra IV, ‚Vom höheren Menschen,‘ 5. Werke in drei Bänden, hg. Karl Schlechta (München: Hanser, 1994), II, 524. Siehe auch Hans Hinterhäuser, Fin de Siècle. Gestalten und Mythen (München: Fink, 1977), 14 und Helmut Scheuer, ‚Zur Christus-Figur in der Literatur um 1900‘ Fin de Siècle. Zur Literatur und Kunst der Jahrhundertwende, hg. Roger Bauer et al. (Frankfurt/M.: Klostermann, 1977), 381. Die Negierung in bezug auf den Körper Christi setzt laut Rambuss bereits mit Milton ein, 134. Bereits vor Franz Xaver Grubers Lied ‚Stille Nacht, heilige Nacht‘ hat sich in den Gemälden von Januarius Zick das kitschige Klischee von Christus als langhaarigem, aber körperlosem Knaben vollends durchgesetzt.
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darstellt: Perforiert, in Strömen Sekrete absondernd, mit klaffender vaginaler Seitenwunde und vorgestülptem phallischen Lendentuch verfügt der Körper Christi mit seiner Vielzahl von taediogenen Zonen über alle Parameter, die der modernen „Callipädie,“ der „Eugenik des Schönen“47 zuwiderlaufen, Samuel Johnsons Aversion gegenüber Amplifikationen48 schüren und Michèle Roberts’ Behauptung – “There are bodily processes the Christian religious tradition would find it impossible to let us think of as sacred: bodies that retch, leak, menstruate, piss and shit, vomit, come ecstatically […]” – partiell modifizieren.49 a. Die Auffassung Christi als erotisches und groteskes Paradoxon, in dem Penis und vaginale Seitenwunde, Muttermilch und Sperma miteinander verbunden sind, liegt auf geradezu paradigmatische Weise einem 4-zeiligen Epigramm zugrunde, dessen Titel ‘Blessed be the Paps which Thou hast Sucked’ Crashaw einem Vers aus dem Lukas-Evangelium (11,27) entlehnt. Dieses Gedicht, das neben ‘The Weeper’ als Crashaws Paradebeispiel für schlechten Geschmack und dessen Haut-Goût des Abstoßenden angesehen wird,50 entspringt einer typisch barocken und konzeptistischen Denkweise, die sowohl Herders Ekel vor Körpersekreten und Brustwarzen als auch Gullivers Brobdingnag-Trauma nicht kennt.51 Die Frau, die im Lukas-Evangelium die Brüste und die Gebärmutter Marias lobpreist, wird in den ersten beiden Zeilen zur hypothetischen Mutter deklariert: 47
48 49 50
51
Vgl. hierzu Menninghaus, 81. Am Beispiel von Lessings Laokoon: Oder über die Grenzen der Malerei und Poesie und Winckelmanns Geschichte des Altertums zeigt Menninghaus, wie sich im 18. Jahrhundert die „klassisch-ästhetische Codierung des Körpers“ durchsetzt und alle Vorstülpungen und Einbuchtungen, die die grotesk-karnevalesken Körper der Frühen Neuzeit ausmachen, Ekelreaktionen hervorrufen. “Their amplification had no limits.” ‘Cowley’ Lives of the English Poets I, 21. ‘The Flesh Made Word’ Food, Sex and God. On Inspiration and Writing (London: Virago, 1998), 37. Robert Martin Adams, ‘Bad Taste in Metaphysical Poetry: Richard Crashaw and Dylan Thomas’ Seventeenth-Century English Poetry: Modern Essays in Criticism, hg. William Keast (London / New York: Oxford UP, 1962), 271. In seiner Studie Plastik (Werke. Schriften zu Philosophie, Literatur, Kunst und Altertum 1774–1787, hg. Jürgen Brummack / Martin Bollacher [Frankfurt/M.: DKV, 1994]) differenziert Herder zwischen einer ästhetischen (und männlichen) Brust und einem von Ausstülpungen charakterisierten Busen: „Dem Weibe gab die Natur nicht Brust sondern Busen“ (293). Unter Berufung auf Gullivers Ekel beim Anblick der Brüste der Brobdingnag-Frauen definiert er die schiere Größe wie auch die „spitzigen“ und „großen“ Warzen als einen Verstoß gegen die Regeln der Invisibilisierung aller Öffnungen und Auswüchse. Siehe auch Menninghaus, 106ff.
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Suppose he had been Tabled at thy Teates, Thy hunger feeles not what he eates […] (1–2)
Die – als Pendant zum Phallus-Kult fungierende – barocke Inszenierung der laktierenden Brüste und ihrer erhobenen Warzen, jener “Two sisterSeas of virgins Milke,” wie sie Crashaw in seiner Weihnachtshymne beschrieben hat,52 wird nicht nur hier gebrochen durch die Inkompatibilität des Wortes ‘Tabled.’53 An die Stelle des Bildes von der weiblichen Brust als Refugium der Geborgenheit tritt nun die Metapher von der Brust als table d’ hôte, an der ein puer senex seine Mahlzeit einnimmt. Der hier angewandte Kunstgriff der Prolepse dient Crashaw dazu, das Säugen des Jesuskindes mit dem Abendmahl typologisch zu verbinden. Die beiden letzten Zeilen, die den baldigen Rollentausch von Mutter und Sohn, von Gast und Gastgeberin thematisieren, unterstreichen ferner Crashaws Technik der Antizipation und der komplexen Überlagerung der Zeitebenen: Hee’l have his Teat e’er long (a bloody one) The Mother then must suck the Son. (3–4)
Der im Kind antizipierte Gekreuzigte erfährt entsprechend der emblematischen Vorstellung von Christus als Pelikan eine Metamorphose zur Mutterfigur, die mit ihrer zur Brust transformierten Wunde die Menschheit stillt. Dieser Befund, der zunächst Bynums These vom mütterlichen Christus unterstützt, wird jedoch ergänzt durch das (paradoxe) Faktum, dass der noch kindliche Pelikan-Christus seine männliche Komponente nicht einbüßt. Bereits William Empson hat in seiner Darstellung der Seven Types of Ambiguity darauf hingewiesen, dass in Crashaws Epigramm Christus als “a monstrous hermaphroditic deity”54 begriffen werden muss, und dass der Opfergedanke in die Nähe sexueller Perversionen und Absonderlichkeiten wie “incest, infantile pleasures, and cannibalism”55 gerückt erscheint. Diese aus der Tradition der Psychopathia Sexualis sich herleitende Kritik an Crashaw entbehrt jedoch nicht des sprachlichen Sensoriums, um die spätere Einsicht von Richard Rambuss 52 53
54 55
‘A Hymne of the Nativity, sung by the Shepherds’ Z. 61. Poems, 106ff. In ‘The Himn, O Gloriosa Domina’ entwickelt Crashaw das Pardoxon von Christus als dem Gastgeber der ganzen Welt, der als Gast sich an der Brust Marias labt: “The whole world’s host would be thy guest / And board himself at thy rich Brest” Z. 7–8. Poems, 302f. (London: Chatto and Windus, 1949), 221. Ebd.
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vorwegzunehmen, dass die Brust des Gekreuzigten (“Teat”) sowohl nährend als auch phallisch beschaffen ist.56 Vor diesem Hintergrund bekommt die letzte Zeile – “The Mother then must suck the Son” – eine neue, das Verhältnis von Christus und Maria stark erotisierende Bedeutung: In diesem mehrschichtigen Paradoxon stillt der Sohn in Abwandlung der römischen Vorstellung der caritas nicht nur seine Mutter; ihr Trinken an seiner (phallischen) Brust wird ebenso – wie Empson in pejorativer Diktion darstellt – zu einem inzestuösen Liebesakt, zu einer mystisch-sinnlichen Fellatio. Die post-freudianische Literaturkritik des 20. Jahrhunderts wird angesichts der hier von Crashaw vorgenommenen Invertierung der Mutter-Sohn-Beziehung nicht müde, dem Autor ödipale Krisen und Mutter-Inzest-Phantasien zu attestieren.57 Obgleich der von Mario Praz beanstandete Mangel an stilistischer Maskulinität (“florid divagations and […] description of tender and delicate emotion”)58 heute positiv bewertet wird und zu einer Neuakzentuierung in der Crashaw-Philologie führt, versucht die sowohl biographistische als auch psychoanalytische Literaturwissenschaft immer wieder, Crashaw zu einem psychotischen Exempel zu machen. Seine erotischen und oft sado-masochistischen Christus- und Maria-Interpretationen werden daher bald mit seinem Aufbegehren gegen den puritanischen Vater, William Crashaw, bald, wie im Fall von Susannah B. Mintz,59 mit insistenten Rachegelüsten gegen den dominanten mütterlichen Körper in Verbindung gebracht. Deutungsversuche wie diese verkennen jedoch die Tatsache, dass Crashaws erotisierte Theologie-Auffassung nicht so sehr individualpsychologisch motiviert, sondern vielmehr einer kulturhistorischen Gegenreaktion auf den Puritanismus zuzuordnen ist, die in William Lauds Forderung nach expliziten und physischen Bildeinkleidungen für das Sakrale ihre ideologische Legitimation findet. Überdies zeigen Gemälde wie die von Francisco Ribalta, wie sehr das – in der Moderne als kannibalisch konnotierte – Trinken an Christi vaginaler bzw. phallischer Seitenwunde mit all seinen oralerotischen Assoziationen sich als Bildtopos für die 56 57 58
59
Rambuss, 263. – Die Erektionsfähigkeit der Brustwarzen führt zu ihrer phallischen Nebenbedeutung. Vera J. Camden, ‘Richard Crashaw’s Poetry: The Imagery of Bleeding Wounds’ American Imago (1983), 261. The Flaming Heart, 245. Zu einem Überblick der Crashaw-Forschung vgl. Lorraine M. Roberts / John R. Roberts, ‘Crashavian Criticism. A Brief Interpretative History’ New Perspectives on the Life and Art of Richard Crashaw, hg. John R. Roberts (Columbia / London: U Missouri P, 1990), 1–29. ‘The Crashavian Mother’ Studies in English Literature 1500–1900 (1999), 114.
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Abb. 3: Francisco Ribalta, Abrazo de San Francisco de Asis al Crucificado. Valencia, Museu de Belles Arts © Museu de Belles Arts, Valencia.
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agape etabliert hat. In zwei kompositorisch ähnlichen Bildern führt der spanische Maler – gemäß dem für die Meditation postulierten Prinzip des ante oculos ponere – die sinnliche Christusliebe des Hl. Franziskus bzw. des Hl. Bernhard vor Augen. Während der Hl. Bernhard lediglich in einer verzückten Umarmung mit Christus dargestellt wird, geht Ribalta in seinem Franziskus-Gemälde noch einen entscheidenden Schritt weiter, indem er den Heiligen seine Lippen – gleichsam als (homo-) erotischen Vollzug der unio mystica – an die Blut verströmende Seitenwunde Christi führen lässt. Dass dieser mystische Geschlechtsakt überdies ein typisches Beispiel für die barocke Algolagnie ist, wird allein darin evident, dass Christus mit seiner rechten blutigen und perforierten Hand im Begriff ist, Franziskus seine Dornenkrone aufzusetzen. Diese unmittelbar bevorstehende Penetration durch die Dornenkrone60 entspricht der Stigmatisierung des Hl. Franziskus, die – neben der Durchbohrung des Hl. Sebastian, oder der Perforierung Christi durch den Finger des Hl. Thomas – zum festen Bildkanon der erotisch theologischen Barockkunst gehört. b. Das an die Erotisierung gekoppelte Thema der Algolagnie wie auch das zur Sprache des Karnevalesken gehörende Motiv des oralerotischen Trinkens an den offenen Wunden Christi stehen auch im Zentrum von Crashaws 11-teiligem Gedicht ‘Santa Maria Dolorum or The Mother of Sorrows.’ Dem Untertitel zufolge als ‘A patheticall descant upon the deuout Plainsong of Stabat Mater Dolorosa’ konzipiert zeigt das Gedicht bereits in den ersten Strophen, worin dieser pathetische discantus,61 dieser Gegengesang bzw. Kontrapunkt zu Jacopo da Todis ursprünglicher und oft vertonter Textfassung besteht. Im Unterschied zum spätmittelalterlichen Originaltext des Italieners begnügt sich Crashaws Bearbeitung nicht mehr mit dem bloßen Konstatieren des Schmerzes und der Tränen; seine Maria ist nicht mehr nur eine in Trauer erstarrte mater dolorosa, sondern zugleich – und in diesem Tenor wird sie bereits in Aemilia Lanyers religiösem Gedicht Salve Deus Rex Judaeorum (1611) inszeniert62 – auch die 60 61 62
Zur phallischen Konnotation des Dorns siehe DSL III, 1382. Ithyphallische Dornauszieher an romanischen Kirchen werden überdies von Weir und Jerman (97) erwähnt. OED IV, 507: Neben der Erstbedeutung “A melodious accompaniment to a simple musical theme” wird unter 6. angegeben: “Variation from what is typical or customary.” Z. 1087f. “Making thee Servant, Mother, Wife, and Nurse / To Heavens bright King, that freed us from the curse.” Salve Deus Rex Judaeorum. Renaissance Women Poets, hg. Danielle Clarke (Harmondsworth: Penguin, 2000), 203ff.
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Braut, Geliebte und Leidensgenossin ihres himmlischen Sohnes und Liebhabers. Im Zuge der durch Lauds Rekatholisierung ermöglichten Marienverehrung, die in Hawkins’ jesuitischem Garten-Emblembuch Partheneia Sacra (1633) sich ebenso wie in Anthony Staffords The Female Glory (1635) Ausdruck verschafft, charakterisiert Crashaw Maria mit dem verblüffenden Epitheton “turtle-dove.”63 Dies verbindet sie einerseits mit der als Taube symbolisierten Geliebten im Hohelied, andererseits wird sie ikonografisch in die Nähe der Liebesgöttin Venus gerückt. Die in dieser Überblendung von alttestamentarischer und antiker Bildlichkeit erreichte erotische Aufwertung Marias stellt insofern einen Affront gegen die patriarchalische Theologieauffassung der Kalvinisten dar, als sie nicht nur zu einer ebenbürtigen Teilhaberin an der Passion Christi, sondern zugleich zu einer erotischen Gegeninstanz zu der männlich dominierten Trinität avanciert. Im Schatten des Kreuzes alleine stehend, ohne die zur Passionsikonografie gehörenden Figuren wie Johannes, Maria Magdalena oder Joseph von Arimathäa, tritt sie – ganz im Sinne des barocken private mode – in eine intime und geradezu sado-masochistische Zwiesprache mit Christus, in einen wortlosen und vom Tod diktierten Liebesdiskurs – “This book of loues, thus writ / In Lines of death …” (53f.) –, an dem der Sprecher inbrünstig bittet, partizipieren zu dürfen. Wie sehr sich Christus und Maria im Schmerz symbiotisch vereinigen, lässt sich zunächst programmatisch an dem Satz ablesen: “Her eyes bleed Teares, his wounds weep Blood” (20). Die konzeptistische Vorstellung vom Tränen Bluten und Blut Weinen ist hierbei nicht nur eine kongeniale und wirkungsvolle Umsetzung barocker Ästhetik; es findet überdies hier auch eine semantische Verschränkung von Blut und Tränen statt, die im 17. Jahrhundert in der Physiologie der Erotik unzweideutig festgelegt ist. Blut, jener in der Humoralpathologie unverzichtbare Saft, der in der grotesken Abundanz der Körperflüssigkeiten in Crashaws Gedichten an erster Stelle steht, wird in Übereinstimmung mit der pythagoräischen Tradition mit dem männlichen Sperma in Verbindung gesetzt, glaubte man doch im Sperma eine alchimistisch verfeinerte Qualität des Blutes vorzufinden: “boyled in the Testicles and the spermaticall vessels whose inward superficies is white, as also because it containeth in it much ayre and spirits” – so wie 63
Auch Lanyer benutzt dieses Epitheton Z. 1093. Vgl. überdies die Symbolik der seit der Antike erotisch besetzten Taube auch in Heinrich Schmidt / Margarethe Schmidt, Die vergessene Bildersprache christlicher Kunst (München: Beck, 2. Aufl. 1982), 110ff. Hier findet sich der Hinweis, dass die fruchtbare Taube auch „den Göttinnen der Liebe, der Astarte, der Ischtar, der Aschera, der Aphrodite bzw. Venus“ zugeordnet wird.
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Helkiah Crooke in seinem medizinischen Kompendium Microcosmographia (1615) schreibt.64 Dass Blutreichtum zu einer erhöhten Spermaproduktion führe, glaubte man somit nicht nur im sanguinischen Charakter bestätigt zu finden, man übertrug diese Vorstellung auch per analogiam auf die physische und groteske Inszenierung des menschgewordenen Gottessohns, der – den vielen männlichen und weiblichen leaky vessels bei Rabelais, Jonson und anderen nicht unähnlich65 – zum Zeichen seiner (Omni-) Potenz unaufhörlich Blut / Samen aus seinen genitalen Wunden verströmt. Wie an späterer Stelle bei der ausführlichen Interpretation von ‘The Weeper’ dargelegt werden soll, werden die Tränen ebenfalls sexuell konnotiert und mit Ejakulat metaphorisch identifiziert. Dass der Gedanke von Blut- und Tränen-Ejakulationen semantisch hier stets mit Augen und Wunden, d.h. mit metaphorischen Umschreibungen für die Vagina verknüpft wird, betont nachdrücklich die hermaphroditische und ambivalente Natur Christi in der Imagination der Barockdichter. Überdies hält sich noch bis zu John Clelands Memoirs of a Woman of Pleasure (Fanny Hill, 1748) hartnäckig die von Hippokrates übernommene Meinung, dass sowohl Frauen als auch Männer beim sexuellen Höhepunkt ejakulieren; lediglich die Qualität des vaginalen Ejakulats (semen foeminum) wird der des männlichen Spermas untergeordnet: “the one strong and hot, the other weaker and colder.”66 Dass es sich in Crashaws Gedicht um eine vornehmlich erotische Symbiose von Christus und Maria handelt, unterstreicht auch die 3. Strophe, die die Beziehung der räumlich voneinander getrennten Liebenden – “Diuided loues” (23) – als “costly intercourse / Of deaths” (21f.) paraphrasiert. Obwohl das Wort ‘intercourse’ zur Bezeichnung des Geschlechtsverkehrs im OED vor 1798 nicht belegt ist,67 lässt seine Verbindung mit ‘deaths’ keinen Zweifel an einer erotischen Konnotation. Das Paradoxon vom pluralisch aufgefassten Tod zeigt überdies unmissverständlich, dass der Tod hier nicht in seiner sterilen Finalität begriffen 64
65
66 67
Vgl. V, Kap. 2 ‘Of the Principles of generation, seed and the Mothers blood,’ 259 wie auch ‘The Nature of Seede,’ 277. In Shakespeares Sonett 11 nutzt der Sprecher die Wendung “that fresh blood which youngly thou bestow’st” (Z. 3. Sonnets, 133), um dem Lebensblut eine spermatische Assoziation zu geben. Vgl. auch DSL I, 113ff. Der Begriff des leaky vessel ist Gail Kern Paster (The Body Embarrassed [Ithaca / New York: Cornell UP, 1993]) entlehnt. Die hier dargelegte Konzeption der Frau als inkontinentes und offenes Wesen in Jonsons und Middeltons ‘city comedies’ (23ff) lässt sich auch auf die Christus-Ikonografie übertragen. Crooke, 5, 2, 260. Cleland gibt dem Begriff bereits 1748 eine sexuelle Konnotation. Zitiert nach DSL, II, 717.
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wird, vielmehr bezeichnet er wiederholbare und regenerative orgasmische Ekstasen, piccole morti, die Donne, in erotischer Abwandlung eines christologischen Symbols, sogar mit dem Bild des Phoenix visualisiert.68 Das erotisch inzestuöse Verhältnis von Mutter und Sohn wird in einem weiteren Schritt durch die Semantik des Schreibens und des merkantilen Tauschens näher erfasst. Aus dem ‘intercourse’ wird nun auch ein ‘discourse,’ ein erotischer Schrift-Verkehr, bei dem beide Partner Wunden und “Quick Deaths” (25) mit steigender sado-masochistischer Intensität austauschen. Seine phallischen Nägel, die auf einer anderen Metaphern-Ebene zugleich phallische Schreibinstrumente sind, werden in der Übertragung bzw. Transkription auf Maria zu Schwertern – “swords” (27) –, wobei nach der hier angewandten und in ihrem Hermetismus kaum übersetzbaren ‚mystischen Linguistik‘69 die textuelle Bedeutung (‘words’) in den Diskurs der phallischen Gewalt (‘swords’) eingebettet ist. Diese von Maria unter Schmerzen empfangenen (Liebes-) Schwerter / Wörter verwandeln sich in ihrer Erwiderung schließlich zu Speeren, die Christus erneut, mit einem gesteigerten Maß an Schmerzenslust, durchstoßen: His Nailes write swords in her, which soon her heart Payes back, with more then their own smart Her Swords, still growing with his pain, Turn Speares, and straight come home again. (27–30)
Mit Eintritt der Ich-Formel des Erzählers (47) erweitert sich der bisherige dialogische private mode zu einer mystischen ménage à trois. Anders als die auf Entfernung gehaltenen Zuschauer und Voyeure in Donnes ‘The Extasie,’ ‘The Canonization,’ oder in der mystisch-koitalen Vereinigung zwischen Christus und dem Hl. Thomas bittet das lyrische Ich – wenn auch zunächst noch durch den Konjunktiv distanziert – gemäß dem Prinzip der imitatio Christi in die erotische Passion von Christus und Maria, in den ‘costly intercourse of deaths,’ integriert zu werden. In Übereinstimmung mit dem von der Literaturkritik bei Crashaw diagnostizierten Brustfetischismus70 äußert das lyrische Ich nun inbrünstig den Wunsch, es möge sein (phallisch) verhärtetes und kaltes Herz zwischen 68
69 70
“The Phœnix ridle” in ‘The Canonization’ Z. 23. Poetical Works, 14. – Vgl. auch die erotische Umkehrung des Phoenix und seines Nestes in Behns ‘On a Juniper Tree’ Z. 63. Works, I, 39ff. Dieser Gedanke ist Bauers Habilitationsschrift entlehnt. Clive Hart / Kay Gilliand Stevenson, Heaven and the Flesh. Imagery of Desire from the Renaissance to the Rococco. (Cambridge: Cambridge UP, 1995), 85.
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Marias Brüste legen – “the noblest nest / Both of loue’s fires and flouds” (46f.) –, damit es dort erschlaffe (“relent,” 49) und sich regeneriere für die weitere Belagerung im Liebeskrieg, “the seige of loue” (50). An diese Phantasie eines koitalen Initiationsritus schließt sich nun das im Imperativ formulierte Begehren nach der eigenen Perforation an. Am Fuße des Kreuzes, das nach der ikonografischen Tradition als Jesse-Baum, als arbor vitae interpretiert wird71 – “at the Humble foot / Of this fair Tree” (63f.) – sehnt sich der Sprecher danach, wie Sebastian in diesen “chast warres” (67) verwundet und von den Schmerzes- bzw. Liebespfeilen ‚geküsst‘ zu werden: My brest may catch the kisse of some kind dart, Though as at second hand, from either heart. (69–70)
Der sado-masochistisch anmutenden Maxime “That wounded bosomes their own weapons be” (74) verpflichtet verleiht der Sprecher schließlich immer vehementer seiner Forderung nach göttlicher Penetration Nachdruck: Come wounds! Come darts! Nail’d hands! And peirced hearts! (75–76)
Wie in der Hymne auf Teresa von Avila, so deutet die Wortwahl darauf hin, dass auch hier die sowohl homo- als auch heteroerotische Sehnsucht nach einer unio mystica mit Christus und Maria die Züge eines sexuellen commercium sacrum hat: Insistent fordert der Sprecher seinen Anteil an den Liebesqualen – “Of greifes his portion” (79), “Diuidend” (84), “an almes of greif” (92) –, steht ihm doch, so seine syllogistische Argumentation, aufgrund des Makels der Erbsünde, “by sad right of sin” (93), die gesamte Summe der erotisch ausgekosteten Schmerzen und Penetrationen zu. Seine einzige Möglichkeit, seine sowohl erotischen als auch ‚merkantilen‘ Vereinigungsphantasien zu verwirklichen, sieht er letztlich, wie so oft bei Crashaw, in der Kunst der Meditation. Unter Zurhilfenahme aller oxymorontischer Liebeserfahrungen, “all those stings / Of loue, sweet bitter things” (95f.), die sich in ihrem Herzen eingraviert haben
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Zu den Legenden über das Kreuzesholz und die Paradiesreise des Seth siehe Eliade, 358. Siehe zu den erotischen und regenerativen Konnotationen von Bäumen und zur puritanischen Entrüstung hinsichtlich der phallischen Maibäume (“this stinkyng ydol”) Eliade, 358ff. und Lurker, 449. Alexander Demandts Über allen Wipfeln. Der Baum in der Kulturgeschichte (Köln / Wien: Böhlau, 2002) spart diesen Aspekt unverständlicherweise aus und bezieht sich in diesem Kontext lediglich auf die Platane als Lustort in der römischen Welt, 125.
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(“transcrib’d”), möge Maria ihn in das erotische pleasure-pain-Paradoxon der ars meditandi einweihen, bis es schließlich zu einer sowohl seelischen als auch körperlichen Verschmelzung ihrer Wunden kommt: “ … till we mix / Wounds; and become one crucifix.” (99f.). Wie stark in dieser barocken Meditation die sinnlich erotische Komponente vertreten ist,72 wird allein darin evident, dass die religiös-erotische Ekstase, jene symbiotische Vereinigung mit Christus und Maria zu einem Kreuz, gefördert werden soll durch ein eucharistisch-bacchantisches Gelage, das mit deutlichen Fellatio- bzw. Cunnilingus-Assoziationen besetzt ist. Als meditativen wie auch sexuellen Höhepunkt bittet der Sprecher Maria um ihr Einverständnis, das hier als Wein umschriebene Blut / Sperma aus den Wunden Christi, “this chast vine” (102), saugen zu dürfen: Let me suck the wine So long of this chast vine Till drunk of the dear wounds, I be A lost thing to the world […] (101–04)
Die sexuelle Konnotierung des Weins, die hier durch das Verb ‘to suck’ noch gesteigert wird, ist in der Literatur des 17. Jahrhunderts allenthalben verbürgt. Während Jonson den Wein als “the milk of Venus” bezeichnet,73 geht Crashaws Mentor, George Herbert, gar so weit, die Liebe mit dem eucharistischen Blut und Wein expressis verbis zu identifizieren: “Love is that liquor sweet and most divine, / Which my God feels as bloud, but I, as wine.”74 Vor diesem Hintergrund wird evident, dass das Individuum nur in dieser extremen oralerotischen Form der communio mit Christus seinen private mode, seine Abkehr von den Säkularisierungserscheinungen der Moderne durchzusetzen vermag. Dass es sich bei der hier angewandten Ikonografie von Christus als “chast vine” und seinen “chast warres” mit Maria um typisch barocke Paradoxa und vexatorische Bilder handelt, lässt sich allein durch einen intertextu-
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Die Bedeutung der Erotik in der Meditation wird in Louis Martz’ Studie The Poetry of Meditation. A Study in English Religious Literature of the Seventeenth Century (New Haven: Yale UP, 1955) ausgespart. ‘Over the Door at the Entrance into the Apollo’ Z.12. Ben Jonson VIII, 657. – Siehe hierzu auch Michael Ferber, A Dictionary of Literary Symbols (Cambridge: Cambridge UP, 1999), 237f. ‘The Agonie’ Z. 17–18. The Works of George Herbert, hg. F. E. Hutchinson (Oxford: Oxford UP, 1941), 37. Auch das zweimalige Insistieren auf das Schmecken des Blutes zeugt von einem oralgenitalischen Genuss der Wunde.
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ellen Rückgriff auf Donnes Holy Sonnets bekräftigen: So wie Donnes Sprecher nur durch die göttliche Vergewaltigung seine Keuschheit wiederzuerlangen hofft, so gelingt Crashaws lyrischem Ich nur durch den physisch-sexuellen Kontakt mit dem als ‚keuschen Rebstock‘ symbolisierten Christus die Entsagung von der Welt. Die Tatsache, dass ferner Robert Herrick im Jahr der Erstpublikation von Crashaws Steps to the Temple, 1648, ebenfalls auf die Symbolik des Rebstocks rekurriert, diesen aber in Anlehnung an die Anakreontik und an Catulls derben Sensualismus unzweideutig als erigierten Penis darstellt, mag eine literaturgeschichtliche Koinzidenz sein; sie zeigt aber, dass unter Geistlichen die Erotisierung der christlichen Symbolik wie auch eine Karnevalisierung des menschgewordenen Gottessohns im 17. Jahrhundert noch kein Anathema ist;75 allerdings wird der Schritt von einer sakralisierten Erotik zum bloßen frivolen Spiel mit den Erwartungen des Lesers nunmehr immer kleiner und sollte schon bald der Aushöhlung des theologisch-erotischen Diskurses in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Vorschub leisten. 2.1 Exkurs II: Swinburne in der Rolle des Crashaw à rebours Ein kontrastiver Blick auf das Christus-Bild des 19. Jahrhunderts soll an dieser Stelle Crashaws erotische Inszenierung des Verhältnisses zwischen Christus und seinen Gläubigen ex contrario besser akzentuieren helfen. Bereits in Alfred de Mussets Prolog zu Rolla (1833) erscheint Christus in den Augen eines nunmehr desillusionierten Sprechers als ein Haufen Erdenstaub, als ein abjektes und anachronistisches Dekadenz-Objekt, das
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Vor allem die vielen Darstellungen von Christus in der Kelter bekommen in diesem Kontext eine erotische Sekundärbedeutung. Die aus der Emblemtradition stammenden Bilder von Christus, der, wie in Kupferstichen von Hieronymus Wierix, von Gott in einer kreuzförmigen Presse gleich einer Traube zerdrückt wird und dessen Ströme von Blut Engel in Kelchen auffangen, mögen auf den ersten Blick Versinnbildlichungen des Eucharistiegedankens sein. Wenn jedoch Crashaw in einem ähnlichen Zusammenhang vom “wine of immortall mixture” spricht, wie er dies in seiner poetischen Apologie auf das Teresa-Gedicht tut (Z. 42), dann bezeichnet er hiermit auch jenes blutige Sekret, dessen oralerotischer Genuss den Menschen in der chain of being in die Sphären der Engel erhebt. Der aus dem Blut gewonnene Wein, der mit dem im Barock erotisierten Nektar verglichen wird und die Seele zum Schwellen bringt – “let my Soule swell / With thee strong wine of love” (Z. 30f.) –, ist nicht nur ein mystisches Aphrodisiakum; er ist ebenso in diesem prokreativen Christusverständnis eine Chiffre für die seinen Wunden entfließende Fertilität, für die rauschhaft erfahrene göttliche Insemination des Menschen. – Vgl. hierzu P. J. C. M. Franssen, The Mystic Winepress. A Religious Image in English Poetry 1500–1700 (Utrecht: Diss. Utrecht, 1988), 325ff.
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in einer enttheologisierten Welt seine Bedeutung eingebüßt hat. Während de Mussets lyrisches Ich diesen Transzendenzschwund noch bedauert, vertreten Swinburne wie auch der Comte de Lautréamont eine offen blasphemische Position, die sowohl mit der barocken als auch mit der romantisch empfindsamen Auffassung von Christus bricht, indem sie den Gekreuzigten weniger als erotischen Geliebten denn als sexuellen Psychopathen – als “Céleste Bandit”76 – oder als verwesendes Stück Aas visualisiert. a. Insbesondere in Swinburnes bis heute kaum beachtetem Gedicht ‘Before a Crucifix’77 zeigt sich die Kluft, die das Barock vom Fin de Siècle bzw. die Frühe Neuzeit von der Moderne trennt: In dieser Anti-Meditation auf einen “piteous God” (8) erscheinen die Menschen nicht als erotisches Ebenbild Gottes, als Repräsentanten des im amor eroticus gespiegelten amor divinus; vielmehr verhält es sich hier umgekehrt: Der gekreuzigte Christus, den die Sonne verdorrt und der Regen mit grauen Streifen überzogen hat, stellt ein Ebenbild der Menschen dar, die durch die Religion geknechtet und ihrer Sexualität beraubt wurden, “withered out of sex” (34). In mehr als nur einer Hinsicht kann man Swinburnes Gedicht als eine Auseinandersetzung mit dem Barock verstehen, das – lange vor Grierson und Eliot – in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts, in den Gedichten Francis Thompsons und in den editorischen Projekten Grosarts78 eine intensive Rezeption erfährt. In einem nahezu Nietzsche’schen Sprachduktus charakterisiert der Sprecher das viktorianische England, aber nicht zuletzt das gesamte christliche Abendland als einen Ort, wo die Kirche die Menschheit kreuzigt und hierzu statt der phallischen Nägel sich stets einer „Methodik der psychologischen Falschmünzerei“79 bedient, “Forged in the fires of hell and heaven” (90). Die erotisch prokreative Botschaft der Wundmale Christi ist vor diesem Hintergrund nicht nur fragwürdig, sondern zu einer ‚desolaten‘ Farce geworden:
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Les Chants de Maldoror V, 3, 66. Œuvres Complètes, 173. The Complete Works of Algernon Charles Swinburne, hg. Edmund Gosse / Thomas James Wise. 20 Bde (New York: Russell and Russell, 1925), II, 146–52. Hier wie auch an anderer Stelle gelten die Zeilenangaben dieser Edition. Siehe Grosarts Edition der Gedichte von Donne (1872), wie auch weitere Werkausgaben zu Herbert, Crashaw, Marvell und Cowley. Zur Barockrezeption im 19. Jahrhundert vgl. Duncan, hier vor allem Kap. VI (‘The Metaphysical Revival 1872–1912’). Nietzsche, Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, Werke, III, 731.
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Is there a gospel in the red Old witness of thy wide-mouthed wounds? From thy blind stricken tongueless head What desolate evangel sounds A hopeless note of hope deferred? (103–07)
Im direkten Vergleich mit Crashaws ‘On the Wounds of our Crucified Lord’80 zeigt sich das Ausmaß von Swinburnes ikonoklastischem Umgang mit dem Barock. Zurückgreifend auf den metaphorischen locus communis der Wunden als Münder – “wide-mouthed wounds” (104) – setzt Swinburne zu einer Dekonstruktion des Bildes von Christus als einem prokreativen homo eroticus an. Während Crashaw die Metapher von der Wunde als vaginalem Mund bzw. blutunterlaufenem Auge (“a bloodshot eye;” 7) mit einer Semantik des Fließenden versieht und in ‘On the bleeding wounds of our Crucified Lord’ schließlich die Wunden zu prokreativen Flüssen (“Purple Rivers”) und Sturzbächen (“Torrents”) erweitert, korreliert Swinburne die Passion Christi ausnahmslos mit dekadenten Bildern und Phrasen der Fäulnis, der Verwesung und der Krankheit (“Too foul to speak of or to see” [177]; “rotten to the bone” [180]). Das der Hortikultur entlehnte Bild des Pfropfens, das in Donnes ‘The Extasie’ die prä-koitalen Berührungen der Liebenden umschreibt,81 bezeichnet bei Swinburne nunmehr eine invertierte Veredelung. Eindringlich warnt der Sprecher des Gedichts davor, den paganen Baum der (sexuellen) Freiheit mit der Fäulnis des Kreuzes zu kontaminieren: Let not thy tree of freedom be Regrafted from that rotting tree. (155–56)
Und nur wenige Zeilen später spricht er davon, wie der von Priestern ‚veredelte‘ Baum des Glaubens sein fauliges Blätterwerk ausbreitet, um menschenverschlingenden Raubtieren Nahrung zu bieten. Das bei Crashaw allenthalben als regenerativer Lebensbaum gefeierte Kreuz hat sich somit unter dem Einfluss eines desintegrativen Neopaganismus82 und nicht zuletzt in Anlehnung an Baudelaire zu einem arbre du mal, zu einer im Verfallsprozess befindlichen Ruine verwandelt, “Consumed of rottenness and rust, / Worm-eaten of the worms of night” (140f.). Daher ist
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Poems, 99. Z. 9. Siehe auch den Eintrag zu ‘graft’ in DSL II, 615. Vgl. zum weiteren Kontext Rolf Lessenich, ‘Forms of Neopaganism from Blake to Yeats’ Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft (1995), 159–75.
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es nur folgerichtig, dass der Gekreuzigte bei Swinburne nicht unter dem Aspekt einer teleologischen und fruchtbaren Sexualität dargestellt wird: Swinburnes Meditation à l’envers ist einer Ästhetik des Hässlichen und Abstoßenden verpflichtet, die, prima facie betrachtet, wie Matthias Grünewalds Isenheimer Altar oder Thomas Nashes Christs Teares over Jerusalem Christus als geschundenen und gequälten Schmerzensmann mit eitrigen Wunden und exkrementalen Tränen inszeniert.83 Doch weit anders als in den kalvinistisch motivierten ‚Sündenbock-Ritualen,‘84 in denen, wie in Nashes Gedicht, die Leiden Christi in einem heilsgeschichtlichen – und zuweilen sogar erotischen85 – Kontext stehen, erzeugt der abjekte Körper Christi bei Swinburne nur Ekel und Verachtung. Insbesondere der abscheuerregende Anblick der Seitenwunde, deren vaginale Form nun mit dem Aussatz, “The leprous likeness of a bride” (178), korreliert wird, beruht auf einer misogynen Umwertung der Hochzeitsikonografie des Hohelieds. Aus der Sicht des neo-paganen Dichters, der nicht nur das – an späterer Stelle zu betrachtende – typologische Verhältnis zwischen Apoll und Christus negiert, sondern vor allem die barocke Erotik Christi durch Bilder des Pathologischen ersetzt, hat sich der Leib des Gekreuzigten zu einem Stück Aas verdinglicht – “carrion crucified” (192). Eine radikalere Kontrastfolie zu Crashaws Gedichten, wie sie diese ‚anti-barocke‘ Kreuzigung aus der Perspektive von Baudelaires ‘Une charogne’ darstellt, ist daher kaum denkbar. Zugleich unterstreicht sie, dass Nietzsches Behauptung vom Christentum, das dem antiken Eros Gift zu trinken gab – „er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster“86 –, einer modernen Sichtweise entspringt, die sich an den Werken des Barock nicht verifizieren lässt.
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“The fount of my teares (troubled and mudded with the Toade-like stirring and longbreathed vexation of thy venimous enormities) is no longer a pure siluer Spring, but a mirie puddle for Swine to wallow in. Black and cindry (like Smithes-water) are those excrements that source downe my cheekes, and farre more sluttish then the vglie oous of the channell.” Christs Teares over Jerusalem Z. 17–23. Works II, 36. Shuger charakterisiert die kalvinistischen Passionserzählungen als Inszenierungen von “scapegoat ritual[s],” 122. Der abstoßende Christus am Kreuz imaginiert Jerusalem als einen weiblichen Körper, der im Inneren der Fäulnis preisgegeben ist: “her Hart, her Lunges, her Liuer, und her Gal, all are carioniz’d and contaminated with surfets of selfe-will.” Dennoch stellt sich Christus im Geiste die Vergewaltigung dieser urbs morbida vor: “The resplendent eyeoutbrauing buildings of your Temple (like a Drum [= Prostituierte nach DSL I, 420]) shal be vngirt und vnbraced: the soule of it, which is the (fore-named) Sanctum sanctorum, cleane shall be strypt and vnclothed.” Works II, 49 / 51. Jenseits von Gut und Böse, ‚Sprüche und Zwischenspiele,‘ 168. Werke in drei Bänden II, 639.
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b. Ein unmittelbarer Vergleich zwischen Swinburne und Crashaw hat vielmehr gezeigt, dass die ‚Entartung‘ des Eros maßgeblich ein Phänomen der Säkularisierung darstellt. Während Swinburne die Sexualität nur noch in bizarren Femmes fatales zelebriert und daher die Sterilität eines toten und kadaverähnlichen Christus anprangert, so scheint Crashaw, das ‚Entartete‘ und Dekorumsfeindliche zu funktionalisieren, um gerade das Entgegengesetzte zu propagieren und in immer wieder neuen Variationen und überraschenden conceits die erotische Fruchtbarkeit des Gekreuzigten zu preisen. Dass hierbei die Passion Christi zu einem oft proto-ästhetizistischen Ereignis und damit zu einem Ärgernis für die konservative Literaturkritik wird, zeigt sich vor allem darin, dass die prokreativen Körperflüssigkeiten immer wieder Metamorphosen zu kostbaren Gegenständen oder Pflanzen erfahren. Anders als in Swinburnes Semantik des Abjekten wird die genitale Metaphorik der Seitenwunde bei Crashaw geradezu ins Surrealistische gesteigert, wenn sich die Lippen des vaginalen Mundes zu Rosen verwandeln oder der blutbedeckte Körper zu einem Kleiderschrank mit exquisiten purpurnen Stoffen transformiert wird.87 Auch die Wunden auf den Füßen Christi werden stets zu erlesenen Fetischobjekten, an denen Maria Magdalena ihre sexuell konnotierte und polyvalente Reue zu artikulieren vermag. Während ihre Tränen sich zu Perlen verformen, so begleicht Christus – nunmehr sogar in der Rolle eines Freiers – seine Schulden, “the sweet summe of thy kisses,”88 bald mit den (Scham-) Lippen seiner Wunde, bald mit blutigen Rubin-Tränen, die aus seinen als Augen chiffrierten Wunden fließen. Diese zuweilen an Träume erinnernde Überblendung von Körperteilen wie Wunde-Mund-Vagina bzw. Wunde-Auge-Vagina gehört in der Literatur der Renaissance und des Barock zu den rhetorischen Gemeinplätzen. Die im frühneuzeitlichen Analogien- und Korrespondenzdenken verbürgte Identifizierung von Vagina und Mund bzw. Auge beruht – wie im Fall der Entsprechung von Nase und Phallus – auf der Vorstellung, dass zwischen den oberen und unteren Regionen des Körpers eine Beziehung besteht, und dass die Genitalien sich noch nicht, wie bei Rochester oder den Vertretern der modernen Pornografie, verselbständigt und vom übrigen Organismus dissoziiert haben. Was John Wilke in seinem Essay on Woman (1763) mit frivoler Leichtfertigkeit behauptet, –
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“Opening the purple wardrobe in thy side” Z.4. Poems, 290. ‘On the wounds of our crucified Lord’ Z.14. Poems, 99.
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as there is an Analogy between Revealed and Natural Religion, so there is between the Upper and Nether Mouth in all Females, and between the Gnomon in the Face and the Umbilical Region in Males –89
hat zu Crashaws Zeit noch seine unumschränkte Gültigkeit. So vermag George Herbert die Behauptung aufzustellen: “Each part may call the farthest brother: For head with foot hath private amity.”90 Dass in diesem Korrespondenzengeflecht die Vagina mit ihren Schamlippen im Mund ihre Entsprechung findet und somit das Phantasma der vagina dentata hier seinen Nährboden hat, liegt im übrigen auch darin begründet, dass beide Öffnungen – ganz im Sinne von Bachtins grotesker Körperkonzeption – Grenz- und Schnittstellen sind, wo das Äußere in Kontakt tritt zum Inneren, wo die sexuelle Aufhebung von Subjekt und Objekt stattfindet. Swinburnes Ekel vor dem Gekreuzigten lässt sich somit als das klassische Paradigma des Abscheus vor der Körperöffnung lesen, und zwar aufgrund der Tatsache, dass das Wundmal einen „Makel an der geschlossenen Hautfassade und Erinnerung an den darunter tobenden Chemismus“ darstellt.91 Die Auffassung von Christus als homo eroticus mit grotesken Ausstülpungen und Einbuchtungen lässt sich überdies kaum in Einklang bringen mit dem neopaganen Topos vom Christentum als einer grauen und körperfeindlichen Religion: “Thou hast conquered, O pale Galilean; the world has grown grey from thy breath.”92 Crashaws erotisierte Theologie, die weder von Swinburne noch von Wilde zur Kenntnis genommen wird und offenkundig deren von Arnold ererbtem binärem Modell von Hebraismus und Hellenismus widerspricht, übersetzt die groteske Konzeption des Körpers in den Bereich des Sakralen. Dies wird sich vor dem Hintergrund des bereits Gesagten vor allem in der Analyse von ‘The Weeper’ erweisen, wenn auch hier als Einschränkung gelten muss, dass die Offenheit von Crashaws dargestellten Körpern nie einer karnevalesken Lachkultur, sondern stets einer religiös-konversionistischen Inbrunst verpflichtet ist.
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Wilke, zitiert nach DSL II, 918. – Vgl. auch Cleland, wenn Fanny Hill (deren Name selbst nichts anderes darstellt als eine Umschreibung für mons Veneris) ihre Vagina als “that delicate glutton, my nether mouth” und “that luscious mouth of nature” bezeichnet. Memoirs of a Woman of Pleasure, hg. Peter Sabor (Oxford: Oxford UP, 1985), 82/134. ‘Man’ Z. 16–17. Works, 90ff. Menninghaus, 123. ‘Hymn to Proserpine’ Z. 35. Complete Works I, 200–06.
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3. ‘The Weeper’ – Maria Magdalena: ein erotisches Paradoxon im Barock Neben der bei Rabelais und Shakespeare bezeugten Fokussierung auf die vaginale Konnotation des Ohrs rückt das Barock nun das Auge – und hier vor allem das tränenbenetzte Auge – in das Zentrum des Sinnenkatalogs. Als Zielort des Liebespfeils gilt das Auge seit der antiken Darstellung in Platons Phaedrus als durchlässig und – wie bereits am Beispiel von Carews Epicedium dargelegt – unmittelbar mit dem Herzen verbunden. Dass das Eindringen des Liebespfeils in das Auge im Barock als Metapher für die Insemination noch virulent ist, zeigt sich nicht nur in der bereits andernorts erwähnten Vorstellung der conceptio per oculos, derzufolge Donne den Austausch von Blicken unter Liebenden als einen wechselseitigen Zeugungsakt beschreibt; das Auge erweist sich gerade ob der Penetration der Blicke wie auch durch seine Tränenejakulationen als eminent phallisch und befruchtend – ein Aspekt, der sich bereits in dem populären Konzeptismus vom männlichen Blick als phallischen Basilisken-Angriff widerspiegelt93 und letztlich auf Platons Wahrnehmungstheorie zurückgeht.94 a. Im Rahmen dieser altüberlieferten erotischen Körpersymbolik bekommt Crashaws Gedicht ‘The Weeper’ eine neue Tiefendimension, die – wie in der Moderne geschehen95 – durch das Anlegen inkompatibler Wertmaßstäbe nicht auszuloten ist. Nur unter Berücksichtigung der erotischen conceits und der barocken Augen- und Tränensymbolik, wie sie bereits in ‘The Tear’ oder in dem Maria Magdalena gewidmeten Gedicht ‘On the Wounds of our Crucified Lord’ in nuce vorbereitet werden, lässt sich die sinnlich und prokreativ inszenierte Reue jener Heiligen begrei-
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Siehe hierzu The Rape of Lucrece, wo Tarquinius’ phallische Aggression mit dem Bild des Basilisken-Blicks umschrieben bzw. durch die Technik der Prolepse vorweggenommen wird: “Here with a cockatrice’ dead-killing eye / He rouseth up himself …” Z. 540f. Zu Platons aktivistischer Konzeption des Auges im Theaetetus im Unterschied zu Aristoteles’ Darstellung des Auges als passive, empfangende Körperöffnung siehe Sergei Lobanov-Rostovsky, ‘Taming the Basilisk’ The Body in Parts. Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe, hg. David Hillman / Carla Mazzio (London / New York: Routledge, 1997), 198. So bezeichnet R. V. Young ‘The Weeper’ als einen von Crashaws “most Marinistic but least successful efforts,” 1f.
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fen, die im dualistischen Denken der Renaissance- und Barockkünstler zugleich als Hure, Verführerin und Geliebte Christi sich etabliert hat. Im amalgamierenden Denken der Frühen Neuzeit stellt Maria Magdalena ein Konglomerat aus mindestens drei verschiedenen neutestamentlichen Figuren dar. So ist bereits in den einflussreichen Legenda Aurea von Jacobus de Voraigne nachzulesen,96 dass die weibliche Gestalt, die nach dem Lukas-Evangelium (8,2) zu den galiläischen Frauen gehört, die Jesus von bösen Geistern befreit und überdies unter den Frauen erwähnt wird, die bei der Kreuzigung Christi gegenwärtig sind und seine Auferstehung bezeugen, stets gleichgesetzt wird mit Maria von Bethanien und der Sünderin bei Lukas 7, 36ff. Aus den unterschiedlichen Überlieferungen formiert sich somit ein ebenso heterogener wie auch fiktiver Frauentypus, der, stets auf einige wenige Ereignisse eklektizistisch reduziert, vor allem ein erotisches Paradoxon verkörpert. Die zu einer Kunstfigur synthetisch zusammengefügte Maria Magdalena, wie sie die Barockliteratur und -kunst thematisch dominiert, avanciert mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts zum Inbegriff der erotischen Büßerin, die selbst am Kreuz ihre inbrünstige Sehnsucht nach dem Körper Christi nicht verbirgt und später als weinende Eremitin sich in einen sinnlichen private mode zurückzieht. Inwieweit die iterative Thematisierung dieser wenigen Lebensstationen ausreicht, um im Barock ein neues Sub- und Kultgenre wie den “hagioporn” zu etablieren,97 wird sich in der Konzentration sowohl auf Crashaws Text als auch auf einige Kunstwerke seiner Zeit herauskristallisieren. Während der Renaissance-Künstler Donatello in einer Relief-Skulptur Maria Magdalena als eine alte, physisch gezeichnete Büßerin in einem härenen Kleid abbildet, scheint Tizian einen Paradigmenwechsel in der Magdalenen-Darstellung einzuleiten, wenn er sich auf eine gänzlich andere Tradition beruft, die im Rückgriff auf Ovids Heroiden die Geschichte der Maria Magdalena erotisiert und die für spätere Bearbeitungen charakteristischen Gegensätzlichkeiten betont.98 Neben den sinnlich nach oben gerichteten Augen ist es vor allem die Ikonografie des härenen Kleides, die Tizian zwar als Signum des Eremitendaseins wieder auf96 97 98
Eine Auswahl der Legenda Aurea liegt auch in deutscher Übersetzung von Jacques Laager vor (Zürich: Manesse, 2000), hier: 226–39. Shuger, 168. Sowohl eine Verspredigt des Pseudo-Origenes aus dem 12./13. Jahrhundert als auch eine Verserzählung im Chaucer-Stil, The Lamentatyon of Mary Magdalen, geben in Anlehnung an Ovid dem Magdalenen-Stoff bereits im Mittelalter eine erotische Nuance. Vgl. auch Shuger, 169ff.
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greift, ihr aber eine eigentümlich proto-barocke Ambivalenz verleiht: Das nunmehr am jugendlichen Körper der Büßerin herabfließende Haar offenbart nicht nur mehr als es verdeckt, indem es die Brüste der Maria Magdalena freilegt; seine Symbolik scheint sich überdies ins Gegenteil zu verkehren und sich – wie in den späteren Gemälden der Präraffaeliten – zur Chiffre sexueller Sinneslust zu verwandeln.99 Die bei Tizian verhalten einsetzende Erotisierung der Maria Magdalena-Figur, die Ruskin jedoch dazu veranlasst, das Gemälde als “the disgusting Magdalen of Pitti Palace” abzuqualifizieren,100 kulminiert letztlich darin, dass die Schutzpatronin der Prostituierten auch in künstlerischer Hinsicht immer gewagter inszeniert wird: Ihres härenen Gewandes schließlich gänzlich entledigt stellt sie bald eine christliche Version der Venus pudica, bald eine verlockende Femme fatale dar, die wie bereits bei Bernardino Luini in Anspielung an den Mythos der Pandora ihr Nardenölgefäß mit kalkulierter Eleganz öffnet und dem Betrachter bzw. voyeuristischen Freier einen weniger tränenerfüllten als vielversprechenden Blick zuwirft. Während Monika Ingenhoff-Danhäuser in ihrer kunsthistorischen Studie zur Maria Magdalena-Darstellung im Barock einen „Untergang der Magdalenenikonografie“ konstatiert,101 so muss in Anbetracht nicht nur der von ihr unbeachteten Barockliteratur, sondern auch im Hinblick auf die unzähligen Gemälde von Caravaggio und El Greco bis Vouet eine solche Äußerung kritisch überprüft werden. Im Unterschied zu Caravaggio, der in seiner Magdalena-Interpretation sich ganz und gar auf den Moment der mystisch-erotischen Ekstase der Heiligen konzentriert und hierbei den orgasmischen Trancezustand der barbusigen Magdalena bei Vouet antizipiert, ist es El Greco, der in seinen Magdalenen-Gemälden das Motiv der Tränen und der erotisch gefärbten Reue betont. Wie in Tizians Gemälde, wo der himmelwärts gerichtete und tränenverschleierte Blick von der Nacktheit der Brust konterkariert zu werden scheint, so treten in der auf ca. 1607 datierten Darstellung der Heiligen ebenso die tränenerfüllten Augen in Widerspruch zu der (nahezu) entblößten Brust. In Ermangelung eines härenen Büßergewandes wird diese mit hastig zu99
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Vgl. zur sexuellen Symbolik des Haares nicht nur den Simson und Delilah-Stoff, sondern auch die vielen Femmes fatales (Lady Lilith, Arabella u.a.), die mit der Abundanz ihrer Haare die Männer verführen; siehe auch die Einträge in den Symbollexika von Lurker, 272, und J. C. Cooper, An Illustrated Encyclopaedia of Traditional Symbols (London: Thames and Hudson, 1978), 77. The Works of John Ruskin, hg. E. T. Cook / Alexander Wedderburn. 39 Bde (London: George Allen, 1903), IV, 195. Maria Magdalena, Heilige und Sünderin in der italienischen Renaissance. Studien zur Ikonografie der Heiligen von Leonardo bis Tizian (Tübingen: Wasmuth, 1984), 79.
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Abb. 4: Tizian [Tiziano Veccelio], Maria Maddalena. Florenz, Palazzo Pitti (Galeria Palatina) © bpk / Scala.
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sammengerafften goldenen Haarlocken unzureichend verhüllt und somit unweigerlich zu einem der unterschiedlichen Fokalisationspunkte des Bildes. Die notdürftig kaschierte (und zugleich inszenierte) Nacktheit der Brust macht hierbei die übrigen Attribute der Weltentsagung wie den Totenschädel als Vanitas-Symbol oder die abgenutzte Bibel sekundär – ein spannungsgeladener Kontrast, der sich ebenso in der zerklüfteten Wolkenkonstellation wie auch in dem unmittelbaren Farbgegensatz102 von rot und blau im Umhang der Heiligen spiegelt. El Grecos Maria Magdalena en deshabille, die, wie auch Jesus und Petrus in anderen Gemälden des Künstlers, Tränen vergießt, steht zunächst für eine geradezu empfindsam anmutende Aufwertung des Gefühls, für einen auf sinnliche Katharsis abzielenden Ausdruck der Reue und Zerknirschung, wie er letztlich im Psalm 51,17 in bezug auf das Opferverhalten der Menschen verbürgt ist: “The sacrifices of God are a broken spirit: a broken and contrite heart, O God, thou wilt not despise.”103 Gilt das Tränenvergießen für Shakespeares tragische Helden als Indikator für effeminiertes Verhalten, das es zu exorzieren gilt,104 so zeigt das mit John Dowlands Lachrimae105 in den barocken Tränen-Kult einzuordnende Gedicht Crashaws, wie das in El Grecos Gemälde angelegte erotische Potential über alle Maßen gesteigert wird und wie die noch zurückgehaltenen Tränen in der Renaissance sich in den 1640ern in exzessiven Bildern und conceits zu prokreativen Strömen und Ejakulationen verwandeln. Wie definitiv in dieser Hinsicht die erotische Tränen-Ikonografie im Barock sich von der asexuellen Larmoyanz der Empfindsamkeit unterscheidet, deutet sich bereits in den ersten Strophen von Crashaws Gedicht an, wo gemäß einer auf Joh. 7,37 bezogenen „Theologie des lebendigen Wassers“106 der generative Aspekt dieser Sekrete explizit 102
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In der theologischen Farbsymbolik steht rot für die Liebesglut und blau für die Transzendenz; vgl. zu diesem Kontrast zwischen Diesseits und Jenseits auch Dorothea Forstner, Die Welt der christlichen Symbole (Innsbruck / Wien: Tyrolia Verlag, 1986), 116f und 118ff. Authorized Version, 667. Laertes wertet das Weinen als ein prekäres gender crossing: “When these [= the tears] are gone / The woman will be out” Hamlet IV, vii, 186f. Während Romeos exzessives “blubbering and weeping, weeping and blubbering” ihn in die Nähe des weiblich Monströsen rückt (Romeo and Juliet III, iii, 87), behauptet Othello bis zuletzt, das er “unused to the melting mood” sei (Othello V, ii, 345). Bereits 1600 hatte Dowland mit seinem Lied “Flow, my teares” europäischen Ruhm erlangt; in seinen Lachrimae spiegelt sich der barocke Tränenkult in sieben Variationen: ‘Lachrimae Antiquae,’ ‘Lachrimae Novae,’ ‘Lachrimae Gementes,’ ‘Lachrimae Tristes,’ ‘Lachrimae Coactae,’ ‘Lachrimae Amantis’ und schließlich ‘Lachrimae Verae.’ Leimberg, 308.
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Abb. 5: El Greco [Domenikos Theotokopoulos], Maria Magdalena. Arango Collection © Fotoarchiv des Kunsthistorischen Instituts der Julius-Maximilians-Universität Würzburg.
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zum Ausdruck kommt. In diametralem Gegensatz zur sterilen Tränenabundanz in Richardsons Pamela werden die zunächst als “sister springs” (1)107 apostrophierten Augen bereits in der folgenden Zeile als die elterlichen Erzeuger (“parents”) silberner Tränen-Rinnsale bezeichnet, wobei die hier inzestuöse Verbindung unter Geschwistern programmatisch ist und den Leser auf weitere erotische Paradoxa vorbereitet. Inmitten der Proliferation von Metaphern und conceits, die in formaler Hinsicht ein probates objektives Korrelat zum fortwährenden Tränenfluss darstellt, kommt der Bildlichkeit einer exzessiven Sexualität eine geradezu leitmotivische Funktion zu: Die Augen, jene “Euer bubling things” (3), desavouieren hierbei nicht nur das renaissancistische Prinzip der Mäßigung, dem, wie Michael Schoenfeldt darlegt,108 besonders Crashaws literarisches Vorbild, George Herbert, verpflichtet ist; als mikrokosmische Analoga eines pansexualistischen Universums (“Heauens of euer-falling starres,” 8) ist diesen exuberanten Tränen-Fontänen überdies die Bedeutung von extrem fruchtbaren Genitalien eigen – “bubling things” legt im Sprachgebrauch des Frühneuenglischen Penis-Assoziationen nahe –, die in ununterbrochen sprudelnden (Reue-) Ejakulationen der Omnipotenz Christi huldigen: “Still spending, neuer spent!” (5). Auf der Suche nach den bei Crashaw verborgenen arcana linguarum versucht Inge Leimberg, der Wortalchimie des Barockautors näher auf den Grund zu gehen: So zieht sie von dem Wort ‘bubble’ eine Querverbindung zum lateinischen Substantiv bulla (= Blase), um über weitere homophone Wortanalogien und makkaronische Sprachspiele von „der Wasserblase und dem geblasenen kugelförmigen Glas aus der alchimistischen Offizin“ zu den arma Christi zu gelangen.109 Am „Ariadne-Faden der Sprach-Chiffren“110 sich entlang tastend versucht Leimberg dabei, den erotischen Implikationen des Gedichts wie einem furchterregenden Minotaurus zu entkommen. In bezug auf das Verbum ‘to spend,’ das in der Barockzeit auf ein ebenso hedonistisches wie auch sexuelles Verströ107 108
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Poems, 308. Die Zeilenangaben stützen sich auf die Textversion von 1652. Herbert hat nicht nur Alvise Cornaros Abhandlung Della vita sobria (1558) unter dem Titel A Treatise of Temperance and Sobrietie ins Englische übersetzt; in seinem Gedicht ‘Lent’ begrüßt er die bei Pieter Breughel d.Ä. noch als abgezehrtes Weib personifizierte Fastenzeit als eine herbeigesehnte Periode der Reinigung und des Lustverzichts: “Welcome dear feast of Lent: who loves not thee, / He loves not Temperance, or Authority, / But is composed of passion” Z. 1–3. Works, 86. Siehe hierzu vor allem Schoenfeldt, Bodies and Selves in Early Modern England. Physiology and Inwardness in Spenser, Shakespeare, Herbert, and Milton (Cambridge: Cambridge UP, 1999), 115 und 121. Leimberg, 338. Ebd., 346.
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men hindeutet,111 konzentriert sie sich uneingeschränkt auf das philologische Palimpsest des Textes, indem sie ‘to spend’ aus dem lateinischen pendeo (= ich hänge) und pendo (= ich wäge, leide) ableitet.112 Dabei deutet das gesamte Wortfeld (parents, things, spending) auf den Bereich der prokreativen Körperflüssigkeiten hin; und dies wird nicht zuletzt auch dadurch unterstrichen, dass der Kontext des Gedichts auf eine ad infinitum prolongierte Saat- und Imprägnationszeit – “’Tis seed-time still with thee” (9) – hinweist, wobei die herabfallenden Tränen- und Ejakulat-Sterne, die Magdalena unausgesetzt erzeugt (“thou sow’st;” 10) sogleich als eine Sinnestäuschung entlarvt werden. In bewusster Abkehr von allen szientifischen Regeln und Gesetzen wie auch von allen negativen Implikationen, die Sternschnuppen im erotischen Diskurs der Frühen Neuzeit haben,113 fließen ihre makrokosmischen Tränen, gleich “[p]ontificial tears,”114 aufwärts zum Himmel, wo sie jenseits der Milchstraße zu einer verfeinerten und erotisch konnotierten Sahne gerinnen: Upwards thou dost weep Heauen’s bosome drinks the gentle stream. Where th’milky riuers creep, Thine floates aboue; und is the cream. Waters aboue th’Heauens, what they be We’ are taught best by thy Teares and thee. (19–24)
Das hier von Crashaw eingesetzte Bild, das Tränen mit Milch und Sahne identifiziert und überdies die Entstehung einer jenseits der Milchstraße verlaufenden ‚Sahne-Straße‘ beschreibt, ist in mehrerer Hinsicht aufschlussreich: Inge Leimberg beruft sich bei ihrer Bildanalyse auf die Etymologie von ‘cream:’ Aus dem spätlateinischen chrisma entlehnt hat es, Leimberg zufolge, die Bedeutung eines Salbungsöls und verweist somit auf den Kontext des Salbens und Nardenöls in der Magdalenen-Ikonografie. Da überdies ‘Teares’ ein Anagramm von ‘Easter’ darstellt, lässt sich für Leimberg die Aufwärtsrichtung der Tränen allein mit der Kon-
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DSL III, 1281f. Williams weist darauf hin, dass entgegen der Datierung im OED eine erotische Konnotierung des Verbums weit vor 1662 belegt ist. Auch Partridge erwähnt die erotische Bedeutung von ‘to spend’ und zitiert im Zusammenhang mit dem Wort ‘marrow’ [= Samen] eine deutliche Stelle aus All’s Well that Ends Well (III, iii, 284): “Spending his manly marrow in her arms” Shakespeare’s Bawdy, 242f. Leimberg, 345. Vgl. DSL III, 1310: Eine Sternschnuppe steht in ihrer Abwärtsbewegung und ihrem Verglühen für das Nachlassen der Erektionsfähigkeit. Marjory E. Lange, Telling Tears in the English Renaissance (Leiden / New York / Köln: E.J. Brill, 1996), 180.
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versionsthematik des Magdalenenstoffs in Verbindung setzen.115 Maureen Sabine hingegen lässt sich in ihrer Interpretation des Bildes von der antiken Ätiologie der Entstehung der Milchstraße leiten116 und gelangt daher zu der konkreten Überzeugung, dass es sich hier um Muttermilch bzw. Kolostrum handeln muss.117 Konsultiert man überdies Gordon Williams’ Dictionary of Sexual Language and Imagery, so lassen sich Sabines und Leimbergs Deutungsansätze erweitern, wenn man in Betracht zieht, dass nicht nur Tränen als metaphorische Umschreibung für Sperma eine lange Tradition haben,118 sondern dass insbesondere Milch und Sahne aufgrund ihrer Farbe und Konsistenz immer wieder mit Ejakulat bzw. Vaginalsekret in Verbindung gebracht worden sind119 – ein Faktum, das in der frivolen Literatur der Restaurationszeit und des 18. Jahrhunderts sich in der Prägung unverblümter Metaphern wie ‘milk-pail’ oder ‘cream jug’ für die Vagina niederschlägt.120 Selbst im 20. Jahrhundert scheint die Tradition, aus der Crashaw seine erotischen Konzeptismen entlehnt, fortzubestehen und sogar eine Neuauflage zu erfahren, wenn Georges Bataille in seiner Histoire de l’œil die Milchstraße als „diesen seltsamen Strom von Astralsperma und himmlischem Urin“ bezeichnet.121 Während Batailles neo-barockes Bild letztlich nur aus einer in der Tabuverletzung begründeten Erotikkonzeption herrührt, die die Präsenz
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Leimberg, 363 und 365. Die Milchstraße wird, wie Herbert Hunger darlegt, „von den griechischen Mythographen mit der Göttermilch der Hera in Zusammenhang gebracht.“ Als der von Zeus heimlich an ihre Brust gelegte Herakles zu heftig saugt, stößt Hera das fremde Kind von sich. Dabei verspritzt die Göttermilch, und ein milchiges Band verbreitet sich über dem Himmel. Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 256. Vgl. hierzu sowohl Rubens’ Die Entstehung der Milchstraße (1636–38; Madrid, Prado) als auch Tintorettos gleichnamiges Gemälde in der London, National Gallery. Sabine, 207. Die Bedeutung von Lachrima als Tropfen des männlichen Samens ist bereits in der lateinischen Sprache verbürgt. Siehe u.a. Ernst Karl Georges, Lateinisches-Deutsches Handwörterbuch (Leipzig: Hahn’sche Verlags-Buchhandlung, 1880), 469. Vgl. hierzu die unzweideutige Metaphorik in Lovelaces Gedicht ‘To Amarantha, That she would dishevell her haire:’ Heere wee’l strippe and coole our fire. In Creame below, in milk-baths higher: And when all Well’s are drawne dry, I’le drink a teare out of thine eye.
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Z. 21–24. The Poems of Richard Lovelace, hg. C. H. Wilkinson (Oxford: Clarendon P, 1930), 21. DSL, II, 885f. Bataille, Histoire de l’œil. Aus dem Franz. übersetzt v. Marion Luckow, Das obszöne Werk. Die Geschichte des Auges (Reinbek: Rowohlt, 1999), 31.
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Gottes und die Gültigkeit einer erotischen Theologie leugnet, steht Crashaws image cluster für die Vorstellung eines teleologischen und mystischen Koitus ad gloriam majorem Dei. Im Einklang mit dieser erotischen Eschatologieauffassung wird das Himmelsgewölbe als eine gigantische Brust visualisiert – “Heauens bosome” (20) –, die diesen zu Sahne / Sperma veredelten Tränenstrom absorbiert. Um die oralerotische Bedeutungsschicht ferner zu akzentuieren, beschreibt Crashaw in der 5. Strophe, wie einer der Cherubim sich jeden Morgen an dieser ebenso aphrodisierenden wie auch geheiligten und süßen (saccharum)122 Flüssigkeit – “sacred influence” (27) – delektiert und stärkt: Euery morn from hence A brisk Cherrub something sippes Whose sacred influence Addes sweetnes to his sweetest lippes. Then to his musick. And his song Tasts of this Breakfast all day long. (25–30)
Die inspirierenden Auswirkungen dieser erotischen Mahlzeit bzw. Eucharistie (“something” = lat. aliquid = a liquid) auf die Himmelsliturgie bzw. musica mundana dokumentieren unmissverständlich, dass Magdalenas aus Reue gespeiste Sexualität keinen Dissonanzfaktor darstellt und dass, anders als bei Herbert und der Abwärtsbewegung seines Magdalengedichts,123 die Tränen hier die Bedeutung einer erotisch konnotierten Himmelsleiter haben. b. Weitere Analogien zur Beschreibung der erotisierten Reue entnimmt Crashaw vorzugsweise dem Bereich der Natur, die hier im Gegensatz zum rationalistischen Axiom einer geometrisierten natura naturata an der universalen Erotik partizipiert und nun in einem Zustand der postkoitalen Tristesse inszeniert wird. Die rotgeweinten Augen des Abends, die um die Sonne trauern, vermögen jedoch nicht mit der süßlichen Melancholie zu konkurrieren (“Sweetnesse so sad, sadnesse so sweet;” 36), die die sich nach Christus sehnende Maria Magdalena in Analogie zur Pietà durchleidet. In ihr, der soror dolorosa, entfaltet die Trauer ihre ganze erotische und kostbare Majestät (“her brightest majesty;” 38); und auch 122 123
Leimberg verweist auf eine mögliche Paronomasie zwischen sacred und saccharum, 367. Vgl. hierzu James M. Bromley, ‘Intimacy and the Body in Seventeenth-Century Religious Devotion’ Early Modern Literary Studies (2005), 26.
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der Tautropfen, der gleich einer Träne die Wange der anthropomorphisierten Schlüsselblume bedeckt oder sich an den Hals der Lilie schmiegt, erweist sich – wie bereits die kosmische Milchstraße – im Vergleich mit den prokreativen Tränen Magdalenas als defizitär. Sowohl die im erotischen Diskurs der Frühen Neuzeit bedeutsamen Tautropfen124 als auch das balsamische Sekret, das die Baumäste ausschwitzen – “the balsomsweating bough” (50) – lassen sich qualitativ mit dem majestätischen Tau, den Magdalenas Tränen-Ejakulation darstellt – “a deaw / More soueraign und sweet” (53f.) – nicht vergleichen. Während der die Natur durchströmende paracelsische Lebenssaft mit seinen “medicinable teares” (52) lediglich dem Bereich des Vegetativen und Kreatürlichen zugeordnet und somit ein wichtiges Attribut der rein sexuellen Liebe der Venus Pandemos in Shakespeares Venus and Adonis ist,125 symbolisieren Magdalenas Tränen einen weit exklusiveren Balsam, der nur im Kontext des erotischen, auf Christus bezogenen private mode der Büßerin seine Bedeutung entfaltet: They [=tears], though to others no releife, Balsome maybe, for their own greife. (59–60)
Die Verschränkung von theologischem und erotischem Sprachduktus wird besonders in den Passagen des Gedichts offenkundig, in denen die der Natur entlehnten Bildspender von einer erotischen Eucharistie-Symbolik überblendet werden. In der 11. Strophe verknüpft Crashaw die Bildelemente des Rebstocks und der Tau-Träne zu einer hintergründigen erotischen Vignette, die jedoch keinen Zweifel daran lässt, dass sie theo-
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Die erotische Signifikanz des Taus wurde bereits am Beispiel von Spensers ‘Hymne of Heavenly Love’ evident (Kap. II). In einem mit der inscriptio ‘Clarescunt aethere Clari’ überschriebenen Emblem wird die Empfängnis göttlicher Gnade als die Imprägnation einer Muschel durch den Morgentau dargestellt. (Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI und XVII. Jahrhunderts, hg. Arthur Henkel / Albrecht Schöne. [Stuttgart / Weimar: Metzler, 1996], 732). – Trotz der modernen Skepsis gegenüber der TauSymbolik, wie sie in Wallace Stevens’ ‘The Man on the Dump’ formuliert wird, zeigt sich Joyce im Monolog der Molly Bloom mit der erotischen Konnotation des Taus vertraut: “I wouldnt mind taking him in my mouth if nobody was looking as if it was asking you to suck it so clean and white he looked with his boyish face I would too in ½ a minute even if some of it went down like gruel or the dew …” Ulysses (Harmondsworth: Penguin, rpt. 1984), 697. “My smooth moist hand, were it with thy hand felt, / Would in thy palm dissolve, or seem to melt” (Venus and Adonis Z. 143–44. The Poems [The Arden Shakespeare], hg. F. T. Prince [London, New York: Methuen, 2000]). Im Rückgriff auf Othello III, iv, 36ff. – “This hand is moist, my lady …” – versichert auch Partridge: “A hot, moist palm may indicate amorous desire” Shakespeare’s Bawdy, 193.
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logisch motiviert ist. Die nunmehr zum Edelstein nobilitierte jungfräuliche Träne, die aus dem elterlichen Stamm des purpurnen Rebstocks hervorperlt, errötet angesichts der als Bräutigam personifizierten Sonne: Such the maiden gemme By the purpling vine put on Peeps from her parent stemme And blushes at the bridegroome sun. (61–64)
Nicht nur die der Hochzeitsikonografie entnommenen Epitheta ‘maiden’ und ‘bridegroome’ wie auch das sexuell konnotierte Erröten vor dem Bräutigam verweisen auf eine Erotisierung der Reuetränen; vor allem das Bild von einem Tropfen am purpurnen Rebstock126 lässt sich auch ohne intertextuelle Referenz auf Herricks ‘The Vine’ als eine konzeptistische Anspielung auf sexuelle Erregung und Ejakulation auslegen. Während die frühe Version des Gedichts von 1646 diese Strophe in toto ausspart, greift Crashaw in dem Kurzgedicht ‘The Teare’ auf sie zurück und gibt in zwei abgewandelten Zeilen dem erotischen Aspekt eine zusätzliche Nuancierung. An die Stelle der christologischen Chiffre des Rebstocks verwendet er “the wanton Spring,” wobei er die (eschatologische) Revitalisierung der Natur im Frühling explizit als eine Form des sexuellen Begehrens (“wanton”)127 begreift; auch der spätere Hinweis auf den himmlischen Bräutigam – “the bridegroome sun” – bekommt durch die frühere Variante, “the manly sun,” und ihre Betonung der apollinisch-paganen Maskulinität der Sonne ein unverwechselbares sexuelles Substrat. Gerade vor dem Hintergrund dieser Varianten kann an der dominanten sexuellen Bedeutungsschicht des copy text von 1648 nicht mehr gezweifelt werden, vielmehr rückt das die 11. Strophe abschließende Couplet – This watery Blossom of thy eyn, Ripe, will make the better wine (65–66)
– den Eucharistiegedanken endgültig auf die Ebene einer genitalen Vereinigung: Das conceit der wässrigen Tränenblüte des Auges stellt in Anbetracht des zuvor Erörterten einen nunmehr mühelos zu dechiffrierenden
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Albert C. Labriola, ‘The “wine of love”: Viticulture in the Poetry of Richard Crashaw’ (John Donne Journal [2005], 335–51) betont Crashaws profunde Kenntnisse des Weinbaus und wie er Fachwissen zur Hybridisierung auf die erotische Bildlichkeit anwendet: “Mary Magdalene in the viticulture of ‘The Tear’ is gendered as male and female after the manner of a cultivated hermaphroditic flower and grape vine,” 339. OED XIX, 881.
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Bezug auf Magdalenas Ejakulat bzw. Vaginalsekret (“eyn”) her, das, einmal zur Reife gelangt, die Qualität aller natürlichen Eucharistie-Weine übertrifft. Während es George Herbert nur schwer gelingt, die Trennungslinie zwischen Körper und Geist zu überschreiten – “leaping the wall that parts / Our souls and fleshy hearts”128 – und er im Kontext seines temperantia-Ideals den Eucharistie-Wein als ein spirituelles Emetikum versinnbildlicht,129 imaginiert Crashaw den eucharistisch genossenen amor divinus stets als einen mystischen Moment des sexuellen Fließens und Verschmelzens. Die prokreative Thematik des Fließens und Imprägnierens wird nun an der Stelle intensiviert, wo die Tränen und die von ihnen benetzten Wangen mit den Frühlingsmonaten in Verbindung gesetzt werden. Gemäß der Vorstellung des Jahreszyklus, der in der Imagination des frühneuzeitlichen Menschen eng mit den Stationen des Lebens verknüpft ist, wird dem April von jeher mit seinen revitalisierenden Regengüssen die Funktion des männlichen Begatters zugewiesen;130 der Mai hingegen wird – in Analogie zur Heiligen Hochzeit der Götter, bei der sowohl Hera als auch Maja, die Mutter des Hermes, durch den Regen des Zeus befruchtet wird131 – unter dem Aspekt des Absorbierens und Gebärens stets feminin imaginiert. In barocker Abwandlung dieses altüberlieferten sakralen Fruchtbarkeitsritus kommt es im Gesicht der weinenden Maria Magdalena nun zu einer symbolisch-alchimistischen Verschmelzung von Weiblichem und Männlichem, zu einer im Zeichen einer teleologischen Sexualität stehenden discordia concors der Geschlechter. Wie bei allen anderen Vergleichen so zeigen die Komparative erneut, dass auch diese Vereinigung die koitale Beziehung zwischen den Monaten April und Mai übersteigt und die Begattungsrituale zwischen den alten Göttern in den Schatten stellt:
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‘The Holy Communion’ Z. 14–15. “ … whenever at his board / I do but taste it [= My Saviour’s Blood], straight it cleanseth me.” ‘Conscience’ (14f.), Works, 105f. Michael Schoenfeldt zeigt anhand von Franciscus van Helmonts Paradoxical Discourses, dass in der geistlichen Literatur des 17. Jahrhunderts der Verdauungstrakt als der Opferaltar angesehen wird, auf dem Gott gehuldigt wird. Herberts Insistenz auf der Bildlichkeit des Purgierens wie z.B. in ‘The Rose’ – “Purgings enmity disclose” (Z. 19, Works, 177f.) – basiert auf diesem endogastrischen Gottesverständnis. Siehe hierzu sowohl ‘Fables of the Belly in Early Modern England’ The Body in Parts, 255 als auch Bodies and Selves, 126. Im Kontext der sexuellen Aridität der Moderne erscheint dagegen der April nur als grausam: “April is the cruellest month …,” so der invertierte Natureingang in Eliots The Waste Land I ‘The Burial of the Dead’ Z. 1ff. Haas, 122.
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No April ere lent kinder showres Nor May return’d more faithfull flowres. (83–84)
Dem barock-konzeptistischen “wit of loue” (89) zufolge symbolisiert Maria Magdalena aber nicht nur die paradoxe Verbindung von Hure und Heiliger, in ihr – bzw. in ihrem erotisch chiffrierten Gesichtsmikrokosmos – treten Gegensätze in einen sowohl harmonischen als auch autonomen Liebeswettstreit, “sweet Contest” (91). Das bedeutet, dass gemäß einem in sich abgeschlossenen ‚Sexualsystem‘ die Wangen sich in Beete oder Betten132 ‚keuscher‘ bzw. masturbatorischer Liebe – “Bedds of chast loues” (85) transformieren –, die von eigenen Regen-Ejakulationen bewässert und befruchtet werden. Und auch die vaginalen Augen, jene “nests of milky doues” (87) bedürfen hierbei keiner Intervention von außen, da sie von ihren eigenen (Vaginal-) Brunnen (“wells,” 88)133 befeuchtet werden. Das ikonografische Symbol der milchweißen Tauben unterstreicht überdies nochmals nachhaltig, dass nach dem Prinzip der erotischen Typologie sich in Maria Magdalena sowohl Antikes als auch Christliches, sowohl Venus als auch Christus-Amor vereinigen. Ihr weinendes Gesicht, das nichts mit Herberts Körperauffassung von “the abject other of inwardness”134 gemein hat, ist somit nicht nur ein eminent synkretistisches; es ist ebenso ein konzeptistisches, in dem Protagonisten und Antagonisten (“O fair and Freindly Foes, / Each other kissing and confuting!” [93f.]) sich zu einem Liebesduell zusammenfinden, oder – in der erotisierten Metaphorik der barocken Gartenbauarchitektur formuliert – in dem sich Springbrunnen und Garten, phallische Fontänen und vaginale Saatfurchen zu einem jardin d’amour en miniature fügen (90). c. Während spätere ‚neo-barocke‘ Strömungen in der Literatur und Kunst, wie die Neo-Romantik des Fin de Siècle, die weit voneinander getrennten Bildbereiche nicht mehr zu integrieren vermögen, und die Forderung der Surrealisten nach einer Wiederanbindung (re-ligio) des Sakralen an die Poesie und Erotik oft hinter den theoretischen Ansprüchen zurückbleibt,135 stellt Crashaws ‘The Weeper’ eines der letzten Zeugnisse einer 132 133 134 135
Zur Doppelbedeutung von ‘bed’ vgl. OED II, 44f. Vgl. DSL, III, 1511. Die erotische Symbolik des Brunnens kehrt noch in Byrons Don Juan wieder, wenn er von den “petits puits d’amour” spricht (XV, 68, 538). Bromley, 12. Siehe z.B. Man Rays provokante Photografie Das Gebet (1930) – vgl. hierzu vor allem “Das heiße Raubtier Liebe”: Erotik und Surrealismus, hg. Heribert Becker (München / New York: Prestel, 1998), 9ff.
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genuin alchimistischen Denkweise dar, die – analog zu der erotischen felix coniunctio von Sol und Luna bzw. von Atalanta fugiens (Quecksilber) und Hippomenes (Schwefel)136 – Gegensätze in Einklang zu bringen vermag: “Cheekes and Eyes / Close in kind contrarietyes” (95f.). Ein Weltverständnis, das alles mit allem zu vereinigen versteht und daher im Sinne der Surrealisten magisch und erotisch zugleich ist, äußert sich auch in den Strophen, in denen Crashaw die prokreativen Tränenfluten mit dem leidenschaftlichen Feuer in Magdalenas Brust zu korrelieren trachtet. Die im Bild der verzehrenden Flammen visualisierte Sehnsucht nach Gott verwandelt die ad infinitum verströmenden Tränen – “Æternall Teares” (100) – zu einem Destillat, zu einer Quintessenz, wie sie nur “loue’s sweet powres” (102) zu erreichen vermag. Dass es Christus-Amor in der Rolle des alchimistischen Versöhners ist, der sich hinter dem Abstraktum ‘loue’ verbirgt, wird dann zu Beginn der 18. Strophe evident: Versehen mit dem Attribut des klassisch-antiken Liebesgottes – “his well-pointed dart” (103) – erscheint Christus nun – gleichermaßen als aitiologische Begründung für Magdalenas niemals versiegenden Tränen-Ejakulationen – als phallischer Penetrierer, der wie auch bei Teresa von Avila, die Büßerin perforiert und die vaginalen Brunnen zum Fließen bringt: Twas his [= loue’s] well-pointed dart That digg’d these Wells, und drest this Vine[.] (103–04)
Die an das Verb ‘to dig’ geknüpfte Koitus-Metapher, die Donne im säkularisierten Kontext seines Gedichts ‘Loves Alchymie’ ebenso benutzt,137 räumt jeden Zweifel an der Rolle aus, die die Frühe Neuzeit Maria Magdalena zugedacht hat. Während der von Dan Brown publizierte Roman The Da Vinci Code (2005) auch dadurch zu einem succès de scandale wird, weil er im Rückgriff auf die Vermählungssymbolik des Hohelieds das Verhältnis zwischen Jesus und Magdalena als ein erotisches definiert, scheut das Barock nicht davor zurück, sie, die Prostituierte, nach dem Prinzip des mystischen hieros gamos zur Geliebten und Sexualpartnerin Christi zu erklären. Für den Sprecher in Gervase Markhams Maria Magdalens Lamentations (1601) ist es somit nur folgerichtig, dass Maria Magdalena sich des erotischen Diskurses bedient, den bei Vergil Dido oder bei Ovid die zahllosen zurückgelassenen und in Liebesglut entbrannten 136 137
Vgl. Tandecki, The Senses’ Festival, 269. “Some that have deeper digg’d loves Myne then I, / Say, where his centrique happinesse doth lie” (1–2). Poetical Works, 35f.
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Heroinnen gebrauchen. Somit überrascht es kaum, dass sie in dieser Versadaption von Southwells Marie Magdalens Funeral Teares über ihr “hearts hot desire,” “deepest passion of true burning love” und ihr “lovesick heart spricht.”138 Markham, ein Poetaster und Vielschreiber par excellence, der lediglich durch Jonsons Verdikt eines “base fellow” in die Literaturgeschichte eingegangen ist,139 antizipiert mit seinem Magdalena-Gedicht Crashaws ‘The Weeper’ insofern, als auch er Magdalena als eine de-profundis Sprecherin darstellt, die, in Umkehrung der petrarkistischen Figurenkonstellation, sich nach der physischen Nähe ihres verstorbenen Geliebten sehnt. Während jedoch in Petrarcas Dichtung die Absenz der Geliebten in immer wieder neuen Bilderfindungen inszeniert wird, ist es in der Dramaturgie von Crashaws Gedicht der mystisch vollzogene Beischlaf der Liebenden, der einen der Höhepunkte des erotischen Bilderreigens darstellt: Dabei ist es nicht nur die Erotisierung des Lamms, das seinen – phallisch konnotierten – Fuß in die vaginalen Tränenschächte eintaucht (108), worin sich das Koitale mitteilt; vor allem sind es die gesuchten und gesteigerten Bilder des exzessiven sekretorischen Überflusses – “thy so rich and rare expences” (116) – zur Bezeichnung des Liebesaktes, der im Unterschied zu Shakespeares kruder Sexualität im Sonett 129 alles andere als “a waste of shame,” als ein erotischer descensus ad inferos darzustellen scheint.140 Das Silber ihres Tränen-Ejakulats, das ihre Augen zu “a wandering mine” (125) oder “[a] voluntary mint” (126) macht, stellt letztlich eine im Physischen sich äußernde Möglichkeit der – zunehmend gefährdeten – Anbindung an Gott dar, eine erotisch definierte Verknüpfung zum Jenseits, wie sie durch Magdalenas “sweet-breath’d praise” als Weihrauchsäule (141f.)141 und nicht zuletzt durch ihr nach oben fließendes Tränenband gewährleistet wird. Im eklatanten Unterschied zu den Salomé-Darstellungen des 19. Jahrhunderts, die wie im Fall von Wildes symbolistischem Einakter die Tochter der Herodias als laszive und vampiristische Antipode zum asketischen Iokanaan 138 139
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Zitiert nach Shuger, 171. Siehe Vincent B. Leitch, ‘Introduction’ Marie Magdalens Funeral Teares (1591), a Facsimile Reproduction (New York: Scholars’ Facsimilies and Reprints, 1975), ohne Seitenangaben. The Sonnets, 373. – Ein wesentliches Unterscheidungskriterium beider Gedichte lässt sich auch an den Richtungen erkennen: Bei Crashaw strebt alles nach oben, Shakespeares persona befindet sich dagegen unabwendbar auf dem Weg nach unten in die vaginale Hölle. Die “clouds of incense” (142) stellen hierbei nicht nur eine Verbindung zu Gott dar. Das Harz, das die Bäume absondern, galt von jeher als ein vitalisierendes Sekret, als die (erotischen) “tears of the Great Mother,” Cooper, 87.
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inszenieren, steht Magdalena im Barock, gemäß der Homophonie von Hure und heilig im Hebräischen,142 für die pansexualistische Vereinigung aller Gegensätze, für die Versöhnung aller zeitlichen und räumlichen Polaritäten: All places, Times, and obiects be Thy teare’s sweet opportunity. (131–32; Hervorhebung NL)
Doch nicht nur temporale wie auch topografische Gegensätze erfahren eine Harmonisierung im Exzess jener erotischen Trauer, die in gewisser Hinsicht den hochromantischen Melancholie-Kult eines Novalis antizipiert, der am Grab der Geliebten sich mit ihr durch ein „funkelndes, unzerreißliches [Tränen]band“143 verbunden sieht. Gerade die 28. Strophe, die zusammen mit den Einleitungsstrophen den mikrokosmischen Rahmen des Gedichts (forehead-feet) absteckt, belegt, dass sich in Magdalenas prokreativen Tränen nunmehr auch alle Geschlechterantagonismen zugunsten einer familiären Androgynität aufheben. Die zuvor noch als Geschwister (sisters) und generative Eltern paraphrasierten Augen haben – in Analogie zur alchimistisch-koitalen Kondensation von Rosenwasser und Parfüm (“Sweating in a too warm bed;” 162) – männliche Nachkommen erzeugt: “bright brothers, / The fugitiue sons of those fair Eyes” (163f.). Diese männlichen Tränen-Spermatozoen bzw. homunculi, die in den beiden letzten Strophen sogar mit wörtlicher Rede den zuvor vom Sprecher gestellten Fragen begegnen, erweisen sich sodann als extreme Verfechter einer contemptus mundi-Haltung, die sich ausschließlich auf Christus konzentriert. Anstatt die weltlichen Insignien der Macht zu verzieren – “fear’d Diadems” (184) – gilt Magdalenas nach oben fließende erotische Tränen-Opulenz ausschließlich den Füßen ihres Herrn und Geliebten: “We goe to meet / A worthy object, our lord’s Feet” (185f.). d. Der hier evozierte Gegensatz, der zwischen oben und unten, zwischen den gekrönten Häuptern der Monarchen und den Füßen Christi besteht und zugunsten letzterer überwunden wird, bestimmt auch die erotische Sprache in den zahlreichen Magdalenen-Darstellungen der bildenden Kunst. Insbesondere in der barocken Inszenierung der Kreuzesabnahme, 142
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‚Heilig‘ heißt auf Hebräisch ‘kadosh’; die Tempelprostituierte der Heiden hieß davon abgeleitet ‘kedeschah’ im Unterschied zur gewöhnlichen Prostituierten (‘zonah’). Diesen Hinweis verdanke ich Rolf Lessenich. Hymnen an die Nacht III, 21.
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wie sie paradigmatisch in einer Version von Rubens in der Kathedrale Onze-Lieve-Vrouw in Antwerpen gestaltet wird, lässt sich ansatzweise die visuelle Umsetzung des erotischen Diskurses nachvollziehen. Obgleich die Verbalisierung des amor divinus bei Crashaw eine Proliferation von gewagten und oft manieristischen Metaphern erzeugt, zeigt Rubens’ Gemälde nicht minder effektvoll Magdalenas erotische, auf Christi Füße144 fokussierte Sehnsucht nach dem Geliebten: Kniend in der deprofundis Haltung greift sie mit ihren entblößten Armen nach dem linken, blutigen Fuß des Gekreuzigten und plaziert ihn zärtlich auf ihre nur leicht bekleidete Schulter. Diese Hingabe an die (phallischen) Extremitäten Christi steht deutlich im Kontext einer in der Frühen Neuzeit verbreiteten Todeserotik, einer Nekrophilie, die jedoch im Unterschied zu späteren Epochen theologisch untermauert ist. Vor diesem Hintergrund ist es unzutreffend, die dem toten corpus Christi gewidmeten Werke unter das Subgenre des “hagioporn” zu subsumieren, wie dies Deborah Kuller Shuger vor allem in bezug auf erotische Maria Magdalenen-Zeichnungen des späten 17. Jahrhunderts tut. Weit entfernt davon, Heiligenviten als Quellen sensationalistischer Animierliteratur zu begreifen, sind es neben Dichtern und Malern auch Prediger wie Donne, die sich der sexualisierten Sprache nicht um ihrer selbst willen bedienen, sondern die eigentümliche Todeserotik funktionalisieren, um somit die Kraft des amor divinus zum Ausdruck bringen: Wie manch eine verzückte Maria Magdalena in den Bildkunstwerken seiner Zeit imaginiert sich Donne auf dem Körper des Gekreuzigten liegend, und das in der Rolle eines sowohl homoerotischen als auch androgynen Liebhabers in einer nahezu koitalen Pose: “I put my hands into his hands, and hang upon his nailes […] I put my mouth upon his mouth.”145 In einer weiteren Predigt zu dem Psalmvers 68,20 imaginiert er sich wieder am Kreuze Christi hängend, versunken in intimem Körperkontakt mit dem Geschundenen, “hang[ing] upon that hangs upon the Crosse, there bath[ing] in his teares, there suck[ing] at his woundes.”146 Insbesondere 144
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Zur Erotisierung der Füße vgl. neben Freuds Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie („der Fuß ist ein uraltes, sexuelles Symbol, schon im Mythus“ [Gesammelte Werke V, 54.]) auch Lurker, 656, DSL I, 524f wie auch Ad de Vries’ Dictionary of Symbols and Imagery (Amsterdam / London: North Holland Publishing, 1974), 197. Alle betonen überdies die Komplementarität des phallischen Fußes zum vaginalen Schuh. Siehe auch Thompsons ‘hound of heaven,’ dessen erotische Bedrohung sich weitgehend durch die überdimensionalen Füße mitteilt. Kap. II, 5. Predigt zu Matt. 4, 18–20. The Sermons of John Donne, hg. George Potter / Evelyn Simpson (Berkeley / LA: U California P, 1955), II, 300. Z. 478–86. Ebd., X, 248. Z. 668–71.
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im Vergleich zu den späteren dekadenten und im Dienst der Blasphemie stehenden Magdalenen-Interpretationen von Gustav Adolf Mossa und Félicien Rops, die die prokreative und theozentrische Liebe in den barocken Gemälden durch einen nunmehr wollüstigen und usurpatorischen amour fatal ersetzen, wird evident, dass der frühneuzeitlichen Faszination für den toten Körper Christi noch stets eine eschatologische Sinngebung zugrunde liegt. Wenn in Mossas Aquarell Mary de Magdala (1907) eine zur Kokotte der belle époque transformierte Magdalena sich physisch des Gekreuzigten bemächtigt und – Wildes Salomé nicht unähnlich – den Körper Christi zum bloßen Fetisch-Objekt ihrer morbiden Lust missbraucht, dann hat sich in der Moderne die jenseitsbezogene erotische Hingabe für den toten Körper Christi zu einem psychopathologischen nouveau frisson verkehrt, der vor der nekrophilen Schändung von Toten ebenso wenig Halt macht wie vor der sakrileghaften Entweihung der christlichen Passion. Dass diese Form der sexuellen Annäherung an Christus auf eine pornografische Invertierung des amor divinus abzielt, lässt sich auch an einer Magdalena-Zeichnung von Rops ablesen, wo eine nackte und masturbierende Frau einen erigierten und am Kreuz erhöhten Phallus anstarrt. Nunmehr – gemäß der Sprache der genitalischen Fragmentarisierung in der Pornografie – dissoziiert von Christus nimmt der Phallus alleine die Stelle des Erlösers ein und symbolisiert somit den soteriologischen Triumph des kruden Geschlechts. Eine deutlichere Trennung von amor eroticus und amor divinus, von Erotik und Theologie, aber auch von priapistischer Potenz und christologischem Totenkult lässt sich kaum formulieren. Aus der Erotik des Gekreuzigten, dessen offenes corpus eroticum bzw. dessen Füße als (phallische) Extremitäten Maria Magdalena mit Tränen-Ejakulationen benetzt, ist nunmehr sowohl die Apotheose als auch die Aporie des pornografischen Bild- bzw. Objektsurrogats geworden.
4. Die Erotik des Todes in der Kunst und Literatur der Frühen Neuzeit Inwieweit die vermehrte wissenschaftliche Erforschung des Todes auf eine Endzeitstimmung, ein “fin du globe,”147 zurückzuführen ist, gehört in den Bereich der Spekulation; trotzdem bleibt zu konstatieren, dass die letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts eine auffallende Vielzahl von Mo147
Der Begriff ist Wildes Picture of Dorian Gray, Kap. 15, 147 entlehnt.
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nografien über die enge Verknüpfung von Tod, Sterben und Erotik hervorgebracht hat. Während Christiaan L. Hart Nibbrig sich mit der Ästhetik des Todes auseinandersetzt und die „massive Erotisierung des Todes“ seit der deutschen Romantik konstatiert,148 stellt Phillippe Ariès in seiner inzwischen zum Standardwerk avancierten Studie L’homme devant la mort nicht nur eine auf das 18. Jahrhundert bezogene Analogie her zwischen der Todesangst und der Angst vor Sexualität, vielmehr betont er die kulturelle Verbindung von Sexualität und Tod seit dem 16. Jahrhundert.149 Während Franz Meier davon ausgeht, dass es erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einer Verschmelzung von Sexualität und Tod kommt und zur Untermauerung seiner These auf die Erotisierung der Grabskulpturen und auf die Verbindung von Eros und Thanatos in der graveyard poetry verweist,150 zeigt Karl Siegfried Guthke hingegen in seiner 1999 publizierten Arbeit The Gender of Death: A Cultural History in Art and Literature, dass mit der Frage der Geschlechtlichkeit des Todes auch seine Sexualisierung in das Denken der Menschen der Frühen Neuzeit Einzug hält. Wie bereits in seiner Studie über die Mythologie der entgötterten Welt151 sich auf die Prämisse stützend, dass es im Wesen des Menschen begründet liegt, das Unfassbare und Unvorstellbare in konkrete Bilder zu kleiden, entdeckt Guthke in der Literatur und Kunst eine Unzahl von Todes-Inkarnationen, die sich nach dem Muster von binären Oppositionspaaren wie männlich und weiblich, alt und jung, hässlich und schön kategorisieren lassen. Während das Mittelalter und die Frührenaissance den Tod überwiegend als diabolische Bedrohung begreifen152 und in der interdisziplinären Gattung des Totentanzes ihn bald als hypnotischen Fiedler bzw. Flötenspieler, bald als abgezehrtes und altes Weib mit Hängebrüsten imaginieren,153 kommt es hingegen im Barock zu einer unverhohlenen Se148 149
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Christiaan L. Hart Nibbrig, Ästhetik des Todes (Frankfurt/M.: Insel, 1995), 238. Philippe Ariès, L’homme devant la mort (Paris: Éditions du Seuil, 1978). Aus dem Franz. übersetzt v. Hans-Horst Henschen / Una Pfau, Geschichte des Todes (München: DTV, 1989), 476. Franz Meier, Sexualität und Tod. Eine Themenverknüpfung in der englischen Schauerund Sensationsliteratur und ihrem soziokulturellen Kontext (1764–1897) (Tübingen: Niemeyer, 2002), 139f. Die Mythologie der entgötterten Welt (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 1971), 15. Gender of Death, 38ff. – Die Tatsache, dass der Tod als vierter apokalyptischer Reiter oft als Frau dargestellt werde, “a naked woman with long hair,” unterstreicht, dass der Horror vor dem Tod auch erotische Züge annehmen konnte, 61. Siehe z.B. Niklaus Manuel, gen. Deutsch, Der Tod und der Kanonikus (1516–19; Darmstadt, Hessisches Landesmuseum).
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xualisierung des Todes und des Sterbens. Dass der Übergang zwischen Renaissance und Barock hierbei fließend und die thematische Verknüpfung von Eros und Tod einer ambivalenten Entwicklung unterzogen ist, zeigt sich nicht zuletzt in Niklaus Manuels (gen. Deutsch) Ölgemälde Der Tod als Kriegsknecht umfasst ein junges Weib. Anders als in Hans Baldung Griens nahezu zeitgleichem Gemälde Der Tod und die Frau (1518–20), wo der Kuss des Todes im Gesichtsausdruck seiner Erwählten Ekel und Entsetzen hervorruft, scheint in Manuels Interpretation des Themas der Tod sein Odium des Schreckens abgelegt zu haben: Ein tief dekolletiertes Mädchen küsst ihn geradezu mit Hingabe und führt seine knochige Hand unter die eilig hochgerafften Röcke an ihre Vagina. Trotzdem ruft das Bild Irritationen hervor, die vor allem darin begründet liegen, dass der Tod seine mittelalterliche Gestalt als Knochenmann, als eine im Prozess der Verwesung begriffene Leiche beibehalten hat. Die ikonografischen Details auf dem links dargestellten Säulenportikus – geknechtete Gestalten und eine sich entleibende Puttenfigur – legen vielmehr den Schluss nahe, dass es sich bei dieser Variante des Liebestodes eher um ein exemplum horrendum handelt, um ein warnendes Menetekel vor der Frau bzw. Prostituierten als Kollaborateurin des Todes wie auch vor dem allzu leichtfertigen Umgang mit der tod- und siechtumbringenden Wollust, wie sie als promiskuitive mors syphilitica in der Restaurationszeit und noch bis ins 19. Jahrhundert thematisiert wird.154 a. Scheinen im frühen 16. Jahrhundert die divergenten Rollen von Eros und Thanatos lediglich in Darstellungen der luxuria zu konvergieren, so bekommt in Shakespeares Versepyllion Venus and Adonis die thematische Verflechtung von Liebe und Tod nunmehr eine barocke Komplexität. Zwar tritt der Tod hier in der Gestalt eines rasenden und destruktiven Keilers auf, doch der semantische Bereich, auf den sich Shakespeare bei der Darstellung von Adonis’ tödlicher Konfrontation mit dem Tier bezieht, nimmt in vielerlei Hinsicht die Bildlichkeit der phallischen – und nicht selten homoerotischen – Penetration vorweg, mit der im Barock so oft das orgasmische Theophanie-Erlebnis umschrieben wird. Noch bevor Adonis sich dem gewaltsamen Liebeswerben der Venus Pandemos zu entziehen vermag, führt sie ihm den Eber verbal als multi-phallischen 154
Zu diesem Aspekt von Liebe und Syphilis vgl. Sander L. Gilman, Sexuality: An Illustrated History (New York / Chicester / Brisbane: Wiley, 1990), 77ff. und die zahlreichen, in Rops’ Mors syphilitica kulminierenden Gemälden.
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Aggressor vor Augen. Nicht nur die Stoßzähne (“tushes;” 617),155 sondern vor allem die speerähnlichen Borsten (“bristly pikes;” 620) und das zu einem Rüssel vorgestülpte Maul (“His snout digs sepulchres where’er he goes;” 622) machen ihn, in Venus’ ekphrastischer Schilderung, zu einem penetrierenden Ungetüm, das zu den femininen Schönheitsattributen des Adonis (“soft hands, sweet lips and crystal eyne;” 633) in eklatantem Kontrast steht. Dass das von Venus evozierte und durch Eifersucht gesteigerte Schreckensszenarium eine Antizipation der Wirklichkeit ist, deutet sich bereits bei ihrer Begegnung mit dem Wildschwein an, das sie während ihrer Suche nach Adonis mit vor Blut schäumendem Maul im Dickicht antrifft: “Whose frothy mouth bepainted all with red, / Like milk and blood being mingled both together”(901f.). Bis zu welchem Grad hier die tödliche Aggression auch eine erotische Komponente beinhaltet, lässt sich sowohl an der Konnotierung des blutigen Schaums als auch an der Bedeutung von Milch und Blut in der damaligen Physiologie der Liebe ablesen. Dass Milch wie auch Blut mit Sperma assoziiert, oder wie im Fall des letzteren, sogar identifiziert werden, haben die vorangegangenen Ausführungen sowohl zu Crashaws ‘The Weeper’ als auch zur barocken ostentatio vulnerum hinlänglich unterstrichen. Welche Zusatzbedeutung allerdings durch den Hinweis auf den Schaum transportiert wird, kann vor allem durch die erotische Besetzung des Wortes im Aphrodite- / Venus-Mythos ermessen werden.156 Das häufig gewählte Sujet der Geburt der Venus, die nach der Entmannung des Uranos aus dem genitalischen Schaum (aphros) des männlichen Geschlechtsteils hervorgeht, führt dem damaligen Ovid-Rezipienten nachhaltig vor Augen, dass die Gleichsetzung von ‘froth’ und Sperma157 bereits auf einer mythologischen Grundlage beruht. Der koitale Sinn, der hinter dem Bild vom schaum- bzw. spermabefleckten Eber steht, wird im folgenden mehr als offenkundig, wenn die durch die Stoßzähne gerissene Wunde auf Adonis’ Körper beschrieben wird. Aus der Sicht der trauernden und in der Rivalität zu dem Eber besiegten Venus bietet sich dem Leser folgendes Bild dar:
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The Poems, 3–62. Alle Zitate und Zeilenangaben beziehen sich hier wie auch später auf diese Ausgabe. Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance. Aus dem Englischen übersetzt v. Christa Münstermann (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1984), 156. Siehe hierzu auch DSL I, 559, das bei dem Eintrag zu ‘froth’ sich vor allem auf die hier zitierte Textpassage in Venus and Adonis bezieht.
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… the wide wound that the boar had trench’d In his soft flank, whose wonted lily-white With purple tears that his wound wept, was drench’d. (1052–54)
Die vaginale Inszenierung der Wunde, die Adonis’ lilienweißen Körper mit pupurnen (Sperma-) Tränen benetzt, nimmt an dieser Stelle nicht nur die erotisierte Seitenwunde vorweg, die Christus als typologischer Nachfahre von Adonis-Tammuz durch die phallische Lanze erleidet.158 Sie verweist mit ihrem gesamten Wortfeld von ‘sheath’ (= Scheide) und ‘tusk’ (= Phallus) auf die genitalen Wunden und die wiederholten piccole morti, die Christus-Amor bzw. Christus-Thanatos Teresa von Avila oder Märtyrern wie dem Hl. Sebastian zufügt, wenn er sie mit phallischen Liebespfeilen defloriert und in Ekstase versetzt. Berücksichtigt man ferner, dass der durch den Eber verkörperte Tod seinen Akt der Destruktivität mit einem Kuss begleitet (“by a kiss;” 1114) und als “loving swine” (1115) sich geradezu an den Körper seines Opfers anschmiegt (“nuzzling in his flank;” 1115), so muss hier konstatiert werden, dass die fatale Konfrontation zwischen Adonis und seinem Widersacher sich unter dem Signum eines ambivalenten Liebestodes vollzieht.159 Das Vexierbild des Todes, das Shakespeare durch die Überblendung von Attributen arbiträrer Zerstörungswut und sexueller Zärtlichkeit zeichnet, und das an einer Stelle gar so changierend ist, dass Amor und Thanatos sich nur durch die Beschaffenheit ihrer Pfeile unterscheiden,160 wird auch in die (nahezu zeitgleiche) Liebestragödie Romeo and Juliet übernommen. Während Meier bei der Literatur der Shakespeare-Zeit nur
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In Anbetracht der semantischen Übereinstimmungen zwischen der Wunde des Adonis und der Seitenwunde Christi lässt sich Noam Flinkers These vom ‚Säkularismus‘ des Shakespeareschen Versepos nicht aufrechterhalten, The Song of Songs in English Renaissance Literature (Woodbridge: Brewer, 2000), hier vor allem Kap. 3, 88f. Zieht man zu Shakespeares Bearbeitung des Venus und Adonis-Stoffes Spensers Fairie Queene heran, so sind die Unterschiede aufschlussreich: Im 3. Buch (VI, 46ff) spart Spenser die proto-barocke Inszenierung des Todes aus, indem er zunächst Venus und Adonis als glückliches Paar darstellt – “There now he liveth in eternall blis, / Joying his goddesse, and of her enjoyed” (48, 1–2). Die ambivalente Gestaltung eines ebenso erotischen wie auch destruktiven Todes umgeht Spenser dadurch, dass der Keiler “with his cruell tuske” (48,4) in einer Höhle (“[i]n a rocky Cave” [48,8]) gefangengehalten wird. In dieser Vereinigung von Eber und Höhle eine dauerhafte und harmonische Verbindung von Phallus und Vagina zu sehen, wie dies J. B. Sokol (‘“Flora’s Cave”: Echoes of Spenser in Rochester’s Freudian Song “Fair Cloris in a pigsty lay”’ Durham University Journal [1995], 251–55) tut, erscheint sinnvoll. Sowohl Amor als auch der Tod gehören zu der Trias der blinden Mächte; die Liebe hat allerdings goldene Pfeile, wohingegen die des Todes aus Ebenholz sind. Venus and Adonis Z. 939f. und 947f.
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an die „makabre, ja nekrophile Erotik“ der Rachetragödie denkt,161 vollzieht sich in Shakespeares frühen Tagödien ein nachhaltiger Paradigmenwechsel in der Darstellung des Todes. Zunächst ist sowohl für Juliet als auch für Romeo und den um seine Tochter trauernden Capulet der Tod eindeutig negativ konnotiert: So stellt sich Juliet die Gruft – gemäß der etymologischen Bedeutung des Wortes Sarkophag (griech. sarx = Fleisch und phagein = essen) – als einen fleischfressenden Schlund vor, “[t]o whose foul mouth no healthsome air breathes in;”162 Romeo rekurriert in seinem letzten Monolog auf die traditionelle Repräsentation des Todes als abgezehrtes und grauenerregendes Ungeheuer (“the lean abhorred monster”163), und auch Capulet stimmt in diese negative Inszenierung des Todes ein, wenn er diesen als Frost bezeichnet, der sich vorzeitig auf die schönste Blume des Feldes gelegt hat.164 Wie die erotische Doppeldeutigkeit dieser Formulierung beweist, so lassen sich komplementär zu dieser Perhorreszierung des Todes immer wieder Textbeispiele anführen, die seiner hässlichen und widerästhetischen Attribute zum Trotz den Tod als verführerischen Liebhaber und zugleich das Sterbebett als Liebeslager charakterisieren. In der Wahrnehmung Capulets erscheint der Tod somit als sein rechtmäßiger Schwiegersohn (“my son-in-law”) und Erbe, der Paris düpierend sich die Rechte des Bräutigams angemaßt und die abermals als Blume umschriebene Juliet defloriert hat: O son, the night before thy wedding day Hath Death lain with thy wife. There she lies, Flower as she was, deflowered by him.165
Ungeachtet seiner Hässlichkeit erachtet auch Romeo den Tod als seinen größten Rivalen, wenn er im Rekurs auf den Proserpina-Mythos und die Liaison zwischen Hades und der Tochter der Ceres sich den Schnitter als Liebenden (“amorous”) vorstellt, der in der Dunkelheit des Grabmals seine Geliebte verborgen hält: “the lean abhorred monster keeps / Thee here in dark to be his paramour[.]”166
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Meier, 137. Romeo and Juliet IV, iii, 34. Ebd., V, iii, 104. IV, v, 28f. – Auch andere Figuren der Capulet-Familie tragen zur negativen Bestimmung des Todes bei: so Lady Capulet: “cruel Death” (IV, v, 48) und Paris: “detestable Death” (IV, v, 56). Ebd., IV, v, 35–37. Ebd., V, iii, 103–05.
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Neben der wiederholten Erotisierung des Todes und der damit verbundenen Faszination des Grauens kommt es in dieser Liebestragödie auch zu einer eigentümlichen Sexualisierung des (suizidalen) Sterbens. Anders als im Pyramus und Thisbe-Stoff im 4. Buch der Ovidschen Metamorphosen (55–166), wo das tragische Missverständnis im Vordergrund steht und der Aspekt des Liebestodes nur eine marginale Rolle spielt, wird das Sterben zu einem Surrogat für den Geschlechtsakt. Während Romeo küssend in den Tod geht – “Thus with a kiss I die”167 – und somit den ursprünglichen Gedanken der im Kuss erfolgten Kraftübertragung (con-spirare) in sein Gegenteil verkehrt,168 akzentuiert Juliet die dem Tod zugesprochene Gewalt der Penetration. Wie die partielle Übereinstimmung des Vokabulars zeigt, wird der Körper Juliets wie auch der des Adonis metaphorisch zu einer vaginalen Öffnung transformiert – “This is thy sheath”169 –, die von einem ebenso martialischen wie auch phallischen Gegenstand, in diesem Fall von einem Dolch, durchbohrt wird. Im deutlichen Unterschied zum Tod der Lukrezia, die durch ihre eigenhändige Erdolchung ihre Schändung zu sühnen und ihre Tugend unter Beweis zu stellen hofft,170 stirbt Juliet einen rein sexuell konnotierten Tod, dem, wie ihre letzten Worte, ihre auf ‘die’ endenden eschatologoi, bekräftigen, keine Regeneration folgen wird. Donnes theologisch wie auch erotisch auslegbares Phönix-Rätsel wird in diesem tragischen exemplum horrendum von einem Liebestod außer Kraft gesetzt, der aufgrund seiner sowohl ausnahmslos fleischlichen als auch suizidalen Intention im Weltbild der Renaissance ein negatives Vorzeichen hat. b. In bezug auf die Verflechtung von Eros und Tod kommt es somit in der Literatur und Kunst des Barock zu einer Intensivierung der bei Shakespeare angewandten Motive. Der Grund hierfür liegt vor allem in der – 167 168
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Ebd., V, iii, 120. Zur Symbolik des Kusses und seiner sowohl erotischen als auch spirituellen Bedeutungsvielfalt siehe Lurker, 421 und Annemarie Schimmels Eintrag zum Lemma ‚Kuss‘ in Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, hg. Kurt Galting (Tübingen: Mohr-Siebeck, 1960), IV, 189f. Auch Alain Montadons Ausführungen zum Kuss als Therapeutikum passen in diesen Kontext. Der Kuss. Eine kleine Kulturgeschichte. Aus dem Franz. v. Sonja Finck (Berlin: Wagenbach, 2006), 41ff. V, iii, 169. Vgl. Shakespeares The Rape of Lucrece und die zahlreichen bildkünstlerischen Darstellungen dieser Thematik. Wie in Cleopatras Suizid durch eine (phallische) Schlange ist auch beim Tod der Lukrezia eine sexuelle Akzentuierung letztlich nicht von der Hand zu weisen.
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von Guthke nur unzureichend dokumentierten171 – Abkehr der geistlichen Barockdichter vom Bild des Todes als grinsenden und furchteinflößenden Sensenmanns. Während der Tod in den zuvor behandelten Werken Shakespeares trotz aller Tendenzen zu seiner Erotisierung letztlich eine Monstrosität bleibt, setzt im Barock eine richtungsweisende Entwicklung ein, die den Tod nicht nur zunehmend humanisiert, sondern durch einen Ästhetisierungsvorgang sexuell attraktiv und mit Amor austauschbar macht. Bereits in Geoffrey Whitneys 1586 publiziertem Emblembuch A Choice of Emblems wird die Affinität von Amor und Thanatos, bzw. von Mors und Cupido in einer längeren komischen subscriptio aitiologisch erklärt: Nach einer gemeinsamen Übernachtung in einem Wirtshaus kommt es am nächsten Morgen aufgrund des übereilten Aufbruchs zu einer folgenreichen Verwechslung ihrer Köcher – “The morrowe next, they both awaie doe haste, / And eache by chaunce, the others quiuer takes.”172 So geschieht es, dass die jungen Menschen im liebesfähigen Alter plötzlich sterben und die Greise – entsprechend dem senex puer-Motiv – wieder vom Verlangen nach Liebe ergriffen werden: “And aged men, whome deathe woulde bringe to grounde: / Beganne againe to loue, with sighes and grones[.]”173 Trotz dieser farcenhaften Verwicklung, derzufolge Cupido fortan einige Todespfeile in seinem Köcher zurückbehält, hat sich eine Amalgamierung von Eros und Tod noch nicht vollzogen: Wie in dem visuellen Teil des Emblems, in der pictura, zu sehen ist, erscheint der Sohn der Venus in seiner ikonografisch tradierten Puttengestalt, wohingegen mors in diesem theatrum mundi in die Rolle des hageren Mannweibs (“the leane virago”) schlüpft. Lediglich die Austauschbarkeit der Pfeile vermag – wie in Shakespeares Venus and Adonis – die sowohl erotische als auch ästhetische Heterogenität dieser beiden Mächte bis zu einen gewissen Grad auszugleichen. In Richard Crashaws Gedicht über das Liebesmartyrium der Hl. Teresa von Avila kommt es nun zu der genuin barocken Verschmelzung von Eros und Tod, so dass die Terminologie wie auch die metaphorischen Bereiche sich einer eindeutigen Zuordnung verweigern: “Love thou art ab-
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In Kap. 3 fasst Guthke die Renaissance und das Barock unter dem Gesichtspunkt des teuflischen Todes (‘The Devil Incarnate’) zusammen, 82ff. Die vorausgegangene Darstellung des Todes bei Shakespeare wie auch die folgenden Erörterungen zu Crashaw zeigen das Defizitäre dieser Kategorisierung. Z. 8–9. ‘De morte et amore: iocosum’ A Choice of Emblems, hg. Henry Green (London: Olms, 1866, rpt. 1971), 132f. Ebd., Z. 16–17.
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solute sole Lord / Of life and death.”174 Zwar wird in den ersten beiden Zeilen gleichsam sentenzartig die Suprematie der Liebe festgestellt und der amor divinus als absolutistischer Herrscher über Leben und Tod bezeichnet; im folgenden lässt sich jedoch immer wieder belegen, dass in Teresas mystischer Ekstase die Erfahrung der göttlichen Liebe auch mit einer eindeutigen sexuellen Thanatos-Begegnung einhergeht. Im ersten Teil des Gedichts macht Crashaw deutlich, dass er im Unterschied zu den heroischen Versepen der Vergangenheit nicht mehr auf die alt gedienten milites amoris divini zurückgreift: “thy old Souldiers, great and tall / Ripe men of Martyrdome” (4f.). An die Stelle ihres spektakulär vergossenen Blutes kapriziert sich der Barockdichter vielmehr auf die Intimität des private mode (“privat seat;” 1) und den Einzug der göttlichen Liebe in das aedificium einer zarten Kinderseele: “Making his mansion in the mild / And milky soule of a soft child” (13–14). Gemäß dem bereits von Southwell aufgestellten Paradoxon, dass sich nur in der Schwäche die Stärke zu manifestieren vermag,175 inszeniert Crashaw die spätere Gründerin des Karmeliterordens zunächst als ein kindliches und argloses Geschöpf, das in seiner schwachen Brust von einem starken und enthusiastischen Liebesbegehren erfasst wird (“strong desire;” 40). Bereits hier fällt dem Leser auf, dass diese femme enfant nicht davor zurückschreckt, in einer Schale ‚tausend kalte Tode‘ (38) zu trinken. Die koitale Bedeutung des Kelches176 und seiner tausend kalten piccole morti, die hier noch in einem antithetischen Verhältnis zu der Hitze der inbrünstigen Liebe stehen, wird an dieser Stelle von der herkömmlichen Ikonografie der Märtyrer-Legende überlagert; in verschlüsselter Form antizipiert sie jedoch bereits hier die im folgenden in extenso aufgewandte Rhetorik der erotischen Thanatos-Erfahrung. Der poetische Chiaroscuro-Effekt, der sich im ersten Abschnitt des Gedichts in der Polarität von ‚schwach‘ und ‚stark‘ wie auch von ‚heiß‘ und ‚kalt‘ äußert, wird in der nächsten Sektion abgelöst durch den Kontrast zwischen ‚mystisch‘ und ‚barbarisch‘ bzw. ‚irdisch‘ und ‚transzendent‘ (“high;” 76). In ihrem masochistisch geprägten Verlangen nach den Qualen des Martyriums entschließt sich Teresa zunächst dazu, zu den 174 175
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Poems, 315ff. Die Zeilenangaben richten sich nach der Textversion von 1652. Sowohl ‘The Burning Babe’ als auch ‘New Prince, New Pomp’ kaprizieren sich auf das barocke Paradoxon, dass Christus als Kleinkind sich gegen alle Machtstrukturen zu behaupten vermag. Poems, 15f. und 16. DSL I, 353f. – Die sexuelle Bedeutung des Kelches ist später noch sowohl in der Parsifal-Rezeption (T. S. Eliots The Waste Land) als auch in der Ikonografie der Beschneidung relevant.
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muslimischen Mauren zu gehen, um dort mit ihnen in konkret merkantile Verhandlungen um die ihr gebührende Märtyrerkrone zu treten – “this unvalued Diadem” (48). Im Austausch für das von ihr vermittelte Wort Gottes und ihrem göttlich inspirierten Atem ist sie bereit, den Tod zu akzeptieren: Shee’l offer them her dearest Breath, With Christ’s name in’t, in change for death. (49–50)
Der hier nach ökonomischen Prinzipien ausgehandelte Tod unterscheidet sich von dem späteren sexuell konnotierten Sterben der Mystikerin nicht nur durch eine im Vokabular zutage tretende prosaische Rationalität (trade, offer, bargain); auch das Instrument, dessen sich die Mauren in der verzerrten Vorstellungswelt der Christen bedienen, erinnert in vielerlei Hinsicht an die sowohl in Romeo and Juliet als auch in Venus and Adonis verwendete Semantik der phallischen Gewalt. Zwar gehört Teresa in der ihr zugedachten Rolle des amourösen Opfers – “Loves Victim” (75) – zu den im Barock favorisierten Figuren, die, wie Donne in den Holy Sonnets, die göttliche Liebe als eine sexuelle Schändung, als eine gewaltsame Insemination und erotische Passion erleiden; diese Formen der schmerzhaften Gottesliebe stehen jedoch in scharfem Kontrast zu den von der Wollust diktierten Vergewaltigungen seitens der Mauren. Wie schon Shakespeare in seiner Eifersuchtstragödie Othello, so scheint sich auch Crashaw auf das stereotype Bild vom Mauren als “the blacker devil”177 zu kaprizieren. Ausgerüstet mit einem ‚barbarischen‘178 Messer – “a barbarous knife” (70) –, das im transgressiven erotischen Diskurs jener Zeit eine Umschreibung für die martialische Gewalt des Penis darstellt,179 beabsichtigt er letztlich nichts anderes, als die physisch fragile Teresa zu malträtieren und, als äußerstes Zeichen seiner Inhumanität, ihr die Brüste aufzuschlitzen:180 “to race / Thy Brest’s soft cabinet, and uncase / A Soule kept there so sweet” (71ff.).181 177 178
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Othello V, ii, 129. – Als direkte Nachfahren Chams in Gen. 9, 25–27 galten Schwarze überdies als blutrünstig, depraviert und über alle Maßen libidinös. OED I, 946. Bereits das griech. Wort barbaros bezeichnet das Fremde und Unzivilisierte. In Verbindung mit der sexuellen Symbolik des Messers steht es hier für die inhumane Sexualität des Nicht-Christen. DSL II, 765. In diesen Kontext gehören auch die Qualen der Hl. Agathe, deren abgeschnittenen und verstümmelten Brüste bildkünsterlisch mehrfach inszeniert werden. Siehe z.B. Cariamis Portrait einer jungen Frau als Agathe, bei dem die beiden abgetrennten Brüste auf einem Tablett exponiert werden (Edinburgh, National Gallery of Scotland). Das Bild von der Brust bzw. Vagina als Vitrine oder Truhe benutzt Crashaw in dem Gedicht ‘Letter to the Countesse of Denbigh’ auch in bezug auf die erotische Gottesliebe;
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Das hier eingesetzte Bild vom destruktiven und triebentfesselten Mauren, das in abgeschwächter und komischer Form auch noch Byrons Charakterisierung der Südeuropäer (inklusive der maurischen Spanier) als wollüstige “sun-burnt nations”182 zugrundeliegt, berührt das weitreichende Thema des im damaligen sexuellen Diskurs transportierten Rassismus und der religiösen Propaganda.183 Während Judith Marion Halberstam sich unter dieser Fragestellung der erotischen Literatur des 19. Jahrhunderts nähert und dabei den Versuch unternimmt, besonders den Vampir in Bram Stokers Dracula als eine Ausgeburt eines sexuell konnotierten Antisemitismus zu interpretieren,184 bleibt eine übergreifende, Crashaws Mauren-Bild einschließende Bewertung der im erotischen Sprechen gespiegelten Alterität bis heute ein Desiderat. Im Rahmen des hier vorliegenden Gedichts genügt es festzuhalten, dass durch die Intervention ihres göttlichen – und nicht minder präjudizierten – Gemahls (“thy faire Spouse;” 65) Teresa vor der hypothetischen Schändung durch die ‚Barbaren‘ bewahrt bleibt. Im Gegensatz zu diesem ‚niederen,‘ bloß libidinösen Liebestod, der ihr bei den Mauren prophezeit wird, ist ihr nun ein höherer und mystischer Tod vorbehalten. Eine wesentliche Qualität dieses mystischen Todes ist zunächst seine regenerative, jeder Finalität trotzende Eigenschaft – “a still surviving funeral” (78). Dort wo die Barbaren der Frühen Neuzeit ihr einen sterilen Liebestod als eine Form der endgültigen Auslöschung in Aussicht stellen, erlebt Teresa ihre orgasmische Vermählung mit Christus als einen wiederholten Gewaltakt, als ein fortwährendes Sterben und Wiederauferstehen: … a death, in which who dyes Loves his death, and dyes againe, And would for ever to be slaine! And lives, and dyes … (100–03)
Im Unterschied zu den antiken Vorstellungen des passiven Psychagogos, der den Toten sanft aus dem Diesseits ins Jenseits geleitet, erscheint
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der Unterschied zu den barbarischen Mauren besteht jedoch darin, dass Gott im Besitz der phallischen Schlüssel ist, die ihm ohne Zerstörungsakt den Zugang zum Herzen qua Vagina ermöglichen. Don Juan I, 69, 552. In bezug auf die erotisch chiffrierte Ächtung von Schwarzen sei hier auch auf Rubens’ Gemälde Der alte Silen (1617–27; München, Alte Pinakothek) verwiesen, wo zu dem Personal von Satyrn und kopulierenden Ziegen auch ein Schwarzer gehört. Diese später hinzugefügte Figur als Repräsentant monströser Sexualität greift mit lasziver Ausgelassenheit dem nackten Silenus ans Gesäß. Parasites and Perverts: Anti-Semitism and Sexuality in Nineteenth-Century Gothic Fiction (Ann Arbor: University Microfilms, 1991).
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Christus überdies in der polyvalenten Rolle des tatkräftigen Amor-Thanatos, der mit einem phallischen Liebespfeil sein Opfer zu durchdringen bereit ist – “A dart thrice dipt in that rich flame, / Which writes thy spouses radiant Name, / Upon the roofe of Heav’n” (81ff.). Doch gemäß der barocken Ästhetik des Exzessiven reicht eine einmalige in Aussicht gestellte Penetration durch Christus nicht aus: Seraphische milites amoris, die eigens ihre himmlische Liturgie unterbrechen, erproben ihrerseits ihre erotische Schießkunst an ihr (“Love’s Souldiers … / To exercise their Archerie;” 95f.) und bereiten somit – wie dieses kühne Bild einer religiös motivierten Massenkopulation veranschaulicht – die sponsa Christi durch ein oxymorontisches Gemisch aus Freuden und Qualen (“a sweet and subtile paine;” 98) auf den absoluten Höhepunkt vor. Der visionäre Dichter, der diese mystisch-erotischen Abläufe im Tempus des Futurs beschreibt, scheut sich dabei nicht davor, der ultimativen piccola morte eine nur leicht verschlüsselte Schilderung des Liebesspiels zwischen Christus und seiner Braut voranzustellen: How kindly will thy gentle Heart Kisse the sweetly-killing dart! And close in his embraces keepe, Those delicious wounds that weepe Balsome to heale themselves with. (106–09)
Das Bild vom Herzen, das den ‚süß tötenden‘ Liebespfeil küsst und umkost, paraphrasiert an dieser Stelle abermals die mystische Vereinigung der Liebenden mit Hilfe der Semantik der oralgenitalischen Stimulation; und auch die hier evozierten vaginalen Wunden, die aufgrund der unzähligen Penetrationen balsamische Sekrete absondern bzw. ‚weinen,‘ lassen sich eindeutig als Metaphern der sexuellen Erregung dechiffrieren. Das orgasmische Theophanie-Erlebnis, auf das das Gedicht in einer Crescendo-Bewegung zustrebt, wird ab Zeile 110 – in Ermangelung eines hierfür geeigneten Diskurses – gemäß dem sowohl auf Menschen als auch auf Engel applizierten Unsagbarkeitstopos (“O what? … aske not the tongues of men / Angels cannot tell;” 118f.) in weiteren Analogien umschrieben. So ist dieser Höhepunkt zunächst eine Verschmelzung verschiedener kleiner (Liebes-) Tode zu einem gewaltigen, der letztlich eine Auflösung des fragilen Körpers bewirkt: … thy Deathes, so numerous, Shall all at last dye into one, And melt thy soules sweet mansion. (110–12)
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In der erotischen Anverwandlung des platonischen soma-sema-Topos prophezeit der Sprecher, dass die als Gebäude imaginierte Physis (“mansion”) zerfällt und die Seele analog einem vom Feuer verzehrten Stück Weihrauch durch die Liebesseufzer der Perforierten (“[i]n a resolving sigh;” 117) zum Himmel emporgetragen wird. Ein weiterer traditioneller Bildbereich, den Crashaw auf die Thematik des Liebestodes anwendet, ist die seit der Antike weit verbreitete SternMetamorphose. Die Verwandlung eines Sterblichen zu einem Stern ist bei Ovid grundsätzlich Heroen und Herrschern wie Julius Cäsar und Kaiser Augustus vorbehalten.185 Daher muss es als ein Charakteristikum für Crashaws barockes Denken angesehen werden, wenn er diese Form der maskulinen Apotheose den kontemplativen Fähigkeiten eines grazilen Mädchens zuspricht. Aber selbst mit diesem Verstoß gegen die Bildkonvention der Literatur begnügt er sich nicht: Geradezu ikonoklastisch mutet es im Kontext der traditionellen Bildlichkeit an, wenn Crashaw dieses rhetorische Mittel der Heldenverehrung offen erotisiert. Bereits Juliet in Shakespeares Romeo and Juliet visualisiert ihren bevorstehenden Beischlaf mit Romeo mit Hilfe dieser makrokosmischen und der epideiktischen Literatur vorbehaltenen Bildformulierung: Im Moment ihres orgasmischen Liebestodes (“when I shall die”186) möge die als confidante angerufene Nacht Romeo in den Himmel entrücken und ihn dort zu einem Sternenregen transformieren – “Take him and cut him out in little stars”187 –, der fortan die Verehrung der christologischen Sonne ablöst. Im Gesamtzusammenhang des elisabethanischen Denkens stellt der Rückgriff auf die Sternenmetamorphose im Mund einer 14-Jährigen eine sexuelle Hybris dar, deren Unvereinbarkeit mit dem renaissancistischen Prinzip der Mäßigung im Verlauf der Tragödie immer wieder aufgezeigt wird. Wie konträr Shakespeare und Crashaw in dieser Darstellung des Erotischen zueinander stehen, zeigt sich vor allem darin, dass das negative Vorzeichen, das der Elisabethaner der Erotisierung dieses Bildbereichs zuweist, nun eine radikale Umwertung ins Positive erfährt: Die bei der Liebesekstase dem Körper entwichene Seele wird vom Mond respective Diana Cynthia in den Kreis der jungfräulichen Sterne aufgenommen
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Metamorphoses, „media cum sede senatus / constitit alma Venus nulli cernenda suique / Caesaris eripuit membris nec in aëra solvi / passa recentem animam caelestibus intulit astris.“ XV, 843–46. Romeo and Juliet III, ii, 21. Ebd., III, ii, 22.
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(122ff.) und von Christus (“reveal’d life;” 129) in das Mysterium des Himmels eingewiesen. Dass es in Anbetracht der zuvor geschilderten Penetrationen keinen Widerspruch darstellt, von ‚Jungfräulichkeit‘ zu sprechen, wie auch das Bild einer “snowy family” (127) zu evozieren, hat sich mehrfach als wichtige Komponente des konzeptistischen Denkens erwiesen. Bereits Donne hat den Beweis erbracht, dass der Begriff der Keuschheit höchst erotisch besetzt sein kann, und auch Thomas Carew bezeugt die Langlebigkeit der syllogistischen barocken Weltsicht, wenn er im Epitaph auf Maria Wentworth die oxymorontische Formulierung einer “chaste polygamy” erfindet.188 Die Wahl der erotischen und prokreativen Sprache macht überdies augenfällig, dass das auf den Liebestod folgende ‚Familienleben‘ nichts mit der spröden Langeweile gemein hat, wie sie Rossetti in seiner Evokation des Jenseits in der Darstellung der fünf webenden Märtyrerinnen (unter ihnen sogar Maria Magdalena) in ‘The Blessed Damozel’ exponiert.189 So stellt der Sprecher Teresa nicht nur in Aussicht, dass insbesondere nach dem orgasmischen Tod sie die Hand Christi ad libitum mit Küssen zu überhäufen vermag – “On which thou maist to thy wishes, / Heape up thy consecrated kisses!” (131f.) –; der weiblich konnotierte Mond wird überdies mit seinen Strahlen ihr Herz durchdringen und somit die zweite Phase ihrer Perforation einleiten: “She […] shall dart / Her mild rayes through thy melting Heart!” (133/35f.). Die Rolle der charitatis victima, in der Teresa die Liebe Christi in einer sexuell geprägten Algolagnie empfängt, wird nun im letzten Teil der Vision modifiziert, und zwar dergestalt, dass zum einen eine für Crashaw typische Ästhetisierung der erotischen Wunden einsetzt (“Thy wounds shall blush to such bright scars;” 153), und zum anderen die Teleologie der sexuellen Qualen stärker betont wird. Während der Hl. Sebastian im Fin de Siècle vor allem dadurch zum kultisch verehrten Heiligen wird, dass er als Identifikationsfigur der Homosexuellen für ein erotisches l’art pour l’art steht,190 erweist sich Teresa – entgegen der zynischen Deutung
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‘Maria Wentworth, Thomae Comitis Cleveland, filia praemortura prima Virgineam animam exhaluit’ Z. 18. Poems, 56. “Circlewise sit they with bound locks / And foreheads garlanded …” (109ff.). Gegen diese spießbürgerliche Konzeption des Himmels begehrt Rossetti mit seiner erotisierten damozel, “ungirt from clasp to hem” (7), auf. Poems, hg. Oswald Doughty (London: Longmans, 1957), 3ff. Im deutlichen Unterschied zum Barock ist die Sexualität im Kontext des Fin de Siècle nahezu geradezu selbst-referentiell. In Analogie zur absoluten Dichtung (poésie pure) kann man von einer sexualité pure, von einer sterilen Hermetik sprechen. Siehe hierzu
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bei Félicien Rops – als eine fruchtbare sponsa Christi. Die ihre Stirn schmückende Konstellation von Kronen besteht aus jenen bekränzten Seelen, aus jenen Jungfrauengeburten – “sonnes of thy vowes, / The virgin-births” (167f.) –, denen wider Erwarten eine mystische Insemination und seelische Befruchtung vorausging (“ … thy soveraigne spouse / Made fruitfull thy faire soul;” 168f.). Die auf diese Weise mit ihrer mystischen Nachkommenschaft umgürtete Braut Christi – “thy rich Zone, / Sparkling with the sacred flames, / Of thousand soules” (172ff.) – verkörpert somit ein erotisch-mystisches Paradoxon, das in den beiden letzten Zeilen der Sprecher bzw. poeta vates gleichsam als moralische Sentenz zusammenfasst und seiner Glaubensgemeinschaft zur Nachahmung empfiehlt: … who in death would live to see, Must learne in life to dye like Thee [= Teresa]. (181–82)
Die hier wie auch leitmotivisch im gesamten Gedicht verwendeten Topoi mors in vita und vita in morte spiegeln, wie Wolfgang G. Müller in einer kritischen Auseinandersetzung mit Stephen Greenblatts These des selffashioning und des histrionischen Aspektes des Sterbens darlegt,191 das besondere Verhältnis von Leben und Tod in und nach der Renaissance wider. Anhand von George Herberts ‚Mortification‘ zeigt Müller überdies, dass „die Kunst des Sterbens als Vollendung des Lebens verstanden wird.“192 Demzufolge wird die Präsenz des Todes im Leben bei Herbert in fünf Strophen geschildert, nur um dann in der Schlussstrophe der Vorstellung vom Leben im Tod zu weichen. Herberts Konzeption des Lebens sub specie mortis wird bei Crashaw jedoch um die Komponente des Erotischen erweitert: Wer im Tod zu leben hofft, muss sich im Leben für das erotische Sterben, für die sexuell explizite piccola morte empfänglich zeigen.193
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auch Wanda Klee, Leibhaftige Dekadenz. Studien zur Körperlichkeit in ausgewählten Werken von Joris-Karl Huysmans und Oscar Wilde (Heidelberg: Winter, 2001), 89ff. ‚Die Präsenz des Todes im Leben: Erscheinungsformen eines Topos in der Literatur der englischen Renaissance‘ Death-in-Life: Studien zur historischen Entfaltung des Paradoxes der Entfremdung in der englischen Literatur, hg. Günther Blaicher (Trier: WVT, 1998), 79–96. Ebd., 86. Wie sehr das 19. Jahrhundert sich von diesem sexualisierten Begriff der piccola morte entfernt, zeigt sich exemplarisch in Hardys Tess of the d’Urbervilles: “the petite mort,” die Tess auf ihrem Weg nach Flintcomb-Ash erfährt, bezieht sich nur noch auf Vorahnungen des Todes und entbehrt jeder erotischen Komponente. Tess, 312.
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c. Während Renaissance-Tragödien wie Shakespeares Hamlet sich dem Tod geradezu unerotisch und im Rückgriff auf die Tradition der egalisierenden danse macabre nähern, zeigt sich ein für die Kultur des Barock so prominenter Künstler wie Gianlorenzo Bernini fasziniert von der Vorstellung des Liebestodes, der sexualisierten mors in vita. Ohne einen direkten Einfluss Crashaws auf die Werke Berninis konstatieren zu können, ist die thematische Affinität dieser beiden Repräsentanten des 17. Jahrhunderts frappierend,194 und daher ist auch heute noch – bei aller Skepsis gegenüber einer unreflektierten Korrelation der sister arts – Mario Praz beizupflichten, wenn er im Rahmen der comparative arts Berninis Skulpturen durch die Werke des englischen Barockdichters erhellt sieht.195 Allein die in San Francesco a Ripa in Rom befindliche Marmorfigur der Seligen Lodovica Albertoni (terminus post quem 1671) verdeutlicht den im Barock ubiquitären Gedanken des sexualisierten Sterbens: Vor G. B. Gaullis Gemälde der Jungfrau Maria mit Jesusknaben und der Hl. Anna wird Beata Lodovica auf einem Marmorbett dargestellt; den vom Schleier ihres Nonnenhabits umhüllten Kopf auf einem Kissen schräg zurückgelehnt, den Mund geöffnet und die Augenlider gesenkt scheint sie die Agonie des Todes zu erleiden, wobei ihre Hände zum dramatischen Ausdruck ihres konvulsivischen Schmerzes ihre rechte Brust umfassen. Die durch die barocke Serpentinata-Linie wie auch durch die Vehemenz des Faltenwurfs affektiv gesteigerte Darstellung dieses existentiellen Krisenzustands wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert: Während Kunsthistoriker wie Rudolf Wittkower und Rudolf Preimesberger sich bei der Interpretation der Skulptur für eine Repräsentation des Todes aussprechen,196 so bietet es sich ebenso an, in ihr den Moment einer Ekstase, die brevitas eines nur begrenzten mystischen Todes wiedergegeben zu sehen. Wie eng beieinander und geradezu komplementär beide Deutungen letztlich sind, macht nicht nur ein Verweis auf die Gedichte Crashaws, sondern vor allem ein Blick auf Berninis berühmte Teresa-Statue deutlich. Allein die hier zu konstatierende verblüffende Übereinstimmung des Gesichtsausdrucks und der Kopfhaltung beider Figuren verleitet zu der Annahme, dass die Leiden in extremis der 194 195 196
Siehe hierzu Robert T. Peterson, The Art of Ecstasy. Teresa, Bernini and Crashaw (London / New York: Atheneum, 1970). Mnemosyne, 137ff. Zitiert in Rudolf Wittkower, Bernini. The Sculptor of the Baroque (London: Phaidon, 1999), 295.
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Lodovica Albertoni wie auch die der Teresa von Avila stark sexualisiert sind, und dass die barocke Identität von Liebeslager und Totenbett gerade hier eine paradigmatische Visualisierung erfährt. Wird in dem einen Werk durch den Gestus der Hände der Blick des Betrachters auf die (verhüllte) Brust der ekstatisch Sterbenden gelenkt, so ist es bei der Teresa-Skulptur der phallische Pfeil des Seraphen, der bei aller Exuberanz des Gewandes den Vaginalbereich der Mystikerin in Szene setzt. Voyeuristisch beobachtet von den in Marmor verewigten Mitgliedern der Cornaro-Familie wie auch von den unzähligen Besuchern der Kirche Santa Maria della Vittoria vollziehen Teresa und Christus-Amor qua Feuerengel im durchbrochenen private mode einer geöffneten Nische den mit allen sexuellen Konnotationen versehenen Liebestod. Während Crashaw in seinem nahezu 200 Zeilen umfassenden Gedicht sich beiden Topoi, dem Tod im Leben und dem Leben im Tod, widmet, ist Bernini gezwungen, sich nur auf einen Aspekt, auf den Gedanken der mors in vita, zu konzentrieren. Trotz Wahrung aller Dekorumsregeln gelingt es ihm, den erotischen Diskurs der autobiografischen Vorlage in das Medium der Skulptur zu übertragen und die Verflechtung von Eros und Tod durch expressive Mittel zu akzentuieren: Der zurückgeneigte Kopf, die in ihrer Passivität die koitale Durchbohrung erwartenden Gliedmaßen wie auch der in einer für Wittkower197 nahezu hörbaren Stöhngebärde geöffnete Mund – alle diese Elemente vermitteln den Eindruck, dass die visionär durchlittene Begegnung mit dem Jenseits einen sexuellen Charakter hat, der die alt etablierte Sterbekunst, jene zuweilen histrionisch zelebrierte ars moriendi,198 durch eine affektbetonte voluptas moriendi ergänzt. Kontrastiert man nun die Kunstwerke Berninis, vor allem seine Teresa-Skulptur, sowohl mit George Eliots Middlemarch als auch mit Dante G. Rossettis Interpretation der Verkündigung in Ecce Ancilla Domini (1850), so wird die unüberbrückbare Kluft zwischen den Erotikvorstellungen im Barock und in der Moderne, vor allem aber das zunehmend adversative Verhältnis zwischen Sexualität und Spiritualität wie auch zwischen Liebe und Tod, offenkundig. Wird in Eliots Roman Teresa in der Figur der Dorothea Brooke enterotisiert und den “Puritanic conceptions” sowohl der Protagonistin als auch des gesamten viktorianischen Zeitgeistes angepasst,199 so lässt sich dieser Paradigmenwechsel vom or197 198 199
“[A]n almost audible moan.” Wittkower, 158. Greenblatt, 16–21. In diesem Punkt stimmt auch Müller zu. Middlemarch, hg. W. J. Harvey (London: Penguin, 1965), 99.
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Abb. 6: Gianlorenzo Bernini, Estasi di Santa Teresa, Rom, Santa Maria della Vittoria © bpk / Scala.
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gasmischen Todeserlebnis zum steril puritanischen horror corporis auch in den beiden Kunstwerken von Rossetti und Bernini und deren auffallend parallelen Figurenkonstellationen veranschaulichen: Während Berninis Teresa sich durch ihre Körperhaltung für die Penetration durch den Liebespfeil Gottes empfänglich zeigt und sich in ihrem Gesicht die erotische Schmerzenslust des Liebestodes widerspiegelt, so schreckt Maria in Rossettis Bild zurück – wie Dorothea vor den “classical nudities and smirking Renaissance-Correggiosities”200 – vor der phallischen, unmittelbar auf ihren Schoß gerichteten Lilie. Ganz in ein steriles Weiß gehüllt, auf ihrem Bett in einem kargen, weiß getünchten Raum zusammengekauert und die Beine in einer Abwehrreaktion vor den Schambereich gezogen scheint Maria, hier in der Rolle der virgo territa, die Lilie in der Hand des Seraphen mit angsterfüllten Blicken zu fixieren. Während Darstellungen der Verkündigung in der Frühen Neuzeit stets den Aspekt der Prokreativität und der Heilserwartung antizipieren und die Erscheinung des Erzengels oft mit dem Motiv der madonna gravida korrelieren, ist das nahezu monochrome Gemälde Rossettis von einer bedrückenden Gestimmtheit der Entsagung geprägt. Die Verheißung einer unbefleckten Empfängnis, die weder Rubens noch Parmigianino davon abhält, Maria als virgo lactans zu erotisieren, erweist sich für Rossetti als gleichbedeutend mit Sinnenfeindlichkeit und zensorischem Lustverzicht. Nicht zuletzt unterstreicht die gestickte geometrisierte Lilie auf dem karmesinroten Tuch in der rechten unteren Bildhälfte nachhaltig das im 19. Jahrhundert sich darbietende Religionsverständnis, wonach jedes Relikt einer sexualisierten passio vom Prinzip einer vernunftdiktierten Keuschheit domestiziert wird.201 Marias defensive Körperhaltung, die aus Rossettis neopaganer Sicht die bereits in ‘The Blessed Damozel’ monierte Erotikverweigerung des Christentums symbolisiert, erfährt durch die kontrastive Lektüre von Crashaws zweitem Teresa-Gedicht, ‘The Flaming Heart,’202 ein weiteres Bedeutungspotential: Rossettis anämische Maria ist nicht nur ideengeschichtlich weit entfernt von Crashaws mater dolorosa, die in einem geradezu inzestuösen Liebestod Wunden mit ihrem gekreuzigten Sohn austauscht; sie ist ebenso weit entfernt von der todeswilligen Teresa, die 200 201
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Ebd. In diesem Kontext ist auch das Gemälde The Girlhood of Mary Virgin (1849; London, Tate Gallery) aufschlussreich: Maria wird beim Sticken jener Lilie gezeigt, während der Hl. Joseph im Hintergrund das sowohl für Bacchus als auch für den erotischen Christus stehende Weinlaub beschneidet und in seinem Wuchs begradigt. Poems, 324ff. Alle Zitate folgen dieser Textversion.
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Abb. 7: Dante Gabriel Rossetti, Ecce Ancilla Domini. London, Tate Gallery © bpk.
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trotz ihrer Passivität den Seraphen sowohl an erotischer als auch an intellektueller Potenz übertrifft und ihrerseits zum phallischen agens der mors in vita avanciert. Offenkundig bezugnehmend auf die vielen zeitgenössischen Interpretationen der Teresa-Figur in der Kunst der Gegenreformation schlägt der Sprecher einen gewagten Rollentausch vor, der nicht nur gegen ikonografische, sondern vor allem gegen epistemologische und gender-relevante Traditionen verstößt: Readers, be rul’d by me; und make Here a well-plac’t und wise mistake You must transpose the picture quite, And spell it wrong to read it right, Read Him for her, und her for him; And call the Saint the Seraphim [sic]. (7–12)
Die syllogistische Forderung, etwas falsch zu buchstabieren, um es dann richtig zu lesen, dieses grundlegende Prinzip der von Bauer beschriebenen mystical linguistics, bringt den Sprecher zunächst dazu, den anomymen oder imaginären Maler eines Teresa-Bildes eines künstlerischen Vergehens (“thy rude design;” 39) zu bezichtigen. Sein Mangel an erotischer Inspiration – “Had thy cold Pencil kist her Pen …” (20) – ist somit der Grund dafür, dass Teresa, “the mother Seraphim [sic]” (16), den ihr zustehenden glühenden Liebespfeil hat abtreten müssen, um dafür den monastischen Schleier zu empfangen. Mit Nachdruck insistiert der Sprecher auf eine Korrektur dieser ästhetischen wie auch inhaltlichen Verletzung der Kunst: “Redeem this iniury of thy art; / Giue Him the vail, giue her the dart” (41–42). Dieses Spiel mit den hagiografischen Konventionen, dieses im Dienst des Katholizismus stehende cross dressing, hat jedoch – anders als in den Komödien Shakespeares – tiefgreifende Implikationen sowohl für den Sprecher als auch für die Leserschaft mystischer Literatur. In unbewusster Übereinkunft mit der frühneuzeitlichen Auffassung von der Literatur als ars erotica hat die schreibende Teresa sich nicht nur eines phallischen Attributs (“her Pen;” 20) bemächtigt; vermittels ihrer Autobiografie hat sie überdies die Funktion des seraphischen Amor übernommen, der analog zu dem verzückt blickenden Engel in Berninis Skulptur jeden Leser mit dem (phallischen) Wort203 durchbohrt. Unter diesen Voraussetzungen wird in Ergänzung zu Thomas Anz’ Ausführun-
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Vgl. die an anderer Stelle (Kap. III.2) diskutierte Analogie von ‘sword-word’ in Crashaws Gedicht ‘Stabat Mater.’
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gen zur Erotik des Lesens204 die Lektüre des Textes zu einem masochistisch gefärbten Liebestod: Say, all ye wise und well-peirc’t hearts. That line und dy amidt her darts, […] … sends she not A Seraphim [sic] at euery shott? What magazines of immortall Armes there shine! Heaun’s great artillery in each loue-spun line. (49–50/53–56)
Erscheint die Märtyrerin im ersten Teil des Gedichts in einer noch ungewohnt martialischen Rolle, so konzentriert sich nun der zweite Teil auf die Wunde ihres entflammten Herzens: “The Flaming Heart” (68). Den so entstandenen Widerspruch zwischen beiden Sektionen versucht Crashaw, mit Hilfe eines konzeptistischen image cluster auszugleichen: Hierbei wird das Herz nicht nur mit einem – in der Ikonografie der Erotik stets vaginal besetzten – Köcher (“loue’s whole quiuer;” 70)205 gleichgesetzt; in der Imagination des Sprechers erfährt die Wunde des Herzens ihrerseits eine Transformation in eine edle Waffe, um schließlich den Beweis anzutreten, dass im Kontext der Liebe das Passive zugleich das Aktive und das Verletzte zugleich das Verletzende sein kann: For in loue’s feild was neuer found A nobler weapon then a Wovnd. Loue’s passiues are his actiu’st part. The wounded is the wounding heart. (71–74)
Inwieweit das verwundete Herz in seiner Polyvalenz auch eine genitale Bedeutung aufweist, lässt sich nicht nur anhand der eindeutigen Konnotierung der Wunde in der zuvor behandelten ostentatio vulnerum in der Christus-Ikonografie nachvollziehen; auch eine auf das Herz applizierte Schwangerschaftsmetapher macht evident, dass die Durchbohrung des Herzens stets vor dem Hintergrund einer koitalen Befruchtung verstanden werden muss. Wie kaum ein anderes Körperorgan steht das Herz für die Versöhnung von Gegensätzen. Es ist zugleich Köcher und Zielscheibe, was auf der Ebene der erotischen Metasprache bedeutet, dass es Phallus und Uterus in einem ist: 204 205
Literatur und Lust: Glück und Unglück beim Lesen, 205ff. DSL III, 1130 – Die vaginale Bedeutung des Köchers lässt sich bereits am Ishtar-Kult belegen, vgl. Haas, 28. In der Ganymed-Darstellung (vgl. Rubens’ Raub des Ganymed in Madrid, Prado) kann der mit Pfeilen gefüllte Köcher sogar anale Bedeutung annehmen.
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O Heart! The aequall poise of loue’s both parts Bigge alike with wounds und darts. (75–76)
Wie bereits in der erotischen Variation des stabat mater-Themas ist der Sprecher des Gedichts auch hier bemüht, die Exklusivität des Liebesdialogs zu überwinden und pars pro toto seine eigenen Heilserwartungen an die Figuren des Gedichts heranzutragen. Zu diesem Zweck rekurriert er abermals auf das zuvor geschilderte erotische Potential der Literatur: Als Leser der autobiografischen Schriften Teresas – “these conquering leaues” (77) – hofft das lyrische Ich, in die Rolle der Märtyrerin zu schlüpfen, um durch die literarische Evokation des sowohl sterbenden als auch tötenden, des zugleich blutenden und verwundenden Herzens (79f.) einen mystischen (Liebes-) Tod zu erleiden: Let mystick Deaths wait on’t [= the heart]; und wise soules be The loue-slain witnesses of this life of thee. (83–84)
In der barocken Sexualisierung des Sterbens kommt der Meditationskunst somit mit ihrem Element der compositio loci eine Schlüsselfunktion zu. Für das Individuum im 17. Jahrhundert, das bereits frühzeitig den Verlust seiner Anbindung an die Transzendenz beklagt, wird die Visualität der Kunst und der emblematischen Literatur zu einem eminent wichtigen Instrument, die erotische Todessehnsucht nicht nur zu artikulieren, sondern auch zu erfahren. Der mystische Liebestod, den die Hl. Teresa, Beata Ludovica, der Hl. Franziskus, und selbst Donnes Ich in den Holy Sonnets in unvermittelten Momenten der Ekstase zu durchleben scheinen, wird für Crashaws spätbarocke persona in ‘The Flaming Heart’ unweigerlich zu einem zerebralen Akt literarischer Rezeption. Die von der Liebe niedergestreckten Zeugen (“the loue-slain witnesses”) von Teresas mors in vita sind daher in erheblichem Maße Märtyrer der Literatur und ihrer meditativen Qualitäten. Der besondere Charakter dieses literarisch vermittelten Liebestodes zeigt sich dann in der Textpassage, in der der Sprecher das flammende Herz als “sweet incendiary” (85) apostrophiert und ein Aufglühen seines eigenen verhärteten und kalten ‚Herzkadavers‘ (“carcasse”) herbeisehnt: O sweet incendiary! shew here thy art, Vpon this carcasse of a hard, cold, hart, Let all thy scatter’d shafts of light, that play Among the leaues of thy larg Books of day, Combin’d against this Brest at once break in And take away from me my self und sin [.] (85–90)
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Im Gegensatz zu Teresas mystischer Durchbohrung werden die verstreuten Lichtpfeile, die sich der Sprecher in einer gebündelten Form auf seine Brust gerichtet wünscht, nun ausschließlich durch die Seiten der Bücher transportiert. Nur das taktile Erleben von Literatur vermag in der hier ausgefochtenen querelle zwischen pictura und poesis die Erfahrung des vehementen, als Vergewaltigung des Ich imaginierten Liebestodes zu garantieren. Der Leseakt geht somit über die von David Lodge beschriebene Koketterie des striptease weit hinaus:206 Das Lesen wird zu einer phallischen Durchbohrung, zu einer erschütternden Erfahrung sexueller wie auch spiritueller Omnipotenz. Auf die inbrünstig vorgetragene Bitte um die als “gratious Robbery” (91) bezeichnete mors in vita folgt eine an Teresa gerichtete invocatio, die aus zehn anaphorisch konstruierten Sätzen besteht und das Gedicht mit einem krönenden Abschluss versieht. In dieser von höchstem Pathos geprägten Peroratio tituliert der Sprecher die Mystikerin sowohl als “vndaunted daughter of desires” (93) als auch als weiblichen Seraph (“Fair sister of the Seraphim [sic];” 104), denn nicht zuletzt sind es ihre literarisch vermittelten orgasmischen Theophanie-Erlebnisse, die für das lyrische Ich die ars moriendi neu definieren: By all thy brim-fill’d Bowles of feirce desire By thy last Morning’s draught of liquid fire; By the full Kingdome of that finall kisse That seiz’d thy parting Soul, und seal’d thee his; […] Let me so read thy life, that I Vnto all life of mine may dy. (99–102/107–08)
Dass die ars moriendi zunehmend mit der ars amandi verschmilzt und sich hinter dem Vokabular des wilden Verlangens (“feirce desire”) stets eine endzeitliche Sehnsucht nach dem Todeskuss des himmlischen Bräutigams (“that finall kisse”) verbirgt, haben die Teresa-Gedichte Crashaws hinlänglich unter Beweis gestellt. In der Vorstellung des “louing strife / Of liuing Death und dying Life,” die auch das zentrale Paradoxon in dem kurzen Gedicht ‘A Song’ darstellt,207 zeigt sich nochmals epigrammatisch verkürzt, dass in der Frühen Neuzeit nicht nur das Leben, sondern vor allem auch der Tod sub specie amoris begriffen wird. Da die hierzu vorausgesetzte enge Verknüpfung von Diesseits und Jenseits im 17. Jahr-
206 207
Small World, 26. 1648 publiziert unter dem Titel ‘A Song of divine Love’ Z. 13–14. Poems, 327.
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hundert mehrfach in Zweifel gezogen und für unzulänglich erklärt worden ist,208 scheint Crashaws persona mehr denn je auf die Vermittlung von Literatur und Kunst angewiesen zu sein, um den Liebestod in der Imitation eines visuell stimulierenden exemplum sequendum erfahren zu können. d. Nach einer längeren, auf das Barock folgenden Interims-Periode, in der die Verbindung von Liebe und Tod nur vor dem pathologischen Hintergrund der ‚Lustseuchen‘ definiert wird, ist es letztlich Novalis, der in seinen Hymnen an die Nacht die sexuellen Implikationen des Todes erneut thematisiert und sich trotz seines pietistischen Hintergrunds in eine barocke, visuell ausgerichtete Literaturtradition stellt. So bringt er in den parallel zu seinen Hymnen entstandenen Geistlichen Liedern (1799–1800) ein ambivalent amouröses Verlangen nach Maria zum Ausdruck, wenn er sich in partieller Anlehnung an das vom Hl. Bernhard erlebte Wunder der lactatio als ein Kind beschreibt, das Milch aus der „selgen Brust“ der Gottesmutter saugt.209 In den Hymnen ist es dann die Thematik des sexualisierten Sterbens, die Novalis mit Autoren wie Crashaw verbindet: Die numinose Nacht des Todes umschwebt „des zarten Mädchens Busen“ und macht ihren Schoß zum Himmel;210 und dass der Tod wie bei Crashaw endgültig das Tremendum des Verwesenden abgelegt hat, bekunden dann jene durch ihre typografische Einrückung auffallenden Verse der vierten Hymne, in denen der todessüchtige Sprecher die Agonie des Sterbens als einen phallischen „Stachel [d]er Wollust“ bezeichnet.211 Während er bei Tage erfüllt von Glauben und Zuversicht lebt, überkommt ihn in der Nacht das Gefühl eines erotischen Sterbens „[i]n heiliger Glut,“212 das Traumgesicht einer Identifizierung von Grab und Gottes vaginalem Schoß.213 208
209 210 211
212 213
Donnes berühmte Zeilen in ‘The First Anniversary’ – “And new Philosophy calls all in doubt, / The Element of fire is quite put out …” (205ff. Poems, 213) – bestätigen die These von der Gefährdung der Korrespondenzen. Auch Montaignes Essais (1580ff), die seit 1608 in John Florios Übersetzung im Englischen zugänglich sind, konfrontieren ihre Leser mit einem (noch moderat) ausgeprägten Pyrrhonismus. XIII, 30. Werke, 72. Hymnen an die Nacht II, 11f. Werke, 42f. Ebd., IV, 77. – Auch die Aufforderung an den geliebten Christus, das Ich in den Todesschlaf zu saugen – „O, sauge, Geliebter, / Gewaltig mich an …“ (90ff) – machen den sexuellen Gehalt der Gottesliebe mehr als offenkundig. Ebd. IV, 100. Ebd., VI, 59f.; Dieser letzte Teil ist programmatisch überschrieben ‚Sehnsucht nach dem Tode:‘ „Ein Traum bricht unsere Banden los / Und senkt uns in des Vaters Schoß.“
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Was die Affinität Novalis’ zu Crashaw und der Literatur des Barock unterstreicht und überdies eine – bislang nicht untersuchte – These der kulturgeschichtlichen Verwandtschaft zwischen Barock und Romantik erhärtet, ist die typologische Kontextualisierung, die beide Autoren mit der Figur des himmlischen Bräutigams vornehmen. So wie der Sprecher in der fünften Hymne programmatisch verkündet, dass es „keine Trennung“ mehr gebe und im romantisch holistischen Sinne nur „Eine Nacht der Wonne – / Ein ewiges Gedicht“ existiere,214 so bedeutet dies auf der Ebene der Typologie, dass auch zwischen den Kulturen, zwischen Antike und Christentum sich kein Riss manifestiert, wie dies in der Nachfolge Heines neopagane Dichter des Fin de Siècle zu behaupten pflegen. Im synthetisierenden und zugleich neo-barocken Denken der Romantik bekommt Christus nicht nur die Harmonie stiftenden Attribute des Orpheus zugesprochen; in einem später von Swinburne in Abrede gestellten Synkretismus erscheint Christus Novalis’ Sprecher sowohl als Amor als auch überdies als Thanatos, als jener Jüngling, der mit umgekehrter Fackel die Gräber bis in die Neuzeit ziert: Der Jüngling bist du, der seit langer Zeit Auf unsern Gräbern steht in tiefen Sinnen; Ein tröstlich Zeichen in der Dunkelheit – Der höhern Menschheit freudiges Beginnen.215
Was in der Romantik den Stellenwert eines sentimentalen Rückzugs in eine mythopoetische Vergangenheit einnimmt, wird in der Kunst und Literatur des europäischen Barock wie ein alt überliefertes Faktum behandelt: Wie in der Folge zu sehen sein wird, behält das Denken in typologischen Kategorien noch bei Milton seine Gültigkeit; und sowohl Crashaw als auch viele Vertreter der bildenden Kunst nehmen keinen Anstoß daran, Christus nicht nur als Thanatos, sondern auch mit sensualistischen Gottheiten der Antike wie Amor, Bacchus und selbst Pan zu korrelieren. In einem 1990 publizierten Aufsatz weist Stella P. Revard ferner darauf hin, dass Crashaw seit seiner Studienzeit am Peterhouse College in Cambridge sich mit der Ikonografie der Venus intensiv beschäftigt und seine Heiligenfiguren wie Teresa oder Maria Magdalena vor der Folie der klassischen diva-Gestalten konzipiert.216 Neben dieser in erotischer Hinsicht vorgenommenen Verschränkung von Antike und 214 215 216
Ebd., V, 175f. Ebd., 84–87. ‘Crashaw and the Diva. The Tradition of the Neo-Latin Hymn to the Goddess’ New Perspectives on the Life and Art of Richard Crashaw, 95.
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Christentum kommt es überdies in der Bildsprache der Dichter und Maler zu einer eigentümlichen Sexualisierung (und Mortalisierung) des Jesuskindes. Dadurch wird zum einen seine stets propagierte Nähe zu Amor bekräftigt und zum anderen lässt sich so ein typologischer Bogen schlagen zu den Inszenierungen des Gekreuzigten als priapistischen homo eroticus und perforierten Adonis. Dass diese beiden Ausprägungsformen des typologischen Denkens nicht unmaßgeblich zur Erotisierung des Christentums im Generellen beigetragen haben, wird immer wieder seit dem 19. Jahrhundert von Autoren wie Swinburne, Hardy oder Pater mit Vehemenz bestritten. Die hierdurch ins Obskure und Unterbewusste zurückgedrängte Erotik, wie sie insbesondere im Kontext des renouvement catholique zum Tragen kommt und sowohl von Ellis Hanson als auch von Hildegard Feinendegen untersucht worden ist,217 bekommt durch die insistente Leugnung ihrer antiken Grundlagen nur allzu häufig einen Ruch des Morbiden und Degenerierten.
217
Vgl. Ellis Hanson, Decadence and Catholicism (Cambridge / Mass.: Harvard UP, 1997) und Feinendegens bereits zitierte Studie Dekadenz und Katholizismus.
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IV. Erotische Typologien 1. Christus im erotischen Pantheon Bereits 1890 konzentriert sich James Frazer in seinem einflussreichen mehrbändigen Werk The Golden Bough: A Study in Magic and Religion aus der Sicht eines Kulturanthropologen auf die gedanklichen Muster und Grundlagen, die die archaischen und antiken Religionen mit dem Christentum verbinden. Was letztlich auch Autoren von Percy B. Shelley bis Wilde faszinieren und wichtige Bedeutungsschichten in Werken wie Adonais oder ‘The Sphinx’ ausmachen sollte, ist die Vorstellung, dass unter dem Namen Osiris, Tammuz oder Adonis die Völker des Orients und des Vorderen Asiens sich Inkarnationen des Vegetationszyklus schaffen, die sie jährlich sterben und wiederauferstehen lassen.1 Gerade in bezug auf den Adonis-Kult, der, wie Frazer und später auch Haas darlegen,2 auf die babylonische Tammuz- und Ishtar-Verehrung zurückgeht, lässt sich ein kulturübergreifendes Muster erkennen, vor dem eine Erotisierung Christi und der Muttergottes vorgenommen werden kann. Nicht nur in Shakespeares Venus and Adonis zeigt sich in der Gestaltung von Adonis’ Tod, dass dem Autor die typologische Verbindung zwischen Christus und dem archaischen Vegetationsgott bewusst gewesen ist; auch in der bildenden Kunst wird offenkundig, dass die Figurenkonstellation von totem Adonis und trauernder Venus sich ohne des Vorwurfs der Blasphemie auf die christliche Pietà transferrieren ließ. Ein Vergleich zwischen Nicolas Poussins Gemälde La mort d’Adonis (Caen, Musée des BeauxArts, 1626–27) und seiner zeitgleich entstandenen Beweinung Christi (Le Christ pleuré [1626/ 30]; Alte Pinakothek, München) macht die großen Übereinstimmungen zwischen den beiden Themenkomplexen evident: Bis in die Anordnung und Position der Figuren lässt sich die Komplementarität der Bilder und ihrer Sujets nachweisen; sowohl Christus als 1 2
The Golden Bough (A New Abridgement), hg. Robert Fraser (Oxford: Oxford UP, 1994), 301ff. Haas, 38 und Frazer, 301ff.
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auch Adonis liegen auf Tüchern mit leicht angehobenen Oberkörpern, so dass ihre Köpfe als Steigerung des Pathos nach hinten fallen. Trauernde Amoretten gehören zur zentralen Konfiguration beider Gemälde ebenso wie eine das Haupt des Adonis salbende Venus, die im Kontext des christlichen Bildes sich mit einer beispiellosen ikonografischen Kongruenz in eine Maria Magdalena mit Nardenölgefäß verwandelt. Neben der typologischen Parallelität zwischen Venus und Maria Magdalena einerseits und Adonis und Christus andererseits ist es vornehmlich das von Putten umgebene Figurenensemble von Venus und Amor, das in der durch Ficinos Theologia Platonica wiederbelebten synkretistischen Tradition mit Christus und Maria verschmolzen wird. Wie Paul Seznec in seiner ideengeschichtlich orientierten Studie La survivance des dieux antiques darlegt, ist es Andrea Alciatis Emblematum Liber (1531) zu verdanken, dass im Rückbezug auf das dualistische Figurenpaar Eros und Anteros dem lasziven Cupido nun ein der göttlichen Liebe gewidmeter Amor zugesellt wird.3 Von hier stellt es nur einen kleinen Schritt dar bis zu dem Punkt, an dem in den späteren Emblembüchern von Otto Vaenius (Amoris divini emblemata) oder von Francis Quarles (Emblemes [1634]) Amor und der Jesusknabe sich zu einer Figur verbinden und sowohl Pfeil als auch Bogen zu Attributen einer facettenreichen und synkretistischen Amor-Christus-Gestalt werden. a. Vor dem Hintergrund dieser ikonografischen Entwicklung mag es daher den späteren Leser kaum noch verwundern, wenn Crashaw nicht nur in seinen Epigrammata Sacra Venus und Amor in einen präfigurativen Zusammenhang mit Jesus und Maria stellt,4 sondern überdies auch in anderen Gedichten stets die amorettenhaften Züge Christi besonders nachdrücklich betont. Im Hinblick auf die erotische Typologie erweisen sich daher die ‘In cicatrices Domini Jesu’ überschriebenen Verse als äußerst erhellend, denn die hier vorgenommene Synthetisierung von Amor und Jesus wird nicht bloß konstatiert, sondern unter Verwendung von Konzeptismen und artifiziellen Bilderfindungen bis ins Detail ausgeführt. 3
4
La survivance des dieux antiques (London: Warburg Inst., 1940), ins Englische übersetzt von Barbara F. Sessions, The Survival of the Pagan Gods. The Mythological Tradition and its Place in Renaissance Humanism and Art (New York: Princeton UP, 1953), 103. Siehe das Widmungsgedicht ‘Lectori’ in den Epigrammata Sacra: „Altera Cypris habet nos; habet alter Amor. / Scilicet hic Amor est. Hic est quoque mater Amoris. / Sed mater virgo. Sed neque caecus Amor“ Z. 84–86, Poems, 11ff.
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Abb. 8: Nicolas Poussin, Le Christ pleuré. München, Alte Pinakothek © Blauel / Gnamm – Artothek.
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Qua den an Christi Kreuzigung beteiligten “braue soldjers” (1) wird die Leserschaft bereits zu Beginn des Gedichts mit “Mighty loue’s Artillery” (2) konfrontiert.5 Aber entgegen den in mittelalterlichen Devotionswerken zur Schau gestellten arma Christi, die im allgemeinen aus der Dornenkrone, den Nägeln und der mit Essigschwamm versehenen Lanze bestehen, werden bei Crashaw nun die von Christus selbst benutzten Waffen präsentiert – ein im Dienste der Erotik stehendes Arsenal, das ausschließlich der antiken Amor-Ikonografie entlehnt ist: “the conquering dart” (3), “his quiuer” (4), “his bow” (4). Einen geradezu exemplarischen Einblick in den Synkretisierungsprozess der frühneuzeitlichen Literatur bekommt der Leser in den auf Zeile 4 folgenden Versen, denn hier versucht der Sprecher, in Analogie zu den Teresa-Gedichten das Martialische der Waffen zu modifizieren und in das barocke ChristusBild einzufügen. So erweisen sich die zuvor genannten Waffen abermals als “passiue weapons” (5); der Amor zugedachte Köcher wird konzeptistisch – im Rückgriff auf die vaginale Konnotation dieses Attributs – mit der Seitenwunde Christi identifiziert, und der einzige, jedoch ubiquitär wirksame Pfeil, der dort verblieben ist, wird auf ebenso überraschende wie auch willkürliche Weise mit dem Herzen gleichgesetzt: In it sate but one sole dart, A peircing one. his peirced heart. (9–10)
Auch im weiteren Verlauf des Gedichts stützt sich Crashaw bei der Verarbeitung der Amor-Ikonografie auf den barocken, jeder Logik zuwiderlaufenden sensus allegoricus: Mit der Behauptung, dass die Waffen Christi weder aus Stahl noch aus anderen Metallen (“nor steele, nor brasse;” 11) gefertigt seien, stellt der Sprecher summarisch fest, dass der Gekreuzigte selbst die arma amoris verkörpere – “The weapon, that he wore, he was” (12). Dieser kühnen Prämisse folgend gelangt der Sprecher zu einem Konzeptismus, der auf überraschende Weise die Liebestopik mit der Anatomie verbindet: Der Bogen Amors wird nun mit der am Kreuz fixierten Hand Christi korreliert, und paradoxerweise entsteht ihre Spannung erst durch die mehrfach gebrochenen Nervenstränge (“Well strung with many a broken nerue;” 14). Das Gedicht, das konsequent – und unterstützt durch das rhetorische Mittel der Synchese6 – die Attribute Amors auf den Körper Christi über5 6
Poems, 381. Dieses rhetorische Mittel, das auch als confusio bezeichnet wird, definiert Lausberg wie folgt: „ein durch die (meist wiederholte) Verwendung der Anastrophe und des Hyperbaton bewirktes Chaos der Wortfolge im Satz“ Elemente der literarischen Rhetorik
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trägt und somit die antike Bildlichkeit in das soteriologische Denken des Christentums überführt – “Strange the quiuer, bow, und dart! / A bloody side, und hand, und heart!” (15–16) – muss als ein Paradebeispiel dafür gewertet werden, dass die Mythologie vergangener Kulturen nicht nur im 17. Jahrhundert fortbesteht, sondern vielmehr sich mit der christlichen Ideenwelt zu einer vielgestaltigen Textur verwoben hat. Der Triumph der Waffen, den der Sprecher am Ende des Gedichts feiert – “The weapons now of triumph be” (19) – ist somit auch ein Triumph des Synkretismus, der es dem Dichter der Frühen Neuzeit ermöglicht, die passiven Züge des traditionellen Schmerzensmannes mit den martialischen und dynamischen Qualitäten des antiken Amor zu vereinen. b. Neben vereinzelten Kunstwerken wie Murillos Taufe Christi (1655), das den femininen, im Jordan stehenden Christus in die Nähe der Venus pudica rückt, ist es vornehmlich jedoch der Jesusknabe, der in seinem körperlich engen Verhältnis zu Maria sowohl Dichter als auch Maler immer wieder dazu anregt, vor der Folie von Venus und Amor den Sohn Gottes wie auch die gesamte Hl. Familie zu erotisieren. Mag Leo Steinbergs an einer Vielzahl von Gemälden von Perugino bis Correggio nachgewiesene infantile Erektion Christi hierbei noch Skepsis hervorrufen,7 so lässt die ikonografische Nähe zwischen dem Jesuskind und dem kokettierenden Amor bzw. zwischen der noch jungen Madonna und Venus keinen Zweifel an der durch das pagane Element verstärkten Sexualisierung des Christentums. Noch weit vor Rubens’ sensualistischen Mariengestalten und im Einklang mit der von Botticelli zaghaft initiierten Erotisierung der Hl. Jungfrau in dem Gemälde Madonna della Melagrana (1485; Florenz, Galleria degli Uffizi) trägt der Manierist Parmigianino wesentlich dazu bei, das Bild der asketischen und gramerfüllten Muttergottes abzulösen. Insbesondere in dem Werk Madonna della rosa (Dresden, Gemäldegalerie) zeigt sich Maria in ein leichtes und dekolletiertes Gewand gehüllt, unter dem sich die Formen ihrer attraktiven Brüste abzeichnen – eine Strategie, die im Gegensatz zu den oft outriert zur schau gestellten Brüsten in den renaissancistischen Darstellungen der virgo lactans gerade durch die Verhüllung eine erotische Reizwirkung erzielt. Was den vene-
7
(Ismaning: Hueber, 1990), 109. Diese Redefigur kommt somit nicht nur der stilistischen obscuritas der Barockdichter entgegen, sie dient auch der komplexen und (scheinbar) chaotischen Verflechtung der typologischen Zeitebenen. Steinberg, 76ff. An mehreren Beispielen zeigt Steinberg, wie im Kontext der sacra converzatione der Hl. Familie die Erektion des Jesuskindes inszeniert wird.
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rischen Aspekt ihrer Figur weiterhin akzentuiert, ist der über ihren Schoß hingelagerte und nahezu nackte Jesusknabe, der aufgestützt auf einer Weltkugel und in der Pose Amors seiner Mutter eine Rose darreicht. Sowohl bei den Griechen als auch bei den Römern der Liebesgöttin zugeordnet8 wird die Rose später zu einem Mariensymbol und zu einem Sinnbild der Wunden Christi. Bis in die ikonografischen Details lässt sich somit die Verzahnung der christlichen und antiken Liebeskonzeptionen verfolgen. Auch das schlafende Jesuskind in dem berühmten, zum Inbegriff des Manierismus gewordenen Gemälde Madonna dal collo lungo (Florenz, Galleria degli Uffizi), das wie bei Murillo und anderen Barockkünstlern als eine Präfiguration des späteren Leichnams aufgefasst wird, hat in der Darstellung des schlafenden Amors seine antike Entsprechung. Beide Gemälde, und dies gilt eingeschränkt auch für die monumentale Inszenierung der Vision des Hl. Hieronymus (London, National Gallery) machen überdies zu Beginn des 16. Jahrhunderts deutlich, dass im Zugriff auf antike Vorlagen das Mutter-Kind-Verhältnis zwischen Jesus und Maria eine zunehmend erotische Eigendynamik gewonnen hat. Zudem deutet das Bildelement der Vorhänge an, dass es sich hier um ein theatrum sacrum sive sexualis handelt, in dem der erotische und nur leicht drapierte Körper der venerischen Madonna wie auch der ostentativ dargebotene Penis Christi zum Fokalisationspunkt einer pansexualistischen Weltsicht geworden sind. Der durch das typologische Denken erst beschleunigte Einbruch des Erotischen in die Jesus- und Maria-Ikonografie, der im 19. Jahrhundert durch eine Tendenz zur Verkitschung und A-Sexualisierung abgewendet wird,9 führt im Barock dazu, dass eine unschuldige Mutter-Kind-Beziehung zugleich erotisch inzestuöse Konnotationen annehmen kann. In seiner poetischen Paraphrase eines Passus des Lukas-Evangeliums (2, 42ff.), ‘Quaerit Jesum suum Maria,’ gestaltet Crashaw das sowohl in der Authorized Version als auch in der Douai-Bibel nüchtern konstatierte Faktum der dreitägigen Abwesenheit des zwölfjährigen Jesus zu einer 50 Zeilen umfassenden erotischen Psychomachia der Muttergottes. 8 9
Lurker, 630. Im Umkreis der Nazarener, bei Overbeck, Schnorr von Carolsfeld u.a., wird der Jesusknabe wieder zu einem asexuellen Kind – eine in der Körperverneinung des 19. Jahrhunderts begründete Tendenz, der auch die Präraffaeliten (Hunt) nicht entgegengewirkt haben. Die hier einsetzende Infantilisierung des Christuskindes findet schließlich in William Bouguereaus Gesang der Engel (1881; Glendale California, Museum at Forest Lawn Memorial-Park) ihren Höhepunkt.
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Der zeitlich begrenzte Trennungsschmerz, den Maria auf der Suche nach ihrem himmlischen Bräutigam als einen ihrer septem dolores durchleidet, wird bei Crashaw zu einem polyvalenten Liebesschmerz, der sowohl an Venus’ sehnsüchtiges Verlangen nach Adonis als auch an das erotisch gefärbte Verhältnis zwischen Venus und Amor erinnert, wie es Agnolo Bronzino und andere Künstler zuweilen plakativ visualisiert haben. Auf die Feststellung, dass Jesus-Amor seine Geliebte und Mutter verlassen hat, folgt Marias Charakterisierung ihres Bräutigams und Sohns mit einem Bild, das nicht nur in der anakreontischen Dichtung bei Herrick, Habington10 und anderen zur Standardtopik gehört, sondern vor allem in Shakespeares Venus and Adonis eine besondere erotische Signifikanz hat: Hee’s gone. the fair’st flower, that e’er bosome drest, My soules sweet rest. (5–6)
Die Blume als Verzierung des weiblichen Busens kommt am Ende von Shakespeares Versepyllion einer Vergewaltigung, einer Inthronisierung der durch Venus Pandemos verkörperten Wollust gleich;11 in Crashaws Gedicht wird dieser laszive Topos nun umgewertet zu einem mehrdeutigen Bild erotischer Mutterliebe, die in ihrem Verlauf durch die Häufung der Imperative – “Make haste, und come …” (17) – wie auch durch die Thematisierung der Eifersucht sich zu einer obsessiven Liebesbeschwörung steigert. Gemäß der erratischen Struktur der Psychomachia oszilliert Venus-Maria im ersten Teil des Gedichts somit zwischen inständigem Bitten um Jesus’ Rückkehr und der plötzlichen und trügerischen Einsicht, dass makrokosmische Rivalinnen sich endgültig ihres Geliebten und Sohnes bemächtigt haben: Peace, heart! the heauens are angry. all their sphaeres Rivall thy teares. I was mistaken. some faire sphaere, or other Was thy blest mother. (19–22)
Im Kontext des geozentrischen Weltbildes werden aufgrund ihrer elliptischen Form die Sphärenringe, die stets von einem männlichen spiritus rector angetrieben werden, weiblich imaginiert. Somit besteht über die Qualität dieser übernatürlichen Liebe zwischen Jesus und Maria kein 10 11
‘To Roses in the Bosom of Castara’ Castara (1640). Ben Jonson and the Cavalier Poets, hg. Hugh MacLean (New York / London: Norton, 1974), 220f. “She crops the stalk, and in the breach appears / Green-dropping sap, which she compares to tears.” Z. 1175–76.
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Zweifel: Fürchtet Venus in ihrer (berechtigten) Eifersucht, durch die maskuline und homoerotische Kraft eines Ebers in den Schatten gestellt zu werden, so ist es im Rahmen dieses Gedichts der gesamte erotisierte Kosmos, mit dem Maria als altera Venus bzw. altera Cypris12 um die Gunst ihres knabenhaften Geliebten zu buhlen scheint. Im zweiten Teil des Gedichts, der genau in der Mitte, in Zeile 25, mit dem adversativen “Yet” eingeleitet wird, beruft sich Maria zunächst auf die gesicherte Faktizität ihrer Mutterliebe zu Jesus: “Yet sure thou did’st lodge heere. This wombe / Was once called thine” (25–26). Der durch Fragen und Ausrufe geprägte Stil der ersten 24 Zeilen wird somit abgelöst durch einen in neun anaphorischen Aussagesätzen vermittelten Rhythmus der Ruhe und des erinnerten Glücks: Oft haue these armes thy cradle envied, Beguil’d thy bed. Oft to thy easy eares hath this shrill tongue Trembled, and sung. […] (27ff.)
Inwieweit die in diesem Sprachduktus zum Ausdruck gebrachte Mutterliebe durch einen erotischen Subtext ergänzt wird, verraten immer wieder Verse, in denen Maria sich als eine in fleischliche Liebe entbrannte venerische diva dekuvriert: Oft haue my hungry kisses made thine eyes Too early rise. Oft haue I spoilt my kisses daintiest diet, To spare thy quiet. Oft from this breast to thine my loue-tost heart Hath leapt, to part. (35–40)
Die hungrigen und nach Rationen ausgeteilten Küsse verweisen bereits in diesem Zusammenhang auf die seit der Antike fest verankerte Verquickung von Essen und Erotik.13 Die Erwähnung jenes “loue-tost heart,” das Marias Brust mit Christi späterer Seitenwunde verknüpft, unterstreicht darüberhinaus nicht minder nachhaltig die Tatsache, dass in der Imagination der Barockdichter und -künstler die Liebe zwischen Maria und Jesus qualitativ über die Zuneigung einer Familienbande hinausgeht. Aber erst vor dem Hintergrund der aus der Antike entlehnten Amorund Venus-Ikonografie lässt sich der hier gewählte Liebesdiskurs einord12 13
Vgl. Epigrammata Sacra ‘Lectori’ Z. 84. Vgl. Kap. V, 4.
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nen und evaluieren: Die ausgetauschten Küsse, die an Eifersucht grenzende Angst wie auch der gesamte Klageduktus dieses Gedichts machen den Text zu einen Konglomerat aus Ovid und Bibel, zu einem ‘mongrel poem’ aus Mythologie und Christentum, das sich dem Purismus, wie er in Herberts Aversion gegenüber “fictions” in den ‚Jordan‘-Gedichten zum Ausdruck kommt,14 verweigert. Auch die letzten Zeilen des Gedichts lassen sich nur im Kontext der Typologie verstehen, obgleich das typologische Denken sich hier mit der barocken Sehnsucht nach einem erotischen private mode zu einem eigentümlichen Konzeptismus verbindet. Im Einklang mit der christlichen Vorstellung des Erlösers als ex oriente lux apostrophiert Maria ihren Sohn und Geliebten als eine männliche Eos-Gestalt, die wie die antike Verkörperung der Morgenröte die Nacht und das Chaos vertreibt: Dawne then to me, thou morne of mine own day, And lett heauen stay. (45–46)
Der makrokosmische Bezug, den die Analogie zu Eos herstellt, wird jedoch im Sinne eines erotischen Eskapismus sofort wieder relativiert: Das Firmament, das Maria ihrem synkretistischen “bosome God” (48) zugesteht, ist nicht nur in geradezu egozentrischer Weise auf ihre eigene Person zugeschnitten (me; mine own day); es wird überdies – und hierin schließt sich der Kreis des Gedichts – auf den Mikrokosmos ihres eigenen Busens reduziert: Oh, would’st thou heere still fixe thy faire abode, My bosome God: What hinders, but my bosome still might be Thy heauen to thee? (47–50)
Die an dieser Stelle durch eine Frau vorgenommene Identifizierung ihres Körpers mit einem Raum (“abode”) bzw. einem finiten Weltraum (“heauen”) erinnert nicht nur an Shakespeares Venus, die ihren widerspenstigen Liebhaber mit dem arkadischen Territorium ihrer Genitalien zu locken versucht; die paradoxe Inszenierung des Busens als ebenso weitläufige wie auch private Topografie verweist den Leser auch auf die Darstellung der Jungfrau als venerische Mutter, die – vor dem Hintergrund der klassischen pastoralen Tradition in Vergils Eklogen – in Crashaws ‘Hymne of the Nativity’ das Jesuskind zwischen die Milch-Ozeane ihrer Brüste bettet: “Two sister-Seas of virgins Milke.”15 14 15
‘Jordan’ I, Z. 1. Poems, 56. Z. 61.
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c. In bezug auf die Epigrammata Sacra und deren an den Leser gerichtetes Widmungsgedicht ‘Lectori’ hat Claire Warwick zum einen bewiesen, dass Crashaw sich bis in die metrischen Einzelheiten an die erotischen Elegiker Tibull, Properz und Ovid anlehnt;16 zum anderen legt sie dar, dass der Barockdichter sich der antiken erotischen Tradition auch als eines linguistischen Reservoirs bedient, um hieraus einen neuen Diskurs zu entwickeln, in dem Ovids Amores auf allen Bedeutungsebenen des Textes in der Art eines Palimpsests hindurchschimmert.17 Auch in den zahlreichen Gedichten auf Christi Geburt zeigt sich, dass die Dichter des Barock in ihrem typologischen Verfahren es letztlich nicht bei einer mechanischen Gleichsetzung von Antike und Christentum bewenden lassen. Der neue bzw. andere Amor – „alter Amor“ – hat nicht nur, wie Crashaw versichert, seine ikonografisch verbürgte Augenbinde abgelegt;18 er ist überdies, wie Tityrus und Thyrsis in der Weihnachtshymne als Repräsentanten und Zeugen der alten Welt beobachten, ein holistisches Wesen, das in der Gestalt eines Kindes alle Gegensätze wie auch diskursivischen Widersprüche aufzuheben und die Zeit in die Ewigkeit zu überführen vermag: Welcome, all wonders in one sight, Eternity shut in a span! Summer in Winter, Day in Night, Heaven in earth, and God in man! Great little one, whose all-embracing birth Lifts earth to heaven, stoops heaven to earth!19
Die Verknüpfung von Himmel und Erde, wie sie in der erotisierten Menschwerdung Christi vollzogen wird, zeigt sich unter dem Aspekt des Typologischen neben Crashaws librettohafter Hymne vor allem in John Miltons frühem, 1629 verfasstem Gedicht ‘On the Morning of Christs Nativity.’20 Nach dem in der vierstrophigen Einleitung erfolgten topischen Musenanruf – “Say Heav’nly Muse …” (15) –, der nichts anderes als ein ins Christentum übernommenes antikes Relikt darstellt, setzt das 16
17 18 19 20
‘“Love Thou Art Absolute:” Richard Crashaw and the Discourse of Human and Divine Love’ Sacred and Profane: Secular and Devotional Interplay in Early Modern British Literature, hg. Helen Wilcox / Richard Todd / Alasdair MacDonald, 238. Ebd., 245. ‘Lectori’ Z. 86: “Sed neque caecus Amor.” ‘Hymne’ Z. 53–59. Poems, 106–08. The Poems of John Milton, hg. John Carey / Alastair Fowler (London: Longmans, 1968), 97–113.
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Gedicht mit der Beschreibung des weihnachtlichen Schauplatzes ein. Ganz im Einklang mit der aitiologischen Intention der antiken Versepen wird die Unwirtlichkeit des winterlichen Klimas – “the Winter wilde” (29) – als eine asketische Demutsbekundung der Natur erklärt: Aus Ehrfurcht und Mitleid vor der kärglichen Krippe hat sich natura nicht nur ihres grellen Gewandes (“her gawdy trim;” 33) entledigt; sie hat überdies ihre auf Wollust beruhende Liaison mit der Sonne, mit dem männlichen Sol bzw. Apoll, temporär ausgesetzt: It was no season then for her To wanton with the Sun her lusty Paramour. (35–36)
Der durch die Wortwahl zum Ausdruck gebrachte sensualistische Charakter der Liebe (“lusty”) zwischen Sonne und Natur wird auch in der zweiten Strophe durch unmissverständliche Andeutungen auf die Erbsünde verfestigt. Die hier als unschuldig bezeichnete Schneedecke dient einzig nun dazu, die sündige Blöße der Natur – “her naked shame, / Pollute with sinfull blame” (40f.) – mit einem jungfräulichen weißen Schleier zu kaschieren. Anders als Sir Thomas Browne, der in seiner Abhandlung Religio Medici bereit ist, sogar in der Monstrosität eine Schönheit zu entdecken – “there is no deformity but in monstrosity, wherein notwithstanding there is a kind of beauty”21 –, konzentriert sich Milton ausnahmslos auf die “foul deformities” (44) der gefallenen Natur. Hierbei wird nun evident, dass der frühklassizistische Ekel vor den Unebenheiten des ‚offenen‘ weiblichen Körpers auf das laszive corpus naturae übertragen wird. Nicht nur die Absenz voluminöser und Milch spendender Brüste, wie sie Crashaws Gedichte leitmotivisch prägen, sondern auch die Auswahl der pejorativen Epitheta lässt bereits darauf schließen, dass Milton mit dem frühneuzeitlichen Körper- und Typologieverständnis bricht und eine neue Kulturepoche einleitet. 21
Religio Mundi I, 16. Religio Mundi and Other Works, hg. L. C. Martin (Oxford: Clarendon P, 1964), 16. – Dem diametral entgegengesetzt ist Charles Cottons Gedicht ‘The Wonders of the Peake,’ wo die persona in misogyner Weise ihre Empörung über die Unvollkommenheit der Natur äußert. Die Deformationen der terra feminina, die den Himmel in so eklatantem Ausmaß beleidigen (“to such a black degree” [4]), werden ohne weiteres mit dem weiblichen Schambereich identifiziert: “The Traveller / Would swear those parts Natures pudenda were” (7f). Ganz im etymologischen Sinne lehren diese pudenda den männlichen Reisenden das Fürchten: “Warts and Wens” (9), “a blue scrofulous scum” (11), “impostumated boyles” (12) machen neben den Grotten und Höhlen aus dem femininen Naturkörper das Anti-Bild eines klassizistischen Schönheitsideals. Die Metapher des “Crypto-porticus of Hell” (75) verweist überdies auf den Kontext der vaginalen Hölle. Poems of Charles Cotton, hg. John Buxton (London: Routledge, 1958), 52–94.
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Zwar lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sich in der einleitenden Digression über die Auswirkungen der Erbsünde und ihrer Manifestation der luxuria das Weltverständnis eines Puritaners zeigt, doch jeder Versuch, Milton auf seine puritanische Religionsauffassung zu reduzieren, erweist sich insbesondere bei der Vielschichtigkeit des vorliegenden Gedichts als äußerst problematisch. Gerade Miltons Verweise auf die erotische Typologie sowie seine Technik der Juxtaposition von Hell und Dunkel, Harmonie und Disharmonie beweisen abermals, dass bei aller Skepsis gegenüber den weiblichen Formen der natura auch Vertreter des extremen Protestantismus sich mit der barocken ars poetica auseinandersetzen.22 Darüberhinaus fällt auf, dass Milton dem Thema der Erbsünde quantitativ nur wenig Raum (zwei Strophen) zuweist; um den Schamgefühlen der Natur vor ihrer unzüchtigen Depraviertheit nachhaltig ein Ende zu setzen (“her fears to cease;” 45), sendet Gott in Anspielung auf Isaiahs Verheißung eines princeps pacis (9,6)23 eine weibliche Inkarnation des Friedens – “meek-eyd Peace” (46) –, die gekrönt mit Olivenzweigen eine positive Form der Liebe inauguriert. Hierbei wird nun evident, dass die Attribute der weiblichen Friedensgestalt – die Taubenflügel, mit denen sie die liebenden Wolken teilt, wie auch der Myrtenstab (“her mirtle wand;” 51) – eindeutig aus der antiken Venus-Ikonografie stammen. Und in noch weiterer Hinsicht kommt es am Weihnachtstag, an jener seit 336 verbürgten Koinzidenz von griechisch-römischem Saturnalienfest und Christi Geburt,24 zu einer Verschränkung von Altem Testament, Christentum und Antike: Inmitten der friedlichen Stille der Heiligen Nacht, während die beruhigten Winde sanft die Gewässer küssen – “The windes with wonder whist, / Smoothly the waters kist” (64f.) –, trägt Christus, jener bereits im Alten Testament prophezeite “Prince of light” (62),25 im Wettstreit der Sonnen den Sieg davon. Apoll, der ob Christi Geburt nicht nur die Geschwindigkeit seines Sonnenwagens gedrosselt, sondern auch vor Scham über seine ge22
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Rambuss’ Behauptung, dass Milton die barocken Gedichte über den sexualisierten Körper Christi einer Revision, “his own revisionary chastening christological canon” (134) unterziehe, bedarf einer Modifizierung und trifft allenfalls auf den zweiten Teil des Gedichts zu. “For unto us a child is born, unto us a son is given: and the government shall be upon thy shoulder: and his name shall be called Wonderful, Counsellor, The mighty God, The everlasting Father, The Prince of Peace.” Authorized Version, 773. In bezug auf das Jahr 336 vgl. das Lemma ‚Weihnachten‘ in Das kleine Oxford-Lexikon der Weltreligionen, hg. John Bowker (Oxford: Oxford UP, 2000). Aus dem Englischen übertragen v. Karl-Heinz Golzio (Düsseldorf: Patmos, 2002), 765. Isaiah 60, 2/19.
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ringere Leuchtkraft sein Gesicht abgewandt hat (“ … hid his head for shame, / As his inferiour flame;” 80f.), sieht sich nun mit einer größeren Sonne konfrontiert, die trotz ihrer schwachen Säuglingskonstitution sich als zu mächtig für seinen Thron oder seine brennende Radachse erweist: He saw a greater Sun appear Then his bright Throne, or burning Axletree could bear. (83–84)
Wie bereits der Komparativ in der zahlensymbolisch relevanten siebten Strophe verdeutlicht, ist Miltons typologisches Denken in weit stärkerem Maße als das bei Crashaw evolutionär ausgerichtet. Während Crashaw lediglich die Differenz zwischen altem und neuem Amor konstatiert, zeigt sich Milton stets bemüht, das Neue als eine qualitative Verbesserung zu lobpreisen – eine Tendenz, die schließlich im letzten Teil des Gedichts in der Flucht der alten Götter kulminiert. Vor dem Hintergrund dieses typologischen Evolutionsgedankens bekommt auch die irritierende Etikettierung Christi als “the mighty Pan” (89) einen dem Christentum angemessenen Sinn. Was hierbei den im Gespräch vertieften Hirten entgeht, bezieht sich weniger auf die Tatsache, dass der bocksfüßige deus rusticus, der in seiner Rolle als Alptraum (incubus)26 oft mit unverhülltem Phallus den Nymphen nachstellt, als eine Präfiguration Christi erachtet wird; im Unterschied zum hehren poeta doctus vermögen sie in ihrem “rustick row” (87) vor allem nicht zu erkennen, dass Christus das gesamte Pantheon ersetzt, und dass der Gedanke des durchaus erotischen Polytheismus nun durch die Geburt eines einzigen, allumfassenden (pan = griech. alles) und hierin pan-theistischen Gottessohnes abgelöst worden ist. Der Anbruch dieser neuen Zeitrechnung, die der Dichter zwar punktuell mit der Rückkehr der antiken aetas aurea – “the age of gold” (135) – korreliert, wird durch das Wortfeld der Musik vermittelt: Beim Ertönen der himmlischen Liturgie, die durch die Wirkung des Echos ins Tausendfache gesteigert wird, kann auch natura nicht umhin, die Terminierung ihrer rein erotisch motivierten Herrschaft mit Sol anzuerkennen, wohl wissend, dass die Harmonie dieser musica (extra-) mundana eine glücklichere Verbindung zwischen Himmel und Erde stiften wird: She knew such harmony alone Could hold all Heav’n and Earth in happier union. (107–08)
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Siehe zu dieser Deutung Pans bei Artemidor Lücke, Antike Mythologie, 593.
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In Miltons telos-bezogener Typologie ist die fleischliche Sexualität zwischen Natur und Sonne der Abstraktion einer spekulativen Sphärenmusik – die alles andere als “the food of love” darzustellen scheint und eher Keats’ “ditties of no tone” entspricht27 – gewichen. Dies bestätigt letztlich eine Tendenz, derzufolge, wie auch in den späteren Werken Vaughans und Trahernes, der Mystizismus des 17. Jahrhunderts immer theoretischer und unfassbarer wird. Mit “unexpressive notes” (116) huldigt Milton dem seinerseits abstrakt gebliebenen Erben des Himmels (“Heav’ns new-born Heir;” 116), und das imaginative Erklingen der Weltenorgel (“the Base of Heav’ns deep Organ;” 130) bildet hierbei den akustischen Rahmen für ein opulent choreografiertes theatrum sacrum, das nur auf den ersten Blick an die barocke Virtuosität der Decken- und Kuppelgemälde eines Pozzo oder Gaulli erinnert: And Heav’n as at som festivall, Will open wide the Gates of her high Palace Hall. (147–48)
Anstatt zu einer ausgedehnten Ekphrasis eines himmlischen Jerusalem anzusetzen, dem in der Kunst des Barock auch immer etwas Olympisches anhaftet, zieht der Sprecher des Gedichts es nun vor, im Rückgriff auf die Bildlichkeit des Weltgerichts die dissonantische Vertreibung der alten Götter einzuleiten. Neben Satan, “th’old Dragon under ground” (168), der in Anbetracht seines schwindenden Einflusses voller Zorn seinen Reptilienschwanz, “the scaly Horrour of his foulded tail” (172), schwingt, sind es die ehemaligen Gottheiten, die im Zuge eines großangelegten Exorzismus unter Misstönen (“a horrid clang;” 157) ihre Kultstätten verlassen. Wie später in Byrons Childe Harold’s Pilgrimage erweisen sich sowohl die Orakel von einst als auch ihre Exegeten als verstummt – “The Oracles are dumm” (173) –; und Apoll, jenem erhabenen musagetes, der aufgrund seiner Liebe zu Daphne und Hyakinthos als bisexuell galt, bleibt nicht anderes übrig, als am Tag von Christi Geburt in ohnmächtiger Schreigebärde das delphische Orakel zu fliehen: Apollo from his shrine Can no more divine, With hollow shriek the steep of Delphos leaving. (176–78)
Während Byrons alter ego als Vertreter einer Generation von Zuspätgeborenen vor den schweigenden Ruinen der alten Kultstätten melancho27
Twelfth Night I, i, 1. (The Arden Shakespeare), hg. Keir Elam (London: Cengage Learning, 2008), 161; ‘Ode on a Grecian Urn’ Z. 14.Complete Poems, 344.
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lisch niederkniet,28 konzentriert sich Milton auf den Augenblick der Götterdämmerung, wenn unter lauten Lamentationen (“loud lament;” 183) die Gottheiten und genii loci ihre angestammten Reiche zu räumen gezwungen sind: From haunted spring, and dale Edg’d with poplar pale, The parting Genius is with sighing sent … (184–86)
Inmitten dieses kollektivischen Klagegesangs – “a voice of weeping” (183) – befördert Milton nicht nur die Fruchtbarkeitsgöttin Ashtaroth, jene als Astarte oder Ishtar bekannte babylonische Vorgängerin Aphrodites und Marias (“Heav’ns Queen and Mother both;” 201), in den Orkus des Aberglaubens; mit der Feststellung, dass die tyrischen Jungfrauen nun vergebens den verwundeten Vegetationsgott “Thammuz” betrauern, vollzieht Milton den Bruch mit der typologischen Tradition, die unausgesprochen noch bei Shakespeare eine Verbindung zwischen TammuzAdonis und Christus herstellte. Auch der alt-ägyptische Gott Osiris, dessen Zerstückelung und periodische Wiedergeburt eine partielle Vorwegnahme von Christi Passion und resurrectio darstellen, wird nunmehr mit den übrigen “brutish gods of Nile” (211), mit seiner Schwester und Gemahlin Isis, mit Horus und seinem Sohn Anubis, in die tiefsten Niederungen der Hölle relegiert: Naught but profoundest Hell can be his shroud, In vain with Timbrel’d Anthems dark The subtle-stoled Sorcerers bear his worshipt Ark. (218–20)
Der hier von Milton inszenierte Höllensturz der archaischen Götter und ihrer Riten geht überdies einher mit der Domestizierung des dionysischen Elementes, wie es im Kontext des Christentums nicht nur an Tagen der karnevalesken Unordnung, sondern durch die typologische Korrelierung von Christus und Bacchus als ein wichtiger Bestandteil akzeptiert wird.29 Gustav von Aschenbachs dionysischen Alptraum vom ‚fremden Gott‘ geradezu antizipierend wird auch hier der orgiastische Kult der alten, sich in Tiergestalten manifestierenden Götter mit misstönenden
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Canto I, 62, 635 wie auch in Canto II, 3, 21ff. – Vgl. diesen Aspekt unter dem Blickwinkel der absurden Pilgerschaft in Norbert Lennartz, Absurdität vor dem Theater des Absurden. Absurde Tendenzen und Paradigmata untersucht an ausgewählten Beispielen von Lord Byron bis T. S. Eliot (Trier: WVT, 1998), 57. Die Tatsache, dass Bacchus in Stücke gerissen und begraben wird und wenig später unversehrt wieder aufersteht, verbindet ihn sowohl mit Osiris als auch mit Christus.
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Zimbalen, Tamburinen und beschwörenden Tänzen (“dismall dance about the furnace blue;” 210) begleitet. Während Osiris in mehrfacher Hinsicht in den Dionysos-Kult eingeht, und der Weingott der Antike – nicht zuletzt aufgrund der christologischen Symbolik der Weinrebe – in vielfältiger Form in der christlichen Ikonografie fortlebt,30 betont Milton nun das radikal adversative Verhältnis, das sich zwischen Christus und der inzestuösen Götterschar der Vorzeit gebildet hat. Um diesen Kontrast noch zu verstärken, greift Milton zurück auf das barocke Paradoxon der in der Schwäche sich offenbarenden Stärke: Allein die Hand des Säuglings – “the dredded Infants hand” (222) – wird für Osiris somit zum gefürchteten Menetekel; die Strahlen über Bethlehem bewirken überdies seine Erblindung. Auch dies ist ein Beweis dafür, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist, in dem ein in Wickeltüchern eingehülltes Kind die gesamte, im “infernall jail” (233) eingekerkerte Schar der Götter nunmehr zu beherrschen vermag: Our Babe to shew his Godhead true, Can in his swadling bands controul the damned crew. (227–28)
Die 27. und letzte Strophe, die zahlensymbolisch auf die mit sich selbst potenzierte Dreizahl (3x3x3) verweist,31 dient am Ende dieses vorgezogenen apokalyptischen Fanals der Restituierung der Ordnung – einer Ordnung, die jede Form der bacchantischen Erotik und der venerischen Laszivität ausspart: Die Jungfrau, die im Gegensatz zu den erotischen Mariendarstellungen bei Fouquet, Parmigianino wie auch bei Crashaw hier nur ein entpersonalisiertes Konzept bleibt, bettet ihr Kind – im Vorgriff auf die Grablegung – zur Ruhe; der nunmehr höfische Stall (“the Courtly Stable;” 243) wird dabei umgeben von wohl gegürteten Engeln und milites christiani, die gemäß ihrer hierarchischen Zuordnung sich positioniert haben, um die ordo-Vorstellung jener Zeit tableauhaft nochmals zu bekräftigen: And all about the Courtly Stable, Bright-harnest Angels sit in order serviceable. (243–44)
30
31
Hans K. und Susanne Lücke verweisen auf ikonografische Parallelen bei der Darstellung des ersten Bades des Dionysos, oder bei der in der Figur der madonna lactans wiederkehrenden Säugung des Dionysos durch eine Nymphe, Antike Mythologie, 274f. Franz Carl Endres / Annemarie Schimmel, Das Mysterium der Zahl. Zahlensymbolik im Kulturvergleich (Köln: Diederichs, 1985), 253.
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d. In der Entwicklung des typologischen Denkens kommt Miltons Text eine bislang kaum gewürdigte zentrale Bedeutung zu. Während die Dichter und Künstler der Frühen Neuzeit darauf abzielen, die Antike mit dem Christentum zu verschmelzen, und in diesem Zusammenhang sogar in Vergil einen mit prophetischen Gaben ausgestatteten arbiter Dei zu sehen vermögen,32 scheint es sich Milton hier zur Aufgabe gemacht zu haben, der synkretistischen Tradition des Humanismus ein Ende zu bereiten. Die sich aus dieser Dekonstruktion ergebenden Konsequenzen lassen sich bis in die letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts weiterverfolgen: Bereits in der säkularisierten Dichtung der Cavaliers hat sich der seiner christologischen Komponente beraubte Amor wieder zu einem ebenso kokettierenden wie auch perniziösen “crafty Boy” zurückverwandelt; und den Dichtern des post-romantischen Zeitalters bleibt nur der nostalgisch verklärte Blick auf eine Ära, in der Miltons ‚Götterdämmerung‘ eine Zeit vorausgeht, in der Venus und Maria, Christus und Adonis als Personifikationen eines pan-sexualistischen Weltbildes galten. In dem mehrteiligen Gedicht Rolla (1833) beklagt Alfred de Musset durch die persona seines Ich-Erzählers somit den Verlust einer unbestimmt vergangenen Zeit, in der nicht nur das Diesseits mit dem Jenseits eng verwoben, sondern in der auch “Vénus Astarté,” jene “fille de l’onde amère,” noch jungfräulich (“vierge encor”) und somit typologisch verknüpft mit Maria ist.33 Wie unmittelbar sich in der Phantasie des ‚sentimentalischen‘ Romantikers das Christentum mit der Antike verbindet, zeigt zum einen die friedliche Koexistenz der lasziven Nymphen und Faune mit Herkules-Christus, der in einen blutroten Mantel gehüllt, ganz in der Pose des Weltenrichters, ewige Gerechtigkeit der Schöpfung zuteil werden lässt: “sur la création / Hercule promenait l’éternelle justice;”34 zum anderen besteht selbst zwischen den Rebellen und Aufbegehrern beider Kulturen, zwischen Prometheus und Satan (“Prométhée, / Frère ainé de Satan”35), ein zeitübergreifendes verwandtschaftliches Verhältnis. Am Ende der ersten Sektion seiner umfassenden ubi-sunt-Klage führt uns der desillusionierte Sprecher drastisch die Folgen vor Augen, 32
33 34 35
Auf die messianische Bedeutungsschicht der 4. Ekloge Vergils geht auch noch T. S. Eliot in seinem Essay ‘Virgil and the Christian World’ ein. On Poetry and the Poets (London: Faber and Faber, 1957), 121. Z. 3–4. Poésies nouvelles, 203. Ebd., Z. 11f. Ebd., Z. 20f.
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die der von Milton inaugurierte Höllensturz der alten Götter mit sich bringt: Ohne die erotischen und vitalisierenden Tendenzen des antiken Pantheon hat sich das Christentum nicht nur zu einer Todes- und Endzeitreligion verwandelt, wo die einst androgynen Engel verstümmelt sind (“tes anges mutilés”)36 und der ehemals sexualisierte Körper Christi zu Staub zerfällt (“Ton cadavre céleste en poussière est tombé!”);37 Christus selbst – bei Milton noch ein seiner Macht unbewusstes Kleinkind – ist nach dem Einzug der Aufklärung und des Rationalismus der philosophes zum abjekten Opfer einer modernen Götterdämmerung geworden. In dieser Hinsicht ist de Musset, der um den Verlust der erotischen wie religiösen communio trauernde Spätromantiker, dem neopaganen, unter dem Christentum leidenden Swinburne thematisch eng verbunden.
2. Exkurs III: Swinburne – Typologie als satanistisches Anti-Barock In seinen 1866 publizierten Poems and Ballads bekennt sich Algernon Charles Swinburne offen zu einem Neu-Heidentum, das sich von den paganen Tendenzen des Barock vor allem dadurch unterscheidet, dass es – unterstützt durch die von Monckton-Milnes geförderte Rezeption der Werke des Marquis de Sade38 – auf eine blasphemische Konfrontation mit dem Christentum abzielt. Für Swinburne, der am Balliol College in Oxford unter Benjamin Jowett Klassische Philologie studierte, wird die antike Götterwelt zu einer Kontrastfolie, vor der das Christentum diskreditiert und als sinnenfeindlich gescholten werden kann. Sowohl in ‘Dolores’ als auch in der ‘Hymn to Proserpine’ zeigt der anglo-katholisch erzogene Swinburne, wie extrem das typologische Denken sich in sein Gegenteil verkehrt und wie weit die Freude am Tabubruch zur Entstehung einer satanistischen Privatmythologie beigetragen hat.
36 37 38
Ebd., Z. 61. Ebd., Z. 65. Mario Praz, La carne, la morte e il diavolo nella letteratura romantica (Firenze, 1930). Aus dem Italienischen übersetzt von Lisa Rüdiger, Liebe, Tod und Teufel: Die Schwarze Romantik (München: DTV, 1988), 193; siehe auch Rikky Rooksby, A. C. Swinburne: A Poet’s Life (Aldershot: Scolar P, 1997).
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a. Wie der Name jener als “Our Lady of Pain” apostrophierten Frau, und nicht zuletzt der Untertitel des Gedichts ‘Notre-Dame des Sept Douleurs,’ nahelegen, rekurriert Swinburne in ‘Dolores’ auf die MadonnenIkonografie und das in ihr enthaltene Konzept der mater dolorosa. Im Gegensatz jedoch zu Crashaw, der Maria an der erotischen passio Christi partizipierend darstellt, gestaltet Swinburne in Dolores eine Femme fatale, die in sadistischer Genugtuung Grausamkeiten verübt und sich wie eine luziferische Gottheit an den Qualen ihrer Liebhaber delektiert. Bereits die Beschreibung ihres Äußeren macht deutlich, dass sie eine ins Diabolische gewendete Persiflage der virgo immaculata darstellt: Nicht nur die kalten Lider und die harten, mit Edelsteinen assoziierten Augen, sondern vor allem der grauenerregende rote Mund, jene anthropomorphe fleur du mal (“like a venomous flower;”4),39 stehen in einem diametralen Kontrast zu der herkömmlichen Madonnen-Ikonografie. Noch expliziter wird Swinburne, wenn er sich auf die sieben Schmerzen Marias bezieht: “Seven sorrows the priests give their Virgin” (9). Mit der Wahl des Possessivpronomens ‘their’ versucht der Sprecher, seine Distanz zum Christentum nachhaltig zu unterstreichen; und bereits in der nächsten Zeile grenzt er die – im Kontext der décadence oft als langweilig und philiströs eingestuften – Schmerzen der Jungfrau Maria von den faszinierenden Sünden der Dolores ab, die, im blasphemischen Spiel mit der Siebenzahl, die Leiden der Jungfrau nicht weniger um das siebzigfache übertreffen: … thy sins, which are seventy times seven, Seven ages would fail thee to purge in, And then they would haunt thee in heaven … (9–11)
Die hier angewandte Hyperbolik macht Dolores in der Phantasie des dekadenten Masochisten nicht nur zu einer amoralischen Monstrosität; in konsequenter Verkehrung des katholischen und durch das Oxford Movement revitalisierten Marien-Kultes wird sie – Paters Gioconda nicht unähnlich – zu einem zeit- und raumübergreifenden Idol, zu einer géante Baudelairescher Herkunft stilisiert, die den Hass der Neopaganen auf das Christentum zu allen Zeiten verkörpert. In Überblendung einer Shakespeare-Metapher mit der im Hohelied propagierten Vorstellung von der Frau als einem hortus conclusus wird sie als ein offener Lustgarten bezeichnet – “O garden where all men may dwell” (18).40 Ferner wird 39 40
The Complete Works, I, 284–98. Vgl. Shakespeares Sonett 137: “the bay where all men ride” Z.6. Sonnets, 389.
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die Madonnen-Verehrung dadurch desavouiert, dass sie als “mystical rose of the mire” (21), als “house not of gold but of gain” (22) die Reinheit Marias ins Gegenteil verkehrt; ihre als Schlangen identifizierten Lippen, die die erotisierte Jungfrauen-Anbetung durch eine morbide Form des sexuellen Vampirismus ersetzen, verdeutlichen zudem, dass der contre-texte nicht mehr als Parodie, sondern als Dekonstruktion, als ikonoklastische Zerstörung der theologischen Vorlagen angelegt ist. In bezug auf das typologische Denken ist es daher nur folgerichtig, dass Swinburne seine als Invektive auf das Christentum konzipierte Schmerzensgöttin in den Zusammenhang einer rein antiken Genealogie stellt: Als Tochter der römisch-toskanischen Bestattungsgöttin Libitina und des griechischen Fruchtbarkeitsgottes Priapus wird sie allen viktorianischen Dekorumsregeln zum Trotz als “noble” (50) deklariert. Dass bei der Konzeption seiner dekadenten Surrogat-Göttin der christliche Kontext unverzichtbar ist, und dass die Verabsolutierung des contretexte trotzdem einer Kontrastfolie bedarf, wird nahezu in jeder Zeile evident. Da es sich jedoch im Verhältnis von texte und contre-texte nicht mehr um einen komplementären, sondern um einen radikal adversativen Bezug handelt, so muss an dieser Stelle von einer invertierten oder gar entstellten Typologie gesprochen werden. Diese besondere neo-pagane Ausprägung des dekadenten Femme fatale-Typs existiert nur vor dem Hintergrund der mater dolorosa, als deren Destruktion sie erschaffen wurde. Dieser Zwiespalt, diese intellektuelle Zerrissenheit, wird nicht zuletzt dadurch offenkundig, dass der Dichter bei der Darstellung seiner phantastischen Göttin auf die theologischen Kenntnisse seiner Leser angewiesen ist. Sowohl in syntaktischer Hinsicht als auch in bezug auf die Wahl der Metaphern und Bilder in den Strophen lässt sich nachweisen, dass die Inszenierung der Dolores als eine ebenso sterile wie auch todbringende Despotin bis ins kleinste Detail der im Barock zelebrierten christlichen Madonnen-Verehrung verpflichtet ist. In ihrer Eigenschaft als “a pallid / And poisonous queen” (63f.), die ihre Substanz aus den Küssen des Todes wie auch aus “[t]hings monstrous and fruitless” (63) bezieht, fungiert sie als das negative Spiegelbild der madonna gravida, die sich gerade in der Kunst des Barock durch ihre Prokreativität definiert. Auch die Lilien und die “languours of virtue” (67), die sie mit Füßen tritt und mit maliziöser Hingabe für die “raptures and roses of vice” (68) eintauscht, machen sie, jene “splendid and sterile Dolores” (71), zu einer antithetischen Gottheit, die allein aus der Negierung der Keuschheit Marias ihre wollüstige Vitalität erlangt. Bereits der desillusionierte und in der ‚Matratzengruft‘ leidende Heine hatte in sei174
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nem Elise Krinitz dedizierten poetischen Vermächtnis, ‚An die Mouche,‘ eine Versöhnung von Hellenentum und Judentum, eine friedliche Koexistenz zwischen „des Griechen Lustsinn und de[m] Gottgedanke[n] Judäas“ kategorisch ausgeschlossen.41 Auf der Suche nach “new passions” (76) und nach bisher beispiellosen erotischen Qualen – “tortures undreamt of, unheard of, / Unwritten, unknown” (79f.) – scheint auch Swinburnes Sprecher das Traumgesicht Heines verifizieren und den „Gottgedanke[n] Judäas“ zurückweisen zu wollen; doch die rhetorischen Muster, deren er sich hierbei bedient, lassen den Anspruch des neopaganen Dichters nach einem auf der Antike fußenden ‚neuen Hedonismus‘ fragwürdig werden. So wie Henry Wottons “new Hedonism” der christlichen Kulisse des Sündenfalls bedarf und auf das althergebrachte Motiv des Teufelspaktes zurückgreift,42 so ist Swinburnes nostalgie de l’étranger ebenso fest verankert in der Formensprache des Alten und Vertrauten. Nicht nur das formale Gefüge der Litanei und des Gebetes – “By the hunger of change and emotion, / By the thirst of unbearable things […] I adjure thee” –, sondern auch die eucharistische Symbolik des Weins machen evident, dass die Typologie hier weniger negiert als in den Dienst einer satanistischen Liturgie gestellt wird.43 So bekennt das in der traditionellen de profundis-Pose auftretende Ich, dass es vom äußeren Portal eines Tempels zum Sanktuarium vorgedrungen ist, wo in Verkehrung der herkömmlichen Messfeier die Sünde das Gebet darstellt – “the shrine where a sin is a prayer” (130). Selbst auf die Gefahr hin, dass der Gottesdienst tödlich verlaufen könnte – “What care though the service be mortal?” (131) –, bietet der Sprecher in der Rolle eines Opferpriesters seiner Göttin in einem Kelch den letzten Rest des Weins dar. Der Wein dieser satanistischen Eucharistie – “the new wine of desire” (137) – rührt zunächst von den leitmotivisch das gesamte Gedicht bestimmenden Küssen her, die ganz nach masochistischem Gusto eines Flagellanten immer wieder als blutig, schmerzhaft und, wie in folgender Passage, als vampiristisch beschrieben werden:
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42 43
‚An die Mouche‘ Z. 54f. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. Manfred Windfuhr (Hamburg: Hoffmann und Campe, 1992), III/1, 391ff. – Heines antithetisches Denken wird von Matthew Arnold aufgegriffen und gelangt so zu Swinburne. The Picture of Dorian Gray, 18. Vgl. auch Manfred Pfister, Oscar Wilde. The Picture of Dorian Gray (München: Fink, 1986), 45ff. Siehe hierzu die Gedichte aus der 5. Sektion (‚Révolte‘) der Fleurs du mal: ‘Abel et Caïn,’ ‘Les litanies de Satan’ oder das Gedicht mit der Eingangszeile „Gloire et louange à toi, Satan, dans les hauteurs / Du Ciel …“ Œuvres Complètes I, 122ff.
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By the ravenous teeth that have smitten Through the kisses that blossom and bud, By the lips intertwined and bitten Till the foam has a savour of blood … (113–16)
Der hier bereits genannte Schaum, der den Geschmack des Blutes angenommen hat, erinnert auf einer intertextuellen Ebene zugleich an den Sperma-Schaum (aphros), der den gewaltsamen Liebestod des Adonis bei Shakespeare bewirkt. Obgleich eine Lektüre dieses Textes in den biografischen Quellen Swinburnes nicht nachgewiesen werden kann,44 so fällt dennoch die Affinität zu dem von Shakespeare angewandten Liebesdiskurs des Barock auf. Überdies verweist das folgende Zitat in seiner dreimalig wiederholten Verbindung von Weinschaum und phallischer Schlange auf die Tatsache, dass in der Imagination des Sprechers der Gottesdienst auf eine koitale Vereinigung mit seinem Eidolon ausgerichtet ist. Dabei entwickelt sich aus dem herkömmlichen symbolischen Liebesmahl eine auf Huysmans’ Là-bas (1891) vorgreifende ‚Sperma-Messe:‘45 The foam of serpentine tongue, The froth of the serpents of pleasure, More salt than the foam of the sea, Now felt as a flame, now at leisure As wine shed for me. (140–44)
Auch Oscar Wilde thematisiert in seinem Gedicht ‘Charmides’ ein sexuell motiviertes Sakrileg: Stimuliert durch die zuvor erblickten erotischen Opfergaben – “a beechen cup brimming with milky foam”46 – verschafft sich der griechische Titelheld Zutritt zu dem Heiligtum der Pallas Athene, um dort die Statue zu entkleiden und leidenschaftlich zu küssen. Doch während der Tempelschänder der Rache der Göttin zum Opfer fällt und erst im Totenreich seine Sehnsucht nach sexueller Liebe zu stillen vermag, entwirft Swinburnes Sprecher eine antikisierte Gegenwelt der Verfemtheit. Vor der Kontrastfolie des Christentums verheißt der spermatische Schaum der Schlangen / Phalloi Sinnenfreuden, und das erwählte Volk der Dolores, “thy people, thy children, thy chosen” (145), das diesen sensualistischen ‚Schaum-Wein‘ zu goutieren versteht, ist sich bereits ab utero seiner Perversität und à rebours-Existenz bewusst: “Marked cross from 44 45 46
Neben expurgierten Fassungen von Shakespeare-Texten, “a bowdlerized Shakespeare,” verweist Rooksby lediglich auf Othello und die Sonette; 19, 54, 69. Là-bas, hg. Pierre Cogny (Paris: Garnier-Flammarion, 1978), V, 82. ‘Charmides’ Z. 37. Complete Poetry, hg. Isobel Murray (Oxford: Oxford UP, 1998), 53–72.
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the womb and perverse!” (146). Inständig bittet der Sprecher seine Göttin, die er in Anlehnung an die Anrede Sulamiths im Hohelied “my sister, my spouse, and my mother” (151) nennt, um die Aufnahme in den Zug der dionysischen und inzestuösen hommes maudits, denn nur sie verfügen über das Wissen, wie man die Götter der Neuzeit, “[t]he gods that constrain us and curse” (148), zu hintergehen vermag. Zum ersten Mal bekommt der Leser ex contrario einen flüchtigen Einblick in die Realität des knechtenden Christentums. Dabei fällt auf, dass komplementär zu der fortwährenden Christianisierung bzw. Satanisierung der Dolores die restriktiven Heiligen und ‚Götter‘ des Christentums in einem paganen Licht gesehen werden. Was zum einen den Zweck des épater le bourgeois erfüllen und bei Kulturkritikern wie Robert Buchanan und Max Nordau Vorwürfe sittlicher Entartung provozieren mag,47 muss zum anderen auch unter dem Gesichtspunkt einer aporetisch gewordenen Typologie gesehen werden. So wie Wilde in dem Sonett ‘Santa Decca’ sich im Verlauf des Gedichts davor scheut, den eingangs konstatierten Tod der alten Götter zu bestätigen,48 so scheint auch Swinburne seinerseits die Eindeutigkeit zu meiden und zwischen Antike und verhasstem Christentum unausgesetzt zu oszillieren. Geradezu als Ausdruck dieser fortwährenden typologischen Unentschlossenheit kehrt er unweigerlich zu einer Figurenkonstellation zurück, die für Crashaw und die Maler des Barock einen locus communis darstellt. In ihren Kapellen, wo der Weihrauch nunmehr die Sünden versüßt (“[t]o sweeten the sin;” 192), verwandelt sich nämlich in Swinburnes Phantasie die mater dolorosa zu einer Inkarnation der Aphrodite, die als Schaumgeborene – “O Thalassian” (223) – nicht nur dekadente Herrscher wie Nero (“the implacable beautiful tyrant;” 251) zu Genoziden inspiriert, sondern auch Amor zum Werkzeug ihrer Grausamkeiten macht: In his lips all thy [= Dolores’] serpents shall nestle, In his hands all thy cruelties thrive. (203–04)
Obgleich bei Crashaw Venus und Amor nicht unwesentlich zur Erotisierung der Madonna und des Jesuskindes beitragen, so versucht Swinburne durch die insistente Satanisierung seiner Aphrodite-Dolores einen Kon47
48
Im Gegensatz zu Rossetti, den Nordau zu den „Schwachsinnigen (Imbecillen)“ zählt, ist er bereit, Swinburne eine ‚höhere‘ Entartung zu attestieren. Entartung (Berlin: Carl Dunder, 1896), 171. Im Sextett spricht Wilde sogar von der Möglichkeit, dass die antiken Götter sich nur verborgen haben könnten, “[that] some God lies hidden in the asphodel” (11), Complete Poetry, 29.
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trast herzustellen zum Christentum, dessen Diskurse er jedoch nicht umhin kann, für seinen pseudo-antiken Götzendienst zu übernehmen. So bittet er seine dame des sept douleurs nicht nur darum, die Menschen von der Tugend zu erlösen – “Come down and redeem us from virtue” (279) –; zurückgreifend auf die Vorstellung der Maria orans, die im Gebet zur Fürsprecherin des Menschen bei Gott wird, beschwört er Dolores überdies, sich bei ihrem Vater – Priapus – für die Sache der abtrünnigen Menschheit zu verwenden: “Intercede for us thou with thy father, / Our Lady of Pain” (311–12). Bereits Goethe, der sich in einem Brief an Lavater als „dezidirten Nichtkristen“ erklärt,49 sieht in dem Kreuz als dem Zentralsymbol des Christentums einen Affront gegen die Natur und die Sinnlichkeit. Swinburne kann sich in seiner Christentumskritik somit auf eine etablierte Tradition berufen, wenn er angesichts der nunmehr eingebüßten Sensualität die Menschen eines Irrtums bezichtigt: We have all done amiss, choosing rather Such loves as the wise gods disdain [.] (309–10)
Während Goethe jedoch davon absieht, sowohl seine unkonventionellen Priapea als auch seine separierten satanistischen Paralipomena in die rhetorischen Formen der Madonnen-Verehrung einzupassen, vermag Swinburne, nur mit großer Anstrengung – und wie alle Neopaganen der décadence mit vergeblichem Widerstand gegen das Respektabilitätssyndrom – sich seines katholischen Kulturerbes endgültig zu entziehen. Anstatt sich wie Goethe der erotischen Potenz Priapus’ oder wie Franz von Stuck sich den Frivolitäten der Nymphen und Faune zu widmen, zieht es Swinburne immer wieder vor, auf eine geradezu obsessive und selbstquälerische Weise die Typologie auf die Probe zu stellen. Nur so lässt sich verstehen, dass er die Genese Marias aus dem Kybele-Kult zu erklären versucht; doch was der einst sakrale Berg Dindymos in Westgalatien, jener Ort orgiastischer und blutiger Rituale, hervorbringt, ist für den NeoPaganen nur eine Desillusionierung: “A mother, a mortal, a maiden, / A queen over death and the dead” (347–48). Dieses Paradoxon wird nun in den nächsten Zeilen weitergeführt: Die Kontrahentin und Spiegelreflexion der Dolores stellt überdies die antiklimaktische Verkörperung der 49
Brief vom 29. 7. 1782. Sämtliche Werke. Das erste Weimarer Jahrzehnt. Briefe, Tagebücher und Gespräche vom 7 November 1775 bis 2. September 1786, hg. Hartmut Reinhardt (Frankfurt/M.: DKV, 1997), 436. Diese Haltung spiegelt sich auch in dem späteren Gedicht ‚Das Tagebuch‘ wider, vgl. Kap. VI, 5. – Siehe ferner auch das GoetheLexikon, hg. Gero von Willpert (Stuttgart: Kröner, 1998), 180f.
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humilitas dar, die jedoch – im Gegensatz zu den eunuchischen Korybanten der Kybele und dem masochistischen l’art pour l’art – fruchtbar und jungfräulich zugleich ist: She is cold, and her habit is lowly, Her temple of branches and sods; Most fruitful and virginal, holy, A mother of gods. (349–52)
Sowohl in ihrer Virginität als auch in ihrer erotischen Unauffälligkeit, die besonders zu den Inszenierungen Marias als venerischer diva im Barock in Widerspruch steht, erweist sich jene neue “mother of gods” als destruktiv und ikonoklastisch, als Schlächterin mit unblutigen Händen: She hath hidden and marred and made sad The fair limbs of the Loves, the fair faces Of gods that were goodly and glad. She slays, and her hands are not bloody [.] (354–57)
b. Auch in der ‘Hymn to Proserpine’ beschreibt Swinburne den desaströsen Effekt, den Maria, jene blasse “maiden, and sister to sorrow,”50 auf den vitalen und sinnlichen Kult der Venus hat. Doch in beiden Gedichten bleibt ihm nur die Hoffnung, dass die zum Reich des ‚Galiläers‘ gehörenden ‚Götter‘ und Priester – “[t]he gods and priests that are pure” (362) – dem heraklitischen Fluss der Zeit unterworfen sind. So bleibt am Ende dieser beiden auf die Auslöschung im Tod zustrebenden Gedichten der Eindruck einer für die décadence nicht untypischen Ambivalenz, die sowohl mit Goethes Entschlossenheit als auch mit Pounds imagistischer claritas kontrastiert, wenn letzterer in seinem ‘Hugh Selwyn Mauberley’ lakonisch feststellt: Christ follows Dionysus, Phallic and ambrosial Made way for macerations; Caliban casts out Ariel.51
Das Resultat von Swinburnes Dichtung ist somit mehr als nur eine “anti-Madonna of some symbolist nightmare,” wie Rooksby feststellt.52 50 51 52
Z. 81. Complete Works I, 200–06. ‘E. P. Ode pour l’élection de son sepulchre’ III, 5–8. Collected Shorter Poems (London / Boston: Faber and Faber, 1990), 189. Rooksby, 133.
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Dolores steht vielmehr für eine dekadente Mythografie, die sich des obsolet gewordenen typologischen Denkens insofern bedient, als es sich für die Brüskierung des Christentums und des Wiedererstarkens des (Kunst-) Katholizismus als nützlich erweist. Die sich hieraus ergebende Mixtur aus Satanismus und (pseudo-)Antike, aus theologischem Text und blasphemischem Gegentext kann jedoch nicht verhehlen, dass die postulierte Loslösung der Avantgarde vom Christentum zugunsten eines Neopaganismus eine Wunschphantasie bleibt.53 In radikaler Verkennung der barocken Tradition, die durch die gegenreformatorische Rückanbindung sowohl an den Mystizismus als auch an die Antike zu einer Erotisierung der Typologie gelangt, inszeniert Swinburne das Christentum ausschließlich als eine körperfeindliche Bigotterie.54 Dabei scheint er das Widersinnige in Kauf zu nehmen, dass zur Evokation seiner hedonistischen Göttin er sich immer wieder jenes Diskurses bedient, den er gleichzeitig als die Vergewaltigung seines Sensualismus auf das Schärfste attackiert. Inwieweit es sich hier um ein blasphemisches Spiel mit veralteten Formen in der Folge des Marquis de Sade oder um ein – wie bei Wilde und anderen poètes maudits zu beobachtendes – vergebliches Ringen nach religiöser Emanzipation handelt, ist letztlich ein Spezifikum der Swinburne-Forschung, das den Rahmen dieser Studie jedoch übersteigt. In bezug auf die erotischen Typologien bleibt festzuhalten, dass eine Korrelierung von Maria und Venus, wie sie in der Literatur und Kunst des Barock auch als Ausdruck einer Balance von texte und contre-texte aufgefasst wird, nun im Umfeld des Fin de Siècle den Ruch des Provokanten bekommt. Phantasmagorische Ausgeburten wie Swinburnes Aphrodite-Dolores oder Sacher-Masochs diabolische Venus im Pelz künden von der Aufspaltung dieses kulturellen Palimpsests. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts verliert das Denken in typologischen Kategorien gänzlich seine Gültigkeit; eine Kultur, die sich durch die Fragmenthaftig-
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Swinburne ist in dieser Hinsicht Hardys Sue Bridehead nicht unähnlich: Auch sie inszeniert sich als neo-pagane Revolutionärin, die nicht nur Gibbon und Swinburne liest, sondern auch pagane Statuen kauft. Doch die Zurückdrängung der christlichen Orthodoxie zugunsten des heidnisch-antiken contre-texte schlägt fehl: “prostrate on the paving” beugt sich Sue der Macht des Kreuzes (Jude the Obscure, hg. Dennis Taylor [London: Penguin, 1998], 349). In dieser Hinsicht gehört Swinburne in das Umfeld von Wilde und Pater, insbesondere wenn letzterer die Renaissance übergebührlich erotisiert, aber die Erotik des christlichen Mittelalters und Barock konsequent ausspart und mit der These von der Kreuzigung der Sinne im Christentum einer kulturgeschichtlichen Fehlkonstruktion im 19. Jahrhundert Vorschub leistet. Siehe hierzu auch Lennartz, ‚Sinn(e) und Sinnlichkeit‘ The Senses’ Festival, 1.
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keit definiert und im objet trouvé die Kontingenz des Vereinzelten über das Kontinuum stellt, hat den Sinn für Korrespondenzen und Parallelen, für Verflechtungen von Texten und ihren contre-textes verloren. Unter diesem Aspekt lässt sich Max Ernsts Gemälde Die Jungfrau züchtigt das Jesuskind vor drei Zeugen (1926; Köln, Museum Ludwig) nur noch als einen ironischen Kommentar auf die erotische Typologie begreifen. Rekurrierend auf die antike Vorlage der Züchtigung Amors durch Venus, wie sie seit der Antike dargestellt wird,55 macht der im Bild anwesende Surrealist die Madonna – im Widerspruch zu ihrem tiefen Dekolleté – zur prügelnden Mutter und Christus zum erotischen Lausbuben, der als Folge der Schläge und Erschütterungen bereits seinen Heiligenschein verloren hat.
3. Die Beschneidung als erotisches und typologisches Ereignis In typologischer Hinsicht kommt der Beschneidung Christi, die im Jahreszyklus acht Tage nach der Geburt auf den 1. Januar festgelegt ist, eine zentrale Bedeutung zu. Diese nimmt nach dem Barockzeitalter in der Kunst und Literatur schlagartig ab und wird in der Folge der Sentimentalisierung des Jesuskindes zur res tacenda erklärt. Die Beschneidung, die im Alten Testament als Zeichen des Gottesbundes56 wie auch als Signum der Exklusivität gegenüber Philistern57 begründet und im Neuen Testament durch die Taufe abgelöst wird, ist ursprünglich mit der „Vorstellung eines Opfers an ein Fruchtbarkeitsnumen“58 verbunden. Dieser der circumcisio zugrundeliegende Fertilitätsaspekt wie auch das Konzept des „Blutsbräutigams“59 werden nun im Zeitalter des Barock besonders akzentuiert. Dies führt dazu, dass dem Präputium Christi eine ungewöhnliche Aufmerksamkeit zuteil und in der häufig thematisierten mystischen 55
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Hans-K. und Susanne Lücke verweisen auf das rotfigurige Bild eines Gefäßes aus dem 5. Jahrhundert vor Christus: Hier wird gezeigt, wie Venus mit ihrer Sandale zum Schlag ausholt, während sie zugleich Amor bei den Handgelenken festhält. Antike Mythologie, 71. Genesis 17,9ff. 1 Samuel 14,6. Lurker, 88. Exodus 4, 25f. Sippora, die Frau des Moses, nennt ihren Sohn Israel Blutsbräutigam, “a bloody husband,” nachdem sie an diesem die Beschneidung vorgenommen hat. Siehe auch das Lemma ‚Blutsbräutigam‘ im Bibel-Lexikon, hg. Herbert Haag (Zürich / Köln: Benziger, 1982), 253.
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Hochzeit der Hl. Katharina von Siena eine – nach modernen Bewertungskriterien – bizarre und zumeist verschwiegene Funktion zugesprochen wird: Auf die Tatsache, dass Katharina in einer Traumvision das Jesuskind erscheint und ihr einen Verlobungsring ansteckt, der, laut Legende, aus der bei der Beschneidung entfernten Vorhaut besteht, wurde bereits verwiesen. In Anbetracht einer Zeit, die nicht nur in der ostentatio genitalium eine legitime Darstellung göttlicher Vitalität sieht, sondern in der, wie Steinberg darlegt,60 sogar mehrere Kirchen um den Besitz der Reliquie des christlichen Präputiums konkurrieren, ist die literarische wie auch bildkünstlerische Thematisierung der Beschneidung Christi keine Ungewöhnlichkeit. Die Tatsache, dass durch das ikonografische Mittel des “blood hyphen” die Seitenwunde mit dem beschnittenen Penis korreliert wird, macht überdies evident, dass die circumcisio als eine typologische Vorstufe zur erotischen Kreuzigung aufgefasst wird. Das Blut, das durch den Eingriff des mohel zum Fließen gebracht und in Gemälden von Parmigianino bis Rubens als erster der sieben Schmerzen dargestellt wird, korrespondiert somit mit den Blutströmen, die Märtyrer wie der Hl. Franziskus in oralerotischer Verzückung aus der bald phallisch, bald vaginal interpretierten Seitenwunde trinken. Während die mittelalterliche Kunst sich den vereinzelten Episoden im Leben des kindlichen und adoleszenten Gottessohnes nicht widmet und es stattdessen vorzieht, Christus in den Rollen des Schmerzensmannes und des Weltenrichters zu inszenieren, verbreitet sich spätestens mit der Spät-Renaissance und dem Barock das Interesse sowohl an der Beschneidung als auch an der infantilen und Amor nachempfundenen Erotik des Jesusknaben. Doch wo aus Gründen der Dezenz die Gemälde Parmigianinos wie auch Baroccis sich mit vagen Anspielungen und typologischen Verweiszeichen begnügen müssen, und wo selbst Rubens (Die Beschneidung Christi, 1605; Wien, Akademie der Bildenden Künste) den Blick des Betrachters vom genitalen Schauplatz in den geöffneten Himmels ablenkt, entfaltet die Literatur der Frühen Neuzeit mit ihren mannigfachen Möglichkeiten des Wortspiels und der im Subtext transportierten Analogie das gesamte facettenreiche und erotische Potential der Beschneidung Christi.
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Steinberg, 167. – Steinberg berichtet sogar von theologischen Disputationen, die sich der Frage widmen, ob die Vorhaut bei der Auferstehung Christi ebenfalls erlöst wird.
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a. In seiner ‘Himne for the Circumcision day of our Lord’61 richtet Crashaw zunächst sein Augenmerk auf die teuren Blutstropfen – “the deare drops” (4) –, die Christus an jenem Tag vergossen hat und die den Morgen mit einer doppelten Röte (“a double red;” 2) auszeichnen. In der für Crashaw und die Barockdichter typischen Hyperbolik wird nun in der folgenden Strophe festgestellt, dass es zum einen nichts Vergleichbares zu diesen rubinroten Tropfen gibt, und dass zum anderen die gesamte Flora auf dem ‚Busen‘ der Natur mit jener jungfräulichen Lilie nicht zu konkurrieren vermag, die die Sünden der Menschen in eine Rose verwandelt haben: Of all the faire checkt flowers that fill thee, None so faire thy bosome strowes; As this modest Maiden Lilly, Our sinnes have sham’d into a Rose. (9–12)
Neben der bereits an anderer Stelle kommentierten Ästhetisierung der Wunden und ihres Blutes fällt hier nun die konzeptistische Kühnheit auf, mit der Crashaw die Folgen der circumcisio umschreibt: Wie die ursprünglich weiße Maulbeere erst durch das Blut von Pyramus und Thisbe sich rot verfärbt, so durchläuft Christi Blut durch die Sünden der Menschen eine ähnliche Metamorphose, die es vom Weiß der Unschuld in das Rot der Scham transformiert. Diese manieristische Bildschöpfung korrespondiert auf struktureller Ebene mit einer plötzlichen Defokalisierung: Mit der Einführung der Sonne als Vergleichsobjekt tritt die genitale Wunde Christi in den Hintergrund, und von nun an, ab Zeile 13, verlagert sich das Gedicht auf die Glorifizierung der Augen des Jesuskindes, deren Tageshelle die levée der Sonne zur Dunkelheit werden lässt: All will be darknesse, to the day That breakes from one of these faire eyes. (27–28)
Dass die dezentralisierende Struktur eines der wesentlichen Merkmale des Manierismus ist,62 das in die Ästhetik des Barock Einzug gehalten hat, lässt sich an den Gedichten Crashaws und ihren Metapher-Proliferationen allenthalben belegen. Doch die Tatsache, dass Crashaw die Thematik der Beschneidung zugunsten der Lobpreisung der Augen gänzlich aufgibt, ist weniger auf eine eklatante Inkohärenz als auf eine subtex-
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Poems, 141f. Siehe neben Hocke vor allem Drost, Kap. VI, 165ff.
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tuelle erotische Bedeutungsschicht zurückzuführen, die, wie zuvor erwähnt, von jeher die Augen mit den vaginalen Wunden verbindet. Die Analogie zwischen den typologisch auf die Wunden verweisenden Blutstropfen bei der circumcisio und den Augen wird dementsprechend frühzeitig hergestellt, wenn in bezug auf die Strahlkraft der Sonne der Sprecher behauptet, dass die blutigen Rubine Christi an die Stelle der Augen Sols treten werden: “These Rubies shall put out his eyes” (16). Das surreale Beziehungsgeflecht, das Crashaw hier vage zwischen den Augen, den Wunden und den Blutstropfen knüpft, legitimiert schließlich die explizite Erotisierung des Jesuskindes, das an der Stelle der Sonne fortan die Rolle des kosmischen Liebhabers einnimmt: The Moone shall come to meet thee here, And leave the long adored Sunne. Thy nobler beauty shall bereave him, Of all his Easterne Paramours: His Persian Lovers all shall leave him, And sweare faith to thy sweeter powers. (31–36)
Wie die vagen Anspielungen auf die Laszivität orientalischer Erotik zeigen, verlässt Crashaws Gedicht nur selten den Bereich des Assoziativen und verleitet den Interpreten somit immer wieder zu Spekulationen: Stellen Sonne und Mond unter erotischem Gesichtspunkt die heilige Ehe von Männlichem und Weiblichem, den kosmologischen hieros gamos des Disparaten, dar, so kommt dem beschnittenen Jesuskind nun die Rolle eines transmundanen Befruchters zu. Die neue Sonne (Sun-Son) wird mit ihren Strahlen Luna imprägnieren. Zugleich erscheint das Jesuskind als lux ex oriente, als ein orientalischer Haremsbesitzer, umgeben von Seraildamen und Liebhaberinnen, die sich endgültig von der alten Sonne abgewandt haben. b. Während die Argumentationsrichtung von Crashaws Gedicht sich hierbei vom Partikularen zum Allgemeinen und Universalistischen bewegt, geht Robert Southwell in seinem nur halb so langen Gedicht auf die Beschneidung Christi, ‘His circumcision,’63 den entgegengesetzten Weg. Bereits die erste Strophe versucht, mit Hilfe von generellen Analogien die konkrete heilsgeschichtliche Bedeutung der circumcisio zu erfassen. Die Bildbereiche, die Southwell hierzu benutzt, sind dabei den äußerst hete63
Poems, 7.
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rogenen Gebieten der Medizin, der Jurisprudenz oder der Astronomie entlehnt – Gebieten, die jedoch in der ikonografischen Tradition auf das Wirken Christi bezogen sind: The head is launst to worke the bodies cure, With angring salve it smarts to heal our wound, To faultlesse sonne from all offences pure The faulty vassals scourges do redound, The Judge is cast the guilty to acquite, The sonne defac’d to lend the starre his light [.] (1–6)
Die antithetisch konstruierten Zeilen setzen zunächst die Beschneidung, und hiermit die physische Verletzung des Erlösers, in den Kontext einer verkehrten Welt: So muss das makellose Kind die Geißeln seiner depravierten Vassallen ertragen, so wird der (Welten-) Richter verurteilt (“cast”),64 um die Schuldigen freizusprechen, und so wird die Sonne ausgelöscht, um den von ihr abhängigen Sternen Licht und Glanz zu verleihen. Dass es sich hier um eine mehrschichtige Bedeutungstextur handelt, wird bereits in den ersten beiden Zeilen offenkundig. Das hier angewandte similia similibus-Prinzip – unter Schmerzen den Schmerz zu überwinden – deutet überdies darauf hin, dass der Zustand der Invertierung weniger auf die absurden Rotationen eines Schicksalsrades als auf eine christliche Dialektik (felix culpa) und ordo-Konzeption verweist. So gehört es durchaus zur Topik des Christentums, dass nicht nur mit einer aggressiven Salbe (“angring salve”) die Wunde der Menschheit geheilt, sondern dass analog zum schmerzhaften Aufschneiden eines Eiterpfropfs (“head”) die Gesundung des depravierten Organismus des gefallenen corpus humanitatis bewirkt wird. Auf einer weiteren allegorischen Ebene muss jedoch die im Vordergrund stehende medizinische Diktion auf die typologische Sichtweise der Beschneidung Christi appliziert werden: Der ‚Kopf,‘ dessen Perforation den Körper zu heilen vermag, bezieht sich vor allem auf die Eichel des Penis,65 wobei das Verb ‘launst’ sich sowohl auf die Lanzette bzw. das Beschneidungsinstrument des
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OED II, 948, 14. Bedeutung. DSL II, 652 Bedeutung 2. – Crooke hingegen vergleicht die Eichel mit einer Nuss, obwohl er zur näheren Beschreibung auf Kopfbedeckungen rekurriert: “like a Turkes cap or turbant” Microcosmographia IV, 215. In John Florios italienisch-englischem Wörterbuch A Worlde of Wordes (1598) zeigt sich die ‚Kopf‘-Metaphorik in dem Wort ‘capocchia’ = Kopfbedeckung für die Vorhaut. Faksimile Ausgabe (Hildesheim / New York: Olms, 1972), 59. Hierzu passen auch Clelands Memoirs, wo vom Penis als dem “capital [caput = Kopf] part of man” gesprochen wird. Memoirs, 26.
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mohel (lancet)66 als auch auf die Lanze verweist, mit der Christus später am Kreuz verwundet wird. Auf äußerst subtile Weise stellt Southwell somit den typologischen Bezug her, der zwischen der Beschneidung und der Kreuzigung wie auch zwischen der genitalen Verletzung und der Seitenwunde Christi besteht. Das prokreative Blut, das dem Penis des Jesusknaben entströmt, wird nun im Verlauf der zweiten Strophe mit immer wieder neuen image clusters umschrieben und ad gloriam majorem Dei zelebriert. Intertextuelle Querverweise zu Gedichten von Crashaw und Herrick beleuchten dabei das erotische Potential, das nicht nur von Jesuiten gleichsam als Kassiber den Zeilen unterlegt, sondern auch von Protestanten – wenngleich in geringerer Intensität – verstanden und wie im Falle von Rous, Lanyer oder Milton auch goutiert wird. So wird der noch infantile Penis als “[t]he vein of life” (7), als Lebensader, gepriesen, die auf alchimistische Weise Tropfen der Gnade, “drops of grace” (7), destilliert. Die in einer Variante dokumentierte Lesart “vine of life,” die in der Mehrzahl der Texteditionen weniger auf eine orthografische Konvention als auf einen Druckfehler oder eine überbemühte Emendation zurückgeführt wird,67 steht der Gesamtaussage des Textes jedoch nicht diametral entgegen: Im eucharistischen Kontext dieser Strophe verweist das Anagramm vein-vine vielmehr auf die nicht abwegige und bei Herrick tatsächlich vorgenommene Korrelation von Penis und Weinstock wie auch auf die Identifizierung des genitalen Blutes mit dem Wein, jenem “glandous wine,” den William Blake in seinem Song of Los mit Milch und Blut assoziiert.68 In der Akkumulation der Bilder und Konzeptismen werden die erotisierten Tränen- und Blutströme, die Christus durch die Einwirkung des mohel vergießt, ferner zu einer dem Felsen entspringenden himmlischen Quelle deklariert: “Our rocke gives issue to an heavenly spring” (8). Unzweideutig stellt Southwell hier den typologischen Bezug zu Moses her, der in der Wüste auf Gottes Geheiß zweimal Wasser aus dem Felsen geschlagen hat.69 Dass Moses als das Vorherbild Jesus aufgefasst wird70 und das Quellwunder als eine Vorwegnahme der Taufe gilt, ist bereits seit 66
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Dass beim Beschneidungsvorgang nur die orla, d.h. die Vorhaut, entfernt und dabei die glans penis nicht berührt werden darf, wird von Southwell nicht beachtet. S. Ph.de Vries, Jüdische Riten und Symbole (Reinbek: Rowohlt, 1990), 199. L. C. Martin kürzt diese Lesart mit dem Sigel Ma ab und bezieht sich hierbei auf das MS Busby von 1595. The Song of Los Z. 62. The Complete Poems, hg. W. H. Stevenson (London: Longman, 1989), 248. Exodus 17,6; Numeri 20,11. Siehe hierzu Bibel-Lexikon, 1178.
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Tertullian ein theologischer Grundsatz. Neu und im Einklang mit dem Originalitätspostulat der Barockdichter ist hier jedoch, dass Southwell das Bild von Gott als wasserspendendem Felsen oder Eckstein (“[o]ur rocke”) mit der Beschneidung korreliert und somit den genitalen Aspekt in den Mittelpunkt der Typologie rückt. Das Bild jener aus Tränen und Blut konstituierten Quelle ist jedoch mit einem weiteren conceit verschränkt, das in mehrfacher Hinsicht die poetische Affinität zu Crashaw unter Beweis stellt: Teares from his eies, blood runnes from wounded place, Which showers to heaven of joy a harvest bring, This sacred dew let angels gather up, Such dainty drops best fit their nectared cup. (9–12)
Bereits am Ende des 16. Jahrhunderts führt Southwell das Paradoxon der nach oben fallenden Tränen und Blutstropfen in die Literatur ein und nimmt somit die exzessive ejaculatio lacrimarum der Maria Magdalena vorweg.71 Wie die durch ein Hyperbaton mehrfach gebrochene zehnte Zeile zum Ausdruck bringt, verwandeln sich die Quellen zu prokreativen Schauern, die dem Himmel eine Ernte der Freude darbringen. Wie sehr diese ‚Schauern‘ erotisch konnotiert sind, lässt sich hierbei nicht nur an der oft sexuellen Bedeutung von “joy” belegen.72 Vor allem die später bei Crashaw häufig nachgewiesene Tau-Metapher (“sacred dew”) macht evident, dass das Blut des Jesuskindes bereits die fertilisierende Qualität von Sperma aufweist und der homo eroticus am Kreuz sich schon während der Beschneidungszeremonie manifestiert. Vor diesem Hintergrund bekommt auch das Bild von den Engeln, die in ihrem Kelch, “their nectared cup,” die wertvollen Tropfen auffangen, eine koitale Zusatzbedeutung: Spätestens seit Shakespeares Troilus and Cressida, wo Troilus von “Love’s thrice repurèd nectar” spricht,73 wird die Konnotation von Nektar als emissio genitalis augenfällig.74 Der Kelch hingegen gehört mit anderen Hohlgefäßen wie dem Krug, der Vase, dem Becher oder der Büchse (der Pandora) seit der Antike und nicht zuletzt
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Diese Textstelle beweist, dass Southwells Bild der aufwärts fließenden Tränen sowohl Herberts Konzeptismus in ‘Praise III’ und ‘Longing’ als auch Crashaws Paradoxon in ‘The Weeper’ vorwegnimmt. Siehe auch Leimberg, 311. DSL II, 747f. III, ii, 20. Troilus and Cressida (The Arden Shakespeare), hg. David Bevington (London: Thomson Learning, 2006), 229. Vgl. auch Massingers Roman Actor, wo in diesem Kontext von einem Mann als Vorkoster des “heauenly nectar” gesprochen wird (I, ii, 62). Zitiert nach DSL II, 943.
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auch im Hohelied (7,2)75 zu den in Kunst und Literatur häufig verwendeten und geradezu archetypischen Vaginalsymbolen. Auf der Ebene eines erotischen Metatextes bekommt das Auffangen der “dainty drops” somit den Charakter eines mystischen Koitus, der ungeachtet der Infantilität des Himmlischen Bräutigams die soteriologische Potenz Christi nachhaltig unterstreicht. In Anbetracht der Tatsache, dass die genitale Wunde Christi mit einer Abundanz von Körperflüssigkeiten assoziiert wird, drängt sich dem Leser ein Vergleich mit Amfortas, dem Fischerkönig aus der Gralssage, auf. Auch dieser leidet an einer Wunde im Genitalbereich, was dazu führt, dass in T. S. Eliots Interpretation dieses Mythos im Waste Land die Trockenheit, die siccitas, in sowohl spiritueller als auch sexueller Hinsicht, zum Leitmotiv wird. Während bei Southwell der Fels Wasser generiert (“gives issue”), evoziert Eliot eine aride Steinwüste, in der die Menschen vergeblich nach Wasser wie auch nach prokreativen Säften dürsten. Die trockenen Berge verzerren sich in ihrer Dürre lediglich zu phantasmagorischen Fratzen: “Dead mountain mouth of carious teeth that cannot spit …”76 Eliots Deutung des Gralsmythos, wie sie durch Jessie L. Westons Studie From Ritual to Romance (1920) inspiriert wurde, vermittelt hier auch Einsichten, die für die Deutung von Southwells Gedicht relevant sind: Während das Siechtum des Fischerkönigs letztlich in der Dissoziation von Lanze und Kelch, von Phallus und Vagina begründet liegt und erst mit der Erlösungstat Parsifals aufgehoben wird, scheint bei Southwell das Fließen der sexuell konnotierten Flüssigkeiten vor allem darauf zurückzuführen sein, dass in typologischer Vorwegnahme sowohl Lanze als auch Kelch (“nectared cup”) noch koital verbunden sind.77 Der Totalitätsaspekt, der nicht zuletzt auch hier durch die Vision einer Himmelsleiter der Körpersäfte bekräftigt wird, findet in der dritten und letzten Strophe seine Anwendung auf eine Variation des stabat materMotivs. In typologischer Antizipation der Qualen, die Maria angesichts ihres gekreuzigten Sohnes durchleiden wird, erfährt auch sie die Beschneidung Christi als die erste der ihr vorbehaltenen sieben Schmerzen: The knife that cut his flesh did pierce her heart, The pains that Jesus felt did Mary taste [.] (15–16) 75 76 77
Der Nabel der Geliebten wird hier mit einem Kelch “a round goblet” (Authorized Version, 764) bzw. “a round bowl” (Douai-Bibel, 820) metaphorisch umschrieben. The Waste Land V, ‘What the Thunder Said,’ 339. Dieser kontrastive, aber erhellende Aspekt wird in S. A. Cowan, ‘Echoes of Donne, Herrick and Southwell in Eliot’s The Waste Land’ Yeats Eliot Journal (1986), 96–102 nicht erfasst.
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In Übereinstimmung mit Crashaws späterer Darstellung der Schmerzen Marias als erotischer Algolagnie wird die circumcisio zugleich zu einer Perforation der Madonna (“did pierce her heart”). Trägt man hierbei der Tatsache Rechnung, dass das häufig thematisierte Durchstoßen des Herzens in der mystischen Literatur stets eine erotische Bedeutung hat, so wird der sinnliche Aspekt dieser Begebenheit noch zusätzlich dadurch verstärkt, dass Maria die Schmerzen ihres Sohnes zu schmecken vermag. In dieser synästhetischen Erfahrung des Schmerzes, die vor allem darauf beruht, dass das Leben von Mutter und Sohn durch “one fatall twist” (17) unauflöslich verknüpft ist,78 verleiht Southwell überdies der integrativen Weltsicht der Frühen Neuzeit pointierten Ausdruck: Sowohl in bezug auf die Typologie (Beschneidung – Kreuzigung; Altes Testament – Neues Testament) als auch in bezug auf die erotische Interdependenz von Jesus und Maria, von Lanze und Kelch, wie auch von Diesseits und Jenseits gelingt es Southwell, im Rahmen dieses Gedichts ein eng verwobenes Bezugsgeflecht herzustellen. Erst mit der zunehmenden Preisgabe des typologischen Denkens scheint auch die sinnliche Evidenz abzunehmen, die mit Christus, jenem in Amor, Tammuz-Adonis wie auch im Bräutigam des Hohelieds präfigurierten homo eroticus, verbunden ist. c. Wirft man einen abschließenden Blick auf die Beschneidungsgedichte Robert Herricks, die anlässlich der Neujahrsfeste von 1631 und 1633 von Henry Lawes vertont und in Gegenwart des Königs vorgetragen wurden, so fällt insbesondere neben der liedhaften Simplizität vor allem die erotische Entschärfung auf, mit der der in seinen ‘Hesperides’ oft so sinnenbetonte Anakreontiker die circumcisio behandelt. Zwar bemüht sich der Sänger in dem ersten ‘Circumcisions Song’ um eine sowohl auditive als auch olfaktorische Stimulation der Sinne – “be it sin here to be dumb” (2), “‘cense the porch, and place throughout” (6) – doch das sensuelle Element bleibt weitestgehend reduziert auf die Choreografie des Ereignisses, auf die der Beschneidung vorausgehenden Preliminarien. Die vereinzelten Referenzen auf das vergossene heilige Blut – “His sacred bloud” (22) –, aus dem Rosen zu sprießen vermögen, erinnern hier nur
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Sowohl das Wort ‘twist’ als auch die Vorstellung eines Knotens (“the true lovers’ knot”) haben in der Frühen Neuzeit oft eine erotisch bis koitale Bedeutung DSL III, 1447f, II, 768f.
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noch vage an die barocke Vorliebe für Metamorphosen und die populäre Rezeption des Venus und Adonis-Mythos. Abgesehen von diesen Residuen barocker Kultur, zu denen ebenso die flüchtige Inszenierung der warmen Brüste Marias (“her warm bosome;” 29) als Refugium wie auch der Verweis auf den Phönix im zweiten Gedicht gehören, begnügen sich Herricks Lieder überdies nur mit bloßen typologischen Andeutungen. Die Explizität, mit der Southwell die (nicht gesetzeskonforme) Verletzung der Eichel mit dem späteren Lanzenstich wie auch das Blut des beschnittenen Penis – qua ‘blood hyphen’ – mit der prokreativen Seitenwunde verbindet, wird nun bei Herrick ästhetisch bereinigt. Die ostentatio vulnerum sive genitalium, bei der die Wunden zu Münder, Augen oder Tränenflüssen transformiert werden, ersetzt der Autor nun durch die ästhetisch distanzierte Anspielung auf Rosen, deren Dornen weniger verletzen als den Kopf des Gekreuzigten nobilitieren. Neben der sinnlichen Evidenz des erotischen Schmerzes ist es überdies der gesamte bei Southwell und Crashaw so signifikante Aspekt der Affektbetonung, der hier nun einer frühklassizistischen ‚Invisibilisierungstendenz‘79 zum Opfer fällt. Dieser Ablösungsprozess vom offenen und grotesken Körper äußert sich nicht zuletzt in einer besonderen Hervorhebung der Sauberkeit. So heißt es in der dritten Strophe des zweiten Gedichts: Then, like a perfum’d Altar, see That all things sweet, and clean may be: For, here’s a Babe, that (like a Bride) Will blush to death, if ought be spi’d Ill-scenting, or unpurifi’d. (10–14; Hervorhebungen NL)
Diese Maßnahmen, die die von Alain Corbin beschriebenen „Strategien der Desodorisierung“80 vorwegnehmen, laufen nicht nur dem barocken Lebensgefühl zuwider; sie leiten zugleich das Ende einer Epoche ein, die den Körper und seine Erotik in einem vielgestaltigen Beziehungssystem verankert sieht. Dass dieses Ende nicht abrupt einsetzt, sondern sich über einen längeren, von Parallel- und Gegenbewegungen bestimmten Zeitraum erstreckt, zeigt bereits die Tatsache, dass Herrick in einem kurzen Gedicht an Christus (‘To Christ’)81 proteushaft in die Rolle eines Mysti79
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Menninghaus, 110. Unter die Regel der Invisibilisierung fallen nach Menninghaus vor allem Verdauungsorgane, Mund, Ohren- und Nasenlöcher, Brustwarzen und andere Öffnungen und Auswüchse. Corbin, 121ff. Poetical Works, 351.
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kers zu schlüpfen vermag, der, auf der Suche nach heilendem Balsam – “curing Balsamum” (2) –, seinen Mund an die blutende Seitenwunde zu legen hofft: My mouth I’le lay unto Thy wound Bleeding, that no Blood touch the ground: For, rather then one drop shall fall To wast, my JESU, I’le take all. (5–8)
Diese Reminiszenz an die oralerotische Christus-Verehrung der Gegenreformation, die abermals die Existenz eines sinnlichen Protestanten-Barock unter Beweis stellt, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass an anderer Stelle für Herrick Gott zunehmend eine abstrakte Entität, ein immaterielles und der Vorstellung sich entziehendes Wesen geworden ist: God is not onely said to be An Ens, but Supraentitie.82
Obgleich schon bei Herbert die historische Absenz Gottes thematisiert wird und der Sprecher seiner Gedichte im Vorgriff auf Pascal allenthalben die Distanz zu Gott betont,83 so ringt Herbert doch stets um “an easy quick accesse.”84 Zwar ist es hier noch verfrüht, von einem deus absconditus zu sprechen, doch wenn Herrick schließlich behauptet: “’Tis hard to finde God, but to comprehend / Him, as He is, is labour without end,”85 wird die Schwierigkeit allzu evident, Gott bzw. seinen Sohn als ein fleischliches und erotisches Wesen zu imaginieren. So wie er bemüht ist, die Beschneidung Christi von allen menschlichen Gerüchen und Sekreten zu befreien und im Gegensatz zu Southwells grotesk offener Version eine ‚desinfizierte‘ circumcisio gestaltet, so reserviert er die Sexualität und Körperlichkeit mit bemerkenswerter Ausschließlichkeit für seine anakreontischen carpe diem-Themen.86 Der in seinem Werk sich mani82 83
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‘Upon God’ Z. 1–2. Poetical Works, 340. Bromley, 12ff. – Vgl. hierzu besonders Herberts ‘The Search’: “Where is my God? what hidden place / Conceals thee still?” Z. 29f. Am Ende des Gedichts wird Herberts Antizipation des deus absconditus mehr als deutlich: “as thy absence doth excel / All distance known.” Z.57–58. Works, 162. Herbert, ‘Prayer’ II, Z. 1. Works, 103. ‘God not to be comprehended’ Z. 1–2. Poetical Works, 340. Die unter dem Titel ‘Hesperides’ zusammengefassten Gedichte behandeln vorzugsweise die Reize einer gewissen Julia (“her leggs sinceritie” ‘Upon Julia’ Fall’), ihrer Brüste (via lactea), das Ejakulieren im Schoß einer Frau (“In her lap too I / melting” ‘On Himselfe’) oder das vexatorische Spiel mit den Geschlechtern (“I got the Pit, and she the stone;” ‘Cherry-pit’). Neben den Verlockungen der ent-theologisierten Erotik fokussieren die Gedichte überdies den sensualistischen Genuss des Weins und das dolce far niente.
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festierende Bruch zwischen Eros und Religion, zwischen Körper und Gott, zwischen einer sauberen, purifizierten Spiritualität und einer lustbetonten (schmutzigen) Sexualität legt Zeugnis ab von einer Welt, in der das Barocke nun im Begriff ist dekonstruiert zu werden. Am Beispiel von Carew, Cowley und Suckling lässt sich nun darlegen, wie der zunehmend ins Animalische verzerrte Körper sowie das autonome und ekelbehaftete Genital vom Menschen Besitz ergreift, und wie an die Stelle von Christus-Amor ein triebentfesselter und maliziöser caecus cupidus das Scheitern der Typologie visualisiert.
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V. Dekonstruktionen barocker Erotik in der klassizistischen Früh-Moderne 1. Der Fall Thomas Carew Die ‚Verstörung des Eros,‘ die Dieter Wellershoff in seiner essayistischen Publikation für die Literatur der Moderne konstatiert und an einem breiten Spektrum von ausgewählten Prosawerken von Goethes Leiden des jungen Werthers (1774) bis hin zu Elfriede Jellineks Klavierspielerin (1983) und Michel Houellebecqs Les particules élémentaires (1998) exemplifiziert,1 stellt die späte Ausprägungsform eines Umbruchs und Wertewandels dar, der sich bereits in den ersten Dekaden des 17. Jahrhunderts abzeichnet. Der folgenreiche Zusammenbruch des neoplatonischen Liebesdiskurses verschafft sich nicht nur in Shakespeares Sonetten an die dark lady, sondern auch in Donnes ovidianischen Elegien und Satiren beredten Ausdruck. Vor allem aber ist es der am Hofe Karls I. sich verbreitende Libertinismus, der endgültig bewirkt, dass sich die ganzheitlich begriffene Erotik des Barock in einer (pseudo-) pornografischen Verengung der Perspektive auf das Genitalische fokussiert. Bereits der unter dem Primat des Klassizismus stehende Ben Jonson lässt in seinen Komödien The Alchemist und Bartholomew Fair die misogynen Tendenzen der späteren Cavaliers erahnen, wenn er – ganz in der Tradition der menippeischen Satire – den alchimistischen Gedanken der Liebe durch die merkantilen Interessen eines Bordells und das Mythologem der donna angelicata durch das Bild einer animalischen und Sekrete absondernden Frau – Ursula, ‘a pig woman’2 – konterkariert. Aber es sind Jonsons literarische 1 2
Der verstörte Eros. Zur Literatur des Begehrens (Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2001). Bartholomew Fair, die Liste der dramatis personae (Ben Jonson VI, 42). Im Gegensatz zu Rabelais’ karnevaleskem Welt- und Menschenbild verkörpert Ursula die frühklassizistische Skepsis vor dem offenen weiblichen Körper: “I am all fire, and fat, Nightingale, I shall e’en melt away to the first woman, a ribbe againe, I am afraid. I doe water the ground in knots, as I goe, like a great Garden-pot” (Bartholomew Fair II, ii, 49–52). Eine späte Nachfahrin hat sie in Hardys Arabella, die nicht nur durch ausladende Formen, sondern ebenso durch ihre Nähe zu Schweinen und deren Innereien charakterisiert wird.
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Nachfahren und Erben (jener früh-klassizistische ‘tribe of Ben’), zu dem nicht zuletzt Thomas Carew, Sir John Suckling und Richard Lovelace gehören, die die Dekonstruktion des barocken Körper- und Erotikverständnisses vorantreiben und letztlich die Voraussetzungen schaffen sowohl für Rochesters obszöne Phantasmagorien als auch für Swifts misogynen Ekel oder Baudelaires pejorative Gleichsetzung von Sexualität und Chirurgie. Während Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen wie Felicity Nussbaum und Bridget Orr in der Folge von Foucault und Stephen Marcus die Entwicklung der Pornografie einerseits mit sozialgeschichtlichen Phänomenen wie der Urbanisierung der Gesellschaft und andererseits – wie im Fall von Samuel Pepys’ masturbatorischer Lektüre der Escolle des filles – mit der Privatheit des lesenden Individuums in Verbindung setzen,3 bleibt ein wesentlicher Faktor in der Genese der modernen Erotik unbeachtet: der im 17. Jahrhundert sich vollziehende Bruch zwischen Sexualität und Theologie, das Verblassen des sakralen contre-texte im Diskurs der Erotik. Wie radikal sich diese Dissoziation von Erotik und Theologie auswirkt, zeigt nicht nur die Tatsache, dass Robert Herrick bei der Publikation seiner Gedichte die anakreontischen ‘Hesperides’ deutlich von den geistlichen ‘Noble Numbers’ absetzt. Auch Carews an George Sandys adressiertes Gedicht ‘To my worthy friend Geo. Sand[y]s, on his translation of the Psalmes’ gibt Aufschluss darüber, in welchem Ausmaß das barocke mixtum compositum aus Sakralem und Profanem, aus Physischem und Metaphysischem sich in einem Desintegrationsprozess befindet. Bezug nehmend auf Sandys’ 1638 publizierte Folio-Edition seiner geistlichen Gedichte, die neben einer poetischen Bearbeitung des Buches Hiob auch elaborierte Paraphrasen der Psalmen enthält,4 inszeniert sich Carew zunächst als ein vollends säkularisierter Dichter, der fortan das Wagnis nicht mehr eingeht, sich dem Sanktuarium der religiösen Themen mit ungeweihten (Vers-)füßen, “with my unhallowed feet” (2),5 zu nähern. Seine Muse, die er in Übereinstimmung mit der libertinistischen
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Bridget Orr, ‘Whores’ Rhetoric and the Maps of Love: Constructing the Feminine in Restoration Erotica’ Women, Texts and Histories 1575–1760, hg. Clare Brant / Diane Purkiss (London / New York: Routledge, 1992), 196 und Nussbaum, 97ff. Ebenso beinhaltet das Buch musikalische Notationen von Henry Lawes; die hohe Wertschätzung der Edition zeigt sich darin, dass Sandys’ Buch zu den drei Werken gehörte, die Karl I. während seines Arrestes in Carisbrooke zerstreuten. The Poems, 93f. Alle Zeilenangaben richten sich hier wie auch später nach dieser Ausgabe.
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Poetologie der Cavaliers als “unwasht” (3) bezeichnet, läuft nicht nur Gefahr, das Sakrale zu verunreinigen; sie wird überdies eindeutig dem Profanen, dem im etymologischen Sinne ‚vor dem Tempel Befindlichen‘ (pro-fano), zugeordnet und somit als eine diesseitsbezogene Inspirationsquelle identifiziert. Die Häufung der Negationsformen in den ersten vier Zeilen unterstreicht, dass eine Symbiose mit dem Metaphysischen unmöglich geworden ist. Die Erwartung der Leserschaft, in den folgenden Versen eine ars poetica des Libertinismus, ein Plädoyer für ‚ungewaschene‘ und obszöne Sujets entworfen zu sehen, wird jedoch früh enttäuscht. Die vom Sakralen ausgeschlossene Muse wird nicht in einer Pose des Triumphs imaginiert; vielmehr steht sie in einer Demutshaltung (“humbly”) an der Schwelle zum Heiligtum, um die sakralen Lieder bzw. die von Lawes’ vertonten Psalmen Sandys’ mit sinnlichem Genuss (“sucks in”) zu goutieren: Here, humbly at the porch she listening stayes, And with glad eares sucks in thy sacred layes. So, devout penitents of Old were wont, Some without dore, and some beneath the Font, To stand and heare the Churches Liturgies, Yet not assist the solemne exercise Sufficeth her, that she a lay-place gaine, To trim thy Vestments, or but beare thy traine. (5–12)
Die hier geschilderte Laisierung der Muse und die somit umschriebene Ent-Theologisierung der (Liebes-) Dichtung macht jedoch offenkundig, dass Carew – anders als Suckling und Lovelace – ein vielstimmiger und geradezu janusköpfiger Dichter des Übergangs ist. So partizipiert er zum einen an der beginnenden Dekonstruktion des barocken Weltbildes in Gedichten wie ‘A Rapture’ oder ‘To A. L. Perswasions to Love,’ zum anderen trachtet er, in der Manier eines epigonalen Metaphysical Poet danach, den Säkularisierungsbestrebungen seiner Zeit entgegenzuwirken. Obgleich die alt überkommene Allianz von Profanem und Sakralem für gescheitert erklärt wird, vermeidet es Carew, einen endgültigen Bruch zu konstatieren. Anstatt sich der Theologie antagonistisch zu verweigern und einer Ent-Ikonographisierung der religiösen Bilder Vorschub zu leisten, fügt sich Carews Muse in die untergeordnete Rolle einer Gehilfin und Dienerin, die bald für den poetischen Ornat des geistlichen Dichters Sorge zu tragen hat, bald zum Glanz des theologischen Werks beiträgt, indem sie vor Sandys’ opus wie vor der Bundeslade zu tanzen vermag: 195
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Though nor in tune, nor wing, she reach thy Larke, Her Lyrick feet may dance before the Arke. (13–14)
Geht der Dichter am Ende der Herrschaft von Karl I. von der Prämisse aus, dass erotisch weltliche und spirituelle Literatur nunmehr grundsätzlich zwei verschiedene Genres darstellen, so macht er allerdings unmissverständlich deutlich, dass er über das Potential verfügt, in beiden konträren Bereichen literarisch tätig zu sein. Diesen Widerspruch zu den Eingangsversen des Gedichts entschärft Carew jedoch sogleich, indem er durch die fünffache Wiederholung des konjunktivischen Modalverbs ‘may’ die Zuversicht seiner Aussage sofort skeptizistisch unterminiert. Trotzdem schließt er nicht aus, dass auf der literarischen Jagd nach ephemeren ‚Glühwürmchen‘ bzw. nach leuchtenden Zerrbildern der Liebe und grell geschminkten Prostituierten6 seine Muse zur Anbetung der christologischen Sonne gelangen könnte. Gemäß dem similia similibusPrinzip hält der Sprecher es nicht für ausgeschlossen, dass eine läuternde Flamme, “shot by Almighty power / Into her [the Muse’s] brest” (17f.), die irdisch sinnliche Glut der Leidenschaft, “the earthy flame” (18), mit all ihren Konnotationen von Wollust und Geschlechtskrankheit,7 tilgen möge. Doch diese auffallende Polarität zwischen Diesseitigem und Jenseitigem, zwischen “sensuall love” (20) und “immortall Love” (28), wie sie den zweiten Teil des Gedichts allenthalben bestimmt, macht nicht nur ersichtlich, dass der amor eroticus seine metaphorische Verweiskraft eingebüßt hat; sie antizipiert überdies bereits in der pejorativ gefärbten Wortwahl die negative Einschätzung der Erotik sowohl bei den desillusionierten Cavaliers (Suckling, Cowley) als auch bei den späteren Restaurationsdichtern. Die Energien aufzehrende Suche nach diesseitiger Schönheit (“pursuit / Of mortall beauty,” 23f.) bleibt nicht nur ohne teleologischen Erfolg (“without fruit;” 24); sie hinterlässt zugleich in der ruhelosen Seele – so wie bei Shakespeares Sprecher des 129. Sonetts – ein Gefühl des Überdrusses und des Ekels, das hier zusätzlich gekoppelt ist mit der paradoxen Empfindung des Übersättigt- und Hungrigseins:
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DSL II, 604. Noch bei Pope lässt sich diese Bedeutung nachweisen: “The Nymph whose Tail is all on Flame / Is aptly term’d a Glow-worm” ‘To Mr John Moore’ (1716). Z. 15f. The Twickenham Edition of the Poems of Alexander Pope, VI. Minor Poems, hg. Norman Ault / John Butt (London: Methuen, 1954), 161f. Vgl. zu dieser Nebenbedeutung von ‘flame’ DSL, I, 499. Dass Carew möglicherweise selbst an einer Geschlechtskrankheit litt, lässt sich auf intertextueller Ebene durch ein spöttisches Gedicht von Suckling nachweisen. So in ‘Upon T. C., having the P.’ NonDramatic Works, 32.
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Perhaps my restlesse soule, tyr’de with persuit Of mortall beauty, seeking without fruit Contentment there, which hath not, when enjoy’d Quencht all her thirst, nor satisfi’d, though cloy’d. (23–26)
Die Darstellung der irdischen Liebe als ein ständiges Oszillieren zwischen Verlangen und Übersättigung verweist bereits hier auf die Symptome der erotischen Bulimie, wie sie in den Gedichten von Suckling, Cowley und Rochester thematisiert werden.8 Vor diesem Hintergrund scheinen die Prioritäten bei Carew nun klar verteilt zu sein: Die einst von Tizian propagierte Gleichberechtigung von himmlischer und irdischer Liebe in dem Gemälde Amor sacro e amor profano (Rom, Galleria Borghese) ist nun aufgehoben. Erotik, nunmehr als “fond love” (32)9 abschätzig tituliert, wird nun eindeutig dem Bereich des Pathologischen und Irrationalen zugewiesen. Sandys’ exemplum sequendum verpflichtet stellt sich Carew am Ende einer im Gedicht ausgefochtenen Psychomachia ganz auf die Seite jener geistlichen Dichter, die, im Unterschied zu den früheren Priester-Poeten unter den Metaphysicals, die Erotik, “those Idols” (31), gänzlich aus ihren Werken verbannen: Prompted by thy [= Sandys’] example then, no more In moulds of clay will I my God adore. (29–30)
In aller Deutlichkeit wendet sich Carew hier ab von dem barocken und gegenreformatorischen Postulat, das Sinnliche und Körperliche in den Dienst der Lobpreisung Gottes zu stellen und die Sexualität als Spiegelbild der göttlichen agape zu zelebrieren. Unter dem Diktat des Heiligen Geistes, seiner neuen Muse, beabsichtigt er nun, den grünen Lorbeer des Literaten zugunsten des kargen Kreuzes – “the dry leavelesse Trunke on Golgatha” (34) – einzutauschen und alle Ehrungen der poetae laureati für nur eine einzige Dorne Christi preiszugeben. Inwieweit das Gedicht Aufschluss gibt über eine biografische wie auch literarische Kehrtwende im Leben Carews, über eine spektakuläre “death-bed recantation,”10 oder eine Tendenz zum Opportunismus,11 muss in Anbetracht des nur spärlich verfügbaren dokumentarischen Materials Spekulation bleiben. Dass bis zu einem gewissen Grade Carews Palinodie auch Charakteristika eines Rollengedichts aufweist, lässt sich 8 9 10 11
Vgl. Kap. V, 4 dieser Arbeit. Zur negativen und später verhüllten Bedeutung von ‘fond’ siehe OED VI, 5, 3. Bedeutung. Siehe hierzu Lynn Sadler, Thomas Carew (Boston: Twayne, 1979), 15f. Low, 151.
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zum einen an der extremen Wandlungsfähigkeit des Dichters ablesen, der anders als seine Mitstreiter Lovelace und Cowley sowohl das Idiom des ‘tribe of Ben’ als auch die poetischen Konventionen der Metaphysicals beherrscht – eine proteushafte Eigenschaft, die ihm im 18. Jahrhundert das Verdikt einbrachte, zum “Mob of Gentlemen who wrote with Ease” zu gehören.12 Zum anderen lassen aber auch seine eigenen selektiven Bearbeitungen der Psalmen erkennen, dass die von ihm selbst verworfene erotische Metaphorik und Ikonografie zur sinnlichen Darstellung des Sakralen mit besonderer Intensität eingesetzt werden. Während der Psalm 104 (Benedic anima mea) in der King James Bible (Authorized Version) die durch den Regen Gottes bedingte Fruchtbarkeit der Erde geradezu lakonisch konstatiert,13 greift Carew – in deutlicher Abweichung der gemäßigten poetischen Paraphrasen bei Sandys und Mary Sidney14 – auf eine betont erotische Sprache zurück, die Anklänge an den barocken theologischen Liebesdiskurs bei Donne und den Metaphysicals verrät: When on her wombe thy dewe is shedd The pregnant Earth is brought to bedd, And with a fruitfull birth encreast Yeilds hearbes and grass for Man and beast … (27–30)15
In vager Analogie zum Danaë-Mythos wird Gott abermals als ein homo eroticus imaginiert, der mit seinem spermatischen Tau die Gebärmutter der Erde imprägniert und somit eine reichhaltige Geburt an Kräutern und Gräsern für Mensch und Tier gewährleistet. Carews poetische Paraphrase dieses Psalms ist somit literatur- und kulturgeschichtlich von be12
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So Popes Verdikt in ‘The First Epistle of the Second Book of Horace’ Z. 108. Imitations of Horace. Twickenham Edition IV, hg. John Butt (London: Methuen, 1939), 203. Carew reiht er überdies mit Sprat, Sedley und anderen unter die Poetaster, bei denen ein gelungener rhetorischer Vergleich aufleuchtet “[i]n the dry Desert of a thousand lines.” Z.111, 205. “He watereth the hills from his chambers: the earth is satisfied with the fruit of thy works” (13) Authorized Version, 697; vgl. hierzu auch die ‚katholische‘ Douai-Fassung der Bibel, wo aufgrund einer divergenten Zählung der Psalm die Nummer 103 trägt: “Thou waterst the hills from thy upper rooms: the earth shall be filled with the fruit of thy works” (13), 748. Auch Mary Sidney rekurriert auf die Metaphorik des Taus – “Thou of heaven the Windows dost unclose / Dewing the mountaines with thy Bounties raine …” (41f.). Der Aspekt des Schwängerns wird bei ihr jedoch zugunsten der Emphase des Überflusses abgemildert. Lediglich die Phrase “Earth greate with yong …” (43) deutet die Bildlichkeit der Fertilität an. The Collected Works of Mary Sidney Herbert Countess of Pembroke, hg. Margaret P. Hannay / Noel J. Kinnamon / Michael G. Brennan (Oxford: Oxford UP, 1998), II, 158ff. The Poems, 140.
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sonderer Relevanz: Zum einen zeigt sie, dass trotz aller Vorbehalte die barocke Vorstellung einer erotisierten Theologie auch für einen Cavalier mit Einschränkungen noch Gültigkeit hat; zum anderen macht sie jedoch im Vergleich mit anderen Texten aus Carews polyvalentem Œuvre evident, dass der herkömmliche erotische Diskurs, jenes mixtum compositum aus Sakralem und Profanem, zunehmend in Frage gestellt wird und nunmehr im Begriff ist, von einer negativen Semiotik des Genitalischen und (Pseudo-)Pornografischen abgelöst und konterkariert zu werden.
2. Der jardin d’amour – Vom Liebesidyll zum locus communis 2.1. Die Öffnung des hortus conclusus bei den Libertins Die motivgeschichtliche Entwicklung des jardin d’amour und der sexualisierten Natur verdeutlicht auf geradezu beispielhafte Weise den kulturhistorisch relevanten Schnittpunkt, an dem die ganzheitliche Auffassung einer sowohl erotisierten Theologie als auch sakralisierten Erotik sich zugunsten einer neuen Liebeskonzeption auflöst. Im Rückgriff auf obsolet gewordene Topoi leistet der immer stärker werdende und bereits bei Donne punktuell nachweisbare Libertinismus den (pseudo-) pornografischen Tendenzen sowohl bei Rochester als auch bei den “other Victorians”16 Vorschub. Dabei erweist sich der Garten mit seiner vielgestaltigen Symbolik des Wachsens, Sprießens, Pfropfens und Beschneidens als ein in mehrfacher Hinsicht probater Bildspender. a. Der Garten als ein Ort des erotischen Werbens geht zurück auf den hortus conclusus des alttestamentlichen Hohelieds,17 wo der Liebende – wie später im mittelalterlichen Rosenroman – Einlass begehrt in den als jardin d’amour chiffrierten Körper der Geliebten. Obgleich die allegore16 17
Steven Marcus, The Other Victorians. A Study of Sexuality and Pornography in MidNineteenth-Century England (London: Corgi Books, 1969). Zur Entwicklung der (erotischen) Gartensymbolik siehe vor allem Dieter Hennebo, Gärten des Mittelalters (München / Zürich: Artemis und Winkler, 1987), Roy Strong, The Renaissance Garden in England (London: Thames and Hudson, 1998 [1979]) und Michael Niedermeier, Erotik in der Gartenkunst. Eine Kulturgeschichte der Liebesgärten (Leipzig: Edition Leipzig, 1995). Im Kontext des Barock (109ff.) geht Niedermeier sehr selektiv vor und konzentriert sich in seinen Ausführungen auf Orsinis Heiligen Wald von Bomarzo und Watteaus Kythera.
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tische Bibelexegese stets darum bemüht ist, einer erotischen Auslegung entgegenzuwirken,18 lassen die Bildbereiche, mit denen Salomon seine Liebe zu Sulamith umschreibt, keinen Zweifel daran, dass die Frau hier als eine sexualisierte Topografie, als ein mit Früchten und Gewürzen üppig ausgestatteter locus amoenus der Sinne visualisiert wird: A garden enclosed is my sister, my spouse; a spring shut up, a fountain sealed. Thy plants are an orchard of pomegranates, with pleasant fruits; camphire, with spikenard, Spikenard and saffron; calamus and cinnamon, with all trees of frankincense; myrrh and aloes, with all the chief spices: A fountain of gardens, a well of living waters, and streams from Lebanon. (4, 12–15)19
Die in diesen Textpassagen verbürgte theologische Bedeutung des Liebes- und Lustgartens im Denken der Frühen Neuzeit lässt sich überdies nicht nur anhand einer Fülle von Emblemata und Kunstwerken dokumentieren, die bald Maria im Rosenhag darstellen,20 bald die Begegnung zwischen dem auferstandenen Christus und Maria Magdalena in einen Garten und somit in eine Tradition von sexuell konnotierten Vegetationsriten versetzen.21 Auch in der architektonischen Konzeption der barocken Liebesgärten, wie sie nicht zuletzt in den Gemälden von Rubens überliefert wird, erweist sich der Garten als ein Ort erotischer und geschlechtsspezifisch festgelegter Inszenierungen: Im Einklang mit der Metasprache der Sexualität im Hohelied sind die jardins d’amour mit ihren aufgeworfenen (Venus-) Hügeln, vaginalen Brunnen und von Dickicht eingefassten Grotten angelegt als weibliche Körper, die es zu kultivieren und lustvoll zu genießen gilt.22 Vor diesem vielgestaltigen Hintergrund bekommt das bloße Eindringen des zuvor sich zum Liebes18
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Wie sehr eine erotische Auslegung des Hohelieds noch zu brüskieren vermag, beweist nicht zuletzt Sue in Hardys Jude the Obscure, als sie sich gegen die Abstraktion der vier Schriftsinne in der Deutung des Bibeltextes ausspricht: “I hate such humbug as could attempt to plaster over with ecclesiastical abstractions such ecstatic, natural, human love as lives in that great and passionate song.” Jude the Obscure, 152. Solomon’s Song. Authorized Version, 762. Dieser Topos ist seit Lochners berühmtem Gemälde (15. Jahrhundert; Köln, WalraffRichartz Museum) immer wieder gestaltet worden. So z.B. Jan Breughel d.J. Christus erscheint Maria Magdalena als Gärtner (Privatbesitz) oder Tizians Noli me Tangere (London, National Gallery) Siehe hierzu auch Norbert Lennartz, ‚„Frauen-Zimmer“ und „Frauen-Gärten“: Die Darstellung der Frau als erotische Topografie in der englischen Versdichtung des 17. Jahrhunderts‘ Grenz-Gänge. Studien zu Gender und Raum, hg. Nicole Schröder / Herwig Friedl (Tübingen / Basel: Francke, 2006), 167–80.
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pilger stilisierenden Romeo in einen von hohen Mauern umfriedeten Garten eine zusätzliche Bedeutungsfacette: Der übereilte Sprung in den Garten nimmt auf der symbolischen Ebene der Prolepse die spätere Penetration (sowohl ins Liebesgemach als auch in die Totengruft) vorweg;23 die erotisch-theologische Implikation dieser Tat wird in der Folge des späteren amour fou und die hierdurch bedingte Versklavung des Körpers abrupt in ihr Gegenteil verkehrt. Die zunehmende Gefährdung der theologischen Dimension des Liebesgartens, wie sie Shakespeare in seiner frühen Tragödie noch verhalten darstellt, nimmt in dem Ovid nachempfundenen Versepyllion Venus and Adonis bereits eine Qualität an, die die spätere Dekonstruktion des hortus conclusus in deutlicheren Zügen antizipiert:24 Die vollkommen im Diesseits verhaftete Venus Pandemos, “Sick-thoughted Venus” (3), führt nicht nur die neuplatonische Liebeskasuistik ad absurdum, wenn sie in Opposition zum traditionellen Geschlechterverhältnis in betont maskuliner Manier Adonis vom Pferd reißt (“pluck’d”) und wie ein Beutetier in ihren Armen gefangenhält. Sie missbraucht auch in der Art einer erotischen Machiavellistin das Bild des Liebesgartens, wenn sie in der Rolle der selbsternannten Advokatin des Naturgesetzes (“By law of nature …;” 171) ihren Körper mit einem eingeschlossenen Park vergleicht, der Adonis dazu verleiten möge, sich an den Hügeln ihrer Lippen wie auch an den tiefer liegenden Quellen ihrer Vagina (“the pleasant fountains;” 234) und dem süßen Dickicht ihres Schamhaars (“sweet bottom grass;” 236) zu laben. b. In seinem libertinistischen Gedicht ‘A Rapture’25 braucht der nunmehr ganz im cavalier mode schreibende Carew nur auf diese fest etablierten – bei Shakespeare durchaus als exemplum horrendum verstandenen – Formen und Muster der Ent-Theologisierung des Liebesgartens zurückzugreifen. Bereits die erste Zeile des Gedichts macht augenfällig, dass nunmehr der kühn beherzte Liebhaber, wie Carew ihn auch in ‘Boldnesse in Love’ beschreibt, den petrarkistischen de profundis-Sprecher abgelöst hat. Ohne rhetorische Umschweife, ganz in der Manier von Shakespeares Tarquinius,26 konstatiert er seine sexuellen Absichten – “I will enjoy thee 23 24 25 26
Romeo and Juliet II, ii, 63f. “The orchard walls are high and hard to climb / And the place death …” Neben Noam Flinker siehe auch Laureen Shohet, ‘Shakespeare’s Eager Adonis’ Studies in English Literature 1500–1900 (2002), 85–102. The Poems, 49–53. “[T]his night I must enjoy thee” Rape of Lucrece Z. 512.
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now my Celia …” (1) – und fordert seine Geliebte auf, sich mit ihm in einem erotischen Liebesidyll bzw. -exil, “Loves Elizium” (2), zurückzuziehen. Dieses von ihm imaginierte Liebes-Arkadien, das sich dem Zugriff des Molochs “Honour” und den fiktiven, von “greedy men” (19) ersonnenen Dekorumsregeln der Gesellschaft entzieht, verrät nun in mehrfacher Hinsicht die männlich libertinistische Perspektive im Umgang mit dem jardin d’amour. Während Aphra Behn in ihrer späteren erotischen Utopie ‘The Golden Age’ das Bild einer betont femininen Natur entwirft, die sich sowohl aller phallischen Bedrohungen als auch aller männlich konnotierten Begrenzungen entledigt hat,27 so propagiert Carews Sprecher die Dekonstruktion des weiblichen Liebesgartens aus rein hedonistischen Gründen. Im eklatanten Gegensatz zu jenen (puritanischen) Männern, die aus Selbstsucht und Bigotterie die Freiheit der Frau zu beschränken und – ganz in topografischer Metaphorik – den locus communis mit der Umzäunung ihrer Arme zu umgeben trachten – … that seeke to enclose the common, And within private armes empale free woman (19–20) –, sieht das lyrische Ich in dem weiblichen Geschlecht ein Gemeingut
(“the common”), das allen Männern zur Verfügung stehen sollte. Bereits Shakespeare benutzt in seinem 137. Sonett in bezug auf die dark lady das Bild von der Frau als einem allgemein zugänglichen Dorfanger.28 Aber hier wie auch bei der Metapher von der Bucht, wo alle Männer phallisch vor Anker gehen – “the bay where all men ride”29 – zeigt Shakespeare, dass es sich bei der Charakterisierung einer Prostituierten um einen contre-texte handelt, der sowohl dem Konzept der “marriage of true minds” (Sonett 116) als auch der Vorstellung von der Frau als einem abgegrenzten sexuellen Refugium, “a several plot,”30 widerspricht. Im Prozess der Umwertung der Werte, wie er sich parallel zu der bevorstehenden Machtergreifung der Puritaner auf nahezu allen Gebieten vollzieht, entwirft Carew nun eine libertinistische Phantasmagorie: Der als Liebesgarten chiffrierte Körper der Frau verliert hierbei die vom Ho27
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“The stubborn plough had then, / Made no rude rapes upon the virgin Earth …” (III, 31ff. Works I, 30ff.). Siehe hierzu auch den Aufsatz von Jessica Munns, ‘“But to the touch were soft”: Pleasure, Power, and Impotence in “The Disappointment” and “The Golden Age”’ Aphra Behn Studies, hg. Janet Todd (Cambridge: Cambridge UP, 1996), 178–96. “Why should my heart think that a several plot, / Which my heart knows the wide world’s common place?” Z. 9–10. The Sonnets, 145. Z. 6. Ebd. Z. 9. Ebd.
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helied ererbte Umfriedung, und der einst versiegelte vaginale Brunnen fließt nunmehr ad gloriam majorem virorum. Ohne Barrieren und Anstandskodices sollen zunächst alle weiblichen Reize sich unvermittelt dem männlichen Blick darbieten: “there I’le behold / Thy bared snow, and thy unbraded gold” (27f.). Wo der petrarkistische Liebhaber sich lediglich mit der Rolle des distanzierten Voyeurs begnügen musste, genießt es Carews Sprecher in seiner Imagination, wie er ganz nach dem Vorbild Donnes in der Elegie XIX ‘To his Mistress on Going to Bed’ ebenfalls den Körper der Geliebten mit seiner freien Hand, (“my enfranchiz’d hand”), ertastet und erkundet. Dabei darf kein noch so transparenter Vorhang diese Entgrenzungs- und Enthüllungsphantasie beeinträchtigen. “[T]he rich Mine” (33),31 wie im 17. Jahrhundert als Ausdruck des merkantilen Besitzanspruchs die Vagina paraphrasiert wird,32 muss nicht nur dem sondierenden Blick des männlichen Betrachters stets exponiert sein; sie muss überdies allzeit bereit sein für den koitalen Prägevorgang, bei dem junge Amoretti gezeugt werden sollen: […] the rich Mine, to the enquiring eye Expos’d, shall ready still for mintage lye, And we will coyne young Cupids. (33–35)
Der erotische locus amoenus, den Carew im folgenden evoziert, zeichnet sich jedoch nicht nur dadurch aus, dass die Natur am Liebesakt des Paares partizipiert und seine orgasmische Ekstase – “sweet extasie” (54) – mit harmonischen Geräuschen begleitet; im Kontext der neuen Liebesgarten-Ikonografie ist es vielmehr bezeichnend, dass die Landschaft, in die sich die Frau im Verlauf einer phantasmagorischen Metamorphose transformiert, immer mehr die Züge eines Hobbes’schen ‚Wolfsreviers‘ annimmt. Vor dem Hintergrund eines solchen Paradigmenwechsels ist es daher kaum verwunderlich, dass Carew in einem syntaktisch elaborierten Vergleich das im Barock häufig verwendete Bild der fleißigen Biene modifiziert. Noch in Andrew Marvells Gedicht ‘The Garden’ steht “the industrious bee” nicht zuletzt aufgrund der straffen Organisation des Bienenstaates für ein ordo-Konzept,33 das durch den Vergleich von Biene und Jungfrau Maria auch metaphysisch abgesichert ist. Bei Carew hinge31 32 33
Vgl. abermals die Nähe des Gedichts zu Donnes Elegie, wo ebenfalls von “my Myne of precious stones” (Z. 29) gesprochen wird. Poetical Works, 106ff. Vgl. auch DSL II, 889f., wo diese metaphorische Umschreibung für die Vagina bis ins 18. Jahrhundert nachgewiesen wird. Vgl. Lurker, 91. – Siehe auch Embleme, wo der Bienenstock auf eine intakte communio verweist. Schöne / Henkel, Emblemata, 825f. und Dantes Paradiso (Canto 31).
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gen tritt an die Stelle der parthogenetisch entstandenen Biene “the empty Bee” (55), ein ausgehungertes männliches Insekt, das zum Signum eines libertinistischen Naturgesetzes wird, wonach in Analogie zur Defloration der jungfräulichen Frühlingsblumen durch die Bienen es dem Liebhaber fortan erlaubt ist, die erotischen Schätze der Frau egoistisch auszuplündern: So will I rifle all the sweets, that dwell In my delicious Paradise, and swell My bagge with honey, drawne forth by the power Of fervent kisses, from each spicie flower. (59–62)
Obwohl Thomas Laqueur einen das one sex model verdrängenden radikalen Dimorphismus erst im späten 18. Jahrhundert verortet und die Einteilung der Menschen in zwei feststehende inkommensurable und antagonistische Geschlechter als ein Phänomen der Aufklärung darstellt,34 kann die bereits bei Carew geschilderte Dichotomie zwischen Mann und Frau kaum gravierender sein: Als eine Vorstufe zu dem späteren Geschlechterantagonismus zwischen roué und Jungfrau stellt die Geliebte ein köstlich dargebotenes Paradies dar, das jedoch entgegen der griechischen Etymologie (paradeisos) weder mit einem umfriedeten Stück Land noch mit einem Privatgrundstück (enclosure) in der Folge der Landreform von Heinrich VIII gleichbedeutend ist. Wie in Donnes Bezeichnung seiner Geliebten als “my America, my new-found-land, / My kingdome”35 ist sie ein ebenso passives wie offenes Territorium, wohingegen der Mann in die Rolle des Usurpators und Kolonisators schlüpft,36 der sich auf aggressive Weise des erotischen Reichtums bemächtigt und – analog zur hungrigen Biene – seine Tasche bzw. sein Skrotum mit dem Honig respective den würzigen Sekreten der weiblichen Genitalien zum Schwellen bringt. Ein Charakteristikum des von Carew beschriebenen erotischen Beutezugs ist es, dass er sich in immer neuen Bilderfindungen perpetuiert. So gelangt der Sprecher von den Rosenknospen zu den reifen Kirschen wie auch zu den festen Äpfeln,37 die – wie auch in den renaissancistischen Blason-Gedichten auf die weiblichen Brüste – mit einer korallfarbenen Beere verziert sind. Mit einem wandernden Kuss – “a wandering kisse” 34 35 36 37
Laqueur, 154. ‘To his Mistress on Going to Bed’ Z. 27f. Den Aspekt der erotischen Kolonisation des weiblichen Körpers wie auch der libertinistischen Kartografie behandelt auch Nussbaum, 101ff. Pluralformen sind in den meisten MS-Varianten belegt. Poems, 51.
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(67) – wird die Geografie des weiblichen (Garten-)Körpers weiter vermessen, bis der Liebhaber in Anlehnung an Spensers Fairie Queene jenen “Bower of blisse” (68) erreicht, von wo zwei als Milchstraßen paraphrasierte Beine abzweigen. Ihr (vorläufiges) Ende findet die Expedition des topografisch imaginierten weiblichen Körpers erst mit der Besteigung des mons Veneris, “the swelling Appenine” (73), und dem darauffolgenden Rückzug in den doppelten private mode des vaginalen WeinrosenHains, “thy grove of Eglantine” (74). In diesem giardino segreto innerhalb des libertinistischen Paradieses, in diesem geradezu vaginalen Mikrokosmos stilisiert sich der Sprecher nun zum Alchimisten, der alle geraubten Schätze, “those ravisht sweets” (75), im Glaskolben der Liebe (“Loves Alimbique;” 76) destilliert und durch den sexuellen Höhepunkt zu einem besonderen Balsam, zu einem Elixir bzw. alchimistischen Ejakulat, “that great Elixar” (78), verfeinert. Nicht nur in bezug auf diese Ikonografie der sexuellen Alchimie fällt auf, dass Carew das bei Donne und den anderen Metaphysicals erprobte Vokabular der erotisierten Theologie als Zitation aufnimmt, um es dann jedoch – wie im Fall der Küsse, deren Duft mit dem Weihrauch und der Himmelsleiter korreliert wird (93f.) – in den Dienst eines ausgeprägt libertinistischen private mode zu stellen. Sieht Noel Blincoe Carews Libertinismus in ‘A Rapture’ als Ausdruck einer durch Donne motivierten Satire, in der der Sprecher sich selbst persifliert,38 so muss in Anbetracht der politischen Situation, in der der Royalist Carew sich befindet, der Rückzug des Sprechers in einen erotischen locus amoenus eher als eine besondere Form der inneren Emigration verstanden werden.39 Doch anders als bei Donne – und später auch bei Crashaw – zieht sich das Individuum nicht mehr in einen intimen, homoerotisch gefärbten Liebesdialog mit Christus-Amor zurück; vielmehr bevorzugt es eine erotische Utopie, in der im Gegensatz zu puritanischen Vorstellungen einer ehelichen Gemeinschaft nun alles erlaubt ist, und die Genitalien der Frau sich jederzeit, ohne Intervention von Staat und Moral (“the hated name / Of husband, wife, lust, modest, chaste, or shame;” 107f.), zur Penetration bereit erweisen.
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Noel Blincoe, ‘Carew’s “A Rapture”: A Paradoxical Encomium on Erotic Love’ John Donne Journal (2003), 236. Siehe hierzu Norbert Lennartz, ‚Kassiber der Sinnlichkeit. Zum Aspekt der Erotik in Thomas Carews Gedichten‘ The Senses’ Festival, 129–43.
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c. Ein weiterer semantischer Bereich, den Carew zur Visualisierung seiner libertinistischen Vorstellungswelt einsetzt, ist der der Navigation wie auch das aus der Antike tradierte Bild von der menschlichen Existenz als einem Lebensschiff. Die in ihrer unkaschierten Nacktheit sich präsentierende Frau ist nun nicht mehr eine terra cultivata, sondern in Übertragung auf ein anderes, vom Mann zu domestizierendes Element gleicht sie jetzt einem ruhigen Milch-Ozean – “a sea of milke” (81)40 –, der in Analogie zu Jupiters befruchtendem Goldregen von einem phallischen Sturm aufgewühlt und penetriert wird. Trotz oder gerade wegen dieser heftigen Liebesturbulenzen vermag das phallische Schiff, in der zypriotischen Meeresenge (= Vagina) vor Anker zu gehen und seine Ejakulationsfracht zu entladen: Yet my tall Pine, shall in the Cyprian straight Ride safe at Anchor, and unlade her fraight. (85–86)
Hierbei scheint der Autor sich kaum von der Tatsache beeindrucken zu lassen, dass in der englischen Sprache das Genus für Schiffe stets weiblich ist (“her fraight;” 86 Hervorhebung NL) und somit der phallische Charakter des image-cluster verloren zu gehen droht. Die ambivalente und hier auf die männliche Sexualität applizierte Symbolik des Schiffes, die der tradierten Zuordnung des Bildes zum weiblichen Genital grundlegend widerspricht,41 wird nun gemäß dem Prinzip der barocken sprezzatura bis in die Einzelheiten der nautischen Instrumentarien ausgeführt. Hierbei fällt auf, dass der Frau – wenige Zeilen zuvor noch ein passiv ausgebreiteter Ozean gemäß der französischen Homophonie von mermère – nunmehr eine gewisse, wenngleich auf den Sprecher fokussierte Eigeninitiative zugebilligt wird: Als Schiffsführerin, “skilfull Pilot” (88), wird ihr in parodistischer Abwandlung des christologischen Bildes vom gubernator die Macht zugesprochen, das phallische Ruder, “My Rudder” 40
41
Diese Metapher erweist sich in der Versdichtung als sehr beliebt: So rekurriert Hoffmannswaldau in seiner ‚Lobrede an das liebwertheste Frauen-Zimmer C. H.v.H.‘ auf das Bild, in dem er an Bord des Sinnen-Schiffs auf einer weiblichen “see voll milch” navigiert. Z. 12. Gedichte, hg. Manfred Windfuhr (Stuttgart: Reclam, 1964), 25ff. Siehe das Lemma ‘ship’ in DSL III, 1234f. und den umfassenden Eintrag zu ‘nautical imagery’ in DSL II, 938ff. Dass die Dichter des 17. Jahrhunderts sich bei der Wahl ihrer Metaphern von Wortspielen leiten lassen, zeigt die Tatsache, dass Donne in ‘Aire and Angels’ in der Wendung “love’s pinnace” auf die homophone Ähnlichkeit von ‘pinnace-penis’ rekurriert. Siehe hierzu Michael Gassenmeier, ‘Platonic Love Undone. Rezeption und Inversion erotischer Topoi der Renaissancedichtung in John Donnes “Aire and Angels”’ Jahrbuch der Oswald-von-Wolkenstein-Gesellschaft (1996/97), 416.
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(87), zu handhaben und den als Barke umschriebenen Penis in den Liebeskanal (ein-) zu führen, “where it shall / Dance, as the bounding waves doe rise or fall” (90). Nur im Rahmen dieser phantasmagorischen Utopie, in der nicht nur der christliche Sündenbegriff invertiert wird – “We only sinne when Loves rites are not done” (144) –, sondern antike Tugendinkarnationen wie Penelope und Lukrezia zu Erotomaninnen und Aretino-Rezipientinnen umgedeutet werden,42 vermag die Frau so weit die Konventionen zu durchbrechen, dass sie für die kurze Dauer des Liebesaktes die Motive sowohl des Liebesschiffs als auch des jardin d’amour neu definiert und den Mann mit ihren Armen, “[her] circling armes” (91), umfriedet. Carews provokanter Umgang mit der von der Bibel hergeleiteten Tradition des Liebesgartens vermittelt einen wichtigen Einblick in den Prozess, bei dem sich in der Dichtung der Cavaliers die Verwandlung des jardin d’amour zu einem hortus voluptatum sukzessive vollzieht. Während eingestreute theologische und alchimistische Metaphern bzw. Vergleiche Reminiszenzen an den barocken Liebesdiskurs wachrufen, so lässt sich kaum übersehen, dass der sakrale contre-texte im Begriff ist zu verblassen, oder in den Bereich des zur Formel erstarrten Zitats überzugehen. Nach dem endgültigen Verlust der vierfachen Schriftbedeutungen ist der Garten nunmehr zu einem Ort realer oder utopisch imaginierter Geschlechtsakte geworden, in dem letztlich die libidinösen Gesetze einer auf den Mann zugeschnittenen Natur bzw. “unrestrained Appetite” (112) vorherrschen. Shakespeares als Dystopie konzipierte Parodie auf die höfische Liebe in Venus and Adonis hat sich in der Mitte des 17. Jahrhunderts – im Rückgriff auf die patriarchalische Verteilung der Geschlechterrollen – zu einer Wunschprojektion, einer pornografisch anmutenden Utopie entwickelt. 2.2. Der hortus voluptatum und andere Gärten der Lüste Vor allem aus puritanischer Sicht wird die zunehmende Desintegration wie auch Zweckentfremdung des biblischen Liebesgartens vehement angeprangert.43 In der strengen Polarisierung von Körper und Geist gelangt 42
43
“The Roman Lucrece there, reades the divine / Lectures of Loves great Master, Aretine; / And knowes as well as Lais, how to move / Her plyant body in the act of love” Z. 115–18. In ‘The Mower against Gardens’ wendet sich Marvell gegen die barocke Bastardisierung der Natur. In Analogie zu den Eunuchen und Kastraten werden nun Kirschen ohne Geschlecht, d.h. ohne Stein (stone = Hoden), erzeugt. “’Tis all enforced, the foun-
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Andrew Marvell in ‘The Garden’ sogar zu einer radikalen tout-seul-Formel, die jede erotische Zweisamkeit misogyn ablehnt – “Two paradises ’twere in one / To live in paradise alone.”44 Die Cavaliers stehen im dichotomisierenden Denken ihrer Zeit nun für das radikal Entgegengesetzte, fahren sie doch ihrerseits fort, den Garten im Zeichen des Genitalischen zu inszenieren. Dabei wird jedoch nicht nur die barocke Totalität von Erotischem und Sakralem, von Körper und Metaphysik aufgehoben; vielmehr erfährt nun auch das alt überkommene Mythologem vom Mensch als Mikrokosmos seine Dekonstruktion, wenn das ganzheitlich verstandene Individuum in einzelne erogene und genitale Fragmente zerlegt wird. So schlägt Jonathan Sawday vor, die gesamte Renaissance-Kultur seit dem 16. Jahrhundert mit dem Begriff der “culture of dissection” zu charakterisieren,45 zumal das Interesse jener Zeit an der anatomischen Beschaffenheit des Menschen sich in den literarischen Modegattungen der Blasons du corps féminin und der Contreblasons auswirkt. Während jedoch die Blasondichtung in ihrer Konzentration auf das Partikulare stets den Blick auf den gesamten hortus anatomicus gerichtet hält, zeichnet sich die bei den Cavaliers einsetzende Genitalisierung der Literatur gerade dadurch aus, dass sie im Gegensatz zu den erotischen Werken der Frühen Neuzeit46 den Menschen jenseits der Geschlechtsorgane ausblendet und somit die spätere Partialisierung des (vor allem weiblichen) Körpers bei Courbet (L’origine du monde [1866; Paris, Musée du Louvre]), Wesselman, aber auch den Vertretern der pornografischen Subkultur antizipiert. a. Bei Sir John Suckling zeigt sich die genitalische Desintegration des weiblichen Körpers geradezu exemplarisch in dem frivolen, als Dialog zwischen dem Autor und T[homas] C[arew] konzipierten Gedicht ‘Upon my Lady Carlisles Walking in Hampton-Court Garden:’47 Vor der Kulisse eines Gartens, der inzwischen nur noch das Lokalkolorit für die tendentiell misogyne Konversation zweier Voyeure darstellt, wird der weib-
44 45 46 47
tain and the grot” (31), so klagt der Dichter in Anbetracht einer immer artifizieller werdenden Barockkultur und -architektur. The Poems and Letters of Andrew Marvell I, Poems, hg. H. M. Margoliouth, rev. Pierre Legouis (Oxford: Clarendon P, 1971), 43. ‘The Garden’ Z. 63–64. Ebd., 51f. The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Culture (London / New York: Routledge, 1995), 3. Siehe hierzu die bei Moulton und Gnüg (Der erotische Roman) aufgeführten Werke. The Non-Dramatic Works, 30ff.
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liche Körper nicht nur seines Mysteriums, sondern auch seiner Totalität endgültig beraubt. Der in der obsoleten Rolle des platonisch idealisierenden Dichters auftretende C[arew] rekurriert zunächst in drei aufeinander folgenden Fragen auf die poetischen Gemeinplätze des traditionellen Liebesdiskurses, wie er vom italienischen dolce stil nuovo in die Literatur übernommen wurde. Auf seine Frage, ob er die Anwesenheit der Frau nicht als eine besondere Form der Inspiration empfunden habe, die sich sowohl auf die Natur als auch auf die sinnliche Wahrnehmung des Betrachters auswirkt, kann J[ohn] S[uckling] jedoch nicht umhin, die poetischen Phrasen des amour courtois als eine Fiktion und Sinnestäuschung zurückzuweisen. Bereits Shakespeare hatte in Sonett 130 auf den contretexte des parodierenden Anti-Petrarkismus zurückgegriffen, um somit das Klischee vom Parfüm des Atems in sein Gegenteil zu verkehren und das Auftreten der dark lady weniger als ein engelhaftes Schweben denn als festes Stampfen zu entlarven. Doch im Unterschied zu ihm verzichtet Suckling auf jede Form der Satirisierung. Eines dem satirischen contretexte inhärenten Wertemaßstabs beraubt behauptet er, dass die Apotheose der Frau – “A thing so near a Deity” (19) – nur auf eine verklärende Sicht des Mannes zurückzuführen sei: I must confesse those perfumes (Tom) I did not smell; nor found that from Her passing by, ought sprung up new: The flow’rs had all their birth from you. (10–13)
Die wohlriechenden Blumen wie auch die Gewürze – “chafed spices” (9) –, die seit dem Hohelied den weiblichen Körper als erotischen hortus conclusus charakterisieren, werden nun als poetische Mystifikationen abgelehnt. Der als Sprachrohr der Libertins fungierende Suckling bekennt sich vielmehr – als persona wie auch als Dichter – für einen körperbezogenen Diskurs, der nicht nur alle sakralen Bezüge preisgibt, sondern durch alle chiffrierten Metatextebenen und (rhetorischen) Maskeraden hindurch zur kruden Nacktheit des weiblichen Genitals vordringt: Alas! Tom, I am flesh and blood, And was consulting how I could In spite of masks and hoods descry The parts deni’d unto the eye. (24–27)
Das Gesicht der Frau, das in der petrarkistischen Dichtung das antinomische Verhältnis von engelhafter Schönheit und eisiger Kälte, von Grazie und Grausamkeit zum Ausdruck bringt, wird von dem libertinistischen 209
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Dichter nun zur Nebensache erklärt; darüber hinaus hat es seine charismatische Wirkung wie auch sein Faszinosum für einen Dichter wie Suckling verloren, der sich von der Hyperbolik des leidenden Petrarkisten distanziert und lakonisch feststellt: ’Troth in her face I could descry No danger, no divinity. (40–41)
Im Gegensatz zu dem Blasondichter, der den weiblichen Mikrokosmos unter Wahrung der hierarchischen Struktur der chain of being vom Kopf bis zum Fuß beschreibt, richtet sich der Blick des libertinistischen (Pseudo-)Pornographen nur auf einen Teil des weiblichen Körpers: auf die Vagina. In der von Suckling verwendeten Metaphorik der erotisch konnotierten Gartenbauarchitektur bedeutet dies, dass der Sprecher sich weniger für die kunstvolle Ornamentik und das mythologische Skulpturenprogramm interessiert als für die vaginale fontaine d’amour, “the lovely fountain” (43), die erst durch die Säulen bzw. Beine, auf denen sie plaziert ist, zur Geltung gebracht wird. Die – gemessen am barocken Originalitätsprinzip – eher konventionell anmutende Metapher von der Vagina als Brunnen,48 die seit dem Rosenroman von Shakespeare, Crashaw und später sogar von Byron benutzt wird, verknüpft Suckling nun mit einer direkten Anspielung auf eine verpasste Gelegenheit zum Cunnilingus: Being once come so near, I think I should have ventur’d hard to drink. (44–45)
Das Adverb ‘hard’ verweist deutlich auf den erregten wie auch erigierten Zustand, in dem sich der Sprecher befindet. Die Frustration, die sich mit dem Verlust der erotischen occasio einstellt, löst eine Reaktion aus, die sich auch bei Rochesters vereiteltem Jäger nach erotischen Zerstreuungen in ‘A Ramble in St. James’s Park’ einstellen wird: Der in seinem erotischen Verlangen unbefriedigte Sprecher bezichtigt die Frau der Promiskuität; dabei diskreditiert er ihre Vagina als einen geräumigen Ort, als einen ausgeweiteten locus communis, wo zur Bekräftigung seiner Verachtung nur Narren und die geistlose Plebs ein- und ausgehen: There to be lost why should I doubt, Where fools with ease go in and out? (48–49)
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Vgl. DSL I, 535ff.
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Cheryl M. Gibsons Befund, dass Suckling der Schöpfer einer ‚bildlosen‘ Versdichtung – “imageless poetry”49 – sei, lässt sich an den Texten nicht verifizieren. Es muss ihr jedoch beigepflichtet werden, wenn sie feststellt, dass er mit der Dekonstruktion der Sprache in erheblichem Maße zur Dekonstruktion des poetischen Frauenbildes beigetragen hat. Während Carew in seiner Darstellung der Frau als einer erotischen Topografie den weiblichen Körper als einen vielgestaltigen Lustgarten mit sexuell konnotierten Früchten, Alkoven, Grotten und arrangierten Bosketts inszeniert, so lässt sich bei Suckling eine imaginative Verarmung konstatieren, indem er den gesamten hortus anatomicus ausschließlich auf den vaginalen Brunnen reduziert. Die facettenreiche Garten-Ikonografie wie auch die gesamte, bei Carew noch nachweisbare Metasprache der Erotik treten somit zugunsten der voyeuristischen Schaulust und der misogynen Identifizierung der Frau mit ihrem Genital in den Hintergrund. b. Die Reduktion der Frau auf ihre Vagina, wie sie sich sowohl in der pornografischen Literatur als auch in der bildlichen bzw. photografischen Inszenierung des weiblichen Körpers bis heute durchgesetzt hat, wird in ihrer verbalen Drastik zum ersten Mal von Rochester formuliert. Obwohl der Restaurationsdichter eine andere Generation als die der Cavaliers repräsentiert, zeigt eine eingehende Analyse des libertinistischen Gedichts ‘A Ramble in St. James’s Park’50 im Kontext der jardin d’amour-Motivik eine Progression libertinistischen Gedankenguts. Auffallend ist zunächst, dass die althergebrachte metaphorische Verquickung von Frau und Garten aufgehoben ist. Der Garten bzw. der Park hat nicht nur seine Qualität eines barocken buen retiro verloren; vielmehr hat er sich im Prozess einer rasanten Merkantilisierung der Gesellschaft zu einem belebten Kontakthof verwandelt, wo erotische Abenteurer, “ramblers,” darauf vertrauen können, bei Prostituierten ihre Gier nach Sexualität – “Lechery” (6) – zu stillen. Zur Charakterisierung dieses nunmehr öffentlichen Ortes schlägt Michael Gassenmeier daher den Terminus hortus obscenus vor.51 Trägt man hierbei der von Marcuse vorge49 50 51
‘“’Tis not the meat, but ’tis the appetite”: The Destruction of Woman in the Poetry of Sir John Suckling’ Explorations in Renaissance Culture (1994), 41. Zeilenangaben folgen der von Harold Love besorgten Ausgabe The Works of John Wilmot Earl of Rochester (Oxford: Clarendon P, 1999), 76–80. ‚Die sexuelle Imagination eines Nihilisten der Restaurationszeit: Zu den Gedichten des Earl of Rochester‘ Sexualität im Gedicht. Vorträge eines interdisziplinären Kolloquiums, 184.
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brachten Etymologie des Wortes ‘obscenus’ Rechnung,52 so hat sich die Erotik des Hohelieds am Ende des 17. Jahrhunderts in caenum (lat. = Schmutz, Unrat), in die Erfahrung des Monströsen, Unflätigen und zuweilen auch Fäkalischen verwandelt. Betrachtet man alleine die Formen der Sexualität, die allnächtlich im Schatten der verschlungenen Bäume – “this All-sin-sheltring Grove” (25) – praktiziert werden, so fällt auf, dass im Unterschied zu der gesellschaftlich akzeptierten Variante des Vaginalverkehrs bei Carew nun in Rochesters Liebespark die Betonung ausnahmslos auf tabuisierten und widernatürlichen Sexualpraktiken liegt: “Bugg’ries, Rapes, and Incests” (24). Aber nicht nur die Tatsache, dass in diesem jardin d’amour die Libertins einer Sexualität à rebours frönen, die unter anderem bewusst gegen das Verbot des Koitus a tergo verstößt, unterstreicht den kulturgeschichtlichen Paradigmenwechsel im Bereich der Erotik. Vor allem ist es das Faktum, dass zur Befriedigung ihrer sexuellen Lust alle Gesellschafts- und Berufsstände zusammentreffen und sich in diesem mikrokosmischen Park vermischen, was nachhaltig deutlich macht, dass das Mythologem der chain of being – lange vor der Französischen Revolution – abgelöst worden ist von einer drastisch egalisierenden Sichtweise. Ihres hierarchischen Aufbaus entledigt stellt die Gesellschaft aus dem Blickwinkel Rochesters nur noch ein Konglomerat triebgelenkter und kopulierender Wesen dar: Carr-men, Divines, great Lords, and Taylors, ’Prentices, Poets, Pimps, and Gaolers; Foot-Men, fine Fops, do here arrive, And here promiscuously they swive. (29–32)
Der unter dem Vorzeichen der Libido vorgenommenen Dekonstruktion der chain of being geht ein aitiologischer Erklärungsversuch voran, der nach dem Prinzip der alten Ursprungslegenden die Formen der Vegetation im Park zu bestimmen trachtet. Auf die bildliche Vorstellung vom Park als locus amoenus, auf die Edmund Waller in seinen enkomiastischen Versen ‘On St. James’s Park, As Lately Improved by His Majesty’ zurückgreift, verzichtet der Sprecher und führt stattdessen die Entstehung der Bäume und Pflanzen auf einen mündlich überlieferten pornografischen Inzest-Mythos zurück: Von ihren Mätressen versetzt pflegten die Pikten auf das Gesicht ihrer Mutter Natur zu onanieren, und somit
52
Siehe auch Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearbeitet v. Elmar Seebold (23. Aufl. Berlin / New York: de Gruyter, 1999), 597.
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verhalfen sie den Mandragoren53 – in Anlehnung an die Himmel und Erde verbindende Welteneche – zu gigantischem Wachstum: When Antient Pict, began to Whore, Deluded of his Assignation […] Would Frigg upon his Mothers Face, Whence Rows of Mandrakes tall did rise Whose lewd Tops Fuck’d the very Skies. (14–15/18–20)
Im Kontrast zu einer göttlichen Insemination der Erde ist es im Kontext dieser libertinistischen Aitiologie die menschliche Autoerotik, die – als parodistisches Gegenbild zum revoltierenden Onan in Gen. 38, 9 – aus versagter Lust die Vegetation zum Sprießen bringt. Diese paradoxe Kombination von autoerotischer Sterilität einerseits und phantastischer Potenz andererseits stellt einen der wesentlichen Unterschiede dar zu den dekadenten Gärten bei Mirbeau, Swinburne54 wie auch zu den libidinösen Sumpflandschaften in den erotischen (Alp-) Träumen Gustav von Aschenbachs. Während in den späten Gärten des Fin de Siècle nur noch eine eigentümliche Mixtur aus Infektion, Tortur und Tod vorherrscht, die den Gedanken an die Erotik austilgt oder sado-masochistisch unterfängt, wird Rochesters (pseudo-) pornografische Inszenierung des St. James’s Park bestimmt von Bildern sowohl des sexuellen Überflusses als auch des totalen Versagens. Wie sehr Rochester sich in der Gestaltung seines bald sterilen, bald sexuell abundanten hortus voluptatum von der Tradition sowohl des Liebesgartens als auch des Prä-Textes von Waller, jener “ornamental triviality”55 entfernt hat, zeigt sich nicht zuletzt in dem provokanten Gebrauch des religiösen Vokabulars, das anders als bei den Metaphysicals hier die Inkompatibilität von Sexualität und Theologie mehr als deutlich hervorhebt. Der Park, den das angetrunkene lyrische Ich, jene moderne Kontra53
54 55
Zur Mandragore und ihren erotischen Konnotationen vgl. Donne ‘Twickenham Garden’ (Z. 17). Die Vorstellung, dass die Mandragore unter Galgen aus dem Ejakulat der Gehenkten sprieße und sogenannte ‚Galgenmännchen‘ erzeuge, ist eine altüberlieferte Legende (vgl. unter dem Lemma ‚Alraun‘ das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, I, 318), die bereits William Turner in seinem Kompendium The First and Seconde Partes of the Herbal (1568) zu dekonstruieren versucht (II, 46). Später beruft sich auch noch Samuel Beckett in Waiting for Godot auf die sexuelle Entstehung der Mandragore: “Where it [= Samen der Gehenkten] falls mandrakes grow.” Waiting for Godot (New York: Grove, 1953), I, 12. ‘The Forsaken Garden’ The Complete Works III, 18–20. Warren L. Chernaik, The Poetry of Limitation: A Study of Edmund Waller (New Haven / London: Yale UP, 1968), 210.
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faktur des Liebespilgers, nach ‚seriösen‘ Gesprächen “[o]f who Fucks who, and who does worse” (2) aufsucht, ist nach den libertinistischen Maßstäben des Restaurationsdichters nicht ein geheiligter Ort, wo Waller zufolge, Karl II in der Pose des christologischen Herrschers wandelt (“Here, like the people’s pastor he does go”),56 sondern eine Weihestätte besonderer Art: “’Tis consecreate to Prick and Cunt” (10). Hierbei ist es nicht nur die direkte, auf jede Paraphrase verzichtende Bezeichnung der Genitalien, die in so heftigen Widerstreit mit der religiösen Diktion tritt; vor allem die Tatsache, dass der Mensch – wie bereits bei Suckling vorweggenommen – nur noch als Abbreviatur seines Geschlechts, als libidinöses Fragment existiert, macht augenfällig, wie weit sich die theologische Terminologie von ihrem contre-texte abgespaltet hat. Die Dekonstruktion des Menschen als Ebenbild Gottes geht jedoch noch weiter: Auf den “hallow’d Walks” (33) erblickt der Sprecher Corinna, seine bevorzugte Prostituierte, die ihm gegenüber die Attitüde einer indifferenten Göttin annehmend sich von drei Galanen und Stutzern, “[w]ith wrigling Tails” (44), umwerben lässt. Die an dieser Stelle noch moderat thematisierte Bestialisierung des sexuell erregten Menschen ist eine leitmotivische Konstante im Werk Rochesters, die zuweilen an Iagos Tiermetaphorik und den mit ihr verknüpften sexuellen Pessimismus erinnert. Aus der verzerrten Perspektive des dämonischen Machiavellisten, der sich in seiner Gier nach Destruktion aus der Seinsordnung herauslöst, verkehrt sich der menschliche Liebesakt zu einer animalischen Monstrosität – “the beast with two backs”57 –, zu einer Perversion des in der Erotik gespiegelten amor divinus. Iagos insistenter Gebrauch der Tiermetaphorik zur Verunglimpfung der physischen Liebe wie auch seine pseudo-rationalistische Auslegung des Bildes vom Körper als Garten58 sind Ausdruck des dualistischen Weltverständnisses der Shakespeare-Zeit, das jedoch für Rochester immer mehr an Gültigkeit verliert. Obgleich, wie Gassenmeier behauptet, die Wahrnehmung des Sprechers aufgrund seiner Trunkenheit erheblich beeinträchtigt ist,59 liegt die Charakterisierung des Menschen als brünstiges Tier weniger in einem subjektiven Fehlurteil als in einer radikal veränderten Sicht der conditio humana 56 57
58 59
‘On St. James’s Park, As Lateley Improved By His Majesty’ Z. 109. The Poems of Edmund Waller, hg. G. Thorn Drury (London: Routledge, 1905), II, 44. Othello I, i, 116f. – Neben der Verwandlung des Mannes zu einer gehörnten Monstrosität ist die Bestialisierung des homo eroticus ein zentrales Thema: “an old black ram / Is tupping your white ewe” (I, i, 89f.). Ebd., I, iii, 319ff. Gassenmeier, 189.
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begründet. Daher ist es durchaus angebracht, Karlheinz Stierle Folge zu leisten, wenn er in bezug auf die französische Literatur seit Pascal von einer negativen Anthropologie spricht.60 Während die Frage nach der Natur der condition humaine in der französischen Klassik ohne eine Antwort bleibt,61 so scheint sie im karolinischen Zeitalter eindeutig beantwortet zu werden: der Mensch ist nunmehr eine bête humaine, eine Vorstufe zu Swifts aggressiven und skatophilen Yahoos.62 So wie in der frühesten Manuskript-Variante des Dramas Sodom63 die auf ihre Genitalien reduzierten Figuren sich nicht nur ihrer sodomitischen Leidenschaft für Tiere mit überdimensionierten Phalloi,64 sondern auch ihrer eigenen Animalität – “men’s beastly arses”65 – rühmen, so vollzieht sich auch hier im modernen Garten der Lüste die Kopulation lediglich nach den vom Instinkt diktierten Gesetzen des tierischen Paarungsverhaltens: So a proud Bitch does lead about Of humble Currs, the Amorous rout, Who obsequiously do hunt The most sav’ry scent of Salt-swolne Cunt. (83–86)
Die Diskrepanz zum religiös motivierten amor eroticus der Metaphysicals ist in Anbetracht solch misanthropischer Textpassagen kaum größer denkbar. Selbst wenn Donne in seinen Ovid-Nachahmungen dem libertinistischen Umgang mit der Erotik Vorschub leistet und den weiblichen Körper als einen Kontinent imaginiert, den es mit Hilfe des Phallus zu kolonisieren gilt, so nimmt er dennoch Abstand von jeder weiteren zynischen Degradierung des menschlichen Körpers. So vermeidet er nicht nur die sprachliche Reduktion auf das Pornografische, ebenso zeigt er sich stets bemüht, durch metaphorische Bezüge den sakralen contre-texte ins Blickfeld zu rücken.66 Stellt man Donnes frivole Elegie XIX Roches60
61 62 63
64 65 66
‚Die Modernität der französischen Klassik. Negative Anthropologie und funktionaler Stil‘ Positionen der Kulturanthropologie, hg. Aleida Assmann / Ulrich Gaier / Gisela Trommsdorff (Frankfurt/M.: Suhrkamp, 2004), 299–317. Das „gesteigerte Sprach- und Darstellungsbewusstsein,“ mit dem die Wendung zur negativen Anthropologie in Frankreich einhergeht (304), lässt sich in der britischen Literatur nicht beobachten. Ebd., 305. Vgl. hierzu auch Roy Porter, Flesh in the Age of Reason (London: Penguin, 2003), 155ff. Zur komplexen Text-Genese siehe den kritischen Apparat bei Love, 674ff. wie auch die Aufsätze von Love ‘But Did Rochester Really Write Sodom?’ PBSA (1993), 319–36 und von J. W. Johnson, ‘Did Lord Rochester Write Sodom?’ PBSA (1987), 119–53. ‘Appendix Roffensis’ “I had once a passion for a horse,” Scene B5, Z. 60. Works, 324. Epilogue Z.28. Ebd., 332. Obgleich “love’s hallow’d temple” (18) ein Bett ist und es sich hier um eine unverblümte persuasio copulationis handelt, ist der Gedanke der Sakralisierung der Erotik noch prä-
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ters Texten gegenüber, so wird evident, dass seines transzendenten Anknüpfungspunktes entledigt der Mensch am Ende des 17. Jahrhunderts zum instinktgeleiteten Jagdtier mutiert,67 das – in Antizipation von Baudelaires dandyistischer Misogynie68 – die Fährte des anderen Geschlechts aufnimmt und vom Geruch des stimulierten Genitals angelockt wird. In Wycherleys Komödie The Country Wife (1675) lassen Figuren wie Sparkish verlauten, dass man in “a frank age” lebe.69 Gemäß dieser Philosophie hedonistischer Offenheit sieht der Sprecher davon ab, Corinnas Promiskuität zu monieren: “Such nat’ral freedoms are but just” (97). Wie bereits Carew in ‘A Rapture’ beruft er sich auf ein Naturgesetz, das sowohl die herkömmlichen Dekorumsregeln brüskiert als auch die unumschränkte Generosität der sinnlichen Lust bekräftigt: “There’s something gen’rous in meer Lust” (98). Als royalistisch freizügige Antwort auf die überwundene puritanische Rigidität der Moral konzipiert schockiert die drastische Waller-Parodie nicht nur durch die Tatsache, dass der einstigen Todsünde der Wollust (luxuria) das Odium des Transgressiven abgesprochen wird. Vor allem zielt es auf die Entrüstung der Leserschaft dadurch, dass der Sprecher mit aller zu Gebote stehenden Vulgarität des Ausdrucks es sogar zu bedauern scheint, dass seine Geliebte keinen Gebrauch von der Möglichkeit gemacht hat, sich von einem potenten colonus oder phallisch gut bestückten Priester befriedigen zu lassen: Had she pickt out to rub her Arse on Some stiff-Prick’d Clown or well-hung Parson, Each job of whose Spermatick Sluce, Had fill’d her Cunt with wholsome Juice I the proceeding shou’d have prais’d […] (91–95)
Was der libertinistischen Kultur des wit vehement widerspricht, ist somit nicht die enthemmte und arbiträre Triebbefriedigung; diese wird vielmehr in einer für die Pornografie typischen Hyperbolik – “Spermatick Sluce” – gutgeheißen. Was den Sprecher empört, ist hingegen das Fak-
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68 69
sent. Bei Rochester hingegen stellt das religiöse Vokabular nur eine Kontrastfolie dar, die es fortan zu desavouieren gilt. Dieser Bildbereich konkurriert im 18. Jahrhundert mit der Vorstellung vom Mensch als sexueller Maschine. Beiden Bildern ist jedoch der Gedanke des Automatismus inhärent. Siehe hierzu auch Gnüg, 152. „Elle est en rut et elle veut être foutue“ – so Baudelaires Charakterisierung des Weibes in den Journaux intimes III. Œuvres complètes, 677. The Country Wife III, ii, 344. The Country Wife and Other Plays, hg. Peter Dixon (Oxford: Oxford UP, 1998), 232.
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tum, dass in einem entgrenzten Liebesgarten auch ‘fools’ Zutritt zu den Genitalien der Prostituierten haben. Ganz in Übereinstimmung mit Suckling verwahrt sich das lyrische Ich dagegen, dass seine promiskuöse Geliebte gegen die libertinistische Etikette verstößt und sich gleich einem willenlosen Instrument den sexuellen Wünschen epigonaler Modegecken aussetzt: “A Passive Pot for Fools to spend in” (102). Die Profanierung der Vagina, deren Corinna sich somit schuldig macht, besteht daher nicht – wie bei Donnes weit gefasstem Sakrilegbegriff in ‘A Valediction: Forbidding Mourning’70 – in einer Störung des private mode, sondern einzig in der Missachtung eines von einer maskulinen Coterie diktierten Regelkanons. Der hierauf ausgesprochene Bannfluch auf Corinnas Vagina übertrifft in seiner Misogynie nicht nur die sexuellen Verwünschungen, die Lear als Opfer des cholerischen Temperaments gegen seine Tochter Goneril zum Ausdruck bringt;71 er formuliert zugleich die drastische Pervertierung der Liebeslyrik des Hohelieds und der mit dem Motiv des Liebesgartens verbundenen synästhetischen Lobpreisung des weiblichen Körpers. Selbst in Momenten tiefster Skepsis rekurriert auch Hamlet auf die topische Verknüpfung von Vagina und Natur, wenn er seinen Kopf in Ophelias Schoß legt und dort “country matters” nachzugehen hofft.72 Hamlets Wortspiel entbehrt noch jenes vaginalen Abscheus, der in Rochesters groteskem hortus voluptatum den Liebhaber erfasst. Aus dem Blickwinkel des verdrossenen Sprechers stellt sich die Vagina Corinnas als ein übersättigter Moloch dar, der – in misogyner Umdeutung des karnevalesken Körpers – Unmengen von Sperma verschlingt (“a vast Meal of Nasty Slime;” 118). Zu Hause vom Ejakulat der halben Stadt sich erbrechend vermag das vaginale Monstrum trotzdem auf ein weiteres Samen-Digestif nicht zu verzichten: When your lew’d Cunt, came spewing home Drencht with the Seed of half the Town, My Dram of Sperme, was suppt up after For the digestive Surfeit Water. (113–16)
70 71 72
“T’were prophanation of our joyes / To tell the layetie our love.” Z. 7–8. Poetical Works, 44. King Lear I, iv, 272ff. Hamlet III, ii, 110. Die meisten Übersetzungen ignorieren die von Shakespeare intendierte Homophonie von ‘count-ry’ und ‘cunt’ und bieten entschärfte und selten kompatible Lösungen an: „erbauliche Dinge“ (A. W. Schlegel, 644), „Bauernspäße“ (Fontane, Hamlet. Prinz von Dänemark [Zürich: Manesse, 2005], 74), „Anschößiges“ (Günther, Hamlet, 153).
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Diese Auffassung von der menschlichen Sexualität als einer erotischen Bulimie, die im Kontext der topischen Verknüpfung von Essen und Erotik an anderer Stelle detaillierter ausgeführt werden soll, widerspricht nicht nur im Partikularen der Bildlichkeit der aphrodisierenden Früchte im Hohelied; sie kontrastiert auch im allgemeinen mit der Konzeption der Liebe als eine der artes vivendi. Die sexuelle Imagination des amoralischen Libertins schafft sich somit nicht nur einen eigenen, aus der ikonografischen Tradition herausgelösten Liebesgarten; sie spricht auch das sarkastisch-zynische Verdikt über alle, die das vom Sprecher patriarchalisch ausgelegte Naturgesetz nicht nur nach eigenem Gutdünken, sondern auch zugunsten des mundus muliebris interpretieren. Demnach möge der Uterus der sich sexuell emanzipierenden Corinna von giftigen Dämpfen erstickt werden, und ihre depravierte sexuelle Lust – “your deprav’d Appetite” (135) – möge in ihr den phantasmagorischen Wahn erzeugen, sich mit Boreas, dem Nordwind, in einem amour fatal vereinigen zu wollen: You may go mad for the North-Wind And fixing all your hopes upon’t To have him Bluster in your Cunt Turn up your longing Arse to th’ Air And perish in a wild despair. (138–42)
In mehreren aneinandergereihten Adynata konstatiert der Sprecher überdies, dass seine Rache – “my revenge” (153) – erst dann befriedigt ist, wenn Schüler aufhören zu onanieren, Huren vom Schminken ablassen und die Jesuiten auf die Sodomie verzichten. Gerade mit diesem scharfen Seitenhieb auf die den Jesuiten unterstellte Homosexualität impliziert der Sprecher, dass seine Rache (wie auch die sodomitische Lust der Kleriker) unausgesetzt fortdauern wird. Dieses Szenario der Vergeltung wird letztlich abgeschlossen durch eine utopische Zukunftsprojektion, in der die abermals als Hündin imaginierte Prostituierte von ihrem – gleichermaßen bestialisierten – Ehemann (“her poor Curr;” 158) verstoßen und im Zustand der Verelendung dazu verdammt ist, ihr Ungemach in unaufhörlicher Repetition ‚wiederzukäuen:‘ […] she whines like a Dog-drawn Bitch, Loath’d and despis’d, kickt out of Town Into some dirty hole alone, To Chew the Cud of Misery And know she owes it all to me. (160–64)
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c. Wie die Auseinandersetzung mit dem Motiv des Liebesgartens, und insbesondere seine Aushöhlung und Dekonstruktion bei Suckling und Rochester erwiesen hat, ist der libertinistische Lebens- und Erotikentwurf neben aller pornografischen Insistenz auf das Genitalische auffallend deutlich geprägt von einer Bildlichkeit des Pathologischen und Abnormen. Diese Konnotierung der Sexualität weniger als hortikulturellen Genuss denn als gefährliche und abscheuerregende fleurs du mal ist im Gegensatz sowohl zu Carew als auch zu den späteren Werken der pornografischen Literatur wie Clelands Memoirs of a Woman of Pleasure (Fanny Hill; 1748) ein deutliches Charakteristikum für den einsetzenden sexuellen Pessimismus der Moderne. Während die Pornografie die Sexualität in ihrer Intensität und Quantität vorbehaltlos zelebriert, zuweilen als Tanz der Genitalien (“country dances”) inszeniert73 und selbst den Schmerz der blutigen Defloration als ein (geradezu dialektisches) Präludium zur Ekstase begreift,74 betont die Erotikauffassung der Cavaliers und der Libertins immer wieder den Desillusionismus, die Enttäuschung und den Ekel. Diese Einstellung, die den erregten Körper und seine Sekrete zunehmend zum Paradigma der Aversion macht, lässt sich – im konstanten Widerstreit mit der pornografischen Subkultur – bis in die Literatur der décadence und der frühen Moderne des 20. Jahrhunderts weiter verfolgen.
3. Ennui und der erotische Desillusionismus 3.1. Suckling und der Ekel des Dandys vor der genitalen charogne In ihrer 1988 publizierten Studie über den klassischen Dandy im Spiegel der Weltliteratur widmet Hiltrud Gnüg ein wichtiges Kapitel dem Aspekt der Bedrohung durch den Eros und der Absage der Ästhetizisten an das romantische Liebesideal.75 Wie sie hauptsächlich am Beispiel Baudelaires darzulegen versucht, lehnt der Dandy in seinem stoizisti73 74
75
Memoirs of a Woman of Pleasure, 112. Ebd.: “split up, torn, bleeding, mangled, I was superiously pleased” 110, oder “sore and raw-red as every thing was, the smart was soon put away by the sovereign cordial [= Sperma]” (110). Kult der Kälte. Der klassische Dandy im Spiegel der Weltliteratur (Stuttgart: Metzler, 1988), 50ff. – vgl. auch Klee, Leibhaftige Dekadenz, bes. Kap. 3 über die Frauenkörper, 241ff.
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schen Selbstentwurf die physische Liebe als eine Form der Selbstentäußerung und der Prostitution ab. Ist er geneigt, die Frau als ein kunstvoll geschminktes und opulent inszeniertes tableau vivant zu akzeptieren,76 so bringt er dem weiblichen Akt und der kruden Natürlichkeit ihres Körpers nur Geringschätzung und Ekel entgegen: “La femme est naturelle, c’est-à-dire abominable.”77 Paradigmatisch kommt in diesem Zitat aber nicht nur die Verachtung des oft als monströs imaginierten weiblichen Geschlechts zum Ausdruck; vor allem zeigt sich in ihm der unermessliche Überdruss an allem, wofür der weibliche Körper im Denken der abendländischen Kultur steht: an der Materie, an der Prokreation wie auch an einer körperlich sinnlichen Liebe, die in der Vorstellungswelt der Dandys unweigerlich mit einer chirurgischen Operation (“opération chirurgicale”), mit Folter oder Dekomposition gleichgesetzt wird.78 Obgleich die dandyistische Erotikauffassung zeitlich weit entfernt und eine Singularität des 19. Jahrhunderts darzustellen scheint, erinnert die Haltung der Cavaliers wie auch die der Restaurationsdichter zur physischen Liebe in mehrfacher Hinsicht an die Epoche der späteren décadence. So fällt zum einen auf, dass die Höflingsgesellschaft am Ende der Herrschaft von Karl I. ihre eigene, an der Schwelle zum puritanischen Interregnum stehende Ära als eine Endzeit und Dekadenzperiode begreift. So kann es nicht nur der epideiktischen Rhetorik zugeschrieben werden, dass Carew in seinem Epicedium auf Donne bereits 1633 die Spätphase des Barock als “this last age”79 bezeichnet. Das insistente Gefühl, in einer Endzeit zu leben, äußert sich sowohl in den Jonson verpflichteten country house poems als auch in solch kurzen Gedichten wie ‘To my Mistris sitting by a Rivers side. An Eddy,’ wo Carew im Bild des reißenden, zur Auslöschung strebenden Stroms eine Chiffre für den bevorstehenden Untergang erfindet. Vor diesem Hintegrund kann nicht übersehen wer76 77 78
79
Le Peintre de la vie moderne XI, ‘Éloge du macquillage’ Œuvres complètes II, 714ff. ‘Mon cœur mis à nu’ III, Z. 6. Ebd., I, 677. ‘Fusées’ III. Die hier vorgebrachte Darstellung des Geschlechtsakts steht im Widerspruch zum Ekstase-Begriff der Barockdichter, ist aber andererseits die konsequente Fortführung des erotischen Überdrusses bei den Cavaliers: „Entendez-vous ces soupirs, préludes d’une tragédie de déshonneur, ces gémissements, ces cris, ces râles? […] Ces yeux de somnambule révulsés, ces membres dont les muscles jaillissent et se roidissent comme sous l’action d’une pile galvanique, l’ivresse, le délire, l’opium, dans leurs plus furieux résultats, ne vous en donneront certes pas d’aussi affreux, d’aussi curieux exemples. Et le visage humain, qu’Ovide croyait façonné pour refléter les astres, le voilà qui ne parle plus qu’une expression de férocité folle, ou qui se détend dans une espèce de mort.“ Œuvres complètes I, 651. Z. 68.
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den, dass das Empfinden des Überdrusses, das im 19. Jahrhundert mit den Termini des ennui, der Langeweile und des Weltschmerzes umschrieben wird, auch im 17. Jahrhundert, und hier vor allem im Diskurs der Erotik, in immer wieder neuen Variationen artikuliert wird. Eine geradezu epochenübergreifende Verbindung bietet in diesem Kontext die Figur des Don Juan: Im Gegensatz zu Barbey d’Aurevillys Inszenierung des Don Juan als dandyistischer „Salonlöwe,“80 der die Liebe zur ästhetischen Delikatesse sublimiert, ist es Baudelaire, der den Prototypen des Verführers als einen Melancholiker und Dandy gestaltet, der in der Erotik nur die Konfrontation mit dem existentialistischen Abgrund (“gouffre”) erfahren hat. Somit wird hier ein bislang von der Forschung übersehener Anknüpfungspunkt zum 17. Jahrhundert offenkundig: Während der 1613 von dem Mercedarier-Mönch Tirso de Molina ersonnene Don Juan im Welt- und Menschenbild des Barock – zusammen mit Dr Faustus, Tamburlaine, Macbeth und anderen – noch als diabolischer overreacher gilt,81 der am Ende des Dramas für seine quantifizierende Lust, seine undomestizierte libido amandi, bestraft wird, äußert sich in den Werken Sucklings, Lovelaces wie auch Cowleys eine donjuaneske Haltung, die insbesondere in der Multiplikation der erotischen Abenteuer eine eigentümliche, auf das 19. Jahrhundert vorgreifende Gestimmtheit der Übersättigung und des dandyistischen ennui zutage fördert. Die Hölle des modern libertinistischen Don Juan wird dabei nicht nur auf das oft als unhygienisch und infektiös empfundene Inferno der Vagina reduziert; auch die neoplatonische Vorstellung von der Liebe als einer scala perfectionis vom Begehren zur Anschauung der urbildhaften Schönheit wird nunmehr zunehmend von drastisch geschilderten und misogyn motivierten Degenerations- bzw. Dekadenzerscheinungen überlagert. a. Durchaus exemplarisch erfüllt Sir John Suckling, der mit Carew und Lovelace zu den war poets von 1639 gehört,82 die Rolle des dekadenten,
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82
Gnüg, 234. Der Begriff ist Harry Levins Studie The Overreacher. A Study of Christopher Marlowe (London: Faber and Faber, 1954) entlehnt, geht aber zurück auf Sir Giles Overreach in Philip Massingers Stück A New Way to Pay Old Debts (vor 1633). Die Anwendung des Begriffs der war poets auf die Cavaliers erfolgt in Übereinstmmung mit dem Aufsatz von Donald Bruce, ‘The War Poets of 1639: Carew, Suckling, and Lovelace’ Contemporary Review (1992), 309–14. Vgl. hierzu die einzige monografische Studie zu Suckling Charles L. Squier, Sir John Suckling (Boston: Twayne, 1978),
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vom ennui befallenen donjuanesken cortegiano.83 Die gegen Schottland geführten – und verlorenen – Feldzüge, die sogenannten bishops’ wars, inszeniert er, dem späteren Byron nicht unähnlich, als ein proto-ästhetizistisches Spektakel, indem er eine aus 100 Soldaten bestehende Kavallerie mit extravaganten Uniformen ausstattet und somit den Krieg zu einem endzeitlichen Maskenspiel transformiert. Insbesondere aber im Kontext des erotischen Diskurses wird evident, wie weit Suckling sich vom ursprünglich renaissancistischen Ideal des Höflings und miles amoris entfernt hat. In dem programmatischen Gedicht ‘Farewell to Love’ wendet sich Sucklings Sprecher in Baudelairescher Manier von der Liebe ab. Dabei nimmt er zunächst nicht nur Abschied von der Liebe als einer überschatteten und wechselhaft gestalteten Landschaft – “Well shadow’d Landskip, fare-ye-well” (1)84 –, sondern auch von dem Mythologem der Frau als eines erotischen locus amoenus: Für ihn, in der Pose eines erotischen Ikonoklasten, sind die Frauen nur “dear nothings” (6), die ihn fortan nicht mehr zu täuschen vermögen, weil es ihm gelungen ist, hinter die Fassade des schönen Scheins zu blicken und die Illusion als ein Nichts zu entlarven: No longer must you me deceive Since I perceive All the deceit, and I know Whence the mistake did grow. (7–10)
Die oxymorontische Wendung ‘dear nothings’ dekuvriert jedoch die persona des Gedichts weniger als Nihilisten denn als Diffamierer sowohl des weiblichen Körpers in toto als auch der Vagina im Partikularen. Bereits Hamlet, für dessen Tragödie Suckling stets Bewunderung bekundet,85 spricht dem weiblichen Geschlechtsorgan – im Gegensatz zur allgemeinen Inszenierung des Phallus als Macht- und Potenzsymbol in der Renaissance – jegliche Substanz ab (no-thing), wenn er in einem erotisch ge-
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wie auch Norbert Lennartz’ Eintrag zu Suckling im Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren, hg. Eberhard Kreutzer / Ansgar Nünning (Stuttgart: Metzler, 2002), 562f. Während Hans Heinrich die Geschichte des Libertins erst mit Rochester und Wycherleys Horner beginnen lässt, bleibt das libertinistische Substrat in den Gedichten von Carew, Suckling (aber auch von Donne) unbeachtet. Vgl. Hans Heinrich, Zur Geschichte des ‚Libertin‘ in der englischen Literatur. Verführer auf der Insel (Heidelberg: Winter, 1999). The Non-Dramatic Works, 66–68. Alle Zeilenangaben folgen dieser Ausgabe. Auf einem van Dyck zugeschriebenen Gemälde lässt sich Suckling sogar in der Hamlet-Pose darstellen.
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färbten Rededuell mit Ophelia auf deren Behauptung, dass sie nichts denke – “I think nothing, my lord” –, mit der ebenso anzüglichen wie auch misogynen Bemerkung antwortet: “That’s a fair thought to lie between maids’ legs.”86 Die tradierte Vorstellung vom weiblichen Wesen als einem defizitären und phalluslosen Mann führt somit in bezug auf die Geschlechtlichkeit der Frau zu einer Semantik des Substanzlosen (nothing, hole, O etc.), die, wie im Falle von Sucklings Gedicht, auf das Feminine im ganzen übertragen wird. In mehrfach variierten und zuweilen abermals Byron antizipierenden Bildern wird die Frau als ein Truggebilde, “[a] false star” (12), als eine immaterielle Fiktion beschrieben, die die abgestumpften und trägen Seelen der dekadenten Höflinge – “our dull souls” (16) – düpiert. Was am Ende dieses bitteren Entzauberungsprozesses dem modernen Don Juan bleibt, ist eine schleimige, sekretähnliche Masse in den Händen (“a gelly”87 [15]). Zu guter Letzt geht der angewiderte Sprecher in seinem Bestreben, das weibliche Geschlecht vollends zu ent-idealisieren, gar so weit, dass er – in obszöner Abwandlung der alten Vanitas-Klage – in den Frauen nur lebendige Leichname (“quick corse[s];” 41) und memento mori-Objekte zu sehen vermag: So zeichnen sich für ihn, den blasierten Mythen-Zerstörer, bereits jetzt unter der frischen Haut der Geliebten die Konturen des Totenschädels ab.88 Vor allem aber die langen Haarsträhnen, die in der Imagination der Petrarkisten sich zu goldenen Sonnenstrahlen verwandeln, erscheinen nun gemäß Sucklings Strategie der misogynen Umwertung des poetischen Frauenlobs als “two Master-worms” (37), die zwei Löcher – “Two holes” (40) – in den weiblichen Körper gefressen haben. In der Tatsache, dass sowohl die vaginale als auch die anale Öffnung des weiblichen Unterleibs im Sprecher Reflexionen über Tod und Dekomposition auslöst, zeigt sich
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Hamlet III, ii, 116f. – vgl. auch DSL II, 960f. In DSL II, 731f. ist unter dem Lemma ‘jelly’ nur ein Hinweis auf Sperma belegt; eine vaginale Konnotierung des Wortes lässt sich jedoch in Lovelaces ‘Love Made in the First Age: To Chloris’ finden (vgl. Kap. VI, 3 dieser Arbeit). Überdies ist der Begriff “jelly-bag” sowohl für das Skrotum als auch für die Vagina in Partridges The Routledge Dictionary of Historical Slang (verkürzte Fassung v. Jacqueline Simpson [London: Routledge, 1973], I, 487) belegt. If I gaze now, ’tis but to see, What manner of deaths-head ’twill be, When it is free From that fresh upper skin The gazers Joy, and sin. (Z. 26–30) In diesen Kontext gehört auch Donnes vituperatio der Frau als “Mummy, possest.” ‘Loves Alchymie’ Z. 24. Poetical Works, 36.
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die dekadente wie auch früh-klassizistische Aversion vor der Durchlässigkeit der weiblichen Hautfassade. Der weibliche Schambereich, der später bei Cleland als ein ebenso sensibles wie auch ästhetisches Zentrum der Sinneslust beschrieben wird, hat hier nicht nur seine Vitalität verloren; er ist überdies, wie später darzulegen sein wird, ein irritierender Hort der Fäulnis und der Morbidität, der entgegen dem tradierten Frauenideal das klassizistisch-dandyistische Bild der Frau als ‚Madensack,‘ als charogne etablieren hilft.89 Während in den vielen Persuasionsgedichten die Evokation des baldigen Todes und der fließenden Zeit zur klassischen carpe-diem-Topik gehört, um die Sprödigkeit der Geliebten zu überwinden90 und die von Juliet vermisste “form” abzukürzen,91 erzeugen hier die Vorzeichen des Todes im Sprecher eine Niedergeschlagenheit und Endzeitstimmung (“mortifie” – mors),92 die sich auch ‚tödlich‘ auf die Erektionsfähigkeit auswirkt: They mortifie, not heighten me: These of my sins the glasses be: And here I see How I have lov’d before. And so I love no more. (46–50)
Am Ende ist es nur folgerichtig, dass das lyrische Ich der körperlichen Liebe abschwört, sieht es doch im exponierten Körper der Frau nur einen Spiegel seiner fleischlichen Sünden. Im Kontext der libertinistischen Dichtung verweisen die Sünden hier jedoch weniger auf christlich verstandene moralische Verfehlungen, als auf die potentiell bittere Konfrontation mit den Gefahren oder Symptomen der unkontrolliert wütenden Geschlechtskrankheiten und Syphilisepidemien jener Zeit. Im eklatanten Gegensatz zur pornografischen Literatur seit dem 18. Jahrhundert, in der die Frau eine fortwährende sexuelle Versuchung darstellt, der zu erliegen der priapistische Mann nicht umhin kann, scheint sich im Erotikverständnis Sucklings ein neuer Frauentypus anzudeuten, der in gewisser Hinsicht eine pathologische Abwandlung der altüberkommenen
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Siehe hierzu auch Menninghaus, 136ff. Z.B. in ‘To his Coy Mistress,’ wo Marvells Sprecher das Herannahen von “Time’s winged chariot” (22) als zentrales Argument in seiner persuasio copulationis einsetzt. Poems, 27f. Romeo and Juliet II, ii, 88. Zur etymologischen Herleitung des Verbs ‚to mortify‘ von mors, vgl. OED IX, 1104.
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Femme fatale-Figur darstellt. Selbst ein so frivoles Gedicht wie ‘Upon T[homas] C[arew] having the P[ox],’ das nur noch im Zusammenhang mit den brennenden Schmerzen beim Urinieren auf die barocke Antithetik von Feuer und Wasser zurückgreift,93 kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der sexuelle Genuss des Weibes bei den Cavaliers stets von der Bedrohung des Infektiösen und Destruktiven überschattet wird. Die Konsequenzen, die Sucklings poetische persona aus den Dekadenzerscheinungen des Eros zieht, sind daher ebenso radikal wie auch widersprüchlich. In der patronisierenden Pose eines übersättigten Verführers mimt der Sprecher bald den weltklugen Ratgeber, der aus Ekel vor der Sexualität zur Enthaltsamkeit aufruft, bald setzt er im Kontext einer dekadenten Ästhetik des Hässlichen und Verfemten zu einer panegyrischen Lobpreisung auf eine missgestaltete Geliebte an. Beide Strategien im Umgang mit dem säkularisierten erotischen Diskurs vermitteln einen profunden Einblick in eine äußerst moderne Mentalität, wo der ennui jede Form einer affirmativen wie auch teleologischen Sexualität leugnet. Im Unterschied zur rein hedonistisch verstandenen Pornografie bedient sich der Cavalier einer von Jonson übernommenen Sprache der sexuellen Aporie und des erotischen Abscheus, die im Rückgriff auf die antike ‚Ekel-Topografie‘ des Körpers94 den späteren Leser oft nicht nur frappant an Swift, sondern auch mutatis mutandis an Baudelaire, Huysmans und die vielen bàs-décadents des 19. Jahrhunderts erinnert. b. Insbesondere die beiden ‘Against Fruition’95 betitelten Gedichte sind in ihrem Plädoyer gegen ein erotisches Auskosten der weiblichen Reize richtungsweisend, wie nicht zuletzt auch ein mit demselben Titel versehenes Gedicht von Cowley beweist. Während die petrarkistische Tradition einen sexuellen Kontakt zugunsten einer geradezu hagiografischen Verehrung der donna angelicata von vornherein ausschließt, ist die Ablehnung der erotischen Erfüllung hier motiviert durch ein Gefühl postkoitalen Unbehagens. In der Rolle eines übersättigten und nunmehr desillusionierten Libertins rät der Sprecher im ersten Gedicht einem noch ungestümen und einfältigen Knaben – “fond youth” (1) –, auf den
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“Troth, Tom, I must confess I much admire / Thy water should find passage through the fire …” Z. 1–2. Der Begriff entstammt Menninghaus, 136. Non-Dramatic Works, 37ff.
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körperlichen Liebesvollzug zu verzichten; die süßen Träume der Jugend (“sweet dreams;” 5), so seine aus der Retrospektive vorgebrachte zerebrale Argumentation, sollten für so ein triviales Spielzeug, wie die Erotik aus dem Blickwinkel des Enttäuschten sich nun darstellt, nicht abrupt unterbrochen werden. Das durch den sexuellen Genuss bewirkte Erwachen ist – und hierbei weiß sich Suckling ironischerweise im Einklang mit der klerikalen Tradition – mit dem Ende des prä-lapsarischen Traumzustands gleichzusetzen: “he wakes himself that does enjoy” (6). Die im folgenden nun dargebotene Beweisführung seiner These ist jedoch alles andere als theologisch fundiert: Anders als die Kirchenväter, die in der Frau als Abkömmling Evas die Pforte zur Hölle (Marbod von Rennes) sehen, ist sie für Sucklings lyrisches Ich weniger ein dämonisches Wesen als ein Instrument, das durch die Verlockungen seines Körpers den ennui zu potenzieren versteht. Der Geschlechtsakt stellt somit keine Bereicherung (“wealth”) in Aussicht, sondern lediglich das destruktive Empfinden einer ad infinitum hinausgezögerten post-koitalen Übersättigung: Fruition adds no new wealth, but destroyes And while it pleases much the palate, cloyes. (7–8)
Ein punktueller Vergleich mit Clelands späterem pornografischen Roman Memoirs of a Woman of Pleasure erweist sich abermals als erhellend: Allein der visuelle Genuss des Geliebten hat für Fanny bereits die Qualität eines “uncloying feast (Hervorhebung NL);”96 die mehrfachen ekstatisch genossenen sexuellen Höhepunkte, die darauf folgen, bewirken in beiden Beteiligten nicht nur “a transfusion of heart and spirit,” sondern auch einen Überfluss an prokreativen Körpersäften und Sekreten,97 der zu der sterilen Kopflastigkeit des donjuanesken Spötters in deutlichem Widerspruch steht. Für den Libertin, der sich, wie er in einem Vergleich weiter ausführt, ad nauseam an der erotischen Kost bedient hat, hat nun alles seine Würze verloren.98 Selbst unverfängliche orale Freuden wie Küsse besitzen für den Sprecher kein erotisches Raffinement mehr: “What relishes? even kisses loose their tast” (12).
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Memoirs of a Woman of Pleasure, 181. Ebd., 184. In dieser Hinsicht nimmt Sucklings persona die Argumentation von Keats in der ‘Ode on a Grecian Urn’ vorweg: eine nicht vollzogene Leidenschaft – “For ever warm and still to be enjoyed, / For ever panting, and for ever young” – bewahrt vor dem Gefühl der Übersättigung, “a heart high-sorrowful and cloyed” Z. 26f. / 29. Complete Poems, 345. Der platonische Hintergrund zu Keats’ Gedicht ist jedoch mit Sucklings Zynismus unvereinbar.
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Auf das utilitaristische Argument, dass die Sexualität den Fortbestand der Menschheit sichere, und dass – in Anlehnung an Shakespeares Prokreationssonette – die Welt bevölkert werden müsse,99 antwortet er, indem er auf zynische Weise das Thema der Überbevölkerung und der notleidenden Kinder in den Dienst seiner dandyistischen Position stellt. Wie später Wildes Dorian Gray, dem jede Form der Philanthropie zuwider ist, und der das Elend der unteren Stände nur als einen Anreiz zu seiner nostalgie de la boue begreift, so beruft sich auch Sucklings aristokratischer Sprecher auf das Leid der Massen, nur um seine eigene erotische Passivität zu rechtfertigen. Der auch hier in der Attitüde des untätigen Causeurs sich gefallende Dandy lehnt somit die telos-bezogene Sexualität ebenso ab wie die traditionelle und rustikal anmutende Rolle des phallischen Sämanns: “what need we plough?” (18). Wie eine Vorwegnahme von Wildes ästhetizistischem Frauenbild erscheint auch die apodiktische Aussage, mit der die vierte Strophe des Gedichts eröffnet wird: Women enjoy’d (what s’ere before th’ave been) Are like Romances read, or sights once seen. (19–20)
Für Wildes misogyne Dandys ist eine elegant gekleidete Frau nur mit einer Luxusausgabe eines schlechten französischen Romans vergleichbar.100 Als Kenner der comedies of manners mag Wilde diesen Gedanken in Wycherleys The Country Wife vorgefunden haben: seine Mätressen mit Büchern korreliernd, die den Leser schon bald langweilen – “if you pore upon them too much, they doze you”101 –, beruft sich Horner in seiner Misogynie auf dieselbe Bildlichkeit wie Suckling. Einmal sexuell genossen bzw. benutzt haben Frauen wie gelesene Romanzen oder einmal betrachtete Sehenswürdigkeiten ihre Faszination eingebüßt und sind nunmehr – wie im Falle von Horners Büchern oder Lord Henry Wottons “édition[s] de luxe” – die auffällig drapierten Hüllen eines banalen und langweiligen Inhalts. Die Zeit, in der Frauen mit mystischen Büchern (“mystick books”) verglichen wurden, deren Nacktheit für den Sprecher in Donnes Elegie XIX mit dem geoffenbarten Wort in der Bibel gleich99
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Dieses Argument wird auch in Much Ado about Nothing (The Arden Shakespeare, hg. Claire McEachern [London: Thomson Learning, 2006], 218) vorgebracht: Vor einem der vielen “skirmish[es] of wit” (I, i, 59) zwischen Beatrice und Benedick stellt letzterer apodiktisch fest: “No, the world must be peopled. When I said I would die a bachelor, I did not think I should live till I were married.” (II, iii, 233–35). The Picture of Dorian Gray, 145. The Country Wife I, i, 193.
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gesetzt wird,102 scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören. In Ermangelung einer erotisierten Theologie leistet der libertinistische Liebesvollzug nur der Langeweile Vorschub – “Fruition’s dull” (21). Das einzige, was den donjuanesken Dandy in seiner Desillusionierung zu stimulieren vermag, ist die geschickt prolongierte und – wie bei Keats – niemals erfüllte Erwartung: ’Tis expectation makes a blessing dear: It were not heaven, if we knew what it were. (23–24)
Sucklings resümierendes, an seinen jungen Adressaten gerichtetes Schlusswort ist somit ein Bekenntnis zur Tugend der temperantia: “restraint / Holds up delight, that with excesse would faint” (27f.). Doch im Gegensatz zu dem in der Renaissance propagierten Prinzip der Mäßigung, dem sowohl Romeo und Juliet als auch Antonius und Cleopatra durch die Intensität ihrer leidenschaftlichen amour fou (“dotage”) widersprechen, gründet Sucklings Aufruf zur Entsagung in der amoralischen Überzeugung, dass jede Form der (hetero)sexuellen Liebe sowohl eine Perpetuierung der Langeweile als auch einen Affront gegen den egozentrischen Lebensentwurf des modernen donjuanesken Dandys darstellt. Die ablehnende Haltung des Dandys, sowohl im 17. als auch im 19. Jahrhundert, gegenüber einer erotischen Passion, die einer Selbstentäußerung und der Preisgabe der Singularität gleichkommt, gelangt um so nachdrücklicher in dem – nunmehr an eine Frau gerichteten – Komplementärgedicht ‘Against Fruition [II]’ zum Ausdruck. Bereits in der ersten Zeile wendet er sich dezidiert und hasserfüllt gegen alle barocken Liebeskonzeptionen, in denen die beiden Geschlechter wie bei Donne im Pardoxon eines dialogischen Erotikmonologs, “a dialogue of one,”103 miteinander verschmelzen: Fye upon hearts that burn with mutual fire; I hate two minds that breath but one desire [.] (1–2)
In Übereinstimmung mit der libertinistischen Weltanschauung charakterisiert er die einst mit dem amor divinus korrespondierende Liebe als ein Chamäleon, das ausschließlich von der Luft zu leben vermag und in der Berührung mit festeren Stoffen sogleich sich übersättigt. Wie im nächsten Abschnitt, im Rückgriff auf die kulturgeschichtliche Verquickung von Essen und Erotik, darzulegen sein wird, sind die Symptome 102 103
Elegie XIX, Z. 41. Poetical Works, 108. ‘The Extasie’ Z. 74. Poetical Works, 48.
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der erotischen Bulimie in der Literatur seit den Cavaliers deutlich nachweisbar. Was für Sucklings Sprecher letztlich den Reiz der Liebe ausmacht, ist die Dissonanz, die nach der Überwindung der Metaphysical Poetry maßgeblich durch die Entstehung eines modernen Geschlechterantagonismus gefördert wird. So ist es nicht mehr die Reziprozität des sexuellen Verlangens, die per definitionem die Liebe bestimmt; vielmehr sind es nun Eifersucht, Tränen und Zweifel, die die Liebe zu einem sado-masochistischen Vergnügen machen, das sich jedoch augenblicklich verflüchtigt, wenn es zum Koitus kommt: ’Tis petty Jealousies, and little fears, Hopes joyn’d with doubts, and joyes with April tears, That crowns our Love with pleasures: these are gone When once we come to full Fruition [.] (7–10)
Abermals vergleicht das lyrische Ich die Ernüchterung der sexuellen Vereinigung mit dem desillusionierenden Erwachen, das die Phantasmagorien der Nacht zerstört. Jede sexuelle Betätigung kommt somit einem plötzlichen und unsanften Übergang von der Traum- in die Wachwelt gleich, denn die Erwartungen, die der ennuyierte Sprecher auf der Suche nach nouveaux frissons an das weibliche Geschlecht heranträgt, vermag keine Frau zu erfüllen: That monster Expectation feeds too high For any Woman e’re to satisfie. (15–16)
Die Aufhebung der poetologischen Androgynität, die Cheryl M. Gibson der Dichtung Sucklings attestiert,104 zeigt sich nicht nur in der konsequenten Tilgung weiblicher Komponenten in der Topik; sie wird insbesondere betont durch die Tatsache, dass die Frau – anders noch als bei Carew – als eine Widersacherin inszeniert wird, die durch ihre erotischen Verlockungen maßgeblich am sich stets wiederholenden Sturz des Dandys in den ennui beteiligt ist. Im Kontext dieser dandyistischen Misogynie ist die Frau, die ihrem Verlangen nachgibt und somit die Autonomie des donjuanesken Höflings bedroht, eine Prostituierte – “an honest whore” (19) –, selbst wenn ihre Fassade als eisige und unnachgiebige donna crudela noch makellos ist. Der Frauentypus, den der Sprecher letztlich favorisiert, ist der, der seine erotische Macht einzusetzen ver-
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steht, indem er sich stets den Wünschen der Männer verweigert und sie in Hoffnungen wiegt, die sich niemals erfüllen werden: Then fairest Mistresse, hold the power you have, By still denying what we still do crave: In keeping us in hopes strange things to see That never were, nor are, nor e’er shall be. (23–26)
Mit der erotischen Pervertierung des theologischen spes-Begriffs zugunsten einer Baudelaireschen nostalgie de l’étranger gestaltet Sucklings Sprecher die Liebe zu einer fortwährenden infernalischen Tantalus-Qual; das Erreichen des erotischen Ziels, auf das die anti-platonische Liebesdichtung seit Shakespeare ausgerichtet ist, bedeutet nur einen Akt der Entzauberung, bei dem dem donjuanesken Dandy eine weitere Konfrontation mit dem Ekel vor dem weiblichen Körper bevorsteht. Daher bittet der moderne Tantalus-Liebhaber um die Fortsetzung der Qual, die gemessen an der erotischen Erfüllung geradezu eine (visuell beschränkte) Lust ist. c. Prima facie eine andere Taktik im Kampf Dandy versus Eros scheint Suckling in dem Gedicht ‘The Deformed Mistress’ gewählt zu haben. Wie in Shakespeares Sonett 130 und in den vielen anti-petrarkistischen Frauen-Satiren von Aretino bis Berni beschreibt Suckling mit den konventionellen Mitteln des enkomiastischen Frauenlobs eine äußerlich verunstaltete und abscheuerregende Mätresse. Sich dabei auf die Individualität des Temperaments und des Geschmacks berufend – “Each man his humor hath; and faith ’tis mine / To love that woman which I now define” (7f.) – konzentriert er sich nach dem Muster eines verkehrten Blason-Gedichts auf einzelne markante Körperteile, die von einer ausgesuchten und gar übertriebenen Hässlichkeit sind: So sind ihr Gesicht – “her wainscot Face” (9) – und ihre Hände von tiefen Furchen zerklüftet; ihre riesige und geradezu phallische Nase ist dabei von Pusteln übersät, die der Sprecher, entgegen der Lesererwartung, versichert zu lieben: “for those I love” (14). Ein weiteres Distinktivum dieser Nase ist jedoch nicht nur ihre Länge, sondern die Tatsache, dass sie an der Spitze stets verziert wird von “a comely Pearl of Snot, / Considering whether it should fall or not” (15f.). Noch intensiver als bei Shakespeares dark lady hat sich die einst alabasterfarbene Haut der petrarkistischen Sonettdamen bei Sucklings Mätresse in ein ebenso tiefes wie schmutziges Schwarz – “With yellow Spots enammell’d” (24) – verwandelt, und auch die Brüste, jene 230
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„fleischichten Granaten,“ von denen der deutsche Petrarkist Hoffmannswaldau in seinen ‚Galanten Gedichten‘ noch in den 1650ern schwärmt,105 haben ihre barocke Reizwirkung und Fülle eingebüßt und sind nun – in Antizipation von Gullivers Ekel vor der weiblichen Brust106 – zu dünnen und hängenden Heuschrecken-Flügeln verkümmert, “[n]ot to be toucht for dirt, unless swept clean” (26). Während Shakespeare in seiner petrarkistischen Parodie sich (zunächst) mit der Beschreibung des Gesichtes und des Oberkörpers begnügt, widmet Suckling einen nicht unwesentlichen Teil seines Gedichts dem Unterleib, und hier insbesondere der Vagina. Gemäß der Vorstellung, die sich die anatomisch unkundigen Libertins jener Zeit von der Dehnbarkeit dieses oft perhorreszierten Organs machten, wird die hier im Vulgärjargon benannte Vagina (“Cunt;” 28) als klaffender Abgrund imaginiert, in den der unvorsichtige Mann Gefahr läuft hineinzufallen, oder gar – wie später in Alfred Kubins Zeichnung Todessprung (1901/02; Privatbesitz) – in einem suizidalen Anfall von Lust und Verzweiflung hineinzuspringen: But soft, where am I now! here I should stride, Lest I fall in, the place must be so wide. (31–32)
Was Suckling in der Beschreibung seiner fiktiven Geliebten vom Kopf bis zu ihren dürren (Ameisen-) Schenkeln und den von der Gicht befallenen Füßen als die “symptoms of a comely handsom Maid” (38) bezeichnet, mutet zunächst wie die ins Groteske gesteigerte Fortsetzung von Shakespeares Spiel mit dem Petrarkismus an. Dabei fällt jedoch auf, dass im Unterschied zu Shakespeares Sonetten an die dark lady Sucklings Lobgedicht auf die verunstaltete Geliebte im Textkorpus eine eigentümliche Einzelerscheinung darstellt, der als parodistischer contre-texte die Verankerung in einem thematischen Zyklus fehlt. Shakespeares persona ist sich überdies in seiner Huldigung an die ebenso unästhetische wie auch moralisch degoutante Geliebte einer aberratio, einer durch die Leidenschaft bedingten Beeinträchtigung der Vernunft, bewusst. In der Überzeugung, einen Meineid auf die Schönheit – und implizit auch auf das Gute und Wahre – geschworen und somit Schuld auf sich geladen zu haben, schreibt Shakespeares lyrisches Ich am Ende von Sonett 152:
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So in dem Gedicht mit der Anfangszeile „Ist denn dein Hertze gar erfroren?“ Z. 21. Gedichte, 3. Vgl. hierzu auch Carol Houlihan Flynn, The Body in Swift and Defoe (Cambridge: Cambridge UP, 1990), 92ff.
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For I have sworn thee fair: more perjured eye, To swear against the truth so foul a lie.107
Gerade der unmittelbare Vergleich mit Shakespeares dark lady-Sonetten verdeutlicht die moderne Position Sucklings: Sowohl Shakespeare als auch Suckling kaprizieren sich auf die antike vetula-Topik, bei der auf eine Frau, gleichsam auf ein Apotropaion des Ekels, alle tabuisierten Defekte des menschlichen Körpers projiziert werden.108 Der vetula-Topik ist jedoch wie bei jeder Form der Satire ein verbindlicher Wertekanon inhärent: Alle Parameter des Abscheuerregenden – Falten, Hautausschlag, laufende und vorspringende Nase – sind als contre-textes fest verankert in einem objektiv verbürgten Kanon des Schönen. Bei allen noch so extremen Verstößen gegen dieses Schönheitsideal bleibt seine Existenz bei Shakespeare unangetastet und verhindert, dass ‘foul’ und ‘fair’ austauschbare Kategorien des Kontingenten werden.109 Sowohl auf die Auflösung der Interdependenz von texte und contre-texte als auch auf den Verlust eines Wertekanons scheint sich Sucklings dandyistische persona zu berufen: Augenscheinlich befreit von allen Ästhetik- und Dekorumsregeln stützt sie sich auf die Narrenfreiheit eines jeden Individuums (“Each man his humour hath;” 7) und erfindet – ohne die Shakespeareschen Schuldgefühle – im Kontext einer autonomen Formensprache des Hässlichen und Obszönen eine weibliche Schönheit à rebours. Wie Rimbaud, der später in seiner invertierten Hommage an eine moderne schaumgeborene Venus sich nicht nur durch die Fettigkeit ihrer Haut, sondern vor allem durch ein Geschwür an ihrem Anus fasziniert zeigt, so richtet Suckling aus der Perspektive des misogynen Dandys den Blick auf die Abnormitäten eines weiblichen Körpers, um somit seinen stoizistischen Selbstentwurf gegen die Verwesungstendenzen des mundus muliebris, aber auch gegen potentielle Rückfälle in genitale Raserei zu verteidigen. 3.2. Abraham Cowleys The Mistress und der Antagonismus der Geschlechter Das in Sucklings lyrischem Werk erstmals mit aller Deutlichkeit auftretende Oszillieren zwischen genitalischer Obsession (‘Hampton Court’) und radikalem Erotikverzicht (‘Against Fruition’), zwischen donjuanes107 108 109
Z. 13f. The Sonnets, 421. Hierin folgt der Verfasser der Argumentation von Menninghaus, 50 u. ö. Alle Figuren, die eine subjektive Verzerrung des Schönen propagieren, sind bei Shakespeare dämonischer Provenienz – so die Hexen in Macbeth –, oder Repräsentanten einer karnevalesken, aber temporären Unordnung.
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ker Nonchalance und misogynem Ekel lässt sich auch – obgleich in anderer Intensität und ohne Rückgriff auf obszönes Vokabular – in Abraham Cowleys Gedichtzyklus The Mistress nachweisen. Dieses in der Genealogie der modernen Erotik bedeutsame Werk, das 1647 als Zeichen des Fortbestands des cavalier mode im puritanischen Interregnum entstand und 1656 publiziert wurde, ist in literaturwissenschaftlicher Hinsicht bis heute eine terra incognita geblieben.110 Dabei zeigen die Gedichte, denen Samuel Johnson in der ‚Konfusion der Bilder‘ lediglich Manieriertheit attestiert,111 wie der anerkannte Verfasser der Davideis und der Bewunderer Crashaws seinerseits dazu beiträgt, die von Suckling übernommene libertinistische Liebesikonografie zu etablieren und für die späteren Restaurationsdichter wie Rochester, Etherege oder Wycherley zu konservieren. Die von Johnson abqualifizierten Gedichte zeigen hierbei exemplarisch, wie die ehemals teleologische, im Dienste der Prokreation stehende Liebe nun abgelöst worden ist durch ein erotisches l’art pour l’art, das den überdrüssigen Sprecher – wie die späteren décadents des 19. Jahrhunderts – immer wieder mit einem Pandämonium aus Impotenzängsten, mit dunklen Vorahnungen von Krankheit und physischer Versklavung konfrontiert. a. In dem Eingangsgedicht ‘The Request’112 inszeniert sich der Sprecher zunächst als ein von der Liebe Ausgeschlossener, als ein in erotischer Hinsicht uneingeweihter Neuling wider Willen, dem in seinem frustrierten Verlangen nichts anderes übrig bleibt, als mit Amor zu hadern: I have often wisht to love; what shall I do? Me still the cruel Boy does spare. (1–2)
Die Bezeichnung Amors als “cruel Boy” ist jedoch im Kontext der cavalier poetry eine unmissverständliche Andeutung darauf, dass sich in der 110
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Auch Ulrich Suerbaums Monografie Die Lyrik der Korrespondenzen. Cowleys Bildkunst und die Tradition der englischen Renaissancedichtung (Bochum: Poeppinghaus, 1958) geht nur marginal auf die Bildlichkeit der Erotik ein. Dass es bei den Gedichten nicht nur „um die petrarkistischen Topoi der spröden Geliebten und der unerwiderten Liebe“ geht, wie Burkhard Niederhoff behauptet (‘Abraham Cowley’ Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren, 136), zeigt eine genaue Analyse der Ikonografie. Lives of the English Poets I, 41. The Collected Works of Abraham Cowley II Poems 1656 Part I, hg. Thomas O. Calhoun / Laurence Heyworth / J. Robert King (Newark / London / Toronto: U Delaware P, 1993), 19ff. Alle Zeilenangaben folgen dieser Ausgabe.
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Ikonografie der Liebe ein folgenreicher Paradigmenwechsel vollzogen hat. An die Stelle des regenerativen amor divinus, wie er in der Barockkunst als eine charismatische Engelsgestalt visualisiert wird, ist nun ein ebenso tändelnder wie auch maliziöser amor diabolus getreten, der ganz in der Manier von Caravaggios verschmitzt kokettierendem Liebesgott sich am Schmerz des Sprechers zu delektieren scheint.113 Obgleich die Figur eines perfiden Liebesgottes bereits im Mittelalter belegt und später vorzugsweise von Lucas Cranach dargestellt worden ist, muss der diabolische, oft mit Augenbinde versehene Cupido bzw. amor caecus im dualistischen Weltbild der Frühen Neuzeit stets als eine Komplementärgestalt begriffen werden, als ein Ant(i)eros, der in der Funktion als exemplum horrendum die negativen Aspekte einer allzu körperfixierten Liebe personifiziert.114 Mit dem Verlust der Balance sowohl zwischen texte und contre-texte als auch zwischen Sakralem und Profanem steht Cowleys Amor nun für einen Weltentwurf, in dem die Liebe zur Qual und Bürde geworden ist. Worin nun gerade diese zweifache Bürde (“double task;” 3) besteht, spezifiziert der Sprecher im folgenden: Sie besteht zum einen darin, dass er, vom Ekel noch verschont, sich der Gunst des kapriziösen Liebesgott versichern und zum anderen, dass er die Aufmerksamkeit einer Frau – “a Mistress” (4; Hervorhebung NL) – gewinnen muss. Der unbestimmte Artikel lässt jedoch darauf schließen, dass das lyrische Ich sich nicht auf einer amourösen Queste nach einer einzigartigen Beatrice oder einer unverwechselbaren princesse lointaine befindet; vielmehr erklärt sich der bislang um sein erotisches Abenteuer gebrachte Don Juan manqué, einem für die Libertins typischen Pragmatismus folgend, bereit, jede beliebige, in den Augen der Konkurrenten noch so unattraktive und missgestaltete Geliebte zu akzeptieren: I ask not one in whom all beauties grow, Let me but love, what e’re she be, Shee cannot seem deform’d to me; And I would have her seem to others so. (9–12)
Die eigentümliche Kompromissbereitschaft des Sprechers liegt nun vor allem darin begründet, dass er, anders als die neoplatonischen Petrarkis-
113 114
Bereits Suckling hatte in bezug auf Amor von “[t]he crafty Boy” und dessen “foul play” (‘Loves Sanctuary’ Z.1 / 15) gesprochen. Vgl. hierzu Erwin Panofsky, Studien zur Ikonologie, Kap. IV ‚Der blinde Amor,‘ 153–202.
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ten, das Äußere nicht mehr als eine Vermittlungsinstanz zu einer urbildhaften Schönheit begreift, sondern in der körperlichen Gestalt der Frau lediglich ein Betätigungsfeld der auf Befriedigung drängenden Wollust sieht: Desire takes wings and strait does fly, It stays not dully to inquire the Why. (13–14)
Im Gegensatz zu den pia desideria der Barockdichter ist das von Cowley beschriebene Verlangen ohne jede theologische Implikation. Die nur auf den geschlechtlichen Vollzug ausgerichtete Lust macht den Liebenden in Analogie zum amor caecus nicht nur blind – “I shall not see with others Eyes, scarce with mine own” (16) –, sie ist auch in besonderem Maße anti-teleologisch und masturbatorisch: Sollte die umworbene Frau sich als spröde (“coy;” 17) erweisen, so beabsichtigt der Sprecher nicht, wie Andrew Marvell in seinem späteren Persuasionsgedicht ‘To his Coy Mistress,’ seine Geliebte mit einer ausgeklügelten Liebeskasuistik überreden zu wollen. Ganz im Einklang mit dem libertinistischen Prinzip des erotischen l’art pour l’art kündigt er an, die Liebe selbst zum Gegenstand seines Verlangens zu machen und sich narzisstisch an der eigenen Lust zu berauschen: Why I’le enjoy the very Love, And make a Mistress of mine own Desire. (19–20)
Durch den Gedanken an die emotionale Kälte der imaginierten Geliebten geradezu inspiriert bittet der Sprecher in der 4. Strophe den Liebesgott abermals um die Gunst des erotischen furor. In frappierender Übereinstimmung mit der barocken Wundensymbolik inszeniert er die erhoffte Initiation in den Liebeskult mit deutlichen Anspielungen an die Perforation der Hl. Teresa von Avila. Nicht nur in der Forderung des Ichs nach exzessiver Liebe – “the extremities of mighty Love” (30) –, sondern auch in dem Verlangen, von brennenden Pfeilen (homoerotisch) penetriert zu werden, fühlt der Leser sich an den erotischen Diskurs der Theologie, und hier insbesondere an die priapistische Inszenierung von ChristusAmor, erinnert: But do not touch my heart, and so be gon; Strike deep thy burning arrows in: Lukewarmness I account a sin, As great in Love, as in Religion. (25–28)
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In seinem Bestreben, sich sowohl vom renaissancistischen Primat des Mittelweges – “Lukewarmness” (27)115 – als auch vom Gleichmut der neutestamentlichen Laozideer abzugrenzen, geht der Sprecher sogar so weit, dass er die Möglichkeit eines Exzesses an Hitze als pure Erfindung zurückweist; zum Beweis hierfür führt er an, dass selbst die zona torrida zwischen den Wendekreisen inzwischen als bewohnbar erachtet wird. Die Tatsache, dass “the torrid Zone” (32) aufgrund der mit ihr assoziierten Hitze vor allem eine Metapher für die sexuell stimulierte Vagina darstellt,116 macht evident, dass der Sprecher mehr das Genitalische als das Theologische im Sinn hat. Dies macht er auch in syntaktischer Hinsicht deutlich, wenn er in seinem Plädoyer gegen das ‚lauwarme‘ Mittelmaß eine Dissoziation von Liebe und Religion impliziert: “As great in Love, as in Religion” (28). Nicht nur erscheinen – im Gegensatz zum barocken mixtum compositum aus Erotik und Theologie – Religion und Liebe als getrennte Bereiche; auch das Individuum ist aus dem in den Strophen 5 und 6 geschilderten Pansexualismus der Natur endgültig ausgeschlossen. Somit bleibt dem lyrischen Ich am Ende nichts anderes übrig, als in der Tradition von Ovids Remedia Amoris Amor die Feindschaft zu erklären und künftig die Literatur als probates Mittel gegen ihn zu verwenden: Musick of sighs thou shalt not hear, Nor drink one wretched Lovers tasteful Tear: Nay, unless soon thou woundest me, My Verses shall not onely wound, but murther Thee. (53–56)
Erneut bedient sich Cowley hier der Bild- und Semantikbereiche, die auch Crashaw in seiner erotischen Theologie einsetzt. Es ist jedoch offenkundig, dass die Tränen und Wunden eine uneingeschränkt säkularisierte Bedeutung angenommen haben: Die würzige Träne, die der verzweifelte Liebhaber sich weigert zu weinen, hat nichts mit den prokreativen Sperma-Tränen gemein, mit denen Maria Magdalena das Diesseits mit dem Jenseits verknüpft; und auch die tödlichen Wunden, die der Dichter aus Rache und Ungenügen dem Liebesgott beizubringen gedenkt, haben keine Affinität mehr zu der sexuell konnotierten Algolagnie, mit der 115
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In der Offenbarung tadelt Johannes die Laodizeer für ihre „lauwarme“ Gesinnung und droht ihnen: “I will spue thee out of my mouth” (Off., 3, 16; Authorized Version, 302). Die Auswirkungen eines solchen Laodizeertums, sowohl in erotischer als auch in theologischer Hinsicht – “Laodicean neutrality” – lässt sich noch am Schicksal Gabriel Oaks in Hardys Far from the Madding Crowd (1874) ablesen. Far from the Madding Crowd, hg. Rosemarie Morgan / Shannon Russell (London: Penguin, 2000), 3. Vgl. DSL III, 1566f. – Eine Anspielung auf Geschlechtskrankheiten wie auch auf das Infernalische der Vagina ist in dieser Metapher beabsichtigt.
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Christus und Maria mit steigender Intensität in ihrem privaten Liebesdiskurs einander Schmerzen zufügen. Aus dem erotischen Schmerzens-Dialog ist somit der dramatische Monolog eines Verfemten und Ausgestoßenen geworden, der in der Hyperbolik seiner (phallischen) Drohungen117 seine Einsamkeit und bittere Enttäuschung kaum verhehlen kann. Legt man den Gedichten dieses Zyklus ein lockeres narratives Konzept zugrunde, dann stellen bereits die folgenden ‘The Thraldome’ überschriebenen Verse eine umfassende Palinodie auf das zuvor Gesagte dar. Die im ersten Gedicht erflehte sexuelle Initiation muss in der Zwischenzeit stattgefunden haben; doch anstatt des zu erwartenden erotischen Triumphes beschreibt der Sprecher – unter Zurhilfenahme eines abgewandelten Cäsar-Zitats – die Sexualität als eine Niederlage, als ein Erlebnis der radikalen Desintegration: “I Came, I Saw, and was undon” (1). Gleichsam Byrons spätere poetologische Methode vorwegnehmend verfolgt Cowley nun das Ziel, die im ersten Gedicht geweckten Erwartungen grundlegend zu zerstören: Auf das aktivische und sexuell konnotierte Kommen118 folgt abrupt der passivische Zusammenbruch der post-koitalen Tristesse – “was undon.” Die orgiastische Erfahrung der Erotik wird zunächst mit einem Blitzschlag verglichen, der das Individuum bis ins Mark erschüttert. Die in der dritten Zeile verwendete Alliteration – “A pointed pain pierc’d deep my heart” (3) – unterstreicht überdies lautmalerisch das Wesen des Koitus als ein schmerzvolles und einschneidendes Penetrationserlebnis, als dessen Folge der gesamte Organismus von einem ebenso hastigen wie auch kalten Erzittern erfasst wird. Die in der ersten Strophe geschilderte Erfahrung der Sexualität unterscheidet sich zunächst kaum von den vielen grausamen und masochistisch goutierten Theophanie-Berichten der neo-mystizistischen Barockdichter und ihrer (oft weiblichen) personae: Auch die Hl. Teresa von Avila – sowohl in ihrer autobiografischen Schrift als auch als fiktionalisierte Gestalt in Literatur und Kunst – durchlebt ihre erotische Begegnung mit Gott als ein pleasure-pain-Paradoxon, als eine ebenso Entzücken wie auch Schmerz bereitende Defloration. Cowleys bereits in der letzten Zeile der ersten Strophe eingefügter Verweis auf die körperliche Liebe als Gift, als toxische Berauschung – “The Poyson that was enter’d there” (6) –, die die Vernunft außer Kraft setzt, leitet nun über zu einem 117
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Der Schriftsteller, der vermittels der Literatur Amor zu penetrieren und zu töten trachtet, nimmt hier bereits Rochesters Bolloxinion vorweg, der gleich einem miles gloriosus ebenfalls die Götter zu penetrieren beabsichtigt. Spätestens seit Marstons The Insatiate Countess (II, ii, 84f.) ist die sexuelle Bedeutung von ‘to come’ belegt. – Vgl. auch DSL I, 277.
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Wortfeld, das anders als im Barock vornehmlich der Pathologie und dem despotischen Machtmissbrauch entlehnt ist. An die Stelle eines androgynen Christus eroticus, dessen blutende Seitenwunde sowohl phallische als auch vaginale Assoziationen in einem Dichter wie Crashaw weckt, tritt bei Cowley nun ein spiritus malignus, der in einem Akt der pervertierten Inspiration den liebenden Menschen den verheerenden Pesttod bringt: So a destroying Angels breath Blows in the Plague, and with it hasty Death. (7–8)
Wie Gordon Williams darzulegen vermag, hat sich in der Folge der Pestepedemie von 1603 die Terminologie des Schwarzen Todes auch auf die in ihrer damaligen Unheilbarkeit ebenso ominöse Syphilis übertragen.119 Der Schmerz des nunmehr von der ‚Liebespest‘ wie auch von der Syphilis Befallenen hat nichts mit jener inbrünstigen voluptas dolendi gemein, die Liebende von Romeo bis zum Cholera infizierten Gustav von Aschenbach verspüren; die Liebeskrankheit bekommt hier vielmehr einen hyperbolischen, die Unermesslichkeit des Schmerzes betonenden Charakter, wenn sie mit dem Einzug der biblischen Heerscharen, seba’ot (“Legion;” 10), in Verbindung gebracht wird. Auch die von Cowley in der dritten Strophe vorgenommene Dissoziierung von Tod und Erotik – “’Twas cruel Love, not Death had made the wound” (14) –, die in gewisser Hinsicht die strenge rationalistische Unterscheidung von Eros und Thanatos bei Lessing vorwegnimmt,120 beweist, wie dezidiert der von Crashaw zelebrierte Liebestod von den Cavaliers dekonstruiert wird. Dem Tod wird in seiner Unbarmherzigkeit eine Generosität zugesprochen; die Liebe hingegen – der antiken Tradition ungeachtet, dass Amor mit umgekehrt gehaltener Fackel sowohl die erloschene Liebe als auch den Tod symbolisiert – zeichnet sich allein durch das Oxymoron der “barbarous mercy” (17) aus. Während der Tod ausnahmslos alle von ihm Unterworfenen vernichtet – “Quarter to all he conquers does refuse” (16) –, lässt die Liebe ihre Besiegten in perfider Manier am Leben, um sie fortan zu versklaven und ad infinitum zu quälen. Anders als in Shakespeares Romeo and Juliet, wo die Metaphorik der Versklavung eine partikulare Liebe, einen amour fou charakterisiert, die 119
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DSL II, 1051f. – Williams zitiert in diesem Kontext Heywoods Royall King; eine weitere Pest jener Zeit ist Othellos “forked plague” (III, iii, 273), jene Angst von dem Gehörntwerden und dem Monströsen. Wie die Alten den Tod gebildet. Werke und Briefe, Werke 1767–1769, hg. Klaus Bohnen (Frankfurt/M.: DKV, 1985), 715–78. – Zu dieser zwischen Lessing und Herder geführten Kontroverse vgl. Karl Siegfried Guthke, The Gender of Death, 134ff.
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in ihrer physischen Obsession gegen alle ordo-Vorstellungen verstößt,121 trifft in Cowleys Weltbild die Knechtschaft nun auf alle zu, die sich statt der dandyistischen Misogynie der Liebe zugewandt haben. Die als “[h]ard Master” (20) apostrophierte und mit einem ägyptischen Tyrannen (27) korrelierte Liebe entbehrt jeder Form des hedonistischen Genusses, den Fanny Hill noch zu verspüren vermag, als sie durch Mr. Barvile in die schmerzhaften Mysterien der sado-masochistischen Erotik eingewiesen wird. Clelands pornografische Insistenz auf sexuelle Genugtuung – “oily balsamic injection”122 – weicht bei Cowley ausnahmslos der Vorstellung von der Sexualität als einem Frondienst, als einem Kampf zwischen Tyrann und Sklave: Wie Galeerensträflinge rudern die Liebenden über das aufgepeitschte Meer der Leidenschaften, doch ihr polysyndetisch monotones und mehr schmerzhaftes als lustvolles Stöhnen und Ächzen entfacht den Sturm immer wieder aufs Neue und beraubt die erotischen Seefahrer – anders noch als bei Carew – ihres orgasmischen telos: They pant, and groan, and sigh, but find Their sighs encrease the angry wind. (23–24)
Wie später in Rochesters Lied-Gedicht ‘Love to a Woman’123 hat sich die Liebe von einem kultischen Minnedienst sub specie artis zu einer entwürdigenden Zwangsarbeit verwandelt: Unter der despotischen Liebe, wie sie der Libertin zu Beginn der Moderne als unerbittliche Geschlechterdifferenz erfährt, verausgabt sich der versklavte Mann nicht mehr bei den Ritualen eines sexuellen Tempeldienstes; wie im alten Ägypten erschöpft er vielmehr seine Kräfte beim Bau eines gigantischen, seine Hoffnungen auf sexuelle Befriedigung petrifizierenden Grabmals, während andere in den Steinbrüchen eines verhärteten Herzens – “i’the’ Quarries of a stony Heart” (28) – sich aufzehren.
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Eine sado-masochistische Note bekommt die Liebe zwischen Romeo und Juliet, wenn letztere sich als eine Despotin imaginiert, die sich daran delektiert, wie sie ihren Geliebten gleich einem gefangenen Vogel Qualen aussetzt: “I would have thee gone, / And yet no further than a wanton’s bird / That lets it hop a little from his hand / Like a poor prisoner in his twisted gyves, / And with a silken thread plucks it back again, / So lovingjealous of his liberty.” Romeo and Juliet II, ii, 176ff. Memoirs of a Woman of Pleasure, 152. Let the Porter and the Groom, Things design’d for dirty slaves, Drudg in fair Aurelias womb To gett supplies for Age and Graves. (5–8; Hervorhebungen NL) Poems, 38.
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Trotz dieses ernüchternden Bildes von der Liebe, das in mancher Hinsicht Byrons Abrechnung mit dem romantisch-idealistischen Liebeskonzept im 4. Canto von Childe Harold’s Pilgrimage vorwegnimmt,124 gelingt es Cowley, das Gedicht mit einer unerwartet libertinistischen Note zu beschließen. Der Sprecher bittet Amor, “mighty Love” (31), in einem zusätzlichen, aus dem 6-zeiligen Strophengefüge herausfallenden Vers, ihm die Aufgabe zu übertragen, den (Liebes-) Stollen zu graben: Of all the works thou dost assigne, To all the several slaves of thine, Employ me, mighty Love, to dig the Mine. (29–31)
Zunächst verzichtet Cowley noch auf die Schlussfolgerung, zu der Rochester und die späteren décadents des 19. Jahrhunderts gelangen sollten. An die Stelle eines misogyn motivierten homoerotischen l’art pour l’art betont sein Sprecher weiterhin das heterosexuelle Interesse an der Vagina (“Mine”). Passend zu dem libertinistischen und partiell pornografisch gefärbten Frauenbild jener Zeit beschränkt sich die Aufmerksamkeit des Sprechers letztlich auf die Mühen der phallischen Erschließung der Vagina; die Eroberung eines zu Stein erstarrten Herzens, deren religiöse Relevanz nicht zuletzt in den barocken Emblemata immer wieder bekräftigt wird, wird dagegen abgetan als “sad, and tedious art” (27), die schließlich den unverbesserlichen Liebeskasuisten und Petrarkisten vorbehalten bleibt. b. Spätestens in dem ‘Against Fruition’ überschriebenen Gedicht kapriziert sich auch Cowley auf die von Suckling angewandte Argumentation gegen den körperlichen Liebesvollzug. Bereits in ‘The Change’ benutzt Cowley den Topos von der Vagina als Hölle, indem er den weiblichen Körper mit den verborgenen tellurischen Aspekten der Dunkelheit in Verbindung setzt. Diese Gedankenrichtung nun fortsetzend gestaltet er in dekadenter Umkehrung der libertinistischen Liebesphilosophie sein lyrisches Ich als einen Sprecher, der sich mit großem rhetorischen Aufwand den erotischen Avancen seiner Geliebten erwehren muss. In seinem dandyistischen Bestreben, sie als Göttin dem Bereich des Kreatürlichen zu 124
Auch hier ist die Liebe eine Gefangenschaft: So spricht Byrons persona im Kontext der Liebe sowohl von der Pest (“plagues”) als auch von “bondage” (IV, 126, 1139 / 40). Für das Individuum, von Natur aus “chain’d and tortured – cabin’d, cribb’d, confin’d, / And bred in darkness” (IV, 127, 1149–50), stellt die Liebe somit eine doppelte Gefangenschaft dar. The Complete Works II, 166.
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entziehen, versucht er ihr mit äußerstem Nachdruck (“thou’rt a fool, I’ll swear;” 1) zu verdeutlichen, dass seine Anbetung und sein Liebeskult auf einem artifiziell bewahrten Zustand der Unwissenheit (“Ign’orance;” 3) beruhen. Ein Zuviel an sexuell konnotierter Zuvorkommenheit – “kindness” (3)125 –, was in diesem Kontext mit einer gefürchteten Initiation in die natürlichen Vorgänge des weiblichen Körpers gleichzusetzen ist, gefährdet die sorgsam kultivierte Ignoranz des überdrüssigen Sprechers. Ging es in den vorhergehenden Gedichten um den Antagonismus zwischen Tyrann und Sklave, so kapriziert sich das vorliegende Gedicht nun auf das polare Verhältnis zwischen Ästhetizist und kreatürlichem wie auch unersättlichem Weib. Die sakrale Terminologie, die der Sprecher anwendet, zielt nun nicht mehr auf eine Vergöttlichung des Eros ab, vielmehr dient sie der misogynen Distanzierung des Dandys. Wissend, dass ein aufgeklärtes (Zeit-) Alter, ein siècle des lumières, sowohl die heilige Allianz von Wissenschaft und Theologie als auch das Bündnis von Erotik und Religion aufkündigt (“For a learn’d Age is always least devout;” 4), versucht er, der erotischen Gefahr des Weibes dadurch zu entkommen, dass er es im Vorgriff auf Baudelaire auf die Ebene eines tableau vivant erhöht und zu einem enterotisierten Artefakt erklärt. Daher fordert er sein weibliches Gegenüber geradezu imperativisch auf, zur Aufrechterhaltung seines abstrakten und a-sexuellen Frauenbildes Distanz zu wahren: “keep still thy distance” (5). Und in einem weiteren Kausalsatz begründet er dies damit, dass er eine Kongruenz von Ideal und Wirklichkeit, von “Goddess” und “Woman” (6) – oder in Baudelairescher Terminologie – von ‘idéal’ und ‘spleen’ für unmöglich hält: “for at once to me / Goddess and Woman too, thou canst not be” (5f.). Diesem eklatanten Verlust der weiblichen Komplementarität wird nun durch die Anwendung verschiedener traditioneller Bildbereiche eine rationale Legitimation unterlegt. Zum einen wird die sexuell unantastbare Frau in Analogie zu virgines intactae wie Elisabeth I. als eine Königin inszeniert, die nur solche Freiheiten gewährt, die ihre Autorität nicht untergraben; zum anderen wird sie als Mikrokosmos metaphorisch korreliert mit einer noch unversehrten Welt – “a whole world” (11) –, die anders als Donnes mit Händen vermessenes Amerika,126 mit der Entdeckung (dis-covery) ihre Faszination einbüßt und den Geliebten nach neuen Welten und nouveaux frissons Ausschau halten lässt: 125 126
Zur Bedeutungsähnlichkeit von ‘kindness’ und ‘nature’ siehe DSL II, 760f. und OED VIII, 438, 1., inzwischen obsolete Bedeutung. ‘To his Mistress: Going to Bed:’ “O my America …” Z. 27.
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… but ’tis dang’rous still Lest I like the Pellæn Prince should be, And weep for other worlds hav’ing conquer’d thee. (12–14)
Einen ausgesprochen dekadenten Kulminationspunkt erreicht Cowleys disputatio, wenn der Sprecher behauptet, dass er seiner Geliebten in der Imagination einen höheren Stellenwert einräumt als den realiter erlebten Frauen, die mit dem Natürlichen allzu sehr verhaftet sind: Thou in my Fancy dost much higher stand, Then Women can be plac’d by Natures hand; And I must needs, I’m sure, a loser be, To change Thee, as Thou’rt there, for very Thee. (17–20)
In Anbetracht einer solchen Aussage fühlt sich der heutige Leser an einen Ästhetizisten wie Dorian Gray erinnert, der in Sibyl Vane nur die histrionische Maske der Shakespeare-Heldin zu lieben vermag und die Berührung mit der entfiktionalisierten und leibhaftigen Frau verabscheut.127 Auch Cowleys Sprecher betrachtet sich notwendigerweise als Verlierer (“a loser;” 19), wenn er seine Fiktion einer deifizierten Frau zugunsten einer mulier sexualis aufgeben muss. Der Genuss ihrer Anmut bzw. ihrer Süßigkeit ist somit für das (unterschwellig) misogyne lyrische Ich ein ausschließlich zerebraler Akt; eine Konfrontation mit dem Nektar ihres Vaginalsekrets128 würde das Bild von der Frau als Göttin zerstören und den (wie bei Des Esseintes) nur an imaginierte Kost gewöhnten Geschmackssinn nachhaltig verderben: Thy sweetness is so much within me plac’d, That shouldst thou Nectar give, t’would spoil the taste. (21–22)
Ein weiteres geradezu konzeptistisches image-cluster, mit dem Cowley seine Beweisführung gegen die koitale Vereinigung untermauert, ist dem Bereich der Tierwelt entnommen. Zunächst wird die physische Liebe in einem Vergleich mit dem gierigen Habicht in Verbindung gesetzt, der sich ohne rationale Intervention an seiner eigenen Beute übersättigt: “Does overgorge himself, with his own Prey” (28). Bereits für Horapollo
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Auch Dorian sakralisiert Sibyl, wenn ihre schauspielerische Virtuosität ihn zu dem Ausruf hinreißt: “Harry, Sibyl Vane is sacred!” (42). Ihrer Kunst entledigt wird sie zum “nothing” (71), zu einer sexualisierten Frau und Bedrohung der dandyistischen Selbstinszenierung. DSL II, 942f.
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symbolisiert der Habicht sexuelle Exzessivität;129 aber hauptsächlich aufgrund seiner Verknüpfung mit dem Schänder Tereus in Ovids Metamorphosen130 versinnbildlicht dieser Raubvogel stets eine zum Animalischen degenerierte Form der Liebe, eine Variante des vom neoplatonischen Ideal weit entrückten amor ferinus. Cowley ergänzt dieses Bild nun durch die libertinistische Facette der erotischen Völlerei, die im nächsten Unterkapitel detaillierter beleuchtet wird: Die mit dem Habicht korrelierte Liebe bezeichnet nicht nur ein Kopulieren ad nauseam; sie nährt auch ein Übermaß an Hoffnungen – “Of very Hopes a surfeit” (29) –, das Gefahr läuft, durch Ängste wieder erbrochen zu werden: “Unless by Fears he [= Amor / Habicht] cast them up again” (30). Auf diese Darstellung der Liebe als Völlerei folgt eine Spezifizierung der Ängste, unter denen der moderne Don Juan à l’envers zu leiden hat: “If once he lose his sting, he grows a Drone” (32). Diese im Bildgeflecht unvermittelt erscheinende und das gesamte Gedicht abschließende Metapher steht jedoch in kausalem Zusammenhang mit der elaborierten Argumentation, die der Sprecher zuvor seiner Geliebten angeboten hat: Während der frühneuzeitliche Mensch geradezu eine Phobie in bezug auf das Gehörntwerden (cuckoldry) entwickelt und hierfür seit Chaucers Canterbury Tales eine reichhaltige und innovative Bildsprache entwickelt, fokussieren sich die Ängste des modernen Liebhabers – wie insbesondere an Rochester und den Restaurationsdichtern darzulegen sein wird – auf das genitale Versagen und die Schrecken der Impotenz. In dem Bild der Drohne, die ihren phallischen Stachel verloren hat (32), formuliert Cowley epigrammatisch verkürzt eine kollektive Kastrationsangst, die maßgeblich für den zur Schau getragenen Ekel vor dem weiblichen Geschlecht verantwortlich ist. c. Während T. S. Eliot in einer essayistischen Schrift über Cowley, ‘A Note on Two Odes of Cowley,’ mit Kühnheit behauptet, die Welt der Cavaliers habe Ähnlichkeiten mit der von H. G. Wells,131 so liegt es doch näher, hier 129
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Die pejorative Einschätzung des Habichts zeigt sich in einem Emblem, in dem der Habicht die gefährliche Selbstüberschätzung verkörpert (Emblemata, Henkel und Schöne, 786). Als Jäger der Taube ist er überdies auch in ikonografischer Hinsicht der Feind des traditionellen amor eroticus sive divinus (Ferber, Dictionary of Literary Symbols, 93). VI, 424ff. Nach der Schändung der Philomela verwandeln die Götter Tereus in einen Habicht, Philomela in eine Nachtigall und Progne in eine Schwalbe, Metamorphosen, 218ff. Seventeenth-Century Studies Presented to Sir Herbert Grierson, hg. John Purves (Oxford: Oxford UP, 1938), 235–42.
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abermals eine Parallele zu den décadents des späten 19. Jahrhunderts zu konstatieren: Abgesehen von Clelands Mr. Norbert, der aufgrund seiner Erektionsschwäche auf vielfältige Stimulanzien, “forc’d provocatives,” zurückgreifen muss, um schließlich doch nur eine ejaculatio praecox zu erzielen,132 wird das sexuelle Unvermögen erst wieder in der Literatur des Fin de Siècle virulent. Huysmans’ neurasthenischem Protagonisten Des Esseintes Folge leistend, sind nahezu alle dekadenten Charaktere geprägt von sexuellen Degenerationserscheinungen und aberrationes, die wie bei den Cavaliers des 17. Jahrhunderts sowohl in einem tieflotenden Abscheu vor dem weiblichen Körper als auch in einer latent homoerotischen Präferenz verankert sind. Die thematische Verzahnung von Misogynie und Homosexualität bzw. homosocial bonding bleibt bei Cowley weitgehend noch unartikuliert. Sein dandyistisches Unbehagen am weiblichen Geschlecht drückt sich vornehmlich in traditionellen Vorstellungen von der Frau als Versucherin (‘The Innocent Ill’), als erotische Falschmünzerin (‘Beauty’) wie auch als Femme fatale – “Thou lovely Instrument of angry Fate”133 – aus. Erst in den Werken der Restaurationsdichter verschafft sich der dekadente Antagonismus der Geschlechter immer stärker Gehör in einer Wertschätzung der Homosexualität, die einzig durch die Verachtung des Weibes motiviert ist. Ein Gedicht, das von den Rochester-Philologen heute zu den im Appendix Roffensis aufgeführten ‘Verses on Rochester’ gezählt wird,134 führt diesen Aspekt pointiert vor Augen. In paradigmatischer Weise zeigt sich hier, wie heterosexueller Abscheu, erotischer ennui und homosexuelle Dominanzphantasien miteinander verschmelzen: I Rise at Eleven, I Dine about Two I get drunk before Seven, and the next thing I do, I send for a Whore, when for fear of a Clap, I Spend in her hand, and I Spew in her Lap; There we quarrel and scold, till I fall asleep, When the Bitch, growing bold, to my Pocket does creep; 132 133
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Memoirs of a Woman of Pleasure, 132 und 139. In diesem Gedicht lässt sich eine Ausprägung der Femme fatale konstatieren, wie sie Maria Moog-Grünewald erst für die Literatur nach Flauberts Salammbô zu entdecken glaubt (‚Die Frau als Bild des Schicksals. Zur Ikonologie der Femme fatale‘ Arcadia [1983], 238–57): Neben konventionellen Vorstellungen von der Frau als Emissärin des Teufels erscheint sie bereits hier als Abgesandte des Schicksals im etymologischen Wortsinn – ein Aspekt, der einen Vergleich dieser beiden Dekadenzperioden zusätzlich rechtfertigt. Works, 274 und vgl. die dazu gehörenden Annotationen, 668.
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Then slyly she leaves me, and to revenge th’ affront At once she bereaves me of Money, and Cunt. If by chance then I wake, hot-headed and drunk, What a Coyle do I make for the loss of my Punck? I storm, and I roar, and I fall in a rage, And missing my Whore, I bugger my Page: Then crop-sick all Morning, I rail at my Men And in Bed I lye Yawning, till Eleven again.
Bereits in der 1685 von A. Thorncome besorgten Neuedierung von Rochesters Werk widerfährt diesem in bezug auf die Verfasserschaftsfrage noch umstrittenen Gedicht das, was auch mit Shakespeares Sonetten 1640 in der editorischen Obhut von John Benson vorgenommen wurde: Durch Emendationen und grammatikalische Veränderungen, die sich hier insbesondere auf die zwölfte Zeile konzentrieren, versucht der Herausgeber wie im Fall Shakespeares die unverhohlen sodomitischen Implikationen abzumildern, wenn er nun als expurgierte Variante anbietet: I storm and I roar, and I fall in a rage, And missing my Lass, I fall on my Page.
Ungeachtet diesen editorischen Verfälschungen, die Paul Hammond auch an anderen Gedichten Rochesters kommentiert,135 stellen die vorliegenden 14 paarweise gereimten Zeilen die Summe eines dekadenten Libertinismus dar, wie er sich seit Suckling und Cowley mit zunehmender Intensität in der Literatur etabliert hat: Der ganz dem sensuellen Müßiggang ergebene Sprecher erinnert zunächst an die vielen gelangweilten Dandys, die, wie sich in Lord Henry Wottons Gespräch mit seinem Onkel herausstellt, selten vor Mittag aufstehen.136 Doch im Gegensatz zu der von Baudelaire formulierten Theorie des dandyistischen Stoizismus zögert der ichbezogene Sprecher nicht, sich mit einer Prostituierten einzulassen. Der somit simulierte bzw. ‚gefallene Dandy,‘137 der sich trotz Furcht vor einer Geschlechtskrankheit (“Clap”) nicht auf die Position eines Frauen- und Erotikverweigerers zurückzuziehen vermag, wird durch den Verlust von “Money and Cunt” (8) prompt bestraft. Bevor er wieder in seine Oblomow-Indolenz avant la lettre zurückkehrt, kompensiert er das zuvor erlebte orgasmische Erbrechen (“I spew in her 135 136 137
‘Rochester’s Homoeroticism’ That Second Bottle. Essays on John Wilmot, Earl of Rochester, hg. Nicholas Fisher (Manchester / New York: Manchester UP, 2000), 47–62. “I thought you dandies never got up till two, and were not visible till five” The Picture of Dorian Gray, 26. Gnüg diskutiert diesen Begriff in Kult der Kälte, 303.
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Lap”) durch die sodomitische Penetration seines Pagen. Die Homosexualität, jenes hier aus Aversion gegen das weibliche Geschlecht eingesetzte l’art pour l’art, hat somit mit der platonischen Zuneigung des eromenos für seinen erastes ebenso wenig gemein wie mit der Kultivierung der Homoerotik als dekadent-dandyistische Revolte gegen die Bourgeoisie. Allen Parallelen zu den Erotik- und Körperentwürfen des Fin de Siècle zum Trotz bleibt daher festzuhalten, dass die Libertins des 17. Jahrhunderts sich in einem wesentlichen Punkt von den späteren décadents unterscheiden: Ihre Sublimation der Sexualität ist nicht nur – wie bei Suckling und Cowley – äußerst prekär, sie wird, wie in dem Gedicht evident wird, oft unterminiert durch eine fatalistische Abhängigkeit von der Macht des kruden Sexus. Daher wird auch die erotische Alternative zum bedrohlich empfundenen Vaginalverkehr, Sodomie, als eine Unbehagen bereitende (“then crop-sick all morning;” 13) Zwangsverrichtung inszeniert. Die Konsequenz, die die Libertins für sich zu ziehen pflegen, besteht somit nur zum Teil in dem dandyistischen Rückzug in die Ästhetik und in den Selbstentwurf als anti-sexuelles Wesen; ebenso häufig schildern sie den Prozess der Determiniertheit, der sie stets dazu zwingt, in ihren Werken immer wieder die schockierende Konfrontation mit der Sexualität als psycho-pathologischer Störung zu suchen. Wie bereits bei Suckling und Cowley angedeutet, nimmt in den literarischen Gestaltungen des 17. Jahrhunderts diese Erotikauffassung zum einen die Form einer erotischen Bulimie an, zum anderen verschafft sie sich drastischen Ausdruck im Ekel vor dem weiblichen Körper, dessen Sekreten und Ausscheidungen. Solche Beschreibungen einer negativen und ekelbehafteten Sexualität tragen nicht nur zu einer Neudefinition von Homo- und Heterosexualität bei, sie führen auch die kultur- und ideengeschichtliche Distanz zur karnevalesken Körper-Euphorie bei Rabelais und den vielen Vertretern der frühneuzeitlichen Popularkultur nochmals nachdrücklich vor Augen.
4. Das erotische Mahl – Der Gourmet zwischen Gourmands und Bulimikern 4.1. Bacchus, Ceres und Venus – Prekäre Garanten erotischer Tafelfreuden Die Signifikanz des Essens wird in der Literatur- und Kulturgeschichte des europäischen Abendlandes allenthalben evident: Nicht nur die Tatsache, dass der Sündenfall des Menschen auf den Verzehr eines Apfels zu246
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rückzuführen ist, sondern auch die im Pentateuch (Lev. 11,1–31) minutiös festgelegten Essvorschriften der Juden beweisen, dass im Kontext der Frühen Neuzeit dem Essen nur selten ein bloß physiologischer Literalsinn zugedacht wird. Wie bereits in der antiken, auf Platon zurückgehenden Institution des Symposiums wird die sinnliche Erfahrung des Essens und Schmeckens stets mit dem Spirituellen und Religiösen verknüpft. Dieser Aspekt findet in der Eucharistie und im rituellen Nachvollzug der theophagia seine Bestätigung und ruft abermals in Erinnerung, dass der ursprüngliche Akt der Verfehlung und Entfremdung nur durch ein buchstäbliches Sich-Einverleiben Christi, durch ein gustatorisches Wiederanbinden von Diesseits und Jenseits aufgehoben werden kann. Während der generelle usus und abusus des Essens in der Forschungsliteratur heute zunehmend Bedeutung findet138 und seit Michail Bachtins Studie zu Rabelais’ karnevalesker voluptas edendi immer wieder ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses rückt,139 bleibt die erotische Komponente des Essens bzw. der essensrelevante Aspekt der Sexualität auch weiterhin ein Desiderat der Forschung. Dabei zeigen nicht nur negative und satirisch präjudizierte Figuren wie Sir Epicure Mammon in Jonsons The Alchemist (1612), dass kulinarischen Erlesenheiten einen aphrodisierenden und erregenden Effekt zugeschrieben und gleichsam als Präludium für den körperlichen Liebesvollzug eingesetzt werden.140 Bereits anhand einer selektiven Anzahl der vielen – inzwischen zum gesunkenen Kulturgut gehörenden und versteckten – Metaphern und Redewendungen lässt sich überdies rekonstruieren, dass die ursprünglich holistisch verstandene Liebe für den Menschen der Frühen Neuzeit sprichwörtlich ‚durch den Magen geht.‘ Allein die unter dem Lemma ‘meat’ aufgelisteten Einträge in Williams’ Dictionary of Sexual Language vermitteln dem heutigen, stets um sexual correctness bemühten Leser den Eindruck, dass im Diskurs der patriarchalisch geprägten Shakespeare-Zeit der Mann die Sexualität als eine lebensnotwendige 138
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Siehe hierzu Thomas Bruce Boehrer, The Fury of the Gullet. Ben Jonson and the Digestive Canal (Philadelphia: U Pennsylvania P, 1997), Robert Appelbaum, Aguecheek’s Beef, Belch’s Hiccups and Other Gastronomic Interjections. Literature, Culture and Food Among the Early Moderns (Chicago: U Chicago P, 2006), Joan Fitzpatrick, Food in Shakespeare: Early Modern Dietaries and the Plays (Aldershot: Ashgate, 2007) und Waltraud Pulz, Nüchternes Kalkül – Verzehrende Leidenschaft: Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert (Köln / Wien. Böhlau, 2007). Vgl. Rabelais und seine Welt, hier besonders Kap. 4, ‚Festmahlmotive,‘ 320ff. Siehe hierzu Wolfgang G. Müller, ‚Gold und Sinnenlust: Sir Epicure Mammon als Illusionist in Ben Jonsons The Alchemist‘ The Senses’ Festival, 17–35; 27ff.
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Mahlzeit begreift, wobei die Frau letztlich nur mit der Portion des zu konsumierenden ‚Frischfleischs‘ (“fresh meat”) identifiziert wird.141 Für den späteren Rezipienten stellt dies zweifelsohne einen anstößigen Sprachgebrauch dar, der allerdings, wie Aphra Behns zweiter Teil von The Rover zeigt, von den weiblichen Literaten ohne weiteres übernommen wird.142 a. Gemäß dem in den kulinarischen Bereich transportierten Pansexualismus kommt jedoch nicht nur dem Fleisch wie auch dem – sowohl christologisch als auch dionysisch äußerst symbolträchtigen – Fisch eine erotische Bedeutung zu; wie bereits in der orientalischen Bildlichkeit des Hohelieds angedeutet werden insbesondere Früchte und Gewürze nicht zuletzt aufgrund ihres stimulierenden Duftes mit erotischen Konnotationen versehen. Bereits der mittelalterliche und durch Chaucer nach England vermittelte Roman de la rose beinhaltet einen ganzen Katalog von Früchten, die entweder durch ihre aphrodisierende Wirkung oder durch ihre zuweilen genitale Form eine sexuelle Verweisfunktion entwickeln. So sind die im hortus conclusus anzutreffenden Früchte wie Quitten, Pfirsiche, Nüsse, Pflaumen und Kirschen, die nur unweit von den sowohl exotischen als auch alttestamentlichen Gewürzen wie Saffran, Anis und Zimt zu finden sind, in der erotischen Semantik und Ikonografie der Zeit eindeutig festgelegt: Geradezu als Einstimmung auf die spätere Darstellung des Sturms auf die vaginale Festung, bei der Amant die Schießscharte erklimmt, um dort seinen „steifen und starken Pilgerstab“ (V,21605) hineinzustecken,143 wird der Leser neben der polysemantischen Sprache der Blumen vor allem durch die Semiotik der Früchte auf den bevorstehenden Koitus vorbereitet. Dass im Denken der Frühen Neuzeit nahezu jedem Nahrungsmittel eine erotische Eigenschaft zugesprochen wird, zeigt sich zunächst darin, dass eine ausgeklügelte ‚Früch-
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Zu weiteren erotischen Komposita mit ‘meat’ siehe auch John S. Farmer / W. E. Henley Slang and its Analogues (New York: Kraus Reprint, 1966 [1890–1904]): ‘meat-house’ = Bordell, ‘meat-market’ = Brüste, ‘raw meat’ = Nackttänzerin, II, 296. So hofft einer der Libertins, von den ‚Küchenmägden Cupidos‘ mit einer “shoulder of mutton” verwöhnt zu werden, und die Kurtisane La Nuche charakterisiert ihren erotischen Gegenspieler als “one of those healthy-stomached Lovers that can digest a Mistriss in a Night, and hunger again next morning.” 2The Rover I, ii, 353f. und 431ff. Works, hg. Janet Todd (London: Pickering, 1996), VI ‘The Plays 1678–1682,’ 241/243. “pour estuier sauvement / Vos mon bourdon metre en l’archiere …” Zitiert nach Fischer, 109.
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te-Sprache‘ jede Nuance der Sexualität zu umschreiben vermag.144 Wie umfassend die Sexualisierung des Essens in der Frühen Neuzeit betrieben wird, zeigt sich dann schließlich in Pietro Aretinos Ragionamenti, wo letztlich sogar dem Käse eine genitalische Konnotation zukommt: So bekundet die Äbtissin die unzweideutige Absicht, den formaggio an ihrer vaginalen Reibe (grattugia) auf und ab zu bewegen.145 Die enge Verknüpfung von Essen und Erotik liegt vor allem in der Humoralpathologie begründet, wo man glaubt, dass der Mensch durch die Zufuhr von Nahrungsmitteln einen unmittelbaren Einfluss auf den Säftehaushalt seines Organismus zu nehmen vermag. In der bildenden Kunst der Frühen Neuzeit wird die aphrodisierende Wirkung des Essens vorzugsweise durch die Interaktion der Trias von Venus, Bacchus und Ceres versinnbildlicht. Während Astrid Becker in ihrem Beitrag zum Ausstellungskatalog Faszination Venus: Bilder einer Göttin von Cranach bis Cabanel behauptet,146 dass die Konfiguration von Venus, Bacchus und Ceres nicht so sehr auf einem antiken Mythos basiere, sondern vielmehr in einer motivlichen Innovation des 16. Jahrhunderts begründet liege, die vor allem in Holland und Flandern populär wurde, legen Quellen aus der Renaissance die Vermutung nahe, dass diese Konstellation durchaus antiken Urprungs ist. Sowohl die Emblemkunst als auch die Exempelliteratur der Renaissance – hier vor allem Erasmus von Rotterdam in seinen Adagia – berufen sich auf das Terenz-Zitat “Sine Cerere et Libero [= Baccho] friget Venus” und bedienen sich dieser Trias, um vor der unheilvollen Korrelation von Wollust und Völlerei zu warnen. Während dieses aus der Antike entlehnte mythologische Programm zur Emphase der moderatio eingesetzt wird, scheint im Barock diese moralisierende Tendenz zu verblassen. Die Gärten mit ihrer Opulenz an Düften und Früchten, aber auch die Gemälde von Hans von Aachen (ca. 1600), Peter Paul Rubens (1613) und Bartholomäus Spranger (ca. 1595) zeigen
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Wie David O. Frantz mit Blick auf die italienische Renaissance-Literatur darlegt (Festum Voluptatum. A Study of Renaissance Erotica [Columbus / Ohio: Ohio State UP, 1989], 29f.), steht in den chiffrierten Gedichten der Anti-Petrarkisten die Feige stets für das weibliche Genital und der Pfirsich für die Verlockungen eines knabenhaften Gesäßes bzw. eines zur Sodomie einladenden Anus. Wenn Andrew Marvell in seiner poetischen Tirade gegen die Artifizialität der Barockgärten, ‘The Mower against Gardens,’ moniert, dass die nunmehr steinlos gezüchtete Kirsche ein vegetativer Eunuch contra naturam sei, bestätigt er letztlich ex negativo, dass auch man auch im späten 17. Jahrhundert noch mit der verschlüsselten Sprache der Früchte vertraut ist. Ragionamenti I, i, 33. Vgl. hierzu auch Gnüg, 64. ‘Venus, Ceres und Bacchus’ Faszination Venus: Bilder einer Göttin von Cranach bis Cabanel, hg. Ekehard Mai (Köln / Antwerpen, 2001), 266.
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insistent, dass Essen, Trinken und Erotik drei unentbehrliche und interdependente Prinzipien im synästhetisch inszenierten theatrum mundi jener Zeit darstellen. Während Hans von Aachen Bacchus und Ceres in einer libidinösen Umarmung zeigt und durch phallisch konnotierte bzw. aphrodisierende Früchte und Gemüsesorten die koitale Absicht des Paares zum Ausdruck bringt, stellt Rubens in seinem Gemälde Venus Frigida (1614; Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten) die desaströsen Auswirkungen dar, die die Abwesenheit von Ceres und Bacchus für die Liebe mit sich bringt: Venus sitzt fröstelnd am Boden, vor ihr kauert Amor, ohne seinen Köcher eines Blickes zu würdigen, und versucht, sich am unzureichenden und allzu knappen Schamtuch seiner Mutter zu wärmen. Ein Satyr, der in seiner rechten Hand ein mit Trauben, Ähren und Früchten überquellendes Füllhorn trägt, mokiert sich von beiden unbeachtet über ihre Tristesse, die, wie die Körperhaltung der Venus nahelegt, eine Form der mit Kälte assoziierten Melancholie ist. Der Verzicht auf Essen und Trinken bedeutet im Gegensatz zu den von Caroline Bynum untersuchten Ritualen des Fastens im Hochmittelalter hier eine Beeinträchtigung und Störung des kosmisch und religiös begriffenen amor eroticus. b. Auch Thomas Carew rekurriert noch auf diese Konfiguration der antiken Gottheiten, wenn er in dem Gedicht ‘To my friend G. N. from Wrest’147 den ländlichen Ort seiner inneren Emigration zu einem erotisierten locus amoenus transformiert, wo Bacchus und Ceres ein Liebespaar sind. Im scharfen Kontrast zu dem unwirtlichen und sterilen Klima an den Ufern des Tweed – Carew bezieht sich offenkundig hier auf eigene traumatische Erfahrungen während der bishops’ wars – wird die von der Sonne geschwängerte Erde als ein offenes und im Bachtinschen Sinne geradezu groteskes weibliches Wesen beschrieben. Eingetaucht in spermatischem Tau (“steep’d in balmic dew;” 9) gebiert sie aus einem unermesslichen Uterus nicht nur eine Abundanz von Blumen; sie sondert überdies aus den Poren ihrer Brüste einen wohlduftenden Schweiß ab: “Her porous bosome doth rich odours sweate” (12). Wie bei Herrick und noch weit entfernt von Gullivers Ekel vor den Gerüchen der weiblichen Brust dienen die “native Aromatiques” (14) des Natur-Busens in ihrer früh-klassizistischen Simplizität und Unverfälschtheit als sinnliche Ku-
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Poems, 86ff.
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lisse für die Liebesvereinigung von Ceres und “uncizard” Bacchus (64). Mit Nachdruck betont Carew, dass dieser buen retiro nicht Bestandteil einer rein emblematischen, nur auf das Visuelle ausgerichteten Inszenierung ist. Dem Füllhorn – “Amalthea’s Horne / Of plentie” (57f.) – kommt somit nicht nur die Funktion eines zu Stein erstarrten Kulturzitats zu; die Fülle der dargebotenen kulinarischen Köstlichkeiten ist vielmehr das Ergebnis einer wieder zum Leben erweckten mythologischen Realität, in der – gemäß einer synkretistischen Eucharistiesymbolik – die beiden Gottheiten in einem sinnlichen Liebes- und Opfermahl verzehrt werden:148 We offer not in Emblemes to the eyes, But to the taste those usefull Deities. Wee presse the juicie God, and quaffe his blood, And grinde the Yeallow Goddesse into food. (65–68)
Dass in diesem von den Turbulenzen der Zeitgeschichte – “raging stormes” (2) – eskapistisch entrückten Refugium die Verknüpfung von Essen und Erotik, von Schmecken und Lieben noch unangetastet bleibt, beweisen nicht zuletzt auch die Anspielungen auf den in der Barockkunst so favorisierten Vertumnus und Pomona-Stoff. Pomona, deren Name von pomum (lat. Baumfrucht) abgeleitet ist, erscheint in den vielfältigen Interpretationen der Barockkünstler stets umgeben von opulenten Früchte- und Gemüsestilleben;149 und da Vertumnus in der Gestalt einer alten Frau es vermag, die widerspenstige, ganz der Kultivierung ihres Gartens ergebene Baumnymphe zur Liebe zu überreden, nutzt Carew den Stoff, um abermals auf die Korrelation von Liebe und gustatorischem Genuss hinzuweisen. Bei Carew hat sich Vertumnus bereits seiner Maskerade entledigt, und als junger Gott der Verwandlung wirbt er offen um seine Geliebte, “[h]is ruddie cheek’d Pomona” (94). Um sie zur Einwilligung in die Ehe zu bewegen, greift Vertumnus auf das Gleichnis von der Weinrebe und der Ulme zurück. Hierdurch gelingt es Carew, am Ende des Gedichts sich nochmals auf den Weingott und seine sexuelle Beziehung zu Ceres zu kaprizieren. In einer erotischen Aitiologie erklärt er dem durch einen Konditionalsatz auf Distanz gehaltenen Leser die Ursache für den Wohlgeschmack des Weins: Diese ist nicht allein
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Vgl. zur Erotik unter dem Aspekt der politischen Zeitkritik auch Lennartz, ‚Kassiber der Sinnlichkeit,‘ The Senses’ Festival, 137ff. Vgl. vor allem Cornelis de Vos’ Gemälde Pomona und Vertumnus (Leuven, Stedelijk Museum).
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darin zu suchen, dass Bacchus eigenhändig die – von Plinius und Horaz in Tönen höchsten Lobs gepriesenen – Falerno-Trauben in das Quellwasser von Wrest gedrückt habe. Das Bouquet des Weins ist vielmehr darauf zurückzuführen, dass der Weingott, geschützt durch einen Akt der Metamorphose – und hier lässt sich wieder einen Bezug zu Vertumnus herstellen –, zu Ceres’ Bett geschwommen ist, um sie dort zu befruchten: … disguis’d in watery Robes did [He] swim To Ceres bed, and make her big of Him, Begetting so himselfe on Her … (101–03)
Das Resultat ist ein konträr zu den üblichen Reifezeiten gewonnener März-Wein, ein “lustie liquor” (106), der jedoch, wie die sexuellen Konnotationen von ‘liquor’ (= Sperma)150 in jener Zeit unterstreichen, von einer ganz anderen Beschaffenheit zu sein scheint und im Gegensatz zu den Herbstweinen weniger der Sonne als des ardor amoris – “our fire” (105) – bedarf. Die Tatsache, dass das in diesem Kontext thematisierte erotische und aphrodisierende Potential des Weins bzw. des Alkohols Bestandteil einer eskapistischen Szenerie ist, gibt dem Interpreten jedoch wichtige Aufschlüsse: Sofern die Liaison überhaupt noch existiert, geraten unter dem Blickwinkel des Libertins die Verbindung von Bacchus und Ceres sowie ihr Beischlaf, der den Ort zu einem erotischen Paradies verwandelt, immer stärker in den Zerrspiegel des Negativen und Morbiden. Carews Rückgriff auf die Tradition, in der Ceres, Bacchus und Venus eine amouröse Einheit bilden, muss vor dem Hintergrund der kulturgeschichtlichen Dominanz des Libertinismus zweifelsohne als eine erotische (wie auch politische) Utopie gewertet werden. In der fortschreitenden Dekonstruktion der mythologischen Trias wird nun die Inkompatibilität von Essen / Trinken und Erotik immer deutlicher betont. Im Gegensatz zu den Charakteren, die sich am Ende der Shakespeare-Komödien an den ritualisierten Liebesbanketten delektieren – “Fair ladies, you drop manna in the way / Of starved people”151 –, wird sich der ennuyierte Don Juan dem Essen und der Erotik nur noch unter dem Aspekt des quantitativen Konsums nähern. Die Folge ist nicht nur eine anhaltende erotische ‚Ma-
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DSL I, 819. – Bei Williams ist diese Bedeutung von ‘liquor’ jedoch erstmalig in den 1680ern mit Rochesters ‘Dream’ belegt. The Merchant of Venice V, i, 294f. (The Arden Shakespeare), hg. John Russell Brown (London: Methuen, 1984), 138.
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genverstimmung,‘ sondern ein absurder circulus vitiosus, bei dem der zwanghafte Wille zum sexuellen Einverleiben immer wieder von Ekel, Erbrechen und Aggression begleitet wird. 4.2. Libertinistische Erotik: Konsum, schlechte Tischmanieren und das Ende der sexuellen Etikette Bereits die tragikomische Pförtner-Figur in Shakespeares Macbeth ist sich einer nachhaltigen Störung im Verhältnis von Trinken und Sexualität bewusst. Abgesehen vom Schlaf und vom Harndrang (“sleep and urine”) steht das Trinken für ihn in einem ursächlichen Zusammenhang mit jenem “nose-painting,” das in der darauffolgenden Zeile – nicht zuletzt aufgrund der bereits zuvor erwähnten Korrespondenz von Nase und Penis – mit der menschlichen Lüsternheit korreliert wird. Aufgrund der zweideutigen Verwendung der Personalpronomina gerät die Rede des Pförtners zu einer Pseudo-Disputation, in der Erektionsfähigkeit und Alkoholgenuss in Widerspruch zueinander treten: Lechery, Sir, it provokes, and unprovokes: it provokes the desire, but it takes away the performance. Therefore, much drink may be said to be an equivocator with lechery: it makes him, and it mars him; it sets him on, and it takes him off; it persuades him, and disheartens him; makes him stand to, and not stand to: in conclusion, equivocates him in a sleep, and, giving him the lie, leaves him.152
Nicht nur der antithetische Satzbau weist darauf hin, dass das wechselseitige Verhältnis von Erotik und Trinken, von Venus und Bacchus – aus deren sexueller Vereinigung der ityphallische Gott Priapus entstand – hier unter dem Blickwinkel des Problematischen betrachtet wird. Wie das in der Shakespeare-Zeit eindeutig negativ besetzte Wort ‘to equivocate’153 hier zweifach unterstreicht, ist die durch den Alkohol bewirkte priapistische Lust eine Illusion, die – anders als bei Lot und seinen Töchtern – das Versagen nach sich zieht. Außerdem handelt es sich hier, wie später bei Rubens,154 um ‘lechery,’ um eine ausschließlich genitalisch mo-
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Macbeth II, iii, 28–35. OED V, 360, 4. Bedeutung. Zwei Satyrn (ca. 1615; München, Alte Pinakothek); zu diesem Themenkreis gehört auch der Trunkene Silen, wo eine Satyrfrau in sinnloser Berauschtheit versucht, ihre Kinder zu säugen, und zwei Ziegenböcke in der rechten unteren Bildhälfte miteinander kopulieren.
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tivierte und satyrnhafte Form der Sinneslust, die für den Menschen der Renaissance sowohl durch ihre Exzessivität als auch durch ihre extreme Fleischlichkeit mit der Todsünde der luxuria gleichzusetzen ist. Die allenthalben im Barock propagierte Harmonie der Trias von Venus, Bacchus und Ceres wird somit bereits bei Shakespeare einer Problematisierung unterzogen und in Anbetracht des Kontextes von Hölle, Königsmord und gender-Chaos als trügerisch und in bezug auf die prekäre Seinsordnung als desaströs bewertet. a. Auch im ‚privateren‘ Mikrokosmos der Sonette erweist sich die Verbindung von Liebe und Essen als ein perfider Hinterhalt, dessen Konsequenzen das Individuum sich nicht mehr zu entziehen vermag. Im 129. Sonett beschreibt Shakespeare – im Einklang mit den misogynen Tendenzen seiner Zeit – den Beischlaf zwischen Mann und Frau (“lust in action”)155 als einen ebenso gewaltigen wie auch unwiderruflichen Akt der Verschwendung und des beschämenden Energieverlustes: “Th’ expense of spirit in a waste of shame.”156 Bewusst auf alle Subjektivitätsformen und Possessivpronomina verzichtend bezieht der Sprecher seine Autorität aus dem Erfahrungsschatz aller Menschen bzw. Männer – “All this the world well knows”157 –, wenn er apodiktisch behauptet, dass das Verströmen essentieller Samenflüssigkeit (spirit = Sperma) beim Vaginalverkehr nicht nur eine Regression ins Wilde und Archaische, sondern vor allem ein Verbrechen darstellt, das dem Meineid und dem Mord in nichts nachsteht: “perjured, murd’rous, bloody, full of blame.”158 Die hier vorgebrachte Desavouierung der heterosexuellen Liebe, wie sie bereits von Petronius formuliert wird159 und dem Sprachduktus des male-bonding eigen ist, wird nun im zweiten Quartett um die Bildlichkeit des Essens bzw. des hastigen Verschlingens erweitert. Der seiner ratio beraubte Liebhaber empfindet den Akt der Kopulation nicht nur als eine Jagd; das Zielobjekt entpuppt sich im Moment seiner Ejakulation als ein ver-
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Z. 2. The Sonnets, 373. Z. 1. Ebd. Frank Erik Pointner verweist in diesem Kontext auch auf das damals gängige Wortspiel ‘waste’ / ‘waist’, das den Aspekt des Koitalen noch unterstreicht. Bawdy and Soul. A Revaluation of Shakespeare’s Sonnets (Heidelberg: Winter, 2003), 61. Z. 13. The Sonnets, 373. Z. 3. Ebd. „Foeda est in coitu et brevis voluptas / Et taedet Veneris statim peractae.“ Zitiert nach Pointner, 58.
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schlungener Köder, der den Mann zum einen um den erhofften Genuss bringt und zum anderen mit Hass und Wahnsinn erfüllt: Enjoyed no sooner but despised straight; Past reason hunted, and no sooner had, Past reason hated as a swallowed bait, On purpose laid to make the taker mad.160
Die in diesen Zeilen beschriebene Agonie des physisch Liebenden, die durch den stakkatohaften Rhythmus des gesamten Gedichts metrisch unterstützt wird, entlarvt die männliche Spezies als ein irrationales und instinktgeleitetes Tier, das jenseits aller Dekorumsregeln einer elaborierten ars amandi nicht umhin kann, die – vom Teufel? – ausgelegte Lockspeise des weiblichen Körpers zu verschlingen. Die sowohl in der barocken Festkultur als auch in den bildkünstlerisch inszenierten ‚Küchenstücken‘161 bei Snyders, Uytewael u.a. so opulent gehuldigte coniunctio von Venus, Bacchus und Ceres wird somit bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts durch einen Gegendiskurs relativiert und auf der Basis des noch geltenden mittelalterlichen Sündenkatalogs als Verschmelzung von gula (Völlerei) und luxuria (Wollust) diskreditiert. Obgleich im Verlauf des 17. Jahrhunderts sich die Prämissen grundlegend verändern und die Cavaliers sich nunmehr einem säkularisierten Zeitgeist verpflichtet fühlen, wird die von Shakespeare punktuell in der Tragödie wie auch im Sonett in Frage gestellte Einheit von Erotik und Essen in der Literatur der saturierten Libertins vollends ins Negative verkehrt und zerstört. Der bei Shakespeare im abschließenden Couplet formulierte Gedanke, dass die Entscheidung des Mannes für das zuvor geschilderte psycho-pathologische Inferno bzw. für die Hölle der Vagina offenkundig in der conditio humana begründet liegt, für die es vor Zolas sexuellem Determinismus keine szientifische Erklärung gibt – “yet none knows well / To shun the heaven that leads men to this hell”162 –, wird von den Cavaliers in der Gestaltung ihrer überdrüssigen Don Juans und pseudo-Dandies geteilt.
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Z. 5–8. Ebd. Dass in den dargestellten Nahrungsmitteln oft „drastische anzügliche Hinweise auf die Phallussymbolik“ und Kopulation transportiert werden, zeigt Norbert Schneider anhand von Joachim Antonisz Uytewaels Küchenstück von 1605 (Berlin, Gemäldegalerie, Staatliche Museen zu Berlin / Preußischer Kulturbesitz). Stilleben. Realität und Symbolik der Dinge (Köln et al.: Taschen, 2003), 40. Z. 13f. The Sonnets, 373.
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b. In dem zwischen 1632 und 1637 entstandenen Gedicht ‘Loves Feast’163 greift auch Suckling auf die thematische Verflechtung von Essen und Erotik zurück. Während Shakespeares lyrisches Ich sich der permanenten post-koitalen Desillusionierung in der erotischen Sisyphus-Existenz widmet, beschreibt Suckling einen donjuanesken Liebhaber, der ganz unter dem Diktat seines genitalen Verlangens stehend den Höhepunkt des Liebesmahls mit ungestümer Hast zu beschleunigen trachtet. Aus der Perspektive eines ernüchterten roué glaubt er, die sich der Vernunft entziehende Eigendynamik der Sexualität durchschaut zu haben. Daher wendet er sich, anders als in dem ersten der ‘Against Fruition’-Gedichte, nicht so sehr an einen in amouröser Hinsicht uneingeweihten Knaben, sondern nun an Amor selbst – “gentle Boy” (1) –, der mit Hartnäckigkeit und List, “power and art” (5), stets versucht, das verschlossene Herz des Sprechers zu entzünden. Mit der donjuanesken These, dass das Herz – seit Augustinus das Gefäß der göttlichen Liebe und der mikrokosmische Mittelpunkt des Menschen164 – nur eine quantité négligeable und ein Spielzeug darstelle (“that slight toy, / That foolish trifle of an heart;” 2f.), vollzieht Suckling eindeutig den Bruch mit der barocken Herzsymbolik. Für den Libertin, der an anderer Stelle, in ‘Loves Offence,’ die Liebe nur als ein skatologisches Nebenprodukt, als “the fart / Of every heart,”165 bezeichnet und durch den geradezu byronesken Reim von ‘fart-heart’ den modernen Stellenwert des Herzens drastisch dokumentiert, hat sich das Herz den hedonistischen Gepflogenheiten der Zeit angepasst. Der mit Pfeilen bewehrte Amor erscheint vor diesem Hintergrund nur als ein lästiges Relikt: So, wie die patronisierende Anrede “gentle Boy” hier nahelegt, ist die donjuaneske Amor-Konzeption ebenso wenig mit der Ikonografie des kapriziösen Cupido wie auch mit der Vorstellung des kosmogonischen Eros der Antike in Einklang zu bringen. Das gegen die Attacken Amors gewappnete Herz des Sprechers hat durch die Gewohnheit – “through long custom” (6) – Attribute und Eigenschaften angenommen, die fortan ein Festhalten an einer ars amandi, an einer durch Liebe motivierten Herzensbildung unmöglich macht: So ist es nicht nur, im Unterschied zum theologischen Postulat eines zerknirschten und empfänglichen Herzens,166 “sullen and wise” (8); es hat überdies in seiner
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Non-Dramatic Works, 51f. Vgl. hierzu den Eintrag zum Lemma ‚Herz‘ in Lurker, 298. Z. 15f. Non-Dramatic Works, 52f. Psalm 51, 17.
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kompromisslosen genitalischen telos-Bezogenheit (“will”) die Züge eines ausgewachsenen Raubvogels bekommen, der unbeirrbar nur dorthin fliegt, wo ihm auch die Beute sicher ist: And like old Hawks [= the heart] pursues that still That makes least sport, flies onely where’t can kill. (9–10)
In bezug auf die übergeordnete Thematik des Liebesmahls wird dem Habicht eine Bedeutung zugeschrieben, auf die auch – wie bereits erwähnt – Cowley in seinem späteren Zyklus The Mistress rekurriert: Als Sinnbild für die libertinistische Liebesauffassung steht der Habicht auch hier für die rein libidinöse Gier des donjuanesken Höflings, der die Erotik zu einer Beutejagd des Quantitativen macht;167 überdies symbolisiert er ein erotisches Verhalten, das durch den Verzicht auf Konventionen und ordo-Prinzipien zu einer Übersättigung führt, die sich in widerästhetischen Bildern eines orgasmischen Erbrechens (pseudo-) kathartischen Ausdruck verschafft. Ein typisches und umfassendes ordo-Bild, das zu der modern libertinistischen ‚Habicht-Mentalität‘ im Widerspruch steht, stellt das Bankett dar, das sowohl in staatspolitischer Hinsicht168 als auch im Kontext der Erotik, als “Loves Feast” (13), von der Idee des Zeremoniellen und Reglementierten geprägt ist. So wie das Staatsbankett die Hierarchie des body politic widerspiegelt, so ist auch das Liebesfest durch seine festgelegte ‚Menüabfolge‘ im Rahmen einer ars amandi gekennzeichnet von dem Gedanken einer sinnvollen Stufengliederung. In der Topik der antiken Liebesdichtung wird daher von der Beachtung der quinque lineae amoris gesprochen – einer erotischen Stufenleiter, die auf den TerenzKommentar des Aelius Donatus zurückgeht: visus, allocutio, tactus, osculum sive suavium, coitus.169 Dort, wo Suckling die persona des gelangweilten Dandys ablegt, zielt er in der Pose des Hasardeurs darauf ab, die Ordnung des Liebesfestes bzw. die quinque lineae amoris außer Kraft zu setzen. Obwohl kontradiktorisch, so konvergieren beide Selbstentwürfe somit in einem Punkt: in der Geringschätzung bzw. Ablehnung der Ero167
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Zum weiteren Kontext der Liebesjagd (‘venery’), die, wie das Liebesmahl, ebenso einen Paradigmenwechsel vom Ritual zur Willkür erfährt, vgl. Norbert Lennartz, ‘“Of Hawks and Men”: The Love-Hunt as a Sign of Cultural Change in Shakespeare and Cavalier Poetry’ Drama and Cultural Change: Turning Around Shakespeare, hg. Matthias Bauer / Angelika Zirker (Trier: WVT, 2009), 121–34. Siehe in diesem Kontext die Bankett-Szene in Macbeth, die in der chaotischen Auflösung (“Stand not upon the order of your going, / But go at once” III, iv, 118f.) die Desintegration des Staates bühnenemblematisch vor Augen führt. Curtius, 501f.
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tik und ihrer Rituale. Sucklings Liebesbankett stellt daher die Umsetzung der Lebensmaxime eines Libertins dar, der wie später Wycherleys Horner das Machiavellistische in den Liebesdiskurs übersetzt und sich über das Einhalten von Zeremonien mokiert: “ceremony in love and eating is as ridiculous as in fighting.”170 Somit wendet sich der eng mit Horner verbundene Sprecher Sucklings voller Geringschätzung gegen das Verhalten unreifer Jünglinge, die den Liebesschmerz als Heroismus interpretieren und im Einklang mit den Dekorumsregeln – “mannerly” (13) – dem gesamten ritualisierten Ablauf des erotischen Banketts beiwohnen. Ganz in der Manier der von Carew bis Wycherley geforderten ‚kühnen‘ Liebhaber inszeniert sich Sucklings Sprecher als ein erotischer Ikonoklast, der beim Liebesmahl nicht nur die Filetstücke für sich reklamiert, sondern in einer rüden und unbeherrschten Weise verlangt, den letzten (vaginalen) Gang – coitus – den anderen vier aphrodisierenden Präludien vorzuziehen: I shall be carving of the best, Rudely call for the last course ’fore the rest. (14–15)
Obgleich – wie das im 17. Jahrhundert zur Bezeichnung des Beischlafs nicht unübliche Wort ‘to carve’ beweist171 – die motivliche Verbindung von Essen und Erotik noch existiert, so fällt jedoch auf, dass die Vorstellung eines sexuellen Liebesmahls nunmehr nur noch unter dem Vorzeichen des Gewalttätigen verbalisiert wird: Es ist stets der von maßlosem Appetit – “unrestrained Appetite”172 – umgetriebene Mann, der mit seinem zum Messer transformierten Penis den weiblichen Körper tranchiert. Andererseits ist die Dekonstruktion des Liebesmahls, wie die abschließende Strophe von Sucklings Gedicht zeigt, bereits so weit fortgeschritten, dass das opulente erotische Bankett der Frühen Neuzeit nur noch in residualer Form überlebt hat. Vor allem die brevitas des letztlich auf den vaginalen Gang reduzierten Mahls kontrastiert auffällig mit den zeitaufwendigen Inszenierungen der barocken Festkultur:173 “How short a time the Feast doth last!” (17). Nahezu mit der gleichen Abruptheit, mit der die fortgeschickten Gäste Macbeths Bankett verlassen, erhe170 171 172 173
The Country Wife V, iv, 89. Zuvor hatte Horner sich schon als “a Machiavel in love” inszeniert (IV, iii, 63f.). Vgl. DSL I, 210f. – Ebenso ‘to cut’ (I, 357) wie auch solch ein Substantiv wie ‘knife’ (II, 765f.) gehören zu diesem Wortfeld des erotischen Aufspießens und Schneidens. Siehe Carew, ‘A Rapture’ Z. 112. Siehe hierzu Richard Alewyn, Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste (München: Beck, 1989 [1959]), 38.
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ben sich am Ende des erotischen Gelages die Männer; und ohne die Beachtung sowohl religiöser (“grace”) als auch weltlicher Formen und Etiketten suchen sie in ihrer koitalen Unersättlichkeit einen anderen Ort des vaginalen Genusses auf: Men rise away, and scarce say grace, Or civilly once thank the face That did invite, but seek another place. (18–20)
Die Vorstellung von der Frau als einem Ort der flüchtigen sexuellen Erfrischung, den der Libertin nach nur kurzem Verweilen und auf der Suche nach erotischen Zerstreuungen bald für einen anderen eintauscht, hat in der Literatur- und Kunstgeschichte immer wieder unterschiedliche Bilder hervorgebracht. So bedient sich noch im 20. Jahrhundert Meret Oppenheim beim Eröffnungsbankett zur Internationalen Ausstellung des Surrealismus dieser maskulinen Bilderfindung, indem sie den Körper einer liegenden Frau zu einem Büffet verwandelt, auf dem erlesene Köstlichkeiten wie Hummer174 dargeboten werden. Thomas Carew wählt in seinem Gedicht ‘Good Counsell to a Young Maid’ dagegen das weit frugalere Bild eines durstigen Pilgers, der eine als “the crystall Nimphe” (4) umschriebene Quelle aufsucht. Vor dem Hintergrund der eindeutig vaginalen Konnotation der Quelle175 bekommt nicht nur der Durst jenes “Sun-burnt Pilgrim” (1) einen unmissverständlich libidinösen Charakter; er dient auch, wie in der dritten Strophe veranschaulicht wird, als probates Vergleichsmittel für die konsumorientierte Sexualität der Libertins: Sobald der Pilger sich in oralerotischer Hinsicht ausreichend an dem vaginalen Brunnen erfrischt hat (“when his sweaty face is drencht / In her coole waves …;” 7f.), straft er seine zuvor bekundeten Huldigungsgesten Lügen und verlässt voller Verachtung und Undankbarkeit den Ort der Erquickung: … with disdainfull feet He kicks her banks, and from the place That thus refresht him, moves with sullen pace. (10–12)
Übertragen auf das erotische Verhalten des Libertins bedeutet dies aus der Sicht des vermeintlich philogynen Ratgebers, dass auch seine Adres-
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Der Hummer, der die Vagina bedeckt, ist eine surrealistische und snobbistische Abwandlung der mittelalterlichen Kröte. Auch Salvador Dali benutzt dieses Bild in einem tableau vivant. DSL III, 1294f.
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satin, nachdem ihr Liebhaber sich an ihr gelabt und übersättigt hat, ein Opfer der libertinistischen Arroganz werden wird: So shalt thou be despis’d, faire Maid, When by the sated lover tasted; What first he did with teares invade, Shall afterwards with scorne be washt. (13–16)
Die einst mit Tränen-Ejakulationen attackierte und gestürmte Vagina – die Wahl des Wortes ‘invade’ unterstreicht erneut das eminent martialische Gepräge des Liebesaktes – ist für den donjuanesken Liebhaber letztlich nur von kurzlebigem Interesse. Längst hat sich der Libertin einem anderen Bankett bzw. einer neuen fontaine d’amour zugewandt. Der ausgebeuteten und ad nauseam goutierten Geliebten, so die Warnung des Sprechers, bleibt dagegen nichts anderes übrig, als die versiegten Quellen ihrer konsumierten Jungfräulichkeit – “thy Virgin-springs” (17) – mit Tränen zu betrauern, die eher Erinnerungen an die sterile Trauer Niobes als an die prokreativen lachrimae der Maria Magdalena wachrufen. c. Vergleicht man die vielfältigen Bilder und Metaphern des Liebesbanketts – und das gilt gleichermaßen für die erotischen Inszenierungen des Surrealismus wie auch für die von Huysmans geschilderte Perversion der erotischen theophagia in der satanistischen “Messe du Sperme,” bei der der Bauch einer nackten Frau als Altar dient –, so fällt auf, dass sie weitestgehend darin übereinstimmen, dass das Verzehren des weiblichen Körpers dem männlichen erotischen Gourmet stets ein hedonistisches Vergnügen bereitet, das lediglich in seiner Intensität und zeitlichen Dauer variiert. Selbst ein so extremer Libertin wie Thomas Shadwells Don John in der Tragödie The Libertine (1675), der als sensueller Machiavellist zur Durchsetzung seines Hedonismus vor keinem Verbrechen Halt macht, bekräftigt stets aufs Neue, dass er in erotischer Hinsicht kein ‚Kostverächter‘ ist und daher die Maxime “a bellyful’s a bellyful”176 zu beherzigen versteht. Doch die donjuaneske Insistenz auf sexuelle Quantität hat zur Folge, dass in bezug auf die semantische Verflechtung von Essen und Erotik seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zwei einerseits divergierende, andererseits komplementäre Entwicklungslinien sich herauskristallisiert haben: Während in der pornografischen Literatur, und hier vor allem in Clelands Memoirs of a Woman of Pleasure, man sogar die Frau am gusta176
IV, ii, 135. The Complete Works of Thomas Shadwell, hg. Montague Summers (London: Fortune P, 1927), V, 7–93.
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torischen Genuss der Sexualität partizipieren lässt, so dass ihr vaginaler Mund – “that luscious mouth of nature”177 – in schier unersättlicher Begierde den Penis des Mannes zu verschlingen scheint, verwandelt sich in der Versdichtung seit den Cavaliers der erotische Gourmet zunehmend zum Gourmand, der ganz in der Manier von Cowleys Habicht, sich an der Sexualität übersättigt und sich im orgasmischen Erbrechen eine nur zweifelhafte Erleichterung zu verschaffen vermag. Diese Auffassung von Sexualität, die in mehrfacher Hinsicht mit den Symptomen einer bulimischen Essstörung avant la lettre übereinstimmt und somit die alt überkommene Trias von Venus, Bacchus und Ceres einer bitter zynischen Persiflage unterzieht, ist auch Shakespeare nicht unbekannt. In Othello lässt er Emilia als Stimme eines sexuellen Pragmatismus sagen: “They [= the men] are all but stomachs, and we all but food: / They eat us hungerly, and when they are full / They belch us.”178 In Shakespeares dystopischem Tragödienverständnis stellt Emilia – ähnlich wie die Amme in Romeo and Juliet – jedoch nur einen Aspekt, einen skeptizistischen contre-texte in der Pluralität der Erotikkonzeptionen dar. Der sexuelle Nihilismus des Earl of Rochester hingegen verzichtet nicht nur auf die Perspektive der Desdemona; das negative und libertinistische Bild der Sexualität, bei dem die Liebenden sich verspeisen und anschließend wieder ‚herausrülpsen,‘ wird bei ihm zu einem umfassenden Paradigma des Ekels, zu einem horror sexualis weiterentwickelt. Diese Thematik tritt dabei in Widerspruch zu der Position von Literaturhistorikerinnen wie Marianne Thormählen und Gillian Manning, die heutzutage versuchen, Rochesters Reputation als roué zu revidieren, indem sie sich auf eine Zeile aus dem Gedicht ‘Artemizia to Chloe’ stützen, wo die Liebe definiert wird als “[t]hat Cordiall dropp Heav’n in our Cup has throwne, / To make the nauseous draught of Life goe downe.”179 Solche nachträglichen Salvierungsbestrebungen müssen jedoch ebenso mit einem caveat versehen werden wie eine allzu kühne Neukartierung der Literatur, derzufolge Rochester bald als Barockdichter unter Donne und Marvell, bald als poetischer Vertreter einer vor Steele und Cibber auftretenden Empfindsamkeit klassifiziert wird.180 Berücksichtigt man vor al177 178 179 180
Memoirs of a Woman of Pleasure, 134. Othello III, iv, 105–07. Z. 44f. Works, 63ff. Das Spektrum der Interpretationsmöglichkeiten wird hier abgesteckt zum einen durch V. de S. Pinto ‘John Wilmot, Earl of Rochester’ (in The New Pelican Guide to English Literature, hg. Boris Ford [Harmondsworth: Penguin, 1984], 343–55) und zum anderen durch Marianne Thormählens später ausführlich zitierter Studie.
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lem die Tatsache, dass das zuvor erwähnte Gedicht zur Gattung der Versepistel zählt und sich somit per definitionem durch eine perspektivische Verzerrung auszeichnet, so wird evident, dass es sich hier weniger um eine offizielle erotische Palinodie als um ein literarisches Spiel mit Wahrnehmungen und epistemologischen Masken handelt.181 Wohl wissend, dass die Literatur ein gefährliches Terrain darstellt – “Poetry’s a snare”182 – und dass der Zustand der Inspiration vom Leser oft als Wahn ausgelegt wird, zeichnet Artemizia vor dem Hintergrund ihrer idealistischen amor-Konzeption ein Bild von der Liebe, das in seinen Degenerationserscheinungen sich als ebenso ekelerregend – “nauseous” – erweist wie der gesamte Lebenstrank, den es zu versüßen gilt. Während Rochester qua Artemizia die Liebe hier – in Verkehrung der Vorstellung vom commercium sacrum – unter merkantilen Gesichtspunkten betrachtet und als “an arrant trade”183 charakterisiert, kapriziert er sich in anderen, aus einer vornehmlich maskulinen Perspektive verfassten Gedichten auf die Semantik des im Erbrechen invertierten Essens. Der locus classicus dieser ausnahmslos ‚unappetitlichen‘ Erotikauffassung befindet sich, wie bereits in anderem Kontext kurz skizziert, in Rochesters kontroversem und von der Kritik als “unprintable”184 eingestuften Gedicht ‘A Ramble in St. James’s Park.’ Durch die persona eines ebenso angetrunkenen wie auch frustrierten Libertins wird dem Leser das Bild einer Mätresse vermittelt, die, auf ihr gefräßiges Genital – “your devouring cunt” (119) – reduziert, das bis ins 19. Jahrhundert virulente Klischee von der Frau als einem undichten bzw. überbordenden Gefäß, ‘a leaky vessel,’ bedient. Im Unterschied jedoch zu Rabelais’ regenerativer Konzeption des offenen und grotesken Körpers überwiegt hier der Ekel vor der bulimischen Unersättlichkeit der Vagina. Mit beispielloser Detailgenauigkeit inszeniert der Sprecher das weibliche Geschlechtsorgan als eine donjuaneske Völlerin, die, nachdem sie das Sperma der halben Stadt verschlungen hat, vomierend und spuckend zu ihrem Liebhaber nach Hause zurückkehrt. Gemäß der modernen Vorstellung von der Sexualität als einer prolongierten Essstörung bleibt der lange im medizinischen Diskurs der Frühen Neuzeit
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Vgl. auch die Spekulationen zu Rochesters deathbed recantation. In dieser Hinsicht ist Rochesters biografische Rezeption mit der von Oscar Wilde und Lord Byron vergleichbar, insbesondere weil man versucht, letzteren immer wieder mit dem Nimbus des Heros zu versehen, um von seinen sexuellen Eskapaden abzulenken. Z. 16. Z. 51. Ronald Berman in The Kenyon Review (1964), 362. Zitiert nach John Wilmot, Earl of Rochester. The Complete Works, hg. Frank H. Ellis (London: Penguin, 1994), 330.
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in Aussicht gestellte kathartische Effekt des Beischlafs nun aus: Vielmehr lechzt die an der exzessiven Promiskuität sich erbrechende Vagina bereits nach einem weiteren Quantum Sperma, das sie in provozierender Verkehrung klassizistischer moderatio-Prinzipien zu sich nimmt.185 Ein vergleichender Blick auf die pornografische Literatur des späteren 19. Jahrhunderts gibt weiteren Aufschluss über die pejorative und protodekadente Bewertung der Sexualität in der libertinistischen Versdichtung der Restaurationszeit: Ist das fiktive Ich in My Secret Life grundsätzlich der Überzeugung, dass die Lust am Koitus gesteigert werde, wenn das Ejakulat verschiedener Männer sich in der Vagina vermischt,186 so artikuliert sich in Rochesters Darstellung eines von Sperma übersättigten weiblichen Genitals ein horror corporis, den in einem dandyistischen Selbstentwurf zu überwinden dem Sprecher die rationale Beherrschtheit letztlich fehlt: “And Reason lay dissolv’d in Love” (132). Während der Dandy sich dem weiblichen Geschlecht ganz entzieht, nicht zuletzt weil ‘foutre’ für ihn soviel bedeutet wie “c’est aspirer à entrer dans un autre, et l’artiste ne sort jamais de lui-même,”187 ist der Libertin Rochester’scher Provenienz gegen seinen Willen gezwungen, dem genitalen “vast Meal of Nasty Slime” (118) beizuwohnen. Angewidert über die Sperma-Mengen, die die vagina omnia edax sich in ihrer willkürlichen Gefräßigkeit einverleibt hat, kann er überdies nicht umhin, am bulimischen Sexualverhalten der Frau aktiv und in blasphemischer Verkehrung der Abendmahlssymbolik188 zu partizipieren – “I was content to serve you up / My Ballock full, for your Grace Cup” (121f.) – bzw. die Symptome dieses zwanghaften orgasmischen Erbrechens auf sich selbst zu übertragen. Dass diese sexuelle Bulimie kein prädominant weibliches Phänomen, sondern vor allem ein Distinktivum der libertinistischen Erotikauffassung der Männer darstellt, lässt sich an mehreren Gedichten Rochesters ablesen. Rochesters Frauen – so die als Exemplum der ‚Tugend‘ geltende Herzogin von Cleveland, von der behauptet wird, dass sie in der Ausübung der Fellatio eine Unzahl von Penisen verschlungen habe (“[She] hath swallowed Pricks as numberlesse, as th’ocean hath Sand”)189 – nei-
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Z. 113–16. Zitiert nach Marcus, 177. Baudelaire, ‘Mon cœur mis à nu’ XXXIX, Œuvres complètes I, 702. OED, VI, 721. – Die Vagina als umhergereichter Abendmahlskelch, aus dem jeder sich bedient, ist eine deutliche Pervertierung religiöser Terminologie. Das Verhältnis von texte und contre-texte hat sich hier nicht nur umgekehrt; der theologische Diskurs wird hier vollends desavouiert. ‘Seigneur Dildoe’ Z. A130. ‘Disputed Works,’ Poems, 251.
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gen nicht nur seltener zur Übersättigung; vielmehr wird das Übermaß an fleischlichen Genüssen von ihnen, wie ‘Seigneur Dildoe’ darlegt, geradezu gesucht und kultiviert.190 In dieser hedonistischen Exzessivität stehen sie Shadwells Don John, der nach dem Paradoxon lebt “we’ll surfeit in delights,”191 in nichts nach, während die männlichen Sprecher-Figuren stets von einem Gefühl des Ekels befallen sind. Diese physische Aversion gegenüber der monströsen Unersättlichkeit der Vagina verschafft sich zum einen ein Ventil in einem extrem misanthropischen Pyrrhonismus, zum anderen äußert sie sich in einem drastisch formulierten Geschlechterantagonismus, demzufolge für die Restaurationsliteraten die Menschheit eingeteilt ist in Völler(innen) und Essgestörte, in pseudo-Dandys und “she-Gargantua[s].”192 d. Das zu den Rochester-Apokryphen zählende Gedicht ‘I Rise at Eleven’ konfrontiert den Leser mit einem Erotomanen wider Willen, der aus Furcht vor der Gonorrhöe einer Prostituierten in die Hand ejakuliert und anschließend in ihren Schoß bzw. in ihre Vagina ‚spuckt:‘ “I spend in her Hand, and Spew in her Lap.” Damit hat die Frau an dieser Stelle eine beispiellose Degradierung erfahren, die letztlich ihre Etikettierung als “[a] Passive Pot for Fools to spend in” in ‘A Ramble’ noch an Zynismus bei weitem übertrifft. Die aporetische Vorstellung einer Sexualität, die bei den Akteuren statt Sinnlichkeit nur Übelkeit und Brechreiz auslöst,193 antizipiert bereits hier die zwanghafte und morbide Erotik in Michel Houellebecqs Extension du domaine de la lutte (1994): Beim Anblick eines Mädchens verspürt der Ich-Erzähler sowohl ein Bedürfnis, sich zu übergeben (“je commençais à avoir envie de vomir”) als auch eine Erektion (“et je bandais”).194 190
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Beim Anblick von Count Cazzo [ital. = Schwanz] kann Tom Killigrews Gattin zunächst nicht umhin, dem Diktat ihrer Eingeweiden nachzugeben: “Att the sight of this Seignior [she] did Belch, Fart, and Snort” (A119), doch dann heißt sie ihn genüsslich willkommen. Poems, Ebd. The Libertine I, i, 37. The Rover Part 2, III, i, 26f. Eine komische Abwandlung dieses Motivs findet sich in Byrons Don Juan, wo der Protagonist beim Lesen eines Liebesbriefs von der Seekrankheit übermannt wird. Mit diesem Bild – bei dem sich programmatischerweise ‘pathetic’ auf ‘emetic’ reimt – desavouiert Byron die romantisch-idealistische Liebeskonzeption. Don Juan II, 20, 155ff. Nach dem Erbrechen, bei dem nur enttäuschend wenig heraus kommt (“la quantité de vomissures s’est avérée faible et décevante”) geht er sofort zur Masturbation über. Ejakulation und Erbrechen sind somit gleichgestellte Vorgänge. Extension du domaine de la lutte (Paris: Flammarion, 1994), 113.
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Auch das auf 1673 datierte Gedicht ‘Tunbridge Wells’195 bleibt der thematischen Überblendung von Sexualität und Ekel verpflichtet: Hinter der Maske des Zynikers beschreibt Rochesters persona das ebenso geschäftige wie auch amouröse Treiben in einem Kurort, der vor allem durch den Besuch Karls II. und seiner Gemahlin Katharina in Mode gekommen war. In einer von der Kritik mehrfach beanstandeten EpisodenStruktur196 beleuchtet der Sprecher, wie seit dem sexualisierten Sonnenaufgang um 5 Uhr – “when Phœbus rais’d his head [= Eichel] / From Thetis’ Lapp” (1f.) – die Menschen ihr libidinöses Verlangen beim Rendezvous der Ignoranten und Toren (“The Rendevous of fooles, buffoons, and praters, / Cuckolds, whores, Citizens, their wives and daughters;” 4f.) inszenieren. Inbesondere in bezug auf die erotischen Gepflogenheiten seiner Zeitgenossen kann der Sprecher nicht umhin – auch ohne den Einfluss des übelschmeckenden Heilwassers –, sich dem Diktat seines empfindlichen Magens (“My Squeamish Stomach” 6) zu beugen und seinem Ekel im Erbrechen freien Lauf zu lassen: “And without drinking, made me purge and spew” (10). Wie auch später Smolletts Humphry Clinker (1771) und Jane Austens Northanger Abbey (1818) in bezug auf Bath zum Ausdruck bringen werden, ist das Unbehagen, das der Satiriker und Moralist bei der Beschreibung von Bade- und Kurorten empfindet, längst zu einem literarischen Topos geworden.197 Doch Rochesters Sarkasmus ist nicht nur auf die Ostentation des an diesen Orten aufgeführten Jahrmarktes der Eitelkeiten und ihrer artifiziellen mores gerichtet. Sein durchdringender und geradezu nihilistischer Blick zielt immer wieder auf die sexuellen Gewohnheiten der Menschen, die sie trotz aller gewagten Selbstentwürfe letztlich nur als genitalbezogene und sub-humane Wesen dekuvrieren: Während die einen, im Einverständnis mit ihrer Hebamme – “truest freind to Lechery” (150) – die Kur mit Kalkül dazu benutzen, aus ihren Männern gehörnte Monstren zu machen, beabsichtigt die Gattin eines hohen Geistlichen und gesellschaftlichen Dilettan195 196 197
Works, 49ff. Earl Miner, The Restoration Mode from Milton to Dryden (Princeton NJ: Princeton UP, 1974), 413. Zur Textgenese siehe überdies Works, 548ff. Auch Lovelace widmet ein Gedicht dem Kurort Tunbridge Wells. Der Unterschied zu Rochesters drastischer und misanthropischer Erotikauffassung kann jedoch kaum größer sein: Lovelace beschreibt, wie die Heilwasser (“Yee happy floods!” 1) die Genitalien seiner Geliebten umspülen – “The sacred conduicts of her Wombe” (2). Obwohl mit den Düften orientalischer Alkoven vertraut übersteigt der Wohlgeruch von Lucastas Vagina alle Vorstellungsbereiche. Der Cavalier zeigt sich der Topik der schönen Vagina verpflichtet, während bei Rochester der sexuelle Nihilismus diese Form der contretextualité nicht mehr zulässt. ‘Lucasta, taking the waters at Tunbridge. Ode’ Poems, 53f.
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ten, sich mit Hilfe der Heilquellen des spermatischen Bodensatzes zu entledigen, den ihr Mann beim orgasmischen Erbrechen in ihr zurückgelassen hat: Importance drank too, thô she’d been no sinner, To wash away some Dreggs he had spew’d in her. (80–81)
Diese nur unzureichend verschlüsselte Anspielung auf den damaligen Archidiakon von Canterbury, Samuel Parker, und seine Ehefrau, macht abermals augenfällig, dass für den Libertin das bulimische Sexualverhalten nicht als eine aberratio der donjuanesken rakes hinwegdiskutiert werden kann; für Rochester, der die conditio humana – und dies impliziert auch die menschliche Sexualität – als schwerwiegende Krankheit (“Humanity’s our worst disease;” 181) begreift, stellt der amor eroticus einen Dissonanzfaktor dar, der, der späteren Erotikkonzeption des Marquis de Sade nicht unähnlich, die Aufklärung und ihr Theorem vom vernunftbegabten Menschen bereits frühzeitig konterkariert: “Our selves with noise of reason wee do please / In vaine” (180f.). Zeichnet sich die Pornografie der späteren frivolen Romane des 18. Jahrhunderts vor allem dadurch aus, dass aller genitalen Aggression des Mannes zum Trotz die Sexualität stets ein kulinarisch-sensueller Höchstgenuss, “the highest diet of pleasure,”198 bleibt, dessen iterativer Charakter Cleland mit der Formel “chewing the cud of enjoyment”199 umschreibt, so stimmen die Restaurationsdichter weitgehend darin überein, dass der Geschlechtsakt, das hedonistische ‚Vernaschen‘ eines Menschen, zunehmend einen sowohl kannibalistischen als auch infernalischen Bedeutungshorizont entfaltet. Der Ort, an dem sich das Assoziationsfeld des Infernos mit dem der homophagen Bedrohung und des pervertierten Essens trifft, ist erneut die von Mythen und Legenden des Aberglaubens entstellte Vagina. Nach einleitenden Bemerkungen zur Höllen-Ikonografie der modernen Sexualität wie auch zur Konzeption des Monströsen soll im folgenden detailliert untersucht werden, wie sehr in der männlichen Wahrnehmung das Mythologem der vagina dentata mit der Vorstellung der vagina inflammata fusioniert. Durch einen grundlegenden transformatorischen Akt in der Phantasie des Mannes wird aus dem verniedlichten “pouting-lipt mouth”200 plötzlich ein Angst und Entsetzen einflößender Höllenschlund Breughelscher Provenienz. 198 199 200
Siehe hierzu Complete Works, hg. Frank H. Ellis und seine Anmerkungen, 342f. Memoirs of a Woman of Pleasure, 184. – In abgewandelter Form benutzt Rochester diese Metapher als “To Chew the Cud of Misery.” ‘A Ramble in St James’s Park’ Z. 163. Memoirs of a Woman of Pleasure, 77.
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VI. Formen und Deformationen der Erotik in der Literatur und Kunst der klassizistischen Früh-Moderne 1. Erotische Infernokrisen – Ein Überblick über die Emanzipation des monströsen Sexus 1862 veröffentlicht George Meredith den aus fünfzig 16-zeiligen Sonetten bestehenden Gedichtzyklus Modern Love. Ganz unter dem traumatischen Eindruck des Scheiterns seiner Ehe stehend entwirft der Autor ein Bild von der Liebe, das weitgehend geprägt ist von der Destruktivität des Todes. Die Identität von Amor und Thanatos, die im 9. Sonett zum Paradoxon einer ins Gegenteil verkehrten Prokreation führt – “Thus piteously Love closed what he begat” (50, 1)1 –, wird nun nicht mehr durch das Mythologem der orgasmischen piccola morte bekräftigt, sondern zu einer Konfiguration der Sterilität, des Versagens und der suizidalen Verzweiflung umgewertet. Im Gegensatz zu Donnes Liebespaar, das in engem physischen und seelischen Kontakt das ‚Phönix-Rätsel‘ in der koitalen Verschmelzung nachvollzieht, erscheinen Merediths Akteure bereits in der ersten Strophe gleichsam zu Grabskulpturen – “sculptured effigies” (1, 14) – petrifiziert.2 Auf dem Sarkophag ihres Ehebettes, “[u]pon their marriage-tomb” (1, 15), liegen sie wie von einem Schwert getrennt, das endgültig alle phallisch-prokreativen Bezüge eingebüßt hat.3 Die Dissoziation von Schwert und Scheide, die Hiltrud Gnüg bereits am Beispiel von Clelands Memoirs of a Woman of Pleasure als ein Distinktivum der Moderne identifiziert,4 wird hier nun zum Symbol einer aporetischen Sexualität. Seines komplementären Bestandteils beraubt 1 2
3 4
The Poems of George Meredith, hg. Phyllis B. Bartlett (New Haven / London: Yale UP, 1978), I, 115–45. Ein Vergleich mit Donnes ‘The Extasie’ gibt an dieser Stelle Aufschluss über die Differenz der Weltbilder. Auch Donnes Liebende liegen wie “sepulchrall statues” (Z. 18) nebeneinander; doch dieser katatonische Zustand ist nur das Präludium zur Ekstase, die Phase der Verbindung der Seelen, die dem sexuellen Akt vorausgeht. Siehe auch DSL III, 1351f. Gnüg, Der erotische Roman, 150.
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steht das Schwert hier weniger für „die aggressive Dynamik männlicher Sexualität“5 als für den endgültigen Zusammenbruch jeder erotischen Zweierkonstellation. Im Kontext von Totengruft und Grabfiguren steht das Schwert hier überdies – im Unterschied zur Erotisierung des Todes im Barock – für die zunehmende ‚Mortalisierung‘ des Eros, wie sie in der Moderne in der Abwandlung des vita in morte- bzw. mors in vita-Topos thematisiert wird. Die von Spermafäden umgebene Madonna, wie sie Edvard Munch umrahmt von einem wogenden schwarzen Liniengeflecht darstellt, ist nur ein Beispiel für die Finalität des erotischen Begehrens im Fin de Siècle: Nicht nur ihre tiefliegenden und geschlossenen schwarzen Augen, sondern vor allem der an ein Totenskelett erinnernde Fötus in der linken unteren Ecke des Bildes unterstreichen den Gedanken, dass der Geschlechtsakt nun einem unheilvollen Abtauchen in die Niederungen des Todes gleichkommt. Dass der ent-erotisierte Tod keine regenerativen und erotisch belebenden Komponenten mehr aufweist, wird überdies in Merediths Gedichtzyklus durch eine durchgängige Bildlichkeit des Infernalischen belegt. Im Vorgriff auf die Sprache der Unterwelt und Hölle in der spätviktorianischen Dichtung vergleicht Merediths Erzähler bereits in der ersten Strophe das unterdrückte Schluchzen der Frau mit medusischen Schlangen, die den Mann fortwährend mit ihrem Gift bedrohen: The strange low sobs that shook their common bed, Were called into her with a sharp surprise, And strangled mute, like little gaping snakes, Dreadfully venomous to him. (1, 3–6)
Wie deutlich der sexuelle private mode sich zu einer saison en enfer verwandelt hat,6 lässt sich überdies an Metaphern nachweisen, wo der Sprecher zurückgreift auf Bilder wie “Love’s corpse-light” (17, 16) und auf die Vorstellung eines Abgrundes (“red chasm”), der ihm in einem “glimpse of hell” (22, 4) die unüberbrückbare Distanz zwischen den nunmehr Entfremdeten vergegenwärtigt. Der Suizid der Frau, mit dem der Sonettzyklus beschlossen wird – “Lethe had passed those lips” (49, 16) – steht letztlich nur für die unabänderliche Konsequenz einer Inferno-Er5 6
Ebd. Das Leitmotiv der Hölle zeigt sich vor allem an der Transformation der Augen, die entgegen der vaginalen Konnotation im Barock nun mit einem Giftbecher, “a poison-cup” (9, 11) korreliert werden. Andere Wörter wie “the pit” (23, 6), “serpent” bzw. “worms” (33,11), die in der Frühen Neuzeit eindeutig genital belegt sind, stehen hier nur noch für das Erlebnis der Höllenqual.
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fahrung, in der der von Gott losgelöste amor eroticus sich zu einer luziferischen “subtle serpent” (26, 9) transformiert hat. In welchem Ausmaß die Säkularisierung der Höllenstrafe zum Gegenstand der Literatur des 19. Jahrhunderts geworden ist, hat Michael Wheeler in seiner Studie Heaven, Hell and the Victorians ausführlich dargelegt.7 Indem er sein Hauptaugenmerk auf Autoren wie Meredith, Swinburne, Gissing oder James Thomson B. V. richtet, bleiben jedoch aufgrund der vorgenommenen Selektion Aspekte wie die Infernalisierung der Sexualität im 19. Jahrhundert unerwähnt. Unbeachtet bleibt daher nicht nur die Tatsache, dass die Desintegration von Dorian Grays sexueller Identität mit einem unaufhaltsamen descensus ad inferos gleichgesetzt wird; ebenso übersehen wird auch, dass Judes erotische Desillusionierung von Hardy explizit als ein Aufwachen in der Hölle bezeichnet wird: “[…] when he awoke it was as if he had awakened in hell. It was hell – ‘the hell of conscious failure,’ both in ambition and in love”8 (Hervorhebung NL). a. Die Höllenerfahrung der Liebe, die Jude in den säkularisierten Rollen des (entmannten) Simson und Hiob durchleidet, unterscheidet sich jedoch erheblich von den vielen erotischen Pandämonien, wie sie das Sexualitätsverständnis seit dem Beginn der Moderne umschreiben. Während Jude seinen Tribut an die Schopenhauersche Metaphysik der Geschlechtsliebe, seine unvermeidliche Hingabe an “the complete female animal”9 mit erotischer Tristesse büßt, nimmt das Teuflische der Sexualität in anderen Werken oft eine gegenteilige Ausdrucksform an: In der Imagination der Autoren und Künstler seit den Cavaliers wird die Hölle zu einem eminent erotischen Raum umgeformt, in dem das Körperliche und Genitalische sich zu einer Exzessivität steigern, so dass die infernalischen Qualen nicht so sehr in der Abwesenheit als vielmehr in der erdrückenden Übermacht und surrealen Hypertrophie des Sexus bestehen. Im drastischen Unterschied zu den Weltgerichtstafeln des Spätmittelalters, in denen zur Linken Christi oft grotesk verrenkte und deformierte Gestalten für ihre sexuellen Ausschweifungen von diabolischen Wesen gemartert werden, hat die moderne Hölle des Erotischen ihren punitiv eschatologischen Charakter verloren; die phantasmagorischen Misch7 8 9
(Cambridge: Cambridge UP, 1994), 187ff. Jude the Obscure, 124. Ebd., Variante in den Ausgaben von 1903 und 1912.
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figuren und chimärischen Kreaturen, die bei Lochner, Bosch und anderen, aber auch im Skulpturenprogramm der mittelalterlichen Kathedralen den infernalischen contre-texte zu einer räumlich getrennten Gegenwelt des Harmonischen darstellen,10 drängen nun in der Moderne mit aller Macht an die Oberfläche des Bewusstseins. Während in Shakespeares Midsummer Night’s Dream die erotische Faszination eines Eselskopfes als Teil einer karnevalesken Inszenierung des Sexuellen verstanden werden muss, kommt es in der Moderne zunehmend zu einer Emanzipierung des Monströsen, so dass in Analogie zur zunehmend verlagerten Balance von Dr. Jekyll zu Mr Hyde das Animalische und Widernatürliche die Wirklichkeit sukzessive okkupieren. Übernimmt man die von Paul Goetsch diskutierte Definition des Monsters als das Andere, das Abjekte und ins Unterbewusste zurückgedrängte Unheimliche,11 so bekommen die unzähligen alpdruckhaft verzerrten Pandämonien des Genitalischen in der Literatur der Moderne eine neue Bedeutungsfacette: Die aus dem Mittelalter ererbten Formen des Monströsen wie die incubi, succubi, die ‚MannWeiber‘ (viragos, haec-vir-Figuren), die ‚Langtüttin‘12 oder die BauboGestalt, die auf einem Schwein reitend ihre abgrundtiefe Vagina zur Schau stellt,13 werden spätestens seit Suckling und Rochester zu vielgestaltigen Visualisierungen sexueller Tabus, die nun – in Ermangelung eines theologischen Gegengewichts – unkontrolliert und überall hervorbrechen. Vor diesem Hintergrund betrachtet stellen Kafkas Verwandlung (1915), in der sich ein junger Mann plötzlich zu einem überdimensionierten Käfer transformiert findet, oder Philip Roths Roman The Breast (1972), der die Verwandlung des etablierten Literaturprofessors und Kafka-Experten David Kepesh beschreibt, sexuell motivierte Metamorphosen dar, die die Höllenszenerien bei Bosch in die säkularisierte Moderne übertragen und in der Folge von Suckling, Rochester u.a. die Bestialisierung des homo eroticus drastisch visualisieren.
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Vgl. hierzu Jurgis Baltrusaitis, Réveils et prodiges: le gothique fantastique (Paris: Flammarion, 1960). Monsters in English Literature: From the Romantic Age to the First World War (Frankfurt/ M., Berlin u.a.: Lang, 2002). Die Darstellung des Monströsen als des Tabuisierten, bei der auch auf Freuds Terminus des Unheimlichen zurückgegriffen wird, führt Goetsch an dem Film King Kong vor: Der Menschenaffe ist das überdimensionierte Tier, das die Zivilisation bedroht; es ist die Hypertrophie des Libidinösen, die plötzlich hervorbricht, 14ff. Leander Paetzold, Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister (München: Beck, 1990), 119. Siehe Faust I ‚Walpurgisnacht‘ Z. 3962–67. Sämtliche Werke. Faust (Texte), hg. Albrecht Schöne (Frankfurt/M.: DKV, 1994), 171.
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Spielt der Phallus sowohl im erotisierten Raum der Hölle als auch in der Morphologie des von bocksfüßigen Satyren hergeleiteten Teufels stets eine wichtige – zur Vorstellung des priapistischen Gottessohns komplementäre – Rolle, so wird er in der Moderne nun zum Symbol des entfesselten Monströsen. In den Zeichnungen und Lithografien Félicien Rops’ reklamiert er eine eigentümliche, die Persönlichkeit des Mannes gänzlich ausblendende Autonomie: So stolziert bald ein erigierter Penis, bekleidet mit einem Jackett, aus dem die Hoden hervorquellen, über die Straße, bald bewegt sich nur mühsam auf dürren Beinen ein phallischer Greis voran, der von der Last seines erschlafften Skrotums nach vorne gebeugt wird; auf einem anderen Bild reitet eine den Betrachter kokett anlächelnde Frau auf einem monumentalen Phallus, während wiederum auf einem weiteren Blatt eine lasziv sich räkelnde Frau von einem oktopusartigen Geschöpf mit unzähligen phallischen Tentakeln vaginal und oral penetriert wird. Tragikomische Darstellungen dichotomisch geteilter Menschen, die von Rochester bis Moravia (Io e lui) unter dem Imperativ ihres Genitals handeln und in geradezu schizophrener Manier sich mit ihm überwerfen, werden von Rops’ sexuellen Pandämonien sowohl antizipiert als auch übertroffen. In seiner infernalischen ‚Pornokratie,‘14 die nur im Kontext des Monströsen seit dem 17. Jahrhundert verstanden werden kann, werden Frauen von Riesenphalloi aufgespießt, kopulieren seriöse und befrackte Herren mit Schweinen, perforiert Luzifer selbst mit einem schlangenförmigen Penis eine auf dem Altar ausgestreckte Frau, und nicht zuletzt ist es der Tod, der in Verkehrung des barocken Liebestodes in der mittelalterlichen Gestalt des Knochenmanns mit Inbrunst bei einer nackten Frau den Cunnilingus praktiziert. Auf die unzähligen Medusen, Vampire, Sphingen und die anderen Verkörperungen des Monströsen fixiert scheint es der Aufmerksamkeit Goetschs entgangen zu sein, dass der Einbruch des Libidinösen sich in einer eigentümlichen Ikonografie der infernalischen Monstrosität Ausdruck verschafft.15 Dabei sind die bizarr vergrößerten Phalloi, die nicht nur bei Rops, sondern auch bei Beardsley die Männer zu anatomischen Kuriositäten verwandeln, einer alten Formensprache verpflichtet, die Dominique Iehls Konzept des proliferierenden Grotesken, der ‘grotes-
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Vgl. sein Gemälde mit dem Titel Pornokratès (1878), in dem eine nackte Frau mit Augenbinde ein Schwein an der Leine führt, bzw. im Zustand der Blindheit von der Verkörperung der Wollust geführt wird. Lediglich Beardsleys Under the Hill findet bei Goetsch kurze Erwähnung, 262f.
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que du foisonnement,’16 um einen weiteren wichtigen Aspekt ergänzt: Im Unterschied zu der dem (komischen) Grotesken zugrundeliegenden sexuellen Gigantomanie bei Rabelais – “ung grant trou”17 oder “la couille si longue”18 –, die ausschließlich auf dem telos-bezogenen Gedanken der Fruchtbarkeit und der Regeneration beruht, erweisen sich die missproportionierten und oft vom Körper isolierten Geschlechtsteile sowohl in Rops’ als auch in Rochesters düsterem Pornutopia nahezu ausnahmslos als steril. Insbesondere Rops’ ithyphallisch imaginierter Satan, der ganz in Übereinstimmung mit der ikonografischen Tradition eine Parodie des barocken Christus darstellt, fügt sich in diese Bildsprache des Anti-Kreatürlichen und Monströsen ein: In seiner bocksfüßigen Überdimensioniertheit verkörpert er das Abjekte, das bislang sorgsam in die Hölle verschlossene Tabu, das aber nun seit dem Scheitern der Aufklärung die Grenzen des Rationalen sprengt und in der Gestalt des pervertierten Sämanns das Postulat der modernen Infertilität darstellt.19 Die in diesem Kontext zutage tretende paradoxe und unüberbrückbare Kluft zwischer genitaler Exuberanz und prokreativem Versagen, zwischen libidinöser Gier und vaginalem Abscheu, wie er sich nicht zuletzt in grotesk sodomitischen Kopulationen mit Tieren wie Schweinen, Affen und Haien20 Ausdruck verschafft, stellt ein weiteres wesentliches Charakteristikum des modernen amor diabolus dar, das insbesondere die décadence und ihre psychopathia sexualis kulturgeschichtlich mit der libertinistischen Literatur des 17. Jahrhunderts verbindet. Nicht nur die Vorstellung vom infernalischen Abgrund der Vagina, sondern auch die groteske Inszenierung des Menschen als satyrnhaftes Ungeheuer mit sowohl übergroßem als auch infertilem Phallus lässt bei aller Divergenz der Formensprachen eine Korrelation der Epochen als sinnvoll erscheinen.
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‘Quelques aspects du grotesque dans le théâtre allemand au seuil de l’expressionisme’ Mélanges offerts à Claude David pour son 70e anniversaire, hg. Jean-Louis Bandet (Bern / New York / Frankfurt/M.: Lang, 1983), 234. Pantagruel, première publication critique hg. V. L. Saulnier (Genève: Droz, 1965), Kap. XII, 95. Ebd., 93. Hier handelt es sich um die Verkehrung eines emblematischen Konzeptismus, wie er bei Octavius Vaenius (Otto van Veen) und anderen vorkommt: Gott als prokreativer Sämann. Les Chants de Maldoror II, 13, 212ff. “Deux cuisses nerveuse se collèrent étroitement à la peau visqueuse du monstre …” Lautréamont benennt den weiblichen Hai expressis verbis als Monster.
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b. Die allem zugrunde liegende Erotisierung der Hölle bzw. die Infernalisierung des Eros ist Bestandteil einer Topik, die zwar im 19. Jahrhundert stets variiert wird, auf die aber bereits sowohl Boccaccio als auch Aretino zurückgreifen: ‚Den Teufel in die Hölle heimschicken‘ (“come il diavolo si rimetta in Inferno”)21 stellt letztlich nichts anderes dar als eine Paraphrase, mit der Boccaccio den Geschlechtsakt in den erweiterten Kontext eines Welttheaters stellt. Was zunächst wie ein Exorzismus anmutet, wird vor dem Hintergrund einer elaborierten Metasprache der Sexualität zu einer karnevalesken Bestätigung eines ganzheitlichen Weltempfindens. Dabei wird der Penis zum einen als ein dämonisches Wesen in den Höllenregionen des Körpers imaginiert, dem bei Alexander Munday eine Äbtissin mit dem Weihwasserkessel ihrer nassen Vagina zu begegnen versucht.22 Zum anderen wird er in der Phrase von der ‚Auferstehung des Fleisches‘ (“la resurrezion della carne”)23 gleichsam mit eschatologischen Konnotationen versehen. Boccaccios Inszenierung des Geschlechtsverkehrs als ein Oszillieren zwischen ascensio und descensio, zwischen Gottesdienst und Teufelsbeschwörung bzw. -austreibung gibt Aufschluss über die Bedeutung der Sexualität im alten, von der Seinskette strukturierten Denkmodell. So wie sich das Leben als ein Balanceakt zwischen Himmel und Hölle, zwischen guten und bösen Mächten vollzieht, so ist auch die Sexualität des Mittelalters und der Frühen Neuzeit fest verortet in den positiven und negativen Bereichen der chain of being. Dass unter dem Blickwinkel der karnevalesken Inversion das Teuflische sogar als komisch und burlesk beschrieben wird, ist dabei ein weiteres Indiz für das alchimistische Verfahren, Heterogenes zu verbinden und das im Teufel personifizierte Böse in der Figur eines bramabasierenden Kämpfers der Lächerlichkeit preiszugeben: Als Abkömmling der mittelalterlichen Verkörperung des Lasters (‘vice’) verwandelt sich der Teufel zunehmend zu einer Narrenfigur, zu einem grotesken Wesen mit phallischem Holzschwert,24 das später in der gargantuaesken Gestalt des 21 22 23 24
Decameron, hg. Vittore Branca (Milano: Mondadori, 1998 [1985]), Giornata III, novella 10, 316. “[T]he holy water bucket” Death of Huntington (1580) V, i. Zitiert nach DSL I, 380. Decameron III, 10, 318. In seiner Studie Il diavolo. Le forme, la storia, le vicende di Satana e la sua universale e malefica presenza presso tutti i popoli, dall’ antichità ai mostri giorni (Rom: Newton Compton, 1987 [Aus dem Italien. übersetzt v. Dagmar Türck-Wagner, Der Teufel. Wesen. Wirkung. Geschichte. München: DTV, 1994], 109f.) weist Alfonso di Nola darauf hin, dass der christliche Teufelsglaube stark von paganen Erdgottheiten (Pan, Priapus, Satyrn) geprägt ist. Dies bestätigt im Kontext der komplexen Genealogie des Teufels die
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Falstaff gipfelt. So lange die erotische Hölle in den Dualismen von komisch und tragisch, gut und böse wie auch von oben und unten angesiedelt ist, bleibt den modernen Infernokrisen und ihrer Emanzipation des sexuell Monströsen die ontologische Grundlage entzogen. Erst mit der modernen Ent-Lokalisierung des Infernos werden die Prämissen für die sexuellen Höllen späterer Zeiten aufgestellt. Diese moderne Entwicklung, die der Hölle den angestammten Platz im Universum nimmt und sie in das Diesseitige transponiert, wird bereits von Mephistopheles in Marlowes Doctor Faustus vorweggenommen, wenn er auf Faustus’ Frage, warum er die Hölle verlassen habe, erwidert: Why, this is hell, nor am I out of it. Think’st thou that I that saw the face of God And tasted the eternall Joyes of heaven, Am not tormented with ten thousand hels, In being depriv’d of everlasting blisse?25
Anders als bei Dante oder Bosch, aber auch anders als bei Boccaccio und Shakespeare zeichnet sich hier die Tendenz ab, die Hölle nicht mehr als einen topografisch entrückten Schauplatz im Zentrum des Erdinneren zu betrachten; vielmehr deutet sich hier an, dass es nun eine Vielzahl von Höllen – “ten thousand hels” – gibt, die das Individuum in der Entfernung vom summum bonum nur in seiner Seele durchleidet. Obgleich in Marlowes Tragödie die Säkularisierung der Hölle sich noch nicht zur Gänze vollzogen hat und der Titelheld am Ende des Dramas einen traditionellen descensus ad inferos antreten muss, so kann nicht geleugnet werden, dass bereits in diesem Drama eine wesentliche Veränderung in bezug auf den Begriff der Hölle und die infernalischen Qualen einsetzt. Die Dekonstruktion des alten Weltmodells, wie sie im 17. Jahrhundert unter dem Einfluss einer libertinistischen Lukrez-Rezeption in einen kruden Materialismus mündet, wirkt sich auf die Konzeption der Hölle in zweierlei Hinsicht aus: Der Libertin verliert zunächst nicht nur seine archetypische Furcht vor der Hölle und ihren Dämonen, wenn er wie in Shadwells Tragödie The Libertine in geradezu byronesker Manier seinen teuflischen Widersachern trotzt und bis zuletzt einem epistemologischen
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frühneuzeitliche Erotisierung des Teufels als ein sowohl priapistisches als auch burleskes Wesen. Vgl. hierzu auch unter dem Lemma ‘Circean circles’ James T. Henke, Gutter Life and Language in Early “Street” Literature of England. A Glossary of Terms and Topics Chiefly of the Sixteenth and Seventeenth Centuries (West Cornwall: Locust Hill P, 1988), 55. Doctor Faustus I, iii, 304–07. Complete Works II, 171.
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Zweifel Ausdruck verleiht (“These things I see with wonder, but no fear”).26 Vor allem trägt er zu einer Neudefinition des Infernos bei, wenn er als überzeugter Frauenfeind die weiblichen Geschlechtsorgane nicht mehr nur als Instrument, sondern nunmehr als ins Unendliche multiplizierbare Schauplätze des Höllischen und Monströsen charakterisiert. Somit hat die Hölle ihren objektiv ontologischen Status als Ort der Verdammnis eingebüßt und bezeichnet fortan im Kampf der Geschlechter jenen vaginalen locus terribilis, von dem der Mann in der Rolle eines Tantalus sich sowohl angezogen als auch abgestoßen fühlt. Bezeichnend für diese Neuakzentuierung des Höllenerlebnisses ist zu guter Letzt auch, dass die geschlechterverbindende Komplementarität von Hölle (Vagina) und Teufel (Penis) verloren geht. In ihren ambivalenten Inszenierungen von Männlichkeit sehen die Libertins sowohl des 17. als auch des 19. Jahrhunderts ihre Genitalien künftig nicht mehr als Höllenfürsten (devils), sondern als Beutestück im monströsen Schlund eines syphilitischen Infernos.
2. Die Hölle des weiblichen Genitals 2.1. Die Vagina zwischen Arkadien und Inferno Das ‚Unbehagen am weiblichen Genital,‘ das (Pseudo-) Anthropologen wie Otto Weininger noch bis ins 20. Jahrhundert konstatieren,27 ist zweifelsohne ein wesentliches Charakteristikum im erotischen Diskurs der Moderne. Jedoch darf hierbei nicht unerwähnt bleiben, dass der Topos der hässlichen und infernalischen Vulva, auf den Autoren im Umfeld der misogynen décadence rekurrieren, von jeher eine motivliche Konstante der Literatur und Kunst darstellt. Ihren Ursprung hat sie nachweislich in den mittelalterlichen Visualisierungen der Todsünden, wo hinter den verlockenden Reizen der weiblichen luxuria sich das Verderben einer vaginalen Höhle verbirgt, die für den Mann gleich der Büchse der Pandora28 26 27
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The Libertine V, ii, 116. Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung (München: Matthes und Seitz, 1997 [1903]), hier insbesondere Kap. 11 ‚Erotik und Ästhetik:‘ „[Es] lässt sich behaupten, dass kein Mann speziell das weibliche Genitale schön, vielmehr ein jeder es häßlich findet; es mögen gemeine Naturen durch diesen Körperteil des Weibes besonders zu sinnlicher Begierde gereizt werden, jedoch gerade solche werden ihn vielleicht sehr angenehm, nie aber schön finden,“ 320. Zur Verknüpfung der Büchse der Pandora mit der Vagina siehe DSL II, 990f.; auf die unheilvolle Verbindung von ‘box’ und ‘pox’ weist überdies Henke, 183.
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nur Qualen und Krankheiten bereithält. Theoretische Konstrukte wie das ‚Menotoxin,‘ das giftige Menstrualblut, das oft als Ursache für Pest, Syphilis und Pocken genannt wird und das, Valerie Allen zufolge, gleich “eye-fart[s]”29 durch die Blicke einer menstruierenden Frau sich verbreitet, nehmen in diesem Bereich des Spekulativen und Pseudo-Wissenschaftlichen ihren Ausgang.30 Zur Bestätigung ihrer „Qualitäten des Runzeligen, Warzigen, Tumeszenten und Schleimigen“31 wird die Vagina bei den allegorischen Verkörperungen der Wollust zudem durch eine Kröte oder ähnliche dem Teuflischen zugeordnete Tiere ersetzt;32 auch die Katze, die als „Symboltier des Weiblichen“33 und als Attribut sowohl der Muttergöttinnen (Freya) als auch der Hexen gilt, ist von jeher mit dem weiblichen Genital assoziiert worden – ein Faktum, auf das nicht nur ikonografisch in Edouard Manets Skandalon Olympia (1863; Paris, Musée d’Orsay) angespielt wird, sondern das sich, wenn auch in verniedlichter Form, bis in das aktuelle Vokabular der europäischen Pornografie nachweisen lässt. Obwohl der Katze – anders als der Kröte oder anderen Reptilien und Weichtieren – aufgrund ihrer raubtierhaften Eleganz im allgemeinen ein ästhetisches Raffinement zugesprochen wird, das, wie Bram Dijkstra auf das 19. Jahrhundert fokussiert darlegt, zur bildlichen Topik des Femme fatale-Motivs gehört,34 stellt sie in genitalischer Hinsicht oft eine weitere Facette des dämonisch konnotierten horror muliebris dar. Komplementär betrachtet versinnbildlichen sowohl Katze als auch Kröte die Wahrnehmung des weiblichen Geschlechts als etwas Faszinierendes und Ekelerregendes, als etwas Fauliges, Übelriechendes, Fäkalisches und dennoch Okkultes und Attraktives – eine Ambivalenz, wie sie ebenso den imaginativen Entwürfen der Hölle oder den ebenso populären wie auch vielgestaltigen Schauplätzen der Versuchungen des Hl. Antonius eigen ist.
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Allen, 60. Vgl. hierzu Marlene Faro, ,An heymlichen Orten:‘ Männer und der weibliche Unterleib. Eine andere Geschichte der Gynäkologie (Leipzig: Reclam, 2002), 82ff. R. Huber, Sexualität und Bewußtsein (München, 1977), zitiert nach Duerr, Intimität: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß, 200. Fausts Bestürzung darüber, dass „mitten im Gesange […] / Ein rotes Mäuschen ihr [= einem schönen Mädchen] aus dem Munde [sprang]“ (,Walpurgisnacht’ Faust I, 4178–79), zeugt auch im 19. Jahrhundert noch von dem Ekel vor dem weiblichen Genital als Ungeziefer und nagendem Tier. Lurker, 372. Idols of Perversity, 272ff.
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a. Auf die ausschließlich negativen Aspekte der Vulva scheint sich vor allem Leonardo da Vinci zu beziehen, wenn er in einer seiner anatomischen Studien das weibliche Genital als ein klaffendes, unauslotbares Loch ohne labiae minores und in pointierter Nähe zum Anus abbildet. Die Tatsache, dass die Zeichnung im Vergleich zu den realistischen Darstellungen der männlichen Genitalien krude und simplizistisch anmutet, kann nicht nur auf da Vincis Homosexualität und sein Desinteresse am weiblichen Geschlecht zurückzuführen sein: Im Einklang mit zahlreichen Dichtern und Künstlern, deren Werke – wie auch im Fall Shakespeares – nicht bloß durch homoerotische Neigungen motiviert sind, macht auch da Vinci in der Rolle des Anatoms Anleihen bei einer etablierten Formensprache, die die Vagina mit einem unersättlichen und alles verzehrenden Höllenschlund in Verbindung setzen. Zwar zeigt sich da Vinci bemüht, der wissenschaftlichen Objektivität bis zu einem gewissen Grad Rechnung zu tragen, wenn er weitestgehend darauf verzichtet, alle ikonografischen Einzelheiten des Höllenrachens minutiös auf die Vulva zu übertragen. Trotzdem bleibt kein Zweifel, dass der Künstler den weiblichen Schambereich als einen gefährlichen Abgrund betrachtet, in dem der potentielle Liebhaber aufgesogen oder gar entmannt zu werden droht. Scheint Rabelais auf den Topos der infernalischen Vagina zu verzichten, wenn er den auf Tertullian zurückgehenden Gemeinplatz vom Weib als templum aedificatum super cloacam in sein karnevaleskes Menschen- bzw. Frauenbild integriert,35 so zeigt sich Shakespeare eher auf der Seite da Vincis, wenn er gleich mehrfach auf die Bilderfindung vom weiblichen Genital als einer dunklen und Gestank erzeugenden Höllengrube verweist. Der locus classicus hierzu ist die Tragödie King Lear: Durch die Todsünde des Zorns (ira) seiner Erkenntnisfähigkeit als Herrscher wie auch als pater familias beraubt nimmt der entthronte König die Gelegenheit wahr, seine durch Wahnsinnsanfälle gesteigerte Enttäuschung über die Niederträchtigkeit seiner Töchter Regan und Goneril in einer Invektive auf das gesamte weibliche Geschlecht zu artikulieren. So behauptet in einem monologisch konzipierten Gespräch mit dem geblendeten Gloucester Lear apodiktisch:
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So wird die Geburt Gargantuas mit einem Darmaustritt eingeleitet: „Et la tastant par le bas, trouverent quelques pellauderies assez de mauvais goust et pensoient que ce feust l’enfant; mais c’estoit le fondement qui luy escappoit, à la mollification du droict intestine …“ Gargantua, 43.
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Down from the waist they are centaurs, though women all above. But to the girdle do the gods inherit, beneath is all the fiend’s: there’s hell, there’s darkness, there is the sulphurous pit, burning, scalding, stench, consumption: Fie, fie, fie! Pah, pah!36
Wie an späterer Stelle ausführlicher darzulegen sein wird, untermauert dieses Zitat die Vorstellung vom dualistisch konstituierten Zentaur-Menschen. In diesem Kontext ist es jedoch besonders aufschlussreich, weil es durch die Wahl der Adjektive und Nomina einen geradezu synästhetischen Eindruck von der Widerwärtigkeit der infernalischen Vagina vermittelt. Die vorherrschende und abgrundtiefe Dunkelheit (“darkness;” 124), die auch da Vinci in seiner Zeichnung akzentuiert, wird nun in olfaktorischer Hinsicht ergänzt durch die Umschreibung der Vagina als einer schwefeligen Grube (“sulphurous pit;” 124). In diesem expressis verbis als Hölle ausgewiesenen weiblichen Genital wird der Mann somit bereits auf Erden konfrontiert mit den Qualen, die Prediger in jener Zeit nicht müde werden, in immer neuen, phantasmagorischen Variationen als endzeitliches Menetekel heraufzubeschwören – ewiges Brennen, unerträglicher Gestank und ein unausgesetztes Verzehrtwerden (“consumption;” 125). Vor allem das polyvalente Substantiv “consumption” verweist den Leser auf einer weiteren Bedeutungsebene wieder auf die Bedrohung des Siechtums und der Desintegration des Körpers, wie sie vor allem mit der Syphilis verbunden ist.37 Nicht nur für den frühmodernen Don Juan bekommt jeder Geschlechtsakt somit unweigerlich den Charakter eines gefährlichen und zuweilen auch tödlichen descensus ad inferos. Die Liebe als ein Abstieg in die Schrecken der genitalen Unterwelt ist ein Topos, der ebenso Shakespeares dark lady-Sonette wie auch die Gedichte der sich vorzugsweise als rakehells38 stilisierenden Libertins bestimmt. In dem zum Mistress-Zyklus gehörenden Gedicht ‘The Change’39 rekurriert Cowley indirekt auf die Vorstellung der Vagina als Hölle: Um den Unterschied zwischen dem Äußeren und dem Inneren einer Frau zu veranschaulichen, stellt er hierbei eine Analogie zwischen Frau und Erde her, die sich letztlich auf die althergebrachte Identifizie-
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King Lear IV, vi, 121–25. DSL I, 292f. Im OED seit 1554 belegt; in der Bedeutung eines vaginalen ‚Höllenrechens‘ in Rochesters ‘Imperfect Enjoyment’ wird dieses Wort auf den als Libertin inszenierten Penis appliziert: “The Rakehell villain shrinks and hides his head” (57), Works, 15. Works, 32f.
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rung des Tellurischen mit dem Weiblichen beruft. Die von charakterlichen Defiziten und teuflischen Lastern – “Malice, Inconstancy, and Pride” (8) – umgetriebene Frau lässt sich insofern mit der Erde probat vergleichen, als beide infernalische Bedrohungen im Inneren, hinter Fassaden verlockender Schönheit (“Earths face;” 9) verborgen halten: “at the Center, Darkness is, and Hell; / There wicked Spirits, and there the Damned dwell” (11–12). Auf den mikrokosmischen weiblichen Körper übertragen lassen sich Cowleys Verse wie folgt übersetzen: Das Zentrum der Frau ist in ihrer infernalischen Vagina lokalisiert; in der hier vorherrschenden Dunkelheit, die in Opposition zur Lichtmetaphysik des Jenseits steht, harren böse Geister und Dämonen, die die phallischen Höllenbesucher bzw. die syphilitischen Verdammten peinigen. Auch das ob seiner Manieriertheit auffallende Gedicht ‘Maidenhead’40 bedient sich sowohl der misogynen Kosmologie als auch der etablierten Korrespondenz von Vagina und Hölle: Das Jungfernhäutchen, das der Sprecher bereits in der ersten Zeile als den Superlativ alles weiblich Schlechten apostrophiert – “Thou worst estate even of the sex that’s worst” (1) – wird zunächst in einem rhetorischen Vergleich mit dem Zentrum der Erde korreliert, zieht es doch – in erotischer Vorwegnahme der Gravitationslehre Newtons – ebenso die (phallisch) schwersten Dinge (“heaviest things;” 7) an. Dass dieser zentrale Punkt des weiblichen Körper-Territoriums wiederum höllische Konnotationen hat, lässt sich an der Semantik des extrem Heißen und Kalten wie auch – in (anti-) prokreativer Hinsicht – an der Bildlichkeit des Monströsen und Hässlichen ablesen. Gemäß der petrarkistischen Juxtaposition von Gegensätzen ist das Hymen zunächst der kalte und gefrorene Nährboden wildester Feuer – “Cold frozen Nurse of fiercest fires!” (11); und um die Polarität innerhalb des weiblichen Unterleibs noch zu steigern, wird die jungfräuliche Vagina überdies, in Analogie zu dem ausgetrockneten und unfruchtbaren Boden der afrikanischen Wüste, fortwährend versengt von der Hitze des sexuellen Begehrens – “scorcht with hot desires” (14). Doch im Unterschied zu dem als steril imaginierten südlichen Kontinent ist die infernalische Vagina der Ort, an dem nach dem Prinzip der Abiogenese phallische Monster und Schlangen entstehen, deren Aufgabe es in diesem Kontext ist, das virginale Hindernis des Hymens zu zerstören. Bereits 200 Jahre vor der Entfesselung des Monströsen und Abjekten in den sexuellen Pandämonien der décadence machen sich die Auswirkungen der Säkularisierung mehr als bemerkbar. Mit der Preisgabe des tradi40
Ebd., 95f.
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tionellen Höllenverständnisses und dem Verblassen seiner contre-textualité ergreift das Monströse immer stärker Besitz vom Mensch und seiner Libido. Die Abiogenese ist daher ein geeignetes Bild für das Selbst-Referentielle der modernen Höllenauffassung: Die Unterleibs-Monstren sind Ausgeburten der individuellen Wahrnehmung und des subjektiven Körper-Ekels. Die misogyne Vorstellung vom weiblichen Genital als einem grotesken, phallische Missgestalten gebärenden Orkus – ein Gedanke, der durchaus mit Cowleys hyperbolischer Charakterisierung der Frau als “a Tempter worse than Satan”41 übereinstimmt – wird in der dritten Strophe des Gedichts erweitert um einen Bild- und Gedankenbereich, der weniger direkt mit der Hölle als mit dem Dämonischen und Nekromantischen in Verbindung steht. Die durch das Hymen verschlossene Vulva ist nicht nur ein diabolisches Instrument, das die Männer verhext – “Thou that bewitchest men …” (17) –; sie wird auch mit einem Zauberer, einem Vertreter der Schwarzkunst verglichen, der wie Faustus oder andere Teufelspaktler im Mikrokosmos seiner (vaginalen) Zelle – “[l]ike a close Conj’urer in his Cell” (18) – sich der Nacht verschreibt und das alles entdeckende Auge des Tages (“the days discovering Eye;” 19) bzw. das Auge oder die Öse (eye)42 des Phallus fürchtet. Auch Mercutio in Shakespeares Romeo and Juliet bedient sich der Metapher der erotischen Nekromantie und der dämonischen Evokation, wenn er unter fünfmaliger Verwendung des Verbs ‘to conjure’ Rosalines Vagina als einen Teufelskreis (“his [= Romeo’s] mistress’ circle”) deklariert, in den er einen phallischen Geist (“a spirit”) hineinzuzaubern droht, “letting it there stand / Till she had laid it and conjur’d it down.”43 b. Wie auch im folgenden ersichtlich wird, beruht das Bild des vaginalen Teufels- und Bannkreises wie auch das des genitalen Infernos auf einer langen ikonografischen Tradition, die zum einen die geschlechtliche Assoziation der Mandorla und zum anderen die Vorstellung von der vaginalen Wunde Christi ins Dämonische verkehrt. Aber so wie die 41
42
43
‘The Innocent Ill’ Z. 11 (Hervorhebung NL). Das Bild von der Schönheit, die sogar Heilige in ihren Bannkreis zu schlagen und zu erregen vermag, erinnert ebenfalls an die Versuchung des Hl. Antonius. Works, 117f. DSL I, 454 Abschnitt 3: Sich auf ein Zitat aus Sidneys Arcadia II berufend kommentiert Williams die Wendung ‘to put out his eyes’ sogar als eine Kastrationsmetapher, die das Auge mit der ösenähnlichen Öffnung des Penis gleichsetzt. Romeo and Juliet II, i, 24–26.
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Höllenkonzeption Marlowes sich radikal von der Dantes abhebt, so unterscheidet sich auch in mehrfacher Hinsicht das erotische Inferno Shakespeares von den genitalen Pandämonien der Cavaliers und der Restaurationsdichter. In Sonett 144 inszeniert sich Shakespeares lyrisches Ich als ein Individuum, das in Anlehnung an den Repräsentanten des genus humanum im Moralitätenspiel sich von zwei erotischen Mächten, einem männlichen Engel und einem weiblichen spiritus malignus (“a woman coloured ill;” 4),44 umgeben fühlt. Das Perfide dieses weiblichen Dämons besteht nun darin, dass er zum Zweck seines Verführungswerks nicht nur sein Augenmerk auf den Sprecher richtet, sondern überdies versucht, sein engelhaftes Pendant in den Akt der Korrumpierung mit Hilfe der Todsünde des Stolzes (“with her foul pride;” 8) miteinzubeziehen: To win me soon to hell my female evil Tempteth my better angel from my side, And would corrupt my saint to be a devil, Wooing his purity with her foul pride[.] (5–8)
Um den Sprecher in ihre vaginale Hölle zu locken, scheut die dark lady somit nicht davor zurück, aus dem Heiligen und uomo angelicato einen priapistischen Teufel zu machen. Ihr ‚fauler Stolz,‘ den sie hierfür aufwendet, lässt sich in Analogie zur renaissancistischen superbia des Phallus (pride = Erektion)45 auch als eine ostentative Zurschaustellung ihres infektiösen und übelriechenden Genitals entschlüsseln. Das letzte Quartett wie auch das abschließende Couplet lassen jedoch sowohl den Leser als auch den Sprecher im Ungewissen, wie der erotische Kampf zwischen Himmel und Hölle entschieden wird. Obgleich das lyrische Ich vermutet, dass bereits der gute männliche Engel den vaginalen descensus ad inferos angetreten hat, so wird der Zustand des Zweifels erst dann beendet sein, wenn der böse weibliche Engel seinen Kontrahenten mit dem Feuer der Syphilis entzündet hat:46
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Sonnets, 405. – Zur generischen Nähe des Sonetts zum Moralitätenspiel siehe auch Pointner, 165. DSL II, 1099. – Auch in Sonett 151 kommt diese Bedeutung von ‘pride’ zum Tragen. Insbesondere die deutschen Übersetzungen erfassen diese pathologische Bedeutung von ‘fire’ nicht. So übersetzt Christa Schuenke: „Mein böser [Engel] hat den guten Geist gefeuert“ –, was zu einer Banalisierung des erotischen Sinns führt. Die Sonette. Zweisprachige Ausgabe (München: DTV, 1999), 151. Auch Pointner schließt sich dieser Deutung an, wenn er die Wendung des “fire … out” lediglich als eine Metapher für das Verlassenwerden (“‘dumped’”) betrachtet, 167.
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Yet this shall I ne’er know, but live in doubt, Till my bad angel fire my good one out. (13–14)
Die hier im Zweifel beinhaltete Ambivalenz47 ist für den erotischen Diskurs im elisabethanischen und jakobäischen Zeitalter von entscheidender Bedeutung: Zwar ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Mann vor den genitalen Reizen der dämonischen Femme fatale kapitulieren wird, doch der dem Moralitätenspiel inhärente Dualismus hat trotz aller Modifikationen auch bei Shakespeare noch seine Gültigkeit. Die Metaphorik der vaginalen Hölle bildet somit nicht nur den parodierenden contre-texte zum neo-platonischen Ethos der männlichen Geistesliebe – “the marriage of true minds”48 –; sie trägt auch dazu bei, den weiblichen Körper analog zur dualistisch konzipierten chain of being in zwei mikrokosmische Komplementärbereiche zu unterteilen. Selbst im Zustand seiner geistigen Umnachtung kann Lear nicht umhin einzugestehen, dass das zentaurisch imaginierte weibliche Geschlecht in unmittelbarer Nähe zum schwefeligen Höllenchaos seiner Vagina auch einen Bezirk aufweist, der der Ordnung des göttlichen Kosmos entspricht: “ … to the girdle do the Gods inherit …”49 Obgleich im Zerrspiegel von Lears misogyner Wahrnehmung das Infernalische überwiegt und die Balance von texte und contre-texte, von Himmel und Hölle wie auch von rationaler Harmonie und genitalem Chaos prekär geworden ist, so bleibt die Auffassung vom Mensch als einem aus heterogenen Bestandteilen konstituierten Mikrokosmos weitgehend unangetastet. Wie eng verwoben diese beiden Bereiche im Denken der Frühen Neuzeit sind, muss letztlich auch Othello erfahren, wenn er als Opfer seiner Eifersucht Desdemonas Vagina zu einer fauligen Zisterne verwandelt sieht: “a cistern for foul toads / To knot and gender in!”50 Trotz allen Ekels, den Othello in der Evokation des Bildes von der vaginalen Zisterne empfinden mag, wird die Existenz eines positiven Werteideals, eines erfrischenden “fountain,”51 nicht geleugnet. Während die Cavaliers dieses Verhältnis von texte und contre-texte unterminieren oder gar umkehren, so bleibt bis zum Einzug des libertinistischen Zynismus in die Literatur die Hölle des weiblichen Genitals domestiziert durch die gegenläufige Vor-
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Zur etymologischen Herleitung von ‚Zweifel‘ und ‘doubt’ aus ‚zwei‘ bzw. lat. ‚dubitare‘ und ‚duo‘ siehe OED IV, 983 und Friedrich Kluge, 918. Sonnet 116, Z.1. King Lear IV, vi, 122f. Othello IV, ii, 62f. Ebd., 60.
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stellung prokreativer und floraler Schöße. Nicht nur das Bild der vaginalen Rose in As You Like It52 deutet verhalten auf die Möglichkeit eines Unterleibs-Paradieses, auch Spensers Metapher der “bower of bliss,”53 die an die Inszenierung des weiblichen Genitals als eines Boudoirs oder kostbaren Liebesalkovens anknüpft, führt die Polarität vor Augen, in der die Sexualität des weiblichen Geschlechts zwischen Himmel und Hölle, zwischen locus amoenus und locus terribilis, imaginiert wird. c. Auch nur ein kurzer, aber aufschlussreicher komparatistischer Seitenblick auf die deutsche Literatur des 17. Jahrhunderts unterstreicht, dass diese Interdependenz von texte und contre-texte in der Frühen Neuzeit ein wesentliches Unterscheidungskriterium darstellt, das deutlich macht, wie sehr das Bild des weiblichen Körpers im Barock sich von der obszönen Misogynie späterer Zeitabschnitte abhebt. Gemäß der Konvention der descriptio pulchritudinis in der Blasondichtung konzentrieren sich etliche Autoren wie Hoffmannswaldau, Cleander oder Le Pansif ausnahmslos auf den weiblichen Genitalbereich und entwerfen – in scheinbar eklatantem Kontrast zu den zahlreichen vaginalen Pandämonien – das Bild von der Vulva als einem locus amoenus. Bereits Hoffmannswaldau konterkariert die Vorstellung vom koitalen descensus ad inferos, wenn er in seinem bereits zuvor erwähnten Gedicht ‚An Lauretten‘ den Geschlechtsverkehr unter dem Signum einer aufwärts, zum Himmel gerichteten Bewegung darstellt: Und wenn du deine lenden rührst / Und deinen schooß gen himmel führst / [Lass] sich zucker=süsse Lust erwecken.54
In einer Ennumeration manieristischer Vergleiche und Metaphern inszenieren die Literaten des deutschen Barock die Vagina immer wieder als 52
53
54
“He that sweetest rose will find / Must find love’s prick – and Rosalind” As You Like It III, ii, 108–09. (The Arden Shakespeare), hg. Juliet Dusinberre (London: Thomson Learning, 2006), 66. – Siehe auch DSL III, 1170ff. wie auch Shakespeare’s Bawdy, 228. Fairie Queene, hg. A. C. Hamilton / Hiroshi Yamashita / Toshiyuki Suzuki (London: Longman, 2001), II, xii, 42ff. – Bemerkenswert an diesem vaginalen hortus conclusus ist, dass er in Opposition zu Heerscharen von “huge Sea monsters” (II, xii, 22) beschrieben wird. So wie der monströse Eber – im eklantanten Gegensatz zum Eber in Shakespeares Venus and Adonis – in einer Höhle verbannt bleibt, so wird auch hier eine Entgrenzung des Abscheuerregenden nur im Entwurf einer paradiesischen Gegenwelt vereitelt. Z. 16–18.
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ein „paradieß,“55 als einen „Opffertisch / wo milch zum opffer wird gebraucht,“56 als einen „Bienenstock“57 oder als ein „schützenhauß in dem ein jeder gerne schiest.“58 In Anlehnung an die mythologische Geburt der Venus wird sie überdies als ein „Muschel-Schloß“ bezeichnet, das seiner „Perlen-Milch“59 harrt; in anderem Kontext wird sie als ein „schönes Lust-Revier“ gepriesen, wo weder Eis noch Frost den vaginalen Brunnen zu erstarren drohen. Selbst das im mittelalterlichen Volksglauben so dämonisierte Menstruationsblut verwandelt sich in der Phantasie des Barockdichters Johann von Besser sowohl zu einem kostbaren „schneckenblut“ als auch zu einem monatlich blühenden „blumen-busch.“60 Dieser führt nicht nur den ubiquitären Vanitas-Gedanken ad absurdum, zugleich wird er durch die Metapher vom „thau von der johannis-nacht“61 in einen theologisch prokreativen Kontext überführt. Der Tabuisierung des Beischlafs während der Menstruationszeit zum Trotz kommt der vom Blut befleckten Vagina letztlich sogar – innerhalb der frühneuzeitlichen Liebeskasuistik – eine dialektische Funktion zu, denn, so argumentiert der Sprecher, „[m]an geht / wie iedermann bekanndt / Durchs rothe meer in das gelobte land.“62 d. Wie der Exkurs in die deutsche Barockliteratur nahelegt, steht die Konzeption der Vagina als erste Stufe zu Beginn eines sensuellen gradus ad parnassum somit in einem komplementären Verhältnis zu der Inszenierung des weiblichen Geschlechtsorgans als Höllenabgrund. Der Weg in die genitalen Niederungen des weiblichen Körpers erweist sich daher in der Frühen Neuzeit stets als ambivalent: Er kann zum einen wie bei Donnes “Mine of precious stones” zu einer erotischen Prosperität führen; aus einer nur unwesentlich veränderten Perspektive kann er jedoch anderer55 56 57 58 59 60
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Johann von Besser, ‚Ruhestatt der Liebe / oder die Schooss der Geliebten‘ Z. 23. Zitiert nach der Anthologie Die Entstehung der Wollust. Erotische Dichtung des Barock, 53. Christian Hölmann, ‚Abbildungen der Schooss‘ Z. 30. Ebd., 72. Ebd., Z. 99. Ebd., Z. 86. Cleander, ‚Als einer im Schlaf verschwenderisch gewesen‘ Z. 21. Ebd., 169. „Nicht schäme dich / du saubere Melinde“ Z. 14. Ebd., 51. Auch die englische Sprache bedient sich seit ca. 1400 (siehe OED V, 1092) dieser Metapher, wenn sie die Menstruation – möglicherweise aufgrund einer Kontamination mit franz. flueurs – als “flowers” bezeichnet. Vgl. DSL I, 518. Handbuch des deutschen Aberglaubens IV, 759f. – Als ein Relikt des Demeter-Kultes und seines praktizierten Beischlafs in der Ackerfurche sollen sich Paare „an Johannisabend auf den Feldern wälzen.“ 748f. Ebd., Z. 29f.
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seits ohne weiteres eine negative Konnotation annehmen und den Sprecher zum Sklaven im Steinbruch eines tyrannischen amor diabolus degradieren. Zudem macht das häufig gewählte Bild des vaginalen Vulkans63 und seiner unerträglichen Hitze mehr als offenkundig, dass das Konzept der höllischen vagina inflammata eine leitmotivische Konstante darstellt, die auch den ‚positiven‘ Schoßgedichten als parodistischer contretexte stets inhärent ist. In Analogie zu Clément Marots Komplementärgedichte auf die schöne und die hässliche Brust, ‘Du beau tetin’ und ‘Du laid tetin,’ existiert im erotischen Diskurs der Frühen Neuzeit das Mythologem einer sowohl höllischen als auch himmlischen Vagina.64 Die vielfältigen olfaktorischen Genüsse („wolriechend ambra“65), die die galanten Dichter schließlich nicht müde werden, in bezug auf den vaginalen hortus conclusus zu evozieren, stehen in einem komplementären Bezug zu den Miasmen und Pestgerüchen, die von jeher die (phallischen) Nasen der misogynen Literaten und Künstler umwehen. Daher muss an dieser Stelle unterstrichen werden, dass das innovative Element in der misogynen Darstellung des weiblichen Schambereichs bei den Cavaliers und den Libertins der Restaurationsliteratur nicht so sehr in der Obszönität des Vokabulars zu suchen ist. Vielmehr ist es die Tatsache, dass der positive Vorstellungsbereich sukzessive verblasst und der contre-texte der hässlichen wie auch infernalischen Vulva nun den Gedanken eines vaginalen Arkadiens zunehmend in den Hintergrund drängt. Schon Carew vermag den Rückzug in den – doppelten – private mode des vaginalen Bosketts (“the grove of eglantine”)66 nur noch in der Phantasie der inneren Emigration zu vollziehen; und auch Richard Lovelaces Sprecher in dem Gedicht ‘Love Made in the First Age: To Chloris’ ist sich des Faktums bewusst, dass die Zeit, in der die offenen Körper bzw. Vaginen (“Bellies”)67 wohltuende Sekrete (“wholesome Jellies”) absonderten, ein mythologisch entrücktes Traumgebilde ist. 63 64 65 66 67
Siehe Johann von Bessers ‚Ruhestatt der Liebe‘ Z. 78. Ebd., 55. Das Bild des Aetna ruft das Bild von der Vagina als ‘torrid zone’ in Erinnerung. Vgl. hierzu Duerr, Intimität, 200ff. Hoffmannswaldau, ‚Lob-Rede an das Liebenswertheste Frauen-Zimmer. C. H.v.H.‘ Z. 16. ‘The Rapture’ Z. 74. Z. 22f. The Poems of Richard Lovelace, 146. Vgl. zur vaginalen Konnotation von belly DSL I, 97. – Pepys zeigt sich in seinem Tagebuch-Eintrag vom 18. Februar 1660 sehr darüber amüsiert, dass “Mr. Eglin did … put his finger, which being sore had a black case over it, into a woman’s belly [= Vagina], … and left his case within her.” The Diary of Samuel Pepys I, 59.
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Wie weit sich die Literatur der Cavaliers und der Restaurationsdichter von jeder Form eines genitalen Optimismus absetzt, lässt sich nur dann ergründen, wenn man neben den barocken enkomiastischen Lobgedichten auf das weibliche Genital auch ein Beispiel für den sexuellen Hedonismus des 18. Jahrhunderts als Kontrastfolie heranzieht: In seiner Parodie auf Popes Essay on Man, dem 1763 publizierten Essay on Woman, propagiert John Wilke: “Life can little else supply / But a few good fucks and then we die.”68 Wie bei Cleland, Rowlandson und anderen Vertretern der pornografischen Kultur des 18. Jahrhunderts hat die Sexualität hier eine affirmative und geradezu epikureische Funktion (“good fucks”); sie ist Teil eines sensuellen Wohlbefindens, die dem Leben erst Sinn verleiht. Für die Cavaliers und die Libertins hingegen kommt die Sexualität einer unausgesetzten Höllenqual gleich, die wie die Strafe des Sisyphus stets aufs Neue durchlitten werden muss. Das Pandämonium des Eros, das sich für sie im weiblichen Schambereich konzentriert, macht jeden Mann zu einem potentiellen Höllenbewohner, zu einem Verdammten seiner Libido. Dabei hat sich in dieser modernen und genitalen Variante des Moralitätenspiels der Himmel nun gänzlich verdunkelt; Shakespeares Zweifel, ob der gute Engel zum bösen übergelaufen ist, ist inzwischen zur bitteren Gewissheit geworden. 2.2. Charakteristika des vaginalen Malebolge – descensus ad faeces Den Nadir der weiblichen Hölle auszuloten, scheint eine der Ambitionen von Rochesters literarischem Schaffen darzustellen. In seiner misogynen Imagination ist dabei nicht nur von der Hölle des weiblichen Genitals die Rede, sondern vor allem von einem vaginalen Abort, von einem Herd der Fäulnis und des fäkalischen Unrats, wobei jeder Ansatz zur Konstruktion eines positiven und eudämonistischen Gegenentwurfs sich von vornherein verbietet. Bereits Mercutio hatte mit seinem Verweis auf die Mispelfrüchte, jenen “medlars,” die der Volksmund auch “openarse[s]” nennt,69 in derb zotiger Manier unterstrichen, dass die Korrelation von Anus und Vulva im Denken der Frühen Neuzeit eine lange Tradition hat.70 Die Tatsache, dass überdies – wie auch Tilleys Proverbien
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Essay on Woman, hg. J. C. Hotten (London, 1871), 13. Romeo and Juliet II, ii, 36/38. Im Englischen bezieht sich der Terminus “privy” sowohl auf die Toilette als auch auf die männlichen wie weiblichen Geschlechtsteile; das mittelhochdeutsche Wort ‘fud’ ist in diesem Zusammenhang aufschlussreicher: es bezeichnet sowohl die Vagina als auch den
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verzeichnen71 – die von Mercutio erwähnte Frucht vorzugsweise dann genossen wird, wenn der Fäulnisprozess bereits eingesetzt hat, macht die tertia comparationis zwischen Vagina und dem “open-arse” evident: Schmutz, Putreszenz, Gestank gelten als die Gemeinsamkeiten zwischen Anus und Vulva – eine Affinität des Abjekten, die der Mensch der Frühen Neuzeit jedoch oft im Bild der überreifen und sexualisierten Frucht durchaus zu goutieren verstand. Das Andersartige in Rochesters Diskurs über das weibliche Geschlecht besteht daher nicht so sehr in seiner Verwendung fäkalischer Begriffe für die Vagina; neu ist in kulturgeschichtlicher Hinsicht vielmehr, dass mit dem Ende der analen Euphorie, wie sie die Frühe Neuzeit charakterisiert, nun eine die Moderne inaugurierende Skatophobie einsetzt und somit die alt überlieferte (semantische) Identität von Vulva und Anus, von Rektum und Vagina (‘fud’) mit dem Odium des Abstoßenden und Ekelerregenden behaftet wird. a. Die eigentümliche und geradezu psycho-pathologische Faszination, die Rochesters Sprecher für die Titelfigur des Gedichts ‘On Mistress Willis,’72 jener hier als “bitch” (4) diffamierten Mätresse des Barons Colepepper of Thoresby, zum Ausdruck bringt, gehört zunächst per definitionem zum Schockpotential einer anti-petrarkistischen Gattung, die bereits von Suckling wie auch von Shakespeare erprobt worden ist. In Anlehnung an Shakespeares metaphorische Umschreibung der dark lady als allgemeinen Anlegeplatzes im 137. Sonett ist es in diesem Fall ebenso die Promiskuität der Frau, die die bildliche Verknüpfung mit einem locus communis, mit einem “Common shore” (20) rechtfertigt. Doch der Unterschied zu Shakespeares parodistischer Frauenschelte wird mehr als offenkundig, wenn man zunächst beachtet, dass in Rochesters misogynem Weltbild das Ganzheitliche hinter das Partikulare tritt und die maskuline Perspektive sich nun ausschließlich auf das weibliche Genital – “her Cunt” (20) – fokussiert. Von weit größerer Signifikanz ist jedoch in diesem Zusammenhang, dass der Sprecher, der hierzu in Umkehrung des traditionellen Musenanrufs die “bawdy Powers” (6) um Inspiration bittet, das Bild einer Frau entwirft, die in ihrer Offenheit gegen das frühklassizistische Primat des geschlossenen und übermalten Körpers ekla-
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Anus – eine semantische Überlagerung, die bis heute im rheinischen Dialekt, wenn auch in diminutiver Form (fötche = Gesäß), nachwirkt. Maurice Palmer Tilley, The Proverbs in England in the Sixteenth and Seventeenth Centuries (Ann Arbor: U Michigan P, 1950), M 863, 456. Works, 37.
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tant verstößt: So begleitet sie ihre genitalen Ejakulationen nicht nur mit einer verbalen Offenheit; ihre Vagina – “[h]er Belly” – ist überdies nur ein taschenförmiges, mit Exkrementen gefülltes Behältnis: “a Bagg of Turds” (19). Die metaphorische Korrelierung des vaginalen Hohlraums mit einer Tasche oder einem kastenförmigen Gefäß73 stellt in linguistischer Hinsicht kein Novum dar. Das Verblüffende und Obszöne von Rochesters Metapher bezieht sich vielmehr auf die misogyne Radikalität, mit der er das weibliche Geschlechtsorgan – nunmehr ohne einen noch so marginalen Hinweis auf ein positives Gegenbild – als eine abscheuerregende Kloake inszeniert. Der etablierte Nexus, den die patriarchalisch geprägte Kultur zwischen den Bildbereichen Hölle, Kloake und Vagina immer wieder herzustellen versucht, klingt bereits in Dantes Inferno an: Der zweite Graben des achten Höllenkreises ist neben den Schmeichlern vor allem den Huren vorbehalten, die dort nach dem mittelalterlichen Sühneprinzip similia similibus curantur unausgesetzt in einem kotigen Brei zu ersticken scheinen. Das Fäkalische, das später auch Boschs phantasmagorische Ausgestaltung der Hölle bestimmt, ist jedoch in der Frühen Neuzeit stets eingebunden in ein ganzheitliches Weltbild, das den negativen, auf die Geißelung der Wollust gerichteten Aspekt der Exkremente durch einen ausgeprägten skatologischen Humor auszugleichen vermag.74 Der Verlust dieses Humors zugunsten eines sowohl misogynen als auch misanthropischen Sarkasmus kennzeichnen dagegen die Werke Rochesters wie auch die später von der Warte eines maskulinen ‚Augustäertums‘ verfassten Gedichte Swifts – eine Tendenz, die mit der Perhorreszierung der Exkremente sowohl bei den monströsen Yahoos als auch bei der defäkierenden, aber “haughty Celia”75 einen vorläufigen Höhepunkt findet. Das als (Anti-)Lied ausgewiesene Gedicht mit der Eingangszeile “By all love’s soft yet mighty powers” artikuliert mit Nachdruck das Unbehagen des Libertins gegenüber dem weiblichen Geschlecht, das – bedingt durch zweifelhafte hygienische Standards – den Mann wiederholt mit dem Schmutz der conditio humana konfrontiert. Während der bereits er-
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Vgl. hierzu nur das ungewollte Wortspiel der Amme in Romeo and Juliet: “O, he is even in my mistress’ case, / Just in her case [= Vagina]” III, iii, 84f.; auch das mhd. Wort ‚Ficke‘ (= Tasche) betont diese Analogie von Hohlraum und Vagina und stellt den Geschlechtsakt mit dem wiederholten Einstecken in die vaginale Tasche gleich. Vgl. hierzu den detaillierten Eintrag zu dem Lemma ‘Scatology’ von Dieter Rollfinke in Jean-Charles Seigneuret (Hg.), A Dictionary of Literary Themes and Motifs (New York / London: Greenwood P, 1988), II, 1117–26. ‘The Lady’s Dressing Room’ Z. 2. Complete Poems, 448.
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wähnte sächsische Hofdichter Johann von Besser das Menstruationsblut nicht nur theologisch aufwertet, sondern den „bunten Einfluss“76 geradezu zu einer ästhetischen Kuriosität stilisiert, bringt Rochesters Sprecher in nunmehr libertinistischer Abwandlung des Lysistrata-Themas seine Aversion zum Ausdruck, mit einer sowohl vaginal als auch anal ‚unreinen‘ Frau in sexuellen Kontakt zu treten.77 Sich hierbei auf einen der frühneuzeitlichen Skatophilie zuwiderlaufenden Schicklichkeitskodex berufend konstatiert er somit unverblümt: It is a thing unfit That Men shou’d Fuck in time of Flow’rs Or when the Smock’s beshit.78
Obgleich auch Rochester sich hier der vorherrschenden floralen Metaphorik zur Beschreibung der Menstruation bedient, so liegt ihm jedoch nichts ferner, als jenem genitalen „blumen-busch“ ein enkomiastisches Lob zu zollen. Während Suckling und Cowley in ihren ‘Against Fruition’-Gedichten den Liebesverzicht ihrer Sprecher mit einem allgemeinen ennui und einer sexuellen Übersättigung begründen, nimmt der misogyne Ekel bei Rochester hier eine konkrete Gestalt an: Die “spotless Flames” (9) der maskulinen Begierde können erst dann wieder entfacht werden, wenn die als “[f]air nasty Nymph” (5) oxymorontisch adressierte Geliebte sich zu genitaler Hygiene und gewissen Vorformen späterer – ins Obsessive gesteigerter – Intimpflege bereit erklärt, By using Paper still behind And Spunges for before. (7–8)
In seinem genuin modernen Plädoyer für eine ‚saubere‘ Sexualität – “cleanly sinning” (14) – gibt er schließlich der tradierten Vorstellung vom Liebeskrieg eine eigenwillige Nuance, wenn er darauf hofft, nach jedem erotischen Gefecht (“close;” 10) seinen von der Reibung noch rauchenden Penis – “My smoaking Prick” (11) – intakt und ohne ‚blutende Nase‘ wieder vorfinden zu können. Das Entsetzen, das hier nicht nur der moderne miles amoris, sondern auch Swifts persona in Anbetracht der weib-
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„Nicht schäme dich / du saubere Melinde …“ Z. 4. Zitiert nach Die Entdeckung der Wollust, 51. Eine Vorstellung vom damaligen hygienischen Defizit gibt auch John Wilkes, wenn er schreibt: “the nobler parts are never in this island washed by women: they are left to be lathered by men.” Zitiert in Julia Peckman, Lascivious Bodies. A Sexual History of the Enlightenment (London: Atlantic Books, 2004), 15. Z. 2–4. Works, 37f.
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lichen Ausscheidungen und Sekrete verspürt, zeitigt gegen Ende des 17. Jahrhunderts immer deutlichere Folgen: Aufgrund der Wahrnehmung der Frau als kruder und schmutziger Materie (mater) verschärft sich nicht nur der Antagonismus der Geschlechter, auch die Homosexualität unter den Libertins und pseudo-Dandys verbreitet sich kontinuierlich. Nur erotische Debütanten vermögen, so bemerkt Rochesters Sprecher abschätzig, beim Anblick von Phillis in beschmutzter Leibwäsche noch eine Erektion zu bekommen – “None but fresh Lovers Pricks can rise / At Phillis in foul linnen” (15–16) –; erfahrene und desillusionierte Liebhaber, so die Implikationen zahlreicher libertinistischer Texte, tendieren in ihrer Abneigung gegenüber der Kloake des höllischen weiblichen Genitals immer stärker zu den Gepflogenheiten des homosocial bonding. In scharfer Abgrenzung von der Widerwärtigkeit des Vaginalverkehrs berufen sie sich zunächst auf die Kardinaltugend des Dandys: auf die durch Rausch motivierte zerebrale Prokreation von esprit (“Drinking to engender witt”).79 Doch mit dieser Form einer intellektuellen Kopulation lassen die Libertins es nicht bewenden: Mit unverhohlener Offenheit berufen sie sich auf sodomitische Praktiken, und dies nicht zuletzt aufgrund der numerischen Tatsache, dass der hierzu päderastisch ausgebeutete Page vierzig Prostituierte ersetzen kann: “There’s a sweet, soft Page of mine / Can doe the Trick worth Forty wenches.”80 b. Das libertinistische Paradoxon, das somit darin besteht, dass der Hedonist die als fäkalisch verabscheute Vagina durch den Anus eines Knaben zu ersetzen trachtet, liegt auch jenem farcenhaften Fünfakter zugrunde, von dem eine Version 1684 in Antwerpen unter dem Titel Sodom gedruckt und heute als ‚Hamburger Manuskript‘ allen zensorischen Bemühungen zum Trotz überliefert wurde.81 Bereits der erste Prolog, der sich ganz nach den Regeln des homosocial bonding an ein erlesenes männliches Auditorium wendet (“a noble audience;”1), zeichnet sich im wesentlichen aus durch eine beispiellose Aneinanderreihung von Invektiven gegen das weibliche Geschlechtsorgan. Gemäß dem libertinistischen Topos von der höllischen Vagina werden die weiblichen Genitalien zu79 80 81
“Love a Woman! Th’rt an Ass” Z. 12, Works, 38. Ebd., Z. 15f. Der vorliegende Text – der in der von Harold Love besorgten Gesamtausgabe von 1999 nur als Fragment aufgenommen wurde – basiert auf dem sogenannten Hamburger MS und ist 1904 von L. S. A. M. v. Römer in Paris verlegt worden (British Museum 14 SP 1905).
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nächst als “hot as fire” (12) beschrieben; doch der unmittelbare Kontext dieser Zeile macht es für den Interpreten deutlich, worin das Odium dieser säkularisierten Hölle im Konkreten besteht: Wie die donjuaneske Herabwürdigung der Frauen zu “[d]amned pocky jades” (12) nahelegt, hat die vaginale Hölle für Rochester und seine in der Tradition von Pandarus und Thersites stehenden Coterie einen ausgesprochen pathologischen Charakter angenommen.82 Im erotischen Diskurs der Libertins ist sie der Hort der Infektion, wo der roué den Gefahren sowohl der Syphilis, jener französischen oder neapolitanischen Pocken, als auch der damals epidemisch sich ausbreitenden Blattern83 schutzlos ausgesetzt ist. Das Zentrum Amors – “Loves proper center” (19) –, das in den barocken Schoßgedichten in einer lasziv epideiktischen Rhetorik gepriesen wird, erfährt somit durch die eigentümliche Semantik der morbidezza eine so radikale Dekonstruktion, wie sie erst später wieder Baudelaire in seiner carpe diem-Variation ‘Une charogne’ oder Gottfried Benn in der Thematisierung des „verkrebsten Schoß[es]“ in seinen ‘Morgue’-Gedichten gelingen sollte.84 Wie sehr jedoch der Aspekt der Krankheit mit dem von Rochester andernorts beklagten Zustand der genitalen Hygiene verknüpft ist, zeigt sich in einem Bild, das die Vagina in der vorliegenden Edition als “Loves nasty common sink” (23) und in der 1909 besorgten deutschen Übersetzung sogar als „der Liebe Jauchkanäle“ inszeniert.85 Die von syphilitischen Geschwüren übersäten Vulven – “[t]heir ulcer’d cunts” (20) – sind nicht nur aufgrund des exzessiven libidinösen Verlangens der Frauen, “by being so abus’d” (20), krank und entstellt; sie haben sich in der misogynen Phantasie der Männer überdies zu spermatischen Senk- und Abfallgruben transformiert, die wegen der unterlassenen Säuberung unerträgliche Gerüche absondern und somit maßgeblich dazu beitragen, dass die heterosexuelle Liebe in der libertinistischen Literatur als ein synästhetisches Fiasko begriffen wird. Statt der im späteren pornografischen Dis82
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Vgl. hierzu Curtis B. Icard, Venereal Iconography in the Poetry of John Wilmot, Earl of Rochester (Ann Arbor: University Microfilms, 1997). – Vgl. hierzu das der Pathologie entlehnte Wortfeld, womit in Shakespeares Troilus and Cressida die Erotik umschrieben wird: Helen wird als “contaminated carrion weight” (IV, i, 73) dargestellt, und am Ende zeigt sich der ganze body politic in Mitleidenschaft gezogen von den syphilitischen “aching bones” (V, xi, 50). Siehe auch Manfred Vasold, Pest, Not und Schwere Plagen, Seuchen und Epidemien vom Mittelalter bis heute (München: Beck, 1991), 180. ‚Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke‘ Z. 14. Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, hg. Bruno Hillebrand (Frankfurt/M.: Fischer, 1990), 28. Hamburger MS (Dortmund, 1983), 16.
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kurs verwendeten Metapher von der Vagina als einem läuterndem Hochofen (“a furnace mouth”), in dem die Penis-Maschine gestählt und aktiviert wird,86 imaginiert Rochester das weibliche Genital als einen stagnierenden Sumpf, in dem sich das angestaute Sperma (mit den Überresten von Menstruationsblut und Vaginalsekret) zu einer negativ konnotierten und unappetitlichen Brühe bzw. Soße87 verdickt hat: … perhaps you’ll find Some of their cunts so stufft with gravy thick That like an Irish Bogg, they’ll drown your prick. (25–27)
Die misogyne Vision eines (infektiösen) vaginalen Morastes, in dem der Penis zu ertrinken und seiner Potenz beraubt zu werden droht, stellt in diesem Kontext eine weitere Variation des Monströsen dar. Neben gigantischen vaginae dentatae gilt es für den Libertin nun, sich vor riesigen Grotten, Sümpfen und vaginalen Schluchten zu hüten. Mit der Ent-Lokalisierung der Hölle gerät die Sexualität somit unweigerlich zu einer Konfrontation des (tragikomischen) männlichen Heros mit gigantischen Geschlechtsteilen. Eindringlich warnt daher der Sprecher des auktorialen Prologs seine Zuschauer vor den höllischen syphilitischen Gefahren – “a damn’d swinging clap” (32) –, die die gleichsam als memento mori-Objekte fungierenden Vulven für den Mann bereithalten.88 Bereits Suckling hatte in einer libertinistischen Umwertung der barocken Vanitas-Symbolik auf den Verwesungscharakter der genitalen Öffnungen im weiblichen Körper hingewiesen; doch während der Cavalier auf den Aspekt der sexuellen Dekomposition mit der dandyistischen Pose des Erotikverzichts reagiert, kann Rochesters Sprecher sich fortan auf keine Instanz der Vernunftkontrolle mehr verlassen.89 So plädiert er dafür, dass in Anbetracht der in der Handlung zahlreich exponierten Vaginen – “cunts in sight / Like mad and furious horses in the fight” (45f) – das Auditorium seine Libido gewaltsam zügeln möge. Geradezu wie eine Parodie auf Odysseus’ Sirenen-Abenteuer mutet es an, wenn der Sprecher überdies rät, den kollektiv aufgefassten Penis des Publikums – “The unruly member” (44) – mit einem Seil zu befestigen oder gar in die monastizistische Isolation der Schamkapsel (“codpiss monestry;” 42) zu verbannen. Selbst der 86 87 88 89
Memoirs of a Woman of Pleasure, 81. Zu den sexuellen Konnotationen von ‘gravy’ vgl. DSL II, 618. “They’re dead to sin and do beginn to rot” (29). In seiner ‘Satyr against Mankind’ hat die Vernunft nur noch den Stellenwert eines “ignis fatuus in the mind” (Z. 12). Der Geist hat somit seine Suprematie an den Unterleib abgetreten.
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Autor, nunmehr in der Rolle eines genitalen Dompteurs, hat sich im Akt des erotisch konnotierten Schreibens dem Imperativ seines Geschlechtsorgans nicht entziehen können und – im Gegensatz zum dialogisch strukturierten homoerotischen ‘textual intercourse’ – sich nun masturbatorisch Erleichterung verschaffen müssen: The author’s prick was so unruly grown Whilst writing this, he could not keep it down But thinking on the postures of the play Was forc’d at last to take the strength away, And make him sick, by frigging till he spews A sweet revenge, cause he disturbs his Muse. (54–59)
In der für Rochester charakteristischen Semantik wird das sexuelle Verlangen vor allem als “unruly,” als unbeherrschbar bezeichnet. Im Unterschied zum Hl. Augustinus, der die Unbezähmbarkeit der Libido als eine Folge der Erbsünde betrachtet, rückt die Sexualität bei Rochester in die Nähe eines immanenten Weltwillens, dessen Monstrosität sich niemand zu entziehen vermag. Der Abstieg in die fäkalischen Niederungen der Sexualität ist daher mit einem Brechreiz, mit einem zwanghaften Drang (“[w]as forc’d”) gleichzusetzen, der sich nur in einem orgasmischen Spucken und Auswerfen (“sick,” “spews”) zu entladen vermag. Dabei fällt auf, dass die hier als “sweet revenge” paraphrasierte Ejakulation nicht mehr auf eine erotische Intimität zwischen Muse und Autor zurückzuführen ist; deklariert als ein Hemmnis für den kreativen Prozess – “cause he [= der Penis] disturbs his Muse” (59) – hat sich die körperliche Potenz von der intellektuellen Schaffenskraft abgekoppelt. c. Mit Rochesters anti-pornografischer Farce wird die barocke Konzeption der ars poetica als eine ars erotica nicht nur in einem obsessiven Akt der Onanie persifliert, sondern überdies wird die gesamte kulturgeschichtliche Verknüpfung von lingua und lingam – und dies en passant in einem kausalen Nebensatz – für obsolet erklärt. Während der erste Prolog verspricht, die libertinistische Neugier des Publikums zu befriedigen und zu diesem Zweck sogar einen Vergleich herstellt zwischen dem Theaterstück und einem mit Huren bestückten Garten (65ff), kommt es im zweiten Prolog zur totalen heterosexuellen Verweigerung. Für den Herrscher über Sodom, Bolloxinion, gilt nicht nur der Anblick eines Mädchens bereits als Hochverrat; in seinem phallozentrischen Reich vollzieht sich auch die bis ins 18. Jahrhundert literarisch virulente Akzentverschiebung 293
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von der Vagina zum knabenhaften Anus:90 “this made us retire / From humid cunt to humane arse all fire” (24f). Der im Stück mit allen Mitteln des Grotesken inszenierte Rückzug aus der Heterosexualität wird in diesem zweiten und kürzeren Vorwort legitimiert durch eine Frauenschelte, die neben den konventionellen Aspekten der sexuellen Unersättlichkeit und der notorischen Untreue des Weibes auch den Topos sowohl vom vaginalen Bann- und Zauberkreis als auch von der dämonisch genitalen Schwarzkunst wiederholt. Die Magie, die die Frau gemäß der Inkongruenz von Schein und Sein im Zauberkreis ihrer Schenkeln – “the Magic of her charming thighs” (14) – praktiziert, bezieht sich hier auf die Vortäuschung ihrer längst verlorenen Virginität. Von Anbeginn zum Hahnrei bestimmt ist der Mann, “some gawdy fop” (13), der aufgrund seiner philogynen Einfältigkeit ohnehin aus dem elitären Kreis der homoerotischen Libertins ausgeschlossen ist, sich des perfiden Ausmaßes jener typischen Form der weiblichen Alchimie nicht bewusst. Ohne dass er es bemerkt, vermag die Frau mit einer auf Hardys Arabella vorausdeutenden Verschlagenheit sich mit einem einzigen Kunstgriff (“allom”)91 von einer Hure in eine Jungfrau zurückzuverwandeln: “Cunt washt with allom makes a whore a maid” (19). Im Inferno der Moderne sind somit den Metamorphosen keine Grenzen gesetzt: Huren verwandeln sich zu Jungfrauen, Männer zu gehörnten Monstren, aus Vulven werden Teufelskreise und Höllenringe, der ursprüngliche Geburtskanal verformt sich zu einer unermesslichen Senkgrube, wo jeder Lebenskeim in einer Flut toxischer Säfte abgetötet wird. Nicht zuletzt aufgrund dieser Verwandlungen, dieser epistemologischen Abspaltung von Schein und Sein bekennt der Sprecher des zweiten Prologs sich zur homosexuellen Sodomie, einer im juristischen Diskurs streng verworfenen Sexualität contra naturam, die man nach dem Muster der erotischen Xenophobie einer bulgarischen Sekte zur Last legte: “Buggery we chose and Buggery we allow” (26). Im Unterschied zur renaissancistischen Auffassung von der Homosexualität als einer Ausprägung des male bonding, die sich grundsätzlich der Prokreation nicht verweigerte, erfährt die gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern nun eine Verabsolutierung, so dass der heterosexuelle Beischlaf, jener Bereich der 90 91
Zum weiteren Kontext siehe Cameron McFarlane, The Sodomite in Fiction and Satire 1660–1750 (New York: Columbia UP, 1997). Fanny Hill bedient sich dagegen im Bettpfosten versteckter Schwämmchen, die mit roter Farbe getränkt sind. ‚Allom,‘ das die vom 16. bis zum 18. Jahrhundert belegte Schreibweise von ‚alum‘ [= Alaun] darstellt, ist ein weißes Salz, das vornehmlich als Adstringens eingesetzt wird.
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Venus Pandemos, der einst komplementär zum amor divinus begriffen wurde, bestenfalls als ein Zeitvertreib für Stutzer und Parvenüs erachtet wird: “ … none but fops alone to cunts will bow” (27). In seinem Anspruch auf misogyne Exklusivität geht der Prolog-Sprecher letztlich sogar so weit, dass er gleichsam als Ergebnis einer unumstößlichen männlichen Deduktion das weibliche Geschlecht in toto mit einer Prostituierten gleichsetzt: “And she that hath a cunt will be a whore” (29). Das Unbehagen des Mannes vor dem weiblichen Genital, das sich in seiner Wahrnehmung bald zu einer Hölle oder einem Abgrund, bald zu einem Sumpf oder einer Kloake ausweitet, führt somit (nahezu notwendigerweise) zu einem extremen Phallozentrismus, der die heterosexuelle „Koitus-Idee“ bereits so stark in Zweifel zieht, wie dies unter anderen Voraussetzungen Otto Weininger zu Beginn des 20. Jahrhunderts tun wird.92 Das auf diesen Prämissen entstehende Menschen- bzw. Männerbild wird vor allem durch eine groteske Bildsprache transportiert. Sie zeigt, welche monströsen und vielfältigen Metamorphosen der Mensch / Mann in einer erotischen Devolution durchläuft, wenn der dualistisch zusammengefügte Zentaur sukzessive von seinem Unterleib bzw. seinen infernalischen Genitalien usurpiert wird.
3. Das Ende des Zentaurs – Der phallozentrische Mensch und seine Inszenierungen der Macht 3.1. Ubu avant la lettre Alfred Jarrys denkwürdige, das Theater des Absurden inaugurierende Bühnenfigur Père Ubu gilt im allgemeinen als eine der ersten Manifestationen des modernen, seiner Balance von ratio und passio verlustig gegangenen abdomidalen Menschen. Der nach dieser Figur entwickelte Begriff des „Ubuzentrischen“93 geht nun weit über den auf Suckling angewandten und von Stierle benutzten Terminus der negativen Anthropologie hinaus und bezieht sich hierbei auf eine neuartige Sicht des Menschen, die ausschließlich auf einen fäkalischen wie auch phallischen Materialismus bezogen ist. Ubu, in dem sich nur oberflächlich Züge von Falstaff und
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Geschlecht und Charakter, Kap. XII ‚Das Wesen des Weibes und sein Sinn im Universum,‘ 351. Jürgen Grimm, Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895–1930 (München: Beck, 1982), 61.
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Gargantua vereinen,94 erweist sich in seiner ausgeprägten Koprolalie und -phagie nicht nur als Modell der „gefährlichen Hypertrophien des Ordinären“95 und Atavistischen; dadurch dass er die überwiegende Mehrzahl seiner Sätze mit phallischen Flüchen einleitet – “De par ma chandelle verte”96 – und sich überdies mit Insignien wie jener berüchtigten “balai innommable” ausstattet, die das Phallische mit dem Skatophilen auf schockierende Weise verbinden, nehmen seine Inszenierungen der Macht immer wieder den Charakter einer sadistischen analen Penetration an. Die groteske Erfindung einer ‚Gehirnauspressmaschine,‘ ‘la machine à décerveler,’ die sogar als Akteur unter den dramatis personae aufgelistet wird, führt überdies drastisch vor Augen, dass – wie schon bei Rochester und Byron – dem Organ der menschlichen Vernunft in der Herrschaft des Unterleibs nunmehr keinen Platz mehr eingeräumt wird.97 Die Brüskierung, die im Theatergänger des Fin de Siècle durch diese Menschen- wie auch Herrscherkonzeption ausgelöst wird, lässt sich nun auch durch das Faktum erklären, dass die Dekonstruktion des Menschen in Ubu roi – wie die meisten ikonoklastischen Tendenzen in der Kulturgeschichte – sich vor dem Hintergrund eines differenten Weltbildes vollzieht. Schon die zahlreichen intertextuellen Verweise auf Shakespeares Dramen (Macbeth, Hamlet, Julius Caesar) machen augenfällig, dass Jarry sich in seiner parodistischen de casibus-Tragödie bewusst mit dem frühneuzeitlichen Denken auseinandersetzt und einen kritischen Dialog mit den Werken des Elisabethaners anstrebt. Neben dem in das Mythologem der Seinskette eingebetteten Herrscherkonzept ist es vornehmlich das dualistische Menschenbild, wie es Shakespeare in seinen Tragödien thematisiert, das Jarry mit der Entwicklung einer rein phallischen bzw. abdominalen Monstrosität verzerrt und ad absurdum führt. Selbst der in seiner Wahrnehmung beeinträchtigte Lear geht in der Anwendung des Zentaur-Bildes auf seine virago-Töchter noch grundsätzlich von einem im Körper vereinten Dualismus aus. Steht der Zentaur als chimärisches Mischwesen mit männlichem Oberkörper und Pferdeleib häufig für eine 94 95 96
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Jarrys Interesse an Rabelais wird nicht zuletzt durch sein Opern-Libretto Pantagruel bezeugt. Paul Pörtner, Nachwort zur deutschen Ausgabe des Stücks. König Ubu. Ein Drama in Fünf Akten (Zürich: Arche, 1981), 58. Ubu roi I, i, 7 u. ö. Œuvres complètes, hg. Michel Arrivé (Paris: Gallimard, 1972), I, 353. – Zur sexuellen Konnotation von Kerze und vaginalem Kerzenhalter siehe DSL I, 194ff. Dies zeichnet sich bereits in Byrons Don Juan (II, 77, 614ff.) ab, als das Gehirn des kannibalistisch verspeisten Pedrillo zusammen mit den Eingeweiden den Haien zum Fraß überlassen wird.
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unbezähmbare Form der paganen Animalität,98 so ist es seit der antiken Mythologie verbürgt, dass der Zentaur auch edle Charakterzüge aufweist und in der Gestalt des Cheiron sogar die Mysterien der Heilkunst symbolisiert. Die somit im Zentaur konzeptistisch begriffene coincidentia oppositorum von Körper und Geist, von sexueller Leidenschaft und Rationalität,99 wie sie in der althergebrachten Vorstellung vom Mensch als kosmischem vinculum auch philosophisch-theologisch untermauert wird, beeinflusst selbst noch Schiller und Goethe. Nicht nur das 6. Heft der Horen nennen sie wegen der Juxtaposition von sinnlicher Poesie und philosophischer Spekulation einen “Centaur;” gerade in der prekären Einheit von Tier und Mensch, in der grotesken Mixtur von ratio und passio spiegelt sich für sie das Ideal des ganzen Menschen.100 Aber nicht erst in Jarrys grotesker Kontrafaktur einer Königstragödie wird diese die Renaissance und die Romantik umspannende Totalitätsvision zugunsten einer rein phallischen Dominanz aufgehoben. a. Bereits in Rochesters libertinistischer Farce Sodom erweist sich die höfische Gesellschaft als organisiert nach dem Prinzip einer extremen Phallokratie, in der König Bolloxinion – umgeben und inspiriert von pornografischen Gemälden, jenen “Aretine’s Postures,” wie sie Raimondi in Kupferstichen darstellt101 – die Insignien seiner Herrschaft gänzlich mit seinem Penis gleichsetzt: “My Pintle only shall my scepter be; […] And with my Prick, I’ll govern all the land” (I, 6/8; Hervorhebung NL). Im Fin de Siècle scheint Félicien Rops post festum eine Illustration eines solchen phallozentrischen Monarchen angefertigt zu haben: In einer
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In Othello deutet bereits der Wirtshausname ‘Sagittary’ auf die zentaurische Natur des Mauren hin, der bald als “lascivious” (I, i, 124/156) und bald als “valiant” dargestellt wird (I, iii, 48). Die seinen Geist trübende Psychomachie ist daher auch eine innerseelische Zentauromachie. Friar Laurence versucht, Romeo die Zwienatur des Menschen, seine Zentauren-Beschaffenheit, mit dem Bild zweier Könige zu verdeutlichen, die in einer prekären Balance existieren und einander bedürfen: “Two such opposed kings encamp them still / In man as well as herb: grace and rude will.” Erst die Dominanz des letzteren führt zur Zerstörung des individuellen body politic: “And where the worse is predominant / Full soon the canker death eats up that plant.” (Romeo and Juliet II, iii, 23–26). Vgl. Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Zitiert nach Wolfgang Riedel, ‚Eros und Ethos: Goethes Römische Elegien und Das Tagebuch‘ Jahrbuch der Schillergesellschaft (1996), 171f. Siehe Gedichte und Bilder in der zweisprachigen Ausgabe und Neuübersetzung von Thomas Hettche, Stellungen. Über den Anfang und das Ende der Pornografie (Köln: DuMont, 2003).
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Louis XIV. darstellenden Zeichnung stolziert der blasierte Sonnen-König mit einem überdimensional erigierten und gekrönten Penis auf einer Weltkugel umher; der in der linken Hand getragene Reichsapfel hat deutlich die Form eines Gesäßes, das der Herrscher mit seinem Zeigefinger beiläufig zu penetrieren versucht. Die sowohl bei Rops als auch bei Rochester mit den Mitteln des Grotesken priapistisch inszenierten Könige verweisen auf die Dekonstruktion des ganzheitlichen und zentaurischen Menschen, der im eklatanten Gegensatz zur Tugend des nosce teipsum nun seinerseits von den abdominalen Regionen seines Körpers regiert wird. Dabei handelt es sich hier nicht mehr um eine zeitlich limitierte karnevaleske Inversion von Leidenschaft und Vernunft bzw. von libido und ratio; vielmehr geht es um die Darstellung einer permanent verkehrten Welt, in der nach der Preisgabe sowohl der chain of being als auch der durch sie bedingten contre-textualité sich das Untere und Genitale verabsolutiert haben. Vor allem die Herrscherportraits der Frühen Neuzeit zeigen in der oft hyperbolischen Betonung der Schamkapseln, dass politische Macht stets aufs Engste mit sexueller Potenz verknüpft ist; in bezug auf die Herrschaftssymbole lässt sich sogar nachweisen, dass – wie in komischer und komplementärer Verkehrung das genitale Narrenezepter (bauble) nahelegt102 – die königlichen Insignien stets in einem sowohl phallischen als auch prokreativen Kontext zu verstehen sind.103 In ihrer Studie zu Shakespeares Herrschergestalten vermag Renate Schruff überdies darzulegen, dass die Prokreation zu den wesentlichen gottgegebenen Pflichten eines Monarchen der Frühen Neuzeit zählt, ist man doch bis zu Jakob I. der Vorstellung verpflichtet, dass ein synergetischer Zusammenhang zwischen der ostentativ zur Schau gestellten potenten Physis des Herrschers und dem fertilen Zustand seines Landes bestehe.104 Das Gegenbild hierzu, das exemplum horrendum, eines zugleich unfähigen und sexuell impotenten Königs verkörpert der bereits von Chrétien de Troyes in die europäische Literatur eingeführte Fischerkönig, der roi pescheor, im Umkreis der Artus-Legende. Noch in T. S. Eliots The Waste Land bildet dieser die mythologische Folie zu den verschiedenen Ausprägungsformen des sterilen 102 103 104
Vgl. hierzu William Willeford, The Fool and his Sceptre. A Study in Clowns and Jesters and their Audience (Evanston Ill.: Arnold, 1969), 37. Siehe hierzu auch DSL III, 1201f. Schruff, hier vor allem Kap. V, 4, 164ff. – Die Tatsache, dass Malcolms Virginität in Macbeth betont wird – “I am yet / Unknown to woman” (IV, iii, 125f.) – steht nicht im Widerspruch zur königlichen Fertilität, sondern gilt hier als Gegenentwurf zur pervertierten und sterilen Tyrannis des Usurpatorenehepaars.
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Abb. 9: Félicien Rops, Tout est grand chez les rois. Namur, Musée Rops © Musée Rops, Namur.
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und morbiden amor absurdus der Moderne.105 Leidet Amfortas an einer nicht näher definierten, in jährlichen Zyklen immer wieder aufbrechenden Wunde an oder zwischen den Oberschenkeln,106 so dass er nicht mehr in der Lage ist, seinen body politic nach den Vorstellungen eines königlichen Sämanns zu bestellen bzw. zu imprägnieren, so gestaltet Rochester in seinen – partiell auf Karl II. gerichteten – Satiren das entgegengesetzte Extrem herrschaftlicher Unfähigkeit: den libidinösen und wollüstigen König, der in seinem Phallo- oder Ubuzentrismus ausschließlich mit seinem Penis regiert und, wie im Fall Bolloxinions, sich aufgrund seiner homoerotischen Exklusivität als ebenso unfruchtbar erweist. Der Rückzug in einen (implizierten) sodomitischen private mode, der in der Maßlosigkeit dazu führt, dass der König seine Prokreationspflicht vernachlässigt und der Staat droht, in die Hände von Usurpatoren zu fallen, ist letztlich der Grund dafür, dass Eduard II. in Marlowes Tragödie am Ende seiner passio regis mit einem glühenden Stab anal penetriert wird. In der Restaurationszeit hingegen wird die auf der Misogynie gegründete Anti-Kreation nun zu einem hedonistischen Programm: So lässt der ganz nach dem Diktat seiner phallischen Lust agierende Bolloxinion verlauten, dass fortan der Analverkehr als amouröses l’art pour l’art die einzig geltende Form der Sexualität darzustellen habe: I do proclaim, that Buggery may be us’d Through all the Land, so Cunt be not abus’d … (I, 13)107
Wird Eduards homoerotisches Refugium stets bedroht von Intriganten und selbst ernannten Vertretern einer heterosexuellen Normativität, so trifft Bolloxinions Entscheidung allenthalben auf Akzeptanz: Verstöße gegen das königliche Dekret werden durch die libertinistische Anwendung einer lex talionis mit einer genussvollen analen Penetration vergolten – eine Maßnahme, die nicht nur den rigoristischen Grundsatz des contrappasso außer Kraft setzt, sondern auch die von Duerr interkulturell nachgewiesene Konvention des „‚Ficken[s]‘ von Feinden und Rivalen“ in ein hedonistisches Vergnügen umwertet:108 His arse shall suffer for his Prick’s offence, In ropy seed my spirit shall be sent With joyfull tidings to his fundament. (I, 15; Hervorhebung NL)
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Vgl. insbesondere Lennartz, Absurdität vor dem Theater des Absurden, 181ff. Schruff, 164. Die Akt- und Seitenangaben folgen der Ausgabe von 1684. Duerr, Obszönität und Gewalt, 242ff.
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Die Königin wie auch die Hofdamen mit ihren sprechenden Namen – Fuckadilla, Clytoris und Cunticula – versuchen in ihrer genitalen Unersättlichkeit dem sodomitischen male bonding mit eigenen Initiativen zu begegnen. Als sichtbares Zeichen dafür, dass in der Restaurationsepoche die Sexualität ihre Teleologie preisgegeben hat, bedienen sie sich zur Befriedigung ihrer übertrieben vaginalen Bedürfnisse ihrer Dildos. Doch im Unterschied zu Rochesters Gedicht auf ‘Seigneur Dildoe,’ wo die Frauen der haute société sich an jenem, seit Aretinos Ragionamenti in der Literatur etablierten und als Count Cazzo personifizierten Penis-Surrogat delektieren, erweisen sich die Dildos hier als uneffektiv. Als sichtbares Zeichen für die Monstrosität des abdominalen Menschen haben sich ihre Vulven über alle Maßen ausgeweitet, so dass die Dildos sich nun als viel zu klein herausstellen und nur Enttäuschung bereiten: “Indeed they’re paltry ware” (II, iii, 21). Gleichsam als weitere Umkehrung der aristophaneischen Lysistrata-Komödie führt Rochester in immer neuen Variationen vor Augen, wie die Frauen die Folgen des homoerotischen Rückzugs der Männer zu kompensieren bemüht sind. Zeigt sich das Augustan Age aufgrund der Wertschätzung der opinio communis als homophob,109 so entspricht es dem Zeitgeist der Restauration, wenn Rochester mit Bolloxinions sodomitischem Königreich (zunächst) die utopische Vision einer homosexuellen Enklave gestaltet, die in ihrer misogynen Verweigerung das weibliche Geschlecht schier zur Verzweiflung treibt. Mit Hilfe der Teichoskopie erfährt der König – und mit ihm auch die Libertins im Auditorium – von Buggeranthos,110 dass die Frauen in Ermangelung eines männlichen Genitals nicht nur auf die Masturbation, sondern vor allem auf den Verkehr mit Hunden und anderen Tieren zurückgreifen: Dildoes and dogs, with women do prevail I caught one frigging with a bob’d Cur’s tail. (IV, 39)
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Vgl. z.B. Tobias Smolletts The Adventures of Roderick Random, ed. Paul-Gabriel Boucé (Oxford: Oxford UP, 1979, rpt. 1991), 310, wo auf Earl Strutwells Plädoyer für die Homosexualität Roderick nur mit Empörung reagiert und die gleichgeschlechtliche Liebe unter Männern “as an appetite unnatural, absurd, and of pernicious consequence” ablehnt. Auch Fannys Entsetzen kennt nach dem voyeuristischen Beobachten eines homosexuellen Liebesaktes keine Grenzen. Diese Variante der Liebe ist für sie nicht nur kriminell, sondern auch in höchstem Maße moralisch verwerflich: “there was a plaguespot visibly imprinted on all that are tainted with it, in this nation at least.” Memoirs of a Woman of Pleasure, 159. Das griechische Suffix anthos = Blüte geht auf die florale Metaphorik für den Anus zurück.
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Das Monströse dieser entfesselten Sexualität entfaltet sich nicht erst, wie Goetsch impliziert, im Verlauf des 19. Jahrhunderts, um dann im 20. Jahrhundert, in der libidinösen Gestaltung des King Kong-Giganten zu kulminieren: In Anlehnung an die mythologische Gestalt der Pasiphaë, der Gebärerin des Minotaurus-Monsters, kommt es bei Rochester immer wieder zu unnatürlichen Kopulationen, zu obszönen Vereinigungen nach dem Muster der Schönen und des abjekten Biestes. So berichtet Buggeranthos von einer Frau, die in ihrer maßlosen sexuellen Gier sich vergeblich darum bemüht, von einem Hengst begattet zu werden. Ihre groteske Beteuerung, dass ihre Vagina in bezug auf das Fassungsvermögen dem Geschlechtsteil einer Stute in nichts nachstehe – “my cunt could spare / Perhaps as much room as his Lady Mare” (IV, 40) –, bestätigt nicht nur die genitale Gigantomanie, die in der Literatur und Kunst der Restaurationszeit um sich greift; sie beweist auch im Kontext von Rochesters Zeit- und Moralkritik, dass der abdominale Mensch in der Moderne – und hierin gelten Mann und Frau als durchaus gleichberechtigt – auf der evolutionären Stufe eines brünstigen und vernunftberaubten Tieres zurückgeblieben ist. Seiner theomorphen Eigenschaften endgültig beraubt ist der abdominale Mensch ausschließlich auf die Befriedigung seiner libidinösen Bedürfnisse fixiert. Dabei scheint es im Zuge einer rasanten ‚Ent-Ikonographisierung‘ der Moderne keine Signifikanz mehr zu haben, dass neben dem Pferd insbesondere dem Hund traditionell eine negative symbolische Bedeutung zukommt: Ausgehend von den alttestamentlichen Proverbien (26,11) sah man im Hund, der sein Erbrochenes wieder frisst, stets ein Bild des rückfälligen Sünders; und nicht zuletzt aus diesem Grund gehört er als Inbegriff des unsittlichen und barbarischen Menschen zu jenen, die in der Johannes-Offenbarung (22,15) vom Eintritt in die Gottesstadt ausgeschlossen sind. Ihrer vielschichtigen und altüberlieferten Symbolik entkleidet werden im libertinistischen Kontext sowohl Hunde als auch Pferde – letztere von jeher Sinnbilder des wollüstigen amor ferinus111 – nur noch auf ihre phallischen Funktionen reduziert. Gemäß einem an Bolloxinions Hof praktizierten sexuellen Utilitarismus werden sie dabei nach der Größe ihrer Geschlechtsteile einer neuen chain of being zugeordnet, in der die scala perfectionis nun durch eine scala genitalis ersetzt wird. Oberhaupt und telos dieser nunmehr genitalen Hierarchie sind folglich nicht mehr die ehemaligen ‚Königstiere‘ Löwe, Ad-
111
Lurker, 567 und Ps. 32, 9.
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ler und Delphin, sondern der Elefant aufgrund der Monstrosität seiner Geschlechtsteile: Industrious Cunt shall never Pintle want, She shall be mistress to an Elephant. (IV, 40)
b. Rochesters libertinistische Farce endet in Anlehnung an den biblischen Untergang Sodoms mit einer Weltendämmerung, die zum einen als ein Abgesang auf die Utopie eines sodomitischen male bonding, aber auch als Ausdruck des zunehmenden Unbehagens an der Amoralität des karolinischen Hofes begriffen werden kann.112 Frönt Bolloxinion zunächst noch in der Idiomatik Tamburlaines seinem blasphemischen Größenwahn, wenn er beabsichtigt, nunmehr auch die Götter anal zu penetrieren – “I’ll then invade and bugger all the Gods / And drain the spring of their immortal cods …” (V,ii, 51) – so tritt plötzlich mit Flux, dem Leibarzt des Königs, in Analogie zum deus ex machina die ernüchternde Stimme der medizinischen Realität in die misogyne Phantasmagorie. Wie Des Esseintes am Ende von Huysmans’ A rebours von seinem Arzt zur Erkenntnis gezwungen wird, dass der Rückzug in seinen misanthropischen Ästhetizismus am Diktat des Körpers scheitert, so muss Bolloxinion schließlich ebenso einsehen, dass sein homosexuelles à rebours sich nicht gegen ein teleologisch definiertes Naturgesetz durchzusetzen vermag. Eine epidemisch sich verbreitende Geschlechtskrankheit hat die Nation in Verkehrung ihrer etymologischen Bestimmung113 zu einer moribunden Endzeitgesellschaft, zu einem todgeweihten Porno-Dystopia verwandelt – “Some fuck and bugger thô they stink alive” (V,ii, 52): Die Königin ist bereits verstorben, und in der Folge einer inzestuösen Vereinigung – eines weiteren, nicht minder provokanten sexuellen à rebours – hat sich der Thronfolger mit der Gonorrhöe infiziert, wohingegen die Prinzessin in geistige Umnachtung verfallen ist: “Raving and mad the Princess is become, / With pains and ulcerations in her womb” (V,ii, 52). Neben dem Einbruch des Monströsen ist es abermals die Emergenz des Pathologischen in der Utopie – Schmerzen, Wahnsinn, Genitalabszesse –, die Rochesters Vereinnahmung durch die Pornografie verhindert. Das den Libertins vor Augen geführte homosexuelle Paradies wird 112 113
James William Johnson, A Profane Wit. The Life of John Wilmot Earl of Rochester (Rochester: U Rochester P, 2004), 164. Laut OED X, 231 leitet sich ‘nation’ von lat. nascior – natus sum ab.
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nicht nur am Ende als eine Illusion entlarvt; der gesamte hybride Hedonismus der von Karl II. verkörperten abdominalen Herrschaft wird in diesem Stück einer beißenden Persiflage unterzogen. Daher rät Flux sowohl als Sprachrohr der moralisierenden opinio communis als auch als Repräsentant des Natürlichen zu einer Rückbesinnung auf das naturgegebene prokreative telos der Sexualität: To Love and nature all their rights restore – Fuck women and let buggery be no more: It doth the procreative End destroy, Which nature gave with pleasure to enjoy. (V,ii, 52f.)
Als sich Bolloxinion bis zuletzt diesem in den erotischen Diskurs übertragenen Prinzip des delectare et prodesse verschließt und Shadwells Don John nicht unähnlich den metaphysischen Mächten trotzt, ist die Auslöschung Sodoms als homosexuelle Thebais endgültig besiegelt. Dem Niedergang Sodoms wird letztlich in zwei Epilogen – gleichsam als Korrektur zu der männlichen Sicht der Prologe – aus einer (pseudo-) weiblichen Perspektive die Natürlichkeit der Heterosexualität entgegengestellt. Dabei wird evident, dass im Spiegel der männlichen Wahrnehmung die Frauen nicht minder fixiert sind auf ihr Genital, und dass der Phallozentrismus stets in Konkurrenz tritt zu einem ebenso obsessiven wie kompromisslosen Vagina-Zentrismus. Als Fanny Hill sich von Mr. Norbert unzureichend befriedigt fühlt, rechtfertigt sie ihre Promiskuität damit, dass sie ihre Vagina als ein autonomes, von den anderen Körperteilen geradezu detachiertes Machtzentrum beschreibt: “ … there is a controuling part, or queen-seat in us, that governs itself by its own maxims of state.”114 Gleichermaßen beherrscht vom Imperativ ihres Genitals zeigt sich im zweiten Epilog auch Fuckadilla, die Johnson als Lady Castlemain identifiziert.115 Sie beklagt nicht nur die sodomitische Ejakulation als einen Verstoß gegen verbürgte “Cunt Laws;” sie stellt überdies ihre Vagina als eigenständige Entität vor: … oh h…ns how my cunt itches; See how it frets and soames at mouth … (Epilogue, 56)
Evoziert Aphra Behn eine mythische Ära, in der eine universelle Androgynität eine genitale Gigantomachie noch ausschließt,116 so ist die écriture masculine geprägt von der Idee eines Ubuzentrismus, der auch 114 115 116
Memoirs of a Woman of Pleasure, 138. Johnson, A Profane Wit, 166. ‘The Golden Age’ Works I, 30–35.
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die weiblichen Charaktere erfasst: Den Männern in nichts nachstehend erweisen sich Rochesters weibliche personae als besessen von einer genitalen Hyperbolik: Der von ihnen herbeigesehnte Mann darf in bezug auf seine genitalen Maße kein geringerer sein als “a great Priapus” (Fuckadilla’s Epilogue, 57); gemäß dem quantitativen Erotikverständnis der Libertins nimmt die Größe des imaginierten Penis – “a brave stiff romantic swinging Prick” (57) – geradezu groteske und ‚romanzenhafte‘ Proportionen an: “twice five inches long and seven thick” (Ebd.). Was die Dominanz des genitalischen contre-texte nachhaltig unterstreicht, ist aber nicht allein die Tatsache, dass im Zerrspiegel dieser Wahrnehmung der abdominale Mensch mit einer Monstrosität ausgestattet ist; die Suprematie der quantitativen Sexualität wird vor allem dadurch betont, dass die aus libertinistischer Perspektive sprechende Frau vorzugsweise mit zehn Männern gleichzeitig zu verkehren und somit ein die heutige Pornografie antizipierendes gang-bang avant la lettre zu inszenieren hofft.117 Mit der Aufgabe des zentaurischen Menschenbildes hat der homo eroticus endgültig seine Souveränität verloren; es entsteht – unabhängig von seinem Geschlecht – der von seinem Genital tyrannisierte Tyrann, der von seinem Körper entmündigte Despot – Ubu enchainé.118 3.2. Das corpus bestiale des Königs In dem auf 1673 datierten und in vier Textversionen überlieferten Gedicht ‘In the Isle of Brittain …’119 wendet Rochester seinen ganzen erotischen Zynismus auf, um einen solchen genitalisch dominierten Herrscher vorzuführen. In diesem als “political pornography” kategorisierten Portrait Karls II.120 – wie auch in anderen Satiren – verzichtet Rochester auf die Phantasmagorie zugunsten der Realität und wählt statt des biblisch entrückten Sodom die ihm vertraute Umgebung des Hofes von Whitehall. Doch trotz dieser Divergenzen zeigt sich sehr bald, dass die 117
118 119 120
“Come 7 or 8 at least, come half a score: / I’ll swive with all, till I can swive no more.” (Epilogue, 58). Wie in einer erotischen Auktion brüstet sich Madame Swivia in ihrem Lob auf ihr Genital (‘Madam Swivia in Praise of her Cunt’) damit, diese Zahl noch zu überbieten: “Nay cantheslike we’ll swive with forty men” (58). So – neben Ubu cocu – der Titel des zweiten Teils in Jarrys Ubu-Trilogie. Works, 85ff. – Die Zeilenangaben folgen überwiegend der Textversion A, wobei Varianten aus Versionen C und D mitberücksichtigt werden. Rachel Weil, ‘Sometimes a Scepter is Only a Scepter. Pornography and Politics in Rochester’s England’ The Invention of Pornography. Obscenity and the Origins of Modernity 1500–1800, hg. Lynn Hunt (New York: Zone Books, 1993), 125–53; 141.
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Ähnlichkeiten überwiegen, und dass der spätere sodomitische Bolloxinion mit dem heterosexuellen Karl in der genitalischen Reduktion, im phallozentrischen Lebensentwurf auffallend übereinstimmt. a. Gemessen an der propagandistischen (Selbst-) Inszenierung Karls als astraea redux, als Phönix und christologischen Wunderheilers (roi thaumaturge)121 zeichnet sich in Rochesters Gedichten ein bis dato unbekanntes Herrscherverständnis ab, das – wie Anette Pankratz darlegt122 – die herkömmliche „mystische Fiktion“123 von den ‚zwei Körpern des Königs‘ um die Kategorie des animalischen Körpers, “the sexualised body bestial,”124 erweitert. So geht die sowohl von Ernst H. Kantorowicz aufgezeigte als auch später von Renate Schruff auf Shakespeare applizierte Zwei-Körper-Theorie einerseits von einem der conditio humana unterworfenen corpus naturale und andererseits von einem unsterblichen corpus mysticum aus.125 Geradezu als negative Replik hierauf entsteht nun – bedingt durch enttäuschte Hoffnungen nach der Feuersbrunst von London und der Niederlage in den Kriegen gegen Holland – in den Satiren und puritanischen Schmähschriften der Restaurationszeit die image des Königs als libidinöser Bestie,126 die die Flammen der brennenden Stadt mit ihren Ejakulationen zu löschen glaubt. Umgeben von einer grotesken Menagerie von Höflingen und Mätressen durchläuft Karl in den Pamphleten und Spottgedichten Marvells,127 Ayloffes und anderer zahllose Metamorphosen in wollüstige und phallische Tiere. Als Inkarnation 121
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In seinem epideiktischen Gedicht ‘On St. James’s Park, As Lately Improved By His Majesty’ inszeniert Waller den König als numinoses Wesen, das umsichtig sein Land ordnet (“Here Charles contrives the ordering of his states;” Z. 77) und politische Spaltungen überwindet: “Born the divided world to reconcile” Z. 132. Poems II, 42 / 45. ‘The Culture of the King’s Three Bodies’ Dryden and the World of Neoclassicism, hg. Wolfgang Görtschacher / Holger Klein (Tübingen: Stauffenburg, 2001), 257–72. Der Begriff stammt von Ernst H. Kantorowicz, Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters (München: DTV, 1990 [1957]), 27. Pankratz, 257. – Zu den kontradiktorischen Inszenierungen Karls II. vgl auch Paul Hammond, The Making of Restoration Poetry (Woodbridge: Boydell and Brewer, 2006), 111ff. Vgl. Schruff, 211. Im Gegenzug bedienen sich die Royalisten wie Lovelace in ihrer Propaganda gegen Cromwell gleichermaßen der Körper-Metaphorik. So heißt es in ‘A Mock-Song’ (“Now Whitehalls in the grave …”) auf “brave Oliver-Brutus” (14): “And the Body [= body-politic] is all but a Belly” (20). Auch Cromwell wird somit als die Emergenz des Ubuzentrischen dargestellt. Poems, 154f. Vgl. auch ‘The Kings Vowes:’ “Of my Pimp I will make my Minister Premier, / My Bawd shall Embassadors send farr and neare …” Z. 43–44. Poems and Letters, 174.
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des bislang extrapolierten Monströsen wird er bald als “goat, fox, timorous French ape,” bald als “old ill-favor’d stallion” oder als “monstrous foul beast” verunglimpft128 – ein beispielloses Königsbild, das selbst auf reges inutiles wie Richard II. oder Eduard II. nicht angewendet worden ist. Obgleich Rochester in seinem invertierten Enkomion sich der deutlichen Semantik der Bestialität nicht explizit bedient, entspricht das von ihm entworfene Bild des Stuart-Monarchen in allen Einzelheiten den in den subkulturellen Genres verbreiteten Vorstellungen vom König als instinktgeleitetem Wesen, als phallozentrischer und abdominaler Karikatur seiner höfischen Selbst-Repräsentation. Dabei verblassen die “king-becoming graces,” wie sie in Shakespeares Königstragödien stets als positive Folien vorhanden sind,129 zur bloßen Reminiszenz, zum belanglosen Kultur-Zitat. b. Zunächst gibt das Gedicht den Anschein, dass der aufgrund seines libertinistischen Lebenswandels gefeierte princeps – “the easiest king and best bred Man alive” (A4) – sich positiv vom französischen Sonnenkönig, “the French fool” (6), abzuheben versteht. Frei von allen Ambitionen und somit von allem, was im früheren Herrscherverständnis in die Nähe der Todsünde der avaritia reicht, scheint Karl darauf zu verzichten, einerseits seine Untertanen zum Zwecke des eigenen Ruhms auszuhungern und andererseits seine Krone als Symbol der wiederhergestellten Seinsordnung nach der Puritaner-Diktatur aufs Spiel zu setzen. Doch spätestens in den folgenden Zeilen, in denen Karl als friedliebender und sanfter Monarch beschrieben wird – “[p]eace was his Aime, his gentleness was such” (A8) – zeigt sich, wie die epideiktische Huldigung von einem frivolen und bissigen Subtext unterminiert wird: Nicht nur die Homophonie von ‘peace’ und ‘piece’ rückt das staatspolitische telos Karls in ein fragwürdiges Licht; auch die Behauptung, dass er den Geschlechtsverkehr liebe – “[a]nd Love he lov’d, For he lov’d Fucking much” (A9) – macht evident, in welchem Ausmaß sein Verständnis vom Frieden genitalisch-amourös (aime = franz. aimer) definiert und von der Bedeutung ‘piece’ = Vagina oder Hure überlagert ist.130 Rops’ spätere 128 129
130
Zitiert nach Pankratz, 262. Vgl. vor allem Macbeth IV, iii, 91. So gilt neben ‘Justice’ und ‘Verity’ vor allem ‘Temp’rance’ als eine der wesentlichen Tugenden des umsichtigen und benevolenten Königs. DSL II, 1024f.
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Louis XIV.-Persiflage antizipierend richtet sich Rochesters Verunglimpfung seines Gönners zunächst auf die überdimensionale Größe seines Phallus – ein Objekt allgemeiner Mutmaßung, wie bereits Pepys’ Tagebuch-Eintrag vom 15. Mai 1663 bezeugt.131 “His Sceptre and his Prick were of a length” (A11) – mit dieser Inszenierung Karls als priapistischen Monarchen unterstellt Rochester ihm nicht nur implizit einen Verstoß gegen das klassizistische Verständnis von Ästhetik und Proportion;132 ein von einer solchen Rabelais’schen Protuberanz beherrschter König erweist sich überdies in Abgrenzung von der ostentatio genitalium der Frühen Neuzeit sowohl als korrupt als auch als defizitär, da der phallozentrische Herrscher als Opfer seiner eigenen Wollust im Umgang mit Prostituierten und Mätressen seine sexuellen wie auch ökonomischen Ressourcen vergeudet. Ohne ratio, jene bei Donne als Statthalter Gottes im Menschen definierte Kraft,133 steht Karl nun paradigmatisch für die bei Shakespeare und Marlowe nach dem Prinzip des Mirror for Magistrates stets dystopisch in Aussicht gestellte Desintegration des Herrscherideals: Als “cully of Britain” (D14)134 der Lächerlichkeit preisgegeben unterscheidet sich der absolutistische Stuart-Monarch vom französischen Despoten (“the hector of France;” D14) hauptsächlich dadurch, dass er ein bemitleidenswerter Herrscher, ein “[p]oor prince” (D17), ist, der – wie seine clownesken Höflinge – vom Totalitarismus seines Phallus gleichermaßen bevormundet wird: … thy p:, like thy buffoons att court, Does govern thee because it makes thee sport. (D17–18)135
Ganz in der Manier eines amoralischen Gewaltherrschers, der sich sowohl über die traditionellen Vorbehalte gegen das luziferische Attribut der superbia als auch über Fragen der Sicherheit, des Gesetzes und der Religion hinwegsetzt, verfolgt der repräsentative Teil des königlichen corpus animale – “The prowdest, peremptory Prick alive” (A19) – unbe131 132 133 134
135
“a large ----” The Diaries of Samuel Pepys IV, 137. Die Länge von Karls Zepter soll 2 Fuß und 10,5 inches betragen haben, also umgerechnet 87,63 cm, vgl. Selected Poems, hg. Paul Hammond (Bristol: Classical P, 1982), 26. Holy Sonnets XIV, “reason your [= God’s] viceroy in me” (7). Poetical Works, 299. Die Etymologie von ‘cully’ ist nicht gesichert: Farmer und Henley (Slang and its Analogues I, 228) vermuten einen homophonen Bezug zu franz. ‘couillon;’ siehe auch DSL I, 349f. Vgl. dagegen Lucrezias Evokation des königlichen Idealbildes, das sie Tarquinius vergeblich entgegenhält: “for kings like gods should govern everything” (Rape of Lucrece, Z. 602). In den Textversionen A und C deutet das Pronomen “Us” statt “Thee” auf die Auswirkungen auf den body politic.
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irrt sein hedonistisches Ziel: “Twou’d breake thrô all to make it’s way to C--t” (A19). Dabei kann die Divergenz zwischen dem stolzen und diktatorischen Genital und dem stets horizontal agierenden König kaum größer und intensiver sein: In deutlicher Brüskierung der aufrechten majestas-Pose, die in der Herrscher-Ikonografie den christologischen Aspekt der Königswürde betont, zeigt Rochesters Karl, wie er in der Ruhelosigkeit seines libidinösen Verlangens – nahezu zu einem willenlosen Spielball degradiert – von einer Hure zur anderen rollt und somit das Spottbild eines (tragi-)komischen Monarchen abgibt: “A merry Monarch, scandalous and poore” (A22). Wie nahezu in allen Gedichten und Bühnenstücken Rochesters so tritt auch in dieser Persiflage auf den König ein Paradoxon zutage, das der Intention der im 18. Jahrhundert um sich greifenden Pornografie grundsätzlich widerspricht: Die Größe des Genitals steht in einem krassen Missverhältnis zu seiner Virilität; das transgressive Gebaren des phallozentrischen Menschen geht oft mit einer eigentümlich dekadenten Sterilität, mit einer schonungslosen Offenlegung des eigenen Unvermögens einher. So wird der Stolz des szepterähnlichen Genitals, das sich kompromisslos seinen Weg zur Vagina bahnt, im letzten Viertel des Gedichts erheblich eingeschränkt und relativiert: Beim Geschlechtsverkehr mit seiner einflussreichsten Mätresse, der maîtresse en titre Madame de Keroualle und späteren Herzogin von Portsmouth136 – hier anglisiert zu “Carwell” (24) –, wirkt das königliche Gemächt bereits äußerst beansprucht und in einem Zustand der Erschlaffung. So heißt es in Textversion C: For though in her he settled well his Tarse, Yet still his graceless Ballocks hang an Arse. (C34–35)
Das Versagen der prokreativen gratia des Königs (“graceless Ballocks”) hat schließlich auch seine Auswirkungen auf Eleanor (‘Nell’) Gwyn, jene Schauspielerin, auf die Karl während einer Aufführung von Drydens Tyrannic Love, or the Royal Matyr (1669) aufmerksam wurde. Im Gegensatz zu Peter Lelys Inszenierung der Mätresse und ihres Sohnes als Venus und Amor nennt Rochester sie hier “laborious Nelly” (A29), fällt ihr doch in der Rangabfolge der Liebhaberinnen die undankbare Aufgabe zu, mit dem Einsatz ihres Körpers – “Hands, Armes, Fingers, Mouth and Thighs” (A31) – den erschlafften Penis des Herrschers, das membrum virile (“the limb which each Night shee enjoyes;” A32), wieder aufzurichten. 136
In Sodom satirisiert als Clitoris. Siehe Johnson, A Profane Wit, 166.
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c. Somit sind wir ebenso weit von einer “political pornography” wie auch von einer Darstellung Karls II. als “priapic idol” entfernt,137 wenn Bolloxinions Infertilität in seiner exklusiven Konzentration auf ein sodomitisches male bonding begründet liegt oder der König als ein zwischen Lüsternheit und Unvermögen willenlos oszillierender Monarch vorgestellt wird. Geradezu die von Lynn Hunt u.a. auf das 16. Jahrhundert datierte Erfindung der Pornografie konterkarierend, konzentriert sich die Restaurationszeit auf ein Subgenre, ‘the premature ejaculation poetry,’138 das dieser obsessiven Beschäftigung der Libertins mit einer gestörten oder gescheiterten Sexualität besonders Rechnung trägt und schon bald zur Modegattung avanciert. Überdies zeigt sich nicht nur hier in pointierter Form, worin sich der abdominale Mensch der Moderne von der karnevalesken Körperkonzeption früherer Zeiten unterscheidet. Stellt letztere ein Bekenntnis zur Regeneration und Vitalität dar, die einer gesunden Lachkultur verpflichtet ist, so erweist sich der abdominale Ubu-Mensch als krank, unfruchtbar und monströs. Die sexuelle Hyperbolik, wie sie vor allem den König, die blasierten Höflinge und manch einen “wellhung Parson”139 charakterisiert, ist somit Ausdruck eines Pandämoniums, in das sich der Mensch als Opfer seiner Triebstruktur verdammt sieht. Um der Hölle des weiblichen, aber auch zunehmend des eigenen Genitals zu entkommen, rekurrieren die libertinistischen Dichter des 17. Jahrhunderts immer wieder auf ein Motivgeflecht, das den Mythos des Goldenen Zeitalters mit der phantastischen Welt des Traums verknüpft. In diesen artifiziell gestalteten, den Idyllen von Giorgione bis Poussin nachempfundenen poetischen chronotopoi140 schafft sich der Libertin ein Refugium, in dem er selbstbestimmt und ohne Horror vor dem Monströsen seine sexuellen Phantasien zu verwirklichen hofft.
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Weil, 141 / 151. Vgl. Leo Braudy, ‘Remembering Masculinity: Premature Ejaculation Poetry of the Seventeenth Century’ Michigan Quarterly Review (1994), 177–201. Diesem Genre verpflichtet zeigen sich Rochester, Etherege, Behn und zuletzt auch Goethe. ‘A Ramble in St. James’s Park’ Z. 92. Der Begriff des chronotopos ist Bachtin entlehnt, der ihn jedoch exklusiv auf die Epik anwendet. Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, hg. Edward Kowalski / Michael Wegner. Aus dem Russ. übersetzt v. Michael Dewey (Frankfurt/M.: Fischer, 1989), 170ff.
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4. Erotische Flucht(t)räume und der Schock des Erwachens Im Unterschied zu den divinatorischen Träumen der Frühen Neuzeit und der mediävisierenden Romantik weisen die Träume der Libertins oft schon alle Qualitäten eines freudianischen Wunscherfüllungstraums auf. Gemein ist ihnen aber auch, dass sie auf den prekären Punkt zusteuern, an dem der erotische Traum zu einem cauchemar und das mythologisch entrückte Goldene Zeitalter sich zu einer dystopisch verzerrten Realität verwandelt, die einzig vom Abdomen des Individuums bestimmt wird. Gelingt es im Traum, die Groteskerie des Phallo- bzw. Ubuzentrismus zugunsten einer erfüllten Sexualität temporär auszublenden, so feiert das Bild vom Penis als kapriziösem und vor allem „skabröse[m] Requisit“141 im erotischen Alpdruck ‚fröhliche‘ Urständ. Vor allem aber ist es das unvermittelte Erwachen aus dem halluzinatorischen Goldenen Zeitalter, das den Sprecher um so abrupter mit der – der conditio humana inhärenten – Bürde einer Sexualität konfrontiert, die ohne theologische Verankerung, ohne jenes von Donne eingeforderte “supernaturall food, Religion”142 immer mehr zur Tyrannei der Sinnlichkeit mutiert ist. a. In Richard Lovelaces Gedicht ‘Love Made in the First Age: To Chloris’143 entwickelt sich aus den Motiven des Traums und des Goldenen Zeitalters ein typisch libertinistischer chronotopos. Der – wie sich erst in den letzten Versen herausstellt – in einer Art rêverie entrückte Sprecher evoziert einen Ort, der aufgrund seiner chronologischen Distanz, “the Nativity of time” (1), nicht nur der Gestimmtheit der Dekadenz bei den Cavaliers widerspricht, sondern der vor allem sich durch eine sexuelle Ungezwungenheit auszeichnet. So ist ein wesentliches Distinktivum dieses zeitlich vage bestimmten Ortes, dass er ganz auf die libertinistischen Wünsche und Phantasien des Mannes ausgerichtet ist. Dabei mutet es als einen bewussten Affront gegen die petrarkistische Pose des de profundisleidenden Liebhabers an, wenn sich sowohl die Frauen als auch die Männer an einem erotischen Diskurs erfreuen, der eine Verweigerung nicht kennt und somit stets in der Affirmation endet: 141
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Heinrich Heine, „Beine hat uns zwey gegeben …“ Z. 81. Historisch-Kritische Gesamtausgabe, ‚Lyrischer Nachlass‘ III/1, 402. – In seiner Einschätzung des männlichen Genitals als krankes und anti-prokreatives Requisit zeigt Heine sich dem im Libertinismus einsetzenden sexuellen Skeptizismus verpflichtet. ‘An Anatomy of the World: The First Anniversary’ Z. 188. Poems, 146–48. Alle Zeilenangaben folgen dieser Ausgabe.
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When cursed No stain’d no Maids Bliss, And all discourse was summ’d in Yes, And Nought forbad, but to forbid. (10–12)
Frei von allen Restriktionen, die die Cavaliers dem Fanatismus der künftigen Ikonoklasten zuschreiben, malt sich der Sprecher in seiner Phantasie aus, wie Amor uneingeschränkt (“unstinted;” 13) sich an den erotischen Früchten des Paradieses delektiert. Von besonderem Reiz für den Libertin ist hierbei, dass die vom Naturzyklus noch nicht dissoziierten Mädchen wie herbstlich reife Pflaumen (“Autumne Plums”)144 sich den Knaben zum Genuss darbieten. Im Einklang mit der männlichen Logik dieses Traums ist – wie das Pflücken der Früchte – auch der Raub einer Jungfernschaft eine natürliche Begebenheit und lediglich mit dem arbiträren Brechen einer beliebigen Blume – also mit einer De-floration im etymologischen Sinne – gleichzusetzen:145 “Lads, indifferently did crop / A Flower and a Maiden-head” (17–18; Hervorhebungen NL). Die wiederholt auf das Goldene Zeitalter applizierte Semantik des Öffnens und des transgressiven Erweiterns, wie sie trotz unterschiedlicher Prämissen in den Gedichten Carews, Herricks und Behns sich als eine leitmotivische Konstante belegen lässt,146 führt hier nun in bezug auf das ambivalente Verhältnis der Cavaliers zu den Frauen zu einer ausgesprochen grotesken Bildlichkeit. Durch den Traum aller Dekorumsgesetze enthoben verbindet der Sprecher auf kühne Weise die mittelalterliche Vorstellung vom Schlaraffenland (pays de cocagne) mit dem Gedanken der Frau als eines weiblichen, sexuell allenthalben ausbeutbaren Nutztieres. Der Anspruch auf unbegrenzten (“unconfined;” 19) dionysischen Rausch erstreckt sich somit nicht nur auf den enthemmten Genuss des Weins, sondern ebenso auf das lustvolle Trinken der Milch 144
145
146
Wie die Mehrzahl der Früchte hat auch die Pflaume durchaus sexuelle Konnotationen, vgl. DSL II, 1060ff.; die eindeutige Gleichsetzung der Pflaume mit dem weiblichen Genital, wie sie in der deutschen Vulgärsprache existiert, lässt sich jedoch im Englischen des 17. Jahrhunderts nicht belegen. Dennoch verweisen Farmer und Henley (III, 234) auf die Tatsache, dass der Pflaumenbaum (‘plum-tree’) das weibliche Genital bezeichnet. Als Beleg ziehen sie eine Stelle aus 2 Henry VI heran, wo Simpcox vom Fall von einem Pflaumenbaum und von seiner Vorliebe für Pflaumen berichtet (II, i, 97ff.). Siehe auch Partridge unter dem Lemma ‘plum,’ 212. Das Brechen einer Blume ist schon in der mittelalterlichen Literatur eine metaphorische Umschreibung für den Koitus. Vgl. hierzu Herchert, 59 – Auch Goethe bedient sich dieses Topos in seinem Gedicht ‚Heidenröslein:‘ „Und der wilde Knabe brach / s’ Röslein auf der Heiden; / Röslein wehrte sich und stach, / Half ihr doch kein Weh und Ach, / Mußt’ es eben leiden.“ Sämtliche Werke. Gedichte 1756–1799, hg. Karl Eibl (Frankfurt/M.: DKV, 1987), 278. Vgl. hierzu Lennartz ‚„Frauen-Zimmer und Frauen-Gärten,“‘ 173ff.
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aus der weiblichen Brust: “Milk from the Nipple” (20). Die im Gedächtnis des Lesers verhafteten ikonografischen Traditionen, die sich zum einen auf die säugende Personifikation der antiken caritas und zum anderen auf das barocke Paradoxon der virgo lactans beziehen, werden hier nicht nur persifliert, sondern durch die lapidare Begründung des Sprechers – “Paps tractable as Udders were” (21) – mit einem misogynen Vorzeichen versehen. Während die Frau als leaky vessel stets mit Argwohn betrachtet und in Shakespeares ‚feuchter‘ Venus Pandemos gar zum exemplum horrendum erklärt wird,147 so scheint Lovelace im Schutz der Traumwirklichkeit das frühklassizistische Primat der körperlichen Geschlossenheit zugunsten einer Bachtinschen Vision des Offenen und Karnevalesken aufzugeben: Unentwegt laktierende Brüste sorgen für eine Abundanz an sexuell konnotierten Flüssigkeiten; vor allem aber die “wholsome Jellies” (22), die sowohl aus den Oliven als auch aus den Vaginen (“Bellies;” 23) gepresst werden, verweisen mit Nachdruck darauf, dass das Goldene Zeitalter im unzensurierten Traum der Cavaliers sich vornehmlich durch prokreative Säfte definiert. Nach einer Ennumeration der vielfältigen Aspekte, in denen sich das aus der antiken Mythologie entlehnte Goldene Zeitalter von der Tristesse des christlichen, post-lapsarischen Weltbildes unterscheidet – “No serpent kiss poyson’d the Tast” (40) –, verschärft der Sprecher sogar die Kritik an seiner restriktiven Gegenwart: Sowohl das jenseits aller ordo-Modelle geführte Leben dieser ersten Menschengeneration als auch ihr ungenierter amor eroticus stellen für den Sprecher nichts anderes dar als ein Abbild einer ebenso freien Metaphysik: Thus did they live: Thus did they love, Repeating only joyes Above [.] (49–50)
Die Ansicht, dass ein enthemmtes Ausleben des amor eroticus nur die irdische Entsprechung eines nahezu dionysischen amor divinus darstellt, wird hier – nicht zuletzt wegen der zweifachen Präteritumsform – dem Bereich des gegenwartsentrückten Traumgesichts zugeordnet. In der serenitas des Goldenen Zeitalters sind dem Individuum sowohl der Verlust der Korrespondenz als auch die daraus resultierende Konzeption eines deus absconditus unbekannt: Im freien Auskosten der Sexualität weiß es sich im Einklang mit seinen Göttern. Während Crashaw in geradezu ana147
Venus and Adonis: Nicht nur die ‚feuchte‘ Hand (“My smooth moist hand;” 143) kennzeichnet Shakespeares Venus als ein leaky vessel; vor allem sind es die Ströme von Schweiß (175) und Tränen (“through the flood-gates breaks the silver rain;” 959), die ihre Rabelais’sche Offenheit unterstreichen.
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chronistischen Versen die zum Teil geleugneten oder für obsolet erklärten Korrespondenzen beschwört und abermals eine erotische Himmelsleiter zwischen Diesseits und Jenseits zu etablieren trachtet, stellt Lovelace indirekt fest, dass die menschliche Sexualität ihre metaphysischen Implikationen verloren hat. Endgültig der Vergangenheit gehört nun jene Zeit an, in der die Menschen, die nichts weniger als Engel waren – “but with Cloaths on” (51) – eine makrokosmische Relevanz hatten und im Zustand der nuditas naturalis148 in der fernen Galaxie zu baden vermochten: “ … [T]hey would put off [their clothes] cheerfully, / To bathe them in the Galaxie, / Then gird them with the Heavenly Zone” (52–54). Dieser Exkurs des Dichters in eine erotische Form der Science Fiction, die den Leser vage an die späteren kosmischen Tränen der Maria Magdalena erinnert, stellt hier jedoch – im Gegensatz zu Crashaws raumübergreifender sexualisierter Theologie – ein Traumkonstrukt dar, das in seiner halluzinatorischen Unermesslichkeit um so heftiger mit der Isolation des Sprechers in der letzten Strophe kontrastiert. Das am Anfang des 55. Verses durch eine Taktumstellung hervorgehobene “Now” holt den Sprecher wie auch den Leser abrupt in die Gegenwart zurück, in der, wie er der Adressatin Chloris gegenüber nicht ohne Ressentiments versichert, das Unvermögen und die Negation vorherrschen. Zurückgezogen in den extremen private mode der Masturbation149 versucht der Sprecher, das Truggebilde des Traums in hedonistischem Modus auszukosten und somit das endgültige Erwachen in die krude, vom Untergang bedrohte Realität hinauszuzögern: Whilst ravish’d with these Noble Dreams, And crowned with mine own soft Beams, Injoying of my self I lye. (58–60)150
148
149
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Die nuditas naturalis, wie sie in den vielen mythologischen Sujets beschrieben wird, kontrastiert daher im 17. Jahrhundert immer stärker mit einer nuditas criminalis bzw. voluptatis. Siehe hierzu Panofsky, Studien zur Ikonologie, 219. Die Masturbation ist für den dandyistischen Libertin die einzige Möglichkeit, den extremen culte du moi mit dem sexuellen Verlangen in Einklang zu bringen. Dabei ist festzuhalten, dass das Odium, das der Masturbation anhaftet, ein Konstrukt des 18. Jahrhunderts ist. Vor der Publikation des Pamphlets Onania (1712), mit dem Thomas Laqueur zufolge, die Verdammung der Onanie beginnt, gelten Formen der AutoSexualität als wichtige Regulationsmechanismen im Säftehaushalt des Menschen. Solitary Sex. A Cultural History of Masturbation (New York: Zone Books, 2003), 84ff. Durch das Wortspiel lye = liegen / lügen wird das Illusionäre der Traumwirklichkeit noch deutlicher hervorgehoben.
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Die Wichtigkeit des Traums für den in seiner Existenz bedrohten Cavalier zeichnet sich noch deutlicher in Lovelaces Gedicht ‘The Triumphs of Philamore and Amoret’ ab. Empfindet der Dichter den Wachzustand nur noch als Hölle, so bietet ihm wie auch seinen royalistischen Mitstreitern der Traum einen unverzichtbaren Raum der Zuflucht und der Introspektion:151 Thus Poets who all Night in blest Heav’ns dwell, Are call’d next morn to their true living Hell. […] And what substantial Riches I possesse, I must to these unvalued Dreams confesse.152
b. Implizit auf einen ewig währenden Schlaf hoffend unterscheidet sich der Cavalier Lovelace markant von Donne, der in seiner 10. Elegie eine epistemologische Differenz zwischen Träumen und Wachen bezweifelt und ohnehin den bewussten Schmerz dem illusionären im Traum vorzieht.153 Auch der Unterschied zu der späteren Restaurationsautorin Aphra Behn wird an dieser Stelle evident: Während Behn ihrem Gedicht ‘The Golden Age’ in nahezu romantischer Manier eine dialektische Perspektive eröffnet und im Rückgriff auf den carpe diem-Topos einen direkten Realitätsbezug herstellt, ziehen es die Libertins vor, mit Hilfe der Masturbation die entschwindende Traumwirklichkeit in die Gegenwart zu integrieren, bzw. die von den Puritanern hervorgehobene Sünde des Onan in einer eskapistischen Phantasiewelt außer Kraft zu setzen. In dem Gedicht ‘A Song (Faire Cloris in a Pigsty lay),’154 das nicht zuletzt durch den Namen seiner Protagonistin wie die rokokohaft frivole Inszenierung einer Hirtenlandschaft à la Boucher anmutet, beschreibt Rochester einen erotischen Traum, der alles andere als das chimärenhafte Produkt von Mercutios Queen Mab ist.155 Die später von Freud thematisierte Durchdringung von Traum und Wirklichkeit antizipierend ist er 151
152 153 154 155
In diesem Kontext muss auch Sucklings Traumgedicht ‘His Dream’ bewertet werden. Der hier evozierte synästhetische Garten der Lüste mit seiner Abundanz an aphrodisierenden Früchten – “Apricock, Cherry, Peare, Strawberry and Plumb” (6f.) – ist ebenso wie der freie Genuss des Körpers der Geliebten, ein Sinnenfest, das sich mit dem Erwachen verflüchtigt. The Non-Dramatic Works, 16. Poems, 169ff. Elegie X ‘The Dreame’ Poetical Works, 84f. – Siehe hierzu auch Manfred Weidhorn, Dreams in Seventeenth-Century English Poetry (The Hague: Mouton, 1970), 97f. Works, 39f. Siehe Romeo and Juliet I, iv, 53ff.
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allein durch das Grunzen einer Schweineherde motiviert respective – in satirischer Verkehrung der lange für unantastbar erachteten mantischen Bedeutung von Träumen – sogar ‚inspiriert.‘ Der somit ganz auf einer animalischen Seinsstufe verhaftete Traum verrät allerdings ein gewisses Maß an Literarizität, beinhaltet er doch eine intertextuelle Referenz auf Ovids Fasti, derzufolge in einer Höhle die Nymphe Chloris von Zephyrus, der Personifikation des Westwindes, vergewaltigt und zur Frühlingsgöttin Flora transformiert worden ist. Vor der Folie dieser mythologischen Schändung träumt Rochesters Cloris nun, wie ein listenreicher Knecht sie auffordert, ein Schwein zu retten, das im Tor zu (Floras) Höhle steckengeblieben sei und dort zu verenden drohe: Rescue thy Bosome Pigg from fate, That now Expires hung on the gate That leads to younder Cave. (13–15)
Die Auslegung dieses als Verschwörung (“Plott;” 26) zensurierten Traums ist wie im Fall von Byrons Dudù im orientalischen Serail156 allzu offenkundig: Das als “[b]osome pigg” bezeichnete Schwein steht – dem Eber in Shakespeares Venus and Adonis nicht unähnlich157 – für die traumsymbolisch erwünschte Aggression des Phallus, der Einlass begehrt in die schmale Öffnung der vaginalen Grotte (“Cave”). Auf die verschlüsselte Penetration folgt auf einer weiteren Traumebene die Vergewaltigung, bei der im Unterschied zum antiken Text kein Gott zu intervenieren sich bereit zeigt – “[w]hich not one God tooke care to save” (28). Im Gegensatz zu den literarischen Träumen am Ende des 19. Jahrhunderts, die im Austausch mit der noch jungen Traumdeutung Anspruch auf Authentizität erheben, stellt der hier zunächst wie ein emblematisches Vexierbild aufgefasste Traum seine eigene Auslegung bereit: Als Opfer einer gegen ihre Ehrbarkeit inszenierten Intrige erlebt Cloris noch im Traum, wie die verbalisierte Symbolik sich materialisiert und das Sinnbild sich als eine Paraphrase für ihre Perforation erweist. Im Einklang mit dem literarischen Topos des Liebeskrieges erfährt sie die Penetration als ein feindliches Eindringen: Now peirced is her Virgins zone, Shee feeles the foe within itt[.] (31–32) 156
157
Dudù träumt von den Verlockungen eines Apfels. Als sie ihn kosten möchte, wird sie von einer in ihm versteckten Biene gestochen (Don Juan VI, 77, 601ff). Traum und Wirklichkeit überlagern sich hier in der sexuellen Perforation. In dem Aufsatz von B. J. Sokol, 253 wird der Akzent weniger auf Shakespeares Eber als auf Spensers Fairie Queene (III, vi, 43ff.) gelegt.
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Da der Traum ein überwiegend visuelles Phänomen darstellt, überrascht es zunächst, dass Cloris den sexuellen Höhepunkt ihres Schänders als ein auditives Erlebnis, als ein Stöhnen und Ächzen, “[j]ust in the happy Minute” (35), wahrnimmt. Bermerkenswert an dieser Stelle ist nun, dass der geträumte Orgasmus ihres halluzinierten Partners sich mit dem Grunzen der Schweine vermischt: Zwar kann hier durchaus von einem frühen Beispiel eines literarisch gestalteten ‚Weckreizes‘ gesprochen werden. Doch im Kontext von Rochesters Denken geht es weniger um eine genaue Protokollierung von Traumabläufen als vielmehr um die Entlarvung menschlicher Sexualität als animalischen Gebarens. Die Tatsache, dass sie versucht, masturbierend die imaginierte Vergewaltigung zu prolongieren, zeigt die besondere Funktion des Traums in der libertinistischen Wahrnehmung: Im Traum gelingt es der Frau, enthemmte Sexualität und Tugend konzeptistisch zu vereinen; daher versucht sie, in der Autoerotik diesen eigentümlichen Schwebezustand von Träumen und Wachen, von Pastorale und Realität aufrechtzuerhalten: “Frighted shee wakes, and wakeing friggs …” (36). Dass die Konvergenz von sexueller Befriedigung und Unschuld an die Rahmenbedingungen der inszenierten Rustikalität und der brevitas des masturbierenden Genusses geknüpft ist, bedarf am Ende des Gedichts keiner expliziten Erwähnung. Ebenso wenig wie in Watteaus späterer Rokoko-Idylle L’Embarquement pour Cythère (1717; Paris, Musée du Louvre) sich die Theatralität verbergen lässt und spätestens in Baudelaires Fleurs du mal in ihr zynisches Gegenteil verkehrt wird,158 so haftet auch Rochesters Anleihen an die Bukolik eine Obsoletheit an, die durch die Technik der obszönen Kontrastierung immer wieder offengelegt wird. Im erträumten Arkadien herrschen somit nicht nur wie bei Poussins Bergers d’Arcadie (1665; Paris, Musée du Louvre) der Tod, sondern ebenso Intrigen, Vergewaltigungen, Liebeskriege und feindliche Usurpationen vor; und nicht nur die Tatsache, dass Cloris im Kontext eines anderen Gedichts sich in ihrer Promiskuität dem “lusty juice of men” verschreibt und dabei ihren Liebhaber der Trunkenheit (“The lusty juice of grapes”) überlässt,159 zeigt, dass in der Restaurationszeit die Pastorale nur noch eine Kultur-Reminiszenz, eine Bühnenkulisse darstellt, die zunehmend den Blick freigibt auf das antagonistische und defizitäre Sexualverhalten des modernen Menschen.
158
159
Siehe Marianne Kesting, ‚Watteau und Baudelaire. Konstruktion und Zusammenbruch der späten Idylle‘ Die Idylle. Eine Bildform im Wandel 1750–1930, hg. Rudolf Wedewer / Jens Christian Jensen (Köln: DuMont, 1986), 79–97. “How happy Chloris, were they free …” Z. 23/24. Works, 94.
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c. In den Gedichten, in denen Rochester auf die bukolische Einkleidung ganz verzichtet, und die er somit im Kontext seiner höfischen Umgebung ansiedelt, vollzieht sich endgültig der Übergang vom hedonistischen Traum zum erotischen cauchemar, aus dem es, wie in der Moderne üblich, kein erlösendes (jean-paulsches) Erwachen mehr zu geben scheint. Bereits in ‘A Ramble in St. James’s Park’ endet für den Sprecher der paradis artificiel des Alkoholrauschs in der ernüchternden Einsicht, dass in Anbetracht der Kommerzialisierung der Liebe seine bevorzugte Prostituierte drei von ihm als ‘fops’ eingestuften Stutzern die Priorität einräumt. In dem nach geradezu darwinistischen Regeln geführten Kampf der Geschlechter, in der „asozialen Wolfsgesellschaft“ Hobbes’scher Provenienz160 gibt es nur Sieger und Besiegte, Jäger und Beute – eine Polarität, der eskapistisch zu entfliehen eine Illusion darstellt. Daher arbeitet Rochester in dem programmatisch titulierten Gedicht ‘The Imperfect Enjoyment’161 mit dem später bei Byron häufig angewandten Mittel des Illusionsaufbaus, das beim Leser Erwartungen weckt, die dann in einer – hier buchstäblich zu verstehenden Anti-Klimax – enttäuscht werden. Ganz in barocker Manier evoziert der Sprecher zunächst in den ersten Zeilen des Gedichts einen erotischen private mode: Ineinander verschränkt – “With Armes, Leggs, Lipps, close clinging to embrase” (5) – scheinen die Liebenden augenscheinlich den Kampf der Geschlechter überwunden zu haben. Weit entfernt davon, wie später in Marquis de Sades Schriften oder in den gothic novels der ‚schwarzen Romantik‘ Henker und Opfer in einer koitalen Exekution zu sein, sind beide in ihrer sexuellen Leidenschaft augenscheinlich ebenbürtig: “Both equally inspir’d with eager fire” (3; Hervorhebung NL). Insbesondere der frühe Hinweis auf die Liebe als eine Inspiration führt den Leser zur Annahme, dass die von den Metaphysicals propagierte Korrespondenz sowohl von amor eroticus und amor divinus als auch von texte und contre-texte noch oder wieder Bestand hat. Dieser bei der ersten unvoreingenommenen Lektüre entstandene Eindruck wird überdies bestätigt durch das immer wieder eingestreute theologische Vokabular (soul, raptures, bliss). Vergleicht man jedoch die erste Passage des Gedichts mit Donnes ‘The Extasie,’ auf die auf einer intertextuellen Ebene wiederholt verwiesen wird, so fällt auf, dass nicht nur dem weiblichen Partner eine ausgesprochen aktive und maskuline Rolle im Liebesspiel zukommt – “She clipps me to her 160 161
Gnüg, Der erotische Roman, 150. Works, 13ff. Alle Zeilenangaben richten sich nach dieser Ausgabe.
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Breast and sucks me to her face” (6) –; es wird evident, dass die theologische Terminologie nur noch dem Zweck der Provokation dient, und dass vor allem der Zustand der Ekstase nunmehr eine exklusiv genitalische Bedeutung angenommen hat: My fluttering soul, sprung with a pointed Kiss, Hangs hovering o’er her balmy brinks of bliss, But whilst her buisy hand would guide that part Which shou’d convey my soul up to her heart, In liquid raptures I dissolve all o’er, Melt into sperm and spend at every pore. (11–16)
In Donnes Gedicht umschreibt die Ekstase eine Befindlichkeit, in der ganz nach der etymologischen Bedeutung des Wortes (ex-stare) die Seelen der Liebenden aus den Körpern heraustreten und wie zwei Herolde in einem ritualisierten ‘parley’ die Bedingungen des bevorstehenden Liebeskrieges aushandeln. Während der Konfrontation der vermeintlich antagonistischen Seelen befinden sich die Körper in einem Zustand der petrifizierten Erstarrung, den das lyrische Ich implizit von den “postures” eines Aretino abgrenzt und vielmehr mit der Leblosigkeit zweier Grabstatuen vergleicht: And whilst our souls negotiate there, We like sepulchral statues lay; All day, the same our postures were, And we said nothing, all the day.162
Donnes zeitlich begrenzter contemptus corporis zugunsten einer Vereinigung der Seelen, jenes unverzichtbare Vorspiel zum kumulativen Ablauf des Liebeskrieges, wird in Rochesters Gedicht nun durch die schiere Physikalität des Geschlechtsakts einer Kontrafaktur unterzogen. Wie im Verlauf der oben zitierten Textstelle sich immer deutlicher abzeichnet, spielt Rochester mit der Beschreibung seiner “fluttering soul” weniger auf den in der Ekstase umgesetzten platonischen soma-sema-Topos an, als vielmehr auf das in Wallung gebrachte Ejakulat, das, befördert durch die Reizwirkung der Fellatio (“a pointed Kiss”), sich in Kürze auf den feuchten und erregten Genitalbereich der Geliebten ergießen wird. Der prekäre Augenblick einer sexuellen Peripetie, den der Sprecher hier mit dem genitalischen “hovering o’er her balmy brinks of bliss” zum Ausdruck bringt, markiert nun im Gedicht den Punkt, an dem das Ich in Reichweite des vaginalen locus amoenus seine Desillusionierung durch162
‘The Extasie’ Z. 17–20.
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leidet. In der Dramaturgie der männlich inszenierten Sexualität gerät das Missgeschick einer ejaculatio praecox unweigerlich zur tragikomischen Dekonstruktion eines libertinistischen Mythos. Byrons Don Juan in der Rolle des verführten Verführers, aber auch alle weiteren amourösen milites gloriosi, die an der Hyperbolik ihrer Sexualität scheitern, verdanken diesem Klima libertinistischer Skepsis ihre Entstehung. Was Baudelaire später mit dem Terminus der décomposition als dandyistisches Schreckensszenario umschreibt, erfährt hier eine weitere poetische Ausgestaltung: Seiner emotionalen Detachiertheit verlustig gegangen überlässt der Sprecher im Kampf der Geschlechter der Frau weitgehend die Initiative, was dazu führt, dass er – im Unterschied zu Carew, der seiner Geliebten nur temporär die Rolle des gubernator zubilligt – seine Kontrolle verliert und im vorzeitigen Orgasmus die Desintegration seiner Person nicht zu verhindern vermag: “I dissolve all o’er, / Melt into sperm …” Die Auslöschung der Individualität (“dissolve”) in der sexuellen Ekstase, wie sie die Romantiker als ein Gegenmittel zum Vernunftkult der Aufklärung propagieren, begreift der frühklassizistische Libertin stets als eine Gefährdung seines Selbstentwurfs. Die Schuldzuweisung, mit der er versucht, sich gegen Verhöhnungen schadlos zu halten, hat daher eher den Charakter einer Apologie, die das Ende des in der Erotik aufbegehrenden Rebellen einläuten: A touch from any part of her had don’t, Her hand, her foot, her very look’s a Cunt. (17–18)
In der fragmentarisierenden Wahrnehmung des Libertins mis à nu reicht bereits ein Körperteil der Frau, um ihn vollends zu derangieren. Die nur in ihrer genitalischen Präsenz akzeptierte Frau, die mit einem Lächeln die “clamy Joyes” (20) von ihrem Körper wischt, nur um in der Folge eine Fortsetzung des Liebesaktes zu fordern – “Is there then no more?” (22) –, wird in diesem frühen dramatic monologue somit zum Instrument der Zerstörung aller erotischen Utopien. Nicht nur was im ursprünglichen Don Juan-Stoff dem Bereich der metaphysischen iustitia zugedacht ist, wird hier nun von der Frau als einer erotischen Widersacherin übernommen: Sie tritt nun auch an die Stelle des spöttischen Verächters und kopulierenden homme fatal, und – wie die Cavaliers in ihrer Verweigerungshaltung zu ahnen scheinen – in der Rolle der erotischen Nemesis treibt sie nach bereits erfolgter orgasmischer Selbstentäußerung des Mannes seine Dekonstruktion voran. Am Ende des Geschlechterkrieges ist der Mann der Unterlegene, ein groteskes, mit seinem erschlafften Penis haderndes Individuum. 320
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Auch in Aphra Behns Gedicht ‘The Disappointment’163 trägt die Frau mit ihren als Heiligtümern beschriebenen körperlichen Reizen zur nachhaltigen Erschütterung des donjuanesken Selbstverständnisses erheblich bei. Der als Eroberer und miles amoris ungestüm auftretende Lysander wird nur allzu bald aus seinen anakreontischen Illusionen herausgerissen, als er in Anbetracht der offerierten “Virgin-Innocence” (67) sein Liebesopfer nicht darzubringen vermag: “the o’er-Ravished Shepherd lies / Unable to perform the Sacrifice” (69). Noch insistenter als in Rochesters Versen artikuliert sich in Behns Gedicht die schamerfüllte Geringschätzung (“both Disdain and Shame;” 118), die die Frauen als geheime Siegerinnen im unerbittlichen und existentiellen Liebeskrieg – “this so Amorous Cruel Strife”(91) – ihren erotischen Kontrahenten entgegenbringen: So wird aus Behns weiblicher Perspektive164 nicht nur en passant die Idolatrie des Phallus – “that Fabulous Priapas, / That Potent God” (105f.) – als eine Fiktion des maskulinen poetischen Diskurses erklärt; auch die Entschlossenheit, mit der Cloris ihren Liebespartner seiner Tristesse überlässt, unterstreicht Behns subtile Wahrnehmung dafür, dass der Traum des Libertins von seiner phallozentrischen Omnipotenz ebenso zerplatzt ist wie seine Hoffnung auf die Wiederkehr eines neuen Goldenen Zeitalters, in dem der Mann in absolutistischer Despoten-Manier willkürlich über das weibliche Geschlecht regiert. Kaum drastischer lässt sich die bathetische Situation des seiner Dominanzphantasien beraubten Mannes darstellen als in den teils bramabasierenden, teils bitteren Wutausbrüchen, mit denen am Ende die Protagonisten ihre Ohnmacht bekunden. So hebt Behns Lysander zu einer umfassenden Invektive auf seine Existenz und sein Schicksal an – “He curs’d his Birth, his Fate, his Stars” (137) –, um letztlich nach dem Muster mittelalterlichen Aberglaubens165 die Frau, die ihn in die Hölle der Impotenz verbannt haben soll, der Hexerei (“bewitching Influence;” 139) und der Nekromantie (“Charms;” 138) zu bezichtigen. Rochesters Spre163 164
165
Works I, 65. Nicht nur in diesem Gedicht gelingt es Behn, durch eine geschickte Manipulation der Perspektiven den erotischen Diskurs der Libertins zu unterminieren: Im Rückgriff auf “my Masculine Part, the Poet in me” passt sie sich prima facie den Gepflogenheiten männlichen Sprechens an, um sie im Verlauf des Textes zu konterkarieren. Zum größeren Kontext siehe Carol Barash, English Women’s Poetry 1649–1714: Politics, Community and Linguistic Authority (Oxford: Oxford UP, 2000). Im Handbuch des Deutschen Aberglaubens ist zum Beispiel vom „Nestelknüpfen“ die Rede VI, 1014f. Auch Goethe zeigt sich in seinem ‚Tagebuch‘ mit diesem Aberglauben vertraut: „ … So mußt du doch erfahren; / Warum der Bräutigam sich kreuzt und segnet, / Vor Nestelknüpfen scheu sich zu bewahren“ (XV, 114ff.).
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cher, der in der Folge der ejaculatio praecox eine Reduktion erfahren hat zu “[a] wishing, weak, unmoving lump” (36), richtet seinen Zorn nicht so sehr gegen metaphysische Konstellationen, sondern vielmehr gegen sein autarkes und widerspenstiges Geschlechtsorgan. Während im Kontext von Lawrences Roman Lady Chatterley’s Lover der nicht erigierte Penis positiv konnotiert und als “a little bud of life” umschrieben wird,166 vermag Rochester im Verlust der Erektion nicht nur die unüberwindbare Dichotomie zwischen Körper und Geist,167 sondern vor allem die Vernichtung des modernen homo sexualis zu sehen. Der Willkür seines Geschlechtsorgans ausgesetzt entwickelt der Libertin ein Männlichkeitskonzept, das weniger von Bildern der Natalität als von Vorzeichen des Zerfalls geprägt ist. Nicht nur an dieser Stelle nimmt der Sprecher geradezu tragikomische Züge an, wenn er im Kontext des erotischen Übertreibungstopos seinen Penis als Pfeil Amors – “[t]his Dart of Love” (37) – inszeniert, der mit seiner perforierenden (Eichel-) Spitze bislang 10000 Jungfrauen defloriert haben soll: “with Virgin blood Ten Thowsand Mayds have dy’de”(38). Im Rahmen des zornigen Rückblicks eines Erotomanen bekommt die Behauptung, dass er in der Manier eines donjuanesken homme fatal über die naturgegebene Kunst bzw. List (“Art;” 39) verfügte, jedes Frauenherz über das Genital zu erreichen (40), den Stellenwert einer substanzlosen Hyperbolik; und ein weiteres Beispiel seiner poetischen Selbst-Demontage liefert er dann, wenn er beteuert, dass sein stets erigierter Penis in seinem militanten furor sowohl Frauen als auch Knaben zu penetrieren pflegte. Vor der Folie seines Versagens müssen diese Äußerungen eines libertinistischen self-fashioning ebenso mit einem Fragezeichen versehen werden wie die Darstellungen seines erotischen Pionier- und Eroberungsgeistes, mit dessen Hilfe er allenthalben eine beliebige Öffnung vorzufinden oder mit brachialer Gewalt zu erschließen glaubte:
166 167
Lady Chatterley’s Lover, hg. Michael Squires (London: Penguin, 2006), 210. Vgl. hierzu auch Ethereges Gedicht ‘The Imperfect Enjoyment,’ wo er neben der Vereinzelung der Liebenden auch die Dissoziation von Körper und Geist / Seele betont: The action which we should have jointly done, Each has unluckily performed alone; The union which our bodies should enjoy, The union of our eager souls destroy. (33–36) Das Gedicht zeigt überdies exemplarisch, wie das theologische Vokabular den erotischen Diskurs nicht mehr ergänzt, sondern die “abortive joy” (23) verhöhnt und ins Negative verkehrt. The Poems of Sir George Etherege, hg. James Thorpe (Princeton NJ: Princeton UP, 1963), 7ff.
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Stiffly Resolv’d, t’would Carelesly invade Woman, nor Man, nor ought its fury stayd; Whereer it pierc’d, a Cunt it found or made[.] (41–43)
Die Repäsentation des Phallus als eines unerbittlichen und unter Missachtung des point d’honneur marodierenden Kriegers wird somit durch die Technik des Kontrastes, der Hell-Dunkel-Gegensätzlichkeit immer wieder untergraben und für fragwürdig erklärt. Der nunmehr wie eine verwelkte Blume zusammengekauerte Penis – “Shrunk up and sappless like a wither’d flower” (45) – straft dabei nicht nur das im erotischen Diskurs vorherrschende Bild vom Phallus als “a rude Roareing Hector” (54) Lügen; er konfrontiert überdies das Ich mit einer Tatsache, die weder bei Behn noch bei Etherege mit dieser unverblümten Deutlichkeit formuliert wird: Sobald der Libertin seine donjuaneske Maskerade abzustreifen und seinerseits den ‚Kult der Kälte‘ in der Liebe aufzugeben versucht, erweist sich der längst vom Mann dissoziierte Phallus als abtrünniger “Rakehell villain” (57), der die Pläne seines Souveräns mit perfider Tücke zu vereiteln trachtet und als Soldat ‚seinen Mann nicht steht:‘ … when great Love the onsett does Command, Base Recreant to thy Prince, thou durst not stand. (60–61)
Der Kapriziosität seines Penis haltlos ausgeliefert ist es dem Libertin geradezu unmöglich, den erotischen circulus vitiosus zu durchbrechen. Der Hoffnung, in einem private mode der erfüllten Liebe dem Zustand der “Lewdness” (49) zu entkommen, wird somit von vornherein eine ernüchternde Absage erteilt. Einzig dem Laster, der Promiskuität und dem Morbiden – “Vice, Disease, and Scandall” (52) – verpflichtet führt der Penis, wie in Rops’ phantasmagorischer Pornokratie, die autonome Existenz eines “Common Fucking Post” (63), an dem die Huren – re-bestialisiert zu grunzenden Schweinen – den Juckreiz ihrer Genitalien zu lindern hoffen: “On whom each Whore Relieves her tingling Cunt, / As Hoggs on Gates doe rubb themselves and grunt” (64f.). Mit diesem misogynen Bild und der darauffolgenden Verwünschung des Penis, die in ihrer kruden Obszönität die topische ‚Penis-Schelte‘ in den antiken Priapea in den Schatten zu stellen versucht,168 endet das bis zuletzt antithetisch konzipierte Gedicht.169 168 169
Bernhard Kytzler (Hg.), Carmina Priapea. Gedichte an den Gartengott (Zürich: Artemis und Winkler, 1978). Die Existenz eines Komplementärgedichtes, ‘The Perfect Enjoyment,’ in dem die ejaculatio praecox durch eine neue Erektion und einen erfüllenden Samenerguss überwun-
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d. Gerade in Anbetracht der antithetischen Struktur dieses Werks muten die synthetisierenden Versuche seitens der Kritik, in Rochester den Triumph des ‘lover’ über den ‘rake’ zu sehen, als rezeptionsästhetische Konstruktionen an. So sieht Reba Wilcoxon am Ende des Gedichts “a psychological and ethical mandate for a male-female relationship,” eine MetatextEbene, die den “gut-level” der Verse zu transzendieren vermag.170 Diese Tendenz, Rochester zu einem Vorreiter vorromantischer Liebeskonzeptionen zu stilisieren, wird auf einer anderen Ebene ergänzt durch den von Jean Hagstrum verfochtenen Ansatz, Rochester lediglich als eine Marginalie in einer ausschließlich empfindsamen Epoche von Milton bis Mozart abzutun.171 Das so entstandene Bild vermittelt den Eindruck, dass die Werke der Restaurationsdichter wie Etherege, Wycherley, Sedley, aber auch die vielen erotisch expliziten und skeptizistischen Werke Aphra Behns eine nur untergeordnete Rolle spielen. Nur durch die Ausblendung solch wichtiger und in ihrer Desillusionierungsstrategie richtungsweiser Œuvres lässt sich der Entwurf eines homogen empfindsamen und idealen Liebesdiskurses à la Greuze am Ende des 17. Jahrhunderts aufrechterhalten. Auf der Suche nach einer Technik der ästhetischen Distanzierung verweisen Kritikerinnen wie Marianne Thormählen überdies auf eine kontextuelle Einbettung von Rochesters Gedichten in einer Tradition von ejaculatio praecox- bzw. Impotenz-Gedichten, die bis auf Ovids Amores und Petronius’ Satyricon zurückgeht.172 Dass diese Tradition besonders in der französischen Literatur der Pléiade-Dichter wie auch im frivolen Rokoko großen Anklang findet,173 gilt als erwiesen, und sowohl Etherege als auch Behn beziehen sich in ihren Gedichten nachweislich auf französische Vorbilder. Es ist somit davon auszugehen, dass auch Ro-
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den wird, gilt heute als eine falsche Zuordnung. Ein solch dualistischer Erotik- und Existenzentwurf, wie er für Hoffmannswaldau (‚Die Tugend‘ und ‚Die Wollust‘), Shakespeare, Donne und andere Gültigkeit hatte, lässt sich bei Rochester nicht mehr konstatieren. ‘Pornography, Obscenity, and Rochester’s ‘The Imperfect Enjoyment’’ Studies in English Literature 1500–1800 (1975), 389f. Sex and Sensibility. Ideal and Erotic Love from Milton to Mozart (Chicago / London: U Chicago P, 1980), 44. “[J]aded Rochester” und sein Gegendiskurs zur beginnenden Empfindsamkeit bleiben in Hagstrums Epochenkonstrukt weitgehend ausgespart. Auch Frank H. Ellis verweist in den Annotationen zu seiner Rochester-Ausgabe auf diese etablierte Tradition: Neben Ovid und Petronius verweist Ellis auch auf Texte von Tibull und Congreve, 325f. Marianne Thormählen, Rochester. The Poems in Context (Cambridge: Cambridge UP, 1993), 85.
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chester mit diesem literarischen Subgenre vertraut und sich beim Verfassen seiner Verse einer persiflierenden Intertextualität stets bewusst ist. Die jenseits der bloßen Quellenstudien liegende ideengeschichtliche Relevanz von Rochesters Beitrag wird jedoch erst augenfällig, wenn man nicht so sehr den Blick rückwärts gewandt auf die zuweilen epigonalen Werke der Franzosen, sondern eher nach vorne richtet auf Goethes lange reprimiertes Gedicht ‚Das Tagebuch‘ (1810). Mit Hilfe eines kontrastierenden Vergleichs, der in der Form eines Exkurses die Ausführungen zum erotischen Diskurs der Restaurationszeit beschließt, soll in pointierter Verkürzung dargestellt werden, worin sich letztlich die moderne Sexualitätsauffassung der Libertins von der idealistischen Liebeskonzeption der Romantiker unterscheidet. Ohne hierbei eine Rezeption Rochesters durch Goethe zu behaupten,174 gibt der Exkurs Aufschluss über die Entwicklung eines Topos, und darüberhinaus zeigt er deutlich, dass auch vermeintliche Vertreter einer nur empfindsamen und idealen Liebe175 im Diskurs der körperbetonten und zuweilen blasphemischen Sexualität beheimatet sein können.
5. Exkurs IV: Rochester versus Goethe oder Libertinismus versus Romantik Das kontextuell zu den lasziven Rahmengedichten der Römischen Elegien zählende ‚Tagebuch,‘176 das in der Editionsgeschichte von Goethes Werken bis ins 20. Jahrhundert zensorisch unterdrückt und erst 1969 im Herrenmagazin Playboy der (männlichen) Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde,177 ist wie Rochesters ‘The Imperfect Enjoyment’ ein Rollengedicht, das nicht zuletzt aufgrund des „spöttisch-ironischen Parlan-
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Goethe, der als ein ausgewiesener Kenner und Liebhaber der englischsprachigen Literatur gilt, bezieht sich auf Rochester nur ein einziges Mal in seiner Autobiografie Dichtung und Wahrheit. Ohne hierbei den Namen Rochesters zu erwähnen, zitiert er vier Zeilen aus dem „scheußlichen Text“ der ‘Satyr against Mankind.’ Vgl. David FarleyHills, Rochester. The Critical Heritage (London: Routledge, 1972), 213f. Hagstrum bezieht sich in seiner reduktionistischen Sichtweise nur auf Goethes Leiden des jungen Werthers (1774). Siehe Kap. 10 ‘The Aftermath of Sensibility,’ 247ff. Sämtliche Werke. Gedichte 1800–1832, hg. Karl Eibl (Frankfurt/M.: DKV, 1988), ‚Nachlese 1800–1832: Übergangenes, Unterdrücktes,‘ 843–49. Zeilenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe. Vgl. hierzu Rudolf Vaget, ‘Introduction’ Roman Elegies and The Diary. Versübersetzung v. David Luke (London: Libris, 1988).
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dostil[s]“178 und der Wahl der Stanzen-Strophe, der ottaverime, an den späten Byron erinnert. Im Gegensatz jedoch zu den erotischen Zynismen bei Byron und Rochester ist Goethes Werk einer Poetologie verpflichtet, die „Moralien“ (186) transportiert und gemäß dem Horazschen Prinzip des delectare et prodesse eine teleologische und nutzenbezogene Aussage hat. a. Bereits zu Beginn erfährt der Leser, dass der lange von seiner „Trauten“ (9) entfernte Sprecher über die einst von Donne beklagte “dull sublunary love”179 erhaben ist, da er – in Abwandlung des barocken Zirkel-Konzeptismus – stets über sein Tagebuch mit ihr in einen geistigen Liebesdialog tritt: „So ward im Federzug des Tags Ereignis / Mit süßen Worten Ihr ein freundlich Gleichnis“ (15–16). Äußere Umstände wie eine durch einen Radbruch verursachte Übernachtung in einer Pension führen ihn jedoch bald in Versuchung: Ein Mädchen, „des seltensten Gebildes, / Das Licht erleuchtend“ (27f.), betört ihn mit ihrer Schönheit, so dass plötzlich der diskursiv verlaufende ‘textual intercourse’ mit seiner Ehefrau ins Stocken gerät und die „Tintenworte“ (37) nicht wie sonst zu fließen vermögen. Sich immer stärker dem Imperativ seiner Lust überlassend sucht er die körperliche Nähe des Mädchens und entnimmt aus jedem ihrer Blicke ein „himmlisches Versprechen“ (58). Doch wie bei Rochester verwandelt sich die Verheißung des Paradieses in die desillusionistische Erkenntnis des eigenen Unvermögens: Während Rochesters Sprecher in seiner ejaculatio praecox den modernen Mythos des donjuanesken Libertins destruiert, sieht sich Goethes lyrisches Ich in eine noch weit „wunderbarer[e] Lage“ (86) versetzt, erweist sich doch der phallische „Meister“ (87) augenblicklich als miles gloriosus, der sich „abgekühlet“ (88) zurückzieht. Lassen sich bis zur Mitte des Gedichts, bis Strophe 13, somit einige Parallelen in Goethes und Rochesters Behandlung dieses Tabuthemas konstatieren, so überwiegen letztlich doch die kulturgeschichtlich begründeten Differenzen. Nicht nur die rein quantitative Tatsache, dass die bei Rochester maßlose, in extreme Auto-Aggression gipfelnde ‚Penis-Schelte‘ bei Goethe auf drei Zeilen reduziert wird (98ff.); vielmehr kommt der Unterschied zwischen frühklassizistischem Libertinismus und Romantik vor allem dadurch zum Ausdruck, dass das erotische Ver178 179
Dieter Borchmeyer, Weimarer Klassik: Portrait einer Epoche (Weinheim: Beltz Athenäum, 1998), 191. ‘A Valediction: Forbidding Mourning’ Z. 13. Poetical Works, 45.
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sagen hier in einem sinnstiftenden Gesamtkontext steht und durch die Erinnerung an die Hochzeit korrigiert wird. Vor diesem Hintergrund bekommt das dem Gedicht vorangestellte Epigraph, ein Distichon aus den Werken Tibulls, eine geradezu prologähnliche Funktion: „ … aliam tenui, sed iam quum gaudia adirem, / Adomuit dominae deseruitque Venus.“180 So wie Venus im lateinischen Gedicht die Promiskuität des Sprechers sowohl durch Gunstentzug, also: Impotenz, als auch durch die mahnende Evokation der domina unterbindet, so ist es hier auch der Gedanke an die „Herrin“ (119), der die erotische aberratio zunichte macht. In diesem Punkt unterscheidet sich nun Goethe zum einen von Ernest Dowson, der in seinem Cynara-Gedicht immer wieder durch die weibliche Personifikation seines Schuldempfindens sich seiner Verfemtheit bewusst wird,181 wie auch zum anderen von Rochester, dessen persona einzig die emotionale Nähe zu der Geliebten für das sexuelle Fiasko verantwortlich macht. Je mehr hingegen Goethes Sprecher sich seiner durch das eheliche Sakrament legitimierten Liebe vergegenwärtigt, desto rascher kehrt seine verloren geglaubte Erektionsfähigkeit wieder. Die von Foucault hervorgehobene Tendenz zur Verbürgerlichung des Sexus, zu der im 19. Jahrhundert allenthalben zu beoachtenden „Beschränkung auf Ehe und geregelte Kinderfabrikation“182 scheint zunächst hier bestätigt zu werden. Doch die Gefahren einer solchen Simplifizierung werden insbesondere am Beispiel von Goethes ‚Tagebuch‘ offenkundig: Was zur Sekretierung des Gedichts sowohl in den ‚Walpurgissack‘ als auch in die enfers der verschlossenen Bibliotheksarchive beigetragen hat, liegt in einem Denkmuster begründet, das jenseits eines biedermeierlichen Ehe- und Liebesethos angesiedelt ist. Reflektierend über die Hochzeitszeremonie bekennt sich der Sprecher zu einem neo-paganen Sinnenkult, der in Anbetracht des Kreuzes und des Gottessohns als Schmerzensmanns geradezu blasphemische und mokante Züge annimmt: Gesteh ich’s nur, vor Priester und Altare, Vor deinem Jammerkreuz, blutrünstger Christe, Verzeih mir’s Gott! es regte sich der Iste. (134–36)
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Tibull, Liber Primus V, 39f. Durch die Auslassung des dem Zitat vorangehenden „Saepe“ entschärft Goethe den libertinistischen Ton Tibulls und integriert ihn somit in seinen romantischen Weltentwurf. So in dem Gedicht ‚Non sum qualis eram bonae sub regno Cynarae,‘ das intertextuell sich mit der vitalistischen Weltsicht von Horaz auseinandersetzt. Foucault I, Der Wille zum Wissen, 137.
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Aufgrund der Tatsache, dass Goethe auf das lateinische Wort ‘iste’ (= der da) ausweicht, kann man zu der Schlussfolgerung gelangen, dass er zu Konzessionen an die „wahre[n] Virtuosen des Philisterhaften“183 bereit ist und sich letztlich dessen Poetik der Auslassung zu eigen macht. Doch gerade im Vergleich mit der platonischen Hochzeits- und Ehesymbolik, wie sie allenthalben bei Wordsworth, Coleridge, Novalis oder Shelley beschrieben wird, erweist sich Goethe als ein prononcierter Sensualist, der jede Form der Enthaltsamkeit unter dem Signum des „Jammerkreuzes“ entschieden zurückweist. Sein Bild der von sexueller Lust geprägten Ehe stellt ein machtvolles j’accuse dar gegen eine Theologie, die unter Missachtung ihrer erotischen Implikationen und Verankerung in archaischen Vegetationsriten sich ausschließlich auf eine paulinische Sexualethik beruft. In gleichem Maße wendet er sich gegen die desillusionierte Sicht der ehelichen Zweisamkeit als Hölle oder Joch, wie sie bei Rochester,184 Byron und später bei Meredith, Strindberg und Hardy propagiert wird. Als integrativer Bestandteil der romantischen natura naturans, „von reifer Saat umwogt, vom Rohr umschlossen“ (147), erfreuen sich die Vermählten vielmehr in geradezu naiver Weise an ihrer Sexualität, die sie in diametraler Gegensätzlichkeit zu jeder klerikalen Reglementierung sowohl in spontaner Unbekümmertheit als auch mit unverfrorener Lust am Tabubruch praktizieren: An manchem Unort, wo ich’s mich erfrechte, Wir waren augenblicklich, unverdrossen Und wiederholt bedient vom braven Knechte! (148–50)
Sieht der Sprecher durch die Reminiszenzen an sein bislang erlebtes Eheglück seinen Penis „wieder aufgestählet“ (161), so vermag er nun, seinem Unvermögen einen dialektischen Sinn abzugewinnen. Kraft der Imagination und der Erinnerung – einem Akt des konstruktiven re-membering (virile) – dem vaginalen Zauberkreis (168) der Verführerin entronnen kondensiert er in seinem Tagebuch seine (beinahe) erotische Entgleisung zu einer moralischen Quintessenz, wie sie in anderem Kontext einen locus communis des christlichen Denkens darstellt: „Die Krankheit erst bewähret den Gesunden“ (174). Mit anderen Worten: Die Krankheit der promiskuitiven Versuchung stellt das sexuelle Immunsystem wieder her und schützt vor weiteren Anfällen. 183 184
Friedrich Nietzsche, ‚Das Verhältnis der Schopenhauerschen Philosophie zu einer deutschen Kultur‘ Werke in drei Bänden III, 288. Rochester spricht von “the Hell-fire of Marriage,” das bei weitem jede Krankheit übertrifft; ‘Of Marriage’ Z. 14. Works, 40f.
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In Rochesters antithetisch strukturiertem Gedicht bleibt der Sprecher nicht nur mit dem Makel der Impotenz zurück; die Krankheit, die bei ihm in den inkommensurablen Leiden und Anomalien (Schanker, Harnzwang oder Blasensteine) zum Ausdruck kommt, stellt weder eine Genesung noch eine höhere Erkenntnis nach dem felix culpa-Muster in Aussicht. Der Alptraum des sexuellen Versagens bzw. die Antithese wird somit im vorgegebenen Rahmen des Gedichts ad infinitum verlängert. Bei Goethe hingegen ist es das apotropäische Krähen des Hahns185 – „Da kräht der Hahn“ (177) –, der den erotischen Zauber als kurzlebigen Spuk entlarvt. Wie ein dämonischer succubus, der bei den ersten Anzeichen der (Vernunft-) Helligkeit sich in die Abgründe des Unterbewussten verflüchtigt, so verlässt das Mädchen mit auffallender Hast das vermeintliche Liebeslager „und wirft sich rasch ins Mieder“ (178). Bei Ertönen des Posthorns, das in diesem Zusammenhang ebenso in die Unheil abwehrende Symbolik der Strophe sich einfügt,186 ist die Episode der erotischen Versuchung – im Gegensatz zu den entfesselten Monstren, zu den abjekten alter egos der libertinistischen wie auch dekadenten Sexualität – endgültig überwunden. Dass mit der sexuellen Krise überdies auch die schöpferische Impotenz besiegt wird, ist eine weitere Bestätigung der altüberkommenen Konjunktion von lingua und lingam, auf die auch Rudolf Vaget aufmerksam macht.187 Hat man Vaget auch den Vorwurf gemacht, dass er das Gedicht allzu sehr unter dem Gesichtspunkt der Thomas Mannschen Künstlerexistenz interpretiert,188 so ist jedoch evident, dass die physische Zeugungskraft im Kontext dieses Gedichts nicht von der intellektuellen zu trennen ist. Was bleibt, ist somit nicht so sehr die obsessive Angst vor der Impotenz, wie sie das Restaurationszeitalter beherrscht, sondern vielmehr die bereinigte Erinnerung an die Schönheit des Mädchens, die der Sprecher ganz nach Wordsworths Prinzip des ‘spontaneous overflow of powerful feelings recollected in tranquility’ vor seinem geistigen Auge stets zu evozieren vermag: „Im Auge bleiben ihm die schönen Glieder“ (182).
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Lurker, 272f. Ebd., 327. ‚Goethe als erotischer Dichter‘ Verlorene Klassik? Ein Symposium, 123. Borchmeyer, ‚Die geheimgehaltenen Dichtungen des Geheimrats Goethe. Kritische Anmerkungen zu ihrer Wiederentdeckung: Der ‚Walpurgissack‘ und ‚Das Tagebuch‘‘ Verlorene Klassik? Ein Symposium, 108.
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b. Die Gegenüberstellung zweier so heterogener Autoren wie Goethe und Rochester hat am Beispiel des Impotenz- bzw. des ejaculatio praecoxMotivs erwiesen, dass die sexuelle Abnormität zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Bewertungen erfährt: Während der Zyniker Rochester der Dekonstruktion des Don Juan und des sexuellen Nihilisten im Vorgriff auf Krafft-Ebings Psychopathia sexualis mit einem Schreckenszenarium begegnet, steht das Versagen in Goethes telos-bezogener Liebeskonzeption im Kontext einer Dialektik, die im Einklang mit der Aversion des Dichters gegenüber dem Kranken in der Niederlage eine antithetische Vorstufe zur allumfassenden Synthese sieht. Die post-libertinistische Zuordnung der Impotenz zu einem dialektischen Gesamtschema lässt sich im Kontext der ‚positiven‘ Romantik mehrfach belegen. So äußert sich bei Keats in dem herbstlichen Verfall der Jahreszeiten ein betont erotischer Subtext, der das Aufblühen und das sukzessive Absterben der Natur in eine Zeugungsmetapher einkleidet:189 Auf das koitale con-spirare190 von Sonne und Herbst folgt die Imprägnation der Früchte (“To swell the gourd, and plump the hazel shells / With a sweet kernel …”), die im Verlauf der zweiten – antithetisch konzipierten – Strophe mit dem Versiegen der Samenflüssigkeit beschlossen wird: “the last oozings hours by hours.”191 Obgleich dieses mit dem Nachlassen der Erektion einhergehende Verrinnen des Ejakulats ikonografisch mit dem Stundenglas des Todes korreliert wird, versucht Keats in der dritten Strophe den Blick auf einen neuen, als Synthese in die Zukunft projizierten Frühling zu richten, wo die nunmehr ausgewachsenen Lämmer als Zeichen der österlichen Regeneration die Hügel beleben. Im Einklang mit dem dialektischen Denken der Romantik ist die Abnahme der Prokreativität somit – anders als in dem quantifizierenden Erotikverständnis der Libertins – kein Anzeichen für einen endgültigen Niedergang der vitalen Ressourcen; vielmehr bezeichnet sie einen notwendigen Paradiesverlust, nach dessen Überwindung ein qualitativ besseres Goldenes Zeitalter in Aussicht gestellt wird. Auch die Metaphorik der Erstarrung und Reduktion in Blakes Song of Los – “The sullen earth / Shrunk”192 – ist somit nur das dialektische Präludium zu einer universalen Vereinigung im Koitus: 189 190 191 192
‘To Autumn’ The Poems of John Keats, hg. Miriam Allott (London: Longman, 1970), 650f. “Conspiring with him [= the sun] how to load and bless / With fruit …” Z. 3f.; vgl. OED III, 783, 6. Bedeutung. Z. 22. Z. 53f. The Complete Poems, 247.
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Das Grab wird zu einem gigantischen Uterus, der Leben spendet, und – in Analogie zu Crashaw und den Dichtern des Barock – befruchten Ströme von “milk and blood and glandous wine”193 mit ihrem Ejakulat die Erde. Diesem erotisch gefärbten Chiliasmus, der wie bei Novalis auf barocke Metaphern und Bilder (Milch, Blut, ‚Eichel‘-Wein = Sperma) zurückgreift, steht jedoch ein sexueller Pessimismus entgegen, der sich bereits in den sado-masochistischen Phantasien der gothic novels,194 vor allem aber im bitteren ennui der späten ‚negativen‘ Romantiker Ausdruck verschafft. Gerade Byron, der auch in poetologischer Hinsicht häufig auf die Begrifflichkeit einer gestörten Sexualität zurückgreift und seinen Widersacher Robert Southey in einem Wortspiel auf dessen Vornamen als “ dry Bob” bezeichnet,195 verweist auf die Obsoletheit des als prokreativ empfundenen Schreibens.196 Ein abschließender Blick auf Byrons ’Egeria‘-Episode im vierten Canto von Childe Harold’s Pilgrimage (1818) wird daher im Rahmen des Resümees darlegen, dass der romantische Versuch, der fortgeschrittenen Desintegration der religiösen und kosmischen Sexualität Einhalt zu gebieten, ein utopisches Intermezzo darstellt, das in der Konfrontation mit der Realität zum Scheitern verurteilt ist. Wie aus der Retrospektive der Literaturgeschichte offenkundig wird, vermögen die Romantiker letztlich nicht, Goethes provokantem Beispiel zu folgen und den Weg in jene als “compulsive eroticism”197 deklarierte Sexualität der Moderne abzuwenden. Am Ende des romantischen Idealismus mit seinen imaginierten erotischen loci amoeni und Paradieslandschaften stehen die als Sodomsgewächse sich dekuvrierenden Blumen des Bösen der décadence.
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Ebd., Z. 62. So z.B. in Matthew Gregory Lewis’ The Monk (1796), Mary Shelleys Frankenstein (1817) – Zum weiteren Kontext der Erotik in der ‚schwarzen Romantik‘ vgl. auch Meier, Sexualität und Tod. Don Juan, ‘Dedication’ (3, 24); die voraufgehende Anspielung auf Ikarus – “you soar too high, Bob” (23) – verschlüsselt die gesamte Poetikauffassung der ersten Romantikergeneration als einen sterilen Erektionsverlust. Siehe hierzu auch James Soderholm, ‘Byron’s Procreative Poetry‚ Connotations (1998/99), 319–24. Peter Webb, 224. Diesen Begriff wendet Webb stellvertretend für die Kunst der Moderne auf die Gemälde Balthus’ an und setzt ihn ab von jenem “kitsch eroticism” von Stuckscher Provenienz, 220.
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VII. Ausblick und Resümee Nicht nur im Zusammenhang mit der Publikation von Charlotte Roches Skandalon Feuchtgebiete (2008) häufen sich die Feuilletonbeiträge, die in bezug auf die Repräsentation der Sexualität im 21. Jahrhundert von der Aporie sowohl der Erotik als auch der Pornografie sprechen. Während in der ZEIT vom 6. Februar 2003 Peter Kümmel die Frage aufwirft, ob die deutschen Bühnen inzwischen in den Händen kühl provozierender Pornographen seien, und in bezug auf Frank Castorfs Regiekonzept sogar den Terminus des „posterotischen Theaters“ für gerechtfertigt hält,1 sieht Thomas Hettche nicht nur das „Ende der Geschichte der erregenden Literatur“ nahen; in Anbetracht der neuesten Literaturentwicklungen in Frankreich spricht er sogar von einer „neuen Keuschheit der Pornografie.“2 Diese Äußerungen liefern in ihrer Bestandsaufnahme des aktuellen erotischen Diskurses zugleich auch probate Schlagwörter für die Charakterisierung der Literatur des 17. Jahrhunderts. Geht in der reduktionistischen Sichtweise auf die Post-Moderne der Blick oft verloren für die Kontinuitäten der Literatur- und Kulturgeschichte, so bleibt die eigentümliche Modernität in der Darstellung des Körpers und der Erotik oft unerkannt. So lässt sich der Terminus des „posterotischen Theaters“ nicht nur auf zeitgenössische Regiearbeiten oder auf entidealisierte Darstellungsformen sexuellen Konsums wie in Mark Ravenhills Shopping and Fucking (1996) applizieren; wie sich gezeigt hat, lässt er sich ebenso auf die Entwicklungen des Theaters anwenden, die sich bereits in Shakespeares Troilus and Cressida abzeichnen und in der Komödie der Restaurationszeit ihren vorläufigen Kulminationspunkt erreichen. Auch das geradezu barocke Paradoxon der ‚neuen Keuschheit der Pornografie‘ ist,
1
2
‚Springteufel der Lüste‘ DIE ZEIT 07 (2003), 36–37. Später sieht Kümmel „die Erotik von heute [als] ein tragikomisches Feld.“ ‚Heimwerker der Triebe‘ DIE ZEIT 30 (2006), 18. ‚Die neue Keuschheit der Pornografie‘ Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) 03 (2003), 38.
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wie die Ausführungen gezeigt haben, alles andere als neu: Sowohl Suckling als auch Cowley und Rochester berufen sich in ihrer drastisch formulierten Aversion gegen die Offenheit des weiblichen Körpers oft auf eine dandyistisch-aristokratische Position der Keuschheit, die das „Verschwinden des Sexus“3 ebenso nachhaltig dokumentiert wie die außer Kraft gesetzten Strukturen pornografischen Erzählens bei Michel Houellebecq, Virginie Despentes oder Charlotte Roche. Der heute oft heraufbeschworene Niedergang der Erotik liegt daher weniger in der in den 1960ern einsetzenden insistenten Medialisierung des Fleisches begründet, als in der Genitalisierung der Wahrnehmung, wie sie sich in der Folge des Transzendenzschwunds im 17. Jahrhundert bemerkbar macht. Diesen folgenreichen Paradigmenwechsel aufzuspüren, hat sich die Untersuchung vornehmlich zum Ziel gemacht. Während das Theater seit der jakobäischen Zeit, seit jenem um 1610 aufkommenden Genre der ‘sex tragedy’4 in seiner Tendenz zum Dystopischen dazu neigt, Zerrbilder körperlicher Depraviertheit zu entwerfen, hat sich die Versdichtung des 17. Jahrhunderts als facettenreicher und tiefgründiger erwiesen. Gerade in der Rivalität der beiden Dichterschulen, der Metaphysicals und der Cavaliers, zeigt sich eine Vielfalt von Körper- und Erotikkonzeptionen, die sich auf das Neben- und Gegeneinander frühneuzeitlicher und libertinistischer Lebensentwürfe zurückführen lässt. Diese Offen- und Uneinheitlichkeit der Positionen, der rege Austausch zwischen den konträren Lagern, wie er sich nicht zuletzt in Crashaws Rückgriff auf Carews ‘A Rapture’ nachweisen lässt, ist eines der wesentlichen Charakteristika des barocken Weltempfindens. Darüberhinaus wird der Begriff des Barocken hier appliziert auf ein genuin frühneuzeitliches Erotikverständnis, das im Verlauf des 17. Jahrhunderts mit dem vorzeitigen Ende der erregenden Literatur durch die Emergenz des Obszönen zunehmend in den Hintergrund gedrängt wird. So lässt sich in der Dichtung Donnes, Crashaws und Southwells noch eine Verschränkung von Erotik und Theologie konstatieren, die erst mit der Verabsolutierung des rationalistischen distinguo und der modernen Trennung des Inkompatiblen aufgehoben wird. Solange jedoch Komik und Tragik, Ernstes und Banales gemäß der komplementären Weltsicht der Frühen 3 4
Ebd. Martin Wiggins subsumiert Marstons The Insatiate Countess (hier in einer Bearbeitung von Barksted und Machin), Beaumont und Fletchers The Maid’s Tragedy, Middletons The Maiden’s Tragedy und Fletchers The Tragedy of Valentinian unter die Gattung der ‘Jacobean sex tragedy’. Four Jacobean Sex Tragedies, hg. Martin Wiggin (Oxford: Oxford UP, 1998).
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Neuzeit eine Einheit bilden, solange stellt auch die erotisierte Theologie – in Ergänzung zum sakralisierten Eros – eine wichtige Komponente im dualistischen Denken jener Zeit dar. Wie unzulänglich sich die herkömmlichen Kategorien wie Pornografie, Obszönität, Sex, aber auch solche Neuschöpfungen wie ‚Posterotik,‘ ‚Pornutopia‘ oder ‚hagioporn‘ erweisen, zeigt sich im Vergleich mit den ‚aufgeklärten‘ Zeitaltern an dem Stellenwert des Erotischen in der Frühen Neuzeit. Nach dem Vorbild der Alchimie, bei der Heterogenes im Uterus des Destillierkolbens vereint wird, erstreckt sich das Prinzip der felix coniunctio auf nahezu alle Lebensbereiche. Teil dieses ‚Pansexualismus‘ (Hocke) ist daher nicht nur die – wie im Fall Pepys’ oft zitierte masturbatorische – Rezeption von Literatur; auch ihre Produktion ist gemäß der sexualisierten ars poetica oft nur unter dem Signum des Geschlechtsverkehrs zu verstehen. Das Eintauchen des phallischen Federkiels in das vaginale und feuchte Tintenfass macht den Schreibakt – im eklatanten Gegensatz zur enterortisierten Computer-Tätigkeit der Post-Moderne – zu einem prokreativen Zeugungsvorgang. Eingedenk der Tatsache, dass der virtuose Umgang mit dem Schreibinstrument in der patriarchalischen Kultur den Männern vorbehalten bleibt, ist es durchaus gerechtfertigt, bei der privaten Zirkulation der Manuskripte von einem maskulinen Schrift-Verkehr (‘textual intercourse’) zu sprechen. Reaktionen auf schreibende Frauen wie Aphra Behn, die als Mann-Weib, Dichter-Hure diffamiert wird, bestätigen die Auffassung von der Literatur als Ort und Medium eines homosocial bonding. Ist die Literatur und Kunst der Frühen Neuzeit geprägt durch die Verschmelzungen und typologischen Verknüpfungen, so ist sie in hohem Maße bestimmt durch die Vorstellung einer Androgynität, die Männliches und Weibliches amalgamiert. Die Annahme, dass sich hinter den ‘strong lines’ der Metaphysicals eine ausnahmslos phallozentrische Literatur verbirgt, verkennt somit die Signifikanz des alchimistischen Weltentwurfs. Allein der von Thomas Carew benutze Begriff der “masculine expression” beweist in seiner oxymorontischen Verknüpfung von Maskulinität und weiblicher Gebärfähigkeit (lat. exprimere = herausdrücken), dass der proteushafte Dichter des 17. Jahrhunderts sich in einem vexatorischen Spiel der Geschlechter sowohl männlich als auch weiblich, sowohl hetero- als auch homosexuell zu inszenieren versteht. Während Thomas Laqueur in seiner breit angelegten Entwicklungsgeschichte des männlich dominierten one sex model den medizinisch-biologischen Diskurs in den Vordergrund rückt, so wird die Facettenhaftigkeit dieses Geschlechtsmodells erst augenfällig, wenn man berücksichtigt, dass in der 335
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Pluralität der Diskurse gerade die Literatur sich an einem weitverbreiteten Muster von Texten und Gegentexten (contre-textes) orientiert. In der Folge des Subjektivismus und seiner perspektivischen Verengung erfährt das lyrische Ich der Moderne gerade in der dialektischen Behauptung seiner Identität gegen alles Fremd-Objektive5 eine Verarmung. Wie im Kapitel über den Dichter als ‘catamite’ (II,3) dargelegt konstituiert sich dagegen die persona in der Barockdichtung aus einer Vielzahl oft disparater und widersprüchlicher Masken: Während das lyrische Ich seit der Romantik sich im Widerstreit mit dem Anderen definiert und davon abgrenzt, gelingt es dem Sprecher Donnes die Pose des ovidian rapist in den Elegien durch die Maske eines wehrlosen und effeminierten Wesens in den Sonetten zu ergänzen und zu konterkarieren. Die Identifizierung des Sprechers der Holy Sonnets mit einer belagerten Stadt, einer urbs rapta, die die (sexuelle) Erstürmung herbeisehnt, ist vor dem Hintergrund des häufig thematisierten Ganymed-Stoffs in der Literatur und Kunst ein deutlicher Beleg für die geschlechtliche Unbestimmtheit des Subjekts. Neigt Ina Schabert dazu, in bezug auf die Werke Michael Draytons von einem weiblichen Ventriloquismus zu sprechen, so ist an der Analyse exemplarischer Texte von Donne und Traherne evident geworden, dass die Anwendung eines weiblichen und sexuell passiven contretexte über den Kunstgriff der Bauchrednerei in der Manier von A rebours weit hinausgeht. Zeigt sich im medizinischen Diskurs die Tendenz, das Maskuline zu verabsolutieren und selbst die Klitoris als verkümmerten Penis (“woman’s yard”) für das Patriarchat zu reklamieren,6 so sind im Bereich der Künste die Akzente anders verteilt: Durch die Geburt seiner Text-Corpora mit weiblichen Eigenschaften ausgestattet definiert sich das Ich des Dichters durch seine hermaphroditische Offenheit. Diese wird nicht nur durch Bildmaterial wie Cornelis van Haarlems Venus and Adonis (1619; Museum of Art, Baltimore) bekräftigt, wo bis zu den Details von Kopfschmuck und Ohrgehängen Adonis ein Spiegelbild der Venus darstellt;7 sie wirkt überdies im Bild Gottes nach, als dessen Analogon der prokreative Dichter sich versteht. Die Polarität sowohl zwischen
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Siehe hierzu und zum weiteren Kontext Hiltrud Gnüg, Entstehung und Krise lyrischer Subjektivität. Vom klassischen lyrischen Ich zur modernen Erfahrungswirklichkeit (Stuttgart: Metzler, 1983), 44. Erst bei Anne Killigrew wird die Klitoris zu einem weiblichen Distinktivum, “the little Lady;” vgl. hierzu auch Kari Boyd McBride, ‘“Upon a Little Lady”: Gender and Desire in Early Modern English Lyrics’ And Never Know the Joy. Sex and the Erotic in English Poetry, hg. C. C. Barfoot (Amsterdam / New York: Rodopi, 2006), 123–34. Siehe hierzu auch Orgel, 94f.
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Mann und Frau als auch zwischen Schänder und Opfer, die Dichter wie Donne in ihren Sprecherfiguren oft konzeptistisch vereinen, wird in der Imagination des frühneuzeitlichen Menschen auch auf Gott übertragen. Setzt sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend die Vorstellung eines deus absconditus durch, der sich einer sinnlichen wie sexuellen Annäherung durch den Menschen entzieht, so hat im Barock der inkarnierte Gott noch ganz die Qualität eines homo eroticus. Dass in diesem Kontext eine gender-bezogene Interpretation ebenso in die Irre führt wie die übergeordnete Frage nach der Entstehung von Zivilisationsprozessen und Peinlichkeitsschwellen, führt paradigmatisch die Bynum-Steinberg-Kontroverse vor Augen: Anhand einer Vielzahl von Beispielen aus der europäischen Kunstgeschichte vermag Steinberg nachzuweisen, dass Christus in der Vorstellungswelt der Renaissancekünstler nicht nur eine ausgesprochen männliche, sondern überdies eine auffallend ithyphallische Gottheit darstellt. Der in Analogie zur ostentatio vulnerum erfundene Bildtopos der ostentatio genitalium versorgt die Künstler jener Zeit mit einer Formensprache, die von der phallischen Knotung des Lendentuchs bis zur infantilen Erektion beim Jesusknaben reicht. Diesem Konstrukt vom priapistischen Gott begegnet Bynum mit dem Argument, dass Christus seit der Feminisierung der religiösen Sprache im Spätmittelalter als eine Muttergottheit, als ein weiblicher PelikanGott mit nährender und schützender Brust visualisiert wird. Die Gefahren präjudizierter Sichtweisen, wie sie in einer modernen EntwederOder-Exegese begründet liegen, werden hier offenkundig: Gemäß einem unversöhnlichen Geschlechterantagonismus, wie er sich bereits vor dem 18. Jahrhundert herausbildet, kann die Moderne Gott sich nur einem Geschlecht zugehörig vorstellen. Dabei ist es erst die Kombination von Steinbergs und Bynums Forschungsergebnissen, die uns im Zeitalter der ‚Posterotik‘ annähernd einen visuellen Eindruck vom erotischen Gottessohn vermitteln kann. In Übereinstimmung mit der in allen alten Kulturen belegten Korrespondenz von amor eroticus und amor divinus verkörpert Christus somit nicht nur die verschiedenen Gradabstufungen des one sex model; als Christus-Amor und Alchimist der Liebe fasst er überdies in sich so heterogene Rollenentwürfe zusammen wie die des gewaltsamen Penetrierers oder die der kapriziösen und eifersüchtigen donna crudela der petrarkistischen Sonetttradition. Die Nachwirkungen des erotischen Christusbildes lassen sich im Kontext des Katholizismus auch noch in einer Figur wie Emma Bovary nachweisen. Als Klosterschülerin fasst sie eine schwärmerische Liebe zum Himmlischen Bräutigam; dabei goutiert sie in ihrem Gebetbuch be337
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sonders die erotischen Vignetten und deren Herzemblematik, “le sacré cœur percé de flèches aiguë.”8 Das frühneuzeitliche mixtum compositum aus Erotik und Theologie hat hier jedoch eine folgenreiche Modifikation erfahren: Stellt in der Frühen Neuzeit die Erotik den unverzichtbaren contre-texte dar zur Veranschaulichung der göttlichen Liebe, so zeigt Madame Bovary allzu bald, dass die religiöse Euphorie letztlich nur ein verschlüsselter art catholicism darstellt, der, losgelöst von den einst sexuellen Implikationen des Messopfers, Emma als Surrogat für ihre eigenen erotischen Sehnsüchte dient. Darüber hinaus kontrastiert das im 19. Jahrhundert entworfene Bild jenes “pauvre Jésus qui tombe en marchant sur sa croix,”9 auffallend mit den sexualisierten Inszenierungen des athletisch-sublimen Gekreuzigten im Barock. Insbesondere die Analysen ausgewählter Gedichte aus Crashaws Steps to the Temple (1652) haben gezeigt, dass das barocke Christus-Bild geprägt ist von einer physischen Offenheit, wie sie nur in den grotesken Körperkonzeptionen des Spätmittelalters evident ist. Rabelais’ Giganten, Gargantua und Pantagruel, nicht unähnlich verfügt auch der Christus der Frühen Neuzeit über genitale Protuberanzen und Einbuchtungen, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts sich zu Ekel-Paradigmata verkehren und das Interesse Winckelmanns an den geschlossenen und unversehrten Körpern der Antike erklären hilft. Wie in zahlreichen Gemälden und Kupferstichen dargestellt verströmt auch Crashaws Christus Unmengen von Körperflüssigkeiten und Sekreten, die vor allem durch die alchimistische Herleitung des Spermas aus dem Blut (“the froth of the best and most laudable blood;” Crooke, Microcosmographia) als eine Abundanz des Samens gedeutet wird. Während Robert Herrick in seiner geistlichen Versdichtung, in den Noble Numbers, nicht nur die Vorstellung eines dieu caché erahnen lässt, sondern vor allem in den Beschneidungsgedichten den Akzent auf die Sauberkeit des Schauplatzes zu legen scheint, zeigt sich Christus bei Crashaw wie auch zuvor bei Southwell in seiner ganzen grotesk offenen (Omni-) Potenz. Als Quelle niemals versiegender prokreativer Säfte stellt Christus den Inbegriff eines leaky vessel dar, das anders als in Jonsons misogyner Auffassung zugleich Ausdruck der barocken Ästhetik des Exuberanten ist. Im Unterschied jedoch zum karnevalesken Welt- und Menschenbild, das überwiegend einem skatophilen Humor verpflichtet ist, beschreitet Crashaw in der Darstellung des prokreativen Fließens konsequent den 8 9
Gustave Flaubert, Madame Bovary, hg. Bernard Ajac (Paris: Flammarion, 1986), 95. Ebd.
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Weg der Artifizialisierung: Die vaginalen Wunden Christi werden hierbei zu Mündern, aus deren roten (Scham) Lippen Rubin-Tränen hervorperlen; Maria Magdalenas Tränen-Ejakulat in ‘The Weeper’ transformiert sich in mehrfach aufeinander folgenden Metamorphosen zu kostbaren Perlen, zu einer Himmelsleiter aufsteigender Milchströme, die jenseits der Milchstraße zu einer exquisiten Sahne gerinnen. Begegnet die moderne Literaturkritik diesen konzeptistischen Bilderfindungen mit dem Vorwurf des Geschmacklosen und Abnormen, so liegen diese heftigen Reaktionen zum einen darin begründet, dass diese höchst artifizielle Verbindung von theologischem Text und erotischem contre-texte unter dem Einfluss des Klassizismus aufgelöst worden ist. Zum anderen stützt sich Crashaw bei der Beschreibung seiner erotischen Theophanien auf eine ‚Metasprache der Sexualität‘ (Gnüg), die im Zuge der Genitalisierung der Literatur bei den Cavaliers sich drastisch zurückentwickelt. Die Proliferation von Metaphern, homophonen Wortspielen und neologistischen Wendungen deutet daher in bezug auf das Sprechen über naturalia weniger auf eine „bis heute uneingestandene Sprachlosigkeit;“10 verglichen mit der vulgärsprachlichen Reduktion des Menschen auf sein Genital in der modernen ‚Post-Erotik‘ zeigt sich in den oft palimpsestartig gestaffelten Bedeutungs- und Bildschichten der Frühe Neuzeit-Literatur vielmehr die Gültigkeit eines ausgeprägten Analogiendenkens, in dem gemäß einer ubiquitären ars combinatoria alles Konträres sich zu einer neuen Einheit bzw. zu einem erotisch konnotierten Wort-Zentaur zusammenfügen lässt. Die im Zeichen des Rationalismus stehende Auflösung der Wort- und Bild-Zentauren (conceits, Emblemata) geht einher mit der Preisgabe auch anderer Dualismen. Obgleich die Vorstellung einer radikalen Dichotomie, wie sie Heines ‚Weltriss‘ zugrundeliegt, erst zögernd um sich greift, hat sich nachweisen lassen, wie die zeitgleich mit den Metaphysicals wirkenden Cavaliers beginnen, die Korrespondenz zwischen Sakralem und Profanem in Frage zu stellen. Dabei berufen sie sich nicht nur auf die Typenkomödien und menippeischen Satiren Ben Jonsons, sondern ebenso auf den libertinistischen Duktus der Elegien Donnes oder auf die Sprachauswüchse des syphilitischen Thersites in Shakespeares Troilus and Cressida. Im Unterschied zur Pornografie und ihrer utopistischen Inszenierung fortwährend kopulierender Körper tragen die Cavaliers zur Entwicklung richtungsweisender Parameter einer anti-pornografi10
Ernst Schubert, Alltag im Mittelalter. Natürliches Lebensumfeld und menschliches Miteinander (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2002), 267.
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schen und obszönen Literatur bei, auf die nicht nur Rochester, Etherege oder Behn, sondern auch die ‚posterotischen‘ Werke der Moderne, von Joyce bis Houellebecq und Roche, zurückgreifen. Sexuelle Übersättigung, die „metonymische Kontiguität von Sex und Unrat,“11 das Überblenden von Erbrechen und Ejakulation, die Metamorphose des Liebesgartens zum hortus voluptatum wie auch die Inszenierung des weiblichen Geschlechtsorgans als Hölle oder Exkrementengrube – dies sind nur einige Bild- und Motivkomplexe, die deutlich machen, wie nachhaltig die Entsprechung von amor divinus und amor eroticus außer Kraft gesetzt und die theologische Komponente im texte / contre-texte-Schema dekonstruiert worden ist. Während Thomas Carew in der Rolle eines chameleon poet zwischen dem Sakralen (Psalmen-Nachdichtungen) und Profanen (‘A Rapture’) unentschieden zu oszillieren scheint, leisten Suckling, Lovelace, Cowley und nicht zuletzt Rochester der Tendenz zur ‚Genitalisierung‘ bzw. Pathologisierung der Liebesdichtung immer unverhohlener Vorschub. Zwar beweist ein Dichter wie Cowley, dass er als Verfasser sowohl der Davideis als auch des Gedichtzyklus The Mistress sich simplifizierenden Klassifikationen widersetzt, doch lässt sich auch hier neben der Verarmung der Bildsprache ein Verblassen der der frühneuzeitlichen Literatur und Kunst immanenten contre-textualité nicht übersehen. Um darzulegen, dass das Menetekel der posterotischen Literatur nur im Gesamtkontext größerer Abschnitte der Kulturgeschichte zu bewerten ist, hat sich die Anwendung von Begriffen aus dem 19. Jahrhundert auf das Denken des 17. Jahrhunderts als äußerst erhellend erwiesen. Obgleich ein solch (punktuell) anachronistischer Ansatz nicht verhehlt, dass eine absolute Kongruenz zweier differenter Epochen nicht existiert, hat die Darstellung ihrer Gemeinsamkeiten und Divergenzen als Versuch einer intrakulturellen Literaturbetrachtung durchaus ihre Legitimation bewiesen. Insbesondere der ‚Kult der Kälte,‘ der emotionslose culte du moi, wie ihn in bezug auf das vulgus der Dandy zu zelebrieren versteht, gibt aus der Retrospektive auch wichtige Einsichten in den erotischen Diskurs der Cavaliers. So wie Baudelaire die Sexualität als eine Bedrohung seines stoizistischen Selbstentwurfs und zugleich als eine verabscheuungswürdige Geste der Erniedrigung betrachtet, so gibt es auch bei Suckling immer wieder eine persona, die zur Wahrung ihrer Integrität versucht, sich von der kruden Materialität der Erotik zu distanzieren. Im Rückgriff auf die 11
So Menninghaus, der sich auf die Werke Kafkas bezieht, 353.
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althergebrachte Vanitas-Symbolik bezeichnet sie die Frauen als camouflagierte Leichname, deren perforierte Hautfläche bereits zu Lebzeiten auf den Verwesungsprozess hindeutet. Der Ekel vor dem weiblichen Körper als ‚Madensack,‘ als sich unter der Fassade zersetzende charogne, teilt Sucklings persona ebenso mit Baudelaire und den meisten Vertretern der décadence wie auch deren Überdruss an der Animalität des konvulsivischen Geschlechtsakts. Die Pose des ennuyierten Dandys, des übersättigten und desillusionierten Don Juan, ist somit eine der markantesten – bislang jedoch nicht gewürdigten – Gemeinsamkeiten beider Epochen. Selbst dort, wo Suckling die persona des blasierten Dandys ablegt und sie für die eines libertinistischen Hasardeurs eintauscht, kommt es zur Konvergenz der unterschiedlichen Selbstentwürfe in einem wesentlichen Punkt: in der Geringschätzung oder gar Ablehnung der Erotik. Vor allem in bezug auf die topische Verquickung von Essen und Erotik hat sich nachweisen lassen, wie eine nunmehr ad nauseam konsumierte Sexualität die neoplatonische ars amandi ins Gegenteil verkehrt. In einem Gedicht wie ‘Loves Feast’ setzt sich Sucklings Sprecher zunächst über die quinque lineae amoris des erotischen Rituals – visus, allocutio, tactus, osculum sive suavium, coitus – hinweg; mit der rüden Missachtung der erotischen Menüfolge wendet er sich aber überdies nicht nur gegen den ordo-Gedanken des Liebesbanketts in der Shakespeare-Komödie, er dekonstruiert zusätzlich die Troika von Venus, Bacchus und Ceres, die spätestens seit Erasmus von Rotterdams Adagia die Sexualität als gustatorische Sinnenfreude veranschaulicht. Zeigt sich Paris in Romeo and Juliet noch fest entschlossen, sein phallisches Messer auf die Liebestafel zu legen (“that would fain lay knife aboard”),12 so zeichnet sich in der Versdichtung des 17. Jahrhunderts immer stärker die Tendenz ab, das erotische Mahl zu einem genitalen fast food-Erlebnis avant la lettre zu entwerten. Das telos besteht dabei nicht mehr in der Rückkehr zur androgynen Totalität eines positiv konnotierten “beast with two backs,” zur Ein-Verleibung des Anderen, sondern einzig im orgasmischen Erbrechen, im prolongierten Ekel vor der Monstrosität des vaginalen Schlundes. Bei aller Differenz so zeigt sich in der überhasteten Multiplikation sexueller Abenteuer, in der zwanghaften Suche nach nouveaux frissons eine Übereinstimmung zwischen dem donjuanesken (Anti-)Helden des 17. und des 19. Jahrhunderts. Im Unterschied zum ursprünglichen burlador von Sevilla, wie ihn Tirso de Molina 1613 als weiteren Mythos der 12
Romeo and Juliet II, iv, 197f.
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Neuzeit in die Theatergeschichte einführt, hat der moderne Don Juan bereits in den 1640ern seine metaphysischen Implikationen eingebüßt: Der descensus ad inferos bezieht sich in der Literatur der Libertins nun nicht mehr auf die Niederfahrt in die Hölle, sondern vielmehr auf die zwanghafte Konfrontation mit dem vaginalen Pandämonium, mit einer Höllentopografie, die – aufgrund der semantischen Nähe von Anus und Vulva (fud) – auch als Kloake imaginiert wird. Dass der Topos von der Hölle des weiblichen Genitals keine Erfindung der libertinistischen Literatur des 17. Jahrhunderts ist, macht ein Blick sowohl auf Shakespeares Sonette als auch auf seine Tragödie King Lear offenkundig. Das wesentliche Merkmal in der Darstellung des genitalen Infernos seiner dark ladies (hierzu gehören Goneril wie auch die verdüsterte Wahrnehmung Desdemonas durch Othello) besteht jedoch darin, dass die höllische „Zisterne“ (Othello) der Frauen noch unverkennbar in einem contre-texte-Verhältnis zu den floralen Schößen in den Komödien (‘rose’ in As You Like It) oder zu den fontaines d’amours der Hohelied-Topik stehen. Bei Suckling wie auch bei Rochester hat sich diese – durchaus prekär gewordene – Balance nun gänzlich zugunsten einer Semantik des Negativen, Dämonischen und Fäkalischen verschoben. Eine zuweilen eingestreute Metapher wie “the balmy brinks of bliss” zur Umschreibung der Vagina (‘The Imperfect Enjoyment’) enthält nicht nur durch den Bezug auf den Abgrund das Potential zur eigenen Dekonstruktion; im Kontext der zynischen Sexualitätsauffassung entpuppt sie sich unzweideutig als ein Kultur-Zitat, als ein Mittel des Illusionsaufbaus, um den Leser um so unvermittelter mit dem frühklassizistischen Ekel vor der Offenheit des weiblichen Unterleibs, vor dem bodenlosen gouffre des Genitals in Berührung zu bringen. Rochesters Plädoyer für eine – geradezu post-modern anmutende – Intimpflege vor dem Geschlechtsverkehr unterstreicht überdies den Vollzug eines richtungsweisenden Paradigmenwechsels im 17. Jahrhundert: Während in der Renaissance das Gesäß sowohl als Fundament als auch als Ort vitaler Stoffwechselprozesse mit besonderem Interesse bedacht wird,13 ist der abdominale Bereich für Rochester mit seinen Gerüchen, Sekret- und Ausscheidungsspuren der Fokalisationspunkt des Abnormen und widerwärtig Natürlichen. Baudelaires Gleichung, die er zwischen der Natürlichkeit der Frau und ihrer Verabscheuungswürdigkeit aufstellt, ist im Verlauf der Restaurationszeit bereits ein etablierter Topos innerhalb der Coterie der ‘merry gang.’ 13
Jeffrey Masten, ‘Is the Fundament a Grave?’ The Body in Parts, 133ff.
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Um den abdominalen Menschen, wie er sich im Gegensatz zu Rabelais’ frühneuzeitlicher Lachkultur entwickelt, besser greifbar zu machen, hat sich ein Vorgriff auf den Terminus des ‚Ubuzentrischen‘ als probat erwiesen. Wie in Alfred Jarrys Figur Ubu Roi, jener modernen Interpretation des mittelalterlichen belly god, so hat sich spätestens bei Rochester die ursprüngliche Vorstellung vom zentaurischen Mensch, vom komplementär zusammengefügten Mikrokosmos, zugunsten einer neuen, negativen Anthropologie verschoben, der zufolge der Mann nun ausschließlich aus Bauch, Phallus und Skrotum besteht. Diese Reduktion des Menschen auf seine Protuberanzen ist überdies nicht mehr als grotesk zu bezeichnen; vielmehr handelt es sich bei diesem Menschenbild um die Entfesselung des Monströsen und Abjekten, dem bis zur Säkularisierung im Zuge der Aufklärung im Pandämonium des Karnevals ein fest umrissener Gegenbereich zugewiesen war. In Rochesters Persiflage auf Karl II. desavouiert nun ein permanenter Lord of Misrule die altüberkommene Zwei-Körper-Theorie des Königs, indem er sie durch das dritte corpus, “the sexualised body bestial” (Pankratz), ergänzt bzw. ersetzt. Anstatt mit prudentia und Umsicht den Staatskörper zu regieren, wird der abdominale Anti-Monarch selbst von seinem eigenen überdimensionierten und monströsen Genital beherrscht. In Antizipation von Père Ubu, der die lingua-lingam-Korrespondenz ins Wörtliche übersetzt und sein gesamtes Königreich auf eine fäkalische Materialität einengt, begründen sowohl Rochesters Karl II.-mirage als auch Bolloxinion in Sodom das Bild des sterilen, vom eigenen Genital tyrannisierten Tyrannen. Darüber hinaus spiegelt sich in der Emergenz des ubuzentrischen Monarchen das Ende jenes Ordnungsmythologems, das noch bis zu Shakespeare unangetastet bleibt: der chain of being. Mit der Auflösung jenes vinculum zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Engel und Tier, entsteht nun unweigerlich der homo totaliter eroticus, der – wie später in Alberto Moravias programmatischem Roman Io e lui – sich durch seine Genitalien definiert, umgetrieben und versklavt sieht. Dem “satiric overkill”14 dieser Werke diametral entgegengesetzt sind schließlich die eskapistischen Tendenzen, wie sie in den Gedichten, aber auch in den Künsten bis zum Rokoko zu betrachten sind. Neben dem Goldenen Zeitalter und seiner Motivik des Jungbrunnens ist es vornehmlich der Traum, der den donjuanesken Höflingen sowohl am Ende der Herrschaft Karls I. als auch während der Restauration (auto-) erotische 14
Warren Chernaik, Sexual Freedom in Restoration Literature (Cambridge: Cambridge UP, 1995), 10.
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Flucht-Räume bietet. Aber nicht nur das Wissen um das Ephemere dieser Refugien und paradis artificiels durchbricht die sorgsam aufgebaute Illusion der libertinistischen Traumwelten; vor allem ist es der unvermittelte Einbruch der Realität, das abrupte Erwachen, das dem lyrischen Ich die desillusionistische Einsicht vermittelt, in einem unausgesetzten “Hobbesian nightmare”15 leben zu müssen. An die Stelle der überwiegend maskulinen Entgrenzungs- und Potenzphantasien treten Szenarien, in denen das Individuum von sexuellen Störungen, von Ängsten und von traumatischen Erfahrungen eines Persönlichkeits- und Körperverfalls beherrscht und vernichtet wird. Ein bis dato noch nicht vorgenommener Vergleich zwischen Rochesters ‘The Imperfect Enjoyment’ und Goethes ‚Tagebuch‘ führt am Ende drastisch vor Augen, worin die Modernität des libertinistischen Erotikentwurfs im Unterschied zum dialektischen Denken des Romantikers besteht. Rochesters Beschreibung einer ejaculatio praecox-Erfahrung ist streng antithetisch aufgebaut: Auf die vermeintliche Liebeserfüllung, die durch die ironische Verkehrung des texte / contre-texte-Verhältnisses zwischen Theologie und Erotik bereits in Zweifel gezogen wird, folgt alsbald die ‚Penis-Schelte,‘ die sich in wüsten Aggressionen und Verwünschungen gegen das widerspenstige männliche Genital erschöpft. Bei Goethe hingegen ist das Impotenz-Erlebnis in mehrfacher Hinsicht Ausdruck einer verborgenen Teleologie. Das Versagen führt durch ein imaginatives remembering zu einer Affirmation des Eheglücks wie auch zu einem Wiederentdecken der schriftstellerischen und sexuellen Potenz. Dass Goethes Erotikkonzept sich ebenso wenig durchzusetzen vermochte wie Blakes eschatologische Vision des fließenden “glandous wine,” liegt letztlich begründet in der nachhaltigen Veränderung der Sexualitäts- und Körperauffassung, wie sie mit der Erfindung des Don Juan zu Beginn des 17. Jahrhunderts einsetzt und sich in einem “bout of mechanical lovemaking”16 der post-modernen Anti-Helden und -Heldinnen fortsetzt. In nuce fasst Byron in der ‚Egeria‘-Episode in der für ihn typischen Methode des poetischen ‘pricking of bubbles’ zusammen, wie die sowohl romantische als auch barocke Vorstellung einer Verschmelzung von Diesseits und Jenseits, von Profanem und Sakralem vor dem Diktat eines über die Jahrhunderte nachwirkenden Entzauberungsprozesses aufgegeben wird. Als Kommentierung des zuvor erörterten erotischen Paradigmenwechsels aus der Perspektive eines Romantik-Renegaten seien daher 15 16
Ebd., 37. Vladimir Nabokov, Mary (Harmondsworth: Penguin, 1970), 11.
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einige Aspekte aus dem vierten Canto des Epos Childe Harold’s Pilgrimage als weiteres Resümee hinzugefügt.17 Die interpolierte Geschichte der römischen Nymphe Egeria, die als Geliebte und Ratgeberin den legendären König Numa Pompilius zu einer weisen Herrschaft inspiriert und nach dessen exzessiv betrauerten Tod von Diana zu einer Quelle verwandelt wird, lokalisiert Byron in einem arkadischen Schauplatz. Das Moos ihres Brunnens wird auch jetzt noch von elysischen Wassertropfen – “thine Elysian water-drops”18 – benetzt. Nach dem Muster unzähliger loci amoeni hat die vom Quellwasser getränkte Vegetation sich zu phantastischen Formen verschlungen: Die grünen Hügel sind übersät mit Blüten, und die Blumen, die sich in intertextueller Anlehnung an Wordsworths Narzissen rhythmisch im sanften Wind bewegen (“with their dyes / Dance in the soft breeze in a fairy mass;” 1050f.), versetzen den Leser in einen der vielen jardins d’amour, die seit dem 17. Jahrhundert das Ich vor der rauhen Wirklichkeit bewahren. Geradezu im Rückgriff auf den Liebesdiskurs der Frühen Neuzeit führt Byron aus, wie in der verzauberten Abgeschiedenheit einer ‘bower of bliss’ – “in this enchanted cover” (1063) – es zur mystischen Vereinigung (“that mystic meeting;” 1066) eines Sterblichen mit einem göttlichen Wesen kommt. Zur Darstellung dieses sensuellen amor divinus – “holy Love” (1071) – stützt er sich auf eine Semantik, die sowohl an Donne als auch an Crashaw erinnert. Die Liebe dieses heterogenen Paares wird dabei nicht nur als konzeptistische Verschmelzung eines himmlischen mit einem menschlichen Herzen verstanden; sie wird überdies mit dem barocken Paradoxon eines regenerativen orgasmischen Liebestodes umschrieben, bei dem die Liebenden für die Dauer eines ekstatisch erlebten Moments der Unsterblichkeit teilhaftig werden: And didst thou not, thy breast to his replying, Blend a celestial with a human heart; And Love, which dies as it was born, in sighing, Share with immortal transports? (1063–66)
Doch bereits die zweite Hälfte dieser neunzeiligen Spenser-Strophe deutet darauf hin, dass die Evokation dieses erotischen Paradieses nur eine 17
18
Die Desillusionierung, die Byrons Erotikverständnis prägt, führt dazu, dass weder Gerald Enscoe (Eros and the Romantics: Sexual Love as a Theme in Coleridge, Shelley, Keats [The Hague / Paris: Mouton, 1967]) noch Jean Hagstrum (The Romantic Body. Love and Sexuality in Keats, Wordsworth and Blake [Knoxville: U Tennessee P, 1985]) Byron berücksichtigen. IV, 1046. The Complete Works II, 162ff.
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kurzlebige Phantasie darstellt, die schon bald vom Gift (“venom;” 1069) des Überdrusses zersetzt wird. Das Scheitern der barocken coincidentia oppositorum wird zudem dadurch befördert, dass dem Eros nun die Macht abgesprochen wird, die Seele des Menschen von der Geißel des ennui zu befreien, “[to] root from out the soul the deadly weed which cloys” (1071). Innerhalb nur einer Strophe rekapituliert Byron den Prozess, der im 17. Jahrhundert den komplexen Übergang von der sakralisierten Erotik zum Körper- und Liebesverzicht des angewiderten Dandys beschreibt. Aus der sexuellen mors in vita ist bei Byron wie auch bei den Cavaliers eine von Langeweile, Desillusion und Ekel gekennzeichnete vita in morte, ‘life-in-death,’ ohne eschatologische Konnotation geworden. Auf die poetische Konstruktion des Pardieses folgt somit nicht nur die antithetische Vertreibung, sondern überdies in dem Bild einer Wüste der Wollust die zynische Errichtung einer Gegenwelt. Dass es sich hier nicht mehr um den parodistischen contre-texte zu einem positiven theologisch fundierten Text handelt, zeigt sich vor allem darin, dass der Sprecher von vornherein die Ausgestaltung seines Liebesidylls als “[t]he nympholepsy of some fond despair” (1042) diskreditiert. Wie in Rochesters Rückbezügen auf die Pastorale wird der ursprüngliche Kulturtext als Truggebilde, als “sweet creation of some heart” (1027), entlarvt und zur fiktiven Kontrastfolie eines modernen wasteland erklärt. In Byrons desillusionierendem Garten der Lüste versandet somit nicht nur jede Form der Emotionalität; im schroffen Gegensatz zu der aphrodisierenden Vegetation der alten jardins d’amour erscheint hier – wie später in Gustav von Aschenbachs von phallischen Sumpfpflanzen überwachsener Traumlandschaft – eine negative Flora (“weeds of dark luxuriance, tares of haste;” 1074) von auserlesenen fleurs du mal, die äußerlich verlockend, aber im innersten Kern verfault und krank sind: “Rank at the core, though tempting to the eyes” (1075). Die hier in der Bildlichkeit eines pervertierten Liebesgartens veranschaulichte Auffassung von Liebe und Sexualität geht insofern konform mit den Positionen der Restaurationsdichter, als auch sie in der Darstellung der Frau als verführerischer mors syphilitica mit infernalischem Genital zum ersten Mal die platonische Korrespondenz von ‚schön‘ und ‚gut‘ bzw. ‚wahr‘ außer Kraft setzen. Während romantische Idealisten wie Keats versuchen, das Gesetz der Kalokagathia wieder anzuwenden – “Beauty is Truth, Truth is Beauty”19 –, führen die Spätromantiker die Tradition des libertinistischen Zweifels 19
‘Ode on a Grecian Urn’ Z. 49. Poems, 537.
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fort, indem sie die imaginierten Schönheitskonzepte keiner Urbildwelt, sondern nur der eigenen, morbiden Subjektivität zuordnen: Of its own beauty is the mind diseased, And fevers into false creation: – where, Where are the forms the sculptor’s soul hath seized? In him alone. (1090–93)
Mit dieser Absage an die Existenz eines platonisch definierten texte/contre-texte-Musters wird bei Byron nun eine Apologie des Libertins verknüpft. Jener “fatal spell” (1104), der das Individuum im Wissen um seine bevorstehende Desillusionierung immer wieder zu neuen erotischen Abenteuern antreibt – “and still it draws us on” (Ebd.) –, umschreibt letztlich nichts anderes als die fatalistische Gier des donjuanesken overreacher, sich beim erotischen Mahl ad nauseam zu übersättigen, nur um nach dem Erbrechen mit dem genitalen ‚Fleischverzehr‘ fortzufahren. Des amor divinus bzw. des metaphysischen texte verlustig gegangen vollzieht sich nach Byrons Einschätzung die libertinistische Sexualität weitgehend nach dem Paradigma einer absurden Kreisbewegung:20 Aus der Sicht des zum Tantalus mutierten Don Juan stellt dabei jeder einzelne der unzähligen erotischen Kontakte ein Phantom dar, das – wie die personae von Suckling bis Rochester bereits bestätigen – das Verlangen nicht befriedigt, sondern um so vehementer entfacht: […] unfound the boon – unslaked the thirst, Though to the last, in verge of our decay, Some phantom lures […] (1109–11)
Byrons poetische Abrechnung sowohl mit dem romantischen als auch mit dem gesamten Erotikverständnis der Frühen Neuzeit, die er in seinem letzten großen Versepos, dem Don Juan, mit unverminderter Schärfe fortsetzt, wird schließlich in den Werken Baudelaires, Hardys, Zolas wie auch im 20. Jahrhundert weitergeführt und radikalisiert. Dass die vielfältigen Bilder und Metaphern einer selbst-referentiellen und ausschließlich negativ konnotierten Sexualität in den erotischen wasteland-Szenarien des 17. Jahrhunderts ihren Ausgang nehmen, unterstreicht nachdrücklich, dass die ‚Post-Erotik‘ der Moderne, ihre Diskreditierung des Körpers und seiner Sekrete, eine lange und vielschichtige Tradition haben. Anstrengungen, das Erotische wieder an das Theologische oder Magi-
20
Lennartz, Absurdität vor dem Theater des Absurden, 75ff. Zur Verbindung von Don Juan und Absurdität hat sich bereits Albert Camus geäußert.
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sche anzubinden, wie sie neben den Romantikern die Symbolisten, die Surrealisten oder gar D. H. Lawrence mit seiner Rehabilitierung der Tabuwörter vergeblich unternommen haben, können vor dem Hintergrund der zuvor beschriebenen genitalen Pandämonien nur als temporäre donquijoteske Abenteuer deklariert werden.
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IX. Bibliografie 1. Quellen und Editionen Andrewes, Lancelot, Sermons, ausgewählt und hg. G. M. Story. Oxford: Clarendon P, 1967. Arnold, Matthew, Essays. Religious and Mixed, hg. R. H. Super. Ann Arbor: U of Michigan P, 1972. – English Literature and Irish Politics, hg. R. H. Super. Ann Arbor: U of Michigan P, 1973. Aretino, Pietro, I ragionamenti, hg. Adriano Spatola. Bologna: Sampietro, 1970. Basilikon Doron of King James VI., hg. James Craigie. Edinburgh / London: Blackwood, 1944. Baudelaire, Charles, Œuvres Complètes, hg. Claude Pichois. Paris: Gallimard, 1976. Behn, Aphra, The Works of Aphra Behn, hg. Janet Todd. 7 Bde. London: Pickering, 1992–96. Benn, Gottfried, Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke, hg. Bruno Hillebrand. Frankfurt/M.: Fischer, 1990. Die Bibel, Authorized King James Version, hg. Robert Carroll / Stephen Prickett. Oxford: Oxford UP, 1988. – The Holy Bible. Douay Version. Übersetzung der Vulgata, mit einem Vorwort v. Cardinal Bishop of Westminster. London: Catholic Truth Society, 1960. Bataille, Georges, Histoire de l’œil. Aus dem Franz. übertragen v. Marion Luckow, Das obszöne Werk. Die Geschichte des Auges. Reinbek: Rowohlt, 1999. Blake, William, The Complete Poetical Works, hg. W. H. Stevenson. London / New York: Longman, 1989. Boccaccio, Giovanni di, Decameron, hg. Vittore Branca. Milano: Monadori, 1998 [1985]. Brecht, Bertolt, Werke. Schriften 3, hg. Werner Hecht / Jan Knopf et al. Berlin / Weimar / Frankfurt/M.: Aufbau, 1993. Brontë, Charlotte, Villette, hg. Margaret Smith / Herbert Rosengarten. Oxford: Oxford UP, 2000. Browne, Thomas Sir, Religio Medici and Other Works, hg. L. C. Martin. Oxford: Clarendon P, 1964. Byron, Lord [i.e. George Gordon], The Complete Poetical Works, hg. Jerome J. McGann. 7 Bde. Oxford: Clarendon P, 1986–93. Camus, Albert, Le mythe de Sisyphe. Essai sur l’absurde. Paris: Gallimard, 1985 [1942]. Carew, Thomas, The Poems of Thomas Carew, hg. Rhodes Dunlap. Oxford: Clarendon P, 1949. Cleland, John, Memoirs of a Woman of Pleasure, hg. Peter Sabor. Oxford / New York: Oxford UP, 1985.
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X. Index
Aachen, Hans von 249, 250 Acton, William 41, 263 Alciati, Andrea 157 Alewyn, Richard 21 Alighieri, Dante 33, 52, 274, 281, 288 Allen, Valerie 276 Andrewes, Lancelot 89n Anz, Thomas 25, 148 Aretino, Pietro 6, 32, 33, 230, 273, 319 Sonetti lussuriosi 6 Ragionamenti 27, 64, 249, 301 Ariès, Phillipe 129 Arnold, Matthew 7, 109, 175n Augustinus 256, 293 Aurevilly, Barbey d’ 221 Austen, Jane 265 Ayloffe, John 306 Bachtin, Michail M. 109, 247, 310n Barocci, Frederico 182 Bataille, Georges 118 Baudelaire, Charles 30, 31, 42, 106, 107, 175n, 194, 216n, 219, 220, 221, 225, 241, 245, 263n, 291, 317, 320, 340, 342, 347 Bauer, Matthias 101n, 148 Baugh, A[lbert] C[roll] 14 Beardsley, Aubrey 12, 79, 271 Beaumont, Francis 20, 334n Bec, Pierre 4 Becker, Astrid 249 Beckett, Samuel 213n Beddoes, Thomas Lovell 11 Behn, Aphra 9, 21, 53, 59n, 310n, 312, 323, 324, 335, 340 ‘On a Juniper Tree’ 101n ‘The Disappointment’ 321 ‘The Golden Age’ 202, 304, 315 The Rover II 248, 264 Belting, Hans 89 Benn, Gottfried 291 Benson, John 245 Bergeron, David M. 43
Berni, Francesco 230 Bernini, Gianlorenzo 23, 75, 143 Beata Lodovica Albertoni 143 Estasi di Santa Teresa 144, 145, 146, 148 Besser, Johann von 92n, 284, 289 Blake, William 186, 330, 344 Blincoe, Noel 205 Boccaccio, Giovanni 27, 273, 274 Bosch, Hieronymus 270, 274, 288 Botticelli, Sandro 57n, 159 Bouguereau, William 160n Bowdler, Thomas 24 Breughel, Jan d.J. 200n Breughel, Pieter d.Ä. 116n Bronzino, Agnolo 161 Brown, Dan 124 Browne, Thomas Sir 67n, 165 Browning, Robert 11 Bronzino, Agnolo 161 Buchanan, Robert 177 Burne-Jones, Edward 79 Bynum, Caroline Walker 88–93, 95, 250, 337 Byron, Lord [George Gordon] 123n, 138, 210, 222, 223, 237, 318, 326, 328 Childe Harold’s Pilgrimage 168, 240, 331, 344–347 Don Juan 264n, 296n, 316, 320, 331n Camille, Michael 45 Camus, Albert 347n Cano, Alonso 90 Caracci, Annibale 83 Caravaggio [Michelangelo Merisi] 65, 84n, 86, 112, 234 Conversione di San Paolo 68, 69 Carew, Thomas 2, 8, 10, 20, 21, 31, 52, 65, 141, 192, 194, 199, 208, 211, 212, 219, 221, 222n, 229, 258, 312, 320, 335 ‘A Rapture’ 195, 201–207, 216, 239, 258n, 285, 334, 340
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‘Boldnesse in Love’ 201 ‘Good Counsel to a Young Maid’ 259 ‘To A.L. Persuwasions to Love’ 195 ‘To my friend G.N. from Wrest’ 250–252 ‘To my Mistris sitting by a Rivers Side. An Eddy’ 220 ‘To my worthy friend Geo. Sand[y]s on his translation of the Psalmes’ 194–198 ‘Elegie upon the death of the Dean of Pauls, Dr. John Donne’ 65–67, 110, 220 Psalm-Adaptionen 198, 340 Castorf, Frank 333 Catull [Gaius Valerius Catullus] 103 Chapman, George 8 Chaucer, Geoffrey 243, 248 Chrétien de Troyes 298 Cibber, Colley 261 Cixous, Hélène 53, 87n Cleander [Salomo Franck] 283, 284n Cleland, John 10, 99, 109n, 185n, 219, 224, 226, 286 Memoirs of a Woman of Pleasure 239, 244, 260, 261, 266, 267, 292n, 294n, 301n, 304 Clément, Cathérine 53 Coleridge, Samuel Taylor 11, 328 Conrad, Joseph 85 Corbin, Alain 39n, 190 Cornaro, Alvise 116n Correggio, Antonio Allegri 62, 159 Cotton, Charles 165n Courbet, Gustave 208 Cowley, Abraham 105n, 192, 196, 198, 221, 225, 245, 246, 261, 334, 340 The Mistress 232–243, 257, 340 ‘Against Fruition’ 240–243, 289 ‘Maidenhead’ 279–280 ‘The Change’ 240, 278–279 ‘The Request’ 233–237 ‘The Thraldome’ 237–240 Cranach, Lucas 89, 233 Crashaw, Richard 10, 17, 18, 20, 21, 22, 23, 24, 31, 36, 65, 66n, 75, 86, 87, 91n, 93, 105n, 107, 109, 143, 152, 153, 164, 165, 167, 170, 173, 177, 186, 187, 190, 205, 210, 233, 236, 238, 313, 314, 331, 334, 338, 345 ‘A Hymne of the Nativity, sung by the Shepherds’ 95n, 163, 164 ‘A Song of divine Love’ 151 ‘Blessed be the Paps …’ 94–96
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‘Himn for the Circumcision day …’ 183–184 ‘In cicatrices Domini Jesu’ 156–159 ‘Ode to a Prayerbook’ 83 ‘On Our Crucified Lord Naked …’ 87 ‘On the Bleeding Wounds of Our Crucified Lord’ 87, 106 ‘On the Martyrdom of St Teresa’ 135–141, 144 ‘On the Wounds of Our Crucified Lord’ 106, 108n, 110 ‘Quaerit Jesum suum Maria’ 160–163 ‘Santa Maria Dolorum’ 98–104, 148n ‘The Himn, O Gloriosa Domina’ 95n ‘The Flaming Heart’ 32, 85, 87, 146–152 ‘The Teare’ 110, 121 ‘The Weeper’ 18, 75n, 87, 94, 99, 109, 110–126, 127, 131, 187n, 339 ‘Letter to the Countesse of Denbigh’ 32, 137n Crashaw, William 96 Crébillon fils, Claude Prosper Joylot 10 Crooke, Helkiah 66n, 88n, 99, 185n, 338 Dali, Salvador 259n Davenant, William 46 Dekker, Thomas 52 Despentes, Virginie 334 Dijkstra, Bram 276 Dollimore, Jonathan 85 Donatello, Donato di Niccolo 111 Donne, John 3, 7, 8, 10, 13, 17, 18, 21, 22, 23, 24, 49, 66, 67, 68, 74, 110, 127, 134, 141, 193, 198, 199, 205, 228, 261, 267, 308, 311, 315, 324n, 334, 337, 339, 345 ‘Aire and Angels’ 206n Holy Sonnets XIV 62, 68–72, 75, 76, 77, 78, 79, 82, 103, 137, 150, 336 ‘A Hymne to Christ, at the Authors last going into Germany’ 82–86 ‘A Valediction: Forbidding Mourning’ 217, 326 ‘Loves Alchymie’ 223n ‘Loves Progress’ 50n ‘The Canonization’ 101 ‘The Extasie’ 34, 58, 99, 106, 267n, 318, 319 ‘The First Anniversary. An Anatomy of the World’ 152n ‘The Second Anniversary’ 56 ‘Elegie XIX To his Mistriss: Going to Bed’ 36, 55, 203, 204, 215, 227, 241n
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‘Twickenham Garden’ 213n Predigten 127 Dowland, John 114 Dowson, Ernest 79, 327 Drayton, Michael 53, 336 Drost, Wolfgang 17, 183n Dryden, John 7, 8, 9, 16n, 309 Duerr, Hans-Peter 38–42, 84n, 88, 90, 285n, 300 Dülmen, Richard van 41 Dürer, Albrecht 89 Duncan, Joseph E. 11 El Greco [Domenikos Theotocopoulos] 22, 86, 112, 114, 115 Eliade, Mircea 37, 102n Elias, Norbert 38–42, 88 Eliot, George 144 Eliot, T[homas] S[tearns] 7, 8, 11, 18, 105, 171n, 243 The Waste Land 72, 79, 80, 122n, 136n, 188, 298 Ellis, Havelock 29n, 74 Empson, William 95, 96 Erasmus von Rotterdam 38, 249, 341 Ernst, Max 181 Esch, Arno 21, 22 Etherege, George 9, 23, 28, 233, 310n, 322n, 323, 324, 340 Feinendegen, Hildegard 75, 154 Fetti, Domenico 92n Ficino, Marsilio 156 Fischer, Carolin 4 Flaubert, Gustave 244n, 338 Fletcher, Giles d.J. 81n Fletcher, John 334n Florio, John 152n Fontane, Theodor 217n Foucault, Michel 1, 5, 41, 71n, 194, 327 Fouquet, Jean 170 Frazer, James 155 Freud, Sigmund 38, 127n, 315 Freytag, Gustav 24 Fried, Erich 54 Friedell, Egon 36 Friedrich, Werner P. 19 Fuchs, Eduard 25 Furini, Francesco 12 Gassenmeier, Michael 6, 211, 214 Gaulli, Giovanni Battista 143, 168 Gautier, Théophile 79
Gérôme, Jean-Léon 51 Gibbon, Edward 180n Gibson, Cheryl M. 211, 229 Gilbert, Sandra 53 Giorgione [Giorgio Barbarelli] 310 Gissing, George 269 Gnüg, Hiltrud 29, 219, 245n, 267, 339 Godwin, William 77 Goethe, Johann Wolfgang von 13, 24, 27n, 28, 46, 47, 178, 179, 193, 270n, 276n, 297, 310n, 312n, 330, 331 ‚Das Tagebuch‘ 1 78n, 321n, 325–329, 344 Goetsch, Paul 270, 302 Gogol, Nikolai Wassiljewitsch 47 Golding, Arthur 51n Góngora, Luis de 17 Greenblatt, Stephen 44, 142, 144n Greiffenberg, Catharina Regina von 86 Greuze, Jean Baptiste 324 Grien, Hans Baldung 89, 130 Grierson, Herbert J.C. 11, 105 Grosart, Alexander 11 Gruber, Franz Xaver 93n Grünewald, Matthias 107 Gryphius, Andreas 17 Gubar, Susan 53 Günther, Frank 217n Guthke, Karl Siegfried 129, 135 Haarlem, Cornelis van 336 Haas, Volkert 37, 155 Habington, William 161 Hagstrum, Jean 324, 325n Halberstam, Judith Marion 138 Hammond, Paul 245 Hanson, Ellis 154 Harbison, Robert 16 Hardy, Thomas 25, 154, 328, 347 Far from the Madding Crowd 236n Jude the Obscure 47n, 180n, 193n, 200n, 269, 294 Tess of the d’Urbervilles 142n Harvey, Gabriel 27 Haug, Walter 5, 6, 38 Hawkins, Henry 99 Heine, Heinrich 174, 175, 311n, 339 Helmont, Franciscus van 122n Herbert, George 11, 18, 20, 76, 103, 105, 116, 119, 123, 163, 191 ‘Man’ 109 ‘Mortification’ 142 ‘Praise III’ 187n
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‘Prayer II’ 191n ‘The Holy Communion’ 122n ‘The Rose’ 122n ‘The Search’ 191n Herchert, Gaby 38 Herder, Johann Gottfried 94, 238n Herrick, Robert 10, 20, 161, 186, 189, 191, 194, 250, 312, 338 ‘Circumcisions Song’ 189–190 ‘The Vine’ 10, 103, 121 ‘To Christ’ 190–191 Hettche, Thomas 333 Heywood, Thomas 238n Hocke, Gustave René 17, 183n, 335 Hölmann, Christian 284n Hoffmannswaldau, Christian Hoffmann zu 22, 67, 206n, 231, 283, 285n, 324n ‚An Lauretten‘ 33, 283 Hogarth, William 16 Hood, Thomas 11 Horaz 29n, 252 Horlacher, Stefan 6 Houellebecq, Michel 193, 264, 334, 340 Huber, Wolf 89 Hübscher, Arthur 8, 19 Hunt, Lynn 310 Hunt, William Holman 160n Huysmans, Joris Karl 13n, 176, 225, 244, 260, 303 Iehl, Dominique 271, 272 Ingenhoff-Danhäuser, Monika 112 Irigaray, Luce 28 Jarry, Alfred 295, 296, 297, 305n, 343 Jellinek, Elfriede 193 Johnson, James William 304 Johnson, Lionel 11, 72 ‘Visions’ 77–79 Johnson, Samuel 16, 18, 94, 233 Jones, Inigio 14, 15, 18 Jonson, Ben 2n, 3, 9, 13, 15, 50n, 99, 103, 125, 193, 220, 247, 338, 339 Jowett, Benjamin 172 Joyce, James 39, 120n, 340 Kafka, Franz 270, 340n Kant, Immanuel 32 Kantorowicz, Ernst 306 Keats, John 168, 226n, 228, 330, 346n Killigrew, Anne 336n Kleist, Heinrich von 25 Knight, William Payne 38n
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Kohl, Stephan 21 Krafft-Ebing, Richard von 330 Krinitz, Elise 175 Kristeva, Julia 81n Kubin, Alfred 231 Kümmel, Peter 333 La Mettrie, Julien Offray de 32 Lanyer, Aemilia 21, 53, 98, 99n, 186 Laqueur, Thomas 88n, 204, 314n, 335 Laud, William 96, 99 Lautréamont, Comte de 50, 105, 272 Lavater, Johann Kasper 178 Lawes, Henry 189, 194n, 195 Lawrence, D[avid] H[erbert] 29, 322, 348 Leggatt, Alexander 50 Leimberg, Inge 22, 116, 117, 118, 119n, 187n Lely, Peter 309 Le Pansif 283 Lessenich, Rolf P. 21–22, 126n Lessing, Gotthold Ephraim 93, 238 Le Sueur, Eustache 61 L’Enlèvement de Ganymède 63 Leupin, Alexandre 90 Lewis, Matthew G. 77n, 331n Lochner, Stefan 200n, 270 Lodge, David 50, 51n, 151 Lotman, Juri Michalowitsch 21 Lovelace, Richard 8, 23, 194, 195, 198, 221, 340 ‘Lucasta, taking the waters at Tunbridge’ 265n ‘Love Made in the First Age’ 223n, 285, 311–314 ‘The Triumphs of Philamore and Amoret’ 315 ‘To Amarantha, That she would dishevell her haire’ 118n Low, Anthony 85 Luini, Bernardino 112 Maier, Michael 50n Mandeville, Bernard de 70 Manet, Edouard 276 Mann, Thomas 74, 85 Der Tod in Venedig 37, 43, 62, 74n, 169, 213, 238, 346 Manning, Gillian 261 Mantegna, Andrea 90n Manuel, Niklaus (gen. Deutsch) 129n, 130 Marcus, Steven 194, 199
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Marcuse, Ludwig 29, 211 Marino, Giambattista 17, 22 Markham, Gervase 124, 125 Marlowe, Christopher 61, 281, 308 Dido, Queen of Catharge 61n Doctor Faustus 274 Edward II 44, 59, 300 Marot, Clément 285 Marston, John 237n, 334n Martz, Louis 21, 22, 103n Marvell, Andrew 14n, 21, 105n, 203, 261, 306 ‘The Garden’ 208 ‘The Mower against Gardens’ 207n, 249n ‘To his Coy Mistress’ 224n, 235 Massinger, Philip 187n, 221n Maus, Katherine Eisaman 52n, 59 Meier, Franz 129, 132 Menninghaus, Wilfried 94n, 109n, 190n Meredith, George 267–269, 328 Meun, Jean de 4 Roman de la Rose 4, 45, 199, 210, 248 Michelangelo Buonarrotti 46, 62, 90 Middleton, Thomas 20, 99n, 334n Milton, John 7, 8, 14, 57, 93n, 153, 186, 324 ‘On the Morning of Christs Nativity’ 164–170, 171, 172 Mintz, Susannah B. 96 Mirbeau, Octave 213 Molina, Tirso de 6, 9, 220, 341 Monckton-Milnes, Richard 172 Montaigne, Michel de 152n Moravia, Alberto 271, 343 Moreau, Gustave 12 Morus, Thomas 14 Mossa, Gustav Adolf 128 Moulton, Ian Frederick 27 Mozart, Wolfgang Amadeus 324 Müller, Wolfgang G. 142, 144n Munch, Edvard 268 Munday, Alexander 273 Murillo, Bartolomé Esteban 159, 160 Musset, Alfred de 79, 104, 105, 171, 172 Nabokov, Vladimir 344n Nashe, Thomas 25, 28 Christs Teares over Jerusalem 107 ‘The Choise of Valentines’ 25–27, 28 Nibbrig, Christiaan L. Hart 129 Nietzsche, Friedrich 93n, 107, 328n Nordau, Max 177
Novalis [Friedrich von Hardenberg] 88, 126, 328, 331 Geistliche Lieder 152 Hymnen an die Nacht 152–154 Nussbaum, Felicity 194, 204n Oppenheim, Meret 259 Orr, Bridget 194 Overbeck, Friedrich 160n Ovid [Publius Ovidius Naso] 111, 124, 131, 134, 140, 163, 200, 236, 243, 316, 324 Pankratz, Anette 306, 343 Panofsky, Erwin 16, 35 Parmigianino [Francesco Mazzola] 92n, 146, 159–160, 170, 182 Pascal, Blaise 191 Pater, Walter 14, 154, 173, 180n Patmore, Coventry 47, 75 Paul, Jean [Johann Paul F. Richter] 32 Pease, Allison 29 Pepys, Samuel 39, 194, 285n, 308, 335 Perugino [Pietro Vannucci] 159 Petrarca, Francesco 125 Petronius 324 Pfister, Manfred 14, 15 Platon 55, 110 Pointner, Frank Erik 254n, 281n Pope, Alexander 22, 196n, 286 Pound, Ezra 179 Poussin, Nicolas 155, 310, 317 Le Christ pleuré 155, 157 Pozzo, Andrea 168 Praz, Mario 16, 96, 143 Preimesberger, Rudolf 143 Properz [Sextus Propertius] 164 Puttenham, George 60 Quarles, Francis 156 Quevedo, Francisco de 17, 47 Rabelais, François 24, 27n, 32, 35n, 36, 47, 99, 110, 246, 247, 262, 272, 277, 296n, 338, 343 Racine, Jean 8 Raimondi, Marcantonio 297 Rambuss, Richard 71, 87, 93n, 95, 166n Ravenhill, Mark 333 Ray, Man 123n Rembrandt Harmensz van Rijn 61 Revard, Stella P. 153 Ribalta, Francisco 22, 86, 96, 97, 98
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Ribera, José 54 Richardson, Samuel 77n, 116 Rimbaud, Arthur 232 Ripa, Cesare 67 Robert, Michèle 94 Roche, Charlotte 333, 334, 340 Rops, Félicien 12, 13n, 128, 130n, 142, 271, 272, 297, 298, 307, 323 Tout est grand chez les rois 299 Rossetti, Dante Gabriel 11, 141, 144, 177n Ecce Ancilla Domini 146, 147 The Girlhood of Virgin Mary 146n Roth, Philip 270 Rous, Francis 86, 186 Rowlandson, Thomas 10, 286 Rubens, Peter Paul 22, 23, 62, 90, 92n, 118n, 127, 138n, 146, 149n, 159, 182, 200, 249, 250, 253 Ruskin, John 17, 112 Rymer, Thomas 35n Sabine, Maureen 118 Sacher-Masoch, Leopold von 180 Sacks, Elizabeth 52 Sade, Marquis de [Donatien Alphonse] 30, 31, 39, 53n, 172, 180, 266, 318 Sandys, George 194, 195, 197, 198 Saslow, James M. 61 Sawday, Jonathan 208 Schabert, Ina 53, 336 Schiller, Friedrich von 46, 47, 297 Schimmel, Annemarie 71, 134n Schirmer, Walter F. 19–20, 21, 22, 24 Schlegel, August Wilhelm von 54, 217n Schnitzler, Arthur 25 Schnorr von Carolsfeld, Julius 160n Schoenfeldt, Michael 116, 122n Schruff, Renate 298, 306 Schuenke, Christa 281n Sedley, Charles 198n, 324 Seeber, Hans Ulrich 14 Seznec, Paul 156 Shadwell, Thomas 260, 264, 274, 304 Shakespeare, William 3, 4, 6, 7, 9, 13, 16, 20, 21, 23, 24, 135n, 49, 83, 110, 148, 169, 193, 210, 230, 255, 256, 274, 277, 281, 282, 286, 298, 305, 308, 343 All’s Well that Ends Well 117n As You Like It 283, 342 Hamlet 49, 54n, 57n, 114n, 143, 217, 223n, 296 Julius Caesar 296
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King Henry V 51n 2 King Henry VI 312n King Lear 217, 277–278, 282, 296, 342 Macbeth 46, 49, 232n, 253–254, 257n, 296, 298n, 307 Midsummer Night’s Dream 270 Much Ado about Nothing 227 Othello 54n, 57n, 114n, 120n, 137, 176n, 214n, 238n, 261, 282, 297n, 342 Pericles 85n Romeo and Juliet 24, 83, 114n, 132, 133, 137, 140, 201, 224, 238, 239n, 261, 280, 286–287, 297n, 315n, 341 The Merchant of Venice 252n The Taming of the Shrew 58n, 59n The Two Noble Kinsmen 51n The Rape of Lucrece 25, 70n, 110n, 134, 201n, 308n The Sonnets 83, 99n, 125, 173, 196, 202, 209, 227, 230, 231, 232, 245, 254–255, 281, 278, 287 Titus Andronicus 72 Troilus and Cressida 59, 187, 291n, 333, 339 Twelfth Night 168 Venus and Adonis 120, 130–132, 135, 137, 155, 161, 176, 201, 207, 283n, 313, 316 Shelley, Mary 331n Shelley, Percy Bysshe 155, 328 Shuger, Deborah Kuller 107n, 111, 127 Sidney, Mary Countess of Pembroke 198 Sidney, Philip Sir 15, 54, 60, 280n Skrine, Peter F. 20 Smollett, Tobias 46, 265, 301n Snyders, Frans 255 Sodoma [Giovanni Antonio Bazzi] 62 Solomon, Simeon 79 Southey, Robert 331 Southwell, Robert Sir 23, 31, 90n, 125, 136, 190, 191, 334, 338 ‘His circumcision’ 184–189 Spenser, Edmund 20, 60, 62, 120n, 132n, 205, 283, 316n Spranger, Bartholomäus 249 Sprat, Thomas 198n Stafford, Anthony 99 Stamm, Rudolf 17 Steele, Richard 261 Steinberg, Leo 88–93, 159, 182, 337 Stemmler, Theo 6 Sterne, Laurence 47
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Stevens, Wallace 120n Stierle, Karlheinz 215 Stoker, Bram 138 Strindberg, August 328 Strozzi, Bernardo 83, 84n, 86 Stuck, Franz von 178 Suckling, John Sir 8, 23, 28, 30, 31, 67, 192, 194, 195, 196, 214, 219, 221, 233, 240, 245, 246, 270, 287, 289, 292, 340, 342, 347 ‘Against Fruition’ 225–228, 232, 256 ‘Against Fruition [II]’ 228–230 ‘Farewell to Love’ 222–225 ‘His Dream’ 315n ‘Loves Feast’ 256–259, 341 ‘Loves Offence’ 256 ‘Loves Sanctuary’ 234n ‘The Deformed Mistress’ 230–232 ‘The Wits (A Sessions of the Poets)’ 65 ‘Upon my Lady Carlisles Walking in Hampton-Court Garden’ 208–211, 232 ‘Upon TC having the P’ 225 Swift, Jonathan 36, 194, 215, 225, 288, 289 Swinburne, Algernon Charles 11, 105, 108, 153, 154, 172, 180, 213, 269 ‘Before a Crucifix’ 105–107, 109 ‘Dolores’ 172–179 ‘Hymn to Proserpine’ 109, 172, 179 Tertullian 187, 277 Thomson B.V., James 269 Thompson, Francis 11, 72, 74, 105 ‘The Hound of Heaven’ 74–77, 78, 79, 127n Thormählen, Marianne 261, 324 Thorncome, A. 245 Tibull [Albius Tibullus] 164, 327 Tierry, Wilhelm von 91 Tilley, Maurice Palmer 286 Tintoretto [Jacopo Robusti] 73n, 118n Tizian [Tiziano Veccelio] 73n, 90n, 111, 112, 113, 197, 200n Todi, Jacopo da 98 Traherne, Thomas 62, 72–74, 336 Turner, William 213n Uytewael, Joachim 255 Vaenius, Otto [Otto van Veen] 156, 272n Vaget, Rudolf 329 Vergil [Publius Vergilius Maro] 124, 163, 171
Villon, François 27 Vinci, Leonardo da 277, 278 Voltaire [François-Marie Arouet] 16, 35n Voraigne, Jacobus de 111 Vos, Cornelis de 251n Vouet, Simon 92n, 112 Wagner, Richard 12 Waller, Edmund 212, 213, 306n Walpole, Horace 77n Walzel, Oskar 16 Warnke, Frank J. 18 Warren, Austin 16 Warwick, Claire 164 Watteau, Antoine 199n, 317 Webster, John 20 Weininger, Otto 275, 295 Weiß, Wolfgang 7 Wellek, René 16–19 Wellershoff, Dieter 193 Wells, H[erbert] G[eorge] 243 Wesselman, Tom 208 Weston, Jessie L. 188 Wheeler, Michael 269 Whitney, Geoffrey 135 Wierix, Hieronymus 104n Wilcoxon, Reba 324 Wilde, Oscar 3, 12, 74, 125, 128, 155, 180 ‘Charmides’ 176 ‘Santa Decca’ 177 The Picture of Dorian Gray 3, 74n, 128n, 227, 242, 245, 269 The Portrait of Mr W.H. 3 Wilke, John 108, 286 Williams, Gordon 238, 247 Williams, Tennessee 64–65 Wilmot, John Earl of Rochester 6, 9, 13, 23, 28, 30, 31, 194, 199, 219, 222n, 233, 240, 243, 244, 261, 270, 271, 272, 288, 310n, 321, 325, 326, 327, 328, 329, 330, 334, 340, 342, 343, 346, 347 ‘Artemizia to Chloe’ 261–262 ‘A Ramble in St. James’s Park’ 210, 211–218, 262–263, 264, 266n, 310, 318 “By all love’s soft yet mighty powers” 288–290 “Fair Cloris in a pigsty lay” 132n, 315–317 “In the Isle of Brittain …” 305–309 ‘Love to a Woman’ 239 ‘Of Marriage’ 328n ‘On Mistriss Willis’ 287–288
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‘Seigneur Dildoe’ 26, 263n, 264, 301 ‘The Imperfect Enjoyment’ 278n, 318–320, 322–324, 325, 342, 344 ‘Satyr against Mankind’ 292n, 325n Sodom 31, 215, 237n, 290–305, 309n, 343 ‘Tunbridge Wells’ 265 ‘Verses on Rochester’ 244–246, 264 Winckelmann, Johann Joachim 93, 94n, 338 Winters, Yvor 83
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Wither, George 20 Wittkower, Rudolf 143, 144 Wölfflin, Heinrich 16 Woolf, Virginia 46n Wordsworth, William 328, 329, 345 Wren, Christopher Sir 15, 18 Wycherley, William 216, 222n, 227, 233, 258, 324 Zick, Januarius 93n Zola, Emile 347