"Mnemotechnik des Schönen": Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus 9783110944129, 9783484181007


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German Pages 304 [308] Year 1988

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Table of contents :
EINLEITUNG
KAPITEL I. »Signe mémoratif« und Erinnerungsort: Rousseau: Confessions — Moritz: Anton Reiser
I.1 Rousseau: Confessions
I.2 Moritz: Anton Reiser
I.3 »Mémoire involontaire« im 18. Jahrhundert
KAPITEL II. Die erweiterte Ichheit — Kindheitserinnerung und universelles Wiederfinden in der Frühromantik
II.1 Ursprungsgedächtnis: Moritz
II.2 Ursprungsgedächtnis: Tieck
II.3 Transzendentale Erinnerung: Novalis
II.4 Zwei Begriffsskizzen im Anschluß an Novalis
a) Erinnerung und Imagination – Zum Begriff des »Erinnerungsbildes«
b) Kindheitserinnerung — rückwärts — vorwärts
KAPITEL III. »L’art est une mnémotechnie du beau« — Erinnerungskunst bei Baudelaire und ihre Interpretation durch Walter Benjamin
III.1 Der Begriff der Mnemotechnik in Baudelaires Kunstkritik
III.2 Das reflektorische Gedächtnis – Walter Benjamins Baudelaire-Interpretation
III.3 Le Cygne
III.4 Moderne Zeiterfahrung und verdinglichte Erinnerung
KAPITEL IV. Eine Mischung von Tod und Leben — Gedächtnispoetik und Erinnerungspoesie im Frühwerk Hofmannsthals
IV.1 Erinnerung und Kontinuitätsbewußtsein
IV.2 »Magisches« Selbs–- und Weltgefühl: Terzinen III
IV.3 »Wovon man spricht, das hat man nicht«
IV.3.1 Verlust und Wiederfinden des höchsten Gefühls
IV.3.2 Der Einschnitt der Reflexion: »Vorfrühling«
IV.3.3 Produzierte Erhobenheit — die »Sackgasse des Ästhetizismus«
IV.3.4 Die Notation des Nichts — symbolistische Technik der Absichtslosigkeit
IV.3.5 Entgegengesetzte Directionen: »Gestern«
IV.3.5.1 Wechsel der »Launen« und Sprachwirbel
IV.4 Terzinen: Über Vergänglichkeit
KAPITEL V. »Ein Leben, das sich versammelte, da es verging« — Zum Raum der Erinnerung in Rilkes Pariser Zeit
V.1 Zum Untersuchungszeitraum
V.2 Gedächtnis des Auges und Hand–Gedächtnis — Rilkes Rodinaufsätze
V.3 Présence absente
V.3.1 Der Raum der Negationen — Die Neuen Gedichte
V.3.2 Erwachen des Gedächtnisses in Augenblicken der Gefahr — Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge
V.4 Ausblick aufs Spätwerk
KAPITEL VI. Lebensrückblick im modernen Gedicht — Eine Lektüre von Giuseppe Ungarettis I Fiumi
SCHLUSS
BIBLIOGRAPHIE

"Mnemotechnik des Schönen": Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus
 9783110944129, 9783484181007

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 100

Manfred Koch

»Mnemotechnik des Schönen« Studien zur poetischen Erinnerung in Romantik und Symbolismus

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988

Für Paul Hoffmann

Gedruckt mit Unterstützung der Geschwister Boehringer Stiftung Ingelheim für Geisteswissenschaften.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Koch, Manfred: Mnemotechnik des Schönen : Studien zur poet. Erinnerung in Romantik u. Symbolismus / Manfred Koch. — Tübingen : Niemeyer, 1988 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 100) NE: GT I S B N 3-484-18100-1

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag Tübingen 1988 Alle Rechte vorbehalten. Ohne Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus photomechanisch zu vervielfältigen. Printed in Germany. Satz: Computer Staiger GmbH, Ammerbuch-Pfäffingen Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinrich Koch, Tübingen

Inhalt

EINLEITUNG

1

KAPITEL I

»Signe mémoratif« und Erinnerungsort: Rousseau: Confessions — Moritz: Anton Reiser 1.1 1.2 1.3

Rousseau: Confessions Moritz: Anton Reiser »Mémoire involontaire« im 18. Jahrhundert

29 44 53

KAPITEL I I

Die erweiterte Ichheit — Kindheitserinnerung und universelles Wiederfinden in der Frühromantik II. 1 11.2 11.3 11.4

Ursprungsgedächtnis: Moritz Ursprungsgedächtnis: Tieck Transzendentale Erinnerung: Novalis Zwei Begriffsskizzen im Anschluß an Novalis

55 59 66 93

a) Erinnerung und Imagination — Zum Begriff des »Erinnerungsbildes« b) Kindheitserinnerung — rückwärts — vorwärts

93 99

KAPITEL I I I

»L'art est une mnémotechnie du beau« — Erinnerungskunst bei Baudelaire und ihre Interpretation durch Walter Benjamin III. 1 Der Begriff der Mnemotechnik in Baudelaires Kunstkritik . . III.2 Das reflektorische Gedächtnis — Walter Benjamins Baudelaire-Interpretation

103 111

Exkurs: »Mnemotechnik« (Nietzsche); habituelles Gedächtnis (Bergson)

120

III. 3 Le Cygne III.4 Moderne Zeiterfahrung und verdinglichte Erinnerung . . . .

134 141

V

KAPITEL I V

Eine Mischung von Tod und Leben — Gedächtnispoetik und Erinnerungspoesie im Frühwerk Hofmannsthals IV. 1 IV.2 IV. 3 IV.3.1 IV.3.2 IV.3.3

Erinnerung und Kontinuitätsbewußtsein »Magisches« Selbst- und Weltgefühl: Terzinen III . . . . »Wovon man spricht, das hat man nicht« Verlust und Wiederfinden des höchsten Gefühls Der Einschnitt der Reflexion: »Vorfrühling« Produzierte Erhobenheit — die »Sackgasse des Asthetizismus« IV. 3.4 Die Notation des Nichts — symbolistische Technik der Absichtslosigkeit IV.3.5 Entgegengesetzte Directionen: »Gestern« IV.3.5.1 Wechsel der »Launen« und Sprachwirbel IV.4 Terzinen: Über Vergänglichkeit

KAPITEL

151 159 166 166 172 177 178 182 190 195

V

»Ein Leben, das sich versammelte, da es verging« — Zum Raum der Erinnerung in Rilkes Pariser Zeit V. 1 V.2 V.3 V.3.1 V.3.2

V.4

Zum Untersuchungszeitraum Gedächtnis des Auges und Hand-Gedächtnis — Rilkes Rodinaufsätze Présence absente Der Raum der Negationen — Die Neuen Gedichte . . . . Erwachen des Gedächtnisses in Augenblicken der Gefahr — Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge Ausblick aufs Spätwerk

202 206 221 221

238 249

KAPITEL V I

Lebensrückblick im modernen Gedicht — Eine Lektüre von Giuseppe Ungarettis I Fiumi

254

SCHLUSS

277

BIBLIOGRAPHIE

289

VI

»Ihr gutes Gedächtnis arbeitete auch sonst nicht gern seine Erinnerungen zu Begriffen um, sondern bewahrte sie sinnlich einzeln auf, wie man sich Gedichte merkt; weshalb eine schwer beschreibliche Mitbeteiligung des Körpers und der Seele an ihren Worten war, wenn sie selbst noch so unauffällig sprach.« (Musil, Der Mann ohne Eigenschaften)

Einleitung Ich

muß

mein

Gedächtnis

verlieren!

Gegen

Proust und Benjamin und das behütete bürgerliche Bewußtsein mit seiner Erinnerungslust und seinem Erinnerungsselbstbewußtsein.

( . . . ) Das

Gedächtnis bedroht mich mit dem T o d ! (Peter Handke, Das Gewicht der Welt)

I »Mnemosyne« (>ErinnerungMusik< des Wörterbuchs der Musik ist ein Schweizer Musikstück, von dem bekannt war, daß es Schweizer Söldnern in ausländischen Truppen auf keinen Fall vorgespielt werden durfte, weil sie — kaum daß die ersten Töne an ihr Ohr gedrungen waren — derart von Schmerz und Rührung überwältigt wurden, daß sie fürderhin zum Kriegsdienst nicht mehr taugten. Diese Air, die Rousseau im »Planche N« des Wörterbuchs abgedruckt hat, sei an sich selbst keineswegs aufregend gewesen, habe auf Nicht-Schweizer keinen Eindruck gemacht und auf die Schweizer auch nur solange, als sie sich eine gewisse »Einfachheit« bewahrt hätten. Dann aber sei dieser Effekt so überwältigend eingetreten, weil das Musikstück ihnen »Erinnerungen« und »tausend kleine Umstände« wieder vor Augen geführt hätte und sie an ihr Land, ihre vergangenen Freuden, ihre Jugend und alle ihre Lebensverhältnisse mit einem bitteren Schmerz über deren Verlust habe zurückdenken lassen (443/444 oben). »La Musique alors n'agit point précisément comme Musique, mais comme signe mémoratif.« Rousseau, Dictionnaire de Musique. Genève 1782. Art. >MusiqueTrend< zum Geruchssinn, den Kant mit dem Geschmack zusammen zu den mehr »subjektiven« gegenüber »Betastung«, Zit. nach Starobinski, S. 182 (La transparence). " »Wenn die Pflanzensammlung, die er sich zugelegt, für ihn in erster Linie eine >Gedächtnisstütze< ist, so nur, weil er sich von ihrem Anblick die unmittelbare Vergegenwärtigung einer Erinnerung erhofft. « Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin 1984, S. 326. Das vorige Zitat im Text ebd., S. 116. Die wichtigsten Dokumente über die Entdeckung der Erinnerung im Geruch (wie Benjamin das nannte — im Gegensatz zum >Geruch in der ErinnerungLebenshaltungvon außen< — der Welt gesellschaftlicher Zwänge — nach Hause zurückkehrt, trifft auf die Unbefangenheit und Unverstelltheit der Kinder und darf mit ihnen selbst wieder >Mensch< sein. Warum aber taucht der Kindheitsmythos gerade bei einem Schriftsteller auf, dessen Familienverhältnisse diesem Ideal am allerwenigsten entsprachen? Denn die zeitweiligen Idyllen, die die Confessions aufrufen, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß Rousseau diesen Schutzraum nie gehabt hat. Er selbst hat in seinen mittleren Jahren kein Hehl daraus gemacht, daß er sich kaum an »Wonnen« der Kindheit erinnern könne25, und im Alter, in dem massiv die Verklärung der Frühzeit einsetzt, nicht den Anteil der Imagination an den Erinnerungsbildern verleugnet. Rousseau hat damit aber selbst die Antwort gegeben, auf die noch einmal verwiesen werden muß. Die Confessions erklären den faktischen Verlauf der Lebensgeschichte für 23

24

25

44

Vgl. Starobinski, La transparence, S. 1 1 : »Rousseau est l'un des premiers écrivains (il faudrait dire poètes) qui aient repris le mythe platonicien de l'exil et du retour pour l'orienter vers l'état d'enfance, et non plus vers une patrie céleste. « Vgl. Ph. Ariès, Geschichte der Kindheit. München 4 1 9 8 1 , v. a. Teil III: Die Familie (bes. S. 548 ff.). Zit. nach Poulet, Études, S. 181 (Corresp. VII, 71).

nebensächlich. Der Autor, der die Kette seiner »geheimen Gefühle« geben will, privilegiert geradezu die Phantasien und geheimen Wunschvorstellungen gegenüber den Gefühlen, die >realitätsgerecht< waren. Rousseau unternimmt die Totalisierung seiner Lebensgeschichte gleichsam als Versammlung aller Impulse, die jemals in ihm entsprungen sind und >rein< gerade nur bleiben konnten, solange sie nicht als Handlung, Äußerung oder Schrift zum Faktum der äußeren Welt geworden sind. Die Evidenz des unmittelbaren Fühlens im Erinnerungsakt versichert der Zugehörigkeit zum Ich. N u r darauf kommt es an. Wenn Rousseau gleich zu Beginn betont, daß die äußeren Ereignisse sich erst als Derivate des Gefühls einstellen, ist es im Grunde gleichgültig, wo die Grenze zwischen Wunsch und Realität verläuft. Das Beispiel zeigt, daß bestimmte aufkommende kollektive Vorstellungen ihren ersten exemplarischen Niederschlag nicht dort finden, wo eine Biographie sie >vorgelebt< hat, sondern dort, wo ein Mangel das Bedürfnis nach Einlösung wachgehalten hat. Wenn Rousseau in den Rêveries schreibt, seine Vorstellungswelt lebe nur noch vom »Nachhall der Erinnerung« und nicht mehr von schöpferischer Imagination, so erweisen sich auch diese Reminiszenzen von der Imagination genährt (Rev., S. 657). Der alternde Autor, dem die Zeit zur Verwirklichung der Träume und die Hoffnung, gegen das »Dunkel« zu bestehen, genommen ist, findet sein Glück in der Erinnerung der Wünsche, die noch eine Zukunft hatten.

I In der Geschichte der deutschen Autobiographie gilt Moritz' Anton Reiser als das Buch, in dem erstmals ein besonderes Interesse an der Kindheit sich artikuliert. 26 Von affektiver Rückwendung kann jedoch bei Moritz nur bedingt die Rede sein. Die »genetische Betrachtung«, von der K. D . Müller spricht, läuft eher auf die Rekonstruktion einer Unheilsgeschichte hinaus. Die Bedeutung der Kindheit sieht Moritz dabei — modern ausgedrückt — in der >frühen Prägung< durch zerrüttete Familienverhältnisse. Wie Rousseau zeigt auch der Verfasser des Reiser eine bis dahin ungekannte Aufmerksamkeit für kleinste Details der frühen Jahre. Während sie aber bei Rousseau in den Momenten der mehr oder weniger unwillkürlichen Erin26

Vgl. K. D . Müller, Autobiographie und Roman. Studien zur literarischen Autobiographie der Goethezeit. Tübingen 1976, S. 152: »Neuartig in der Geschichte der Autobiographie ist das Gewicht, das bei einer streng genetischen Betrachtung der Individualität nunmehr der Kindheit zukommt. « Vgl. auch zur Berechtigung, den »psychologischen Roman« als Autobiographie zu lesen, Müllers sehr gescheite und überzeugende Argumentation (ebd.).

45

nerung das ganze G l ü c k der Vergangenheit tragen, hält sie der » E r f a h rungsseelenkundler« Moritz im R a h m e n einer Analyse als Faktoren einer pathologischen Entwicklung fest. Dies ist der erste Eindruck nach der L e k t ü r e der beiden A u t o b i o g r a phien. 2 7 E i n e genauere Betrachtung aber zeigt überraschende Ubereinstimmungen. E s gibt ja auch bei Rousseau, wie oben gesehen, die Perspektive der Katastrophengeschichte; bei beiden A u t o r e n markiert die G e b u r t deren mythischen U r s p r u n g . Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück. (Conf., S. 11) Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen des unauflöslich geknüpften Ehebandes. (AR, S. 15) Diese G e s c h i c h t e ließ sich in den Confessions

rekonstruieren als Abfolge

der »schrecklichen Augenblicke«, die im Rückblick jeweils das M a r t y r i u m des Verfolgten beginnen lassen. W i r stoßen an diesem Punkt auf die w i c h tigste U b e r e i n s t i m m u n g im P s y c h o g r a m m der beiden A u t o r e n , die in unterschiedlichen Begriffen ihren gesellschaftlichen Mißerfolg auf denselben Mangel

zurückführen:

fehlende

Geistesgegenwart. 2 8

Die

Unfähigkeit,

einen Angriff z u parieren im Verbund mit einer Phantasie, die hinter jedem 27

28

46

Den Unterschied der beiden Kindheitserzähler kann man am anschaulichsten wohl darin zusammenfassen, daß man sich Rousseau kaum als Herausgeber einer psychologischen Zeitschrift vorstellen kann. Das Moment der Distanz wie der Verallgemeinerbarkeit psychischer Vorgänge, die die »Erfahrungsseelenkunde« methodisch voraussetzt, wäre nicht mit Rousseaus Anspruch auf Impulsivität und Unvergleichlichkeit des je eigenen Bewußtseinslebens zu vereinbaren. Während Moritz von Beginn an schaut, welche Gesetzmäßigkeit sich aus der Beobachtung seiner einzelnen Reaktionen ableiten läßt, ist Rousseau weit mehr an der Abhebung seiner seelischen Natur von den Bedingungen der Allgemeinheit gelegen. Das wahre Allgemeine wäre für ihn nicht in der Gleichartigkeit bestimmter Empfindungsreihen bei verschiedenen Individuen anzutreffen, sondern in der intersubjektiven Offenheit, in der alle Individuen ihre unvergleichlichen Empfindungen einander zu erkennen geben. Mit diesem Punkt mögen andere Parallelen zusammenhängen. Beide sind Hypochonder mit einer einmal stärker, einmal schwächer ausgebildeten Neigung zum Verfolgungswahn (der bei beiden durchaus nicht ungerechtfertigt ist). Beide sind Schriftsteller und >Gelehrteich habe die Ehre, mich Ihnen zu empfehlen< gesellte sich plötzlich in seiner Idee zu dem >dummer Knabe!< des Inspektors auf dem Seminarium, zu dem >ich meine Ihn ja nicht!« des Kaufmanns, zu dem >par nobile Fratrum< der Primaner und zu dem >das ist ja eine wahre Dummheit!< des Rektors. — Er fühlte sich auf einige Augenblicke wie vernichtet, alle seine Seelenkräfte waren gelähmt. ( A R , S. 315)

Mit dem letzten Satz ist das Stichwort der »Seelenlähmung« gegeben, die sich zurecht als »Kern von Moritz' Seelenkrankheit« diagnostizieren läßt. 29 Seelenlähmung bedeutet in erster Linie Verlust der aktiven Fähigkeiten: Kraft des Denkens, wirksame Gegenwehr. In Bezug auf die Dimension des Gedächtnisses stellt sie sich dar als völliges Bestimmtsein der Lebensgeschichte durch den einen Typus des niederschmetternden Erlebnisses. Anton, der später als philosophischer Autodidakt die Erkenntnis gewinnt, daß »sich das Dasein nur an der Kette dieser ununterbrochenen Erinnerungen fest(hält)« (AR, S. 232; Hervorh. M. K.), besteht in jenen Momenten nur aus einer Abfolge von Schicksalsschlägen. Daß alle vergangenen Mißerfolge sich »in seiner Idee« dazugesellen, erscheint im Kontext der »Seelenlähmung« nicht als aktive, bewußte Reproduktion, sondern als zwanghafte Wiederholung von Einschnitten. Reichs Entdeckung, daß vergangene traumatische Erfahrungen in bestimmten Muskelkontraktionen bewahrt und wiederhervorgerufen werden, scheint in Reisers Zusammenzucken eine frühe »Fallbeschreibung« zu haben. Es ist nicht übertrieben, wenn man den Impuls, der der Abfassung des Anton Reiser zugrundeliegt, in dem Willen vermutet, gegen diese Lebensgeschichte der Niederlagen anzuschreiben. Die Bedeutung der von Moritz immer wieder beschworenen Kleinigkeiten liegt damit nicht nur auf der

29

tung« bestimmter vergangener Eindrücke (»Ideen«) mit einem eigentümlichen Firnis-Geruch ( A R , S. 56 f.). Insgesamt aber weisen die Erinnerungsstellen auch bei Moritz auf eine Dominanz des Optischen und Akustischen. Andere Ubereinstimmungen verdanken sich dagegen eher typischen Zeitströmungen, die — wo Moritz darauf anspricht — wiederum oft v o m >Rousseauismus< ausgehen. Hierher gehört auch der T o p o s von der hypertrophen Einbildungskraft, die durch übermäßige R o manlektüre in früher Jugend verstört wurde. H . J . Schings, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 235.

47

wissenschaftlichen Ebene der »Erfahrungsseelenkunde«. Der Reiser unternimmt eine Totalisierung der eigenen Vergangenheit in der Absicht, der deprimierenden Beschränkung auf die dem Gedächtnis eingebrannten Niederlagen zu entkommen. Das Buch will Erinnerungsarbeit leisten, in der all das dem Vergessen entrissen wird, was zwischen den Katastrophen liegt und in der Perspektive auf sie abgeblendet ist. Deutlich macht das die berühmte Vorrede zum 2. Teil von 1786: W e r auf sein vergangenes Leben aufmerksam wird, der glaubt zuerst oft nichts als Zwecklosigkeit, abgerißne Fäden, Verwirrung, Nacht und Dunkelheit zu sehen; je mehr sich aber sein Blick darauf heftet, desto mehr verschwindet die Dunkelheit, die Zwecklosigkeit verliert sich allmählich, die abgerißnen Fäden knüpfen sich wieder an, das Untereinandergeworfene und Verwirrte ordnet sich — und das Mißtönende löset sich unvermerkt in Harmonie und Wohlklang auf. ( A R , S. 107)

Das Adverb »unvermerkt« ist ein Indiz dafür, daß Moritz die Methode dieser Totalisierung nicht für lehrbar im Programm der Erfahrungsseelenkunde hält. Welche Hinweise aber gibt der Reiser auf die Art dieser Erinnerungstätigkeit ? Es gibt eine Stelle im ersten Teil des Romans, die man als modellhaft für eine derartige umfassende Erinnerung bezeichnen kann. Sie ist in unserem Zusammenhang auch deshalb interessant, weil sie auf die Problematik des »signe mémoratif« zurückführt. Es handelt sich um jenen Spaziergang, den Anton in seiner schrecklichen Lehrzeit bei dem sektiererischen Hutmacher Lobenstein eines Tages vor die Tore von Braunschweig unternimmt: Anton fing wieder an, des Sonntags ( . . . ) spazieren zu gehen, und einmal fügte es sich, daß er, ohne es erst selbst zu wissen, gerade an das Tor kam, w o er vor ohngefähr anderthalb Jahren mit seinem Vater zuerst von Hannover eingewandert war. Er konnte sich nicht enthalten, hinauszugehen und die mit Weiden bepflanzte breite Heerstraße zu verfolgen, die er damals gekommen war. Sonderbare Empfindungen entwickelten sich dabei in seiner Seele. — Sein ganzes Leben von jener Zeit an — da er zuerst die Schildwache auf dem hohen Wall hin und her gehend erblickte ( . . . ) — stand jetzt auf einmal in seiner Erinnerung da. — Es war ihm, als ob er aus einem Traum erwachte — und nun wieder auf dem Flecke wäre, w o der Traum anhub: — alle die abwechselnden Szenen seines Lebens, die er diese anderthalb Jahre hindurch in Braunschweig gehabt hatte, drängten sich dicht ineinander, und die einzelnen Bilder schienen sich nach einem größern Maßstabe, den seine Seele auf einmal erhielt, zu verkleinern. (AR, S. 80)

Als Erinnerungszeichen fungiert hier kein geringes Detail, kein Geruch, kein Geschmack, keine Melodie, sondern der Anblick einer Ortlichkeit: »So mächtig wirkt die Vorstellung des Orts, woran wir alle unsere übrigen Vorstellungen knüpfen« (AR, S. 80). Trotz dieses nicht unerheblichen Unterschieds hat man in der Forschung sogleich auf die Ubereinstimmung mit 48

Prousts »mémoire involontaire« hingewiesen. 30 Diese Verknüpfung (so verfrüht und unberechtigt sie ansonsten ist: es ist nicht immer gleich Proust, wenn einer sich unwillkürlich auf einen bestimmten »Auslöser« hin erinnert) wirft Licht auf einen bestimmten Aspekt des Braunschweiger Spaziergangs, der ihn tatsächlich von den sentimentalen Stadtfluchten in der Literatur der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts unterscheidet. Anton sucht nicht bewußt die Entgrenzung in der freien Natur, sondern gerät zufällig an das Stadttor, das ihn ins Feld führt. Der Gang auf der Heerstraße führt ihn deshalb nicht weiter in die Natur hinein, sondern tiefer in seine Erinnerung an den ersten Anblick von Braunschweig. Stilistisch versucht der Autor das Andrängen der Elemente, die sich zu dieser Erinnerung zusammenschließen, in dem Staccato der kurzen, abgerissenen Satzstücke (das immer auftaucht, wenn eine ernstzunehmende seelische Erfahrung Antons beschrieben wird) wiederzugeben. Trotzdem ist nicht zu übersehen, wie weitgehend die Darstellung durch bestimmte Lieblingstheoreme Moritz' geprägt ist. Zunächst ist der Ort als Auslöser der Erinnerung vom Rousseauschen »mémoratif« bereits durch seine zentrale Stellung im erinnerten Moment ausgezeichnet. Es fehlt damit die Diskrepanz von objektiver und subjektiver Weltorganisation, die für Rousseau entscheidend ist. Eine Pflanze, ein Lied sind periphere Dinge im Gefüge der Gesellschaftswelt, sie werden aber für Rousseau zum Träger des ganzen Gefühls. Diese Verschiebung, dank derer das Nebensächliche zum Mittelpunkt der unmittelbaren Selbsterfahrung werden kann, findet bei Moritz nicht statt. Der Punkt, von dem aus Braunschweig bereits bei der Ankunft als Ganzes vor dem Ankömmling lag, ist zugleich der Punkt, um den sich die Erinnerungen an das Leben in der Stadt gruppieren. Es ist ein eminenter Ort sowohl bei der ersten Wahrnehmung wie später bei der Erinnerung. Moritz selbst erklärt sich das Phänomen durch eine augenblickliche Interferenz von reproduzierender und entwerfender Einbildungskraft. Die Erinnerung nimmt an der Stelle, an der er sich einst seine Zukunft vorgestellt hatte, ihrerseits die dichteren Züge dieser Imagination an. 31 Moritz legt großen Wert auf die Verän30

51

Th. P. Saine, Die ästhetische Theodizee. München 1971. Albert Beguin, Traumwelt und Romantik. Bern/München 1972, Kapitel Moritz und Proust. »Dieser O r t mußte es gerade sein, der ihn durch die plötzliche Erinnerung an tausend Kleinigkeiten gerade in den Zustand wieder zu versetzen schien, worin er sich unmittelbar vor dem Anfang seines hiesigen Lebens befand. — Alles, was dazwischen lag, mußte sich nun in seiner Einbildungskraft zusammendrängen, wie Schatten ineinandergehen, einem Traum ähnlich werden. ( . . . ) Die Vergangenheit, alle die Szenen des Lebens, das Anton in Braunschweig geführt hatte, stellte er sich jetzt wieder vor, wie er sie sich damals vor anderthalb Jahren noch als zukünftig gedacht hatte ( . . . ) . « (AR, S. 82 f. )

49

derung der Dimension: der ganze Zwischenraum der Zeit, die seitdem verflossen ist, kommt trotz der Fülle der Erinnerung nicht zu Bewußtsein. Es handelt sich um die Synopsis eines ganzen Lebensabschnitts, in der alle Einzelheiten, wie in einem Tagtraum zusammengedrängt, zugleich vor Augen liegen. Unschwer erkennt man hier Moritz' Lieblingsfigur des geschlossenen Kreises mit Mittelpunkt wieder. Der Ort, an dem die Erinnerung aufsteigt, fungiert dabei zugleich auf beiden Ebenen. Zum einen kehrt Anton nach anderthalb Jahren wieder zum Ausgangspunkt zurück — der Kreis um seine Braunschweiger Zeit schließt sich, und folgerichtig steht ab diesem Moment für ihn fest, daß er Lobenstein verläßt. Zum anderen gruppieren sich um diesen Ort (als Mittelpunkt) seine Braunschweiger Erfahrungen zum erfüllten Ganzen. 32 Die unmittelbare, erfüllte Anschauung eines »in sich geründeten Ganzen« (also nicht sukzessives Durchgehen der Elemente) ist Moritz' Formel für das Kunstwerk. Man kann deshalb die Braunschweiger Erfahrung als ästhetische Erfahrung bezeichnen. In ihr präsentiert sich »plötzlich« eine abgeschlossene Epoche des Lebens auf einmal in seiner Erinnerung. Der Erzähler des Reiser hebt in seinem Kommentar vor allem auf den Distanz gewinn ab : U m von dem Ganzen seines bisherigen Lebens ein anschauliches Bild zu haben, war es nötig, daß gleichsam alle die Fäden abgeschnitten wurden, die seine Aufmerksamkeit immer an das Momentane, Alltägliche und Zerstückte ( . . . ) hefteten (...)· ( A R , S. 82)

Diese Distanz ist keine wissenschaftlich objektivierende, denn es geht um die intuitive Anschauung eines Ganzen. Die Unmittelbarkeit des alles erfassenden Rück-Blicks (ein kleines Analogon des göttlichen Blicks auf das Universum) geht einher mit Emotionen (»sonderbaren Empfindungen«), die diskreter und schwerer beschreibbar erscheinen als die des alltäglichen Lebens. Die totalisierende Erinnerung erweist sich auch unter diesem Aspekt als Gegenstück zur traumatischen Erfahrungskette. Auf der einen Seite >Geheftetsein< an einzelne, überwältigende Eindrücke, die meistens »wie ein Donnerschlag« empfunden werden, auf der anderen Seite die schwebende Anschauung des ganzen Lebensabschnitts, die als »Erweiterung der Seele« empfunden wird. Im Erinnerungsbild rückt alles, nach jenem »größeren Maßstab der Seele«, in eine räumliche Ferne, in der die ei32

50

Robert Minder weist in seinem Moritz-Buch auf die mystische Tradition hin, der dieses intuitive Zusammensehen verpflichtet ist. In Bezug auf das Braunschweiger Erlebnis ist aber gerade die »Gebundenheit des menschlichen Erkennens an die Verschiedenheit der Objekte« nicht »aufgehoben«, wie Minder schreibt. R. Minder, Glaube, Skepsis und Rationalismus. Frankfurt/M. 1974, S . 2 0 3 f .

gene Vergangenheit — unendlich bereichert und perspektivisch »zurechtgerückt« — dem Subjekt von außen wiedergegeben wird. K o m m e n wir n o c h einmal auf das »signe mémoratif« zurück und fassen das T o r in M o r i t z ' Erzählung als einen solchen akzidentiellen A n s t o ß auf. 3 3 I c h hatte oben schon von einer »Verschiebung« gesprochen, die bei R o u s seau im Unterschied zu M o r i t z stattfindet. D a m i t ist gemeint die unterschiedliche Stellung, die das »signe mémoratif« im Bedeutungsgefüge der Welt und in dem des Subjekts einnimmt. Z u m Rousseauschen »mémoratif« kann nur werden, was v o m >objektiven< gesellschaftlichen Zeichensystem nicht vereinnahmt w o r d e n ist. Entscheidend für Rousseau ist dieses A u s einanderklaffen von Funktion und Stellung des evozierenden Gegenstands im äußeren und im inneren Z u s a m m e n h a n g .

So hängt aufgrund

einer

s c h w e r begreiflichen Vermählung an der Gestalt eines Blattes das Gefühl, das der A u t o r der Geliebten entgegengebracht hatte. 3 4 Bei M o r i t z ist da-

33

34

Die Encyclopédie spricht in ihrem Artikel »mémoire« vom »ressouvenir« oder der »réminiscence«; »cela tient à des causes indépendantes de notre liberté«. Unwillkürliche und willkürliche Erinnerung werden begrifflich folgendermaßen differenziert: »La mémoire & le souvenir expriment une attention libre de l'esprit à des idées qu'il n'a point oubliées, quoiqu'il ait discontinué de s'en occuper ( . . . ) , c'est une action de l'ame. Le ressouvenir & la reminiscence expriment une attention fortuite à des idées que l'esprit avoit entièrement oubliées & perdues de vue (. ..), elles se représentent d'elles mêmes, ou du-moins sans aucun concours de notre part; c'est un événement où l'ame est purement passive.« Im folgenden werden dann noch einmal »mémoire« und »souvenir« als Wissensund Erlebnisdimension unterschieden (»la mémoire ne concerne que les idées de l'esprit ( . . . ) ; le souvenir regarde les idées qui intéressent le coeur«); »ressouvenir« und »réminiscence« als Wiedererkennen einerseits und bloßes Wiederauftauchen (ohne Reflexion darauf, daß es zum zweiten Mal ist) andererseits. Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Tome dixième (1765). Faksimilereproduktion Stuttgart-Bad Canstatt 1966, S. 326. Sowohl das Detail, das als »signe mémoratif« die Erinnerung auslöst, wie auch die kuriosen Details in den Erinnerungsbildern sind Träger der Gefühle aufgrund einer Ablenkung oder Umwegigkett, die für Rousseaus psychische Konstitution kennzeichnend ist. Die Bedeutung dieses Umwegs um das Bewußtsein ist wohl das, was an Rousseaus Erinnerung als >modern< empfunden wird (vgl. Jauß). Rousseau selbst legt den Hauptakzent auf die Abwesenheit des Bewußtseins als Instanz gespannter Aufmerksamkeit in jenen Situationen fragloser Ubereinstimmung mit der äußeren Welt, die man unter dem Stichwort >Landidyllen< in den Confessions zusammenfassen kann. Dazu gehört die Umgehung des zensierenden Bewußtseins. Der vom Gedanken der unmittelbaren Ubereinstimmung von innerem Impuls und äußerer Verwirklichung Besessene hat in einer Welt, die seinem Begehren Schranken setzt, eine gewisse Übung erworben, seine Bedürfnisse zu verlagern auf nebensächliche Dinge, die mit dem eigentlichen Objekt des Begehrens in einem Kontiguitätsverhältnis stehen. Starobinski hat in Das Leben der Augen Stellen aus der Nouvelle He-

51

gegen Äußeres und Inneres auf der E b e n e d e r Anschaulichkeit streng k o r reliert. D e r Gang aus d e m T o r verschafft Distanz P u n k t , v o n dem aus m a n die Stadt überblickt, vergangenen Lebens; die Rückkehr spondiert der Geschlossenheit

z u r G e g e n w a r t ; an einem ergibt sich die Synopsis des

an den Platz, w o alles anfing, korre-

des Erinnerungsbildes einer damit beendeten

E p o c h e . 3 5 M o r i t z ' Darstellung ist deutlich geprägt v o m älteren Muster des exponierten

Standpunkts,

der die Schau des Ganzen erlaubt. Traditionell

w a r e n diese Punkte zumeist Berggipfel, und schon in Petrarcas Bericht von der Besteigung des M o n t Ventoux spielt die Erinnerung an sein vergangenes L e b e n , die sich beim Blick v o m Gipfel einstellt, eine wichtige Rolle. Bei M o r i t z ist der besondere Punkt die Stelle, an der sich ein Lebenskreis schließt. In unübersehbarer A u f n a h m e des Theodizeegedankens >erhebt< sich A n t o n hier zu einer intuitiven Schau seiner ganzen Vergangenheit, die ihn v o n der niederschmetternden Fixierung auf das >Böse< seiner Lehrjahre löst. Deshalb auch bei Moritz kein Eingehen auf einzelne der »tausend

35

52

loise kombiniert, die St. Preux als Beinahe-Fetischisten zeigen, der aus der Wahrnehmung der Gegenstände, Toilettenartikel etc., die Julie berührt hat, das Bild der Geliebten rekonstruiert und daraus eine imaginäre Befriedigung zieht. Der »Umweg« ließe sich nach Starobinski folgendermaßen beschreiben. Das auf dem Weg zu seiner Erfüllung aufgehaltene Begehren wird abgelenkt auf die benachbarten Gegenstände und kehrt von da ins Innere des verhinderten Liebhabers zurück. Die Objekte lassen — bei gleichzeitiger Ausblendung der realen Geliebten — ein imaginäres Bild entstehen, an dem das Ich in seinen Träumereien keinen Widerstand, sondern unmittelbare Erfüllung findet. Die fraglose Ubereinstimmung von Begehren und Objektwelt in der frühen Kindheit läßt sich so nach der Vertreibung aus dem Kindheitsparadies im Imaginären bewahren (J. Starobinski, Das Leben der Augen, S. 85ff.). Das »signe mémoratif« gehorcht dem gleichen Mechanismus. Genauer: es reichert ihn an um eine zeitliche Dimension. Wieder geht es darum, daß an einem nicht irgendwie ausgezeichneten Objekt das Gefühl haftet und dann die Bilder, Vorstellungen und Emotionen des Glücks sich einstellen. Im Unterschied aber zum >Fetischismus< von St. Preux ist entweder der Zusammenhang von der Richtung und Beschaffenheit des ursprünglichen Wunsches und benachbartem Gegenstand vergessen worden oder niemals vorher deutlich gewesen. Unter diesem Aspekt könnte man von einem >aufgeschobenen< Fetischismus reden oder von einer Erotisierung der Gegenstände >auf den zweiten BlickWiesenHügelKornfeld< und >blauer Berg< sind als Erinnerungsbilder nicht mehr zu tren55

nen von den »täuschenden Phantasiebildern« eines Wunschraums der Geborgenheit. Die merkwürdige traumhafte Entrücktheit, in der von diesem Lebensabschnitt, im Unterschied zu allen anderen, erzählt wird, ist einige Seiten weiter noch greifbarer, als von einem späteren Stadium aus der Berichterstatter noch einmal auf das Dorf zurückblickt. Jedesmal wird der Rückblick von der gleichen, fast formelhaften Wendung eingeleitet, die wie ein musikalisches Vorzeichen einen Tonartwechsel anzukündigen scheint: Als seine Mutter noch mit ihm auf dem Dorfe wohnte ( . . . ) .

( A R , S. 33)

( . . . ) im fünften Jahr, als seine Mutter noch mit ihm in dem Dorfe wohnte ( . . . ) . ( A R , S. 34)

oder:

( . . . ) im zweiten Jahre, als seine Mutter noch nicht mit ihm auf dem Dorfe wohnte (...).

( A R , S. 35)

Uber seine Funktion für eine Chronologie der Jugendgeschichte hinaus erhält der Temporalsatz durch die stereotype Wiederholung symbolische Valenz. Die Zeit, auf die er verweist, gehört einer anderen Dimension an als die sonstigen, kurzfristigen Unterbrechungen der Leidensgeschichte (wie ζ. B. der erste Fleischbein-Besuch). Das Dorfleben ist, beachtet man die eigentümliche Ortlosigkeit der Reminiszenzen, weniger ein Intermezzo in Reisers unglücklicher Kindheit als ein Jenseits, aus dem er in die schlechte bürgerliche Welt gestoßen wird: Eine von Antons seligsten Erinnerungen aus den frühesten Jahren seiner Kindheit ist, als seine Mutter ihn in ihren Mantel eingehüllt durch Sturm und Regen trug. Auf dem kleinen Dorfe war die Welt ihm schön, aber hinter dem blauen Berge, nach welchem er immer sehnsuchtsvoll blickte, warteten schon die Leiden auf ihn, die ihm die Jahre seiner Kindheit vergällen sollten.

( A R , S. 3 5 )

Ein Psychoanalytiker würde hier vermutlich ein narzißtisches Klischee ausmachen: eingehüllt in den Mantel der Mutter, in einer Szenerie, die ihrerseits wieder umgrenzt ist vom blauen Gestein, fühlt das Kind einzig in dieser Periode die »Seligkeit der Einschränkung« (AR, S. 35: »Einschränkung« ist sonst in Moritz' imaginativer Welt immer negativ besetzt).1 Der Rekurs auf die (intrauterine) Existenz vor der Geburt ist indessen nicht auf die Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts angewiesen, er findet sich schon bei dem Erfahrungsseelenkundler des 18. Jahrhunderts. Im l.Teil von Moritz' Roman Andreas Hartknopf ist die Symbolik noch deutlicher: die Mutter weist hier selbst auf den Schacht hin, in dem das Kind vor dem Hinübergleiten in die Außenwelt lag: 1

Vgl. zu Moritz' >univers imaginaire< den wichtigen Aufsatz von A . Langen, K. Ph. Moritz' Weg zur symbolischen Dichtung. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 81, 1962, S. 1 6 2 - 2 1 8 und 4 0 2 - 4 4 0 .

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D a war ein Ziehbrunnen nicht weit von der ehemaligen Wohnung seiner Eltern. — Beim Anblick desselben war ihm sonderbar zu Muthe — E s war ihm plötzlich, als ob er einen Blick hinter den undurchdringlichen Vorhang gethan hätte, der irgend ein vergangenes Daseyn von seinem gegenwärtigen trennte. — Er erinnerte sich an einen Zustand, der diesem ganz gleich war, und wußte doch diese Erinnerung nicht an Zeit und O r t zu knüpfen. — Endlich fiel ihm ein, daß seine Mutter in seiner frühesten Kindheit, ihm, wenn er die Frage tat, woher er gekommen sey, immer den Brunnen nicht weit vom Haus als den Urquell seines Daseyns genannt habe. S o oft er nun die Wörter Brunn oder Brunnquell hörte, entstand jene sonderbare Empfindung in seiner Seele, die man immer zu haben pflegt, wenn man sich an etwas aus den Jahren seiner frühesten Kindheit erinnert ( . . .). 2

Auch hier spielen traditionelle Vorstellungen eine Rolle, wie sie sich in geläufigen Metaphern wie der von der >Brunnentiefe des Daseins< niedergeschlagen haben. Bemerkenswert ist aber erneut die Verknüpfung des kollektiven Bildes mit genau beschriebenen individuellen Erinnerungsvorgängen. Hartknopf hat die Erzählung seiner Mutter weder jederzeit gegenwärtig, noch kommt sie ihm sogleich in den Sinn beim Anblick des Brunnens. Großen Wert legt der Erzähler auf die gliedernde Darstellung des weiten Raums, den die Erinnerung bei ihrer Rückkehr aus dem Vergessen durchschreiten muß. Die Weite des Abstands und die Fremdartigkeit des Gehalts dieser Erinnerung markiert zunächst die Rede von »irgend einem vergangenen Daseyn«. Erst im nächsten »Schritt« (oder auf der folgenden Stufe) wird das »vergangene Daseyn« in den Bereich der personalen Identität überführt: ein »Zustand« ist per definitionem die Befindlichkeit oder bestimmte Lage einer mit sich identischen Person in der Kontinuität ihrer Lebensgeschichte. 3 In der dritten >Stufe< »endlich« ist das präzise Bild da. Dennoch handelt es sich nicht um die reine Beschreibung eines psychischen Vorgangs. Moritz interpretiert diese Erinnerungen im Rahmen seines Modells der Präexistenz der Seele. Entscheidend aber ist das Ausgehen von den bestimmten, »sonderbaren« Empfindungen, deren individuellen Korrespondenzen der Seelenkundler nachgeht, bevor das allgemeine Erklärungsmuster angewandt wird. Unzähligemale weiß ich schon, daß ich mich bei irgendeiner Kleinigkeit an etwas erinnert habe, und ich wüßte selbst nicht recht an was. 4

Ein solches déjà-vu-artiges Stutzen steht am Anfang. Eine bestimmte Beobachtung oder Begegnung scheint irgendwann schon einmal stattgefunden 2 3

4

Zit. nach Langen, ebd., S. 217. Zur Identität der >Person< vgl. Kant, KrV, H g . von Weischedel, Bd. II, S. 371 ff. D a z u Henrich, Identität und Objektivität, S. 51. Magazin für Erfahrungsseelenkunde, 1. Band 1783, 1. Stück, S. 66 f. (>Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheitersten Malabgelebten< Seele vermittelt über die Kindheit. So ergibt sich anstelle einer Zweiteilung individuelle Geschichte^ Präexistenz der Seele »in anderen Verhältnissen« eine Dreiteilung, in der die früheste Kindheit innerhalb der Lebensgeschichte des Individuums den Bereich markiert, der sich auf die unbegrenzte Vorgeschichte hin öffnet. Wenn Moritz-Hartknopf zunächst »sonderbar zu Muthe« ist und er sich an »irgend ein vergangenes Daseyn« gemahnt fühlt, so klärt sich die Undeutlichkeit des Déjà-vu bei weiterer Besinnung zur Erinnerung an das, was die Mutter »in seiner frühesten Kindheit« ihm gesagt hatte. Das pränatale Dasein wird zugänglich nur über eine Epoche des Individuums, die ihrerseits allerdings nicht in der gewöhnlichen Weise erinnert werden kann. Moritz charakterisiert den ganz eigenen Status der »Erinnerungen aus den frühesten Jahren der Kindheit« durch den Hinweis, es seien »oft nur Erinnerungen von Erinnerungen«. »Eine ganz erloschene Idee war einst im Traum wieder erwacht, und ich erinnere mich nun des Traums, und mittelbar durch denselben erst jener wirklichen Vorstellung wieder«.6 Offensichtlich wird hier ein Zusammenhang hergestellt zwischen der Unbewußtheit der ersten Lebensjahre und dem traumhaften, >bewußtlosen< Wiedergewinnen der Vorstellungen dieser Zeit. Moritz trennt in diesem Sinn am Ende des Artikels sein späteres »eigentliches Dasein«, dessen »Ereignisse (. ..) sehr lebhaft im Gedächtnis« vorliegen, von den wenigen, oft nur durch Zufall gewonnenen und eigentümlich gestaltlosen Erinnerungen an den »vorigen Teil meines Lebens«. 7 Aufgrund der Qualität der Erinnerungen wird also eine Zäsur im eigenen Dasein gesetzt; das gegenwärtige Bewußtsein hat in5 6 7

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E b d . , S. 66. E b d . , S. 66. E b d . , S. 69f. Moritz äußert hier die Hypothese, die ersten »Ideen« machten sich an gestaltlosen Farbwahrnehmungen fest.

nerhalb der konkreten Grenzen der eigenen Existenz einen Vorgänger gehabt. Mag man es bezeichnen, wie man will, es gibt auf jeden Fall Momente, in denen diese vergangene Seele sich regt und wiederauferstehend mit der aktuellen Situation kommuniziert. Die Unzugänglichkeit der frühen Erfahrungen hatte Moritz in dem zitierten Passus durch den Hinweis auf den Traum als Vermittler »jener wirklichen«, frühen »Vorstellung« gekennzeichnet. Weil die Eindrücke des Kindes vor dem Erwachen des reflektierenden Bewußtseins empfangen werden, muß das längstvergangene Kindheitserlebnis in gegenwärtigen Zuständen der Abwesenheit des zensierenden Bewußtseins in die Reichweite der bewußten Erinnerung gebracht werden. Die Erinnerung, die unmittelbar nach dem Erwachen den Traum der vergangenen Nacht reproduziert, überbrückt an dieser Stelle des geringsten Abstandes< von Bewußtem und Unbewußtem die weite Kluft, die sich zwischen vorbewußter Kindheit und bewußtem Jünglings- und Mannesalter aufgetan hat. So ergibt sich bereits bei Moritz die Vorstellung untergründiger Korrespondenzen, die bestimmte Lebenssituationen an früh empfangene Eindrücke und — über diese — an ein das individuelle Bewußtsein transzendierendes Gefühl zurückbindet. Entscheidend ist wiederum nicht das bloße Konstatieren solcher mentaler Vorgänge, sondern der Akzent, der auf ihre Entzogenheit gelegt wird: nur in den Gemütszuständen, die vom Bewußtsein >verschoben< sind, sei es nach der Seite der Exaltiertheit hin oder nach der der Ruhe, Entspanntheit, ja Lethargie, gelangt dieses geheime Wissen nach oben. Was aber genauso wichtig ist: nur wenn es später vom Bewußtsein >erweckt< wird, wenn das spätere Leben es wiederfindet, schlägt es zum Guten aus.

II.2 Ursprungsgedächtnis: Tieck Das negative Gegenbild eines Lebens, das jene frühe Welt nicht wieder aufnimmt, das Längstvergangene liegenzulassen versucht und sich dadurch in Schuld verstrickt, stellt Tiecks Märchen vom Blonden Eckbert vor, eines der bedeutendsten Stücke romantischer Erinnerungsprosa. Den zahlreichen Gesamtinterpretationen soll hier keine weitere angefügt werden, 8 ich 8

Besonders hinweisen möchte ich auf die Bemerkungen von E. Bloch, Bilder des Déjà-vu. In: Ε. B., Literarische Aufsätze, Frankfurt/M. 1965, S. 232—241, sowie die Bücher von M. Thalmann, Das Märchen und die Moderne. Zum Begriff der Surrealität im Märchen der Romantik, Stuttgart 1961, und M. Frank, Das Problem >Zeit< in der deutschen Romantik, München 1972, die beide keine ausführliche Interpreta-

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möchte nur auf einige formale Besonderheiten dessen hinweisen, was Bloch an diesem Text als »Chok des Déjà-vu« erläutert hat. 9 Die Gestalten im >Eckbertkünstlichen< Situation auf der Suche nach dem eigentlichen Ursprung. Denn Bertha gehörte nicht in die Welt des Dorfes: ihre Ungeschicklichkeit, ihre Einfältigkeit verleihen ihr eine Sonderstellung, die sie

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tion des Blonden Eckbert enthalten, dafür aber wichtige Aufschlüsse über die Struktur der Tieckschen Märchen insgesamt, die in den oben angeführten Interpretationen oft ignoriert werden. Bloch, Bilder des Déjà-vu, S. 238. Ebd., S. 240; Hervorh. Μ. Κ. Die Namenssymbolik im Blonden Eckbert bezieht die Figuren derart aufeinander, daß die wahren Identitäten, die erst am Schluß enthüllt werden, schon vorher anklingen. Außer der offensichtlichen Entsprechung Eckbert — Bertha und Walther — Alte scheint auch Hugo, der zweite wichtige Freund, in partieller Metathese Hund und Vogel wieder aufzunehmen; wie im Fall Walthers wird die anonyme Gestalt aus der Frühzeit zur Figur mit Namen. Einzig der Name »Strohmian« fällt aus dieser Symbolik heraus — er aber ist das eigentliche Erinnerungszeichen. Tieck, Märchen. Mit einem Nachwort von K. Nussbacher. Stuttgart (reclam) 1981, S. 24. Ebd. Bertha erzählt ihre Jugendgeschichte, nachdem es einleitend als Bedürfnis des Mannes dargestellt worden war, sein »Innerstes aufzuschließen«.

zu dieser Zeit aber nur negativ erleben kann. »Ich wünschte mir alle mögliche Geschicklichkeit und konnte gar nicht begreifen, warum ich einfältiger sei als die übrigen Kinder meiner Bekanntschaft.«14 Umso problemloser findet sie sich später bei der Alten in die Arbeit: » ( . . . ) und ich begriff es nun auch bald ( . . . ) ; nun war mir, als müßte alles so sein.«15 Die Leichtigkeit und Unmittelbarkeit des Lernens in der wunderbaren »Waldeinsamkeit« lassen vermuten, daß nun erst die Kindheit Berthas eigentlich begonnen hat, und sie spricht es indirekt an einer Stelle auch an: »Ich ward ihr (der Alten) endlich von Herzen gut, wie sich unser Sinn denn an alles, besonders in der Kindheit, gewöhnt.«16 Daß diese »Gewöhnung« in der Dorfwelt nicht eingetreten war, in der eheliche »Entzweiung«, »Armut« und »Arbeit« bewußt von Bertha erfahren worden waren, schließt sie aus dem Kreis dessen, was hier emphatisch als »Kindheit« bezeichnet wird, aus und charakterisiert so den Weg in die »Waldeinsamkeit« erst als Reise in die Kindheit, die ihr durch die ursprüngliche Trennung von den natürlichen Eltern versagt geblieben war. Auch andere Indizien weisen darauf hin, daß Berthas gefahrvolle Flucht als Rückreise zum Ursprung verstanden werden soll. Bevor das liebliche Tal sich eröffnet, muß eine jener Gebirgswelten durchschritten werden, die der Romantik als das nach außen getretene »steinerne Herz der Erde« galten.17 Bertha geht zurück bis zu dem Punkt, wo das »Älteste«, das »erste Existierende« eine Welt des Reichtums unmittelbar aus sich entläßt: sie beschreitet gleichsam auf ihrem Weg in die Kindheit zugleich die Bahn der erdgeschichtlichen Evolution in umgekehrter Richtung. An den »Grenzen der öden Felsen« ist der »Wasserfall«, an dem sie die »Alte« empfängt, die schwarz gekleidet ist und das Gesicht mit einer schwarzen Kappe bedeckt trägt. Die Alte erst führt sie aus der Steinwelt in die Idylle (»die wilden Felsen traten immer weiter hinter uns zurück«); 18 sie scheint überhaupt — darauf weisen ihre Ausflüge hin — eine Grenzgängerin, die immer wieder den Weg zwischen uralter Steinwelt im Gebirge und schaffender Natur im Tal zurücklegt. Der Wasserfall als Scheitelpunkt, die »ewige Bewegung«19 der Alten, ihr »Reichen« und »Husten«20 — all das zusammengenommen scheint sie zur Repräsentantin einer zugleich neptunisch wie vulkanisch verstandenen Frühgeschichte der Erde zu machen. 14 15 16 17

18 19 20

Tieck, Märchen, S. 6. Ebd., S . l l . Ebd. Vgl. die Belege bei Manfred Frank, Steinherz und Geldseele. In: M. F . , Das kalte Herz. Texte der Romantik. Frankfurt/M. 2 1981, S . 2 7 2 f . Tieck, Märchen, S. 9. Ebd., S. 10. Ebd.

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In diesen Kontext gehört auch die Edelstein-Symbolik des Kunstmärchens. Die Verschuldung setzt ein mit dem Bewußtsein vom Tauschwert der »Kleinodien«, die der Vogel täglich legt (vgl. dazu Tiecks Novelle Der Alte vom Berg). Die »Treue zur Alten« (zur Steinwelt, der sie gehören) ist es also, die gebietet, die Schätze nicht als Eigentum haben zu wollen. An diesem Punkt aber fällt auf, daß die wunderbaren Eier des Tiers zumindest andeutungsweise präfiguriert waren: auf dem Dorf hatte Bertha von »kleinen Kieseln« »geträumt«, »die sich in Edelsteine verwandelten«.21 Der Wunsch nach Reichtum entwächst hier der Not; die Erinnerung an diese Not — an das Dorf überhaupt — gibt es im Waldleben nicht mehr. Bertha bildet sich ihre »Vorstellungen von der Welt« 22 nach ihrer Lektüre; auch ihre Überlegungen über die Verwendung der Kleinodien in der Welt sind frei von jeder Reflexion auf ihr (chronologisch) früheres Leben. Erst als sie zufällig wieder in ihrem Dorf ankommt, ist die Erinnerung an den früheren Wunsch wieder da. Ich hatte es mir so schön gedacht, sie mit meinem Reichtum zu überraschen; durch den seltsamsten Zufall war es nun wirklich geworden, was ich in der Kindheit immer nur träumte — und jetzt war alles umsonst ( . . .). 23

An diesem Punkt, an dem die so verschiedenen Lebensabschnitte zur Deckung gebracht werden könnten, ergibt sich tatsächlich ein völliges Auseinanderfallen, das der letzte Satz resigniert festhält. Als Bertha mit dem Vogel in der Hand an die Stelle kommt, wo sie von den wunderbaren Kieseln geträumt hatte, ist mit einem Schlag klar, daß alle Hoffnung vergebens war (»und das, worauf ich am meisten immer im Leben gehofft hatte, war für mich auf ewig verloren«24). Diese Hoffnungslosigkeit breitet sich über die weitere Geschichte aus und nimmt selbst den Begebenheiten, die einem schon >Geahnten< korrespondieren, den märchenhaften Charakter der Erfüllung eines Traums. So hatte Bertha damals in der Hütte, durch ihre Lektüre angeregt, von einem »überaus schönen Ritter«25 geträumt, den sie einmal lieben wollte. Von der Verbindung mit Eckbert heißt es dann zunächst zweideutig: »Schon lange kannt' ich einen jungen Ritter, der mir überaus gefiel«, doch die Erzählung bricht Bertha schließlich mit ihrer Heirat derart kurz und freudlos ab, daß Eckbert »hastig« mit der Beteuerung ihrer Liebe »einfallen« muß.26 Fassen wir an dieser Stelle kurz zusammen: Bertha tritt mit ihrer Flucht erst in die eigentliche Welt der Kindheit ein, die, als die individuelle Frühzeit, zugleich in enger Konjunktion zur weltgeschichtlichen Frühe steht. Die »Alte« bzw. die »steinerne Vorwelt«, die die verwöhnende Natur aus sich entläßt, besetzt in Tiecks Novelle die Leerstelle einer leiblichen Mut21 22 23

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Ebd., S . 5 . Ebd., S. 12. Ebd., S. 16.

24 25 26

Ebd., S. 1 6 f . Ebd., S. 14. Ebd., S. 18.

ter: » ( . . . ) sie nannte mich Kind und Tochter«, heißt es beiläufig von der Alten. 27 Die Erinnerung an diese Kindheitsepoche, die nach Berthas eigener Aussage dadurch zu Ende geht, daß der Mensch »seinen Verstand ( . . . ) bekömmt, um die Unschuld seiner Seele zu verlieren«, 28 ist deshalb immer zugleich Eingedenken eines Ur-Alten, in irgendeiner Weise Bindenden. Bloch hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Geschichte keinen totalen mythischen Bann über die Figuren verhängt. Berthas Schuld besteht nicht im Verlassen der Hütte überhaupt; sondern darin, daß sie zu früh aufbricht (vgl. die Schlußbemerkung der Alten), daß sie Angefangenes abbricht und liegenläßt und daß sie das scheinbar Nebensächliche, Unverwertbare der Frühzeit nicht mit hinübernimmt. Der Hund, schlechthin funktionslos in der Menschenwelt, will mitkommen, 29 er gehört zum Vogel, der Reichtum bringt, wie der Name Hugo des späteren Freundes anzeigt. Die Bewahrung dessen, was aus der Kindheit im späteren Lebenskalkül nicht untergebracht werden kann, scheint Bedingung für das glückliche Gelingen eines Lebens zu sein; seine Abschiebung verstrickt in Schuld. Der Name des Hundes ist deshalb auch das affektive Erinnerungszeichen für Bertha. Sie kann ihre Jugendgeschichte erzählen, ohne offenbar an der Erinnerung an die Waldeinsamkeit sonderlich zu leiden. Sie kann von der Ermordung des Vogels erzählen, sie kennt die Worte des Lieds, das er gesungen hat — ein eigentlicher affektiver Umschlag tritt aber erst ein, als ihr mit der Namensnennung durch Walther »ein fremder Mensch ( . . . ) so zu (ihren) Erinnerungen« verhilft. 30 »Strohmian« ist der einzige Name im Blonden Eckbert, der kein Echo in einem anderen Namen hat. Mit dieser Lautfolge, die allein der Doppelung in Erwachsenen- und Kindheitszeichen entgeht, ereignet sich der Einbruch in die Dimension des aller Reflexion Entzogenen. Im Erinnerungszeichen, zu dem der eine, unbezügliche Name wird, versinkt die Distanz, die die anderen gleichermaßen enthüllenden und verbergenden Namen aufrechterhalten hatten. Völlig zu Recht spricht Bloch von der »sinnlich planen Gewißheit«, die mit dem Aussprechen des Namens gegeben ist. 31 Gegenüber einer Erinnerung, die mit dem deutlichen Bewußtsein vom vordergründigen Ablauf der Geschichte eine dumpfe Ahnung untergründiger Korrespondenzen verknüpft, tritt hier mit einem Schlag völlige Klarheit über das Wesen

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Ebd., S. 20. Im ganzen Text spielen die Mütter keine Rolle, weder die Mutter Eckberts, noch die Berthas, noch die Frau des Hirten als Pflegemutter. Die einzige mütterliche Gestalt ist somit die Alte. Ebd., S. 13. » ( . . . ) er strengte sich sehr an, mir nachzukommen, aber er mußte zurückbleiben.« Vgl. Bloch, S. 239. Tieck, Märchen, S.20. Bloch, S. 240.

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und die Bedeutung der Vergangenheit ein. 32 Die Echowirkung weist immer auf eine Ferne, aus der das Vergangene nachhallt, und erhält so die Trennung von gegenwärtigem Bewußtsein und Vergangenheit aufrecht: die Wahrheit glimmt nur wie ein trübes Licht hie und da im Dunkel auf. Mit dem Namen des Hundes, den Walther so beiläufig erwähnt hatte, ist sie auf einmal in die frühere Welt zurückversetzt. 33 Diese plötzliche hypermnetische Deutlichkeit, die sich über einem scheinbar belanglosen, vergessenen Detail ergibt, wirkt hier jedoch nicht beglückend. Bertha stellt sich selbst in dieser von außen gegebenen Erinnerung im Moment ihres Verrats, d. h. des erst aufkeimenden und noch gar nicht »deutlich bewußten« Entschlusses zu Diebstahl und Flucht. Walthers Satz ist im Präsens gesprochen (»ich kann mir euch recht vorstellen, wie ihr den kleinen Strohmian füttert«); er versetzt sie schockartig in jenen Morgen zurück, an dem, wie sie gesagt hatte, ihr fast war, »als wenn mein Vorhaben schon vor mir stände, ohne mich dessen deutlich bewußt zu sein. Nie habe ich des Hundes und des Vogels mit einer solchen Emsigkeit gepflegt«.14 Der tödliche Schreck, den Walthers Satz Bertha versetzt, rührt daher, daß er mit dem — oberflächlich betrachtet — unwichtigen Namen und der Anspielung auf eine scheinbar beliebige Situation eine Gemütslage grell beleuchtet, die damals noch gar nicht deutlich erfaßt war. Nur weil ihr derart von außen ein ihr selbst beim ersten Mal nicht präsentes (im Sinne von gegen-wärtig, reflexiv erfaßt) Inneres wiedergegeben wird, trifft der Schlag sie auch im Innersten. Tiecks Märchennovelle mit dem gar nicht märchenhaften Schluß 35 spielt ständig an auf die Märchenstruktur der kindlichen Wünsche, die das Leben prächtig erfüllt. Aber das Verhältnis von >Ahndung< und >Erfüllung< wird stufenweise verkehrt. Berthas Leben wäre im alten Wortsinn >romantisch< gewesen, hätte sie in Eckbert den »überaus schönen Ritter« aus ihrer Lektüre wiedergefunden; stattdessen weist der Text auf eine Ernüchterung. Als sie ins Dorf zurückkommt, hat sie die wunderschönen »Kiesel«, die sich in Edelsteine verwandeln, in Form der Vogeleier bei sich, aber »jetzt war alles umsonst«. Anstelle der Wünsche und unschuldigen Phantasien führt das spätere Leben immer wieder den verhängnisvollen Wendepunkt herauf, am erschreckendsten dort, wo völlig unvorbereitet nicht die bewußte Tat, sondern die noch nicht gewußte Absicht wiedererweckt wird. Der Abstand 32

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Daß eben nicht nur der entfallene Name sich wieder einstellt, sondern all ihre Erinnerungen an das eben Erzählte ihren Charakter verändern, erst eigentlich zu Erinnerungen werden, deutet Bertha selbst an: » ( . . . ) als mir ein fremder Mensch so zu meinen Erinnerungen verhalf.« Vgl. Bloch, S. 241. Tieck, Märchen, S. 14; Hervorh. M. K. Zur Gattung des Blonden Eckbert vgl. H. Schlaffer, Roman und Märchen. Ein formtheoretischer Versuch über Tiecks Blonden Eckbert. In: Segebrecht (Hg.), Tieck (WdF). Darmstadt 1976, S. 444-464.

zwischen Erfüllung der unschuldigen Wünsche und Bestrafung der verbotenen Regungen scheint dabei nicht übergroß zu sein. Das Verlassen der Kindheitswelt war vorgesehen, die Schuld besteht darin, zu früh und in Form eines gewaltsamen Bruchs gegangen zu sein, das Unnütze liegengelassen zu haben und ihre Gaben mißbräuchlich zu verwenden. >Kindheit< und >Erinnerung< im Blonden Eckbert weisen vielfach zurück auf Ergebnisse der »Erfahrungsseelenkunde«. Wie bei Moritz ist die Kindheit angesiedelt in einer archaischen Natur, an deren Horizont die umfangende und alles Leben gebärende Steinwelt sichtbar wird (»blaue Berge«, »Brunnenschacht«). Wesentlich komplexer aber, als bisher zu zeigen war, gestaltet sich bei Tieck das Verhältnis von bewußter Reflexion auf die Vergangenheit und ihrem untergründigen Nachwirken. Entscheidend ist zunächst das Auseinandertreten von Kindheit und Erwachsenenalter, deutlich in der Zweiheit der Personen, Eckbert und Bertha, deren »Vermählung« nicht mehr so recht gelingen will (Kinderlosigkeit). Berthas Aufbruch war schon ein Auseinanderreißen von Zusammengehörigem (Hund und Vogel); ihr Eintritt in die alltägliche Welt der Erwachsenen wird zu einem gewaltsamen Abschieben, Verdrängen der Erinnerung an die wunderbare Kindheit (Ermordung des Vogels). Bertha und Eckbert stellen die Erzählung der Jugendgeschichte unter den Anspruch, »dem Freunde das Innerste aufzuschließen«; 36 das Innerste aber wird ihr nach der Verdrängung gerade erst durch ein beiläufiges Zeichen, das das >Alte< in ihre Gegenwart entsendet, von außen gegeben. Die in der Erzählung objektivierte Vergangenheit ist, mit anderen Worten, nicht das Innerste, sondern die Schicht, die es verbirgt und nur dumpf anklingen läßt. Bei Tieck liegt, unter negativen Vorzeichen, der Akzent ganz auf dem, was vergessen worden ist und von keiner Anstrengung des Bewußtseins wieder hervorgeholt werden kann. 3 7 Im Namen »Strohmian« strömt das ganze affektive Leben der Kindheitswelt zusammen, die in Tiecks Topographie durch weite Wege von der Alltagswelt getrennt ist. Trotzdem gibt es Verbindungen; auf Berthas Flucht in die wirkliche Welt klingt immer, wenn sie »ruht«, das Lied des Vogels auf, und sie »erinnerte« sich dabei »recht lebhaft des schönen verlassenen Aufenthalts«. 38 Diese Momente des Innehaltens werden aber später zu Schockgebärden; mit dem Mord an dem Vogel ist die Erinnerung getilgt und der Ubergang in die Alltagswelt, stilistisch deutlich als Ernüchterung, vollzogen. Der >Verrat< an der Kindheit, das Nicht-Mitnehmen, Nicht-Wiederaufnehmen, das dann in zwanghafte Wiederkehr des Verdrängten umschlägt, 36 37

38

Tieck, Märchen, S. 4. »Ich habe mich immer nicht wieder auf den seltsamen Namen des Hundes besinnen können, so oft ich ihn auch damals nannte«, ebd., S. 12. Ebd., S. 16.

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betrifft vor allem jene Ernüchterung oder Einschränkung, die der Übergang ins sogenannte eigentliche Leben< mit sich bringt. Bertha verläßt in der Alten nicht den U r s p r u n g als Längstüberwundenes, sondern als O r t einer »ewigen Bewegung«, Quelle allen Lebens. Mit einem Musilschen Begriff könnte man davon sprechen, daß mit der Abwürgung der Kindheit der »Möglichkeitssinn« verraten wird. V o n der Unendlichkeit von Ahnungen werden kleinliche Erfüllungen in Kauf genommen. A n die Stelle einer Glücks-Struktur von frühen Versprechen und späterer Einlösung tritt die Rache der abgebrochenen Vergangenheit, indem sie plötzlich in ihrem affektiven Gehalt in ein Bewußtsein einbricht, das sein Kalkül nicht mit dem kindlichen Sinn vereinbaren kann und darüber zerbricht. Bertha hat von ihrer Vergangenheit erzählen können, mit ihren »plötzlich wiedergegebenen Erinnerungen« aber kann sie nicht weiterleben.

II.3 Transzendentale Erinnerung: Novalis Moritz' Selbstbeobachtungen und das Märchen von Tieck kreisen um das Problem der Erinnerung an eine Kindheitsfrühe, die — unmittelbar an einem ursprünglichen Lebensquell angesiedelt — davon noch zu künden weiß, aus dem späteren Leben heraus aber nicht ohne weiteres wiedergefunden werden kann. Ein besonderes Interesse besteht an den vorbewußten Zeiten 3 9 der eigenen Lebensgeschichte, die, in der Bildlichkeit der Metem39

D e r Begriff des »Vorbewußten« wird hier ganz deskriptiv eingesetzt. In den Autobiographien der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts wird durchgängig eine Zäsur zwischen den »bewußtlosen« frühen Jahren und dem Einsatz des bewußten Lebens angesetzt. Interessant ist hierbei, wie der Beginn des bewußten Lebens und der Zeitpunkt der frühesten Erinnerung aufeinander bezogen werden. Für Rousseau fallen früheste Erinnerung, Eintritt des Selbstbewußtseins und Lesenlernen (also nicht Spracherwerb, sondern die Beziehung auf sichtbare äußere Zeichen) zusammen: »Ich fühlte, ehe ich dachte; ( . . . ) Ich weiß nicht, was ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahre tat. Ich weiß nicht, wie ich lesen lernte; ich erinnere mich nur meiner ersten Lektüre und ihrer Wirkung auf mich. Von dieser Zeit an datiere ich ohne U n terbrechung das Bewußtsein meiner selbst.« (Conf. S. 12) In zwei der bekanntesten deutschen Autobiographien aus dieser Zeit, Seumes Mein Leben und Ulrich Bräkers Lebensgeschichte (...) des armen Mannes in Tockenburg wird die »früheste deutliche Erinnerung« (Seume, Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1961, S . 6 ) bzw. »mein fernstes Denken« (Bräker, Reclam-Ausgabe, Stuttgart 1965, S. 15) gleich zu Beginn thematisiert. Besonders bei Bräker fällt auf, daß der erinnerte Inhalt belanglos ist, das Interesse eindeutig auf die Reichweite und Atmosphäre der Erinnerung geht. Im Unterschied zu Rousseau wird dieser früheste Punkt der Erinnerung jedoch im Rückblick nicht eindeutig mit einem bestimmten abgrenzbaren Stadium der kindlichen Entwicklung zusammengebracht. Deutlich ist jedenfalls, daß neben der Verpflichtung, die frühe Geschichte wiederzugeben, für die Erzählungen von Anderen so gut wie eigene Erinnerungen als Q u e l l e dienen können, das Bedürfnis hervortritt anzugeben, was wirklich allein dem eigenen Bewußtsein zu

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psychosenlehre, am innigsten den Kontakt mit der Sphäre der Präexistenz gewahrt haben. Die folgende Skizze des Gedächtnis-Begriffs Hardenbergs soll diese Vorstellungswelt in einen allgemeineren, begrifflichen Rahmen stellen. Da ohne den Hintergrund der Diskussion um die Begriffe des »Ich«, des »Selbstbewußtseins« im ausgehenden 18. Jahrhundert kaum verständlich werden kann, was Novalis mit »Gedächtnis« meint, fasse ich zunächst die wichtigsten Stationen dieser Diskussion zusammen.40 Nach Kant kommt Selbstbewußtsein derart zustande, daß das denkende Subjekt von allen besonderen, welthaften Gegenständen des Denkens abstrahiert und sich auf sich als den Denkenden dieser Gedanken zurückwendet. Ersichtlich begegnet mit der zweistelligen Relation, in der das IchBewußtsein entstehen soll, eine Schwierigkeit, die Kant als »Unbequemlichkeit« für das Denken allerdings dem Sachverhalt selbst angelastet hat. Denn es ist die besondere Beschaffenheit dieser Vorstellung des Ich, daß »wir uns ( . . . ) (dabei) in einem beständigen Zirkel herumdrehen, indem wir uns seiner Vorstellung jederzeit schon bedienen müssen, um irgend etwas von ihm zu urteilen; eine Unbequemlichkeit, die davon nicht zu trennen ist (. . .)«. 41 Wir müssen uns des Ich »bedienen«, heißt soviel wie: um in jenem Akt der Abstraktion mich als Subjekt meiner Gedanken festzuhalten, bin ich immer schon als Subjekt dieses Gedankens vorausgesetzt, worauf ich in einer weiteren Stufe reflektieren könnte, auf der das Ich als Subjekt dieser Reflexion schon da sein müßte usf. Dieser von ihm selbst konzedierte Zirkel ist für Kant nur Beweis, daß das »Ich« nicht der Welt der Objekte verdanken ist: Seume und Bräker unterscheiden hier genau. Goethes allgemeine Bemerkung am Anfang von Dichtung und Wahrheit könnte in diesem Zusammenhang als Kritik einer allzu selbstgefälligen Tendenz der zeitgenössischen Autobiographie gelesen werden: »Wenn man sich erinnern will, was uns in der frühesten Zeit der Jugend begegnet ist, so kommt man oft in den Fall, dasjenige, was wir von andern gehört, mit dem zu verwechseln, was wir wirklich aus eigner anschauender Erfahrung besitzen. Ohne also hierüber eine genaue Untersuchung anzustellen, welche ohnehin zu nichts führen kann, bin ich mir bewußt, daß wir in einem alten Haus wohnten, welches eigentlich aus zwei durchgebrochenen Häusern bestand.« Hamburger Ausg., Bd. 9, S. lOf.

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Die Formel, die für seine > Vorgängen gerade das Problem darstellte, leitet bei Goethe apodiktisch zu dem Nebensatz hin, der den Sachverhalt bringt: » . . . bin ich mir bewußt, daß...«. Die folgenden Ausführungen zu Kant und Fichte orientieren sich vor allem an den unten angeführten Arbeiten von Dieter Henrich, die Novalis-Darstellung durchgängig an Manfred Franks Buch über Das Problem >Zeit< in der deutschen Romantik. München 1972 (im folgenden Frank, Zeit). Daß das vorliegende Buch den Publikationen von Manfred Frank sehr viel verdankt, ist nicht nur in den Ausführungen zur Romantik unübersehbar. Persönlich möchte ich Manfred Frank danken für sein Interesse an meiner Arbeit und für die Hilfe und Ermutigung, die er mir im Gespräch gegeben hat. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. W. Weischedel, Bd. 2, S. 344.

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angehört, in der es die rationale Psychologie des 18. Jahrhunderts angesiedelt hatte. Denn es tritt niemals ganz als faßbarer, objektiver Sachverhalt ins Blickfeld, weil das gedachte Ich, dessen man sich versichern will, immer um das Ich, das es denken muß, gleichsam >vermindert< ist und also unvollständig. Dieser Sachverhalt des vorauszusetzenden Subjekts läßt sich deshalb umgekehrt so formulieren: die Vorstellung des »Ich denke« ist nicht gegeben wie irgendein Gegenstand der sinnlichen Anschauung, sondern sie muß als »Actus der Spontaneität« (B 132) herbeigeführt werden von jenem Subjekt, das nur das Ich sein kann. Das Bewußtsein »Ich denke« ist keines, das zufällig bei völliger Passivität >ins Blickfeld treten< würde, sondern es geht zurück auf den Entschluß, sich selbst unter Absehung von allem Äußeren zu erfassen. Es tritt, wie Henrich schreibt, »zwar spontan, aber nicht grundlos ein«. 4 2 Daß Kant die Rückbeugung auf sich selbst auf jeden Fall als Tätigkeit verstanden wissen wollte, geht auch aus einer anderen Notiz hervor, die Henrich zitiert: Der Ausdruck >Ich denke* (dies Objekt) zeigt schon, daß ich in Ansehung der Vorstellung nicht leidend bin. 43 [D. h. es handelt sich um ein Bewußtsein der eigenen Tätigkeit, um die Selbstvorstellung der Spontaneität, die deshalb auch von der Spontaneität ins Werk gesetzt sein muß.]

Fassen wir die Kantsche Position in aller Kürze zusammen: Selbstbewußtsein kommt zustande in einem Akt, in dem ich unter Absehung von allen besonderen Vorstellungen mich auf mich als das Subjekt dieser Vorstellungen zurückbeuge. Das Ich als denkendes Subjekt muß dabei immer schon vorausgesetzt sein, denn es ist ja auch das denkende dieses Gedankens und kann also niemals für sich allein auf der Objektseite auftauchen. Die Fichtesche Konzeption des Ich scheint zunächst vor allem der Aversion gegen eine Theorie zu entspringen, die Selbstbewußtsein durch abstrahierende Rückwendung auf das Denken gleichsam als Derivat der gegenständlichen Vorstellungen Zustandekommen läßt. Wiederholt polemisiert Fichte gegen die »Kantianer«, die das Ich aus einer Vielfalt verschiedener Vorstellungen »zusammenstoppeln« 44 und das ursprüngliche Bewußtsein, für das ja alle Objekte — qua Gegenstände der Erfahrung — sein müssen, zum nachträglichen Phänomen machen. Der Hieb richtet sich von der Logik der Sache her aber zugleich gegen Kant selbst. Denn man könnte als >Zwang zum Zusammenstoppeln< Kants Hinweis deuten, das »transzendentale Subjekt der Gedanken« werde »nur durch die Gedanken, die seine 42

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D. Henrich, Identität und Objektivität. Eine Untersuchung über Kants transzendentale Deduktion. Heidelberg 1974, S. 60. Kant, Reflexionen 4220. Zitiert nach Henrich, Fichtes ursprüngliche Einsicht. In: D. Henrich (Hg.), Subjektivität und Metaphysik. Festschrift W. Cramer. Frankfurt/M. 1966, S. 188-230. Zitat S. 192. Vgl. Fichte, Werke I, S.433; S.475; S. 503.

Prädikate sind«, erkannt (d. h. das >Ich denke< existiert nur als die Einheit der vielen besonderen Gedanken in einem Bewußtsein, es wird transparent nur als die Eigenschaft dieser Gedanken, in gleicher Weise einem Bewußtsein angehörig zu sein) 45 , und wir hätten »abgesondert« davon »niemals den mindesten Begriff« (KrV, S. 344). Daß tatsächlich aber ein ursprüngliches Wissen des Ich von sich besteht, Selbstbewußtsein deshalb nicht in einer Rückbewegung (Rückbeugung) von der Objektwelt, sondern in einer O b jektivität erst konstituierenden eigentümlich >innigen< Bewegung erfaßt werden muß, ist, in aller Vereinfachung und Vergröberung gesagt, der Ansatzpunkt der Fichteschen Ich-Theorie. In der 'Wissenschaftslehre nova methodo von 1797 und dem etwa gleichzeitig entstandenen Versuch einer neuen

Darstellung

der WL hat Fichte

seine Grundüberlegung als direkte Anknüpfung an Kants Zirkel formuliert (in der nicht für die Veröffentlichung bestimmten Vorlesung unter N e n nung von Kants Namen, in der im Philosophischen Journal

erschienenen

Abhandlung ohne Erwähnung des großen Lehrers, den er nur adäquat zu verstehen, nicht zu korrigieren vorgab): (.. .) um deines Denkens dir bewusst zu seyn, musst du deiner selbst dir bewusst seyn. Du bist — deiner dir bewusst, sagst du; du unterscheidest sonach nothwendig dein denkendes Ich von dem im Denken desselben gedachten Ich. Aber damit du dies könnest, muss abermals das Denkende in jenem Denken Object eines höheren Denkens seyn, um Objekt des Bewusstseyns seyn zu können; und du erhältst zugleich ein neues Subject, welches dessen, das vorhin das Selbstbewusstie^n war, sich wieder bewusst sey. Hier argumentiere ich nun abermals, wie vorher; und nachdem wir einmal nach diesem Gesetze fortzuschliessen angefangen haben, kannst du mir nirgends eine Stelle nachweisen, wo wir aufhören sollten; wir werden sonach ins unendliche fort für jedes Bewusstseyn ein neues Bewusstseyn bedürfen, dessen Object das erstere sey, und sonach nie dazu kommen, ein wirkliches Bewusstseyn annehmen zu können.46 Dieser Einwurf ist aber nur dadurch zu heben, daß man etwas findet, bei dem das Bewusstseyn Object und Subject zugleich wäre, dass man also ein unmittelbares Bewusstseyn aufstellte.47 Der Beginn dieses Passus basiert bereits auf einem zentralen Gedanken Fichtes: Es wäre unsinnig anzunehmen, daß irgendetwas gedacht, also bewußt gemacht werden könnte durch >Aufnahme< in eine Dimension, die 45

46 47

Ich übergehe hier die komplizierte Unterscheidung von analytischer und synthetischer Einheit des Selbstbewußtseins. Strenggenommen geht es für Kant nicht nur um die für jede Vorstellung gleichermaßen gültige Zugehörigkeit zu meinem Bewußtsein, sondern zugleich um die Verknüpfung der Vorstellungen untereinander., in der das Bewußtsein als Einigungsbewußtsein in geregelten Ubergängen von einer Vorstellung zur andern sich durchhält. Vgl. Henrich, Identität und Objektivität. Fichte, Werke I, S. 526. Fichte, Wissenschaftslehre nova methodo. Ed. Jacob, Bd. II (Nachgelassene Schriften), S.356.

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selbst unbewußt wäre. Das Moment der Bewußtheit, die Kenntnis dessen, daß, wenn Bewußtsein von etwas besteht, Bewußtsein besteht, kann nicht von den gewußten Gegenständen herkommen (eine der magischen Implikationen der Widerspiegelungstheorie). Das führt der dem Zitat unmittelbar vorangehende Satz aus: »Indem du irgendeines Gegenstandes ( . . . ) — es sey derselbe die gegenüberstehende Wand — dir bewusst bist, bist du dir eigentlich deines Denkens dieser Wand bewusst, und nur inwiefern du dessen dir bewusst bist, ist ein Bewusstseyn der Wand möglich.« Bewußtsein meines Denkens aber impliziert Selbstbewußtsein. Faßt man dieses Selbstbewußtsein im Anschluß an Kant als Objektivierung eines »gedachten Ich« durch ein »denkendes Ich« (also als Reflexion), gibt es Schwierigkeiten. Denn das denkende Ich, in dem dieses die Wand denkende Ich gedacht werden soll (das damit zum Bewußtsein seiner selbst kommen soll, was wiederum Voraussetzung der Bewußtheit des Gegenstandes >Wand< ist), müßte seinerseits in einem höheren Bewußtsein bewußt gemacht werden (denn es muß ja ebenso Bewußtsein seiner Tätigkeit sein, damit es etwas bewußt haben kann). Für dieses nächsthöhere Bewußtsein würde selbstverständlich die gleiche Überlegung gelten usf. Bewußtsein käme so nie zustande, da aber Bewußtsein ist, wie Fichte fortfährt, ist man auf die Annahme eines »unmittelbaren Bewußtseins« angewiesen. Damit ist gemeint, daß das Bewußtsein nicht auf die Vermittlung einer Reflexion angewiesen ist, um Kenntnis von sich zu haben: »Das Bewusstseyn meines Denkens ist meinem Denken nicht etwa ein zufälliges, erst hinterher dazugesetztes, und damit verknüpftes, sondern es ist von ihm unabtrennlich ( . . .)«. 48 Nur daraus, daß die intellektuelle Spontaneität immer schon eine sich unmittelbar vertraute Aktivität ist, kann die Möglichkeit der expliziten Selbsterfassung in der Reflexion erklärt werden. Fichtes Ich-Formeln auf den verschiedenen Stufen der Wissenschaftslehre lassen sich, wie Henrich gezeigt hat, ausgehend von dieser »ursprünglichen Einsicht« begreifen (das gilt auch für die vor 1797 entstandenen Fassungen, in denen nicht in der gezeigten Weise an Kants Zirkel angeknüpft wird). Selbstbewußtsein kann nicht ausgehend von einem Ich-Subjekt gedacht werden, das die Reflexion in vollem Umfang zustandebringen und doch das dafür nötige Wissen erst aus ihr beziehen soll. Um diese >Erschleichungsich selbst setzenden Ich< (die Novalis 48

70

Fichte, Werke I, S. 527; Hervorh. M. K.

bei den Fichte-Studien vorlag) hat vor allem den Sinn, jene Voraussetzung eines faktisch gegebenen, aber in sich ungeklärten Subjekt-Ichs aufzuheben: solange man von einem Denken ausgeht, das synthetisierende Tätigkeit am Erfahrungsmaterial ist und dann auch sich selbst thematisieren kann, bleibt die Frage offen, woher das besondere Wissen, das diese Gegenstandsbeziehung erfordert, genommen wird. Beim Ich, das »schlechthin sich selbst setzt«,49 entsteht dagegen das denkende Ich zugleich mit dem gedachten Ich aus einem Akt der Freiheit und ist insofern voraussetzungslos. Das ist nach Henrich der Sinn der von Fichte nirgends explizierten Rede vom »Setzen« : »Wenn irgendeine Sache >gesetzt< wird, so kann dem nichts vorausgehen, was zu ihrer eigenen Existenz gehört. Der Akt des Setzens und dies, daß sie gesetzt ist, machen einen Sachverhalt aus. Insofern sind die konstitutiven Elemente dessen, was gesetzt wird, ursprünglich und gleichzeitig gegeben«.50 Mit dem aus Freiheit bewirkten Eintritt dieses Handelns sind also Denkendes und Gedachtes und das Wissen ihrer Identität sogleich >wie mit einem Schlag< da. Das »Ich«, das sich selbst setzt, darf nicht als ein dem Selbstbewußtsein zeitlich vorausgehendes »Handeln überhaupt« gedacht werden. Die intellektuelle Spontaneität, wo sie in Erscheinung tritt, ist immer bestimmtes Handeln, hat unabweislich mit dem Handeln das Resultat, mit dem In-Kraft-Treten der Aktivität das reflexive Wissen bei sich (Henrich illustriert das gleichzeitige Verhältnis dieser Produktion und ihres Produkts am Bild von Strom und magnetischem Feld51). Fichtes grundlegender Akt beschreibt also einen Impuls, der gleichsam instanten mit der Auslösung in sich zurückläuft. Die Rede vom >in sich Zurücklaufen (Fichtes »in sich zurückgehendes Handeln«) indiziert aber, daß trotz zeitlicher Ungeschiedenheit eine Unterscheidung vorgenommen wird zwischen dem Handeln (dessen sich die Spontaneität dank ihres unmittelbaren Wissens von sich bewußt ist) und dem, was durch den >Aufprall< dieses Handelns auf sich entsteht: die deutliche Erkenntnis seiner selbst. Nur aufgrund dieser Unterscheidung kann Fichte davon reden, daß im Akt des Selbstbewußtseins sich das Ich als durch sich hervorgebracht, sich als »Grund« seines Wissens von sich erfährt. Wie diese Unterscheidung von hervorbringender Tätigkeit und hervorgebrachtem Wissen bei gleichzeitigem und unablöslichem Zusammensein der beiden Momente zu denken ist, kann als das zentrale Problem von Fichtes Philosophieren bezeichnet werden. Das Ich soll sich als Ursprung seiner selbst erfahren. Es kann eine Anschauung seiner selbst aber nur haben, 49 50

51

Ebd., S. 96. D. Henrich, Fichtes >IchsiehtAufbruch< und >Reise< zu bleiben: Das Bewußtsein in allen seinen Modifikationen ist immer schon unterwegs. Auch das Gefühl ist »Tendenz« zu dem, was in der Reflexion als »Produkt« deutlich hervortritt (Nov. II, S. 114) und insofern mit der Reflexion in »Wechselwirkung« (ebd.). Immer ist dabei das Absolute nurmehr als »Gehalt« wirksam, der die auseinandertretenden bzw. auseinandergetretenen Glieder zu identifizieren erlaubt. »Das Offenbarende erzeigt ex negativo seine Wirksamkeit darin, daß es das Ich als mit dem Sich in einer übergeordneten >Sfäre< identisch, trotz der Abtrennung, erkennen läßt: >Aus dem Produkt läßt sich nach dem Schema der Reflexion auf den Producenten schließen^« 59 56 57

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Fichte, Werke II, S. 225. Novalis spricht von einem »Gesetztseyn durch ein Nichtsetzen« (Nov. II, S. 125), ein Haben von etwas in der Erfahrung, in dem kein Auseinandertreten von Habendem und Gehabtem stattfindet. Frank, Zeit, S. 146. Ebd., S. 146; Hervorh. M. K.

Auf diese Weise ist nicht mehr wie bei Fichte die Anschauung des gründenden Aktes, in dem die differenten Glieder und ihre Synthesis zugleich hervortreten, der höchste Punkt der Philosophie. Indem von Novalis alles, was für das Bewußtsein zugänglich ist, von einem unzugänglichen Grund reinen In-sich-Seins abgetrennt wird, kann die unmittelbare Anschauung der freien Tätigkeit der Intelligenz nicht mehr für ihre reflexive Selbsterkenntnis verantwortlich gemacht werden. Selbst das »Gefühl« kann die anfängliche Zweiheit nicht begründen. D a es Gefühl des Einen — damit aber schon tendenziell· Wissen — ist, das in der Reflexion deutlich sich als Subjekt und Objekt gegenüber steht, faßt Novalis es als Identitätsmoment, das im Akt des Selbstbewußtseins mit der Reflexion als Differenz moment durch eine höhere, dem Bewußtsein seinerseits entzogene Einheit vermittelt wird. 60 »Denken« und »Fühlen« werden so von Novalis in einen dialektischen »Zusammenhang« gestellt, der »immer seyn (muß)« (Nov. II, S. 117). Das Denken entwickelt die »Form«-Seite der Beziehung zweier Glieder, in der Selbstbewußtsein zustande kommt, das Fühlen die »StoffTendenz Verteilung« auf diese zwei Pole wird notwendig, weil es zunächst ein reines, in sich beschlossenes Sein und Bewußtsein dieses Seins nicht zugleich geben kann und weil in der Dimension, in der Bewußtsein von etwas zustande kommt, das Moment der Selbigkeit nicht zugleich mit dem des Gegensatzes entfaltet werden kann, Einheitsgefühl (Stoff) und Erkenntnis von sich (Form) also auseinandertreten. Die alles in sich befassende Einheit macht sich darin geltend, daß jedes der beiden Momente des anderen zu seiner Realisierung bedarf: Das Unbedingte schlechthin, welches beydes, Setzen und Nichtsetzen, und auch keins von beyden ist, vereinigt sie schlechthin in sich — ( . . . ) Beide Triebe sind in der intellectualen Anschauung zugleich unbefriedigt — daher ihr Bedürfniß — das Gefühl bedarf in seinem Endpuncte Form-/Form f ü r die Sehkraft gleichsam/die Reflexion Stoff um Form seyn zu können. (Nov. II, S. 125)

Die relativ handgreifliche Bildlichkeit in diesem Abschnitt kann noch einmal verdeutlichen, welchen Status das »Gefühl« in Hardenbergs Philosophie hat. Es wird prinzipiell in Anschlag gebracht als reines, selbstloses, ganz und gar >zuständliches< (d. h. nicht-gegen-ständliches) Bewußtsein. Wenn es derart ganz im reinen Sein der Intelligenz aufgeht, ist das Gefühl aber blind: es >sieht< nichts, weil ihm ja nichts entgegensteht. Deshalb bedarf es »in seinem Endpuncte Form« - die Formulierung vom »Endpunkt« 61

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Frank, Zeit, S. 155.

impliziert, daß das Gefühl zuletzt die »Sehkraft« erhält, Gefühl von etwas wird, den Augenaufschlag aber noch als die »Wirkung« eines Vorangegangenen, das »Ursache« des Sehenkönnens ist, verspürt. Dies Vorangegangene ist die »Urhandlung«, die auf diese Weise das dem Gefühl »Gegebne« ist (Nov. II, S. 114). Daß der Anfang des Bewußtseins sich an einem »Endpunkt« findet, die »Sehkraft« im Augenaufschlag als »Wirkung« das, was ihr die Augen geöffnet hat, verspürt, ohne es seinerseits in den Blick zu bekommen, weil es mit dem Eintritt des Sehens schon vergangen ist, läßt Hardenberg in den späteren Aufzeichnungen den Begriff des »Gefühls« durch den des »Gedächtnisses« ersetzen. Dem >Anfang< des endlichen Bewußtseins wird etwas »vorausgesetzt«, was sich diesem Bewußtsein nur im Entschwinden offenbart. Der in die Endlichkeit verwiesene Geist weiß von dieser Vergangenheit, ohne sie jemals erreichen zu können. Der Modus dieses Wissens ist — nach einem Ausdruck Friedrich Schlegels — »transcendentale Erinnerung des Ewigen im menschlichen Geiste«, 62 im mythologischen Bild Mnemosyne, die nun auch die Mutter der romantischen Musen ist: »Die höheren Mächte in uns, die einst als Genien unsern Willen vollbringen werden, sind jetzt Musen, die uns auf dieser mühseligen Laufbahn mit süßen Erinnerungen erquicken« (Nov. VI, S. 564), schreibt Novalis in den Fragmenten oder Denkaufgaben aus dem Jahr 1798. Aufschlußreich ist in der zitierten Aufzeichnung auch der Hinweis auf die »intellectuale Anschauung«, in der beide Triebe »unbefriedigt« seien. Das Gefühl hat darin bereits eine erste Entgegensetzung erfahren und ist nicht mehr reines Gefühl, was es aber zu sein beansprucht; die Reflexion hat, solange das Aktbewußtsein unmittelbare Einheit der differierenden Glieder Subjekt und Objekt ist, ihr Bedürfnis nach einer deutlichen Ausformung der Entgegensetzung nicht befriedigt: »Deutlich wird etwas nur durch Repräsentation« (Nov. IX, S. 246). Wieder aber zeigt sich in der scheinbaren Gegenstrebigkeit die vermittelnde Kraft. Denn die Reflexion belehrt durch die explizite Formulierung der Subjekt-Objekt-Spaltung das Gefühl erst darüber, daß eine Entgegensetzung stattgefunden hat. Dem Gefühl »scheint« es nämlich, als erfahre es in seinem beschränkten Bewußtsein die reine Tätigkeit der Spontaneität, als »gienge es« also »vom Beschränkten zum Unbeschränkten« (Nov. II, S. 114), während es sich in der Tat um eine Selbstbeschränkung des Absoluten (»ein Schreiten des Unbeschränkten zum Beschränkten«, ebd.) handelt. In der Reflexion scheint dann vom Standpunkt des endlichen Bewußtseins aus diese reine Aktivität bestimmt, festgelegt zu werden (»ein Schreiten vom Unbeschränkten zum Beschränkten«, S. 115), während in der Tat erst durch die Reflexion die Form 62

F. Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. X, S. 399.

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der Entgegensetzung ins Wissen kommt und damit die Tatsache, daß bereits das Gefühl nicht ganz in der Fülle des Seins stand, sondern durch eine »erste Reflexion« von ihr abgespalten war. 63 Indem die Reflexion verdeutlicht, daß das Unbeschränkte nicht >ungeformt< (man möchte sagen: nicht undeformiert) im Bewußtsein vorkommt, stellt sie negativ die Wahrheit des Absoluten wieder her. Das Verhältnis von Gefühl und Reflexion soll abschließend an einem längeren Passus noch einmal erläutert werden. Das Zitat zeigt, in welcher Weise die Schwierigkeiten, die die Fichte-Studien dem Verständnis bereiten, auch daher rühren, daß bei Novalis die »Wechseleinheit« im untersuchten Phänomen als Ineinander-Ubergehen der Begriffe wiedererscheint. Wenn der Verfasser auch selbst wenig später im Rückblick auf diese Gruppe von Aufzeichnungen bemängelt, daß »im Vorhergehenden ( . . . ) alles noch auf eine sehr verwirrte Art deduciert« sei (Nov. II, S. 124), so scheint die >Wirre< im folgenden Passus weniger einem Mangel an Begriffsschärfe als einer durchaus spielerischen Lust an der sprachlichen Realisierung der >Hin- und Herdirection< im Bewußtsein zu entspringen.

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Wir müssen überall auf die Synthese des Gefühls und der Reflexion stoßen, der nichts mehr entgegengesetzt wird und werden kann. Wenn Gefühl Was ist, so ist Reflexion nichts und der Mensch ist die Synthese — und so umgekehrt. Beydes kann aber nur in der Reflexion statt finden, also nothwendig im Was — in der Hälfte, die just Realität ist — also ist beyde mal das Nichts ein Nichts — also ein Was — dis ist eine Täuschung der Wechselwirkung. Die Reflexion ist Nichts — wenn sie Was ist — sie ist nur für sich Nichts — So muß sie also doch Was dann seyn. Das Gefühl ist Nichts, wenn es in der Reflexion Was ist —/ Außer dieser Reflexion gleichsam ist es nichts. /In dieser Reflexion muß das Gefühl immer Was und die Reflexion Nichts seyn/

Frank hat an einer in den Fichte-Studien späteren Terminologie diesen Gedanken sehr bündig dargestellt: »Die erste Reflexion [des Gefühls] verwandelt ( . . . ) das zuständliche Sein, dem das reine Gefühl innewohnt, als Form desselben, in Schein [vgl. Nov. : »die Form des Seyns ist Nichtseyn« (Nov. II, S. 181) oder eben Schein], schaut ihn aber als Realität an. Die zweite Reflexion als die >Form des Nichtseyns< (181) [die deutliche Formulierung des Seinsverlusts, der in der Selbstbezüglichkeit des Gefühls schon da war] stellt das ursprüngliche Verhältnis dadurch wieder her, daß sie, was ihre Realität zu sein schien, abermals negiert [nämlich als bloßen Reflex bezeichnet] und so auf das ursprüngliche >Seyn< hin überschreitet« (Frank/Kurz, O r d o inversus, S. 79).

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Wenn in der Reflexion die Reflexion Was ist und das Gefühl Nichts, so ist es in der That umgekehrt, so ist das Gefühl Was und die Reflexion Nichts. Beydes soll aber in der Reflexion statt finden. — Folglich müßte das Eine immer in einer andern Reflexion geschehn, wenn das Andre in einer andern geschähe. Die anscheinende Folge, oder die reale Reflexion begründete die Ursache, die ideale Reflexion [ . . . ] (Nov. II, S. 118)

1. Novalis entwickelt zunächst den Konnex der gegenseitigen >Vernichtungc »Wenn Gefühl Was ist, so ist Reflexion nichts ( . . . ) — und so umgekehrt«. Das ist gleichsam die Selbsttäuschung, der beide verfallen, wenn sie sich zur ganzen Realität aufwerfen. Die Realität des Gefühls läßt nicht ins Bewußtsein treten, daß ein — wie immer auch unmittelbarer — Selbst-Bezug vorliegt: sie hält Reflexion für nichtig. Umgekehrt macht sich die Reflexion in der Sicherheit ihrer Selbstdarstellung nicht bewußt, was ihr denn die Identität der Relate festzustellen ermöglicht. Beide Seiten blenden sich gleichsam aus, »scheinen, für einander, unabhängig zu seyn. ( . . . ) keins merkt hiebey den Einfluß des Andern ( . . . ) « (Nov. II, S. 126). 2. »Beydes kann aber nur in der Reflexion statt finden . . . « , d. h. »in der Sfäre der Urhandlung« (Nov. II, S. 119), der durch eine erste Entgegensetzung bewirkten Trennung von Gefühl und Reflexion. Die unvordenkliche Einheit von Realität des Seins und Idealität des Sich-Erscheinens ist darin bereits zersetzt. So tritt jedes Moment scheinbar rein für sich auf und ist doch das Andere »just« in dieser Gestalt: das Gefühl ist Reflexion (Selbst-/?ez«g), die sich ihrer Reflexivität enthält, die Reflexion ist Gefühl (Selbst-Bezug), das sich zur deutlichen Darstellung bringt. Die Terminologie von »Was« und »Nichts« wird an einer späteren Stelle der Fichte-Studien in sehr klarer Formulierung noch einmal aufgenommen: Reflectirt das Subject aufs reine Ich — so hat es nichts — indem es was für sich hat — reflectirt es hingegen nicht darauf — so hat es für sich nichts, indem es was hat. (Nov. II, S. 137f.)

Unterschieden wird zwischen >Was-Haben< und >Was für sich HabenSfäre der Urhandlung< ist »Reflexion«, eine Reflexion, durch die Fichtes präreflexives Bewußtsein erst zustande kommt. Die objektivierende Erkenntnis seiner selbst wird damit zum akzidentellen Moment Reflexion in der Reflexion überhaupt. Der Begriff »Gefühl« fungiert dementsprechend auf zwei Ebenen, indem zum einen damit das »reine Gefühl« als gänzlich nichtthetisches Bewußtsein (um Franks Terminologievorschlag aufzugreifen65) und zum andern Gefühl in der Reflexion (intellektuelle Anschauung) im Gegensatz zur deutlichen Reflexion gemeint ist. »Reflexion« ist damit als »erste Reflexion« (Setzen des >Selbst< im Gefühl) das, was im Gegensatz zur zweiten, objektivierenden Reflexion »Gefühl« heißt. Diese Doppeldeutigkeit wäre durch eine weitergehende Differenzierung der Terminologie ohne weiteres zu vermeiden gewesen. Novalis aber hält sie bewußt aufrecht, da in diesem Austausch der Plätze, die die Begriffe einnehmen, die Spiegelbildlichkeit des »ordo inversus« direkt sprachlich abgebildet werden kann (die erste Reflexion, die aus der Einheit in die Endlichkeit versetzt, erscheint in der Reflexion als Gefühl des Unendlichen; das reine Gefühl wird in der Reflexion derart wirksam, daß es die Reflexion als Spiegelung entlarvt, aus der Bestimmtheit wieder auf die entzogene Einheit verweist). Reflexion wird so in wörtlichem Sinn als Spiegelung 64 65

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Vgl. Frank, Zeit, S. 146. Ebd., S. 445, Anm. 18.

realisiert, in der eben alles verkehrt herum abgebildet wird: »Das Bild ist immer das Verkehrte vom Seyn. Was rechts an der Person ist, ist links im Bilde ( . . . ) « (Nov. II, S. 142). Novalis arbeitet im folgenden, um diese >Reflexionen< auseinanderzuhalten, auffällig mit dem Demonstrativpronomen. Die Reflexion, von der 21ff. die Rede ist, ist Reflexion als Dimension von Selbstheit. Als Gefühl (»wenn sie Was ist«) ist sie »nur für sich Nichts«, keineswegs Nichts überhaupt. Sie ist Selbstbezüglichkeit (Was) ohne deutliches Für-sich-Sein. Das Gefühl, das »Nichts« ist, »wenn es in der Reflexion Was ist« (22f.), ist das reine Gefühl, das durch die allererste Setzung um seine reine Unbezogenheit gebracht worden ist; es ist dann eben — bildlich gesprochen — die Gefühlsseite »in der Reflexion«, wie sie das endliche Bewußtsein in der intellektuellen Anschauung hat. Nur so aber ist es ihm überhaupt zugänglich: »Außer dieser Reflexion gleichsam ist es Nichts« — das »gleichsam« meint, daß es sehr wohl ist, anders aber nicht erscheint. 5. »/In dieser Reflexion [der >umgreifendenSchickung< ins Reich der Reflexion zurückgetrieben wird, entdeckt es zuletzt etwas, was immer schon als erstes geschehen sein muß, aber vom »Zweyten« aus (d. h. der Bestimmtheit des empirischen Bewußtseins) erst wiedergefunden werden kann. Dies eigentümliche Wiederfinden eines nie wirklich Besessenen — eine der auffälligsten Figuren romantischer Literatur — hat in Hardenbergs Überlegungen eine transzendentalphilosophische Begründung. Die Begriffe »Gefühl« und »Reflexion« wurden deshalb so ausführlich behandelt, weil aus ihnen die späteren Begriffspaare »Erinnerung und Ahndung« (v. a. in dem bekannten Blütenstaub-Fragment) und »Gedächtniß und Verstand« (Brouillon) hervorgehen. Manfred Frank hat im Detail gezeigt, wie Hardenberg durch »die Unmöglichkeit, die Simultaneität einer unverträglichen Synthesis als diese aufrechtzuerhalten«66, allmählich auf die Konsequenz getrieben wird, die Wechseleinheit von Gefühl und Reflexion in der sie vermittelnden »Sfäre« als eine zeitliche Bewegung zwischen den Dimensionen Vergangenheit und Zukunft aufzufassen, in der die Gegenwart die »Schwebung« hält. Vereinfacht läßt sich der Gedankengang, der dieser Konzeption einer >Verzeitlichung des Selbstbewußtseins< zugrundeliegt, so darstellen: die eigentümliche Einheit des Ich besteht darin, daß es immer »ganz« auf einer der beiden Seiten ist, entweder »fühlendes« oder »denkendes« Ich ist. Es kann dies, wie gezeigt, nur sein »durch den Einfluß des andern«, den es »hiebey« jedoch »nicht merkt«. Daß jede Seite ihre Partikularität für das Ganze halten kann, ist eben die Wirkung der selbst nicht erscheinenden Einheit, die sich durch ihren Wechsel hindurch vermittelt: Die Einheit, die es überall begleitet, daß es da ganz ist, wo es ist — dis ist der höchste, wesentlichste Caracter seiner [des Subjects] Subjectivitaet. (Nov. II. S. 136)

Da das Ich immer in einem akzidentellen Moment ganz, niemals in beiden zugleich ist, ergibt sich in den Fichte-Studien als Konsequenz der Gedanke, das Moment des Zusammenfallens mit sich (Gefühl, Identität) und das Moment der Absetzung von sich (Reflexion, Differenz) als Phasen eines zeitlichen Prozesses zu fassen, dessen Kontinuität die Einheit von Identitätsund Differenzmoment darstellt. Das unmittelbare Selbst des Gefühls, das vermöge seiner Relationalität bereits ein bestimmtes Selbst ist, wird in der Reflexion gegenständlich thematisiert. Indem das Subjekt aber sich als bestimmtes Objekt vorfindet, gewahrt es zugleich den Abstand, der ihn von 66

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Ebd., S. 168. Zu diesem Übergang im Zusammenhang S. 159ff.

dieser Bestimmtheit trennt — ein Abstand, der nun von Novalis als zeitliches Darüber-hinaus-Sein verstanden wird. Die Negation der Scheinhaftigkeit der Reflexion, die in der Reflexion erst erfolgen kann (das über der Entgegensetzung greifbar werdende Wissen, daß das Spiegelbild eben nicht das Original ist), taucht in diesem Kontext nun dergestalt auf, daß das Ich in jeder Bestimmung, die es sich gibt und in der es sich erkennt, sich zugleich auch schon wesentlich davon unterschieden weiß. In diesem Sinn interpretiert Novalis den merkwürdigen Verkehrungseffekt des freien menschlichen Handelns: Jede Äußerung des Seyns, der Freyheit, des handelnden Ich ist Bestimmung — Nichtfreyheit — der Effect ist hier das Entgegengesetzte der Ursache. (Nov. II, S. 147)

Die Dialektik der Freiheit besteht darin, daß sie sich in ihrer Realisierung verkehrt. Aus der virtuellen Unendlichkeit der Möglichkeiten geht eine bestimmte Handlung hervor; in dieser Festlegung erkennt sich die Freiheit nicht wieder und stellt sich als Negation des Bestimmten wieder her. Das Versetztsein des Menschen aus jener immer schon verlorenen, im Gedächtnis gefühlten Einheit in die Sphäre der Reflexion besagt nun, daß der Mensch sich nur ergreifen kann in seiner jeweiligen Bestimmtheit, in dieser Selbsterkenntnis aber zugleich ein Bewußtsein davon gewinnt, dies bestimmte nicht zu sein. Das transzendentale Gedächtnis des Ewigen (also nicht Zeitlichen) konstituiert das empirische derart, daß es als Gefühl des »Mangels« der verlorenen Einheit (jener Mangel, der sich in der Reflexion als Differenz artikuliert) die menschliche Existenz 67 in der Zeit dazu treibt, jede Bestimmtheit, in der sie sich vorfindet, im gleichen Moment schon als Vergangenheit, »ehmalige Freyheit« (Nov. XII, S. 674) von sich abzusetzen.68 In jeder Selbstidentifikation erkennt das Ich zugleich, sich (in 67

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Von Novalis wörtlich als >Ek-sistenzzusammenstoppeln< läßt]. Es ist der Grund von allem — der Grund der Thätigkeit. Seine Bestimmung ist po83

seinem wahren Sein) darin nicht gefunden zu haben und »sucht sich« (F. Schlegel) deshalb in der ganzen Unendlichkeit der Zukunft. Das Von-sichAbsetzen der überschrittenen Bestimmtheiten taucht bei Novalis wiederholt im Bild der Sedimentierung auf 69 — in der Weiterbewegung bleiben die verbrauchten, zur Wirklichkeit geronnenen Möglichkeiten als abgestorbene Masse zurück. Die Gegenwart ist in diesem Werden der Umschlagpunkt, an dem der ständige Fluß zum Starren wird; ergreift man sie reflexiv, so hat man — unter Ausblendung der substanzlosen Bewegung, die immer schon darüber hinaus ist — ein bereits verfestigtes, »kristallisiertes«, damit vergangenes Fließen zum Gegenstand. 70 Novalis hat in den Aufzeichnungen des Brouillon den ständigen Wechsel von Selbstidentifikation und Selbstverneinung, von Zusammenschließen mit sich und Absetzung von sich in zum Teil drastischer Bildlichkeit vorgeführt: »Alle Menschen sind in einem perpetuierlichen Duell begriffen« (Nov. IX, S. 270), nicht untereinander, wie gesagt, sondern gegen sich selber. Weiter hinten findet sich ein schönes, heute fast liebenswürdig anmutendes Bild f ü r dieses bewegte Leben, an dem besonders die Bedeutung der Vergangenheit akzentuiert wird. Die Veränderungen — sowohl zeitliche, als räumliche, — der Dinge und selbst unsers eignen Phaenomenons gleichen den Fortbewegungen der Bäume an der

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sitiver Mangel aller Bestimmung« (Nov. II, S. 239). Am klarsten wird das Verhältnis von »Grundlosigkeit des individuellen Lebens und Freiheit in der Terminologie von »praktischem« und »theoretischem« Ich (Fichte-Studien) formuliert: »Wir finden das practische Ich im theoretischen Ich [gegen Fichte] — denn wir sind theoretisches Ich — weil wir sind. Sind wir? Ja — nun so sind wir theoretisches Ich [d. h. wir erfahren rezeptiv (theoria ist ja die Schau) unser Sein — wir bringen es nicht selbst hervor], Handeln wir? Ja — nun so finden wir practisches Ich im theoretischen« [d. h. wir sind zwar Urheber unserer einzelnen Tätigkeiten, nicht aber dessen, daß wir überhaupt sind und eines selbstbeherrschten Handelns fähig] (Nov. II, S. 148 f.). Strenggenommen ist es falsch, hier von >Bild< im Sinne einer Illustrierung zu sprechen. Es ist der eine Fluß der Zeit, der als »Niederschlag« (Nov. XII, S. 564) »Raum«, »Natur«, »Vergangenheit«, »Geschichte« bildet. »Nichts ist poetischer, als Erinnerung und Ahndung ( . . . ) . Die gewöhnliche Gegenwart verknüpft beide durch Beschränkung — es entsteht Kontiguität, durch Erstarrung — Kristallisation. Es gibt aber eine geistige Gegenwart — die beide durch Auflösung identifiziert — und diese Mischung ist das Element, die Atmosphäre des Dichters ( . . . ) « (NovSch, S.352). In den gleichen Zusammenhang gehört die Flammenmetaphorik, vgl. im Brouillon·. »Vielleicht ist ( . . . ) Starres und Flüssiges die beiden entgegengesetzten Elemente des Feuers« (Nov. IX, S.269; vgl. auch Nov. IX, S. 460, Nr. 1026; Nov. XII, S. 577, Nr. 175). Wenn es an anderer Stelle heißt. »Natur der Erinnerung — Seelenflamme« (Nov. IX, S. 259), meint dies, daß die Erinnerung der gründenden Einheit in der »irrdischen Zeit« sich als Auflösung (Verflüssigung oder Schmelzung) im »immerwährenden Erstarrungsprozeß« bemerklich macht.

Straße, die man schnell durchfährt. Ich und die anderen Menschen etc sind in veränderlichem Zustande — en état de Variation und daher die zeitlichen und räumlichen Veränderungen der Phanomène.

(Nov. I X , S. 415 f.)

Seine »unendliche Agilität« — mit Schlegel zu sprechen — kann das Ich nicht positiv erkennen; es kann sie nur gewahren im permanenten Losreißen von der gerade aktuellen Bestimmtheit. Die Erfahrung des »Lebens« muß zugleich ein Fixieren der jeweiligen Bestimmtheit (Identität mit einem besonderen, empirischen Sich- und eine bestimmte Welt-Vorfinden) und Bewußtsein der Nicht-Identität sein. Weil die Freiheit als das nicht zu Vergegenständlichende derart an einem erstarrten Festkörper erscheint, entsteht die Täuschung, als ob die >Fortbewegung< des Ich über die jeweils fixierte Bestimmtheit hinaus tatsächlich die Bewegung der Körper selbst (der Bäume im Bild) wäre. In einer Art fetischistischer Belehnung wird auf die Substanz, derer das wesentlich Substanzlose zur Profilierung bedarf, das Wesen der Subjektivität übertragen. Ubersetzt man das Bild in die Terminologie des 19. und 20. Jahrhunderts (und denkt an die entsprechenden Verkehrsmittel), vermag es zu illustrieren, in welcher Weise die von den Menschen selbst hervorgebrachte beschleunigte Veränderung des gesellschaftlichen Lebensprozesses als rasender Aufstand der Dingwelt gegen ein ohnmächtiges, gelähmtes Subjekt erfahren werden konnte. 7 ' Kennzeichnend für den Gedächtnisbegriff Hardenbergs ist immer die Verbindung von Vergangenheits- und Zukunftssinn und ihre Befassung unter eine höhere Einheit, die sie vermittelt: ein doppelsinniges »Einst«, 72 das auf ein weder im Perfekt noch im Futur wirklich anzutreffendes »Nir-

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Ich denke hier vor allem an die Marxsche Terminologie. Die Vergangenheit der Subjektivität fungiert hier als »vergegenständlichte Arbeit«, deren Wertausdruck in der warenproduzierenden Gesellschaft das Geld ist. Auf diese tote Substanz wird die Bewegung der lebendigen Arbeit (die ja eine »unendliche Agilität« ist) übertragen, wenn deren Wertproduktion als »Leistung« des Kapitals erscheint.

72

Wie es bspw. Hölderlin in Brot und Wein direkt realisiert hat: »Als der Vater gewandt sein Angesicht von den Menschen, U n d das Trauern mit Recht über der Erde begann, Als erschienen zuletzt ein stiller Genius, himmlisch Tröstend, welcher des Tags Ende verkündet' und schwand, Ließ zum Zeichen, daß einst er da gewesen Käme,

und

wieder

der himmlische C h o r einige Gaben zurück,

(· • ·)« Hölderlin, W e r k e und Briefe. Hrsg. F. B e i ß n e r u n d J . Schmidt. Frankfurt/M. 1969, Bd. 1, S. 118; Hervorh. M . K . Vergangenheit und Zukunft erweisen sich sprachlich im >einst< durch die

Einheit,

deren Momente sie sind, vermittelt. »Der transzendente Grund ist reine Einerleiheit. Ganz nachdem ich ihn auf Zukünftiges oder Vergangenes beziehe, wird er Zweck oder Grund« (Frank, Zeit, S. 169).

85

gends« verweist. 73 Wo im Brouillon das empirische Gedächtnis als »directer (positiver) Sinn« (Nov. IX, S. 298) vorgestellt wird, der die »Daten« bzw. »gegebnen Kenntnisse« (Nov. IX, S. 275) bewahrt, korrespondiert ihm immer »Verstand« als apriorisch entwerfender »negativer Sinn«. »Dort« — im Gedächtnis — lernt man, »hier« — im Verstand — »verlernt man« (Nov. IX, S. 298). Gedächtnis ist so zunächst einmal Organ der »Gelehrsamkeit« : »Gelehrsamkeit entspricht dem Gedächtniß. Fähigkeit oder Geschicklichkeit dem Geist« (Nov. IX, S. 277). Novalis hat nicht die Absicht, deutlich zwischen äußerlichem Wissen und Erlebtem, das im Gedächtnis ruht, zu unterscheiden. Prinzipiell geht es um die Ablagerung und Bewahrung des »Vergangenen«, das im Gemüt gerade nicht in einzelnen unverbundenen »Daten« nebeneinandersteht. Das Vergangene insgesamt erscheint in Verbindungen, die die »romantische Gelehrsamkeit« als »Combinationsfertigkeit« (Nov. IX, S. 277) aufdecken soll.74 Hergestellt werden diese Verbindungen durch das Wirken der Vergangenheits- und Zukunftssinn vermittelnden »Einbildungskraft«: »Die Einbildungskraft ist das würckende Prinzip — Sie heißt Fantasie indem sie auf das Gedächtnis wirkt und Denkkraft indem sie auf den Verstand wirkt« (Nov. IX, S. 298). Es mag befremdend klingen, daß »Fantasie« hier mit der Dimension des Wirklichen, »Verstand« mit der des Möglichen verknüpft ist. Die Unterscheidung geht aber vor allem auf das in aller Sinnfälligkeit schon Bestimmte, Wirkliche einerseits und das »abstracte« Entwerfen der Spontaneität andererseits (vgl. Nov. IX, S. 299, Nr. 331 das Postulat der Vereinigung von Gedächtnis und Verstand: »Das Abstracte soll versinnlicht, und das Sinnliche abstract werden (.. .)«).75 Ganz im Sinn der Zuordnung von »phantasia« und »mneme«, die schon Aristoteles vorgenommen hatte, 76 meint Fantasie hier in erster Linie ein sinnlich-»plastisches« Vorstellungsvermögen (vgl. Nov. IX, S. 258: »Das Alte ist das Gebildete — plastisch.«). Novalis denkt 73

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»Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist« (NovSch, S. 390). Das gespeicherte Wissen also nicht als reproduzierbarer Schatz, sondern als latent produktive Dimension, wie es ein Hofmannsthal-Zitat im Buch der Freunde auffaßt: »Nicht: vieles zu kennen, aber: vieles miteinander in Berührung zu bringen, ist eine Vorstufe des Schöpferischen« (BdF, S. 267). Es ist vielleicht nicht überflüssig, in einer Zeit, die sogenannte >realistische< Politik in ihren Medien propagiert und das Denken in Komposita wie denen vom >SachVerstand< an die Wirklichkeit nagelt, daran zu erinnern, daß bei den Frühromantikern die »Denkkraft« auf der futurischen Seite steht: »Im Denken wenden ja die Sinne den Reichtum ihrer Eindrücke zu einer neuen Art von Eindrücken an — und was daraus entsteht, nennen wir Gedanken« (NovSch, S. 527). So hat auch der Grabspruch von Ernst Bloch, dem »marxistischen Schelling« (Jürgen Habermas), eine romantische Tradition: »Denken heißt Uberschreiten«. Aristotle. In twenty-three Volumes. Vol. VIII: O n the Soul. Parva Naturalia. O n Breath. London 1975, S. 292f. (Peri mnemes kai anamneseos 450 a/b).

deshalb aber nicht Gedächtnis/Fantasie als ein Depot sinnlich konkreter Vorstellungen, als ein Bildermagazin gleichsam, wie es einer der Hauptstränge der Gedächtnismetaphorik nahelegt.77 Gegen diese Illustrierung grenzt er sich sogar ausdrücklich ab: »Sonderbare bisherige Vorstellungen vom Gedächtniß — als eine Bilderbude — etc.« (Nov. IX, S. 452). Abzulehnen ist die Magazinmetapher, weil sie die futurische Dimension, auf die Gedächtnis als Moment der einen Einbildungskraft bezogen ist, unterschlägt. Das wird deutlich an dem in dieser Aufzeichnung vorangehenden Satz: »Das Gedächtniß treibt prophetischen — musikalischen Calcül«. »Einbildungskraft«, die bei Kant die »Bewegungsanweisung zur Beschreibung einzelner Bilder«78 eines Begriffs gibt, die insofern für den Verstand die Herstellung (verstanden als Uberbrückung) sinnlicher Konkretheit besorgt, ist hier nicht mehr bloßes Mittelvermögen zwischen Verstand und Sinnlichkeit, sondern — wörtlich genommen — »Urkraft« (Nov. II, S. 215), 79 die das »ganze Phantasma der Endlichkeit«80 als zeitliche Erstreckung (Geschichte) produziert und in der Produktion des Einzelnen zugleich synthetisierend, Zusammenhang stiftend, wirkt. Indem durch die Einbildungskraft das Ich immer zugleich sich erinnernd auf sein Gewesensein wie ahnend auf sein Noch-nicht-Sein sich bezieht, wird das Starre des Gedächtnisses durch den ständigen Weiterfluß der Zeit unterminiert. Eine Notiz aus den etwa gleichzeitigen Freiberger naturwissenschaftlichen Studien nimmt in anderer Terminologie auf dieses Wechselverhältnis Bezug: Die unvollkomne Gegenwart sezt eine unvollkomne Zukunft und eine unvollkomne Vergangenheit voraus — eine Zukunft, der Vergangenheit beygemischt ist, die durch Vergangenheit zum Theil gebunden, i. e. modificiert ist — eine Vergangenheit, die mit Zukunft gemischt und durch dieselbe modificirt ist. Aus beyden besteht die unvollkommne Gegenwart — welches eigentlich ihr Erzeugungsprocess ist. (Nov. VIII, S. 61)

Im spekulativen Kontext gehen diese Sätze auf die Überlegung, daß der unabgeschlossene zeitliche Prozeß sich an jeder der drei Zeitdimensionen als »Unvollkommenheit« zeigt. Novalis setzt dagegen in dieser Aufzeichnung das Postulat einer »vollkommne(n) Gegenwart« (ebd.), in der Zukunft und Vergangenheit derart koinzidieren, daß weder die Vergangenheit der Freiheit noch die Zukunft der Bestimmtheit ermangelte — eine transzendente Position, die mit der von F. Schlegel erwogenen Möglichkeit übereinkäme, das »ganze Spiel der Natur« könne »in einem Nu« ablaufen (die universelle 77 78 79

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Vgl. Weinrich, Metaphora Memoriae. F. Kaulbach, Immanuel Kant. Berlin/New York 2 1982, S. 146. Es »ist die Einbildungskraft allein Kraft — allein das Thätige — das Bewegende« (Nov. II, S. 167). Zur genauen Entwicklung der Terminologie bei Hardenberg vgl. Frank, Zeit, S. 193 ff. Ebd., S. 32.

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Fülle würde sich also nicht sukzessive durch ständige Überschreitung des Alten bei fortwährender Hervorbringung von Neuem herstellen). Lebensgeschichtlich gewendet kann diese Aufzeichnung aber auch Hardenbergs Aversion gegen die »Bilderbuden«-Vorstellung erläutern. Das Gedächtnis ist nicht als festes Behältnis für einander gleichgültige, unveränderliche Sachverhalte zu begreifen. Vielmehr steht jede bestimmte Vergangenheit qua »Unvollkommenheit« in Beziehung zur Zukunft und wird von ihr »modificiert«. 81 So deutlich Novalis Vergangenheit als verbrauchte Möglichkeit, erstarrte, »ehemalige Freyheit« bestimmt, so wenig denkt er Gedächtnis als ein wachsend aufzufüllendes Reservoir. Die >Starre< der Vergangenheit wird vielmehr mit jeder Gegenwart, die sich auf Zukunft hin eröffnet, verflüssigt und rinnt gleichsam in neuer Konfiguration wieder zusammen. Die ständige Veränderung dieser >FigurHeimathlich< fühlt er sich im Chaos, denn das Chaos ist die Objektivation seines Wesens. Hardenberg verlangt von der poetischen >Darstellung vom Menschennicht als sogenannten Charakters sondern in seiner radikalen >Inkonsequenz< zeige; nicht in seiner Stabilität, sondern in seiner Hinfälligkeit; nicht in seinem Sein, sondern in seiner Transzendenz; nicht in seiner Bestimmtheit, nicht als >EigenschaftFreiheit< ( . . .)«. 8 4 Der bloße Wechsel aber führte niemals zur Darstellung der Universalität ohne den Sinn, der all das Zurückgelassene dem Bewußtsein bewahrt. Nach der Seite der bloßen Bewahrung gesehen, ist zwar das Gedächtnis, das das einzeln Substantiierte festhält, »die unterste Seelenkraft«, aber damit ist es zugleich »die Basis der Andern« (Nov. IX, S. 442), von denen es niemals isoliert werden darf. Das Entziehen dieser »Basis« im Vergessen faßt Novalis als Bedrohung auf; damit würde die geschichtliche Fülle, in deren Produktion das Absolute aufweisbar ist, beschränkt, ja eliminiert: »Die Menschen gehn viel zu nachlässig mit ihren Erinnerungen um« (NovSch, S. 547). Das universale Gedächtnis, dessen Vielfalt einen Eindruck von der absoluten, im transzendentalen Gedächtnis verloren gewußten Einheit gibt, ist geschichtliches und lebensgeschichtliches Gedächtnis zugleich. Gerade der totalisierende Anspruch verhindert, daß hier deutlich unterschieden wird. Um ein Gefühl der Universalität aufkommen zu lassen, ist die Lösung von der »Anheftung« an bestimmte Einzelheiten gefordert. Novalis

kundenschnelle vor Augen vorbeizieht, gedeutet (Benjamin IV. 1, S. 304). Auch Benjamins Bemerkung im Leskow-Aufsatz, am »Ursprung« des Erzählens stehe die »Autorität« des Todes (Benj. II.2, S. 449f.), kann von daher verstanden werden. Die vollständige Figur einer Lebensgeschichte, wie sie der Erzähler vorstellt, ist erst die, die sich am Ende, wenn es keine Zukunft mehr gibt, einstellt. Analog sind die Überlegungen von Sartres Romanfigur Roquentin in La Nausée über die Differenz von »Leben« und »Erzählen«: beim Erzählen tut man so, »als finge man mit dem Anfang an. ( . . . ) U n d in Wirklichkeit hat man mit dem Ende angefangen. Es ist da, unsichtbar und gegenwärtig, es ist das Ende, das diesen wenigen Worten den P o m p und den Wert eines Anfangs verleiht. ( . . . ) Wir vergessen, daß die Zukunft noch nicht da war. ( . . . ) Ich wollte, die Momente meines Lebens folgten aufeinander und ordneten sich wie die eines Lebens, an das man sich erinnert. Genausogut könnte man versuchen, die Zeit am Schwanz zu packen« (Sartre, Der Ekel. Reinbek bei H a m b u r g 1982, S. 52). Vgl. auch in Mallarmés Engagement·, »erst der Tod totalisiert das Leben; mit einem Schlag läßt der letzte Augenblick die Summe aufblitzen und vernichtet sie« (Reinbek bei H a m b u r g 1983, S. 126). 84

Frank, Zeit, S . 2 2 5 Í .

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a k z e n t u i e r t die Vielfalt der E r i n n e r u n g bei einer T e n d e n z z u r U n b e s t i m m t heit, die d u r c h die A s s i m i l a t i o n des vergangenen E i n z e l n e n an das » S e y n en g r o s « e n t s t e h t . D i e s s c h l i e ß t b e i s p i e l s w e i s e eine N i v e l l i e r u n g d e r a f f e k t i v e n B e s t i m m t h e i t v e r g a n g e n e r G e m ü t s z u s t ä n d e in d e r E r i n n e r u n g e i n : » E r i n nerung des Angenehmen — Erinnerung des Unangenehmen — Rückwärts e n t f e r n t e L u s t o d e r U n l u s t . W a s d i e L u s t in d e r E r i n n e r u n g v e r l i e r t , d a s g e w i n n t d i e U n l u s t in d e r E r i n n e r u n g u n d u m g e k e h r t . S i e g e h n in e i n a n d e r ü b e r ( . . .)« ( N o v . I X , S. 349).85 D i e synthetisierende K r a f t der E r i n n e r u n g kann g a n z bildlich an d e m »rückwärts entfernt« aufgefaßt werden.

Wie

b e i m G e h e n e i n e e r s t v o r k u r z e m p a s s i e r t e S t e l l e s c h o n b a l d m i t s e h r viel w e i t e r e n t f e r n t e n in d e r einen W e i t e d e s H o r i z o n t s z u s a m m e n r ü c k t , s o s o l l in d e r p o e t i s c h e n E r i n n e r u n g d a s k o n k r e t e E i n z e l n e a b r ü c k e n in e i n w e i t g e s p a n n t e s G e s a m t b i l d , in d e m d i e g e s t a l t h a f t e n D i f f e r e n z e n u n d d i e t r e n nenden Wegstrecken verschwinden angesichts der U b e r m a c h t des u m f a s -

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Novalis' Bemerkung über den Ausgleich affektiver Gemütszustände in der Erinnerung hat eine Parallele bei Augustinus. Dort heißt es: »Auch die Empfindungen meiner Seele hält dies selbe Gedächtnis fest, freilich nicht so, wie sie in der Seele leben, wenn sie von ihnen bewegt wird, sondern auf davon sehr verschiedene Weise, wie es dem Wesen des Gedächtnisses entspricht. Denn ich bin nicht froh, wenn ich daran denke, mich einst gefreut zu haben, und nicht traurig, wenn ich meiner früheren Traurigkeit mich entsinne. Ohne Furcht vergegenwärtige ich mir, mich einstmals gefürchtet zu haben, und ohne Begierde bin ich meiner ehemaligen Begierde eingedenk. J a , bisweilen erinnere ich mich gerade umgekehrt der vergangenen Traurigkeit mit Freuden und traurig der vergangenen Freuden.« (Bekenntnisse, S. 278) Augustinus gibt sich nicht damit ab zu erklären, die Freude rühre eben daher, daß die Traurigkeit vorbei sei, die Traurigkeit daher, daß ich gerade keine Freude empfinden könne. Was ihn interessiert, ist das Phänomen des in-sich-selbst-unterschiedenen Geistes, der die Qualität einer vergangenen Empfindung zugleich konkret und aufgehoben im Gesamt des Gemüts zu vergegenwärtigen weiß. Denn wenn ich mich an einen vergangenen Kummer oder auch körperlichen Schmerz erinnere, dann weiß die Erinnerung in bestimmter und unvergleichlicher Weise von der Beschaffenheit dieser Zustände; wäre ein neutrales Wissen davon zurückgeblieben, daß ich damals Schmerzen hatte, dann wäre meine Erinnerung durch nichts unterschieden von irgendeiner Schmerz-Erzählung anderer. Zugleich aber ist die Erinnerung nicht nur etwas von der vergangenen Befindlichkeit Verschiedenes, sondern bisweilen — wie Augustinus schreibt — ihre Verbindung mit der entgegengesetzten in einem Bewußtseinsmoment. Denn eine Aufteilung des Kummers aufs Gedächtnis und der Freude auf den gegenwärtigen Zustand unterschlägt die Simultaneität, in der das Bewußtsein beide Gefühle präsentiert. Das Ineinander-Ubergehen, von dem Novalis spricht, findet nicht als Sukzession von schwacher Reproduktion des Vergangenen und stärkerer aktueller Bewegung statt. Vielmehr ist in einer Empfindung das dominierende Moment transparent für einen Hintergrund, von dem es sich nicht nur abhebt, sondern auch nährt. In diesem elementaren Sinn hat Erinnerung als synthetischer Akt teil am Prozeß der Verganzung.

senden Raums. »Je näher, desto unterschiedner«, schreibt Novalis in der zitierten Notiz weiter und plädiert deshalb für »Anwendung der Perspectiv auf diese Dinge«. Eine solche »Anwendung« ist das Gedächtnis, denn »Ahndungs- und Erinnerungskraft haben Beziehung auf die Fernsichtigkeit« (Nov. IX, S. 355: in »Ahndungs- und Erinnerungskraft« ist die wirkende Einbildungskraft in das Kompositum hineingenommen). Ersichtlich taucht hier Moritz' Bild vom »größeren Maßstab der Seele« wieder auf. Soweit diese Gedanken auf Zeitgenossen zurückgehen, bezieht Hardenberg sich aber wohl eher auf Schillers Begriff der »fernenden Erinnerung« aus der Bürger-Rezension. Dort finden sich unmittelbar nach dem berühmten Verdikt gegen den Dichter, der »mitten im Schmerz den Schmerz« besingt, Ausführungen über die »mildernde Ferne« der Erinnerung, die das Einzelne, das gleichwohl intensiv durchlebt worden sein soll, in die Ganzheit der freien Gemütstätigkeit aufhebt. 86 Klingsohrs Dichtungslehre im Ofterdingen ist bei Novalis am deutlichsten dieser Stelle verpflichtet (vgl. NovSch, S. 221—224), die ihrerseits wieder einen uralten Strang der Memoria-Tradition weiterflicht. 87 Bei den Frühromantikern erhält der Topos eine spekulative Fundierung; Fichtes Theorem der Gleichzeitigkeit von unendlicher und bestimmter Tätigkeit im Subjekt wird auf Poetik und Geschichtsphilosophie appliziert. Am umfassendsten von »Erinnerung« in diesem Sinn handelt Hölderlins Fragment Das Werden im Vergehen.™ Dort geht es um Hardenbergs »rückwärts entfernt« in geschichtsphilosophischer Absicht: die Gestalt, die eine gerade noch »wirklich« gewesene Lebenswelt im prozessualen Moment geschichtlichen Ubergangs annimmt, vom Schmerz der Loslösung bis hin zur Einfügung in einen Gesamtzusammenhang der Erinnerung. Was oben bildlich als Passieren eines Ortes und sein Abrücken in einen horizontalen Komplex angedeutet worden war, versucht Hölderlins Aufsatz durch genaue Analyse des Geschehens der >Passage< zu beschreiben. Am Ubergang interessiert Hölderlin nicht die scheinbar glatte Ablösung eines konkreten geschichtlichen Zustands durch den nächstfolgenden, sondern der oft erst in revolutionären Erschütterungen allgemein gefühlte Zwischen-»Zustand zwischen Sein und Nichtsein« (S. 642/3), der die geschichtliche Veränderung jederzeit charakterisiert. Im Transzendieren einer besonderen historischen Station »stellt sich« nach Hölderlin die in keiner bestimmten geschichtlichen Lebenswelt " Schillers Werke. Frankfurt/M. 1966 (Insel-Schiller), 4. Bd., S.392. 87 Vgl. hierzu den Aufsatz von Klaus Dockhorn, »Memoria« in der Rhetorik. In: Archiv für Begriffsgeschichte 9, 1964, S. 2 7 - 3 5 . 88 Ich zitiere wieder nach dem Insel-Hölderlin, hg. v. Beißner und Schmidt, Bd. 2, S. 641—646. Die Seitenangaben zu den einzelnen Stellen in Klammern im fortlaufenden Text. Zur Interpretation vgl. den Kommentar von Johann Kreuzer, Erinnerung. Meisenheim/Königstein Ts. 1985, S. 45—104.

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faßbare »Welt aller Welten, das Alles in Allen (. . . ) dar« (S. 641). Es ist die unverfügliche Einheit von Differenz, Widerstreit auf der einen und Vereinigung auf der anderen Seite, die hier so erscheint, daß das Auflösungs- und Zersetzungsgeschehen, in dem eine jeweilige historische Konstellation »untergeht«, »in eben dem Momente und Grade« (S. 642) eine Bildung von Neuem ist. Diese beiden Momente, das Eingelassensein in jeweils besondere historische Situationen und das »Unerschöpfte und Unerschöpfliche der Beziehungen und Kräfte« (S. 642), das immer wieder dies Besondere auflösen und Neues hervorbringen läßt, ineins zu umfassen, obliegt — entgegen dem unmittelbar im Umbruch dominierenden »Schmerz der Auflösung« (S. 641) — einem »reproduktiven Akt«, einem Akt der Erinnerung also. Hölderlin nennt ihn »idealische Auflösung« und beschreibt ihn als Vollzug, »wodurch das Leben alle seine Punkte durchläuft, und um die ganze Summe zu gewinnen, auf keinem verweilt, auf jedem sich auflöst, um in dem nächsten sich herzustellen ( . . . ) , bis endlich aus der Summe dieser in einem Moment unendlich durchlaufenen Empfindungen des Vergehens und Entstehens ein ganzes Lebensgefühl, und hieraus ( . . . ) das anfänglich aufgelöste (. . . ) in der Erinnerung (. . . ) hervorgeht« (S. 643). Idealische Auflösung erinnert also das gerade Vergangene gleichsam perspektivisch zurechtgerückt aus einem instantanen Durchlaufen des Gesamtlebens heraus. Sie haftet nicht am Untergegangenen wie die »Erinnerung des Aufgelösten« (S. 642), in der das »Unerschöpfliche der Kräfte« noch in unmittelbarer Entgegensetzung zum besonderen Alten als destruktiv erscheint, das »Neuentstehende« also »mehr ein Gegenstand der Furcht« ist (S. 642), sondern bringt als »Erinnerung der Auflösung« (S. 642) das »anfänglich Aufgelöste« nur in der ganzen Auflösungsbewegung, die zugleich eine des »Entstehens« ist, zur Erfahrung. Erinnerung der Auflösung ist deshalb produktiv: indem sie das Auseinanderklaffen von besonderem geschichtlichem Zustand und Unendlichem der Kräfte, das in Umbruchsmomenten zunächst Angst bereitet, in die einheitliche Erfahrung eines Prozesses des »Vergehens und Entstehens« zurücknimmt, gibt sie den Mut, nach vorne zu gehen: den »nächste(n) Schritt, der dem Vergangenen folgen soll« (S. 643), zu tun. »Im Prozeß geschichtlich-realer Veränderung ist es notwendig, daß der Schmerz über das aufgelöste Alte die Herstellung eines neuen Zustande nicht verunmöglicht. Dieses Bewußtsein, daß aus dem »realen Nichts« in die Herstellung eines neuen Zustande übergegangen werden muß, kann als die geschichtliche Bedeutung der Erinnerung gedacht werden«. 89 Lebens- und universalgeschichtliche Erinnerung sind bei Hölderlin wie bei Novalis keine sentimentale Versenkung in abgelebte Vergangenheiten. Die Kraft, die die durchlaufenen Punkte zur Kontinuität eines Verände89

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Kreuzer, Erinnerung, S. 58.

rungsgeschehens verhält, schafft mit dem Horizont, in dem Erfahrenes zusammenrückt, zugleich den offenen der Zukunft. Im »größeren Maßstab der Seele«, den Erinnerung gibt, können die Momente der Vergangenheit deshalb keinen unveränderlichen Standpunkt beanspruchen. Um Novalis' Metapher der »Verflüssigung« im »immerwährenden Erstarrungsprozeß« noch einmal aufzugreifen: der eine Fluß, der vor aller Reflexion auf bestimmte >Absichten< oder >Vorhaben< immer schon aus der Zukunft auf die Vergangenheit zurückkommen läßt, durchströmt auch ständig sein altes Sediment. Die »Möglichkeit aller Beziehungen«, die Hölderlin zufolge im Ubergangsmoment aufscheint (S. 642), erweist sich an den Gehalten der Erinnerung als unendliche Beziehbarkeit und Unabschließbarkeit von Vergangenheitsdeutungen. Gerade das Gemüt aber, in dem alles mit allem in Verbindung treten kann, wird von Novalis gefordert, denn allein in der Mannigfaltigkeit von Verbindungen kann das Eine, das selbst nicht zur Erscheinung kommt, »empfunden« werden. Das Gedächtnis hat, so begriffen, Anteil am Verfahren der »Verganzung«, in der das endliche Bewußtsein das Absolute bezeugt findet: »Je mannichfaltiger die Glieder dieses Ganzen sind desto lebhafter wird die absolute Freyheit empfunden — je verknüpfter, je Ganzer es ist, je wircksamer, anschaulicher, erklärter, ist der absolute Grund alles Begründens, die Freyheit, darinn« (Nov. II, S. 270).

II.4 Zwei Begriffsskizzen im Anschluß an Novalis a) Erinnerung und Imagination — zum Begriff des »Erinnerungsbildes« Die gewöhnliche Vorstellung des Gedächtnisses, die Novalis denunziert, basiert tatsächlich auf einer Bildchentheorie. Ein Wahrnehmungsbild wird demnach abgelagert in einem Magazin, aus dem es eines Tages zufällig oder nach Bedarf wieder hervorgeholt wird. Das Erinnerungsbild wäre für diese Behältnistheorie substantiell mit dem Wahrnehmungsbild identisch; die unbestreitbare Eigenart der Erinnerung wird darauf zurückgeführt, daß das Bild den Aufenthalt im Magazin nicht unbeschadet überstanden hat, sondern verblaßt oder ausgeblichen ist. Die zeitliche Differenz taucht in diesem Fall als natürlicher Alterungsprozeß am erinnerten >Objekt< auf. Eine andere Bildlichkeit, die sich im Bereich des materiellen Speichers bewegt, suggeriert, den Erinnerungsvorgang selbst als ein irgendwie erschwertes Hineinspähen in dieses Magazin zu fassen: die Entfernung ist zu groß und man kann die Bilder nur sehr schwer erkennen, oder das Magazin ist abgeschottet durch Scheiben, die zwar einen Blick erlauben, aber eine 93

genaue Erfassung des ursprünglichen Bildes unmöglich machen (angelaufene, verstaubte, vereiste, Milchglas-Scheiben). Philosophische Reflexion hat sehr früh das Ungenügende einer solchen Gedächtniskonzeption empfunden. Denn sie schafft kaum eine Klärung in Bezug auf den aktuellen Bewußtseinsvorgang, der das Erinnern ja sein muß. Wie und warum ein gegenwärtiges Bewußtsein an welche vergangenen >Bilder< gerät, bleibt ebenso im Dunkel wie beispielsweise die Erklärung der Interferenzen von Erinnerung und Einbildung. Die unleugbare Tatsache, daß man sich an Dinge als persönliche Erfahrung erinnern kann, die man in Wahrheit nicht erlebt hat, wäre danach entweder auszuschließen (denn dieser Speicher enthielte ja per definitionem nur die wirklich eingesammelten Bilder) oder als Fehlgriff ins falsche Behältnis (Schubfach Phantasie statt Gedächtnis) zu deuten, bei dem wiederum die Etikettenverwechslung unplausibel wäre. Die Leerstelle, die dem erinnernden, gegenwärtigen Bewußtsein nach dieser Bildlichkeit zufällt, 90 versucht die Repräsentationstheorie der Erinnerung auszufüllen. Erinnerung ist demnach eine aktuell erzeugte Vorstellung, die eine vergangene repräsentiert, ohne mit ihr substantiell zusammenzufallen. Bereits Aristoteles hat in Peri mnemes kai anamneseos das Erinnerungsbild als Zeichen angesprochen. »Mnemoneuma«, die Erinnerung an etwas, ist ein zweistelliges Gebilde: das Erinnerungsbild ist zum einen selbst ein Anschauliches, etwas, das >vor Augen liegtrevived< in memory«) zur repräsentativen Erinnerungstheorie: »But it was clearly Hume's view, and seems to have been Locke's final view, that the memory-image of a past perception is not the perception itself, still existing in the mind, but a numerically different perception which resembles, or is in some way capable of representing, the no longer existing past perception«. 93 Indem das leibhaftige Wahrnehmungsbild damit aus der Erinnerungstheorie verschwindet und ersetzt wird durch eine gegenwärtige Tätigkeit, die vergangene Erfahrung rezitiert, ist erst die Möglichkeit gegeben, empirischen Gedächtnisphänomenen wie Verzeichnungen, Ausmalungen, affektiven Ausschmückungen etc. des 90

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Das ja den wiedergekehrten Bildern zumindest den Index Vergangenheit meiner selbst< aufprägen müßte, den sie an sich selbst nicht haben können. Aristotle, Vol. V i l i , S.296 (450 b, Z . 2 7 ) . Sidney Shoemaker, Art. >Memoryersten Mal< korrigiert werden, sondern nur durch Fortsetzung und weitere Vertiefung in die Erinnerungsarbeit. Shoemaker führt eine Reihe differenzierender Kriterien auf, die Philosophen in der Vergangenheit für die Unterscheidung von Erinnerung und Imagination namhaft gemacht haben; 95 sie orientieren sich einmal >objektiv< an Gehalten, die den Bildern selbst zu entnehmen sein sollen — größere Kraft und Lebhaftigkeit der Erinnerungsbilder im Vergleich mit den bloß phantasierten (Hume) —, einmal an begleitenden subjektiven »feelings of pastness« (W. James; B. Russell). Die Phänomenologie setzt sich über diese Versuche, gleichsam durch Ausleuchtung des inneren Geschehens in dessen Ablauf erst herauszufinden, welcher Gattung es zuzuschlagen sei, durch die Einführung der thetischen Aktqualitäten hinweg. Erinnerung schließt von Anfang an ein Für-wahr-Setzen ihres Inhalts (Setzen als ein wirkliches erlebtes Vergangenes) ein; das bedeutet, daß durchaus einer sich an Vorfälle erinnern kann, die er in Wahrheit niemals erlebt (vielleicht nur gehört) hat; 96 solange er aber überzeugt ist, sich zu erinnern, unterstellt er eben, daß dies seine Vergangenheit war: » a mistaken memory belief is still a memory belief«. 97 So formuliert Sartre den Unterschied von erinnerndem und imaginierendem Bewußtsein in seiner »phänomenologischen Psychologie der Einbildungskraft« als Differenz der »thèse(s)«, unbenommen einer empirisch durchaus vorkommenden Korrektur ihrer Geltung: »Ii existe pourtant une différence essentielle entre la thèse du souvenir et celle de l'image. Si je me rappelle un événement de ma vie passée, je ne l'imagine pas, je m'en souviens. C'est-à-dire que je ne le pose pas comme donné-absent, mais comme donné-présent au passé.«9* 94 95 96 97 98

Ebd., S. 267. Ebd., S. 267f. Was vor allem in Bezug auf Kindheitserinnerung häufig der Fall ist. Shoemaker, Memory, S. 266. Jean-Paul Sartre, L'imaginaire. Psychologie phénoménologique de l'imagination. Paris 1940, S.348.

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Diese Unterscheidung bestimmter »type(s) de conscience« oder — wie Sartre auch sagt — bestimmter »façon(s) qu'a la conscience de se donner un objet« 99 geht letztlich auf unterschiedliche Ausrichtungen von Hardenbergs »allein tätiger« Einbildungskraft. Wie immer Erinnerung >versetzt< sein mag mit imaginativen Momenten, wie immer >freies Phantasieren auf realen erinnerten Erlebnissen aufbaut; es ist eben etwas prinzipiell Verschiedenes, ob jemand seine »Mémoiren« in der Absicht einer genauen Rekonstruktion der Vergangenheit aufschreibt, oder ob er eine »Erzählung« verfaßt, in die >Autobiographisches< eingeht. Im einen Fall wird erlebte Geschichte berichtet mit der Absicht, einen persönlichen Beitrag zur allgemeinen Verständigung über das Leben, das man gemeinsam mit allen führt, zu geben; im anderen Fall wird ein unabdingbar geschichtliches Erleben beschworen im Versuch, ein Selbstverständnis des subjektiven Lebens, das man als dieser Eine gegenüber allen führt, zu finden. Literarische Autobiographien, die gewöhnlich im Niemandsland zwischen Fiktion und getreuer Diaristik angesiedelt werden, thematisieren oft ihre Zerrissenheit in der Spannung dieser kontroversen Ausrichtungen: die Confessions als der paradoxe Fall einer Lebensbeschreibung, die nichts auf das wirklich >Geschehene< gibt, und einer Selbstrechtfertigung, die nichts von diesem Selbst ausdrücklich mitteilen oder gar erklären will, sind auch hier das beste Beispiel. Allgemein haben die theoretischen Konstruktionen von Erinnerung als Vergegenwärtigung eines »Bildes« von Vergangenem etwas Künstliches. Darin wird immer von einem aktuellen Bewußtsein ausgegangen, das sich zu einem bestimmten Punkt seiner Vergangenheit derart in Beziehung setzt, daß es ihn anschaulich vor sich aufsteigen läßt. Zum einen ist zwar unbestreitbar, daß beim Erinnern bildhafte Prozesse in Gang kommen, zum andern ist ebenso evident, daß Erinnerung nicht als Perzeption von inneren, konkreten Gegenständlichkeiten nach Analogie der äußeren Wahrnehmung zu begreifen ist. Die Bilder der Erinnerung können zunächst, gemessen an den Vorgängen der Wahrnehmung, von einer grotesken Unvollständigkeit sein, dafür überakzentuiert in manchen Details. Trotzdem >vermißt< der Erinnernde nichts; im Gegenteil: das fragmentarische Erinnerungsbild strahlt eine Geschlossenheit und Vollkommenheit aus, die der vergleichsweise vollständigeren Wahrnehmung abgeht.100 Sodann gibt es ohne Zweifel Erinnerungsbewußtsein, bei dem das Erinnerte nicht im geringsten anschaulich gemacht wird. Man kann sogar annehmen, daß die 99 100

96

Ebd., S. 21. Sartre hat darin den Effekt der verschönenden Erinnerung< begründet gesehen : den Inhalten der Erinnerung fehlt der unendliche Horizont der »Abschattungen«, der an den Gegenständen der Wahrnehmung immer auf eine noch ausstehende Komplexion verweist. Das Bewußtsein als »pour-soi«, das prinzipiell nicht mit dem, was es ist, zusammenfallen kann, ist in seiner Vergangenheit in gewissem Sinn tatsächlich,

bildhafte Vergegenwärtigung einer vergangenen Situation eher in Unterbrechungen oder gar Störungen des alltäglichen Lebensvollzugs vorkommt. Zum dritten stellt sich die Frage, wie die Beziehung des gegenwärtigen Bewußtseins zu diesem Vergangenheitsbild über den zeitlichen Abstand hinweg zu denken ist. Bereits die Repräsentationstheorie geht, wenn sie Erinnerung als Reproduktion einer vergangenen Vorstellung in einer gegenwärtigen faßt, im Grunde von einem Bewußtsein aus, das mit den Erinnerungsinhalten (implizit oder explizit) das vergangene Bewußtsein von ihnen wiedergibt. 101 Von verschiedenen Ansätzen her formulieren die unterschiedlichsten Erinnerungstheorien den Gedanken, daß dies als Verbindung zweier isolierter Bewußtseinspunkte über einen leeren Abgrund von Zeit hinweg kaum plausibel zu machen ist. Die Erinnerung einer bestimmten Vergangenheit muß deshalb für diese Autoren den impliziten Aufruf der ganzen vergangenen Erfahrung einschließen; Voraussetzung dafür, daß dem Erinnerten eine bestimmte Zeitstelle in der eigenen Vergangenheit zugewiesen werden kann. Shoemaker führt die Hypothese des Pioniers der englischen Psychologie James Mill an, wonach »remembering a past event involves >running overimplicite< der ganze Strom des Bewußtseins bis zur lebendigen Gegenwart, 105

die ihrerseits wieder auf einen Horizont von Erwartung bezogen ist. Die Erinnerung, schreibt Husserl, sei so »in einem beständigen Fluß, weil das Bewußtseinsleben in beständigem Fluß ist und nicht nur Glied an Glied in der Kette sich fügt. « Aus einer >Rückwirkung< des aufs neue sich öffnenden Bewußtseins erhalte die »Reproduktion eine bestimmte Färbung«. 1 0 6 Diese notwendig mitgesetzte Intention des beweglichen Gesamtzusammenhangs, in dem das erinnerte Erlebnis steht, ist in Husserls Terminologie jedoch »eine unanschauliche, eine >leere< Intention, und ihr Gegenständliches ist die objektive Zeitreihe von Ereignissen, und diese ist die dunkle Umgebung des aktuell Wiedererinnerten«. 107 Husserls Bild von der »dunklen Umgebung«, die jede bestimmte Erinnerung umhüllt, taucht in Bergsons Materie und Gedächtnis als »vager Nebel« auf, aus dem die bestimmten »herrschenden Erinnerungen« wie »leuchtende Punkte« abstechen. 108 Prinzipiell geht auch Bergson davon aus, daß das Gedächtnis »immer in seiner Ganzheit sich selbst gegenwärtig« sein müsse, wenn der »Vorgang der Lokalisation einer Erinnerung in der Vergangenheit« verständlich sein soll. 109 Wichtig für Bergson ist jedoch — in einer Umkehrung der Blickrichtung — der dem gesunden Menschenverstand gar nicht so fernliegende Gedanke, daß nicht nur beim Erinnern das ganze Gedächtnis aktiviert wird, sondern daß »wir mit unserer erlebten Erfahrung immer in ihrer Totalität arbeiten«.110 Die ständige Durchdringung von gegenwärtigem Handeln und »totaler« Präsenz der »erlebten Erfahrung« steht im Mittelpunkt des Buchs; es kommt Bergson aber gerade darauf an zu zeigen, daß die anschauliche Reproduktion der Gedächtnisbilder im gewöhnlichen Leben der Ausnahmefall ist: die Vergangenheit ist immer da, und jede Wahrnehmung »besteht ( . . . ) aus einer unzählbaren Menge erinnerter Elemente«, 111 aber sie existiert eben nur in Form eines »Abrisses« 112 , als »vager Nebel«, dunkler Hintergrund etc.

104 105 106 107 108 109 110

98

Vgl. ebd., S. 415. Ebd., S. 411. Ebd., S. 412. Ebd., S. 412; Hervorh. M . K . Henri Bergson, Materie und Gedächtnis. Frankfurt/Berlin/Wien 1982, S. 167. 111 Ebd. Ebd., S. 145. 112 Ebd., S. 141; Hervorh. M. K. Ebd., S. 141.

Gemeinsam ist den drei erwähnten Positionen, daß sie Erinnerung als ein wie auch immer >implicites< Gewahrwerden einer auf das ganze Bewußtseinsleben ausgreifenden Bewegung in Anschlag bringen; diese bilderlose »Expansion« (Bergson), der unanschauliche >Strom< (Husserl) trägt die mögliche anschauliche Reproduktion vergangener Situationen, Orte usf. Husserls wie Bergsons Erinnerungstheorie verfallen aber für ihren Schüler Sartre der Kritik, weil auch für sie der Ausgangspunkt immer ein zunächst als Gegenwart definiertes Bewußtsein bleibt, das, als das wirklich Seiende, eigens eine Beziehung herstellen muß zu einer Vergangenheit, deren Seinsstatus nicht recht klar wird. Bergson handelt zwar von der totalen Präsenz der erlebten Erfahrung; diese Vergangenheit führt aber, wie Sartre ironisch kommentiert, in seiner Theorie das Dasein eines Pensionärs: die vergangenen Bilder benötigen eine gegenwärtige Wahrnehmung, die sie re-aktiviert. 113 Gegen die Gedächtnistheorien, die ein kompaktes Gegenwartsbewußtsein auf einen Besitz an vergangenen Bildern oder Erlebnissen ausgreifen lassen, setzt Sartre eine ursprüngliche ontologische Beziehung, die die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet und die vielfach an Hardenbergs Überlegungen zum Bewußt-Sein und zur Ek-sistenz erinnern." 4 Das Subjekt ist nicht prinzipiell Gegenwart und schaut dann aus dieser festen Position nach vorne oder nach hinten in ein Magazin von Materialitäten. Es steht, als Beziehung zu seinem Sein »sur le mode de liaison interne du n'être pas«115, vielmehr von vornherein zu sich im Verhältnis des Ubersich-hinaus, des Sich-Vergangenseins, hält aber gerade in dieser transzendierenden Bewegung der Freiheit all seine »ehemalige Freiheit« (Novalis) im Sein: »En fait il est bien clair que le mot >d'avoir un passéVerjüngungUmweg< über die Erinnerung, die der leblosen Gegenwart Zukunftshorizonte aufreißen soll. Wo die Wünsche, die ein anderes Leben erhoffen lassen, so schwach geworden sind, daß das individuelle Bewußtsein zum bloßen Repetenten vorgefertigten Sinns regrediert, kann die »Regression« in längst vergangene Zeiten eines starken Wünschens befreiend wirken. Dies projektive Moment der Kindheitsregression ist — wie Sartre gegen Freud geltend gemacht hat — auch in den pathologischen Fällen zwanghafter Wiederkehr jener Zeiten nicht zu unterschlagen. Die unterdrückten und ausgegliederten Begehrungen, die als Versprecher, Ticks oder Symptome in einer späteren Zeit' sich bemerkbar machen, sind nicht bloß Störfaktoren, die durch Aufklärung entschärft werden müssen, um ein ungestörtes Funktionieren des Erwachsenen zu gewährleisten. Vielmehr schließt die psychoanalytische Erinnerungskur als eine Selbstverständigung die Möglichkeit ein, daß das frühe Selbstgefühl des »indeterminierten Kindes« (NovSch, S. 523) das festgelegte Erwachsenenleben erneuert. Erinnerung also auch hier als Lebensveränderung und nicht -konsolidierung. Kennzeichnend für Hardenbergs Konzeption des »Vorwärts-Rückwärts« bleibt indessen, daß die — womöglich erst über die Erinnerung wiedergewonnenen — »Wünsche und Begehrungen«, die als »Flügel« über die Bestimmungen des gemeinen Lebens hinwegtragen, nicht auf Erfüllung in einer zukünftigen Zeit angelegt sind: Wünsche und Begehrungen sind Flügel — Es gibt Wünsche und Begehrungen — die so wenig dem Zustand unseres irdischen Lebens angemessen sind, daß wir sicher auf einen Zustand schließen können, wo sie zu mächtigen Schwingen werden, auf ein Element, das sie heben wird, und Inseln, wo sie sich niederlassen können. ( N o v . III, S. 373)

Die Ankunft auf diesen »Inseln« fällt am Ende sowenig ins Bewußtsein wie die Herkunft der transzendierenden Bewegung am Anfang. Die Bewußtseinsentwicklung verläuft so zwischen erinnerter Herkunft und idealer Bestimmung wie das Wachstum der »blauen Blume« in Heinrichs berühmtem Traum. 118 Auf ihm selbst nicht bewußte Weise aus der Höhle des goldenen Strahls herausgesetzt, »findet« Heinrich »sich« in jener blauen Dimension, die die Blume dominiert. Sie steht »zunächst an der Quelle« (NovSch, S. 132) und berührt ihn mit ihren Blättern. Beim Versuch, die taktile Verbindung mit dem Gewächs, das unterirdisch am Ursprung wurzelt, zu ver118

Vgl. hierzu Friedrich Strack, Im Schatten der Neugier. Christliche Tradition und Kritische

Philosophie

im Werk

Friedrichs von

Hardenberg.

Tübingen

1982

(1. Kap.).

101

stärken (Heinrich will sich »ihr nähern«), schlägt die Rückwärts-Bewegung nach vorwärts um: die Blätter, die er eben noch an sich gefühlt hatte, schmiegen sich an den wachsenden Stengel; im Ubersteigen sich ihm zuwendend, zeigt ihm die Blume Mathildes Gesicht, dessen Raumstelle nach dem Erwachen die goldene Sonne einnimmt. Was am Anfang in der Berührung von unten gespürt wird, zieht dann idealiter nach oben. Diese Grundfigur muß beachtet werden, wenn romantische Erinnerung onto- wie phylogenetisch als Sehnsucht nach den verlorenen Zeiten kindheitlichen Gefühls und darin nach dem einheitlichen Ursprung, dem »zunächst« die Kindheit angesiedelt ist, verstanden wird. Die Rückwendung zu der Blume Kindheit soll auch bei Novalis jenen Schwung verleihen, der uns hinaufführt zu den nur in unendlicher Annäherung erreichbaren »Wolken (. . .) der zweiten, höhern Kindheit, des wiedergefundnen Paradieses« (NovSch, S. 272).

102

KAPITEL III

»L'art est une mnémotechnie du beau« — Erinnerungskunst bei Baudelaire und ihre Interpretation durch Walter Benjamin Ich schätze nur Erfahrungen, und die sind in der Regel von allem Denken und Vergleichen vollkommen unabhängig. So schätze ich an mir, wie ich eine T ü r öffne. Im Türöffnen liegt mehr verborgenes Leben als in einer Frage. Nun ja, es regt eben alles zum Fragen und Vergleichen und Erinnern an. Gewiß muß man auch denken, sehr sogar. Aber sich fügen, das ist viel, viel feiner als denken. ( . . . ) D e r Lebensmut geht den Menschengeschlechtern verloren mit all dem Abhandeln, und Erfassen und Wissen. ( . . . ) Ich laufe gern Treppen hinunter. Welch ein Geschwätz. Robert Walser, J a k o b von Gunten

III. 1 Der Begriff der Mnemotechnik in Baudelaires Kunstkritik I

Von der »Kunst« als einer »Mnemotechnik des Schönen« spricht Baudelaire im Salon von 1846. Der Begriff der Erinnerungstechnik ist dort polemisch gegen eine Technik der Nachahmung gerichtet, wie sie Baudelaire zufolge die geistlosen Verfechter der imitatio naturae praktizieren: Ich habe bereits angemerkt, daß die Erinnerung das große Kriterium der Kunst ist; die Kunst ist eine Mnemotechnik des Schönen; nun wohl: die exakte Nachahmung trübt die Erinnerung. Es gibt Maler von dieser elenden Art, für die die kleinste Warze eine gute Gelegenheit bedeutet; nicht nur haben sie acht, daß sie sie nicht vergessen, sondern sie müssen sie notgedrungen auch noch viermal so dick machen ( . . .). Wenn man allzusehr ins Kleine oder allzusehr aufs Große geht, so ist das der Erinnerung gleichermaßen hinderlich ( . . . ) .

(Baud. 4, S. 57)

Die gewöhnliche Sichtweise wird hier umgekehrt: nicht die Erinnerung, die manches verzerrt, hinzuerfindet oder wegläßt, entstellt das >UrbildKleinigkeitenErlebnissesBewußtsein< hineinkommen soll. Es scheint deshalb sinnvoller, vom »unbeobachteten« oder unreflektierten Leben zu sprechen, das in der mémoire involontaire wiederersteht (vgl. Jauß, Asth. Erf., S. 124; auf derselben Seite handelt Jauß allerdings auch vom »unbewußt Erfahrenen«). Faßt man jedoch in dieser Weise das >Unbewußte< — um Sartres schöne Formel aufzugreifen — nicht als »etwas anderes als das Bewußtsein«, sondern als »ein anderes Bewußtsein« (nämlich ein nicht wissendes), besteht keine Notwendigkeit, das »dialektische Glied des Vergessens« (Adorno, S. 159) dazwischenzuschalten. (Die Sartre-Stelle aus »Sartre über Sartre« in: Das Imaginäre. Reinbek bei Hamburg 1971, S. 16.) Vgl. zum Erinnerungsbegriff Adornos die schöne Arbeit von Silvia Specht, Erinnerung als Veränderung. Kunst und Politik bei Th. W. Adorno. Mittenwald 1981. Theodor W. Adorno, Uber den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörens. In: Th. W. Adorno, Dissonanzen. Göttingen 1982, S. 9—45. Vgl. ebd., v.a. S. 2 8 - 3 2 .

129

mismus bestätigt zu sehen, hat Adorno Über einige Motive bei Baudelaire (nach der harschen Kritik an Benjamins erstem Manuskript) begeistert begrüßt. Tatsächlich überwiegen in dem Januar 1940 in der Zeitschrift für Sozialforschung erschienenen Aufsatz die negativen Momente in der Zeichnung des reflektorischen Charakters. Es ist aber unübersehbar, daß Benjamin mit den Prozessen bei der Herausbildung des reflektorischen Gedächtnisses Hoffnungen verbunden hat, von denen bspw. im Kunstwerkaufsatz im Zusammenhang mit dem Film die Rede ist. Es handelt sich um die Vorstellung, daß — wie Jürgen Habermas es formuliert hat — »in einer diskreten Folge von Schocks« 37 Erfahrungen im modernen Bewußtsein freigesetzt werden können, die in der Tradition im Bereich des Esoterischen eingeschlossen gewesen waren. Fundiert sind diese Überlegungen durch die Anknüpfung an Baudelaires Spekulationen über den Begriff der »modernité« im Porträt von Constantin Guys. Baudelaire hatte dort über das »Schöne« als Verbindung eines »ewigen, unveränderlichen Elements« mit einem »relativen bedingten Element« gehandelt (Baud. 4, S. 271). 38 Eine andere Stelle bezeichnet dieses »relative Element« als das »Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige« (Baud. 4, S. 286; Hervorh. M. Κ.). An diesen Sätzen wird deutlich, warum Benjamin seine Abhandlung über Baudelaire mit einer Kritik der schlechten Konfrontation von »wahrer« und »denaturierter«, »genormter« Erfahrung begonnen hatte. Mit Baudelaire will er zeigen, daß Kunst nicht authentisch sein kann, wo sie in falscher Erhabenheit die Niederungen der »vie moderne« zu meiden versucht. Die Alternative kann nicht darin bestehen, die eigene Erfahrung >rein< zu halten von den Tendenzen normierender Angleichung, denen das Bewußtsein im modernen Großstadtleben ausgesetzt ist. 39 Künstlerische Sensibilität bewahrheitet sich vielmehr darin, in diese Erfahrungsprozesse sich hineinzubegeben, ohne mit ihnen bis zur Geläufigkeit zu verschmelzen. Der Künstler vollzieht die Genese des reflektorischen Charakters am eigenen Leib, erreicht aber seine routinierten »Spitzenleistungen« nicht. Der »Fechter« unterliegt im »Duell«: in der Ahnung des >richtigen< Reflexes, der erlauben würde, souverän das allgemeine Tempo mitzuhalten, brennt, 37

38

39

Jürgen Haberraas, Bewußtmachende oder rettende Kritik — Die Aktualität Walter Benjamins. In: J . H . , Kultur und Kritik. Frankfurt/M. 1973, S. 3 0 2 - 3 4 4 : das Zitat S. 308. Zum folgenden vgl. Hans Robert Jauß, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität. In: H . R. J . , Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M. 1979, S. 1 1 - 6 6 . Vgl. v. a. S. 55 ff. Benjamin will diese Differenz offenbar durch die Gegenüberstellung von Baudelaires und Georges Passanten-Gedicht andeuten. Der Blicktausch, in dem in Baudelaires Gedicht Begegnung und Abbruch in einen Moment zusammengedrängt sind, taucht bei George nicht auf. Das George-Gedicht habe deshalb einen H a n g zum Sentimentalen (Benj. 1.2, S.548).

130

wie Baudelaires Bilder suggerieren, auf einmal das ganze Bewußtsein lichterloh. Die plötzliche Lebensfülle bedeutet Lähmung und explosiven »Aufschrei« (Baud. I, S. 109); was das auf Hochleistung getrimmte Bewußtsein allenfalls mit einem kleinen Aufflackern als gewöhnliches Erlebnis verbucht, tritt so in eine spezifische Konstellation zum Bewußtseinsganzen. Diesen Durchbrüchen in gemeinhin als trivial abgetanen Situationen ist Baudelaire auf der Spur. Uber einige Motive bei Baudelaire spricht diesen Komplex an mit dem Hinweis auf Baudelaires »Traumatophilie« : Die Psychiatrie kennt traumatophile Typen. Baudelaire hat es zu seiner Sache gemacht, die Chocks mit seiner geistigen und physischen Person zu parieren, woher sie kommen mochten. (Benj. 1.2, S . 6 1 6 )

Benjamin nimmt mit der Lust am Schrecken auf, was Baudelaire vor allem in den Paradis artificiels beschäftigt hatte. Im einleitenden Abschnitt über den »goût de l'infini« beschreibt Baudelaire dort einen »Ausnahmezustand des Geistes und der Sinne« (Baud. 2, S. 12), »in dem alle Kräfte sich ausgleichen« (ebd., S. 13), einen wunderbaren, plötzlich eintretenden, allerdings eben auch »nur zeitweiligen« höchsten »Aufschwung der Gedanken« (Baud. 2, S. 14). Kennzeichnend für die gegenwärtige Epoche, schreibt Baudelaire, sei die Tatsache, daß solche »Verzückung der Sinne und des Geistes« (S. 14) nicht mehr wie ehedem »durch die reine, freie Ausübung der Willenskraft« (Baud. 2, S. 265) erreicht werde, wie man das früher vor allem bei »großen Dichtern«, »Philosophen« und »Propheten« (ebd.) angetroffen habe. Die Zeitgenossen müßten ihre Verzückungen künstlich und unter großen Gefahren für Seelenfrieden und Gesundheit produzieren: mit Hilfe von Parfums und Liqueuren bspw., vor allem aber durch die Einnahme der Drogen Wein, Haschisch und Opium, von denen die Paradis artificiels handeln. In den ausführlichen Beschreibungen des Opiumrausches, die de Quincey in seinen Confessions of an English Opiumeater gegeben hat, zitiert Baudelaire mehrere Stellen, in denen de Quincey auf hypermnetische Reaktionen im Rausch zu sprechen kommt. De Quincey pflegte sich eine Zeitlang seine regelmäßige Dosis jedesmal am Tag eines Opernbesuchs zu verabreichen: Die Musik ging dann in seine Ohren ein, nicht wie eine simple logische Folge von angenehmen Tönen, sondern wie eine Reihe von Erinnerungsbildern, wie die Klänge eines Zauberspieles, das sein ganzes vergangenes Leben vor seinem geistigen Auge wieder heraufbeschwor. ( . . . ) Sein ganzes vergangenes Leben, sagt er, lebte wieder in ihm, nicht infolge einer Anstrengung des Gedächtnisses, sondern gleichsam gegenwärtig und inkarniert in der Musik. (Baud. 2, S. 143f.)

Zu diesen noch eher erfreulichen Zuständen kommen später ekstatische Augenblicke der Erinnerung hinzu, in denen das »Palimpsest des Gedächt131

nisses« (de Quinceys Bild; Baud. 2, S. 2 1 6 f f . ) durch Schrecken — »durch ein plötzliches Ereignis, gewaltsam im Wasser erstickt, in Lebensgefahr« (Baud. 2 , S. 2 1 7 ) — schlagartig in allen seinen Schichten aufgehellt w i r d : Die Zeit ist aufgehoben gewesen und ein paar Sekunden haben genügt, um eine Menge von Empfindungen und Bildern zu enthalten, die Jahren entsprach. Und das Seltsamste an dieser Erfahrung, die der Zufall mehr als einmal herbeigeführt hat, ist nicht die Gleichzeitigkeit so vieler, ursprünglich aufeinander folgender Elemente, sondern das Wiederauftauchen alles dessen, was das Wesen selber nicht mehr kannte, was es indessen als ihm eigentümlich wiederzuerkennen gezwungen ist. Das Vergessen ist also nur momentan; und unter manchen feierlich-bedeutsamen Umständen, im Tode zum Beispiel, und vor allem in den mächtigen Erregungen, die das Opium schafft, entrollt sich mit einem einzigen Ruck das ganze, ungeheure, komplizierte Palimpsest des Gedächtnisses mit allen seinen Schichten, über denen begrabene Empfindungen lagen, geheimnisvoll einbalsamiert in das, was wir das Vergessen nennen. (Baud. 2, S . 2 1 7 f . ) A u f diese Bewußtseinselevation durch Erschütterungen will Benjamin mit der Baudelaireschen »Traumatophilie« offensichtlich hinaus. Baudelaires Grundgedanken von der Künstlichkeit »paradiesischer« Erfahrungen unter den Bedingungen der »modernité« hatte er bereits am Anfang seines A u f satzes a u f g e n o m m e n : Man kann Prousts Werk ( . . . ) als den Versuch ansehen, die Erfahrung, wie Bergson sie sich denkt, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen auf synthetischem Wege herzustellen. (Benj. 1.2, S. 609; Hervorh. M. K.) Eigenwillig ignoriert Benjamin die Mnemotechniken des Schönen, die das bürgerliche Gewissen am meisten fasziniert hatten: die sogenannte B e w u ß t seinserweiterung durch toxische Mittel. D i e »Verderbtheit«

(perversion)

des modernen »Unendlichkeitssinns« (Baud. 2, S. 14) rückt bei Benjamin v o r allem als Selbsterschütterung durch Ketten schockartiger A b b r ü c h e ins Blickfeld. Eine Skizze dieses Gedankengangs bei Benjamin m u ß u.a. die S a m m lung Zentralpark

berücksichtigen. D o r t hat Benjamin die Begriffe » E r -

lebnis« und »Andenken«, die n a c h den bisherigen Ausführungen negativ besetzt waren, mit Baudelaires emphatischem K o n z e p t der »correspondances« verknüpft: Der Terminus von Melanchthon Melencolia ille heroica bezeichnet Baudelaires Ingenium am vollkommensten. Die Melancholie enthält aber im 19. Jahrhundert einen anderen Charakter als im 17. Die Schlüsselfigur der frühen Allegorie ist die Leiche. Die Schlüsselfigur der späten Allegorie ist das >AndenkenAndenken< ist das Schema der Verwandlung der Ware ins Objekt des Sammlers. Die Correspondances sind der Sache nach die unendlich vielfachen Anklänge jeden Andenkens an die andern: >J'ai plus de souvenirs que si j'avais mille ansnatürlichen< Ablauf der Handlung. Solche Gedächtnisauffrischung hat, wie Benjamin schreibt, den Charakter eines »Einbruchs« in die gegenwärtige W e l t , deren »harmonische Gebilde« gleichsam nackt und ungeschützt — der Selbstverständlichkeit der natürlichen Einstellung beraubt — v o r dem Subjekt stehenbleiben (vgl. Benj. 1.2, S. 6 7 1 ) . Das ruhige Abfließen (wie m a n im Anschluß an die Phänomenologie sagen könnte) der subjektiven V o r g ä n g e in den fraglos akzeptierten Lebensbereich wird unterbrochen durch eine Bedeutungsintention, die — plötzlich und unvorhersehbar auftauchend — U m w e l t als sinnentleerte Materialität erstarren läßt. U n t e r dem

42

man diese Rettung des hermetischen Sozialisten Baudelaire durchgestanden, empfiehlt sich zur Erholung die Lektüre von Sartres bösem Baudelaire-Essay aus dem Jahr 1944. Im folgenden stütze ich mich hauptsächlich auf die Interpret, von Jauß (Ästhetische Erfahrung, S. 322—333), Hoffmann (Symbolismus, S. 115—120), Brombert (Études Baudelairiennes III. Neuchâchtel 1973, S. 254—261) und Stenzel (Rom. Zeitschrift f. Literaturgeschichte 4, 1978, S. 464—487). Außerdem wurden herangezogen die Aufsätze von Leakey, Nelson, Blechmann und Biermann (vgl. Bibliographie). Hartmut Stenzeis Aufsatz ist wesentlich differenzierter und — v. a. in der Interpretation des Eingangsbildes — überzeugender als die Arbeiten von Oehler und Sahlberg. Auch Stenzel geht aber von merkwürdigen hermeneutischen Prämissen aus. Da er der »bloßen Phänomenologie des Gedichtes verhaftete Interpretationsansätze« für wenig ergiebig und arg subjektiv hält (S. 466), sucht er hartnäckig nach einer »Erklärung des Gedichts« (S. 465). Wie Oehler ein entschlossener Ignorant der »Hülle«, findet er, ich muß gestehen: zu meiner Überraschung, die Aussage NoyerWeidners, »daß Baudelaires literaturgeschichtliche Bedeutung nur mittelbar auf der Komplexität seiner Persönlichkeit oder seiner Zeit beruht; primär ( . . . ) jedenfalls die Qualität seiner Texte den Ausschlag (gibt)«, den Gipfel der »Sterilität« (S. 467, Anm. 22). Hier verschwinde »jeder Bezug auf gesellschaftliche Erfahrung« (ebd.). Bei ständiger Berufung auf Adorno ist keiner dieser Autoren bereit, den Gedanken ins Auge zu fassen, daß in Kunstwerken gesellschaftliche Erfahrungen formal artikuliert sind — die politischen Gehalte ihnen also nur durch eine Analyse ihrer formalen Organisation zu entnehmen sind. Gegen die »Unverbindlichkeit« (S. 466) der alten Interpretationen setzt Stenzel dann Erklärungen vom Niveau der folgenden (zu den berühmten Sätzen über die dekomponierende Imagination) : »Zwei entscheidende Bedingungen für die >Imagination< sind also die vorfindliche Realität und das in sie eingreifende Individuum, Basis des künstlerischen Vorgehens diese Erfahrung, die nach den Gesetzen der individuellen Reflexion in einen >monde nouveau< verwandelt wird« (S. 466f.). Der erste Teil des Satzes ist eine fragwürdige Binsenweisheit, der zweite die Ersetzung einer dunklen Stelle des Originals durch ein Begriffskonglomerat, dessen beide Bestandteile (individuell, Reflexion) nirgendwo in Baudelaires Text ausgewiesen sind.

138

einheitlichen Signum des Abbruchs aller Hoffnung auf ein Heimischwerden treten die Bilder der Gegenwart, des Jüngst- und des Längstvergangenen zusammen. Die Art, wie diese Konstellation sich herstellt, ist durchaus körperlich vermittelt: mit dem Einfall der Reminiszenz hält der Gehende in jener Gebärde des Schmerzes inne, in der Andromache ihre Hoffnungen von dem »falschen« Fluß und der Schwan die seinen von dem »grausam blauen Himmel« verraten sieht. In beiden Bildern, dem Andromaches und dem des Schwans, hat das Subjekt seine erhoffte Bestimmung vor Augen und erfährt sie zugleich als ewig verloren. In beiden wird eine diese Gegenwart transzendierende Bewegung der erinnernden Sehnsucht (nach der wahren Heimat, dem heimischen Element) in dem Moment, in dem sie größte Intensität gewinnt, zunichte: das Detail, das diesen Abbruch am sprechendsten ins Bild stellt, ist der zuckend verdrehte Hals des Schwanes (V. 27). Nicht das »Nichtvorhandensein von Hoffnungen in der Vergangenheit« 43 ist thematisiert, sondern ihre mit ihrem Aufkommen schon unmittelbar evidente Aussichtslosigkeit. Denn die Dimension der Hoffnung oder der »Ahndung« liegt nicht wie vor einem Fenster, das man bisweilen aufstößt, um einen Blick hinaus zu tun, sondern ist in den gegenwärtigen« Vollzügen anwesend. Sie ist dann allerdings nichts als der Schatten und Horizont an den vertrauten Menschen und Gegenständen. Baudelaires »Heroismus«, von dem Benjamin spricht, besteht in der ständigen Auflösung dieses Trugbildes, das alltägliches Leben und Uberleben trägt. Für alles, was ihm begegnet, hat das Gedächtnis des Allegorikers Bilder bereit, die ein Befreunden mit dieser Gegenwart verhindern; nirgendwo kann sich die Umwelt selbstverständlich und unbemerkt mit dem subjektiven Leben und seinen Projektionen anfüllen. Ein bestimmtes Detail einer Szenerie hebt das Befangensein in ihrem Zusammenhang auf: mit den Andenken des Abbruchs vergangener Intentionen schießt das außen eingelassene Gefühl gleichsam im Subjekt zusammen und beleuchtet grell die eine Bedeutung, die der Szene bleibt: sinnlose Fremde. In dieser Bedeutung wird für das Ich des Gedichts »alles« »Allegorie« (V. 31) — das Alte wie das Neue (»palais neufs, échafaudages, blocs /Vieux faubourgs«). Nicht Bild des Verfalls überhaupt, sondern Bild der Vergeblichkeit, das eigene Leben mit seinen Wünschen und Begehrungen in den sinnlosen Veränderungen der (Großstadt) Welt aufgehen lassen zu können. Das melancholische, so mit Bildern der Vergeblichkeit überladene Gedächtnis ist alleiniger Gegenstand des II. Teils von Le Cygne. Das Gedicht nimmt Andromache und den Schwan wieder auf, in der Perspektivik des Gedächtnisses aber sind sie eingerückt in eine unendliche Kette von Bildern vergeblicher Hoffnung. Die emotionale Geladenheit, die im ersten Teil 43

Stenzel, S. 482.

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noch von der konkretisierenden Entfaltung des mythisch überhöhten Bildes v. a. des Schwans (der drei Strophen hat) abhing, geht mehr und mehr von der Abfolge der »Sinnbilder« (Benj. 1.2, S. 586) aus. Immer neue Figuren werden aufgerufen, die zunehmend >undeutlicher< werden. Andromache, Schwan und Negerin haben noch jeweils eine Strophe; schon dieser Parallelismus wird aber synkopiert vom unregelmäßigen Einsatz des »je pense à«, das die rhythmische Grundfigur des zweiten Teils ausmacht: »Je pense à (V. 34) . . . et puis à (V. 36) . . . Je pense à (V. 41) . . . A quiconque (V. 45) . . . à ceux (V. 46) . . . aux (V. 48) . . . aux (V. 51) . . . aux« (V. 52). Angesichts dieser klimaktischen Bewegung, die schließlich darin endet, daß in einem Vers von allergrößter Schlichtheit und Unstilisiertheit das Sprechen überwältigt wird und abbricht, 44 ist zu fragen, ob man tatsächlich wie Jauß von einer »linearen Folge von Evokationen« sprechen kann, die sich »wie ein festlicher Zug zu gegliederter Ordnung zusammenfügen«. 4 5 Diese Interpretation ist zu sehr an der von Jauß auf derselben Seite zitierten Äußerung Baudelaires über die harmonisierende »imagination« orientiert. Tatsächlich aber hat diese Folge von Schlägen, die sich das dichterische Andenken sowohl versetzt, wie es ihr zunehmend erliegt, noch nichts mit einer »Gegenwelt des Schönen« zu tun. Naheliegender wäre Benjamins Metaphorik von den »erschütternden« »Gedanken«, unter denen sich die Zeit lockert, bis die »Scheidewände« im Innern des erinnernden Ich einstürzen (Benj. IV. 1, S.408f.). Ist der »plein souffle du cor« (V. 49) wirklich als »befreiender Hornstoß der Erinnerung« zu verstehen, der den »Bann der Melancholie zu brechen« vermag? 46 Zweifellos liegt eine Veränderung vor von »souvenirs ( . . . ) plus lourds que des rocs« zum »vieux Souvenir« der Schlußstrophe. Aber gerade, daß Erinnerung hier mit der Majuskel als allegorische Figur erscheint (wie Douleur, V. 47), weist in eine andere Richtung. Keines der aufkommenden Andenken ist im gewöhnlichen Sinn lebens- oder gar kindheitsgeschichtlich. Im Gegenteil: die Reminiszenzen des zweiten Teils sind in ihrer Unbestimmtheit räumlich wie zeitlich weitgespannter. Der Hörnerklang beschließt nicht triumphierend das Verwandlungswerk der individuellen Erinnerung, sondern kommt aus der Tiefe der Zeiten. Der Umschlag, der zuletzt sich ereignet, ist nicht der von Melancholie in neue Harmonie, sondern der von Melancholie des individuellen Andenkens in das mythisch personifizierte Gedächtnis allen menschheitsgeschichtlichen Schmerzes (Souvenir, Douleur). Dieses Gedächtnis stellt sich nicht her durch Rückbesinnung des Einzelnen an das, was vergangenen und fremden Generationen 44 45 46

Vgl. Paul Hoffmann, Symbolismus, S. 120. Jauß, Ästhetische Erfahrung, S. 332. Ebd., S. 331.

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widerfahren war; es taucht vielmehr auf in jenem Zusammenzucken, in dem innehaltend das Ich des ersten Teils sich in der Geste Andromaches, der mythischen Figur, und des Tieres wiedergefunden hatte; es erweitert sich im zweiten Teil in den unendlich vielen Anklängen der traumatischen Andenken aneinander. Die Befreiung ist nicht schon die der Harmonisierung, sondern der Gewinnung einer imaginativen Weite, aus der vielleicht ein »monde nouveau« entstehen kann. Zum Heroismus der Mnemotechnik des modernen Künstlers gehört, wie der Guys-Aufsatz sagt, das Durchrütteln der Einbildungskraft unter Einschluß der Gefahr, vom Schmerz überwältigt zu werden. Das Gedicht Le Cygne endet im Schweigen; es ist nichts darüber ausgemacht, daß von hier an wieder ein Sprechen anheben muß.

III.4 Moderne Zeiterfahrung und verdinglichte Erinnerung Benjamins Darstellung der Genese des reflektorischen Charakters ist der Versuch, ein Bewußtsein zu beschreiben, das unter den Bedingungen der »modernité« überlebensfähig ist. »II n'y a plus d'histoire contemporaine. Les jours d'hier semblent déjà enfoncés bien loin dans l'ombre du passé«, schreibt Lamartine zur Zeit der Entstehung der Fleurs du Mal. Der Begriff der »modernité« hält die gleiche Erfahrung fest: das unaufhörliche Uberrolltwerden des gerade erst Entstandenen in einem Prozeß, der keinen einsichtigen Zielsetzungen zu unterliegen, sondern nur einem Gesetz mechanischer Innovation zu gehorchen scheint. Die Gründe für diese Beschleunigung haben mit dem Verlust des kollektiven Gedächtnisses zu tun: die bürgerliche Gesellschaft ist die erste, deren Veränderungen allein nach den Selbstregelungsmechanismen des ökonomischen Wachstums sich bestimmen, die also wirtschaftliche und technische Neuerungen nicht mehr an Imperative eines überkommenen Weltbildes zurückbindet. 47 Die Auswirkungen auf die Zeiterfahrung hat Reinhart Koselleck als Veränderung in der Konstellation von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« beschrieben. Die ständige Beziehung des aus der Vergangenheit Bekannten auf das erwartete Zukünftige muß demnach angesichts der institutionalisierten Umwälzung immer flexibler gehandhabt werden: »Die Kluft zwischen Vergangenheit und Zukunft wird nicht nur größer, sondern die Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung muß dauernd neu, und zwar auf immer schnellere Weise überbrückt werden, um leben und handeln zu 47

Vgl. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als Ideologie. Frankfurt/M. 1968, S. 67 f.

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können.« 48 Benjamin hat diese Überbrückung als zwanghafte Adaptation an neue, aus überkommenen Erfahrungen nicht verständlich zu machende Gegebenheiten durch Ausbildung prozeduraler Erledigungsschematismen aufgefaßt. Altes und Neues werden gar nicht mehr miteinander verbunden, sondern die jeweils geforderten (Re)Aktionsmuster folgen unverbunden aufeinander. Die adäquate Form der Gegebenheit für ein solches Bewußtsein ist Benjamin zufolge die Information: ein Erfahrungsinhalt, der für den Augenblick hergerichtet ist und mit ihm folgenlos verschwindet. Siebzehn Jahre nach der Erstausgabe der Fleurs du Mal erscheint im deutschen Sprachgebiet Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung mit dem Titel Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. Nietzsche wütet darin gegen ein modernes Bewußtsein, das alles Neue sofort »wie aus weiter Ferne« überschaut. Am Beispiel der Kunstkritik erläutert Nietzsche eine Neutralisierungshaltung, die seines Erachtens typisch ist für das ganze Zeitalter: jedes neue, individuelle Ereignis wird unter vergleichenden Kategorien erfaßt und fällt damit sofort den Archiven, die Längstbekanntes speichern, anheim: ( . . . ) es mag was Gutes und Rechtes geschehen, als Tat, als Dichtung, als Musik: sofort sieht der ausgehöhlte Bildungsmensch über das Werk hinweg und fragt nach der Historie des Autors. Hat dieser schon mehreres geschaffen, sofort muß er sich den bisherigen und den mutmaßlichen weiteren Gang seiner Entwicklung deuten lassen, sofort wird er neben andere zur Vergleichung gestellt, auf die Wahl seines Stoffes, auf seine Behandlung hin seziert, auseinandergerissen, weislich neu zusammengefügt und im ganzen vermahnt und zurechtgewiesen. Es mag das Erstaunlichste geschehen, immer ist die Schar der historisch Neutralen auf dem Platze, bereit, den Autor schon aus weiter Ferne zu überschauen (.. .). 49

Nietzsche ist der erste, der die registrierende Abgleichung aller möglichen Erfahrungsinhalte mit einer wahren Konservierungswut in Zusammenhang bringt: in dem Maß, in dem sie nichts mehr wirklich an sich heranlassen, bewahren die »historisch Neutralen« manisch alles auf. Nietzsches Historismuskritik gehört, wie Siegfried Kracauer gezeigt hat, mit Baudelaires Ablehnung der Photographie zusammen. 50 Beide sehen in den technischen Archivierungen, die alles ohne subjektive Auswahl konservieren, ein Indiz für einen nachlassenden Lebenswillen. Fluchtpunkt ihrer Befürchtungen ist 48

49

50

Reinhart Koselleck, >Erfahrungsraum< und >Erwartungshorizont< — zwei historische Kategorien. In: R. K., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/M. 1984, S. 3 4 9 - 3 7 5 . Das Zitat S.369; dort auch die Sätze Lamartines aus der Histoire de la Restauration. Nietzsche, Werke in sechs Bänden. Hg. v. Schlechta. Bd. I, S. 242. Die weiteren Zitate aus Vom Nutzen und Nachteil werden alle nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text in Klammern angegeben. Siegfried Kracauer, Die Photographie. In: S. K., Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. 1977, S. 2 1 - 3 9 . Vgl. v. a. S. 2 3 - 2 6 .

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ein Bewußtsein, das sich aus Sequenzen gleichförmiger Abläufe zusammensetzt und damit den Prozeß der ständigen Interpretation seiner Vergangenheit unter seinen Sinnentwürfen an den >Lauf der Dinge< abtritt. Wird das Leben nicht nach Maßgabe eigener Projektionen gestaltet, dann wird Vergangenheit auch nicht unter den Orientierungen, die eine »erhöhte« gegenwärtige »Praxis« (S. 224) ihr gibt, aufgenommen. Eine lebendige Beziehung von Vergangenheit und schaffender Praxis deutet Nietzsche in seiner Phänomenologie der »natürlichen« (S. 230) Konstellationen an, in denen die Gegenwart zur Geschichte stehen kann. 51 Die Überlegungen des Anfangs der Historienschrift formulieren die Gefahr in einer allgemeineren Hinsicht. Der Mensch steht in prinzipieller Differenz zu seiner eigenen Lebenstätigkeit. Diese Differenz ist Grund seiner Freiheit, indem die Gegebenheiten im menschlichen Bewußtsein nicht unmittelbar mit Impulsen zu bestimmten Handlungen zusammengeschlossen sind. Der Mensch beginnt aber, die Gebundenheit des Tieres neidvoll zu betrachten, wenn ihn die Distanz, die er zu sich einnimmt und die ihm erlaubt, bestimmte Dinge in seinem Bewußtsein voneinander zu unterscheiden und in Beziehung zu setzen, dazu verleitet, seine eigene Freiheit ebenfalls wie ein Ding zu behandeln, das restlos aus der Konstellation solcher Gegebenheiten hergeleitet werden könnte. Da menschliches Handeln aber niemals von seinen objektivierbaren Voraussetzungen und Bedingungen bewirkt wird (Kausation, Mechanismus), sondern als Akt der Freiheit erst die Sinndimension hervorbringt, aus der heraus das Vorangegangene als Grund einer Hand-

51

Im Fall der monumentalischen Historie steht am Anfang die Unsicherheit über die Realisierbarkeit der eigenen kühnen Intentionen. Die Geschichte kann zeigen, daß der große Wurf gelingen kann. Im Fall der antiquarischen Historie steht am Anfang eine Verunsicherung durch fremde, von außen herangetragene Anforderungen. Die Besinnung auf die eigene, gewachsene Tradition, in der man steht, gibt eine Stütze, sich dagegen zu behaupten. Im Fall der kritischen Historie schließlich ist es der Wunsch, sich frei zu machen von einer als erdrückend empfundenen Vergangenheit, der man nicht mehr verpflichtet sein will. Die kritische Aufdeckung all der Irrtümer und Zufälle der Vergangenheit nimmt ihr die Autorität und ermöglicht einen N e u anfang. Vergangenes kann also gleichermaßen punktuell, an einzelnen herausragenden Momenten (monumentalisch), wie als sinnvolles, bergendes Kontinuum (antiquarisch) wie als kontingentes Geschehen, das nur aus der Absetzungsbewegung der Gegenwart Sinn erhält (kritisch), erfahren werden. Welcher Aspekt gerade zur Geltung kommt, entscheidet sich je an der konkreten Situation. Entscheidend ist, daß keine der Betrachtungsweisen sich verselbständigt: »Jede der drei Arten von Vergangenheits-Erkenntnis ist jeweils dem Leben dienlich, d. h. zugehörig dem jeweiligen Geschichts-Vollzug, wenn sie — und das besagt, solange sie — Abwehr oder Uberwindung einer Perversionsform ( . . . ) von einer der beiden anderen ist.« Dieter Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte. Zum Verhältnis von Vergangenheitserkenntnis und Veränderung. Köln 1975, S. 71.

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lung interpretiert werden kann (Motivation, Subjektivität), ist der Versuch, erst etwas zu tun, wenn alle Voraussetzungen erfaßt sind, aussichtslos und wirkt lähmend. »Man kann kein Glied rühren, wenn man vollkommen erst erkennen will, was zur Rührung eines Gliedes gehört«, schreibt Nietzsche in einer frühen Notiz. 52 Die Stoßrichtung der Historienschrift geht konsequent gegen eine >zeitgemäße< Verzagtheit, die sich die Möglichkeiten menschlicher Subjektivität ganz und gar von deren erstarrten vergangenen Hervorbringungen diktieren lassen will. Der Verzicht auf die eigene Freiheit — die nicht begriffen werden kann, sondern betätigt werden muß — und die ratlose Versammlung nichtssagender Vergangenheitsdaten sind bei Nietzsche derart korreliert. Mit dem praktischen Willen, selbst über seine Geschicke zu bestimmen, verschwindet die jeweilige Sinnrichtung, die eine bestimmte Vergangenheit als jetzt bedeutsam belebt, Vergangenheit überhaupt durch das sinnreiche Spiel der Akzentuierungen und Weglassungen als Vergangenheit eines Individuums kenntlich macht. Einer Zukunft gegenüber, die als >Sachzwang< auf die Menschen >zukommtArbeits will sagen: der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit allem gleich >fertig werden< will«. 53 Die Fülle neuer Aktualitäten bringt in Wirklichkeit keine neue Erfahrung. Das wilde Hetzen nach dem »Schnellen, 52

53

Nietzsche, Kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. G. Colli und M. Montinari. Berlin und New York 1972. Bd.III.3, S. 61 f. Nietzsche, Werke in sechs Bänden. Hg. v. Schlechta. Bd. II, S. 1016.

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Neuen, Fremden«54 repetiert im Grunde eine Äußerlichkeit, die auch bei Betrachtung des Vergangenen nicht verborgen bleibt. Nietzsches Hoffnung, aus der mechanischen Perpetuierung der eingeübten Erfahrungsmuster auszubrechen und die Dimension eines wahren Neuen zu eröffnen, verbindet sich dabei gerade mit der Erinnerung. Die »lange Erschütterung« (S. 238), die in der Erfahrung einer fremden, sich den Begriffsschablonen der Gegenwart widersetzenden Vergangenheit verstörend wirkt, kann zum Impuls der »erhöhten Praxis« werden. In dieser Perspektive begreift Nietzsche seine eigene Unzeitgemäßheit: der (allerdings untypische) klassische Philologe verdankt sie seiner Beschäftigung mit den »älteren Zeiten« (S.210). Die Tendenz zur abseitigen, erschütternden oder befremdenden Erinnerung in der modernen Kunst kann deshalb nicht ursächlich auf eine »Dysfunktionalisierung von Erinnerung« durch die modernen technischen Speichermittel zurückgeführt werden.55 Das klingt ein wenig, als werde das »Datenspeichern« als angestammte Funktion des Gedächtnisses betrachtet, die in der Neuzeit immer perfekter von Maschinen geleistet wird. Der Mensch zieht sich dann auf den Restbereich zurück, den die Technik nicht übernehmen kann: das affektive Erinnern. Tatsächlich >speichert< ein individuelles Gedächtnis aber niemals >Datender Fall warpersönlichen< Lebensdaten ein Mehr an subjektiver Bedeutung ausmachen können. Magnetbänder hingegen zeichnen nicht für sich auf; Bedeutung hat alles in den modernen Datenarchiven Deponierte nur insofern, als menschliche Bewußtseine es für ihre Zwecke und Absichten verfügbar halten wollen oder machen. Die verdinglichende Rede vom Gedächtnis als Datenspeicher verkehrt die wahren Verhältnisse: auch die riesigen elektronischen Archive des 20. Jahrhunderts sind letztlich Funktionen individueller Bewußtseine, die diese Daten interpretieren und in Handlungszusammenhänge einbeziehen. Daß die Welt als unabsehbares Reich von >Informationen< erscheint, aus deren >Fluß< und >Vernetzung< sich Vorgaben für das menschliche Handeln ergeben, ist eine dem Marxschen »Fetischcharakter der Ware« analoge Enteignung subjektiver Tätigkeit: die Menschen hypostasieren ihre eigenen Handlungen zu dinglichen Entitäten, deren undurchschautem Zusammenhang sie sich unterworfen fühlen. Eine genetische Betrachtung darf das Speichern von >Daten< als Gedächtnisleistung nicht naturalisieren. Den Charakter von Daten, deren objektiver Zusammenhang reproduziert werden muß, nehmen die Gedächtnisinhalte erst an, wenn der unmittelbare Lebensvollzug zur Befolgung sachlich vorgegebener Abläufe wird. Die Konzentration auf die wahren, affektiv aufgeladenen Erinnerungen in der Literatur der Moderne verdankt sich nicht der Konkurrenz der technischen Speicher, die Erbhöfe des Bewußtseins gleichsam annektieren. Deren Aufblähung ist nur sichtbarer Ausdruck einer Entfremdung, die dem Innern des Gedächtnisses darin widerfährt, daß ihm seine ganze Vergangenheit als eine Ansammlung von Daten entgegenkommt, mit denen sich nichts vom Subjekt Vermeintes verbinden läßt. Erst die von Nietzsche beschworene Entleerung des äußeren Lebens zwingt dazu, die eigentliche Geschichte des Subjekts in dem zu suchen, was niemals deutlich nach außen getreten, artikuliert oder expliziert worden war. Das ist durchaus auch eine neue Stufe gegenüber Rousseaus Willen, die »chaîne des sentiments« wiederzufinden. Denn kennzeichnend für die neueren Autoren ist ein tiefes Mißtrauen gegen das, was sich ihnen von Situation zu Situation als ihre »Gefühle« darbietet: die »spontanen« Gefühlsreaktionen sind verdächtig, ein Bestandteil der reflektorischen Konventionen zu sein, die den Individuen gleichsam eingestanzt sind. Rousseaus Angst war nicht, sich unmittelbar über die Unvergleichlichkeit seines Gefühls täuschen zu können; alles wurde nur durch die öffentliche Darstellung möglicherweise in sein Gegenteil verkehrt. Deshalb ist ihm der Gedanke fremd, daß nur die unvorhersehbaren, unwillkürlichen Einblicke ins Innere von Bedeutung sein könnten. In der Gedächtnispoetik nach Baudelaire wird dagegen geradezu gewarnt vor einem Schreiben, das der scheinbaren Unmittelbarkeit und 146

Authentizität der aktuellen Gefühle aufsitzt. So notiert der junge italienische Lyriker Eugenio Montale 1917 in sein Genueser Tagebuch eine Beobachtung von Duhamel, die seine eigenen Erfahrungen zu bestätigen scheint: Gute Idee Duhamels: um neue Bilder und Analogien zu entdecken, muß man nicht unmittelbar an Ort und Stelle Aufzeichnungen der empfundenen Gefühle machen, das schadet eher. Man muß die Empfindungen verdauen, vergessen; damit sind sie noch nicht verloren; beim Schaffensprozeß — auch nach vielen Jahren — steigen sie in uns empor, neuer, wahrer, notwendiger: die Zeit bewirkt eine Auswahl in uns und bewahrt die besten und die tiefen. 5 '

Aus der Überlegung, daß das wahre subjektive Leben von dem weit entfernt ist, was der moderne Alltag an Leistungen fordert, kommt die zunehmende Betonung von Vergessensprozessen. Die Subjektivität ist aus den Erstarrungen des äußeren Lebens so weitgehend verschwunden, daß es seltsamer Zufälle oder ungesunder Gewaltmaßnahmen bedarf, um sie unter den konventionell gesteuerten Lenkungen der Aufmerksamkeit wieder freizulegen. Die Hoffnung, dem aller Eigentümlichkeit beraubten modernen Leben neue kollektive Erlebnisqualitäten abgewinnen zu können, ist eine Grundfigur in der modernen Literatur. Bei Musils Ulrich, dem »Mann ohne Eigenschaften«, taucht dieser Horizont gleich mit der Diagnose auf. D a s Leben wurde immer gleichförmiger und unpersönlicher. In alle Vergnügungen, Erregungen, Erholungen, ja selbst in die Leidenschaften drang etwas Typenhaftes, Mechanisches, Statistisches, Reihenweises ein. ( . . . ) Es hatte den Anschein, daß die Zeit das Einzelwesen zu entwerten beginne, ohne doch den Verlust durch neue gemeinschaftliche Leistungen ersetzen zu können. 5 7

Benjamins Modell anamnetischer Solidarität aller in der Geschichte Niedergeworfenen (das Baudelaire keineswegs einfach von ihm imputiert wird) ist ein Versuch, aus der zersplitterten Zeiterfahrung der Moderne die Dimension der Rettung hervorgehen zu lassen. Was ihn mit anderen, prinzipiell wenig konformen Anstrengungen verwandt erscheinen läßt, ist der Gedanke, ein unmittelbares., gemeinschaftliches Eingedenken könne diesem Bewußtsein aus dem Verlust kohärenter, durchgängig vermittelter individueller Erfahrungskontinuität entstehen. Im Vordergrund steht dann das Sensorium für die Augenblicke, die gewöhnliche Abläufe schlagartig unterbrechen und in einem Kollektiv alle persönlichen Reminiszenzen und Erwartungen übergangslos zugunsten eines gemeinsamen Erschauerns verschwinden lassen. Ein Rhythmus, dem alle gleichermaßen ausgesetzt sind, setzt sich mit entpersönlichender Wirkung durch. Bekannt ist Baudelaires 56

57

Eugenio Montale, Q u a d e r n o Genovese (1917). Milano 1983, S. 51 (Übers. A . Lochm a n n / Α . Overath). Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Bd. 4, S. 1093.

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Notiz über die Anheimgabe an den Puls des Großstadtlebens, die den Effekt des alten Gottesdienstes erreicht: »Religiöser Rausch der großen Städte. Pantheismus. Ich bin alle; alle sind ich. Wirbel« (Baud. 5, Raketen, S. 5). Ganz analog deutet er die Leitmotivtechnik Wagners: das Wiederauftreten des Motivs bei der Wiederkehr der Person soll instantan und verbindlich in die Gefühlswelt des >ersten Mal< zurückversetzen: Wir haben beobachtet, daß im >Tannhäuser< die Wiederkehr der beiden H a u p t m o tive, des religiösen und des wollustvollen, dazu diente, die Aufmerksamkeit des Publikums wachzurufen und es in einen Zustand zurückzuversetzen, welcher der gegenwärtigen Situation analog war. Im >Lohengrin< ist dies mnemonische System noch minutiöser angewendet.

(Baud. 3, S. 65)

Baudelaire erläutert dann Wagners Gefühlstechnik, der es gelinge, »jegliches Fleisch im Erinnern (erzittern)« zu lassen (Baud. 3, S. 53), mit der Interpretation der Leitmotive, die Liszt in seinem Buch Lohengrin und Tannhäuser gegeben hat. Liszt bezeichnet sie dort als »Modulationen, welche ( . . . ) , indem sie sich um die Worte schlingen und schließen, von höchst eindringlicher Wirkung« seien, wodurch man »bei der Wiedergabe ( . . . ) in Überraschung und Erregung versetzt« werde (Baud. 3, S. 66). Melodisch zeichnet er den Charakter seiner Personen und ihrer Hauptleidenschaften, und diese Melodien kommen, in der Singstimme oder in der Begleitung, jedes Mal zu Tage, wenn die Leidenschaften oder die Empfindungen, die sie ausdrücken, in Tätigkeit treten. ( . . . ) Seine Melodien sind in einem gewissen Verstände Personifikationen von Ideen; ihre Wiederkehr kündet zugleich auch die Wiederkehr jener Empfindungen an, die die W o r t e nicht mit völliger Deutlichkeit aussprechen: ihnen also vertraut es Wagner, uns alle Geheimnisse der Herzen zu offenbaren.

(Baud. 3, S. 6 6 - 6 8 )

Am Schluß der von Baudelaire zitierten Passage spricht Liszt die Leitmotive als gestufte Hierarchie von »Symbole(n)« (ebd., S. 68) an. Die Aufgabe dieser durchkalkulierten, rhythmisch-melodischen Symbolik ist, die Zuhörer im beständig wiederkehrenden gemeinsamen Vollzug bestimmter Affektdispositionen schließlich zu den selteneren »Stellen der höchsten, göttlichsten Offenbarungen« (ebd., S. 68) hinzuführen. Ein Netz von gleichförmig wiederholten Einzelerregungen soll letztlich übergehen in jenes »völlige Hellsehen«, das Wagner an einer anderen von Baudelaire zitierten Stelle als Charakteristikum der mythischen Erfahrung festgehalten hat (Baud. 3, S. 47). Wagners suggestives Ritual, das als Gesamtkunstwerk auf einen erheblich erweiterten Bereich sinnlicher Erfahrung zielt, will das Einzelsubjekt in überpersönliche Erfahrungsabläufe zurückversetzen. Nietzsche hatte bereits in der Geburt der Tragödie den eigentümlichen Vollzugscharakter dieser Erfahrung herausgearbeitet: das Kollektiv soll das Wagnersche Musikdrama nicht betrachten, sondern, im Sinn des antiken drómenon, be148

gehen. Benjamin hat solcher Kunst, die die Massen — womöglich unter Zuhilfenahme archaischen Volksguts — in Bann schlagen will, zutiefst mißtraut. Sein Konzept von Massenrezeption geht nicht auf ein Eintauchen 58 in Gemeinsamkeit stiftende Vorgänge, sondern zuallererst auf die Gewinnung einer geistigen Beweglichkeit, die ein Ausbrechen aus dem neomythischen Wiederholungszwang der Erfahrungsstereotypen ermöglicht. Dennoch war er überzeugt, daß die Momente, die aus dem mechanischen Mitgehen im Rhythmus des bürgerlichen Fortschritts ausscheren, in einer schwer nachvollziehbaren Weise mythische Gehalte aufnehmen müssen, wenn sie die Aussicht auf Befreiung eröffnen sollen. Vermittelt ist diese Aufnahme für Benjamin offenbar über die Bewegungen des Körpers und der Sinne, die auch das ekstatische Erinnern bei Baudelaire und Proust auslösen: eine bestimmte Körperhaltung, eine bestimmte Empfindungskurve wiederholt ohne begriffliche Interpretation eine frühere analoge. Diese Ubereinstimmung zwischen Baudelaire und Proust ist für Benjamin entscheidend; wie weit ins >Frühere< das Bewußtsein dabei zurückgeht, ist nur Indiz für den Stand der Epoche: Daß der restaurative Wille Prousts in den Schranken der irdischen Existenz befangen bleibt, Baudelaires über sie hinausschiebt, kann als symptomatisch dafür begriffen werden, wieviel ursprünglicher und machtvoller die Gegenkräfte sich Baudelaire angekündigt haben. (Benj. 1.2, S. 640)

Benjamin geht wohl von der an Baudelaire rekonstruierten Erfahrung aus, daß eine beliebige, unkonzentriert vollzogene Bewegung sich plötzlich unendlich vervielfacht; in einer bestimmten Körperhaltung regen sich gleichsam die unzählig vielen vergangenen analogen Haltungen nicht nur dieses einen Menschen, sondern der ganzen Gattung (auch Proust kennt solche millenarischen Erinnerungen, wie gleich der Anfang der Recherche zeigt). Die unabsehbaren »Anklänge«, die darin vernommen werden, ziehen in eine Tiefe der Zeit, die, wie Benjamin in der Interpretation der »Correspondances« betont, nicht mehr historisch ist, sondern »Vorgeschichte« (Benj. 1.2, S. 639). Der Begriff der »Vorgeschichte« meint hier, wie Jürgen Habermas am einleuchtendsten dargelegt hat, wahrscheinlich den Rückgang auf »subhumane Formen der Kommunikation«, 5 9 in denen sprachliche Laute nicht referentiell entgegengesetzte und fixierte Gegeben58

59

Das Eintauchen in eine entpersönlichte »Bewegung der Seele«, die auf »Besonnenheit« verzichtet, hat Nietzsche später (in Menschliches, Allzumenschliches) als die Absicht der Wagnerschen Kunst gekennzeichnet: »Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik ( . . . ) verfolgt, (.. .) kann man sich dadurch klarmachen, daß man ins Meer geht, allmählich den sicheren Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Element auf Gnade und Ungnade übergibt: man soll schwimmen.« (Colli/Montinari, Bd. IV.3, S. 70). Habermas, Kultur und Kritik, S. 329.

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heiten als etwas bezeichneten, sondern expressiv auf einer noch vorrepräsentativen Stufe Erregungen, Spannungen und Begehrungen im unmittelbaren Lebensvollzug ausdrückten. Das Bewußtsein bezieht sich darin nicht auf Objekte, di e für es mit seinen (abhebbaren) emotionalen Zuständen gegeben sind, sondern ist in völliger Ungeschiedenheit von Innen und Außen Selbsttätigkeit als Mitvollzug von Naturvorgängen. Benjamin geht nicht davon aus, daß diese vorgeschichtlichen Erfahrungsgehalte materiell in einem irgendwie leiblichen Gedächtnis überdauert haben, wohl aber davon, daß sie bewahrt und tradiert werden im mimetischen Moment der nichtsprachlichen und sprachlichen Kommunikation der Menschheit. Weil die Correspondances aber nicht vermittelt den Zeichen, sondern unmittelbar den physiognomischen Ausdruckscharakteren zu entnehmen sind, ist ihr Verstehen an rhythmische Bewegung im weitesten Sinn gebunden. So stößt Proust in der Madeleine-Szene zwar schließlich auf eine konkrete Erinnerung, bedeutungsvoller aber ist für Benjamin das »Suchen« und »Schaffen«,60 das vorangeht, das »Muskelspiel des intelligiblen Leibes« (Benj . I I . l , S. 324) bei der »Anstrengung, diesen Fang zu heben«. Die mémoire involontaire gibt im Grunde keinen vergangenen Geschmack (eines Kuchens z. B.) wieder; da keine festgehaltene Empfindung von etwas beim ersten Mal vorlag, erfolgt die Identifikation dessen, was es war, erst im Nachhinein, bezeichnet aber nur das Nicht-Festgehaltene, um das es eigentlich geht. Als Erinnerung an eine bestimmte Situation wäre sie tatsächlich trivial, als Hineinfinden in eine »Bewegung«, die alles im Erinnernden »weckt«, »strömt« ihm mit ihr eine »mächtige Freude« zu. 61 Die symbolistische Literatur kennt zahlreiche solcher Augenblicke, in denen plötzlich in einer bestimmten Haltung oder Bewegung eine Art Sogwirkung aus der Tiefe der Zeit verspürt wird. Für Hofmannsthal, dessen Frühwerk Gegenstand des folgenden Kapitels ist, bezeugen solche Empfindungen die Anwesenheit der Sphäre, an die er mit dem Begriff der Praeexistenz erinnern will: Ich kann mich ja nicht getrennt von allem Dasein fühlen und kein Element meines complexen Bewußtseins schweigt je völlig. W i e ich mich jetzt spüre ( . . . ) spür ich dann nicht zugleich D i c h , alles was ich von D i r in mir trage, ja eine Ahnung von Stunden Deines L e b e n s , die ich nicht miterlebt habe, und spür ich nicht hunderte von Männern und Frauen in mir leise leben? Liegen nicht viele Lebendige und T o t e mit uns im Bett, trinken aus unserm Glas und bücken sich, wenn wir uns bücken? Wenn man Kindern Märchen erzählt, weinen sie vor Angst, als sähen sie den entschwundenen Menschen, von dem die Rede ist, als sähen sie ihn gegenwärtig in einer wirklichen G e f a h r , aus der sie ihm nicht helfen können. U n d doch war das, wovon im Märchen die Spur ist, vor 3000 Jahren Ereignis. Aber i s t es darum jetzt weniger?

( B r K B , S. 9 3 : 22. Aug. 1895)

60

Proust, Auf der Suche, S. 64.

61

Kombination zweier Stellen ebd., S. 64 u. S. 66.

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KAPITEL I V

Eine Mischung von Tod und Leben — Gedächtnispoetik und Erinnerungspoesie im Frühwerk Hofmannsthals Was soll Echo machen die nur Stimme ist? (Novalis)

IV. 1 Erinnerung und Kontinuitätsbewußtsein Gedanken über Funktion und Arbeitsweise des Gedächtnisses finden sich von Anfang an in Hofmannsthals Aufzeichnungen. Viele der Formulierungen des Gymnasiasten und Jurastudenten nehmen um der polemischen Pointe willen Widersprüchlichkeiten in Kauf; das gilt auch für die bekannte, als »νόημα πρυτανεύον« für den 17. VI. 1891 festgehaltene Notiz, die das »Ich« verwirft: Wir haben kein Bewußtsein über den Augenblick hinaus, weil jede unsrer Seelen nur einen Augenblick lebt. Das Gedächtnis gehört nur dem Körper: er reproduziert scheinbar das Vergangene, d. h. er erzeugt ein ähnliches Neues in der Stimmung: Mein Ich von gestern geht mich so wenig an wie das Ich Napoleons oder Goethes. (A 1891, S. 333)

Analysiert man die Inhalte einer Erinnerung, so ließe sich der Gedankengang in diesem Abschnitt erläutern, dann handelt es sich um eine Vielzahl bestimmter, letztlich sinnlich-körperlicher Empfindungen, die aktuell sind: ich sehe jetzt diese und jene Gestalten, Farben usf. vor mir, ich fühle jetzt Trauer, Glück usf. angesichts dieser Sensationen. Die »Seele« ist nichts als die spezifische Konstellation der gerade gegenwärtigen Empfindungen; sie vergeht mit deren Veränderungen im nächsten Moment. Entschieden richtet sich diese Notiz gegen die Vorstellung eines dauernden Ich, dem diese Empfindungen als wechselnde, seine Permanenz aber nicht tingierende Zustände zugeschrieben werden können. Das Ich ist hier, wie bei Mach, tatsächlich nur die Summe der Beziehungen zwischen den verschiedenen Bestandteilen einer aktuellen »Stimmung«. 1 Es gibt kein Ich, das mehr wäre als diese »Vorstellungen« unterschiedlichster Art, die im Bewußtsein auszumachen sind. Die Fähigkeit, eine vergangene Stimmung, die >meinem< persistenten Bewußtsein angehört, wieder hervorzurufen, ist des1

»Stimmung ist die Gesamtheit der augenblicklichen Vorstellungen.« (A 1891, S. 325). 151

halb eine Fiktion. Statt dessen wird den Empfindungskomplexen eine problematische Selbstbezüglichkeit zugesprochen: sie erinnern, grundsätzlich verschieden wie sie sind, doch durch »Ähnlichkeit« aneinander und erzeugen so den Schein der Reproduktion eines Vergangenen durch ein übergeordnetes Bewußtsein. Weil es aber tatsächlich nur die verschiedenen Stimmungen (die — mit Mach gesprochen — »in der Welt spazieren gehen«) gibt und keine geistige Einheit, der sie angehören, gibt es auch keinen privilegierten Zugang zu irgendwelchen >eigenen< vergangenen >états d'âmeFreude< empfand, steht dann für eine differenzierte, möglicherweise in sich widersprüchliche Folge von Zuständen. Uber die sprachlichen Begriffe (>IchFreude< ) wird eine Kontinuität und Vertrautheit mit diesem Entschwundenen vorgespiegelt, die in Wahrheit nur in gegenwärtigen Empfindungen2 anzutreffen ist. Als tatsächlich gegenwärtig wird deshalb die differenzierte, affektiv besetzte Erinnerung >entlarvtetwasIchsich wandelt«, ist der gemeinsame Ausgangspunkt; in Musils Vereinigungen befällt es Claudine auf ihrer Reise ins Internat, die zu einer Reise durch Grenzzustände des Bewußtseins wird: Man geht täglich zwischen bestimmten Menschen oder durch eine Landschaft, eine Stadt, ein Haus und diese Landschaft oder diese Menschen gehen immer mit, täglich, bei jedem Schritt, bei jedem Gedanken, ohne Widerstand. A b e r einmal bleiben sie plötzlich mit einem leisen R u c k stehen und stehn ganz unbegreiflich starr und still, losgelöst, in einem fremden, hartnäckigen Gefühl. U n d wenn man auf sich zurücksieht, steht ein Fremder bei ihnen. D a n n hat man eine Vergangenheit. Aber was ist das? fragte sich Claudine und fand plötzlich nicht, was sich geändert haben konnte. Sie wußte auch in diesem Augenblick, daß nichts einfacher ist als die A n t w o r t , man selbst sei es, der sich geändert habe, aber sie begann einen sonderbaren Widerstand zu fühlen, die Möglichkeit dieses Vorgangs zu begreifen; ( . . . ) man braucht sich b l o ß vorzustellen, gestern habe ich dies oder jenes getan: irgendeine Sekunde ist immer wie ein Abgrund, vor dem ein kranker, fremder, verblassender Mensch zurückbleibt, man denkt bloß nicht daran, — und plötzlich erschien ihr in einer schlagschnellen Erhellung ihr ganzes L e b e n von diesem unverstehbaren, unaufhörlichen Treubruch beherrscht, mit dem man sich, während man für alle andern der gleiche bleibt, in jedem Augenblick von sich selbst loslöst, ohne zu wissen warum, dennoch darin eine letzte, nie verbrauchte bewußtseinsferne Zärtlichkeit ahnend, durch die man tiefer als mit allem, was man tut, mit sich selbst zusammenhängt. 4

4

R o b e r t Musil, Gesammelte Werke in neun Bänden. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek bei H a m b u r g 1978, Bd. 6, S. 178 f.

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Daß hier eine Frage der Seele angesprochen ist, die aufzulösen der Verstand sich schon öfters außerstande erklärt hat, zeigt ein Blick auf philosophische Versuche, das Problem der Identität einer Person über die Folge ihrer Zustände zu erklären. Ahnlich gelagert wie Machs Versuch, das Ich als metaphysisches Relikt aus einer streng wissenschaftlichen Weltbetrachtung auszuscheiden, war bereits David Humes Zweifel an der »Gewißheit des Ich«. 5 Weder — so Hume — ist in den unterschiedlichen Vorstellungen, deren ständiger Wechsel »den Geist ausmacht«,6 etwas anzutreffen, an dem diese Veränderungen eintreten, noch kann »real« eine Instanz ausfindig gemacht werden, die den Ubergang von einer Vorstellung zur nächsten bewerkstelligt. 7 Trotzdem fühlen wir eine »Nötigung« 8 anzunehmen, daß, wie die distinkten Gegebenheiten eines aktuellen Bewußtseins, die aufeinanderfolgenden Erlebnisse einer Person in einem inneren Zusammenhang stehen. Angesichts dieser Unvereinbarkeit schwankt Hume zwischen Verwerfung des Identitätsproblems als einer nicht wirklich »philosophischen Frage« 9 und dem Eingeständnis, daß die Lösung dieser Frage für seinen Verstand »eine zu harte Aufgabe« 10 sei. Neuere Arbeiten zur Bewußtseinstheorie nehmen diesen Bescheidenheitsgestus entweder direkt auf11 oder verweisen am Schluß auf die Schwierigkeiten einer noch ausstehenden konsistenten Theoriebildung zu diesem Problem.12 Offensichtlich spielt Erinnerung eine bedeutende Rolle in Bezug auf das Bewußtsein von der Einheit der Person. Durch Erinnerung weiß ich nicht nur von einer Vergangenheit überhaupt; ich weiß unmittelbar und ohne ein weiteres Kriterium von meinen vergangenen Erlebnissen als meinen Erlebnissen. Wenn ich mich daran erinnere und davon rede, daß ich vor zwei Tagen Zahnschmerzen gehabt habe, dann erscheint die Frage, ob tatsächlich >ich< es gewesen sei, der diese Schmerzen empfunden hat, ähnlich 5

6 7 8 9 10 11

12

David Hume, Traktat über die menschliche Natur. Buch I: Über den Verstand. Hamburg 1978, S . 3 2 5 . Ebd., S. 327. Hervorh. im Original. Ebd., S. 363 f. Ebd., S. 363. Ebd., S. 339. Ebd., S. 364. Manfred Frank, Die Unhintergehbarkeit von Individualität. Frankfurt/M. 1986, S. 131. Ulrich Pothast, Uber einige Fragen der Selbstbeziehung. Frankfurt/M. 1971, S. 1 1 4 f. Einen zusammenhängenden Überblick über die philosophischen Identitätstheorien gibt Dieter Henrich in seinem Aufsatz: >Identität< — Begriffe, Probleme, Grenzen auf den Seiten 137—140. In: O d o Marquard und Karlheinz Stierle (Hrsg.), Identität. München 1979, S. 1 3 3 - 1 8 6 .

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sinnlos wie die Frage nach der Berechtigung von aktuellen Selbstzuschreibungen. 1 3 Die Gewißheit, mit der ich meine vergangenen erinnerten Erlebnisse mir zuschreibe, ist so untrüglich wie die Sicherheit, mit der ich weiß, daß die aktuellen Vollzüge meines Bewußtseins — Wahrnehmungen, Wünsche, Schlußfolgerungen usf. — in meinem

Bewußtsein stattfinden. Sicher

kann es in der Erinnerung zu falschen Zuordnungen kommen: ich kann in Bezug auf einen guten Gedanken, den ich vor längerer Zeit von einem Bekannten gehört habe, erinnernd der Uberzeugung sein, ich hätte diesen Gedanken entwickelt. Ich kann mich auch erinnern an Erlebnisse, die ich zu der Zeit in der F o r m nicht gehabt habe. Wenn ich mich aber erinnere, dies oder jenes gedacht oder erlebt zu haben, steht die Identität des vergangenen und des gegenwärtigen Bewußtseins nicht in Frage. Könnte sie in Frage gestellt werden, so würde — wie Shoemaker gezeigt hat — das Vergangenheitswissen überhaupt entschwinden. 14 Von dieser basalen Selbstgewißheit abzuheben sind die Entfremdungsgefühle, die den Erinnernden befallen können angesichts jenes bestimmten Ich, das damals dies und jenes dachte, tat und litt. Wenn Hofmannsthal schreibt, er verspüre »von Zeit zu Zeit einen wahren Haß gegen die letztvergangene Phase« seines »eigenen Denkens«, gegen sein »Ich vom Jänner« (Brief an E. Bruckmann, 1894, Br. I, S. 103), wenn er bestürzt mitteilt, er »verliere manchmal den Glauben, den inneren, spontanen, selbstverständlichen Glauben an die Realität (s)eines Ich, an die Einheit von Vergangen-

13

14

Vgl. Sidney Shoemaker, Self-Knowledge and Self-Identity. Cornell University Press 1963, S. 135: »Suppose ( . . . ) that the statement >1 broke the front window yesterday* is made as a memory statement. It will not be the case that the speaker first knows that someone broke the front window yesterday and then discovers that that person was himself. If what he remembers is that he broke the front window, then for him the question >Am I the person who broke the front window?< cannot arise.« Wenn es ein Bewußtsein gäbe, das erinnerte Erlebnisse einem anderen Bewußtsein als sich zuschreiben könnte, wären Aussagen über die Einheit der Erscheinungswelt unmöglich. Shoemaker hat das an einer Konstruktion demonstriert. Sein Beispiel ist ein Stein, der einen Hügel hinunterrollt; ein Vorgang, der in zwei Phasen unterteilt werden kann. Wäre nun ein Bewußtsein gegeben, das diese Phasen erinnert, die Erinnerungen aber — gleichsam als von außen bezogen — nicht sich, diesem selben Bewußtsein zuschreiben würde, gäbe es überhaupt keine Sukzession, die als ein Vorgang erfaßt werden kann. Man wäre im Gegenteil gezwungen, soviel Steine und Hügel anzunehmen, als es Bewußtseine gibt, denen diese Erinnerungen zugesprochen werden können (Shoemaker nennt dieses — hier vereinfacht dargestellte — Konstrukt »quasi-memory«). Ich könnte, mit anderen Worten, überhaupt keine zusammenhängende Erfahrung von irgendetwas ausbilden, weil jede Vergangenheit sich in eine Unendlichkeit von Bewußtseinen auffächern würde: »The knowledge of the past provided by such a faculty of quasi-memory would be minimal indeed.« S. Shoemaker, Persons and their past. In: Shoemaker, Identity, Cause, and Mind. Philosophical Essays. Cambridge University Press 1984, S. 19—48. Das Zitat S. 34.

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heit und Gegenwart« (an F . O p p e n h e i m e r , 1895, B r . I, S. 138 f.), dann m a chen sich solche Differenzen geltend auf der Grundlage einer vorgängigen Identifikation, die angesichts der Verschiedenheit der »mois succesifs« unbegreiflich erscheint, die ängstlichen Empfindungen, die dabei auftreten, aber erst verständlich m a c h t : unheimlich ist nicht die Begegnung mit einem anderen, sondern mit sich selbst als a n d e r e m . 1 5 So »leicht aus dem L e b e n ( . . . ) etwas ( . . . ) ganz unzusammenhängend anderes« werden kann (an B e e r - H o f m a n n , 13. Mai 1895, B r . I, S. 129), so unhintergehbar bleibt es — noch über die G r e n z e der A m n e s i e hinaus - das Leben dieses einen Subjekts. 15

In Fällen von »dissociations of a personality«, wie sie Hofmannsthal später interessiert haben (vgl. ζ. Β. A 1907, S. 487), gibt es mehrere Möglichkeiten: es kann bei den sog. »multiplen Persönlichkeiten« völlige Unkenntnis der >anderen< Person(en) bestehen, solange die eine dominiert; es kann, v. a. bei Vervielfachung der sog. »Subpersönlichkeiten«, zu verschiedenen Graden der Beobachtung und simultanen Einflußnahme kommen. Meistens aber sind sich »die ursprüngliche Persönlichkeit und alle Subpersönlichkeiten ( . . . ) der verlorenen Zeitabschnitte bewußt« (K. Koehler/H. Saß (Dt. Bearb.), Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen (DSM III). Weinheim und Basel 1984, S. 269). In diesem Fall weiß ein Mensch nicht genau, welche Persönlichkeit er nun ist, er weiß aber von sich in einem Sinn, der über die Kenntnis der gerade dominierenden Person hinausgeht. Er weiß von seiner Vergangenheit, ohne zu wissen, wer er in dieser Vergangenheit war. Hofmannsthal hat, Alewyn zufolge (Richard Alewyn, Uber Hugo von Hofmannsthal. Göttingen 1967, S. 138 f.), Marias und Mariquitas wechselseitige Kenntnis voneinander (vgl. das Material zum Andreas, EGB, S. 263—319) nach dem Modell von »B I« und »Sally« gestaltet. Maria »ahnt« nur »dunkel das Chaotische in sich« (EGB, S. 275), Mariquita sind selbst Marias innere Abläufe vertraut (vgl. ebd., v. a. S. 276f.). Auch hier hat Hofmannsthal alles daran gesetzt zu zeigen, daß die Kraft, mit der jede für sich ihr Gegenbild aussperrt oder bekämpft, im Grunde (lies: im Hund Fidèle, ebd., S. 275) ihre, der Einen, eigene ist. Jede weiß sich im Gegenbild nicht anhand der konkreten Merkmale der anderen, sondern über eine seltsame Gegenläufigkeit in der Distanzierung, die sie als Se/èi£-Spaltung erweist: »sie haßt sie ( . . . ) und doch ist sie ihr eigenster, der einzige interessante Gegenstand.« (Ebd., S. 276) Zu diesem Komplex >dissoziativer< Phänomene gehören auch die — sicher nicht seltenen — Fälle, in denen eine Person nicht in der Lage ist, ihre vergangenen Gedanken, Wahrnehmungen, Pläne usf. als von ihr selbst initiierte Aktivität zu erinnern. Schreber erinnert sich in den Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken an unzählige Vorstellungen, die nicht die seinen gewesen seien, sondern ihm von der »Flechsigschen Seele« aufgedrungen. Der Kranke würde aber nicht bestreiten, daß diese Vorgänge sich in seinem Bewußtsein abgespielt haben. Gerade deshalb benötigt er ja das mechanische Konstrukt des »Nervenanhangs«, mittels dessen Prof. Flechsig sich seiner Seele bemächtigt haben soll. Was fraglich werden kann, ist die Einheit des Ich als einer Aktivität, die bestimmte Vorstellungen kontrolliert hervorbringt, nicht aber die Einheit des Bewußtseins, in dem diese Vollzüge ablaufen. Wichtig ist diese Unterscheidung in Bezug auf das, was man auch bei Hofmannsthal unter dem Begriff der >Depersonalisation< behandelt hat (vgl. Gotthart Wunberg, Der frühe Hofmannsthal. Stuttgart 1965, S. 13).

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Daß der Zusammenhang mit sich selbst »tiefer« angelegt ist als auf der Ebene dessen, »was man« von Augenblick zu Augenblick »tut« — die Einsicht Claudines in den Vereinigungen —, ist auch die grundlegende Erfahrung des jungen Hofmannsthal. Jene »letzte Zärtlichkeit« rein zu fassen, die die Kontinuität des Bewußtseinslebens stiftet, erscheint in den frühen Aufzeichnungen als der beständige Anziehungspunkt hinter den einzelnen Vorstellungsbildern und -ablaufen, die darin festgehalten werden. » U n d wenn man tief bohrt, schwindet die Bildlichkeit«, heißt es in einem Brief von 1894 (Br. K B , S. 58), und etwa ein Jahr später — zu einer Zeit, für die Hofmannsthal später bereits die Wandlung zu mehr Festigkeit ansetzt — interpretiert er gegenüber Karg-Bebenburg den Narziß-Mythos in dieser Ausrichtung: Reif werden heißt vielleicht nur: lernen in sich so hineinzuhorchen, daß man darüber allen solchen L ä r m vergißt und schließlich gar nicht mehr zu hören vermag. Wenn man sich in sich selber verliebt und über dem Anstarren des Spiegelbilds ins Wasser fällt und ertrinkt, wie es vom Narciß heißt, so ist man glaub ich den besten Weg gefallen. (18. Jan. 1895, Br. K B , S. 83)

D a s »gar nicht mehr hören« kann man transitiv auf den äußeren »Lärm« des »Geredes der Menschen« (ebd.) beziehen; der Kontext spricht aber dafür, es als das Ende des wahrnehmenden Hörens überhaupt zu verstehen, als das Gewahren einer Stille der reinen Bewußtheit (wo kein Bewußtsein von etwas besteht), die — wie die großartige Aufzeichnung von 1917 es formuliert — immer hinter der »Harmonie der Laute« fühlbar ist. Diese Stille oder »Leere« bezeichnet Hofmannsthal noch in dieser Periode als den »Gegenstand meines unberührbarsten integersten Glaubens« (A 1917, S. 536). U m einen »Glauben« handelt es sich, weil die »Leere« niemals Gegenstand des Wissens werden kann; als das eigentliche Sein des Bewußtseins kann sie von ihm nicht abermals thematisiert werden: Ich spüre daß ich darauf lossteuere, wo nicht hinzukommen ist ( . . . ) . (ebd., S. 537)

Es ist aber auf der anderen Seite kein Glaube, der jeder Erfahrungsgrundlage entbehrte; anschließend an eine lange mystische und eine kürzere romantische Tradition 1 6 , formuliert Hofmannsthal ihren Erfahrungsmodus in deutlichem Anklang an das Paulinische >Haben-als-hätte-man-nichtetwas< bezogen. Die »Reflexion« erst bringt das Wissen der Trennung von Subjekt und Objekt, installiert also in der einheitlichen Differenz des Gefühls eine unübersehbare Spaltung. Auf diese Weise wird deutlich zum Objekt, was schon zuvor eine — wenn auch unmittelbare — Gegebenheit war. Auch hier birgt die Frühe bereits die Differenz in sich; das Gefühl des Ganzen aber überdeckt diese erste Trennung, die mit der Reflexion bewußt wird und als Verlust des Ganzen erfahren wird. In Hofmannsthals Erfahrungen findet sich die allgemeine Struktur der frühromantischen Spekulation wieder; einzelne Aufzeichnungen beschreiben präzis den Eintritt in die Sphäre der Reflexion überhaupt, in der dann eine Phase der Dominanz des Gefühls über Reflexion und ihre Umkehrung unterschieden werden kann: Wir leben in einem abgeleiteten Zustand. Alles die Nachschwingungen eines primären erhöhten Daseins. (A 1895, S. 397)

Peter Szondi, Das lyrische Drama des Fin de siècle. Studienausgabe der Vorlesungen Bd. 4. Hrsg. v. H. Beese. Frankfurt/M. 1975, S.263. " Ebd., S. 262. 18

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»Die Phase nach diesem erhöhten Dasein«, schreibt Rolf Tarot; »differenziert sich für ihn noch einmal ( . . .).« 20 2 große Epochen: die schweifende, die absichtliche, erstere gebraucht in einer dumpfen Antizipation die späteren termini im voraus. — Erstere hat etwas von Kinderkomödie; leichtfertiger Gebrauch der Worte Glück, Ich, Menschen. Leichtfertige Opposition, allmähliche Einsicht in den Wert des Bestehenden. — Der Ubergang bei mir Edgar, Militärjahr, neue Berufswahl. — (A 1895, S. 407)

In welcher Weise die »Antizipation« aus der Dominanz des »Ungreifbaren« im Leben (Br KB, S. 203) über alles einzelne, Greifbare hervorgeht, hat Hofmannsthal wiederum gegenüber Karg-Bebenburg angedeutet. Die Überhöhung, die mit Eintritt der Reflexion zu bitterer Enttäuschung führt, rührt her von der Assimilation des ganzen Gemüts an jedes einzelne. Die Gabe der Kinder, alles zu lieben (A 1907, S. 493), bedeutet ein Erfaßtwerden jedes Gegenstandes von der »grenzenlose(n) wundervolle(n) Magie« jener »unendlichen Kraft«, die »in uns liegen (muß)« (Br KB, S. 105). Der Gegenstand ist darin gleichsam der Sammelpunkt der »Seele in ihrer Totalität« (Br. I, 18. Jun. 1895, S. 142f.) — »Totalität« nicht nur im Sinn der ganzen Wirklichkeit der Seele, sondern — da es sich um eine »unendliche Kraft« handelt — wesentlich im Sinn eines unabsehbaren Wunsch- und Möglichkeitshorizontes. Das ungeschiedene Aufgehen in dieser transzendierenden Bewegung ist es, was den Dingen der Frühzeit ihren magischen Glanz und den Charakter eines Versprechens verleiht. Aus ihm erklärt sich die »unglaubliche Tätigkeit der antizipierenden Phantasie« (A 1894, S. 385). Daß die Erfahrung von kindlicher Überhöhung und späterer Enttäuschung angesichts der Erinnerung an das frühe Glücksversprechen keineswegs exklusiven Charakter hat, sondern jedem vertraut sein kann, zeigen Beispiele aus Hofmannsthals privaten Äußerungen. So schreibt er 1892 an Edgar Karg: »Nächste Woche ist bei uns Weihnachten; an diesen Tagen hänge ich sehr, obwohl sie eigentlich gegen den kindischen Glanz der vergangenen Jahre immer matter und wunderloser werden.« (Br KB, S. 23) Die bruchlose Assimilation von subjektiver Bewegung und Objekt findet den schönsten Ausdruck in einem der frühen Gedichte Hofmannsthals: den Terzinen III. Wir sind aus solchem Zeug wie das zu Träumen, Und Träume schlagen so die Augen auf Wie kleine Kinder unter Kirschenbäumen, Aus deren Krone den blaßgoldnen Lauf Der Vollmond anhebt durch die große Nacht. . . . Nicht anders tauchen unsre Träume auf, 20

Rolf Tarot, Hugo von Hofmannsthal. Daseinsformen und dichterische Struktur. Tübingen 1970, S. 165.

161

Sind da und leben wie ein Kind, das lacht, Nicht minder groß im A u f - und Niederschweben Als Vollmond, aus Baumkronen aufgewacht. Das Innerste ist offen ihrem Weben; Wie Geisterhände in versperrtem Raum Sind sie in uns und haben immer Leben. Und drei sind Eins: ein Mensch, ein Ding, ein Traum. ( G D I, S. 22)

In den Aufzeichnungen aus dem Jahr 1894 sind verstreut Formulierungen erhalten, die diesen Versen zugrundeliegen. Das Eins-Sein: W i r sind aus gleichem Stoff w i e Träume; ob sie in Brüssel an mich denkt oder ich an sie, ist ein und dasselbe: irgendwo im träumenden Muttergrund der Weltseele wird eben ein Gedanke wach. ( A 1894, S. 3 8 2 ; vgl. auch »11.III. nachts«, S . 3 7 9 )

Der Satz aus Shakespeares Sturm, den der erste Vers aufnimmt (»Wir sind solcher Zeug/ Wie der zu Träumen«, heißt es in der Tieck-/Schlegelschen Ubersetzung; vgl. auch GD I, S. 33), bildet wahrscheinlich mit der Imagination der »Geisterhand« den Grundbestand des ganzen Gedichts. Die Substantialisierung der »Träume« verweist auf ein anonymes, übergreifendes Geschehen, aus dem die individuelle Bewußtseinstätigkeit hervorgeht. Nicht >wir träumenirgendwo< und wird mit dem »Augenaufschlag« zum uns bekannten Phänomen, das wir als »Auftauchen« eines Traums bezeichnen. Die Metapher vom Augenaufschlag der Träume geht über in einen Vergleich, der nach der ersten Strophe abgeschlossen scheint. Seine Fortsetzung in der zweiten Strophe wirkt überraschend: verzögert durch die Pause zwischen den zwei Strophen, löst sich aus dem ersten Vergleichsbild ein zweites ab, das den gleichen Vorgang verbildlicht, allerdings mit einer verlagerten Akzentuierung: die Länge des Relativsatzes (2 Verse) und seine Rhythmisierung durch die Inversion suggerieren eine zeitliche Dehnung des evozierten Aufsteigens. Warum wird der Vergleich fortgeführt? Es ist wichtig festzuhalten, daß hier kein zweites eigenständiges Vergleichsbild gesetzt wird, das erneut ein Aufsteigen veranschaulicht, sondern syntaktisch direkt angeschlossen wird mit einem Relativsatz, der — ausgehend von einem der Nomina des Hauptsatzes — einen neuen Inhalt einführt. Innerhalb des Vergleichs schält sich aus dem ersten Vergleichsbild eine zweite Bildschicht heraus, die mit der ersten nach einer genauen Analogie verbunden ist: die Iris, die im Augenaufschlag hinter den 'Wimpern sichtbar wird, geht über in den Mond, der im Aufsteigen hinter den Zweigen der »Kirschenbäume« durchscheint. 162

Mit dieser bildlichen Entsprechung wird indessen keine größere Eindrücklichkeit in der Darstellung des >gemeinten< Vorgangs angestrebt. Der Raum, den der Vergleich aufbaut, und das Geschehen, das sich darin abspielt, müssen ernst genommen werden: dann ergibt sich, daß der Augenaufschlag der Kinder und das Aufsteigen des Mondes nicht auf einer metaphorischen Ebene liegen und gleichermaßen das »Auftauchen« von Träumen verbildlichen. Vielmehr geht der Augenaufschlag der Träume — selbst bereits eine Metapher — über in einen Vergleich mit dem Augenaufschlag kleiner Kinder und dessen Verschiebung auf die angrenzende Natur. Die metonymische, ein räumliches Nebeneinander erst setzende Durchführung der metaphorischen Kette ist kein bloßes Mittel der syntaktischen Verknüpfung, sondern selbst ein gewichtiges Moment des Vergleichs. Die technische Verfahrensweise der gleitenden Ubergänge (eine Metapher wird zum prädikativen Vergleich, dessen Bild in metonymischem Anschluß verdoppelt wird) läßt einen originären Impuls aus dem »träumenden Muttergrund der Weltseele« hinüberwandern in ein personales Subjekt und sofort analog in seiner Umgebung miterstehen. Es ist ein und dieselbe Bewegung jener Traumsubstanz, die das Subjekt ergreift und von ihm der Natur mitgeteilt wird: die Geste der Kinder wird durch Berührung (syntaktische Kontiguität) an den Dingen wiedererweckt. Dabei bringt jede einzelne Stufe eine zeitliche Nuancierung des allgemeinen Bildes vom Augenaufschlag: der unverschleierte Blick des ganz geöffneten Auges — die volle Präsenz des Traums — wird eigentlich erst evoziert durch das Bild des Mondes vor dem Hintergrund der »großen Nacht«. So läuft ein Impuls aus dem Universellen durch Subjekt und Objekt, verändert sich dabei und erhält sich doch als der eine durch Ahnlichkeitsstiftung zwischen den beiden Polen. Man kann in diesem Akt der Blick-Belehnung ein Beispiel für das magische Weltbild sehen, das Hofmannsthal so gerne Kindern und Träumenden zuspricht. Die Einheitlichkeit der einen Grund-Bewegung zeigt sich nicht einfach daran, daß abstrakt analoge Vorgänge beobachtet werden. Vielmehr stehen in dieser Welt von Korrespondenzen die Abläufe in Berührung miteinander und teilen so die analogen Prozesse leibhaftig einander mit. Was an einer Stelle geschieht, kann an der anderen nicht ohne Wirkung bleiben: der Blick-Impuls wird — körperlos wie er ist — gleichsam substantiell von der Natur aufgenommen und wiedererzeugt (daß Relikte jener Magie der allmächtigen Gedanken< auch in Erwachsenen und in alltäglichen gesellschaftlichen Umgangsformen wirksam sind, zeigen simple Beispiele: der geheime Glaube an die Kraft von Verwünschungen — und natürlich auch die Angst davor — oder — freundlicher — das Daumendrücken mit angestrengtem Denken an einen, dem man in diesem Moment Glück wünscht). Daß in Kindern dieser Glaube ungebrochen bestehen 163

kann, ist häufig betont worden. So hat — um auf Hofmannsthals eigenes Beispiel aus dem Brief an Karg-Bebenburg zurückzukommen — der »kindische Glanz« der Weihnachtstage auch für den verwöhnten Bankierssohn wohl wenig mit der bloßen Fülle der Geschenke zu tun. Sehr viel mehr geht es um eine Beziehung zwischen der Kraft der Wünsche und den Gegenständen der Erfüllung, die nach dem Kinderglauben von dieser Kraft beeinflußt werden können (wobei sich auch für Kinder das technische Problem aller Magier stellt: es ist nicht völlig beherrschbar; es kann durchaus schiefgehen, wenn man nicht richtig wünscht). Ungeschiedenheit von Subjekt und Objekt meint auf dieser Stufe also nicht nur Gleichartigkeit prinzipiell differenter Abläufe, sondern wirklichen medialen Kontakt. Der Gedanke, der, an irgendeinem Punkt in die Welt gesetzt, bewirkt, daß anderswo >ein Gleiches< sich ereignet, wird von Hofmannsthal in der Notiz zu den Terzinen selbst in Anspruch genommen (»ob sie in Brüssel an mich denkt oder ich an sie«): Liebespaaren in der Trennung dürften derartige magische Anwandlungen nicht fremd sein. Das »Eins-Sein« von »Mensch«, »Ding« und »Traum«, das der Schlußvers behauptet, ist im Gedicht überzeugend realisiert. Der Traumprozeß, der eine Selbsttransparenz ist, erhält im Vergleich eine Subjekt- und eine Objektseite; die Bewegungen von »Mensch« und »Ding« aber sind in genauer Entsprechung miteinander verbunden. Eine Differenz tut sich auf, wird aber als Entgegensetzung nicht akut, weil der »Blick« von Subjekt und Objekt sich als derselbe erweist. Kaum jemals ist wahrscheinlich die Terzinenform so kunstvoll eingesetzt worden wie in diesem Gedicht, in dem es mehrfach um Doppelungen und ihre Aufhebung in einer triadischen Einheit geht. Bevor der Schlußvers diesen Gedanken ausdrücklich formuliert, wird zunächst die metaphorische Kette »Traum« — »Kind« — »Mond« strukturgleich wiederholt (Schlußvers von Strophe 2 und die ganze Strophe 3). Der Akzent liegt nun — nach dem »Erwachen« und »Aufsteigen« der Träume — auf dem »Dasein« und »Niedersinken«. Man kann den Halbkreis der Mondbahn assoziieren, in der sich Aufstiegs- und Abstiegsbewegung entsprechen. Diese Korrespondenz von unterscheidbaren Phasen wird vor allem suggeriert durch die Rückbindung von Vers sechs an Vers zwei (Träume schlagen die Augen auf — Träume tauchen auf) und Vers neun an Vers vier/fünf (Krone . . . Vollmond — Vollmond . . . Baumkronen). Vers sechs hat eine doppelte Zugehörigkeit: er ist Abschluß der ersten Vergleichsstruktur und erster Satzteil der zweiten. Zweimal wird also in struktureller Entsprechung eine zweistellige Bewegung korrespondierender Glieder entfaltet; zweimal wendet sich diese Bewegung, die insgesamt eine Bogenform assoziieren läßt, auf den Ausgangspunkt zurück; der Ubergangspunkt zwischen den zwei Bogenhälften gehört beiden Bewegungen an. In mehrfacher Schichtung, von der Ebene des Einzelbildes 164

(Blick der Kinder, >Blick< des Mondes) über das Bild des Gesamtablaufs (aufsteigende u n d absteigende Linie) bis zur Vergleichsstruktur (zweimal die gleiche metaphorische Kette) k o m m t es in diesem Gedicht zu D o p p e lungen, deren Glieder in einem Verhältnis der Entsprechung zueinander stehen; die Differenzierung eines Einheitlichen in zwei Pole, die als korrespondierende sogleich wieder auf ihren Einheitsgrund zurückführen. Die A r t der Entsprechung ist jedoch nicht eindeutig. Vielmehr überlagern sich auf merkwürdige Weise Analogie u n d Spiegelsymmetrie. U m letztere handelt es sich ja bei den zwei Kurvenhälften eines gleichmäßigen Bogens. Bei der bildlichen Analogie der Augenaufschläge in Strophe eins und zwei bleibt offen, o b die Blicke einander zugewandt sind oder in eine Richtung gehen. In der Verteilung der N o m i n a auf die metaphorische Kette läßt sich keines der zwei Prinzipien rein nachweisen. M a n kann den Versuch machen, in graphischen Darstellungen diese Verteilung zu veranschaulichen; dabei habe ich Strophe vier, in der — ohne daß das W o r t vork o m m t — wieder ausschließlich von den »Träumen« gehandelt wird, zusammenfassend als Wiederaufnahme des N o m e n s »Träume« behandelt und dies durch eine Klammer gekennzeichnet: (Träume).

Schema 1:

Vers

Analogie

2 3

4 5

Träume Kinder

Krone Vollmond

6

7

Kirschenbäumen

Träume

Kind

8 9

Vollmond

Baumkronen

10 11

(Träume)

12 165

Schema 2: Spiegelsymmetrie

(Vers sechs als Symmetrieachse)

Träume Kinder Kirschenbäumen

(Träume)

Baumkronen Vollmond Kind

Krone Vollmond Träume

Die Schematisierung ergibt deutlich eine Dominanz der Analogie. Eine Mischung von Analogie und Spiegelsymmetrie begegnet bei Hofmannsthal auch an anderen Stellen. Ein Beispiel, das hierhergehört, ist die Begegnung des Wachtmeisters Lerch mit seinem Doppelgänger in der Reitergeschichte. Rolf Tarot hat darauf aufmerksam gemacht, daß der unheimliche Reiter dem Wachtmeister als Spiegelbild entgegenkommt, im entscheidenden Moment aber die gleiche Hand — die Rechte — erhebt. 21 Offenbar steht die Grenze zwischen der unmittelbaren Gegebenheit der eigenen Vollzüge im Selbstgefühl und ihrer reflexiven — und das heißt verkehrenden — Erfassung für Hofmannsthal in Frage.

IV. 3 »Wovon man spricht, das hat man nicht« (Novalis) IV.3.1 Verlust und Wiederfinden des höchsten Gefühls Die Gedichtinterpretation sollte zeigen, in welcher Weise in einer vom Gefühl dominierten Traumwelt bereits eine Beziehung von »Mensch« und »Ding« auszumachen ist, der Gegenstand aber gänzlich in der subjektiven Bewegung aufgehoben bleibt. Es ist eine Bewegung des Aufsteigens, des »Leuchtens« und des »Niedersinkens«, die beide Pole trägt. Was in den Terzinen III scheinbar mühelos realisiert ist, wird in Hofmannsthals frühesten Gedichten ständig thematisiert und rückt dadurch gerade in den Abstand der bloßen Behauptung. Geht der Schlußvers der Terzinen gleichsam organisch aus Strophen hervor, in denen fast beiläufig — im Rahmen eines Vergleichs — eine Differenz und ihre Einheit ins Spiel gebracht worden waren, so stellt ein Gedicht des Sechzehnjährigen wie das Ghasel Für mich bereits im Titel einen Bezug her, der durch den auftrumpfenden Gestus, mit dem er überall nachgewiesen wird, nur als verlorener in den Blick kommt. Daß das »Grollen des Sturms«, das »Rauschen der Eiche« und das 21

Ebd., S. 347f.

166

»Erglühen der Rose« ein mimetisches Echo im Subjekt findet, ist diesen Versen nicht zu entnehmen. Hofmannsthals beste Gedichte entstehen, wie Szondi gezeigt hat, zu einer Zeit, in der die eigentliche Verlust-Problematik in der lyrischen Dramatik abgearbeitet wird und Hofmannsthal zugleich die Einsicht gewinnt, daß die Lyrik nicht die direkte Formulierung der Erhöhungsmomente sein kann. In einer Aufzeichnung von 1895 hält er fest, daß die »Welt der Worte eine Scheinwelt« sei, »in sich geschlossen, wie die der Farben, und der Welt der Phänomene koordiniert« (A 1895, S. 400). Dieser Gedanke der »Koordination« meint, daß die Worte schon etwas mit dem Gefühl zu tun haben; nicht aber, indem sie es bezeichnen, sondern indem sie es aus der Dynamik ihres immanenten Zusammenspiels heraus selbst werden. Das Gedicht entsteht nicht als Sprechen von den »schöpferischen Augenblicken«; vielmehr müssen Wörter und Wortverbindungen aufkommen, die auf einmal diese Zustände sind, auch wenn sie vordergründig von etwas ganz anderem handeln können. 2 2 Hofmannsthal notiert deshalb in derselben Aufzeichnung, es gebe eigentlich keine »>Unzulänglichkeit< des Ausdrucks«; die Vorstellung, daß die Sprache nicht an diese Dimension heranreicht, kommt einzig aus dem Versuch, sie bezeichnend wiederzugeben — als Bezeichnetes ist es aber nicht das Geschehen, das es war. In sprachlichen Äußerungen einer anderen Referenz aber kann es da sein (Hofmannsthal spricht von einem »Transponieren« statt direktem »Ausdruck«; ebd.), ohne allerdings jemals mit dem ursprünglichen Geschehen zusammenzufallen — die »Worte« sind immer Offenbarung in der Verhüllung des Sprachschleiers : »Die Worte an sich sind nichts: wie wir sie brauchen, um das Unsägliche zu verschleiern, darin liegt alles« (A 1896, S. 415). Das Problem ist dann, daß diese Wörter und Wortverbindungen nicht nach Belieben erzeugt werden können. Da sie zufällig und unvorhersehbar sich einstellen, da also zu einem ungewissen Zeitpunkt auf einmal frühere Erhebungsmomente wieder aufklingen können, gibt es in Hofmannsthals Werk ein allmähliches Auseinanderrücken von eigentlicher Inspirationserfahrung und späterer Formulierungsmöglichkeit. An zwei der frühesten Gedichte Sunt animae rerum und Verse auf eine Banknote geschrieben läßt sich diese Verschiebung nachvollziehen. Es geht 22

Deshalb geht in den Gedichten ab den Jahren 1893/94 auch der Gebrauch des »ich« zurück. Vgl. übrigens zu diesem Gedanken der »Koordination« von Sprachwelt und phänomenaler Welt die Bemerkung von Novalis im Monolog. »Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei — sie machen eine Welt für sich aus — sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll — eben darum spiegelt sich in ihnen das seltsame Verhältnisspiel der Dinge.« (NovSch, S.426)

167

beidesmal um das »Festhalten« des schöpferischen Augenblicks. Das Bild, das dafür gesetzt wird, ist nicht das der »Leere«, sondern das einer »Melodie«, die »im Traum gehört wird«. Die reine Leere bleibt der ungreifbare Anziehungspunkt, der im Bewußtsein als Wirkung hinter einer Verflüssigungs- oder Auflösungsbewegung verspürt wird, die alles Gestalthafte in ein »schlechthin unendliches Widerspiel« (EGB, S. 469) überführt. Substrat der nachfolgenden Formulierungsversuche ist nicht die Melodie selbst, sondern ihr »Nachhall« (GD I, S. 89) bzw. ein »dumpfes Beben«, das vom Hören ihrer »Gewalt« zurückbleibt (GD I, S. 94). Diese Abstufung hält Hofmannsthal durch sein ganzes Werk hindurch aufrecht: noch in dem Aphorismus aus dem Buch der Freunde, der in der Einleitung zitiert wurde, bleibt der »schöpferische Augenblick« nur im »Andenken« faßbar, das die »Einfälle« von ihm, dem »völlig entschwundenen«, bewahren. Der schöpferische Augenblick ist deshalb ein »Nichts« (GD I, S. 94: 4. Str.), weil in ihm keine Thematisierung von etwas für das Bewußtsein stattfindet. Die Form, in der ein deutliches Bewußtsein von dem »Großen ( . . . ) , das zugrundeliegt« (Br. I, S. 141), gewonnen werden kann, ist deshalb das »Gedächtnis«, das dem erwachten Bewußtsein von seinem selbstlosen Zustand bleibt (GD I, S. 94, 4. Str.). Gedächtnis ist aber Minderung, Verlust der Fülle, oder eben bloßer »Nachhall«. Endet Sunt animae rerum noch etwas kraftlos mit der Aufforderung, den »Nachhall festzuhalten«, so tritt in den Wersen auf eine Banknote geschrieben ein neues Moment hinzu. (...) . . . W i e Schaum zerstiebt Im Sonnenlicht mir jede Traumgestalt, Ein dumpfes Beben bleibt von der Gewalt Der Melodie, die ich im Traum gehört; Sie selber ist verloren und verhallt, Der D u f t verweht, der Farbenschmelz zerstört, Und ich vom Suchen matt, enttäuscht, verstört. Doch manchmal, ohne Wunsch, Gedanke, Ziel, Im Alltagstreiben, mitten im Gewühl Der Großstadt, aus dem tausendstimnigen Chor, Dem wirren Chaos, schlägt es an mein Ohr Wie Märchenklang, waldduftig, nächtigkühl, Und Bilder seh ich, nie geahnt zuvor. Das Nichts, der Klang, der Duft, er wird zum Keim, Zum Lied, geziert mit flimmernd buntem Reim, Das ein paar Tage im Gedächtnis glüht . . . Mit einem Strauß am Fenstersims verblüht In meines Mädchens duftig engem Heim . . . Beim Wein in einem Trinkspruch flüchtig sprüht . . .

168

So faß ich der Begeistrung scheues Pfand Und halt es fest, zuweilen bunten Tand, Ein wertlos Spielzeug, manchmal — selten — mehr, Und schreibs, wo immer, an der Zeitung Rand, Auf eine leere Seite im Homer, In einen Brief — (es wiegt ja selten schwer) . . .

(GD I, S. 94)

Das N i c h t - H a b e n der höchsten E r f a h r u n g kann nicht einfach zu einer (wie auch immer reduzierten) Verfügung im Gedächtnis werden.

Wiederge-

winnen läßt sich dieser Zustand nicht durch » W u n s c h , Gedanke, Ziel«, sondern nur zufällig: »manchmal«, »im Alltagstreiben«, »mitten im G e wühl«. E s ist dies einer der frühesten Belege für Hofmannsthals K o n z e p tion des Indirekten, der zugleich auch zeigt, wie eng sie an die unwillkürliche Erinnerung gebunden ist. N u r indem es ihm v o n außen,

unge-

zwungen, wieder entgegenkommt, kann das Bewußtsein wieder an das heranreichen, was niemals in der Differenz eines >Etwas< stand. D i e zahlreichen Bemerkungen in N o t i z e n und Briefen über die Bedeutung von altbekannten

Landschaften

(die Fusch),

simplen

Einrichtungsgegenständen,

leicht übersehbaren »kleinen Sachen« überhaupt (A 1894, S. 3 8 4 ; vgl. auch A 1 9 1 0 , S. 5 0 3 ; B r . I, S. 1 8 0 ; Br. I, S. 3 1 1 ) , die »ganz fernliegende G e m ü t s zustände ( . . . ) für einen Augenblick aufschließ(en) und dann wieder verlöschen« lassen können ( A 1894, S. 3 8 4 ) , schließen hier an. A m bekanntesten sind die Sätze aus dem Gespräch

über Gedichte

geworden, die so »anti-

romantisch« klingen, ohne es zu sein: Wollen wir uns finden, so dürfen wir nicht in unser Inneres hinabsteigen: draußen sind wir zu finden, draußen. ( . . . ) Wir besitzen unser Selbst nicht; von außen weht es uns an, es flieht uns für lange und kehrt uns in einem Hauch zurück. Zwar unser >SelbstInnen< und >Außen< ist eben derart, daß man sich nicht auf einzelne wirkungsvolle Zitate stützen kann, wenn Verwirrung vermieden werden soll. So hat ζ. B. Proust bekanntlich die Absicht gehabt, den ersten Band der Recherche »Gärten in einer Tasse Tee« zu betiteln — ein überzeugendes >Draußendraußen< zu finden sei, in den Gegenständen und Menschen, mit denen man zu tun hat. Das ist im Roman so deutlich, daß der junge Sartre, als er in Frankreich begeistert die Einsicht Husserls vorstellte, »das Bewußtsein« habe »kein Drinnen«, es sei »nichts als das Draußen seiner selbst«, daraus 169

Auch hier wird deutlich, daß letztlich nicht die Wiedererweckung bestimmter Vorstellungen, Erlebnisse oder auch Gefühle als Glück erfahren wird. Geht es in den Versen auf eine Banknote geschrieben um das Wiederfinden der »Melodie« — ein reines Beziehungsspiel, das an einem Rest von Sinnlich-Gestalthaftem erscheint —, so kehren in den Landschaften, in den unwichtig scheinenden Situationen zunächst bestimmte Erinnerungen zurück. Gesucht aber werden nicht diese konkreten Vorstellungsinhalte, deren >Authentizität< zweifelhaft ist (»Sind sies auch wirklich selber«), sondern die Erinnerungsmomente selbst, in denen das Bewußtsein gleichsam über sein alltägliches Feld hinausversetzt wird. In diesem Prozeß mögen sich — ausgehend von beiläufigen Wahrnehmungen — ganz konkrete Erinnerungen einstellen. Wichtig an der Korrespondenz »fernliegender Gemütszustände« ist aber die freie Beweglichkeit, die alle bestimmten Vorstellungen erfaßt und in ihrem »Wirbel« (EGB, S. 471) eine »Idee der Bewegung« (A 1895, S. 405) der Einbildungskraft gibt. Es müssen also zwei Momente der unwillkürlichen Erinnerung unterschieden werden. Zum einen — wie in unserem Gedicht — die Erinnerung an Augenblicke der Erhöhung, die oft in späteren, meist analogen Wahrnehmungssituationen überhaupt erst >zu Bewußtsein kommenUnbedingte im Ich< (oder im Rückgang hinter das Ich) wird ausgespielt gegen klassizistische Begrenzungsvorschriften und Dingfrömmigkeit. Novalis war sich aber darüber im klaren, daß, wenn wir überhaupt »etwas« finden wollen, wir um die Entäußerung nicht herumkommen: eine Stimme, die kein Echo machte, würde eben im Unendlichen verhallen. Bei Hofmannsthal ist das Zitat aus dem Gespräch über Gedichte Selbstkritik des frühen Versuchs, die Unendlichkeit des Gefühls bruchlos Sprache werden zu lassen; ein Versuch, der zum dauernden Thematisieren des AllGefühls führt, ohne daß es selbst erfahrbar geworden wäre. Von daher Hofmannsthals Entscheidung für den indirekten Weg: die eigentliche Erfahrung muß zwanglos, zufällig von außen entgegenkommen, eingelassen in etwas Konkretes, Unscheinbares, aber eben Greifbares. Auf der anderen Seite hat Hofmannsthal immer am »Atmosphärischen« als Ausgangspunkt des dichterischen Prozesses festgehalten. Der Titel des Prosastücks von Rilke, in dem es um ein ähnliches Verhältnis von Entrückung und Erinnerung geht.

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Lebensmoment wiederkehren. Die Verjüngung, die in der plötzlichen Konjunktion zweier weit auseinanderliegender Augenblicke gefühlt wird, verdankt sich aber gleichfalls der Fluktuation, die das Bewußtsein in der unvorhergesehenen Öffnung auf längst Vergessenes ergreift. Das konkrete Detail, das zunächst ins Gedächtnis tritt — meist eine jener »Begebenheiten, die äußerlich so klein erscheinen, daß man ihrer gar nicht erwähnt« (A 1910, S. 503 — Goethe-Zitat) —, ist der »Ausgangspunkt einer Welt von Empfindungen« (Br. I, S. 12). Unwillkürliche Erinnerung ist in diesem Fall nicht Reproduktion oder Wiederholung eines transzendierenden Erlebnisses, sondern selbst eine »Entzückung«, in der plötzlich »die ganze Seele« »beisammen ist« (BdF, S. 255). Das momentane »Erwachen des Gedächtnisses« kann dabei auf verschiedenste Weise stimuliert werden: der Erwekkung durch die »kleinen Sachen«, die die Kontrollinstanz des Bewußtseins unterlaufen, entspricht auf der anderen Seite die heftige Erschütterung, die »in Krankheit, Gefahr, in der Sterbestunde« die Scheidewände des inneren Sinns zum Einsturz bringt und eine »hypermnetische« Reaktion auslöst (A 1891, S. 340). Es ist vor allem im Anschluß an Nietzsche 25 und in der Perspektive einer Ästhetik des Schreckens26 die Bedeutung der schockartigen und bedrohlichen Momente unterstrichen worden. Bei Hofmannsthal reicht das Spektrum der skizzierten »Öffnung« von solchen ausgesprochenen Augenblicken der Gefahr, wie sie im Reiselied im Bild der herabstürzenden Elemente erscheinen oder im Schwierigen realiter als Kriegssituation angesprochen werden,27 bis zu den eher weichen und modulierten Ubergängen der »Sterbestunde« und, wie nun schon mehrfach hervorgehoben, den ganz unpathetischen, beiläufigen Evokationen durch vergleichsweise triviale Anlässe. Bereits im Frühwerk Hofmannsthals läßt sich so eine bemerkenswerte Verschiebung beobachten. Von dem Versuch, sich des »Beieinandersein(s) von tausend Seelen« in jedem Augenblick, in dem die jeweiligen Ideen und 25

26

27

Nietzsche thematisiert in Menschliches, Allzumenschliches die instantané Bewußtseinserweiterung, die in jeder »stärkeren Stimmung« (gerade auch in den erschütternden) liegt: »Alle stärkern Stimmungen bringen étn Miterklingen verwandter Empfindungen und Stimmungen mit sich: sie wühlen gleichsam das Gedächtnis auf. Es erinnert sich bei ihnen etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewußt.« (Aph. »Miterklingen«, Werke Bd. 2, S. 456) Karl Heinz Bohrer, Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. Frankfun/M./Berlin/Wien 1983 (Erstausg. 1978). »(. . . ) dieses Verschüttetwerden ( . . . ) . Das war nur ein Moment, dreißig Sekunden sollen es gewesen sein, aber nach innen hat das ein anderes Maß. Für mich wars eine ganze Lebenszeit, die ich gelebt hab, und in diesem Stück Leben, da waren Sie meine Frau ( . . . ) . Das ist das Sonderbare. Meine Frau ganz einfach. Als ein fait accompli. Das Ganze hat eher etwas Vergangenes gehabt als etwas Zukünftiges.« ( D r IV, S. 406)

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Regungen »gerade flüssig sind« (A 1891, S. 329), zu vergewissern, rückt Hofmannsthal früh ab. Wieder finden sich die deutlichsten Sätze über den Verzicht, in der Totalität des Bewußtseins innezustehen und sie zugleich festhalten zu wollen, in Briefen an Edgar Karg-Bebenburg. Das Bewußtsein ist zwar in jeder bestimmten Situation unendlich viel mehr als das, was sich »ins Auge fassen« läßt, jener »Rest« aber, der »nicht aufgeht« (A 1893, S. 357), entzieht sich der unvermeidbar konzentrierenden Bewegung der Aufmerksamkeit. Davon läßt sich nicht viel erzählen, man erlebt gewiß eine Menge, aber man sieht es nicht deutlich, und erst viel später weiß man wohl so recht, was man erlebt hat. (Br KB, S. 25)

Im »späteren« Wiedererscheinen der »namenlosen« (A 1892, S. 349) und ganz unzugänglichen Stimmungen an einem bestimmten Eindruck sieht der junge Hofmannsthal die Möglichkeit einer Verbindung von konturiert Einzelnem und Ungreifbarem. Die unwillkürliche Erinnerung, in der ein bloßes Fluidum, ein »unbestimmtes Parfum, die eigentliche Seelennahrung« (A 1891, S. 324) in einer konkreten Wahrnehmungssituation auftaucht, wird zur Richtlinie einer Darstellungstechnik, die versuchen will, in verbindlicher Weise wesenhaft gestaltlose Vorgänge an bestimmten Ausdrucksmitteln zu evozieren. 28

IV. 3.2 Der Einschnitt der Reflexion: Vorfrühling Das eigenartige Wahrnehmen von Lebenseinzelheiten »so gedämpft« »wie durch eine Bettdecke hindurch« (Br. I, S. 129) — die frühe Wirklichkeitserfahrung Hofmannsthals und seiner Figuren — geht zurück auf das Haften 28

Hofmannsthals Kritik an den Blättern für die Kunst, er vermisse darin »Reflexionen über technische Fragen« wie ζ. B. »Beiträge zur Farbenlehre der Worte«, wird von Adorno in diesem Sinn interpretiert. Eine »Farbenlehre der Worte« würde Dichtern erlauben, durch genaue Zuordnung von — altertümlich gesprochen — Gemütswerten zu jedem einzelnen sprachlichen Klangelement in gleicher Weise rein vom Material aus zu komponieren, wie es damals Malern möglich schien (Kandinsky), namenlose seelische Wirkungen durch bestimmte Färb- und Formenkonstellationen zu erzielen. Adorno sieht wohl zu Recht eine Anspielung auf Rimbauds Sonett Voyelles und Verlaines Art poétique vorliegen: »Es ist die Genauigkeit des Ungenauen, wie sie erstmals in Verlaines Art poétique als Verbindung des Indécis und des Précis gefordert war. Poesie wird zur technischen Beherrschung dessen, was vom Bewußtsein sich nicht beherrschen läßt. ( . . . ) Das schweigsame Verfahren von George und Hofmannsthal appelliert an nichts anderes als Rimbauds und Verlaines Manifeste: das Inkommensurable.« Adorno, Prismen, S.234f.

172

an einem Gefühl der »reinen Subjektivität« (A 1893, S. 357),29 von dessen eigentlichem Gehalt in dieser Phase jedoch nur noch »Nachschwingungen« vernehmbar sind. Auch die Kindheitsepoche völliger Assimilation von Subjekt und Objekt unter dem Primat des Gefühls liegt bereits hinter den Jünglingen des Frühwerks (mit der Ausnahme Gianinos im Tod des Tizian), die allesamt dennoch glauben, in der Abwehr jeder Festlegung das Ohr am rauschenden »Strom des Lebens« behalten zu können. Ist aber das »Leben« als differenzierte Welt von Utensilien — >gemeine< Dinge, die anderen Zwecken und Zwecken Anderer gehorchen — in den Blick gekommen, gibt es im Grunde nur die eine Konsequenz, die Hofmannsthal 1893 gegenüber Felix Saiten formuliert: »Zurück können wir, glaub' ich, gar nicht mehr; also vorwärts.« (Br. I, S. 83) Daß auch bei Hofmannsthal der »vorwärtsgekehrte Blick rückwärts führt« (NovSch, S. 477), daß also auch hier in einem eigentümlichen »ordo inversus« über die Bestimmtheit der Reflexion zum Universellen zurückgefunden werden soll, zeigen die Äußerungen über den niemals erloschenen Glauben an das »Leere«. Der Ubergang zur Reflexion vollzieht sich mit der Thematisierung des Gefühls. Figuren wie Gianino aus dem Tod des Tizian stehen noch in jenem seltsam gedoppelten Prozeß, in dem der Einheitsgrund als völlige Entsprechung von >subjektiver< und >objektiver< Bewegungsfigur dominiert (vgl. Terzinen III). Es liegt nahe, für dieses Erleben die gebräuchlichen Vokabeln der >Hingabe< oder >Auflösung< ins Naturgeschehen einzusetzen. Damit aber wird der aufrechterhaltenen Zweipoligkeit nicht Rechnung getragen. Das Auseinandertreten zweier Momente auch im berühmten Monolog des Gianino ist, glaube ich, nicht nur der Not der Beschreibung geschuldet, wie Peter Szondi in seiner Interpretation des Tod des Tizian nahelegt.·40 Gianinos Monolog beschreibt deutlich ein dialogisches Geschehen: der Jüngling liegt, an Tizianello geschmiegt, am Boden und vernimmt nicht zunächst ein Heranströmen der Natur, sondern eine Erwartungshaltung: So lag sie (die Natur), horchend in das große Dunkel Und lauschte auf geheimer Dinge Spur

(GD I, S.251)

Mit dem Erwachen von Gianinos Aufmerksamkeit kommt es zu einer Äußerung der Natur (»Herniedersickern«, »Anschwellen«), die nun aber weder im Monolog zu Ende geführt wird noch von Gianino in unveränderter Haltung aufgenommen wird. In einer auffälligen Wiederholungs29

30

Hofmannsthal spricht von »reiner Subjektivität« vielleicht in Anlehnung an Amiel: »l'abîme de l'irrélévé, le moi obscur, la subjectivité pure, incapable de s'objectiver en esprit«, zitiert in Hofmannsthal, Tagebuch eines Willenskranken, RuA I, S. 113. Szondi, Das lyrische Drama, S. 246. 173

struktur beschreibt Gianino, wie er nachts aufgestanden ist, und steht dabei in der Erzählung — hier unterbricht die Szenenanweisung den Monolog 3 1 — selbst auf. Damit wird nicht nur bedeutet, daß der Erzählende sich gänzlich in das Geschehen der Nacht zurückversetzt fühlt. Auch in dieses nächtliche Geschehen selbst legte Gianinos Aufstehen einen Bruch, der das Erleben der Natureinheit an eine Tätigkeit des Subjekts bindet. Gianino erhebt sich, und mit dieser Bewegung erfolgt ein neuer Einsatz zum letzten und längsten Teil des Monologs: D a schwebte durch die Nacht ein süßes Tönen . . .

Nicht passive Hinnahme des »leisen Atemzugs« der Natur im Liegen entspricht den klanglich dichtesten Versen von Gianinos Erzählung, sondern eine Eigenbewegung auf die Natur zu und durch sie hindurch. Analog muß noch einmal auf die Struktur der Doppelung in den zwei Jahre später entstandenen Terzinen III hingewiesen werden: auch hier geht die Bewegung des Subjekts auf die Natur über, schlagen die Dinge, angerührt durch die Geste der »Kinder«, in gleichmäßiger Korrespondenz die Augen auf. Was Hofmannsthals späterer Schützling Walter Benjamin in einem kryptischen Text als eigentlichen Gehalt des sogenannten »mimetischen Vermögens« eingeführt hat — die Gabe, nicht nur Ähnlichkeiten wahrzunehmen, sondern sie »hervorzubringen« (Benj. II.l., S.211) —, findet sich bei Hofmannsthal in einer wortkritischen Anmerkung im Buch der Freunde formuliert: Im Er-leben ist ein aktivischer Ursinn, wie in Er-reichen, Er-eilen, aber niemand hört ihn mehr und wir haben ein reines Passivum daraus gemacht. (BdF, S. 237)

Mit dem Eintritt der Reflexion wird diese gleichsinnige subjektiv-objektive Bewegung nicht sowohl angehalten, als um ihre Deckungsgleichheit gebracht: der unmittelbare, das >Außere< gleichsam mit-zeichnende Vollzug wird als bestimmtes Handeln angesichts einer bestimmten >Gegebenheit< erfaßt und dabei verlassen. Dieser »subtile« »Prozeß, der sich im Bruchteil einer Zehntelsekunde vollzieht« (A 1910, S. 503), wird nach Hofmannsthals Uberzeugung nicht anders verständlich »als aus der Erfahrung« (ebd.). Entsprechend selten sind ausführliche Überlegungen zu diesem Problem. Will man eine Vorstellung von der angesprochenen »Erfahrung« gewinnen, so ist man an das dichterische Werk verwiesen. Hier zeigt sich, wie ein immer wieder begegnender Rhythmus in Hofmannsthals Lyrik von ihr spricht, ohne sie zu thematisieren. 31

»Leis stand ich auf — ich war an dich geschmiegt — (Er steht erzählend auf, zu Tizianello geneigt)«

174

( G D I, S. 252)

Vorfrühling Es läuft der Frühlingswind Durch kahle Alleen, Seltsame Dinge sind In seinem Wehn. Er hat sich gewiegt, Wo Weinen war, Und hat sich geschmiegt In zerrüttetes Haar. Er schüttelte nieder Akazienblüten Und kühlte die Glieder, Die atmend glühten. Lippen im Lachen Hat er berührt, Die weichen und wachen Fluren durchspürt. Er glitt durch die Flöte Als schluchzender Schrei, An dämmernder Röte Flog er vorbei. E r flog mit Schweigen Durch flüsternde Zimmer Und löschte im Neigen Der Ampel Schimmer. Es läuft der Frühlingswind Durch kahle Alleen, Seltsame Dinge sind In seinem Wehn. Durch die glatten Kahlen Alleen Treibt sein Wehn Blasse Schatten. Und den Duft, Den er gebracht, Von wo er gekommen Seit gestern Nacht.

( G D I, S. 17)

Das Gedicht — der Eröffnungstext aller Hofmannsthalschen Lyrik-Sammlungen — ist oft interpretiert worden. Weder ist es nötig, erneut Vers für Vers durchzugehen, noch muß die Aufnahme seiner Bildlichkeit an entscheidender Stelle im Gespräch über Gedichte (EGB, S. 507) noch einmal zitiert werden. Peter Szondi rekapituliert diesen Zusammenhang in aller Kürze und geht dann auf das Ich-Natur-Verhältnis in Vorfrühling ein: 175

In Hofmannsthals >Vorfrühling< tritt kein Ich auf, aber ist es darum abwesend? D e r Frühlingswind, dem jede Strophe und jeder einzelne Vers gewidmet ist, scheint durch das Gedicht selbst zu laufen: Alle Mittel romantischer Sprachbeschwörung sind aufgeboten; der hier spricht, schmiegt sich ganz an seinen Gegenstand an, verliert sich darein. 3 2

Szondi sieht in dieser ans Wehen des Windes geschmiegten Bewegung einen Bezug zu Gianinos »Naturorgie« (S. 285). Unmittelbar im Anschluß daran kommt er auf den »schroffen Rhythmuswechsel« (ebd.) in den letzten beiden Strophen zu sprechen. Die vorletzte Strophe, schreibt er, setze »trochäisch statt jambisch ein, wie eingeschrumpft« (ebd.). Diese >Einschrumpfung< ist eine der wesentlichen Grundfiguren von Hofmannsthals Lyrik. Aus ihr läßt sich begreifen, in welcher Weise in dieses Gefühl aufbrechenden Lebens (Vorfrühling) zugleich ein »Hauch von Tod« (EGB, S. 507) hineinkommt. Zunächst die vorletzte Strophe: nicht nur »schrumpfen« die Verse durch verminderte Silbenfüllung; sie stehen auch in einer härteren Fügung durch das zweimalige Aufeinandertreffen von Hebungen in den Enjambements: »Alleen/Treibt«; »Wehn/Blasse«. Der rhythmische Fluß gerät ins Stocken; in die wellenförmig pulsierende Versbewegung der ersten sieben Strophen (Vers 1 und 3 jeweils diastolisch; Vers 2 und 4 systolisch), die die Einzelmomente gleitend ineinander übergehen läßt, schneiden sich Intervalle ein. Nach der zweiten dieser Stockungen erscheint das Wort, das innerhalb des Paradigmas >Nachhall — Echo — Spiegelung — Abglanz — Andenken bei Hofmannsthal eine zentrale Stellung einnimmt: »Schatten«. Auch hier gibt es kein lyrisches Ich. Im Sprechen selbst vollzieht sich der Ubergang von »Anschmiegung« an die einheitliche Bewegung zu jenem Abstand, in dem der »Schatten« zum Körper, der ihn wirft, das >Echo< zur Stimme, auf die es folgt, steht. Die achte Strophe besteht in den ersten drei Versen bis auf zwei Wörter (»glatten« und »treibt«) aus dem gleichen Material wie Strophe sieben, die ihrerseits mit Strophe eins übereinstimmt. Bevor semantisch mit »Blasse Schatten« das Bild einer dunkleren, verarmten Reproduktion angesprochen wird, findet im Gedicht auf der Ebene des Wortmaterials und des Rhythmus eine zweifache Doppelung statt: identische Wiederholung innerhalb der gleichbleibenden rhythmischen Bewegung (Strophe eins und sieben); Wiederaufnahme von Elementen dieser Strophen in einer nicht mehr gleitenden, sondern segmentierenden Rhythmik. Wieder läßt sich beobachten, daß das Heraustreten aus der tragenden Bewegung nicht sogleich die Zerstörung einer differenzlosen Einheit ist, sondern die deutliche Trennung einer aufbrechenden Zweistelligkeit. 32

Szondi, Das lyrische Drama, S. 284.

176

Die Schlußstrophe knüpft bildlich an das Paradigma des »Schattens« an. Von der Bewegung im »Frühlingswind« ist der »Duft« geblieben. Der Wind selbst ist vorübergezogen. Jahre später notiert sich Hofmannsthal Claudels Formulierung zum Reflexionsproblem: Tout passe, et rien n'étant présent tout doit être représenté.

(A 1927, S. 588)

Die Wiedervergegenwärtigung eines in der Repräsentation selbst immer schon >Vorbeigegangenen< formuliert im Gedicht von 1892 der Tempuswechsel: durch das zweimalige Perfekt und das Adverb »gestern« wird die Differenz von »Schatten« und Original nun auch als zeitliche gekennzeichnet. Das eigenartige Heraustreten aus und Zurückbleiben hinter der Bewegung des »Windes« öffnet sich auf die Vergangenheit dieser Bewegung selbst. »Duft« und »gekommen« sind die einzigen ungereimten Wörter des Gedichts; das Fehlen des Reims an dieser Stelle läßt sein Wiedereintreten im letzten Wort »Nacht« um so nachdrücklicher wirken. Das Gedicht, in dem eine einheitliche Bewegung in die >schattenhafte< Repräsentation von Momenten der bereits weitergezogenen Strömung überging, setzt am Ende den Ursprung des ganzen Vorgangs in den Bereich der Dunkelheit. IV.3.3 Produzierte Erhobenheit — die »Sackgasse des Asthetizismus« Das Abwechseln von Innestehen in der Bewegung des »Windes«, des »Flusses« — oder wie immer die Bilder für die zugrundeliegende Fluktuationskraft lauten mögen — und reflektierendem Segmentieren hat Hofmannsthal im ersten D'Annunzio-Aufsatz als Kennzeichen seiner ganzen »modernen« Generation hervorgehoben: »Man treibt Anatomie des eigenen Seelenlebens, oder man träumt« (RuA I, S. 176). Zerstörend wirkt sich dabei aus, daß all die übersensitiven Künstler und Dilettanten, die die Autoren als Dramenfiguren erschaffen und als die sie sich in Selbstdarstellungen stilisieren, schon in die Welt der Reflexion verstoßen sind und die Ursprünglichkeit des beschriebenen Gefühls eingebüßt haben. Die Sackgasse des Asthetizismus«, in die die Protagonisten des Fin de siècle hineingeraten, besteht nach Hofmannsthal darin, daß mittelbar erreicht werden soll, was nach dem Zeugnis der Sehnsucht einmal unmittelbar gegeben war und sich bisweilen unwillkürlich wieder einstellt. Eingebunden in eine Welt deutlich konturierter Objekte, auf die ein Ich als Instanz der Konzentration selbstbewußt und selbstmächtig sich bezieht, versucht der Ästhet vom einzelnen Objekt aus instantan zum »Strom des Lebens« zurückzufinden. Das Gemachte, Absichtliche an diesem Versuch verdeutlicht Hofmannsthal im Barrès-Aufsatz mit dem Begriff einer »Mnemotechnik der Sensationen, welche die culture du moi vorschreibt« (RuA I, S. 125): das angestrengte Belauern jeder Wahrnehmung, ob sich an ihr nicht das »Alles-Zugleich« des gesteigerten Bewußtseins einstellen könnte. Das Gesetz der Mittelbar177

keit hintergehen zu wollen hat schließlich böse Konsequenzen. Auch die »innere Erhobenheit«, die sich angesichts prädestinierter Erfahrungen wie der Rezeption von Kunst einstellt, erweist sich zuletzt als produziert. Es kommt zu jenem Schielen auf die eigene rauschhafte Steigerung, das bereits Andrea in Gestern um den wahren Genuß bringt. 33 Die scheinbar integre Welt des Fühlens wird damit zweideutig. Hofmannsthals Gestalten graut am Ende vor der Virtuosität, mit der sie gerade im »innersten«, »eigensten« Bereich die feinsten, nuanciertesten, aber eben »anempfundenen« Gefühlsabläufe inszenieren können. IV.3.4 Die Notation des Nichts — symbolistische Technik der Absichtslosigkeit Sich willentlich auf ein Einzelnes, eine bestimmte Situation beziehen und zugleich in jener »melodischen« Weise sich als schwebendes Ganzes erfahren, ist nicht zu vereinbaren. Das Ich, das als Instanz der Lenkung und Fixierung der Aufmerksamkeit auf bestimmte Sachverhalte im Bewußtseinsfeld von dem Geschehen in den »Tiefen« seines »Höhlenkönigreichs« (Br. II, S. 155) abgeschnitten ist, gelangt erst im nachhinein — in der Pluralisierung des Bewußtseins, die Erinnerung ist — zu einer Öffnung. Daher die Verschiebung zum Unwillkürlichen und zur Erinnerung. In dem Aufsatz über Die Menseben in Ibsens Dramen hat Hofmannsthal die Formulierung publiziert, die in seinen Aufzeichnungen und in privaten Briefen in jeweils verändertem Kontext immer wieder auftaucht: ihm fehle die Unmittelbarkeit des Erlebens (RuA I, S. 154; A 1892, S. 352). In einem Brief an Karg-Bebenburg wird am deutlichsten der Zusammenhang mit der Erinnerung hergestellt: ich sehe mir selbst leben zu und was ich erlebe ist mir wie aus einem Buch gelesen; erst die Vergangenheit verklärt mir die Dinge und gibt ihnen Farbe und Duft. (BrKB, S. 19)

Zehn Jahre später beschreibt ein Brief aus Rom an die Eltern dasselbe Phänomen: Mein Verhältnis zu diesem merkwürdigen Aufenthalt im ganzen möchte ich so aussprechen: ich kann alles dergleichen ( . . . ) erst auf einem sehr mühsamen Umweg genießen, durch eine Art von Reproduktion, indem ich es in mich aufnehme und gleichsam aus mir heraus wieder vor mich bringe. (Br. II, S. 90) 33

»Es gibt nichts Enervierenderes als Müßiggang und das Saugen an den eigenen Pfoten. Auch das Leben läßt sich nicht bei den Haaren näherziehen, und die dünnflüssige sogenannte Erfahrung kann man nicht künstlich zum Gerinnen bringen. ( . . . ) Es gibt nichts Bittereres, als auf das >Erleben< hin leben und vorverpfändetes Brot essen.« (An F. Saiten, Juli 1893, Br. I, S. 83)

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Deutlich kommen in diesem Brief zwei Aspekte hinzu, über die Hofmannsthal im vergangenen Zeitraum sich Rechenschaft abgelegt haben muß. Zum einen wird ein seltsam gedrückter Zustand in der Gegenwart zurückgeführt auf ein heimliches Wissen über jene Abtrennung, die das >Oberflächenoben< ein bewußtes Ich planvoll die Aufmerksamkeit auf bestimmte Gegebenheiten lenkt und willentlich bestimmte Handlungen in Gang setzt, während »unten« — »jenseits« des Bewußtseins — im Finstern sich Rezeptionsvorgänge ereignen, ist also nicht haltbar. Denn es besteht sowohl eine rudimentäre Kenntnis von diesen Vorgängen in Form eines »eigentümlich bedrückten und unfreien Gefühls« wie auch das Bewußtsein einer Eigentätigkeit beim willenlosen Geschehen. Erneut muß auf die schon mehrfach beobachtete Doppelung bereits in der Sphäre der Unmittelbarkeit hingewiesen werden. Nicht rationale Aktivität des reflexiven Bewußtseins und passive Hingabe stehen einander gegenüber, sondern verschiedene Weisen der Tätigkeit des einen Bewußtseins: eine mimetisch — im Sinne eines Sichgleich-Machens — den Fluß der Erscheinungen vollziehende, die nicht »unbewußt«, sondern eher nicht als solche gewußt ist; und eine bestimmte >Gegebenheiten< dieses Flusses — im doppelten Wortsinn — fest-stellende. Einzig durch die Zugehörigkeit zu diesem Bewußtsein ist auch erklärlich, wie das »unbewußt Aufgenommene« später Inhalt einer bewußten Erinnerung werden kann. Daß die ins Licht der Aufmerksamkeit getauchten, deutlichen Vorgänge im alltäglichen Bewußtsein in jedem Augenblick unterminiert sind von der Tätigkeit dessen, was Hofmannsthal »Nicht-mehrich« (Br II, S. 155) nennt, ist ebenfalls eine frühe Einsicht. Der Schluß von Hofmannsthals Essay über Bourget formuliert sie pointiert: Man denkt manchmal über allerlei Tiefstes, aber während es einem durch die Seele zuckt, steht man ganz ruhig vor der Affiche eines café chantant oder sieht zu, wie eine hübsche Frau dem Wagen entsteigt, große Gedanken, die eigentlichen Lebensgedanken der »oberen Seele« stimmen die >untere< nicht weihevoll, und wir können ganz gut einer abgebrochenen Gedankenreihe Nietzsches nachspüren und zugleich einen blöden crevé um sein englisches smoking beneiden. (RuA I, S. 98)

Zeittypisch ist der Versuch, das Sensorium darauf abzurichten, daß es die »uneingestandenen Seelenvorgänge« (A 1894, S. 380), die unmerklichen Gefühlsregungen und Assoziationsvorgänge, weder verliert noch fixierend abtötet. Erforderlich ist dazu keine Umlenkung der Aufmerksamkeit auf die >untere SeeleAufzeichnungsheft< einträgt: Dies konntest du nicht abwarten, du warst da, du mußtest das kaum Meßbare: ein Gefühl, das um einen halben Grad stieg, den Ausschlagwinkel eines von fast nichts beschwerten Willens ( . . . ) , die leichte Trübung in einem Tropfen Sehnsucht und dieses Nichts von Farbenwechsel in einem Atom von Zutrauen: dieses mußtest du feststellen und aufbehalten; denn in solchen Vorgängen war jetzt das Leben, unser Leben, das in uns hineingeglitten war, das sich nach innen zurückgezogen hatte, so tief, daß es kaum noch Vermutungen darüber gab. (RM, S. 79; Hervorh. Μ . Κ.)

Hofmannsthals frühes Programm, eine »Bakteriologie der Seele« (Br. I, S. 18 f.) zu gründen, in der technische Verfahrensweisen zur Beobachtung und Feststellung der kaum differenzierten Halbgefühle, der »Zwischenglieder des Gefühls« (A 1911, S. 510), der »Stimmungen der Ubergänge« (A 1891, S. 335; Br I, S.21; G D I, S.238; vgl. auch A 1904, S. 451) entwickelt werden, geht von diesen Überlegungen aus. Die ausgebildete Beobachtungstechnik würde erlauben — so kann man aus Hofmannsthals Äußerungen schließen —, die ganze Fülle kleinster seelischer Regungen, die hinter einer manifesten Verhaltensweise oder Handlung stehen, zu übersehen. Ein von ihm geschriebener Roman, schreibt Hofmannsthal 1891 an Bahr, müßte in der Lage sein, dies darzustellen: »Erfolge, Entfremdungen, Freundschaften, Duelle verdanken ihre Entstehung den allerunscheinbarsten Umständen«. (Br. I, S.32) Diese Ausrichtung aufs »Unscheinbare in (uns)«, das unsere »Entscheidungen versteckt beeinflußt«, hat später Hofmannsthals Interesse an den Anfangsarbeiten der Psychoanalyse geweckt. In dem Passus, aus dem die Zitate stammen, verweist er in Klammern auf Freuds Psychopathologie des Alltagslebens (A 1907/08, S. 493). Was Hofmannsthal an der »Bakteriologie der Seele« zunächst fasziniert zu haben scheint, ist der Gedanke, das Gemüt dank einer ungewöhnlichen Selbsttransparenz als ein Kontinuum fassen zu können, aus dem Entscheidungen, Willensakte, Entschlüsse gleichsam vegetativ herauswachsen. Jedes bestimmte Handeln, jede vereinzelte, deutliche Äußerung könnte als gebärdenartige Kondensation jenes kaum differenzierten psychischen Magmas erfaßt werden. Hinter der Vorstellung, daß das Innere in seiner Gesamtheit bruchlos in eine konkrete Äußerung eingeht, steht das Modell der Gebärde. Ließe sich dieses Modell, wie Hofmannsthal es sich vorstellt, verallgemei181

nern, entstünde eine Welt, in der Innen und Außen, Vergangenheit und Gegenwart in kontinuierlichem Fluxus zusammenhängen. >Objektive< Situationen, Erlebnisse modulieren das mikrobische Gewimmel der Sensationen und Gefühle, und dieser undeutliche Brodem kristallisiert sich wieder aus zu bestimmten Gedanken und Handlungen, die nur eine Art momentaner Abhub des unendlich reichen Spiels im Inneren sind. In der Literatur der Jung-Wiener sind es vor allem Frauengestalten, die für diese Welt ohne heftige Übergänge stehen. Ein Beispiel ist die Arlette aus Hofmannsthals erstem Drama Gestern. IV.3.5 Entgegengesetzte Directionen: Gestern Die meisten Interpreten des Proverbs haben darauf hingewiesen, daß Arlette die Hingegebenheit an den Augenblick tatsächlich lebt, die Andrea nur für sich in Anspruch nimmt. Wichtig ist nun festzuhalten, daß dieses Augenblicksbewußtsein nicht zeitlich-diskontinuierlich ist. In Arlette dominiert die Ganzheit des Gefühls in der Weise, daß sie unfähig ist, es als einen genauer umrissenen Kreis von Empfindungen auf einen bestimmten Menschen zu beziehen : Lorenzo und Andrea gehen ihr, je nachdem, wer sie in Armen hält, ineinander über. Wie ihr Andrea in der Bootsszene räumlich fern war, so ist ihr zuletzt Lorenzo um den Abstand jenes einen Tags, in dem das Proverb spielt, zeitlich fern. In der Gegenwart Andreas glaubt sie am Schluß, ihr Gefühl wieder ausschließlich an ihn heften zu können, befindet sich darüber aber in einer Selbsttäuschung. Denn was sie in der Nähe Andreas sucht, ist nicht das Gefühl für den einen Geliebten unter Ausschluß aller anderen, sondern die Anregung des unendlich reichen innersten Gefühls überhaupt. Beim Eintreten in dieses Gefühl verschwinden ihr alle Besonderungen: sowohl zwischen bestimmten Personen wie zwischen bestimmten weit auseinanderliegenden Zeitpunkten. Als in der siebten Szene Arlette »in der Erinnerung« an die Fahrt auf dem Boot versinkt — die Erinnerung an eine Situation, in der »Zeit und Raum« ihr »versunken« gewesen waren (GD I, S. 233) —, nimmt sie Andrea, ihr aktuelles Gegenüber, auch für den, der ihr damals am nächsten war. Im Gegensatz dazu lebt Andrea in einer deutlich differenzierten Gefühlswelt. Die gleiche Szene (sieben), in der Arlette Lorenzo und Andrea ineinander verschwimmen, beginnt Andrea mit einer genauen Zuordnung bestimmter >Objekte< zu bestimmten Gefühlen und Neigungen: Du hier, mein Degen, bist mein heller Zorn! (Auf die Orgel zeigend) Und hier steht meiner Träume reicher Born ! Ser Vespasiano ist mein Hang zum Streit, Und Mosca . . . Mosca meine Eitelkeit!

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Kardinal:

U n d was bin ich, darf man das auch wohl fragen?

Andrea:

Du, Oheim Kardinal, bist mein Behagen.

(GD I, S.232)

Aus dieser Aufzählung wird deutlich, worin das Staccato von Andreas Stimmungswechseln vom »Gleiten« der »Nächte« und »Treiben« der »Tage« in Ariettes Gefühl (GD I, S. 242) verschieden ist. In dem Maß, in dem er über sein Gefühl verfügen will (»Ich will mein Leben fühlen, dichten, machen«, S. 217), thematisiert er es als bestimmte Empfindung in einer bestimmten Situation, gegenüber bestimmten Menschen, Gegenständen usf. Ist Ariette jederzeit mit dem Ganzen des Gefühls auf das gerade Anwesende bezogen (»ich habe nie von Besserem geträumt«, S. 217), ohne es als besonderes Objekt davon zu trennen, so weiß Andrea schon im Augenblick der Empfindung von »Freude«, »Zorn«, »Behagen« als diesen besonderen — und das heißt vom Ganzen der Empfindung abgetrennten — Gemütszuständen und sucht sie im Ubergang zur nächsten »Stimmung« zu vervollständigen. Die Figur des Andrea illustriert, daß es gerade die Nähe von Gefühl und Reflexion ist, die die Gefährlichkeit des Zwischenzustands ausmacht. Die Reflexion schreibt die Differenzierungen, die schon in der Unmittelbarkeit des Gefühls auftreten, fest; auf jeder der beiden Seiten geschieht im Grunde das gleiche, aber in gegenläufiger Ausrichtung. Das Gefühl versucht, im einheitlichen Fluß seiner Bestimmungen zu jenem »Großen ( . . . ) , das zugrunde liegt« (Br. I, S. 141; 1895), zurückzukehren, die Reflexion artikuliert die Trennung eines einzelnen Bewußtseins von einer Welt bestimmter Einzelheiten; fordert also dazu auf, »zum Einzelnen durchzudringen« (Ami, S. 605; Hervorh. in beiden Zitaten M. K.). Andrea muß deshalb in Hofmannsthals kleinem Lehrstück die alte Einsicht lernen, daß das gelebte Leben, reflektiert und besprochen, nicht mehr das gelebte Leben ist. Die fortwährende Historisierung, die er durch Repräsentation eines in Wahrheit eben nicht Präsenten vornimmt, liegt eigentlich der Titelgebung des Stücks zugrunde. Andrea proklamiert die Augenblickserfahrung, setzt aber dauernd — qua Reflexion — Vergangenes, das er zur alleserfüllenden Gegenwart aufbauschen will. Da beständig auf diese Weise Gegenwart ihm zur »toten Vergangenheit« wird, muß die Fülle der Präsenz unablässig in einem neuen >Heute< gesucht werden. Jede neue »Stimmung« wird ihrerseits sofort wieder reflektiert; in dieser Distanzierung erstarren die »Ideen ( . . . ) , die ( . . . ) gerade flüssig sind« (A 1891, S. 329), und zwingen dazu, das »Leben« im Übergang zu einer neuen Stufe zu suchen. So ergibt sich eine durchgängige Abstoßungsbewegung vom scheinbar Gegenwärtigen, das — kaum daß man es »ins Auge faßt« — zur toten Vergangenheit wird und das Subjekt auf der Suche nach seiner inneren Ganzheit nach vorne treibt. Aus dieser Dynamik erhellt, warum Andrea das Programm der Augenblickserfahrung in erster Linie als Absetzung vom »Ge183

stern« formuliert. Weil das gelebte Leben ständig zum abgestorbenen »Gestern« versteinert, ist die ursprüngliche Fülle nur zu ahnen in der transzendierenden Bewegung, die über die jeweils reflektierte (und damit als bestimmte »Laune« fixierte) »Stimmung« hinausführt. Andrea ist aus diesem Grund von Hofmannsthal unter die »Abenteurer«-Gestalten geschlagen worden (Ami, S. 608). Da er in jeder Situation sich bewußt wird, daß dies nicht das Ganze ist, und in seinen abgestorbenen vergangenen Zuständen sich nicht wiederfindet, versucht er, die Ganzheit im forderten Wechsel der »Launen« wiederzuerlangen. Sein wirbelnder Wechsel der Stimmungen soll — um noch einmal mit Musil zu sprechen — aus der »gewöhnlichen, wie in Stücke gebrochenen Weise« des »Fühlens« zu dem verlorenen und ersehnten »ganz Begreifen«35 zurückführen. In der Gestalt Andreas erfährt sich dabei aber das Gemüt bereits nach vorne in eine offene Zukunft geworfen, während es sich hinten in seiner Vergangenheit zugleich festhält und verloren hat. Daher das seltsam erfüllungslose Hinter-sich-Herhetzen der Abenteurergestalten. Als Repräsentant des »ambivalenten Zustands« (Ami, S. 600) erscheint Andrea darin, daß er faktisch als Einzelner in einer Welt von Einzelnen handelt, zugleich aber, angezogen vom Gefühl des Universellen, die Bestimmtheit, wo sie auftaucht, wieder negieren will. Exemplifiziert wird das an seinem Verhältnis zum Willen. Sich ständig über alle bestimmten Gegebenheiten hinwegsetzend, will er dennoch nicht zu konkreten Entscheidungen durchdringen (vgl. die Diskussion über die Bootsanlegestelle in der fünften Szene). Im Verzicht auf das Definitive soll die simultane Fülle der Möglichkeiten spürbar bleiben. Aber auch hier gilt, daß zwar in den Augenblicken der »Entzückung«, in denen plötzlich »die ganze Seele« »beisammen« ist (BdF, S. 255), der bewußte Wille suspendiert ist, daß aber nicht umgekehrt im bewußten Leben die Erfahrung des Unendlichen durch den Verzicht auf Willensakte sich einstellt. Gegen Andreas Versuch, die bereits etablierte Reflexion durch absichtliche Stimulation mit »Inzitamenten«36 oder bewußten Verzicht auf bestimmte Entschlüsse zu unterlaufen, hat Hofmannsthal die Lehre des Dichters Fantasio gestellt. Sie besagt, daß die Erfahrung innerer Fülle sich im Kontinuum des reflektierten Lebens nur als plötzlicher, »zufälliger« Einbruch von außen ergeben kann: Das ist. Doch steht es nicht in unserer Macht.

( G D I, S. 237)

Hofmannsthal hat an diesem Punkt die Poetik der Absichtslosigkeit, die Fantasio vorträgt, in komplizierter Weise mit der Liebes- und Vergangen35 36

Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1, S. 255. Tarot, Hofmannsthal, S. 45.

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heitsproblematik von Gestern verknüpft. Die Konstellation von Gewöhnlichkeit und plötzlichem Aufleuchten, die Fantasio an der Sprache aufzeigt (»Grad wie wenn Worte, die wir täglich sprechen,/ In unsre Seele plötzlich leuchtend brechen«, S. 235), wird von Andrea auf bestimmte Erinnerungsmomente gewendet: Das mein ich nicht. D o c h kann es nicht geschehen, Daß wir auf einmal neu das Alte sehen?

( G D I, S. 2 3 7 )

Das Verhältnis zum »Gestern« hat sich hier für Andrea verändert. Am Anfang des Stücks gibt es nur ein Vergangenheitsbewußtsein, vor dem er sich sperrt: es ist nichts mehr von der lebendigen Erfahrung darin enthalten. Nun — in der vorletzten Szene — unterscheidet er das gewöhnliche, »vertraute« Bild der Vergangenheit, wie er es bei all seiner Polemik gegen das »Gestern« offenbar ständig mit sich herumtrug, von der blitzartigen Erhellung der Erinnerung, die ihm die Szene auf dem Boot in neuem Licht zeigt: O Blitz, der sie mir jetzt wie damals zeigte Im Boot . . . im Sturm . . . gelehnt an seine Brust, U n d jetzt die Stirn . . . die wissende, geneigte . . . Was ist bewußt, und was ist unbewußt? Sein selbst bewußt ist nur der Augenblick, U n d vorwärts reicht kein Wissen, noch zurück! U n d jeder ist des Augenblickes Knecht. U n d nur das Jetzt, das Heut, das Hier hat Recht! Das gilt für mich . . . nicht minder gilts für sie, U n d seltsam, daran, glaub ich, dacht ich nie . . .

( G D I, S. 238)

Andrea bemerkt, daß sein hektischer Launenwechsel auf den unmittelbaren Glauben an eine fundamentale Kontinuität gebaut war: die Liebe Ariettes, für die in seinem Unterbewußtsein eine Veränderung ausgeschlossen war. Er erkennt, daß seine radikale Propaganda der Augenblicksstimmungen im innersten Bereich unvermerkt einen Restbestand von liebgewordener und unentbehrlicher »Gewohnheit« in Anspruch genommen hatte. Die jähe Aufklärung über die wahren Regungen Ariettes, die sie ihm länger schon entfremdet hatten, zerstört diese Illusion: Was hold vertraut uns lieblich lang umgab . . . Das ist Gewohnheit, und so ists auch Lüge

( G D I, S . 2 3 8 )

Andreas Anfangsthese wird an diesem Punkt in der Weise radikalisiert, daß sie ihm selbst bedrohlich wird: der Wechsel gilt auch für die anderen; nichts zwingt sie, ihren alten Bestimmungen treu zu bleiben. Wäre Andrea tatsächlich das impressionale Wesen, für das er sich ausgibt, hätte diese Entdeckung nichts Bestürzendes, wie das Beispiel Ariettes zeigt: er ginge im gerade Anwesenden auf, ohne im Zusammensein mit dem einen der Vergangenheit mit dem andern nachzutrauern. Andrea aber muß einsehen, 185

bereits derart in die Welt der Einzelheit eingebunden zu sein, daß er sein Leben nicht mehr allein aus sich — die Objekte und Mitmenschen gleichsam allaugenblicklich in der Fülle des Gefühls verzehrend — bestreiten kann. Was er ist, ist diffundiert in die Zeit und in eine Geschichte konkreter Beziehungen mit anderen, ihrerseits vereinzelten und potentiell widerspenstigen Individuen eingegangen. So hat sich, ihm selbst verborgen, ein affektives Kontinuum ausgebildet: er hängt an Arlette, und diese Zuneigung bezieht sich auf eine eher unscheinbare Geschichte »vertrauten« und »gewohnten« Zusammenseins mit diesem bestimmten Menschen. Die bestürzende Wirkung der »Erfahrung des Du« 37 verwundet aus diesem Grund tatsächlich Andreas Selbstbewußtsein. Er wird darauf gestoßen, im Innern abhängig zu sein von anderen, die gegen ihn agieren können; abhängig also nicht von ihrer stimulierenden Wirkung, sondern abhängig von dem selbständigen Verhalten, das er ihnen im Zusammenleben und der Auseinandersetzung mit sich zuerkennen muß. In dieser Sphäre der Auseinandersetzung von Einzelnen lauert eine prinzipielle und beängstigende Unzuverlässigkeit: die »unendliche Variabilität« (A 1911, S. 509) des Menschen kann jederzeit von sich oder vom andern aus das Vertrauteste zu Ende gehen lassen. Das Selbst, das sich in konkrete persönliche Beziehungen verstrickt hat, ist von der gleichen Kraft, die es in sich verspürt, von außen immer bedroht. Das individuelle Leben, das sich dauernd neu als labile Synthese von »Gewohnheit« und fundamentaler Veränderung herstellt, gestaltet diesen Prozeß nicht autark, sondern in Interaktion mit anderen. Aus dieser Dialektik von Selbstmächtigkeit und Abhängigkeit kann der merkwürdige Schluß von Gestern verständlich werden. Andreas Einsicht kommt aus der Erinnerung. In dem Moment, als Arlette, »in der Erinnerung versunken« (GD I, S. 232), gleichsam mimisch die Szene auf dem Boot reproduziert, kommen auch für ihn die zwei Augenblicke zur Deckung. Er selbst hatte die Bootsfahrt angesprochen und Arlette ins Gedächtnis gerufen (»O denkst du noch an jene Nacht«, GD I, S. 232): dieser Zufall und Ariettes Absence führen zu der blitzartigen Erhellung. Andrea wird darauf aufmerksam, daß er gegen seinen Willen ein Vergangenheitsvertrauen ausgebildet hatte, das nun mit einem Schlag umgeworfen wird. Dieser doppelte Durchbruch zur Erinnerung — die Entdekkung des »gewöhnlichen« Vergangenheitsbewußtseins und seine Konversion in einem — ist von entscheidender Bedeutung für die letzte Peripetie des Dramas. Als Andrea begreift, daß das Allervertrauteste in Wahrheit schon länger nicht mehr zu ihm gehört, scheut er davor zurück, sich so scharf von einer bestimmten Vergangenheit abzusetzen, wie er es immer für sich reklamiert 37

Alewyn, Uber Hugo v. Hofmannsthal, S. 56.

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hatte. Fantasio zeigt in seiner »schonenden« A n t w o r t Verständnis f ü r dieses Zaudern: Wir wollen nicht das Abgestorbne schauen: Was hold vertraut uns lieblich lang umgab, Ob nicht mehr unser, neiden wirs dem Grab.

( G D I, S. 238)

Deutlich formuliert die A n t w o r t aber auch die Desillusionierung: jede bestimmte Lebensphase ist mit allem, was dazugehört, irgendwann einmal »nicht mehr unser«. Fantasio gibt damit aber zu verstehen, daß diese Absetzung von der eigenen Vergangenheit nicht der problemlose, steigerungssüchtige Sturz ins N e u e ist, von dem Andrea immer gesprochen hatte. Der Held jedoch agiert weiter in der schlechten Antithese von bindungsloser Veränderung und passivem Beharren im Vertrauten. Verbal reagiert er radikal (vgl. G D I, S . 2 3 8 f . ) ; faktisch will er seine alten Lebensumstände nicht aufgeben. U m jenes Ich, das an das Zusammensein mit Arlette gebunden ist, fortzuschreiben, will Andrea, was »lieblich hold« ihn »lang« umgeben hatte, in der Erinnerung in eine Geschichte des verratenen Gefühls und den leidenden Selbstgenuß daran umdichten. Daß diese Geschichte nicht Zustandekommen kann, ist, glaube ich, der G r u n d f ü r die letzte Peripetie des Dramas. Andrea hatte bereits an der neuen Version gearbeitet, die den Betrug in eine ferne Vergangenheit projizierte und im Mitleid mit dem so lange betrogenen Liebhaber schwelgte. Ariettes beschwichtigend gemeinter Hinweis, »nur gestern« ( G D I, S. 241) sei es zu einer solchen Eskapade gekommen, zerstört auch das neuentworfene Selbstbild. Indem die ausschlaggebende Veränderung in den H o r i z o n t des aktuellen Bewußtseins rückt, wird ein sehr viel tieferer Spalt zwischen dieses Bewußtsein und seine Vergangenheit gelegt. Andrea erfährt die Tat Ariettes noch ganz lebendig·, er begreift, wie in einem Augenblick durch eine grundlose H a n d l u n g alles ganz anders werden k a n n : es gibt keinen Halt in äußeren U m s t ä n d e n , schon gar nicht in Menschen, die nichts zwingt, das zu bleiben, was sie waren. Aus dieser lebendig erfahrenen Veränderung k o m m t ihm die Kraft z u m eigenen Entschluß, mit Ariette — seiner Vergangenheit — zu brechen. Die Macht des »Gestern« beruht deshalb nicht einfach darauf, daß etwas einmal war und nebulös in der Erinnerung überdauert. Vielmehr besteht mit der Erinnerung ein Wissen davon, daß es jederzeit als Einbruch in ein vermeintlich dauerhaftes Kontinuum wieder ins Leben treten kann. Das Wissen von dieser unheimlichen Belebungskraft des Menschen wirkt verstörend, w o ein Individuum sich bereits so weit auf die soziale Welt eingelassen hat, daß eine Vorstellung von der Vermitteltheit seiner Selbstbeziehung durch das Zusammensein mit andern besteht. Richard Alewyn hat in seiner Interpretation den Schluß von Gestern für unstimmig erklärt: es sei nicht einzusehen, w a r u m Andrea zunächst das 187

Leben mit Arlette weiterführen wolle, um dann auf die Entdeckung, daß der Betrug erst »gestern« (»und nicht etwa schon vorgestern«38) vorgefallen war, geradezu panisch zu reagieren. Will man Szondis vorsichtige Einwände gegen diese Kritik weiterführen,39 muß man wieder auf Alewyns Gedanken zurückkommen, daß die Verhaltensänderung Andreas einer zugleich zeitlichen und kommunikativen (und das heißt auch sprachlichen) Erfahrung entspringt: Andrea spürt Ariettes Untreue auf einmal gegenwärtig, und diese »fast schreiend« (GD I, S. 241) gemachte Entdeckung der fortdauernden Eigenwilligkeit des andern ist zugleich eine sprachliche >Schrumpfung< (von der überhöhten Metaphorik zur alltäglichen Bedeutung). Die »Erfahrung des Du« ist, wie der folgende Abschnitt zeigen soll, bei Hofmannsthal immer auch die Erfahrung fremdbestimmter, vordergründig trivialer Bedeutungen der Wörter. Kompliziert ist in Gestern die Verknüpfung mit der Zeitproblematik. Denn die seltsamen Wendungen in den Schlußszenen, die Alewyn für unplausibel hält, kommen dadurch zustande, daß Andrea Ariettes Untreue zuerst an einer älteren Erinnerung gewahrt: die Vergangenheitsweite, die Andrea für seine Fiktion verhöhnter Liebe benötigt, entsteht durch die zeitliche Spanne zwischen Bootsfahrt und Gegenwart der Dramenhandlung. Die eigentliche Frage zum Schluß von Gestern wäre, warum Hofmannsthal seinen Helden die »Erfahrung des Du« zunächst an einem Erinnerungsbild machen läßt. Die Antwort kann meines Erachtens nur sein, daß der Autor die Dimension der Intersubjektivität in allen Schichten des Ich wirksam erweisen will. Andrea begreift in einem ersten Schlag, daß die Bedeutung seiner Erinnerungen modifikabel ist in dem Maß, in dem gegenwärtige Auseinandersetzungen eine vergangene Situation gänzlich anders zu verstehen zwingen. Er reagiert mit dem Versuch, künstlich die Selbstbestimmung über die Interpretation seines Lebens zu restituieren. Er muß dann aber einsehen, daß die fortbestehende (prinzipielle) Variabilität des anderen diese Konstruktion im nächsten Moment wieder gegenstandslos macht. Hofmannsthals Pathos der »Treue« und die auch in Briefen manchmal fast übertrieben wirkende Beschwörung von Freundschaftsbindungen kommt aus der Angst vor dieser grundlegenden Unzuverlässigkeit, die das Leben der Person in der sozialen Welt bedroht. Sie läßt nicht nur die Zukunft unsicher erscheinen, sondern stellt ineins damit das Selbstverständnis des ganzen Lebens in Frage. Andreas Schlußthese »Was einmal war, das lebt auch ewig fort« (GD I, S.243) erhält so eine zusätzliche Bedeutung: die >Untreue< der anderen, mit denen ich mein Leben gestalte, lebt mit ihnen als eigenständigen Individuen fort. Vom Gelingen und Scheitern dieser Bezie38 39

Ebd. Szondi, Das lyrische Drama, S. 213 ff.

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hungen in der weiteren Entwicklung ist die Bedeutung, die die Vergangenheit für jeden Einzelnen hat, nicht freizuhalten. In Andrea hat Hofmannsthal das erste Mal eine Figur entworfen, die die Wichtigkeit von Bindungen und Kontinuitäten im menschlichen Leben gerade aus der Kenntnis von dessen unheimlicher Unbedingtheit zu akzeptieren lernt. Richard Alewyn hat gezeigt, daß Gestern zwei thematische Zentren hat: er nennt sie »Erfahrung des Du« und »Erfahrung der Dauer«. 40 Nach Alewyns Ansicht kommt die Umwegigkeit des Schlusses dadurch zustande, daß Hofmannsthal diese zwei Erfahrungen nacheinander entfalten muß (Erinnerung an die Bootsfahrt — Du; Schlußszene — Dauer). Völlig zu Recht weist Alewyn auch darauf hin, daß die Erfahrung, die Andrea in der Schlußszene macht, »durchaus eine heutige« sei, nämlich die, daß Arlette »auch heute noch für ihn dieselbe ist, die sie für sich gestern gewesen ist«. 41 Diese Erfahrung der »Fortdauer des Du« — seiner fundamentalen Untreue — ist aber durchaus auch die einer »Fortdauer des Ich«, jenes Ichs nämlich, das sich aus der Beziehung zu den anderen heraus begreift und damit auch weiß, daß die Bedeutung dieses gemeinsamen Lebens nicht allein von ihm definiert werden kann, sondern in Interaktionen ständig neu zu gewinnen ist. Dem zu entgehen war der Sinn der merkwürdig masochistischen Erinnerung, der sich Andrea hingeben wollte: er versuchte damit, die erste Erschütterung — die Entdeckung von Ariettes Selbständigkeit und seiner Abhängigkeit von ihr — in seinen alten Solipsismus zurückzunehmen. Die Verwandlungsfähigkeit des anderen wäre damit einfach unter umgekehrten Vorzeichen erneut negiert: Arlette war seit langem schon Betrügerin, und die weitere Entwicklung würde dieses Bild nur kontinuieren. Stattdessen begreift er in der Schlußszene, daß Zusammenleben heißt, sich auf unvorhersehbare Veränderungen der anderen einlassen und die eigene Veränderlichkeit in dieser sozialen Sphäre betätigen zu müssen. Die Ironie des Stücks liegt darin, daß Andrea, der für sich eine »unendliche Variabilität« propagiert, die der anderen am eigenen Leib als von außen verhängten Abbruch seines verleugneten Bedürfnisses nach Kontinuität erfährt. Die Lehre dieses noch allzu lehrhaften Stücks wäre, daß das Leben eine Dialektik von unendlicher Verwandlung und endlicher Treue ist. Wird ein Moment absichtlich unterdrückt — wie bei Andrea das der Treue —, zeigt es sich hintergründig wirksam: er findet sich auf einmal in Abhängigkeit von Arlette, deren Veränderbarkeit ihn nun seinerseits beunruhigt. Die angestrengte Ausschließung der Treue führt gerade zum Gegenteil: unter großspuriger Betonung seines sprunghaften Wesens klebt Andrea zäh und bequem an der vertrauten Umgebung, der er sein Ubermenschentum seit jeher vorgespielt 40 41

Alewyn, Über Hugo von Hofmannsthal, S. 56. Ebd., S. 57. 189

hatte. Die erste Veränderung aus eigenem Entschluß nimmt er vor, als er begriffen hat, daß die Kraft der Verwandlung steril bleibt, solange sie rein und abstrakt im Gefühl gesucht wird; sie muß in konkreten Lebenszusammenhängen wirksam werden, die als soziale Welt zum Selbst gehören und über die hinwegzugehen darum auch eine Selbstüberwindung erfordert. Die proklamierte rauschhafte Selbststeigerung vom Anfang wird deshalb am Ende ersetzt durch einen schmerzhaften Bruch mit der eigenen Vergangenheit. Andrea verändert erstmals konkret sein Leben und läßt seine alltägliche, äußere Vergangenheit (nicht die der Stimmungen) hinter sich. In den »Tränen«, die zuletzt seine »Stimme« »ersticken«, kommt aber zum Ausdruck, daß er diese gemeinsame Vergangenheit nur darin nicht mehr sein wird, daß er sie in allen zukünftigen Wandlungen weiterlebt. IV.3.5.1 Wechsel der »Launen« und Sprachwirbel Andrea ist eine Figur des Ubergangs, die in einer Welt klar unterschiedener Objekte und Mitmenschen lebt, in der Beziehung zu ihrer Umgebung aber zunächst die alte magische Entsprechung von Innen und Außen unterstellt. In dieser Ambivalenz liegt eine Gefahr verborgen: der glaubt, dank der bloßen Macht seines Gefühls alles seinen Bedeutungen unterwerfen zu können (und deshalb nicht handelt), gerät tatsächlich in die Abhängigkeit fremder Intentionen — er steht allein in seiner scheinbaren Omnipotenz einer Welt gegenüber, die untereinander gegen ihn verständigt ist. Im Drama demonstriert das die vierte Szene, in der es um Vespasianos Betrug beim Pferdeverkauf geht. Andrea entlarvt den verlogenen Freund in souveräner Manier, um sich mit seinen Schlußworten unfreiwillig selbst der Lächerlichkeit preiszugeben. Die Anderen wissen bereits, daß Arlette ein Verhältnis mit Lorenzo hat. Andrea:

(...) U n d es ist nichts verächtlicher auf Erden, Als dumm betrügen, dumm betrogen werden! Er spricht die letzten Worte mit Beziehung auf Vespasiano; Corbaccio und der Kardinal sehen einander verstohlen an und lachen. Andrea sieht sich einen Augenblick fragend um. ( G D I, S. 225)

Natürlich handelt es sich hier um ein traditionelles dramatisches Mittel, zumal der Komödie. Trotzdem sollte die Kenntnis der Allgemeinheit solcher Techniken nicht von vornherein vom Nachdenken über ihre besondere Stellung im Werk Hofmannsthals dispensieren. Andrea redet leichtfertig — dazu noch in sentenzartiger Form — von »Betrug« und wird in der Irritation, die das Lachen Corbaccios und des Kardinals auslöst, darauf gestoßen, daß die Anderen einen von dem seinen gänzlich differierenden Sinn damit verbinden. Peinlich wirkt nicht die bloße Diskrepanz zwischen der 190

Ahnungslosigkeit Andreas und dem Wissen der Freunde, sondern die zwischen dem vollmundigen Pathos von Andreas Ansprache über die Grundlosigkeit der verbrecherischen Tat und der trivialen Liebeseskapade, um die es in Wirklichkeit geht. Andrea, der glaubt, fühlend und redend im Besitz seiner Welt zu sein, kann nicht verhindern, daß seine Bedeutungen hinter seinem Rücken durch das Handeln der Anderen einen fremden Sinn bekommen. Tatsächlich ist Arlette, während er vom unvorhersehbaren »Sprung« des »wilden Panthers« (ebd.) faselt, ganz schlicht aus der vertrauten Beziehung mit ihm ausgebrochen. Es ist keineswegs so, daß Andrea >an der Sache vorbeiredete Jedes Wort, das er in grundsätzlicher und auf das Ganze des Lebens zielender Intention in den Mund nimmt, hat seinen bestimmten Sinn in der »alltäglichen« (ebd.) Geschichte, die er mit Arlette lebt: »Verrat . . . sinnlos betrüben . . . lügen . . . unbewußter Mund . . . Selbstbetrug« (ebd.). In dieser Geschichte wird aber leider aus der »grundlos werdenden« Gefahr, die das »wilde«, ungezähmte Leben in DschungelBildern verheißt, ein gewöhnlicher Seitensprung. Andrea muß damit auch lernen, daß in der alltäglichen Welt der besonderen Beziehungen, die Menschen miteinander eingehen, sehr viel banaler, ja »unbegreiflich schal« (GD I, S. 240) wiedererscheint, was in der undeutlichen frühen Gefühlswelt sich großartig angekündigt hatte. Reflexions- und Sprachproblematik sind bereits an diesem frühen Punkt miteinander verknüpft. Andrea ist Angehöriger einer differenzierten Objektwelt, ohne sich von der Unmittelbarkeit des Gefühls lösen zu wollen. So wenig Andrea am Anfang den Personen, die mit ihm leben, eine eigene, von seinen Bedürfnissen unabhängige Veränderung zugesteht, so wenig geht er davon aus, daß die sprachlichen Zeichen einer äußeren, gegenläufigen Determination unterliegen könnten. Dem Angewiesensein auf die Objekte als »Inzitamente« entspricht auf der Ebene der Sprache die Rolle der Freunde als Stichwortgeber für Andreas Monologe. Andrea kann nun nicht verhindern, daß die Bedeutungen, die sich in den wirklichen Interaktionen der Individuen bilden, neben die seinen treten; daß ein gewöhnlicher, »schaler«, alltäglicher Sinn seine großen Reden insgeheim entstellt. Hofmannsthal hat die Abenteurergestalt zugleich als geläufigen Schwätzer (was gar nicht pejorativ gemeint sein muß) konzipiert: dem wirbelnden Wechsel der Stimmungen im Versuch, die »Seele in ihrer Totalität« zu spüren, entspricht der Sprachwirbel, der den Zustand, in dem »die Seele ganz eines mit (der) Rede« (Br. II, S. 213) ist, wieder heraufbeschwören soll. Wieder sind als Fluchtpunkt »göttliche Momente« (A 1902, S. 439) avisiert, Glückszustände, in denen — mit dem schönen Ausdruck Bretons — »les mots font l'amour«. Was in diesen Augenblicken ungegenständlich gegeben ist, versucht die strömende Rede bewußt — und das heißt: ausgehend von der situationsgebundenen Sprache — zu erreichen. Eine hochge191

schraubte Eleganz der Rede strebt, scheinbar an ein Gegenüber gerichtet, in Wahrheit wieder zurück zur Einsamkeit einer gerade nicht mehr mitteilbaren Sprachverzückung. Der Typus Neugebauer ( . . . ) Das Edelschwätzen eine Notwendigkeit bei ihm, keine Falschheit. In dem Schwätzen glaubt er das Unsagbare zu enthüllen. (A 1917, S. 543)

Hofmannsthals Sprachkritik wendet sich von früh an gegen die unreine Mischung dieser zwei gegenläufigen Intentionen. Die besondere Empfindlichkeit gegen die »Übertreibung« (vgl. z . B . BdF, S.290f.) rührt vor allem daher, daß Hofmannsthal diese Neigung an sich selbst kannte: »Das Wortreiche ist eine Unart meiner Stücke« (Br. II, S. 362). Noch die befremdliche Eleganz, mit der im Chandosbrief ein völliges Irrewerden an der Sprache beschrieben wird, könnte mit diesem Gedanken zu tun haben. Hofmannsthal hat bekanntlich auch in privaten Äußerungen angedeutet, ihm würde »manchmal das Reden, auch das schriftliche, in einer Weise unmöglich«, die er »gar nicht definieren« könne (Br. II, S. 63, an Rudolf Alexander Schröder, 13.1.1902). Diese Verunsicherung entsteht aber gerade aus der unheimlichen Diskrepanz zwischen einer in sozialen Beziehungen differenzierten Gefühlswelt und einer Sprache, die in ihrem Anschwellen diese bereits bescheiden gewordene Empfindung zu überfordern droht. Der Ausgangspunkt von Hofmannsthals Sprachkrise ist nicht zunächst ein Versiegen, sondern eine von der Wirklichkeit der Gefühle her nicht zu verantwortende Geläufigkeit der Rede. In der wahrscheinlich aufschlußreichsten Äußerung zu diesem Thema — in Ad me Ipsum — blickt Hofmannsthal auf sein Frühwerk zurück und erläutert eine Stelle aus Der Kaiser und die Hexe mit jenen Sätzen von Clemens Brentano 42 , die so nahe an berühmte Formulierungen des Chandosbriefs anklingen. E s handelt sich um ein Zu-viel im Reden, ein Ubertreiben — und in diesem Zu-viel ist eine Spaltung — ein Teil des Ich begeht was der andere nicht will — es ist dies Quer-hindurchschauen

durch die übertriebene bizarre witzige Rede,

die der

>Zweite< in uns hält (Clemens Brentano). E r überläßt manchmal >seine Worte< (sagt er selbst) >ihrer inneren lebendigen Selbständigkeit und die Rede wirtschaftet dann auf ihre eigene Hand munter drauf los, während meine Seele in der Angst, Trauer und Sehnsucht liegt«. Es ist die Gefahr der >Aufwallung, der kein Tun folgt«. >Mäuse, Raubtiere, Diebe, Buhler, Flüchtende«, nennt er einmal die Worte, die ihm >mit seinen Empfindungen aus dem Maul laufen«. Die seelische Situation ist die des jungen, innerlich ungefestigten Wesens, das mit sich selbst noch nicht genug hat, sich den Menschen, die er liebt oder gewinnen will, >hinwirft bis zur Würdelosigkeit«. Es ist, nach der Einsamkeit der Prae-existenz, die leidenschaftliche Vor-

42

Z u m erstenmal ist Hofmannsthal auf diese Sätze wohl in dem Romantikbuch von Ricarda H u c h gestoßen; vgl. Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall. Neuausg. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 520.

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wegnähme des Sozialen, bis zum Frevelhaften, auch ein Verwischen der Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit also Lüge. ( A m i , S. 615)

Hofmannsthals Sprachunbehagen läßt sich nicht unter das gängige Schema: Sprechen tötet die Empfindung ab, bringen. Vielmehr werden die Empfindungen in der Verselbständigung der Rede über das Maß hinausgetrieben, für das ein bestimmtes Ich in konkreten lebensweltlichen Beziehungen aufkommen kann. In der Bildlichkeit dieses Absatzes: die Sprache zieht Gefühl in einem solchen Uberschwang aus dem Mund, daß die realen Beziehungen zwischen einzelnen Personen und die darin wirksamen bestimmten Empfindungen »bizarr« überhöht und zugleich verunklart werden. Die dadurch entstehende Unehrlichkeit ist dann aber nicht Ergebnis von »Falschheit«, sondern Folge einer Unfähigkeit, sich zu beschränken. Diese »Versündigung« kann erst statthaben, wo so viel Raum zwischen »Seele« und »Rede« (Br. II, S. 213) eingetreten ist, daß es zu der erwähnten Spaltung des Ich in zwei Teile kommt. »Frevelhaft« ist die unreine Mischung, gleichgültig, welche Seite in ihr dominiert und die Richtung bestimmt: die Ausnützung der Rede als des »sozialen Elements« schlechthin für die Regression in ein erstes rauschhaftes Sprechen (Andrea); oder der Einsatz der Sprachmagie, um die Menschen zu »gewinnen« — ein Sich-Gehenlassen im Reden und indiskretes Ausbreiten des innersten Gefühls, bei dem der Sprechende sich erniedrigt (ein Selbstverströmen, das einem Anderen angetragen wird) und der Angesprochene überschwemmt wird. Hofmannsthal hat nie davon abgelassen, die Bedeutung der Erhöhungsaugenblicke zu unterstreichen; mit zunehmendem Alter besteht er aber rigider auf einer deutlichen Trennung von »Sagbarem« und »Unsagbarem«. Man kann auch diese Entwicklung von Gestern aus skizzieren. Andreas geheimer Glaube an eine Korrespondenz, die sein Umfeld an die Bewegung seines Gefühls bindet, geht zurück auf ein All-Gefühl, in dem alle Wesen gleichermaßen innestehen. Die Entwicklung des Dramas zeigt aber für die wirklichen Beziehungen der Menschen und ihr Agieren statt der Entsprechung ein Gegeneinander. Wo die Subjekte aus dem Medium des Einheitsgefühls herausgetreten sind und als bestimmte Persönlichkeiten handeln, findet Auseinandersetzung statt. Die unendliche Kraft, die in der »Präexistenz« unmittelbar erfahren wird, erscheint in der »Existenz« als nicht faßlicher Hintergrund jeder bestimmten Handlung. Sie ist das, was den Ubergang von allem Vergangenen zu einer neuen, daraus in keiner Weise ableitbaren Handlung ermöglicht. Diese Unvorhersehbarkeit der Tat, der tiefe Schnitt, den das Handeln dauernd zwischen Vergangenheit und Zukunft legt, ist der eigentliche Gehalt schon von Andreas Erfahrung. In Ad me Ipsum wird in den Reflexionen über den Begriff der Tat diese Absetzung von der eigenen Vergangenheit ausdrücklich formuliert: 193

»die Verwandlung im Tun. Tun ist sich aufgeben.«

(Ami, S. 602)

Gehalt: Ubergang von der Prae-existenz zur Existenz: dies ist in jedem Ubergang, jedem Tun. Das Tun setzt den Ubergang aus dem Bewußten zum Unbewußten voraus. (Ami, S. 611)

Am Ende steht damit bei Hofmannsthal die Zurücknahme des frühen Projekts einer »Bakteriologie der Seele«. Selbst wenn es gelingen könnte, in einem »höchst durchsichtigen Gewissen« (A 1893/4, S. 373) die zahllosen unscheinbaren Erfahrungen und Regungen bewußt zu machen, die — um Hofmannsthals Brief an Bahr aufzugreifen — beispielsweise hinter einer Duellforderung stehen, so ginge aus der Versammlung all dieser Umstände keineswegs hervor, daß sie notwendig in den Entschluß zum Duell münden. Vielmehr bewirken die Ärgernisse, Verstimmungen und Provokationen, die einer Duellforderung vorhergehen mögen, diesen Schritt nur dadurch, daß ein Entschluß sie zu seinen Gründen macht. Der Entschluß selbst ist »unbegreiflich« (A 1900, S. 433), der Grund, aus dem er und die Zukunft, die sich mit ihm abzeichnet, hervorgehen, bleibt unzugänglich. Im Uberschreiten der Vergangenheit auf eine selbstentworfene Zukunft hin geschieht ein »Ubergang aus dem Bewußten zum Unbewußten«; »bewußt« ist wieder der bestimmte Entschluß, »unbewußt« sein Ursprung, der dennoch nirgendwo anders als im Subjekt liegen kann. Was vielleicht im Rückblick als lückenlose Entwicklung bestimmter Ereignisse und der >Reaktionen< darauf erscheint, ist in Wahrheit durchsetzt von »Spalten« (Lebenslied)I, ja sogar »Abgründen« (vgl. A 1905, S . 4 6 5 / B d F , S. 267). Das menschliche Fortschreiten in der Zeit ist jedesmal ein Sturz ins »Leere«, ein instantaner, nicht wahrnehmbarer Rückgang in die Präexistenz, aus dem das neue, »bewußte« Tun hervorgeht. Ist der Entschluß einmal gefaßt, gliedert er sich der Vergangenheit des Ich an; seine Ausführung wiederum geht nicht aus ihm hervor, sondern aus einer erneuten Hervorbringung aus dem Nichts der Freiheit. Hofmannsthals Beschäftigung mit der Vergänglichkeitsproblematik ist von seinen frühen Publikationen an durch dieses Rätsel geprägt: daß es eine eigenste, aber nicht faßbare Kraft ist, die zur dauernden Selbstaufgabe zwingt und zugleich die durch »Spalten« getrennten Momente zur Einheit einer Lebensgeschichte zusammenschließt. Daß die Präexistenz in den Zwischenräumen der deutlich unterschiedenen Lebensmomente erscheint — oder besser: sich entzieht - , ist die Grundlage für jene Möglichkeit, zum erhöhten Selbst zurückzukehren, die Hofmannsthal in Ad me Ipsum den »direkten Weg« (Ami, S. 601) genannt hat.

194

IV. 4 Terzinen: Über

Vergänglichkeit

»Der >direkte Weg< hat es mit der Spiegelung zu tun, mit der Selbstbegegnung.« 4 3 Hofmannsthal spricht in Ad me Ipsum in diesem Zusammenhang mehrere seiner berühmtesten Gedichte an: Traum von großer Magie, Weltgeheimnis, Erlebnis, Vor Tag (Ami, S. 601 f.). Das letzte, späte Gedicht faßt die Selbstbegegnung am deutlichsten: der junge Mann klettert nach der Liebesnacht »durchs Fenster in sein eignes Zimmer, sieht/ Sich im Wandspiegel und hat plötzlich Angst/ Vor diesem blassen, übernächtigen Fremden,/ Als hätte dieser selbe heute nacht/ Den guten Knaben, der er war, ermordet« ( G D I, S. 39). Unübersehbar tut sich im ersten Enjambement (»sieht/Sich«) der Spalt auf, der den einen vom andern trennt und in dem dennoch »Knabe« und »Fremder« — Mörder und Opfer also — im »Sich« zusammengeschlossen sind. Vergleichbare Stellen in Hofmannsthals Werk lassen vermuten, daß der Blick des Mannes in dem Moment in den Spiegel fällt, in dem er sich durch die Fenstervierung in den Raum hineinbegibt: mit dem Eintauchen in die Atmosphäre des Zimmers erscheint schlagartig zugleich das »fremde« Gesicht und sticht heraus; die Spannung dieser Selbstentzweiung ergreift noch »Himmel« und »Luft« und drängt nach einer Erlösung im Element der Reinheit, des Ursprungs und der Verbindung — dem Wasser (vgl. den Schluß von Vor Tag, G D I, S. 40). Dieses »Zurückkehren« zu sich selbst, »ins eigne Zimmer« (Ami, S. 602), hier handgreiflich als Zurücklegen einer Wegstrecke, Betreten eines Raums und Spiegelung evoziert, hatte Hofmannsthal Jahre zuvor in den Terzinen: Über Vergänglichkeit als Erinnerungsbegegnung im Innenraum des Ich thematisiert. Das Unbegreifliche des Selbstseins führt in eine seltsam weite Dimension, in der die Grenzen des Ich sich verlieren. U b e r Vergänglichkeit N o c h spür ich ihren Atem auf den Wangen: Wie kann das sein, daß diese nahen Tage Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen? Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt, U n d viel zu grauenvoll, als daß man klage: Daß alles gleitet und vorüberrinnt. U n d daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt, Heriiberglitt aus einem kleinen Kind Mir wie ein H u n d unheimlich stumm und fremd.

43

Szondi, Das lyrische Drama, S. 350.

195

Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war Und meine Ahnen, die im Totenhemd, Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar, So eins mit mir als wie mein eignes Haar.

( G D I, S. 21)

Formal handelt es sich um vier Terzinen mit einer Schlußzeile: Hofmannsthal hat in diesem Gedicht das klassische Terzinenschema (das die 1903 damit zusammengestellten Terzinen II und III einhalten) variiert. In der auf Dantes Divina Commedia zurückgehenden Tradition wird gewöhnlich der Auslaut der mittleren Zeile des ersten Terzetts zum umarmenden Reim des zweiten Terzetts, dessen mittlerer Vers wiederum in den umschlingenden Versen des dritten Terzetts aufgenommen wird usf. Dadurch ergibt sich, allein von der Reimstruktur her, ein ständiges Weiterwachsen; jede neu gesetzte Einzelzeile entfaltet sich in die äußeren Zeilen des folgenden Terzetts, die wieder einen neuen Einzelvers in sich bergen — eine Technik, die das natürliche Ubergehen einer Knospe in die Blütenblätter, die wieder eine neue Frucht in sich tragen, nachzubilden versucht. Die Terzinen sind so die Strophenform, die dem ständigen Aufstieg des Protagonisten der Göttlichen Komödie entspricht. Die Schlußzeile hat die Funktion, diesen potentiell unendlichen Progreß stillzustellen. Traditionell reimt sie auf den mittleren Vers des vorhergehenden Terzetts und bewirkt mit dieser abschließenden Umarmung eine gewisse Abrundung. In Hofmannsthals Gedicht reimen in den ersten beiden Terzetten die Mittelzeilen miteinander (Tage — Klage), in den unteren zwei ist die Mittelzeile jeweils mit dem umarmenden Reim der vorigen Strophe verbunden (Kind reimt auf aussinnt und vorüberrinnt; -hemd auf gehemmt und fremd). Geht man zunächst nur von der Reimstruktur aus, dann machen die ersten beiden Terzinen, genau symmetrisch gebaut mit insgesamt drei Reimpaaren (d. h. jeder Vers hat innerhalb dieser zwei Strophen ein genau ihm zugeordnetes Gegenüber), einen in sich geschlossenen Eindruck. Das korrespondiert, wie gleich zu sehen sein wird, inhaltlich mit einem gewissen Bruch zwischen der zweiten und dritten Strophe. Wenn dann aber in der dritten Strophe das Schlußwort der zweiten (vorüberrinnt) im Reim mit »Kind« wiederaufgegriffen wird, aus einem bisher zweistelligen Reim ein dreistelliger wird, entsteht der Eindruck, daß an etwas eigentlich schon Abgeschlossenes doch noch einmal angeknüpft wird. Dies geschieht dann jedoch in einer Bewegung, die — genau gegenläufig zu den klassischen Vorbildern — nicht die Mittelzeile entfaltet, sondern die umarmenden Verse zusammenzieht. Anstelle des gleichmäßigen Weiterwachsens bewirkt Hofmannsthals Reimverfahren in der zweiten Hälfte des Gedichts also eine Verengung. 1. Strophe Das Gedicht beginnt wie Liebeslyrik: »Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen«. Die Eigenwirkung des ersten Verses läßt an eines der zahlrei196

chen Gedichte über eine gerade verlorene Liebe denken. Im zweiten Vers wird diese Lesart überlagert von dem anderen möglichen Bezug des »ihren« auf »nahe Tage«. Aus dem ursprünglichen Verständnis, das das Bild eines durch Tod (biographischer Kontext), Untreue oder anderes Geschick einsam zurückgebliebenen Mannes evoziert, erhält die Vergänglichkeitsklage ihre emotionale Aufladung. Das Irisieren des ersten Verses hinüber in den Bereich der Liebeslyrik nimmt dem Gedicht schon zu Beginn den Charakter der Gedankenlyrik, den der Titel vermuten ließ. Eine zweite Wirkung des unmittelbaren Einsatzes und der verzögerten Nennung des verlorenen Objekts ist der sprachliche Vollzug des thematisierten Umschlags von Gegenwärtigkeit in Vergangenheit: Das erste Wort der ersten Terzine ist »Noch«, das letzte »vergangen«, der erste Vers steht im Präsens, der letzte im Perfekt. Der eigentliche Umschlagpunkt von noch greifbarer Gegenwart in unwiederbringlich verlorene Vergangenheit ist im Gedicht das starke Enjambement von Zeile 2 zu Zeile 3: diese nahen Tage / fort . . . Zum einen erhellen die »nahen Tage« erst rückbezüglich, was mit »ihren« (ihren Atem) im ersten Vers gemeint ist; man hält bei der Lektüre also für einen Augenblick inne, um den Sinnkomplex: >noch spüre ich den Atem der nahen Tage auf den Wangen< zu realisieren. Dann aber, beim Weiterlesen, folgt unmittelbar im neuen Vers das Wort »fort«, gegen das Metrum in einer Hebung, in der Wiederholung sogar noch verstärkt: »für immer fort«. Durch ihre Zweistrahligkeit (oder Rückbezüglichkeit) ziehen die »nahen Tage« die entgegengesetzten adverbialen Angaben »Noch« und »fort« an dieser Stelle zusammen: der volle Sinn des mit »Noch« eingeleiteten ersten Verses ergibt sich erst hier, um den Umschlag in den Verlust (»fort«) im Enjambement um so krasser zu gestalten. 2. Strophe Die zweite Strophe läßt sich fast als eine Absage an Goethes Dauer im Wechsel lesen. Es wird bestritten, daß es möglich sei, diesen Komplex der Vergänglichkeit >voll auszusinnenzu Ende denkenAtem der vergangenen TageKlageverbot< der 2. Strophe wird also in gewissem Sinn eingehalten, auch wenn das Gedicht nicht ganz abbricht. Das »Ich« der ersten Strophe, das sich in Strophe 2 zu dieser entschiedenen Geste aufrafft, ist abgelöst durch eine andere, tiefer im Subjekt liegende Instanz. Oder besser: in der dritten Strophe spricht nicht mehr das dem Tagesgeschehen, den »nahen Tagen«, zugewandte Ich; ihr Schauplatz ist der Raum der Erinnerung, in dem das Ich sich selbst als Vergangenem begegnet. Das Subjekt kehrt aus der sinnlos ablaufenden Zeit des »äußeren Lebens« in die Dimen198

sion des inneren Zeitbewußtseins zurück. Subjekt des Nebensatzes, den die dritte Strophe darstellt, ist ein substantiviertes »Ich«, das für die Dimension der Selbsttätigkeit steht: es verbindet »gleitend« das mit dem unpersönlichen Artikel als fremdes Wesen vorgestellte »Kind« mit dem gegenwärtigen »mir« in Vers 9. Ahnlich wie in Vor Tag wird die Selbstzuschreibung pleonastisch verstärkt durch »mein eignes«. Der Versuch, die immer schon vorgefundene Identifikation von erinnerndem und erinnertem Ich ausdrücklich als »eigene« Funktion zu reklamieren, führt im Gegenteil zu einer Entfremdung: das »Ich«-Sein, seine Aktivität, entzieht sich unter dem Zugriff, der es aussinnen will, ins Ungreifbare. Semantisch wird das Versagen dieser Aneignung evoziert durch die Assoziationen des Infamen, Hinterhältigen, Versteckten, die an das »Herübergleiten« anknüpfen. Das Bild des lautlos >unten< regsamen »Hundes« wird so von Beginn der dritten Strophe an suggeriert. Zwingend aber gestaltet diese Strophe den Umschlag des Eigensten ins Unfaßliche in ihrem Klangbild. Bis zum Einsatz des Hunde-Vergleichs dominiert in den Vokalen das /i/ des »Ich«, das mit dem Vergleich ebenso hörbar vom /u/ abgelöst wird (»eignes 7ch . . . nichts . . . heräberghtt . . . kleinen Kind . . . mir wie ein — // — Hwnd unheimlich (gegen das Metrum mit Nebenbetonung auf der ersten Silbe zu lesen) stamm »nd fremd«). Dieser starke Kontrast der Vokale wird grundiert von einer gegenläufigen Strömung der Konsonanten. Die Strophe, die sich in einer steten Steigerung auf den Hunde-Vergleich zubewegt, beginnt mit dem beinahe identischen Wort »und«. Sein Vokal taucht dann nur noch einmal vor dem neunten Vers auf; Nasale und Dentale aber überwiegen, fünfmal in Kombination, deutlich im Konsonantenbestand der Strophe. Das /h/, das zum »Hund« noch fehlt, ist an der ohnehin schon profilierten Stelle des Enjambements durch eine Alliteration zusätzlich hervorgehoben (gehemmt — herüber). Die Differenz von »Kind« zu »Hund« beruht — wenn man davon ausgeht, daß das /h/ >noch im Ohr ist< — auf dem Wechsel eines Phonems. Es bedarf nur einer minimalen Verschiebung, damit aus dem Vertrauten das »Unheimliche« wird, das Einheitstiftende im Ich (/i/) sich nach unten weg entzieht (/u/). Der Umschlag des Nahen, dem Ich Angehörigen ins Ferne, durchaus auch Beängstigende, ist in diesem Gedicht deshalb so überzeugend gestaltet, weil die Sphäre des »Hundes« nicht das schlechthin andere ist, sondern beinahe identisch mit dem um das Ich aufgebauten Klangfeld. Der Hund ist lautlich in der Aktivität des Ich verborgen und kann jäh, aufgrund einer kleinen Drehung, hervortreten. Generell beruht das Faszinosum dieses Gedichts auf einer Klangstruktur, die die gleitende Kontinuität plötzlich auf eine senkrecht zum Ablauf stehende untergründige Dimension aufbrechen läßt. In horizontaler Richtung ist über die Kette der /i/ hinaus ein dauernder Fluß suggeriert; 199

wellenartig pflanzen sich die Laute in den folgenden Wörtern fort: »mein eignes . . . Ich Amch nichts . . . geiemmt Äerüberg/itt . . . einem kleinen Xind; oder in der vierten Strophe: Dann daß ich auch ... Jahren war... Ahnen«. Vertikal dagegengesetzt ist in größeren Abständen die Wortkette »Und (V. 7 ) . . . H u n d . . . und (V. 9 ) . . . hundert (V. 1 0 ) . . . und (V. 11)« mit ihren zugehörigen vokalischen Verstärkungen. 4. Strophe In der Selbstbegegnung der Erinnerung in Hofmannsthals Terzinen entzieht sich die Aktivität, die »gleitend« die Momente des Lebens zum Kontinuum verhält, ins Ungreifbare. Das Unheimliche besteht gerade darin, daß unabweisbar all das Vergangene zum Ich gehörig empfunden wird, die Kraft aber, die die Selbstidentifikation vollbringt, wiewohl »mein(e) eigne«, als Macht eines untergründigen Wesens erscheint. Auch die Terzinen thematisieren derart das scheinbar simple Problem des »Ubergangs von einem zum andern Moment« (Ami, S. 602): den Selbstverlust, der mit der dauernden Aufgabe eines bestimmten Ich verbunden ist, das — fremd u n d unverständlich geworden — dennoch von seinen >Erben< weitergelebt werden muß. Negativ gewendet hat Hofmannsthal die Dunkelheit des Ubergangs als das »unheimliche Vergessen von Augenblick zu Augenblick« (Ami, S. 613) angesprochen. Erinnernd die »Stadien« seines Lebens zu vergegenwärtigen heißt deshalb noch für den Autor von Ad me Ipsum, diese fundamentale Vergessenheit, die die verschiedenen darstellbaren Momente des Ich unterminiert (sie gerade darin aber zu Momenten »meines Lebens« macht), aufzuweisen: Verschiedene Momente meines Lebens auffangen und vor allem zeigen, was im Schatten ist. Das Lebendige, das Wahre in dem aufweisen, was schweigt. (Ami, S. 626)

Die Ö f f n u n g des Ich auf seine gründende Dimension, die Hofmannsthal auch »Uber-Ich« oder — dem Klangbild des im Unteren regsamen »Hundes« entsprechender — »Homunculus« nennt, führt in der vierten Strophe zu einer weit übers Biographische hinausgehenden Erweiterung. Auch hier liegt der Hinweis auf Ad me Ipsum nahe: »Das Uber-Ich ( . . . ) auch erfaßt als Generationskette« (Ami, S. 611). Solche Zitate geben aber keinen Aufschluß über die Details, die die Verbindung von »Ich« und »Ahnen« tragen. Die Erfahrung, aus der dieses Verbundenheitsgefühl mit den »Ahnen«, den längst Gestorbenen, hervorgeht, hat Hofmannsthal verschiedentlich beschrieben. Am Anfang steht eine Bewegung des Auf-sichselbst-Zurückkommens oder eine Lage, in der eine Selbstverdoppelung verspürt wird: der Körper, der sich beim Bücken über sich beugt oder — im Bett liegend — das Gefühl aufkommen läßt, er sei ein wenig abgehoben aus 200

der eigenen Form, die als Mulde in die Unterlage eingedrückt ist. Plötzlich tritt ein zweiter auf: der eine liegt im Bett, der andere umfängt ihn gleichsam in dieser Lage; der eine bückt sich, der andere steht über ihm und beugt ihn. Ein seltsam unbegrenztes Gefühl von Selbst-Ablösung tritt ein und zieht in einen Raum >hinter< oder >unter< dem Oberflächen-Ich: es ist, als hätten sich die belebenden Kräfte mit einem Male in diesen >anderen< zurückgezogen und das gewöhnliche, alltägliche Ich als eine Art Hohlform — wie einen ausgezogenen Anzug — zurückgelassen. Hofmannsthal hat dieses plötzliche Gewinnen von Weite in einer Notiz von 1895 euphorisch beschrieben: E s ist ja möglich, daß demoralisierendes Unglück ( . . . ) über uns einmal k o m m t : da wollen wir uns erinnern, oft die Welt genossen zu haben, das Leben der T o t e n , die mit uns im Bett liegen und sich bücken, wenn wir uns bücken, die N a c h t , und Sternennähe und Sternenferne, die Geliebten, und die Liebe derer, die sich untereinander lieben, das Kindliche der Kinder, und den Geschmack roher Weizenkörner in der heißen Sonne, die Himbeeren und alle Dinge.

( A 1895, S. 4 0 8 f . )

Wie gestaltet sich dieser Ubergang in den Terzinen? Auffällig ist in Vers 12 die Wiederaufnahme des verstärkten Possessivpronomens: »mein eignes Haar«. Der Grund des Ich wird damit auf den Bereich des Anorganischen zurückgeführt. Mit den Haaren beginnend, wollte sich schon Mallarmés Hérodiade am ganzen Leib in lebloses Metall verwandeln; von den Haaren, fühllos und nicht von Blut durchflössen, geht auch in Hofmannsthals Gedicht das Gefühl der Teilhabe am Reich der ewigen, unveränderlichen Materie aus. Das individuelle Leben erscheint so in der Einfühlung in die toten »Ahnen« zugleich als Abkömmling des »Urältesten« der Romantiker: der anorganischen Welt, die das Leben aus sich entlassen hat, der es seine Kraft verdankt (man denke an die Mythen von den Haaren als kosmischer Kraftquelle) und zu der es beständig zurückzukehren begehrt. Die letzten zwei Verse des Gedichts sind vom Wortbestand her beinahe identisch. Die Schlußzeile ersetzt nicht nur das Wort »verwandt« durch »eins«, sondern verändert auch die Reihenfolge: »eins« steht vor »mit mir« und hat die gewichtigste Betonung des Verses, sowohl von der Stellung her als auch gerade darin, daß es das einzige neue sinnverändernde Wort ist. »Mit mir« dagegen klingt wesentlich schwächer als im dritten Vers der letzten Terzine; es ist, könnte man sagen, nurmehr ein Nachhall des vorhergehenden »mir« wie aus weiter Ferne. Im Echo der Schlußzeile klingt die Stimme des Einzelnen aus der nicht absehbaren Weite jener Einheit heraus und verhallt.

201

KAPITEL

V

»Ein Leben das sich versammelte, da es verging« — Zum Raum der Erinnerung in Rilkes Pariser Zeit » ( . . . ) komm und gib ein Bleiben im Leben, ein Herz uns wieder. « (Hölderlin, Der Frieden)

V.l Zum Untersuchungszeitraum Wer in Bezug auf das Spätwerk Rilkes von einer Poetik der Erinnerung spricht, wird kaum Widerspruch provozieren. Begriffe aus dem Wortfeld von Erinnerung und Vergessen, Gedenken, Andenken tauchen immer wieder an zentralen Stellen auf, die die Entstehungsbedingungen des Gedichts reflektieren oder in den Zusammenhang einer solchen Genese gehören. Am bekanntesten sind wohl die Sätze aus dem 14. Abschnitt des Malte, wonach Verse »keine Gefühle« sind, sondern »Erfahrungen« bzw. — wie Malte weiter präzisiert — »Erinnerungen« an Vergangenes, die durch ein assimilierendes Vergessen hindurchgegangen sein müssen (RM, S. 21 f.). Unmittelbar daran anzuschließen scheint die Passage aus dem programmatischen Gedicht Es winkt zu Fühlung . . . , die einen Zusammenhang zwischen im alltäglichen Leben vergessenen, d. h. nie eigentlich beachteten »Tagen« und deren späterer poetischer Fruchtbarkeit herstellt: Es winkt zu Fühlung fast aus allen Dingen, aus jeder Wendung weht es her: Gedenk! Ein Tag, an dem wir fremd vorübergingen, entschließt im künftigen sich zum Geschenk. (...)

( R I I , S.92)

Daneben gibt es offensichtlich anders geartete Erinnerungszusammenhänge, wie sie sich ζ. B. herstellen zwischen den beiden »Erlebnissen« von Duino und Capri (R VI, S. 1036 ff.), oder prinzipielle mit beinahe ontologischem Anspruch verknüpfte Gedanken wie in der 8. Elegie (R I, S. 715). Angesichts dieser beliebigen Zusammenstellung berühmter Erinnerungsstellen, wie sie sich in Rilkes Werk seit seiner Pariser Zeit finden, überrascht es nicht, daß Rilke einer der ersten war, die in Deutschland auf Prousts Erinnerungsroman aufmerksam machten und eine Ubersetzung 202

vorschlugen.1 Es mag vorläufig dahingestellt bleiben, ob das »Nocheinmal-Leisten-der-Kindheit« im Malte der »mémoire involontaire« in Prousts Recherche in der Weise konfrontiert werden kann, wie Szondi das in seinem großartigen Aufsatz über Benjamins Berliner Kindheit skizziert hat.2 Evident ist jedenfalls, daß Rilke in den unruhigen Jahren vor dem Ersten Weltkrieg sowohl das Werk Prousts wie auch das Freuds (Lou Andreas-Salomé) aufgenommen hat im Ausgang von einer bereits sehr weit gediehenen eigenen Konzeption der Erinnerung und ihrer Funktion im dichterischen Prozeß. In diesen Jahren taucht auch der Begriff auf, um den sich diese Überlegungen und Entwürfe schließlich gruppieren: »Weltinnenraum«. In der Rilke-Forschung sind schon relativ bald nach der Veröffentlichung von wichtigen Texten aus Rilkes Nachlaß Studien erschienen, die bei der Darstellung des Zusammenhangs von Welt-innenraum und Er-innern über etymologisierende Beliebigkeit hinausgehen. Hinzuweisen ist hier vor allem auf Beda Allemanns Buch über Zeit und Figur beim späten Rilke, die — soweit ich sehe — immer noch wichtigste, detailreichste und im Überblick aufschlußreichste Arbeit zum Zeitproblem bei Rilke. Allemann kommt bereits in der Einleitung über die »temporale Verfassung des Weltinnenraums« auf die Bedeutung von »Erinnerung« oder »Gedenken« bei der Konstituierung dieses eigenartigen »Raums« zu sprechen;3 die weiteren Überlegungen führen zu wichtigen Einsichten in das Verhältnis von »Erinnerung« und »Verwandlung«. 4 So verbindlich aber Allemanns Ausführungen über den Bewegungscharakter des Weltinnenraums, die figurale Kondensation des Erlebten, die Intensivierung des »Vergehens« in der Intention auf den reinen »Vor-Gang« beim späten Rilke sind, so abstrakt bleiben die grundlegenden Kategorien wie »vollzählige Zeit« (Rilke) oder »Erkenntnis des Bezugscharakters des Daseins als solchen« (Allemann). 5 Diese Abstraktheit hat damit zu tun, daß Allemann prinzipiell nahe an Rilkes eigenen Texten bleibt und eine sympathische Abneigung erkennen läßt, das »Erlebnis« des »Unbeschreiblichen«, das Rilke deutlich seit den gleichnamigen Texten von 1913 beschäftigt, im Stil der religiösen oder allzu seinsfrommen existenzphilosophischen Interpreten breitzutreten. Alle1

2 3 4

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Brief an Kippenberg vom 3. Februar 1914, RBr, S. 440: Vgl. den Aufsatz von Peter Szondi, Hoffnung im Vergangenen. Uber Walter Benjamin. In: Szondi, Schriften II, S. 275—294. Szondi unternimmt hier den Versuch, die Erinnerungsbegriffe und -niederschriften bei Rilke, Proust und Benjamin voneinander abzugrenzen. Ebd., S. 2 7 8 f . Beda Allemann, Zeit und Figur beim späten Rilke. Pfullingen 1961, S. 18 ff. Vgl. v. a. ebd., S. 274. Andere Stellen, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind, finden sich auf den Seiten 89 ff./120 ff./173 ff./191 ff./213/232/286 f. Ebd., S. 89.

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mann verzichtet des weiteren darauf, eine — letztlich beliebige — Theorie des »Numinosen« heranzuziehen, die durch die Qualifizierung der evozierten Erfahrungen unter Rubriken wie >MystikIrrationales< oder >Ur-erlebnis< usw. nur Ähnlichkeiten aufzeigen würde, ohne irgendwelchen erklärenden Aufschluß zu geben. Auch die Bezugnahme auf Heideggers Konzeption einer ekstatischen Einheit der ursprünglichen Zeit (Zeitlichkeit) bleibt eher diskret. So wohltuend diese Zurückhaltung ist, sie führt oft nur zu einer Übernahme der Abstraktionen, in denen Rilke selbst seine Bemühungen dieser Periode zusammenfaßte. Allemann versucht zwar, ein Höchstmaß an Konkretion durch die Nachzeichnung und Versammlung der »Figuren« zu geben und sich auch damit an Rilkes eigene Intention zu halten. Was aber für Rilke »konkret« an diesen »Figuren« ist, erschließt sich in der Interpretation allein im Ausgriff auf die Dimension, die mit Begriffen wie »vollzählige Zeit«, »reiner Bezug« nur angedeutet ist. Ein Ausweg aus diesem Dilemma kann meines Erachtens darin bestehen, den Akzent stärker auf die Genese der Dunkelheit von Rilkes Spätwerk zu legen. Das würde bedeuten, daß die »Wendung«, die nach der Pariser Zeit in jener sogenannten »Krise des Anschauens« erfolgt, viel von ihrer Schärfe verliert, der Ubergang von »Werk des Gesichts« zu »Herz-Werk« (R II, S. 83) sich vielmehr als durchaus konsequente Ausführung der Intention, die schon den Neuen Gedichten zugrundelag, zeigen läßt. Auch das ist freilich keine neue Einsicht: Rilke selbst hat seine »Wendung« als zusammengehörige Schritte einer umfassenden Aufgabe beschrieben (»Werk des Gesichts ist getan, / tue nun Herz-Werk«); die Rilke-Forschung hat nicht nur die Differenz, sondern auch die offensichtliche Kontinuität von mittlerem und Spätwerk herausgearbeitet.6 Dennoch kommt man vor allem in Arbeiten über das Spätwerk meist kontrastiv (und nicht genetisch) auf die Pariser Zeit7 zurück. Deutlich ist sie auch für Allemann in erster Linie die Periode, in der noch die Geschlossenheit der Kunstgestalt dominiert im Gegensatz zum »offenen« Charakter der späteren Figur8, oder — um ein anderes wichtiges Motiv aufzunehmen — die Zeit, in der noch die Entgegenstellung von »fremdem« und »eigenem« Tod den Blick nicht freigegeben 6

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Man vergleiche die Abschnitte über die »Leere Mitte« bei Allemann (S. 100 ff. und passim) und im Buch von Judith Ryan, Umschlag und Verwandlung. München 1972, S. 32 ff. Ich verstehe im folgenden - im Unterschied zu Erich Heller (E. H., Rilke in Paris. In: Heller, Nirgends wird Welt sein als innen. Versuche über Rilke. Frankfurt/M. 1975, S. 127) — als »Pariser Zeit« die Jahre zwischen der Ubersiedlung nach Paris im September 1902 und dem Erscheinungsjahr des Malte 1910. Vgl. Allemann, Zeit und Figur, S. 49. Allemann weist darauf hin, daß »im Grunde« die »Geschlossenheit« des Dings »schon hier« »offen« zu verstehen sei; er macht aber nicht plausibel, warum die »im Grunde« gleiche Intention Rilke zu derart gegensätzlichen Realisationen treibt.

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hat für die »ewige Strömung«, die Leben und Tod vereint. 9 Die genannten Arbeiten sind weit über eine dümmliche Trennung von »objektiver« Dingdichtung in Paris und »subjektiver« späterer Lyrik hinausgekommen; sie scheinen mir aber nicht die Chance zu ergreifen, Rilkes Willen zur Konkretion und seine bewußt handwerklich formulierte Poetik aus der Zeit der Arbeit an den Neuen Gedichten für eine Interpretation des Spätwerks nutzbar zu machen. Man ist sich einig darüber, daß eine abstrahierende Reduktion der Ding-vielfalt aus den Neuen Gedichten in eine Art figuralen Grundbestand stattfindet. So führt eine Linie von den Neuen Gedichten zum Spätwerk über die Motive: Ballwurf, Fontäne, Spiegelung, Vogelflug, Sternbild und Sternenfall, Baum, Rose, Nachtwind, Fenster usw. Uber die unterschiedliche Stellung dieser Motive in den jeweiligen Werkstufen kann jedoch nur schwer Klarheit erzielt werden. Sicher liegt der Unterschied nicht darin, daß diese Dinge bzw. ihre Bewegungen im mittleren Werk »objektiv« beschrieben, im Spätwerk dagegen in irgendeiner Weise »verinnerlicht« werden. Solche Simplifizierungen, nach denen der Pariser Rilke gleichsam immer >AußenInnen< gewesen wäre, tragen nichts zum Verständnis von »Werk des Gesichts« und »Herz-Werk« bei. Vorab läßt sich wohl nur in aller Undeutlichkeit sagen, daß eine jeweils andere Gestaltung der unhintergehbaren Vermitteltheit von Innen und Außen vorliegt. 10 Die folgenden Überlegungen sind der Versuch, sich diesen Gestaltungsweisen über den Begriff der Erinnerung zu nähern. Ausgehend von den Arbeiten der Pariser Zeit, die sich um Konkretion, faßliche Gestaltung der Oberfläche bemühen, soll dabei verständlicher werden, warum Rilke in der Zeit der Arbeit an den Elegien11 einen »Weltinnenraum« als Raum des Gedenkens entwirft. Ich beginne deshalb mit der Arbeit, die Rilke ursprünglich nach Paris geführt hat — den Aufsätzen über Rodin —, und versuche darauf, die dort skizzierten Überlegungen zu Bewußtsein und Erinnerung des plastischen Künstlers weiterzuführen in Interpretationen von Gedichten der Pariser Zeit und einigen Stellen aus dem Malte. Die Überschrift für diesen Abschnitt ist den Quatrains Valaisans entnommen — sie soll darauf hinweisen, daß bereits Rilkes »sachliches Sagen« (RBr, S. 195) unter der Intention der Vergegenwärtigung eines Abwesenden steht und derart zum Schlußkapitel über den Weltinnenraum überleiten. Für diesen bewegten Raum als Raum der Erinnerung gilt die abweisende Geste von Hardenbergs Diktum in be-

Vgl. Allemann, Zeit und Figur, S. 201. »Wir kennen den Kontur/ des Fühlens nicht: nur, was ihn formt von außen«, heißt es in der 4. Elegie (R I, S. 697). " Die Jahre zwischen 1910 und 1922 können durchgängig als Jahre der Arbeit an den Elegien bezeichnet werden, auch wenn nichts Ausformuliertes entsteht. 9

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sonderer Weise: »Merkwürdige bisherige Vorstellungen vom Gedächtniß — als eine Bilderbude«.

V.2 Gedächtnis des Auges und Hand-Gedächtnis — Rilkes Rodinaufsätze I Die Monographie, mit der Rilke den großen französischen Bildhauer in Deutschland vorstellen sollte, beginnt mit dem Namen Rodin, um sogleich zum Werk überzugehen, dessen Dimensionen — wie der Beginn des Aufsatzes darlegt — sich von vornherein gegen jede Festlegung auf eine bestimmte Person sperren. Rilke gibt deshalb auch keine Biographie dieser Person; in durchaus hochmütigem Ton fingiert er auf den folgenden Seiten eine jener Kindheitsgeschichten, wie sie die Gattung >Künstlermonographie< scheinbar vorschreibt. Unmißverständlich wird klargemacht, daß der »Mann« (R V, S. 141) im Grunde gleichgültig ist. Er erscheint von vornherein reduziert auf das eigentlich Werk-hafte an ihm: die zwei Hände. Von ihnen ist die Rede, bevor der Aufsatz sich in der beschriebenen Weise darauf einläßt, etwas vom »Leben« dieses Mannes zu »erzählen« (ebd.). Und der weitere Fortgang stellt ebenso deutlich heraus, daß auch die gewöhnliche Frage (»Man fragt«, ebd.) »nach dem, der diese Hände beherrscht« (ebd.), sich über die wahren Verhältnisse der Subordination täuscht. Die Rodin-Monographie handelt nicht von der Kreativität eines französischen Privatmannes namens Auguste Rodin, sondern vom Bewußtsein zweier Hände. In diesen Kontext stellt Rilke auch das Arbeits-Ethos, das von Rodin nicht nur gelehrt, sondern auch vorgelebt wird: der Künstler selbst ist sich darüber im klaren, daß alles, was ihm zustößt an Leid und Entbehrung, Glück und Befriedigung, nur mediale Funktion hat für das Schaffen dieser Hände. Deshalb kann es auch keine »Zerstreuungen«, keine Erholung des Privatmannes von der Arbeit geben. Das Ich ist — um eine Äußerung Mallarmés aufzugreifen12 — auch hier nur der Ort, an dem das Universum seine Identität wiederfinden soll. Die Mystifikation der autonomen Hand findet sich ständig in Rilkes Werk — in scheinbar belanglosen brieflichen Äußerungen (»Ich habe heute (.. .) keine Schreibhand und schreibe erbärmlich«, an Clara, 2. Sept. 1902, RBr, S. 37) wie in der deutlichen Prophezeiung des jungen Dichters Malte Laurids Brigge: »Aber es wird ein Tag kommen, da meine Hand weit von 12

Brief vom Juli 1866 an Cazalis. Corr. I, S . 2 2 0 f .

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mir sein wird, und wenn ich sie schreiben heißen werde, wird sie Worte schreiben, die ich nicht meine« (RM, S. 52). So schwer vorstellbar der positive Zustand ist, auf den diese Ent-Ichung und Anheimgabe an ein höheres Diktat hinauswill, so verständlich ist gerade bei Rilke die negative Wendung, von der sie ausgeht. Es ist die Abkehr von den »Meinungen« des »Ich« (bei Malte die furchterregende Auflösung der »Bedeutungen, die [ihm] lieb geworden sind«, ebd.) aus der Einsicht heraus, daß die scheinbar unmittelbaren und eigentümlichen Ansichten, Gefühle und Äußerungen des Ich, soweit sie seiner Kontrolle unterstehen, in Wahrheit das Allerallgemeinste sind: Resultate eines »Eingewöhnt«-Seins »in dieser Welt« (RM, S. 51), das unmerklich dazu zwingt, jede einzelne Erfahrung abzugleichen auf »etwas schon einmal Gesehene(s)« (ebd.) und derart durch Subsumtion unter vertraute »Bedeutungen« nur »Bekanntes« zu wiederholen. Die Grundintention Rilkes in seiner Pariser Zeit ist, hinauszukommen über die »erstarrte Mondlandschaft des Gefühls, in die man willenlos« — mit dem Erwerb einer Sprache — »hineinversetzt wurde«. Der Ausdruck stammt aus Musils Mann ohne Eigenschaften und findet sich im Zusammenhang einer Reflexion, die ganz analog zu Maltes Überlegungen (RM, S. 24—26) auf eine Konversion des üblichen Begriffs von »Wirklichkeit« hinausläuft: ( . . . ) ein beunruhigendes Gefühl: alles, was ich zu erreichen meine, erreicht mich; eine nagende Vermutung, daß in dieser Welt die unwahren, achtlosen und persönlich unwichtigen Äußerungen kräftiger widerhallen werden als die eigensten und eigentlichen. Diese Schönheit? — hat man gedacht — ganz gut, aber ist es die meine? Ist denn die Wahrheit, die ich kennen lerne, meine Wahrheit? Die Ziele, die Stimmen, die Wirklichkeit, all dieses Verführerische, das lockt und leitet, dem man folgt und worein man sich stürzt: — ist es denn die wirkliche Wirklichkeit, oder zeigt sich von der noch nicht mehr als ein Hauch, der ungreifbar auf der dargebotenen Wirklichkeit ruht?! Es sind die fertigen Einteilungen und F o r m e n des Lebens, was sich dem Mißtrauen so spürbar macht, das Seinesgleichen, dieses von G e schlechtern schon Vorgebildete, die fertige Sprache nicht nur der Zunge, sondern auch der Empfindungen und Gefühle. 1 3

Gefährlich ist die »fertige Sprache ( . . . ) der Gefühle« vor allem deshalb, weil die Leichtigkeit, mit der sie für die Artikulation des Inneren zur Verfügung steht, mit persönlicher Unmittelbarkeit und Authentizität verwechselt wird. Rilke ist sich aber dessen bewußt, daß, wo man glaubt, >spontan< Inneres, »Eigenstes und Eigentliches« zu fühlen, letztlich regelgeleitete Verbindungen sich herstellen, deren Herrschaft man sich so wenig bewußt macht wie die der Grammatik bei der Kundgabe der »tiefinneren Geständnisse«. Wie die Regeln einer natürlichen Sprache und zugehörig zu diesem Regelwerk hat der reflektorische Charakter gelernt, Gefühle in bestimmten Situationen anzuwenden; all das ist Teil der Pragmatik einer Sprache, in die 13

R o b e r t Musil, D e r Mann ohne Eigenschaften. W e r k e I, S. 129.

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bis zur beinahe distanzlosen Verinnerung »eingewöhnt« wird. Rilke hat diese Enthüllung des scheinbar Persönlichen als des schlecht-Allgemeinen an der schon zitierten Stelle im Malte mit der Aufforderung verknüpft, »tiefer« hinabzusteigen (vgl. HvH-Kap., S. 181): wo das im gewöhnlichen Verstand »Persönliche« zum Austauschbaren wird, muß wahre Subjektivität im Impersonalen gesucht werden. Er selbst war wie vielleicht kaum ein anderer Autor darauf aus, von dieser eingespielten Innenwelt wegzukommen. Denn die vorgebahnten Gefühlsabläufe führen beim Schreiben unweigerlich zum Klischee. So sind die peinlichsten Bilder von Rilkes frühen Gedichten die zahllosen Dämmerungen, in denen ein schweifender »Zauber« von den Portalen verwunschener Häuser oder ein leises Grauen von raunenden Baumwipfeln ausgeht. Rilke hat mit den Fortschritten seiner Technik gemerkt, daß die um 1900 gültige Grammatik der Gefühle bevorzugt die Anwendung der verschwommenen, unklaren Gefühlslagen verlangt, die trotz der Dominanz des Ungreifbaren, Nicht-Festlegbaren um keinen Deut eigener oder innerlicher sind, das Etikett der Innerlichkeit vielmehr gerade von dieser Grammatik mitbekommen haben. Der Wunsch nach Genauigkeit und Präzision wie auch die manchmal fast aufdringliche Umkehrung gewöhnlicher An-sichten in den Neuen Gedichten ist von dieser Absetzung gegen das eigene Frühwerk her besser zu verstehen.14 In diesem Sinn bemüht sich Rilke in seiner Anfangszeit in Paris um ein Verhältnis von Innen und Außen, das über die frühere Assoziation geeigneter (meist »romantischer«) Gegenstände mit naheliegenden diffusen Stimmungslagen hinauskommt. Das Subjektive wird zum »Namenlosen«, und gerade deshalb werden die Gedichte gegenständlich. Während in der epigonalen Lyrik der Jahrhundertwende die verschwommenen Gefühle dauernd als »unfaßbar« bezeichnet und zugleich in denselben Gedichten unter den immergleichen Namen vorgeführt werden, vermeidet Rilke von nun an den benennenden Zugriff auf Gefühl. In dem Maß, in dem nicht mehr >TrauerSehnsuchtSchmerz< oder >leises Entzücken< artikuliert werden, das Innenleben also bewußt von den Zurichtungen einer wahrnehmungsanalogen Innenschau freigehalten wird, erhalten die objektiven Korrelate schärfere Konturen. Wie dieses inverse Verhältnis von größerer »Tiefe« und klarer gegliederter Oberfläche in 14

In diesem Überblick ist die Stufe des Stundenbuchs übersprungen. Man kann das Stundenbuch lesen als einen anders gerichteten Versuch, den Klischees der geläufigen »Stimmungen« zu entkommen. Das Unsagbare wird hier nicht verschwiegen, um auf dem Umweg über ein Ding momentane Faßlichkeit zu gewinnen, sondern es soll durch einen Wirbel von Bildern und Vergleichen als das schlechthin Unfestlegbare in einer Art von Klangrausch evoziert werden. De Man spricht zu Recht von einem »absolute phonocentrism« im Stundenbuch. Paul de Man, Allegories of Reading. Yale University Press, New Haven/London 1973, S. 31.

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Rilkes Gedichten zu bestimmen ist, kann mit diesen Bemerkungen nur angedeutet sein. Vor einer genaueren Untersuchung der Lyrik ist es ratsam, auf Rilkes Ausführungen über Rodin, den Künstler der plastischen »Oberfläche«, zurückzukommen. II Der Begriff des »Namenlosen« ist zentral in den Aufsätzen über Rodin. Im Vortrag von 1907 erscheint er zweimal zusammen mit dem des »Absichtslosen« (R V, S. 221 u. 225). Damit ist der oben skizzierte Gedanke angesprochen: »absichtslose Arbeit« (R V, S. 225), wie Rodin sie praktiziert, heißt Verzicht auf vorschnelle Bedeutungsgebung. Die Arbeit wird nicht unter das Diktat eines bestimmten Ausdruckswillens gestellt; kein Gedanke an etwas, was »dargestellt«, damit »gemeint« sein soll (R V, S. 221), darf in die Handarbeit einfließen. Es ist dieser zunächst negative Gesichtspunkt, der zur Betonung des Technischen, des Handwerks führt. Kunst bedeutet Enthaltsamkeit und kühlen Verzicht auf die Ausdrucksmöglichkeiten, zu denen das unmittelbare Gefühl drängt. Sie kann in diesem Sinn gelernt werden: erforderlich ist eine Selbstdisziplinierung, die allenfalls unterstützt wird von einem gesunden Mißtrauen gegen die sofort heranschwappenden Aufwallungen des Herzens. Die Askese, die das Kunst-Handwerk auferlegt, geht dabei über den eigentlichen Arbeitsprozeß hinaus. Rilkes briefliche Äußerungen über die Liebe, die Einsamkeit, die Bereitschaft, das »Schwere« auf sich zu nehmen, machen deutlich, daß ihm eine Umgestaltung des ganzen Lebens erforderlich scheint, um den Fallen der »Konvention« zu entgehen (vgl. den Brief an Kappus vom 14. Mai 1904, RBr, S. 75ff.). Immer geht es um den einen Gedanken: die »leichten Auflösungen« müssen vermieden werden (RBr, S. 93), die naheliegenden, ganz >natürlich< scheinenden »Auswege« dürfen nicht begangen werden (ebd.). Was »Liebe« ist, kann nie eigentlich ein Einzelner für sich in »Geduld« und »Sammlung« erfahren (RBr, S. 74), weil sofort die fertigen Formen des Partnergefühls und der Ehe zuschnappen und die bedrohlichen »Weiten und Möglichkeiten« solchen Gefühls auf das Maß »gesellschaftliche(r) Auffassung« beschränkt halten (RBr, S. 77). Die funktionalen Schematismen des Alltagslebens stehen bereit und leiten gleichsam das subjektive Geschehen in gesellschaftlich zweckmäßige Handlungszusammenhänge ab: Sexualität wird zur »Zerstreuung«, zum »Reiz«, den die Menschen an die »müden Stellen ihres Lebens setzen« (RBr, S. 53), um hernach regeneriert im äußeren Leben wieder ihren Part übernehmen zu können. Die »einfach hingebend(e)« Liebe der gewöhnlichen Art (RBr, S. 78) ist deshalb für Rilke genauso ein disziplinloses Eingehen auf das nächstliegende Vertraute wie die spontanen Gefühlsergüsse seiner frühen Lyrik. Die Erkenntnis des 209

Unmittelbaren als des in Wahrheit durch gesellschaftliche Einschleifungsprozesse Vermittelten führt zum Ethos der langen Arbeit, der Geduld, des Warten-Könnens. Damit erhält der künstlerische Prozeß jene zeitliche Dimension, in der der Begriff der Erinnerung seinen Platz hat. Am Beispiel Rodins erläutert Rilke das veränderte technische Verfahren. Auch hier setzt er an den Anfang den negativen Impuls. Rodin macht sich — Rilke zufolge — seine Arbeit absichtlich schwer. Der Grund ist die Abneigung gegen die Plastik seiner Zeit, »das leichte, billige und gemächliche Metier, das mit der mehr oder weniger geschickten Wiederholung von einigen sanktionierten Gebärden auskam« (R V, S. 155; Hervorh. M. K.). Im Gegenzug arbeitet Rodin nicht von vornherein auf eine vereinheitlichende Gebärde, eine »Pose«, eine bestimmte sinnträchtige Komposition hin (R V, S. 150). Gesicht, Arme und Hände als die gängigen und offenkundigen Bedeutungsvermittler werden zunächst gemieden, um nicht in die vorgegebene Sprache von Mimik und Gestik zurückzufallen. Stattdessen begibt er sich bewußt in die Zerstreuung (im buchstäblichen Sinn) der Arbeit an kleinsten Modell- bzw. Materialflächen. Man könnte bildlich von einer Verschiebung der Aufmerksamkeit sprechen. Die tradierte Pose entspricht keinem wirklichen Ausdrucksbedürfnis mehr. Sie drängt sich aufgrund ihrer fraglos akzeptierten Uberzeugungskraft auf und imputiert Gefühl, wo keines ist bzw. keines, das so ausgedrückt werden könnte. Die Chance, der Konvention zu entgehen, liegt in einer Zeit, die allgemein die großen Worte und die Übertreibung liebt, im Rückzug auf das Kleine, Unscheinbare — gleichsam durch die Maschen der großen bereitstehenden Formen hindurch. Erste Pflicht des Künstlers ist deshalb ein vorsätzliches Dezentrieren, eine fast angestrengte Selbstdiversifikation. Das absichtslose Studium von Einzelheiten ist keineswegs mit gewöhnlicher Beobachtung von >Objekten< gleichzusetzen. Rilke bemüht sich um ein Aufbrechen des für die Orientierung und Sicherheit des alltäglichen Lebensvollzugs unerläßlichen >Mechanismusschöneglückliche< Momente der Vergangenheit die wichtigsten Erfahrungen durch kitschige konventionelle Formung unbrauchbar machen könnte (vgl. auch hierzu Falken-Beize und den Brief über die »Arbeitserinnerungen«). Es darf sozusagen kein privates behagliches Ausruhen bei einer sedimentierten Vergangenheit geben, um die Vergangenheitsmomente beweglich im Hinblick auf die Synthese im Kunstwerk zu halten. Insofern ist hier tatsächlich der Dichter ein Orpheus, der sich solange nicht zu Eurydike zurückwenden darf, bis die Götter sie unabhängig von seinen kurzfristigen Wünschen vor ihn hinstellen. Vgl. G. Wunberg, Wiedererkennen. Tübingen 1983, S. 112 ff. Titel eines Aufsatzes von Joachim Storck, Hofmannsthal und Rilke. Eine österreichische Antinomie. In: Rilke heute. Zweiter Band. Beziehungen und Wirkungen. Frankfurt/M. 1976, S. 115-167.

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disparater Bewegungen zum Ausdruck eines »Organismus« (R V, S. 165) findet nach Rilke auch in Rodins Gruppen statt. Der vereinigende Impuls ist wiederum nichts Darstellbares. Manifest wird er in einer momentanen Verähnlichung des Allerverschiedensten. Im Augenblick der ästhetischen Erfahrung finden sich Dinge, die den unterschiedlichsten Bereichen angehören, ineinander wieder: anorganische, organische Natur und menschliche Subjektivität bilden Ausdrücke füreinander: Denn alles Glück, von dem je Herzen gezittert haben; alle Größe, an die zu denken uns fast zerstört; jeder von den weiten umwandelnden Gedanken — : es gab einen Augenblick, da sie nichts waren als das Schürzen von Lippen, das Hochziehn von Augenbrauen, schattige Stellen auf Stirnen; und dieser Zug um den Mund, diese Linie über den Lidern, diese Dunkelheit auf einem Gesicht, — vielleicht waren sie genau so schon vorher da: als Zeichnung auf einem Tier, als Furche in einem Felsen, als Vertiefung auf einer Frucht . . . Es giebt nur eine einzige, tausendfältig bewegte und abgewandelte Oberfläche. In diesem Gedanken konnte man einen Moment die ganze Welt denken ( . . . ) . (R V, S. 213)

Dieses elementare Wiedererkennen seiner selbst im anderen — als physiognomisches Verstehen des Ausdrucks der belebten und unbelebten Natur — ist für Rilke der Gehalt künstlerischer Erfahrung. Auch hier geht es um ein Wiederfinden des niemals Besessenen: solches »Glück« und solche »Gedanken« sind nicht als solche bekannt und werden dann in der Mimik der Menschen und der »Chiffernschrift« (NovSch, S. 95), die man auf Tieren, Früchten und Steinbildungen findet, reidentifiziert. Vielmehr findet das Subjekt in diesen »wunderlichen Figuren« (ebd.) etwas, was es war, ohne davon gewußt zu haben, wessen es aber bewußt gewesen sein muß, weil es bei der Begegnung wiedererkennt. An diesem Punkt zeichnet sich auch bei Rilke die Verbindung einer personalen und einer >millenarischen< Erinnerung ab. Denn dieses déjà-vu ähnliche Gefühl: daß ich einmal selbst eine solche Bewegung, eine solche Zeichnung war — steht an der Schwelle zweier Bedeutungen, die aufeinander verweisen: — ich war dieses undefinierbare Gefühlsmoment, das ich jetzt vor mir finde — dort in dieser Astgabel, in diesem Busch, der vom Wind nach einer Seite gebeugt wird . . . — ich war diese Astgabel, ich war dieser Busch . . . Die erste Korrespondenz mag plausibel erscheinen, die zweite vorderhand irrational. Sie folgt aber aus dem Gedanken, daß solche Ubereinstimmung nicht beliebig hergestellt werden kann, sondern sich ergibt im plötzlichen Innewerden eines Lebens, das die verschiedenen Lineamente der Gefühlskurve und der Furche im Fels als seinen Ausdruck simultan erzeugt. Von diesem Leben, an das man sich erinnert in dem Augenblick, in dem ein 220

Impuls das Verschiedenste zusammenstellt, handelt Rilke, wenn er von der »Intention der Natur« spricht. VIII »Alles geht in uns viel eher vor, als es geschieht«, schreibt Novalis im Allgemeinen Brouillon (Nov. IX, S. 355). Auf die Dimension dieses VorGangs zielt Rilkes Interesse auch in der Rodin-Monographie. Was deutlich erfaßt in der Welt der Wahrnehmung geschieht und als solches Geschehen festgehalten und benannt wird, ist nur eine beschränkte Wiederholung eines ersten umfassenden Geschehens. Aus der Überlegung heraus, daß benannte Objekte durch eine nach konventionellen Kriterien vorgenommene Aussonderung, Zusammenstellung und Konfrontation von Bewußtseinsanteilen entstehen, die ursprünglich in der einen Einbildungskraft untrennbar verbunden sind, erklärt sich Rilkes negative Handwerks-Poetik. »Namenlos«, »absichtslos«, »anonym«, »ohne Bedeutung«, »ohne Wahl« — alle diese Begriffe wollen auf ein »Schauen« hinaus, in dem zur Geltung kommt, was der durch die Festlegungen der Sprache gelenkten Aufmerksamkeit in gewöhnlicher Wahrnehmung entgeht. Die Aufgabe, sich dieser »vereinbarten ( . . . ) Welt« (RM, S. 96) zu entziehen, ist paradox: ein Sensorium zu entwickeln für das, was beim >Bemerken< sofort verschwunden ist. Rilke nennt es nun immer häufiger das »Unsichtbare«. Man nimmt den Begriff nicht ernst, wenn man es als jenseitigen unbekannten Bereich deutet. Rilke versteht darunter eine Dimension, in der zwar nichts »gesehen«, deren Präsenz aber in einer schwer beschreibbaren Weise verspürt wird. Die ständige Anwesenheit dieses in jeder konkreten Wahrnehmung Abwesenden hat Rilke in zeitlicher wie räumlicher Metaphorik beschrieben. Temporal als Vor-Gang oder »Vorgesang« des »namenlosen« Geschehens vor jeder benannten Erkenntnis; räumlich áls leerer, ungestalteter, aber bewegter Hintergrund um jedes einzelne Ding.

V. 3

Présence absente

V.3.1

Der Raum der Negationen — Die Neuen

Gedichte

I Uber die Priorität der Zeit vor dem Raum läßt Rilke auch in Bezug auf den Raumkünstler Rodin keinen Zweifel aufkommen. Als Zusammenfassung langer Erfahrung bildet die Rodinsche Plastik einen Raum aus Zeit um sich. 221

Rilke hat den Moment, in dem plötzlich die ganze Zeit sich zu der einen Gestalt versammelt, in der Rede von 1907 so beschrieben, daß von den visuellen Raumqualitäten der bildenden Kunst immer schon auf die akustischen Klangqualitäten der Dichtung verwiesen ist. Der leere Raum um die Plastik ist identisch mit der gründenden »Stille«, aus der die bestimmten Wörter und Referenzen beim Sprechen hervorgehen und die als Pause zwischen den Artikulationen vernehmbar bleibt: Dinge Indem ich das ausspreche (hören Sie?) entsteht eine Stille; die Stille, die um die Dinge ist. Alle Bewegung legt sich, wird Kontur, und aus vergangener und künftiger Zeit schließt sich ein Dauerndes: der Raum, die große Beruhigung der zu nichts gedrängten Dinge. (R V, S. 209; vgl. ebd., S'. 258)

Selten hat Rilke deutlicher gemacht, was ihn an den »Dingen« interessiert: die »Stille« vernehmbar zu machen, die um die einzelnen Wörter ist, oder — um in seiner Metaphorik zu bleiben — den Raum erfahrbar zu machen, der um die Dinge spielt. Die Intention auf den unsichtbaren Grund, aus dem die Einzelerscheinungen auftauchen, bedeutet gerade nicht, daß die gestalthaften »Dinge« gleichgültig sind. Selbst thematisiert, verflüchtigt sich die »Stille« tatsächlich zum bloßen Nichts; erahnbar wird sie nur an den Dingen, soweit es gelingt, sie nicht als planes Faktum zu erfassen, sondern — um ein anderes Lieblingsbild Rilkes einzuführen — sie gleichsam im Moment ihrer Ankunft aus diesem Grund, nachzitternd noch von der Bewegung, die sie konstituiert hat, hinzustellen. Im Ubergang zu Rilkes eigenen Dinggedichten zeigt die Passage aus der Rodin-Rede aber auch eine Hauptschwierigkeit der Interpretation. Scheinbar bemüht sich der vortragende Dichter, mit den Mitteln des Vortrags faßlich zu machen (»hören Sie?«), was beim Sehen der Skulpturen, von denen er keine zeigen kann (vgl. S. 213), geschieht. Tatsächlich aber bewegt er sich auf seinem eigenen Gebiet, für das er bekanntlich den Begriff des Dings unbefangen in Anspruch genommen hat. Sein Verfahren im Vortrag ist, um ein Wort — das Wort »Dinge« — durch Einhalten und bedeutungsvolles Sprechen eine Stille entstehen zu lassen; im Druck entspricht dem die Sperrung und der Raum um das eingerückte Wort. Im nächsten Satz ist schon die Rede von der »Stille, die um die Dinge« — und eben nicht um die Wörter — ist. »Stille um die Dinge« rangiert als zweideutiger Begriff auf der gleichen Ebene wie »sachliches Sagen«, verstanden als >Sagen der SacheSubjekt< ist allerdings leicht vom Sockel zu stürzen, weil es eine Schimäre von Literaturwissenschaftlern ist, die daran problemlos die Überlegenheit dissoziativer Modelle demonstrieren wollen. Mit einem reflektierten Subjekt-Begriff hat das aber wenig zu tun.

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niemanden überraschen; interessant sind freilich die Verfahrensweisen, die im jeweiligen Medium Verwendung finden. Im folgenden können dafür nur kurz zwei Beispiele aus der Zeit der Jahrhundertwende gegeben werden. Für die Malerei, seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Konkurrenz zur Andenkentechnik der Photographie, hat Uwe Schneede exemplarisch eine Gestaltungsmöglichkeit der Bewegung des Eingedenkens beschrieben. »Arbeit an der Erinnerung« heißt seine kleine Studie über Edvard Münchs berühmtes Ölgemälde Das kranke Kind, ein kanonisch gewordenes Bild der frühen Moderne, das nach Münchs eigenem Zeugnis bei seiner ersten Präsentation (1886) nur Ärgernis erregte: »Als ich am Eröffnungstag den Saal betrat, in dem es hing, standen die Menschen dicht gedrängt vor dem Bild — man hörte Geschrei und Gelächter.«3 Grund für die Aufregung waren »merkwürdige Streifen« und Kratzspuren, die die Oberfläche des Bildes zerfurchen und zusammen mit den undeutlich, ja klumpig gemalten Gliedmaßen der dargestellten Personen4 die Besucher offensichtlich technisches Ungeschick beim Maler unterstellen ließen. Munch hat in einem späteren Brief den autobiographischen Hintergrund des Bildes — den frühen Tod seiner Schwester, seine eigene Todesnähe in der Kindheit — angesprochen, zugleich aber unterstrichen, daß es »nicht das Motiv« gewesen sei, das »mein krankes Kind ausmachte. Nein, im kranken Kind ( . . . ) konnte von keinem anderen Einfluß die Rede sein, als von dem der Erinnerung an mein Elternhaus.« 5 Im selben Brief spricht er davon, wie sehr er malend sein Thema »durchlebt« habe. Die Rede vom »Einfluß ( . . . ) der Erinnerung« ist ernstzunehmen: das Bild, zu dem der 22jährige Munch durch die Figur eines gramgebeugten Mädchens in einem Sessel angeregt wurde,6 >stellt< nicht in erster Linie erinnerte Vergangenheit >darkunststückBeschädigungenautobiographisch< firmiert auch — schon in Lexikonartikeln — die symphonische Musik des etwa gleichaltrigen Gustav Mahler. »An der Utopie hält Mahlers Musik fest in den Erinnerungsspuren der Kindheit, die scheinen, als ob allein um ihretwillen zu leben sich lohnte« — so beginnt der Schlußabschnitt von Adornos Mahler-Buch von 1960, das — im Anschluß an die zitierte Stelle — einen »schwanken Bogen« zwischen dem Komponisten der Kindertotenlieder und dem Romancier der »jeunes filles en fleurs« schlägt. 9 Adorno bezieht sich zunächst auf das offenkundigste Erinnerungsmoment in Mahlers Musik: die Übernahme böhmischer Militär- und Populärweisen, wie sie Mahler aus seiner Kindheit in Kalischt und Iglau vertraut waren, in die große Symphonik. Entscheidend ist auch hier nicht das bloße Motiv, sondern die Art seiner Präsentation. Adorno findet den Erfahrungsgehalt unwillkürlicher Erinnerung 10 im unvermittelten Einbruch solcher »Erinnerungsfetzen« 11 ins musikalische Geschehen: den Schein kontinuierlicher Entwicklung, in der planvoll und kalkuliert das Frühere wiederaufgenommen wird, zerstört Mahler durch abrupte Unterbrechungen, in die die Reminiszenzen an die Volksmusik der Kindheitsregion übergangslos einströmen. Generell macht sich Adorno zufolge darin »eine Art triebhaft ungebundener Logik« 1 2 geltend, ersteht eine originäre Klangfreude wieder, wie sie sich im ziellosen Herumtappen des Kindes auf dem Klavier 13 oder in seinem selbstvergessenen Hinterherlaufen hinter dem Vgl. Schneede, S. 39. Daß ein solches Erinnern nicht Eintauchen ins Längstvergangene im Sinn einer Art von Regression ist, sondern dessen Reevokation in der O f fenheit eines — mit Hölderlin zu sprechen — »unendlichen Lebensgefühls«, bezeugt Münchs dauernde Neuinterpretation des Bildes. »Ungefähr alle zehn Jahre hat Munch Das kranke Kind wiederholt.« (Schneede, S. 52) Schneede bringt zu Recht die ständige Neufiguration in der Erinnerungsarbeit mit Kierkegaards Kategorie der »Wiederholung« als Erinnerung nach vorwärts zusammen (ebd.). 9 T h . W. Adorno, Mahler. Eine musikalische Physiognomik. Frankfurt/M. 1960, S. 187 f. 10 »Unwillkürlich erinnert, klingen die Märsche, die einst Zwang ausübten, bei Mahler wie Träume von ungeschmälerter Freiheit.« E b d . , S. 80. " E b d . , S. 58. 12 E b d . , S. 53. 13 E b d . , S. 188. 8

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Schellenklang einer Militärkapelle äußert. 14 Adorno hält so das »Kindische« oder »Infantile«, 15 das die akademische Kritik Mahler vorgeworfen hatte, diesem zugute. Die »nicht domestizierte« vergangene Welt, 16 deren Präsenz an diesen Bruchstellen plötzlich spürbar wird, steht für den Musikphilosophen auch hinter Mahlers auffälliger Manier, sich im Tongeschlecht nicht festzulegen. Das beständige Alternieren oder Ineinander-Übergehen von Dur und Moll wird von Adorno (allerdings in der Einschränkung des hypothetischen Komparativsatzes) auf die kindheitliche Gefühlswelt vor aller deutlichen Entgegensetzung zurückgeführt: »Das Tongeschlecht hält sich offen, als stammte es aus einer Vorwelt, in der die antithetischen Prinzipien noch nicht als logische Gegensätze fixiert sind.« 1 7 Entschiedener noch interpretiert er in der Fortsetzung dieses Passus' Mahlers Weigerung, die Neutralisierung des Moll gemäß der überkommenen »Syntax der abendländischen Musiksprache« 18 nachzuvollziehen, als Sträuben gegen den Zwang, identisch zu werden. »Moll ist das Besondere, Dur das Allgemeine« 19 — das Tongeschlecht, das gemeinhin mit Leid und Trauer assoziiert wird, bewahrt im formalen Mittel der »Desintegration« jenen Uberschuß der Kindheitswelt, der nicht mitgenommen werden kann in die Reflexionssphäre der Erwachsenen. 20 Man kann darüber streiten, ob hier nicht Lieblingstheoreme eines Philosophen auf Kunstwerke als letztlich beliebige Demonstrationsobjekte appliziert werden. Evidenz kann jedenfalls der Hinweis auf das unvermittelte Einbrechen der musikalischen Kindheitserinnerung bei Mahler beanspruchen. Ähnlich wie die Zurichtungen der Bildoberfläche bei Munch hat dieser Bruch eine eigene Signifikanz: nicht das bloße Auftauchen von Kindheitsresten ist Thema, sondern die Kontingenz und unassimilierte Fremdheit ihres Erscheinens. Damit ist ein zweiter wesentlicher Gedanke festgehalten, der vorsichtig verallgemeinert werden kann: es geht nicht nur um eine Verlagerung von den erinnerten Inhalten auf die Erinnerungsbewegung selbst: das Hineingelangen in diese Bewegung ist abhängig vom plötzlichen Auffinden bestimmter Punkte des Ubergangs. Benjamin hat in der 14 15 16 17 18 19 20

Ebd., S. 80. Ebd., S. 31. E b d . , S. 29. E b d . , S. 36. Ebd., S. 39. Ebd., S. 40. Hier ließe sich tatsächlich an Tiecks Blonden Eckbert anknüpfen, in dem das Lied des Vogels nach dem Verlassen der Waldeinsamkeit »plötzlich« — nach längerer Absenz — wieder aufklingt, jetzt aber im Tonfall der Trauer (»Waldeinsamkeit/ Wie liegst du weit! O dich gereut/ Einst mit der Zeit«) und die Ordnung der städtischen Welt, in der Bertha sich niedergelassen hat, störend: »er sang es lauter und schallender, als er es sonst gewohnt gewesen war.« Tieck, Märchen, S. 17.

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Berliner Chronik die Bedeutung solcher »Schwellen«-Punkte,21 die ins Erinnern führen, hervorgehoben. Im Anschluß an den Satz, der in Scholems Ausgabe zum Klappentext erhoben wurde (»Wer sich der eigenen verschütteten Vergangenheit zu nähern trachtet, muß sich verhalten wie ein Mann, der gräbt«), heißt es: Und gewiß bedarf es, Grabungen mit Erfolg zu unternehmen, eines Plans. Doch ebenso ist unerläßlich der behutsame, tastende Spatenstich ins dunkle Erdreich und der betrügt sich selber um das Beste, der nur das Inventar der Funde und nicht auch dies dunkle Glück von Ort und Stelle des Findens selbst in seiner Niederschrift bewahrt. 22

Bildlich ist hier das ganze Inventar der modernen Mnemotechnik unwillkürlicher Erinnerung versammelt. Es ist ein Instrumentarium zur Verfügbarmachung des nicht Beherrschbaren. Im Bild: das immer geübtere tastende Stochern auf der Suche nach dem in keiner Weise vorhersehbaren Augenblick, in dem das Erdreich nachgibt. Aber auch die Übung behält hier einen unsicheren Status. Die Erfahrung des Archäologen kann den Blick schärfen für Konstellationen, die auf Einstichstellen weisen; keiner kann jedoch wissen, ob Verschiebungen in den Sedimenten nicht zum Neuanfang und weiteren geduldigen (und womöglich vergeblichen) Suchen nach der »miraculeuse contingence« (Proust) des Durchbruchs zwingen. Freuds Psychoanalyse hat sich von Anfang an selbst diesem Zusammenhang zugeordnet. »Der Hysterische leide ( . . . ) an Reminiszenzen«, ist der Befund, den Freud und Breuer ihren Studien über Hysterie in emphatischer Sperrung voranstellen.23 Die Mnemotechnik, die diese Reminiszenzen wieder zu durchleben erlaubt, ist in diesen frühen Jahren noch die Hypnose, 24 später die freie Assoziation. Schwellenpunkte des Ubergangs werden dann — nur scheinbar paradox — die Momente des Widerstands im psychoanalytischen Gespräch. An ihnen spürt der Analytiker, gleichsam an 21

22

23 24

Ich gebrauche diesen Ausdruck in Anlehnung an das kleine Buch von W. Menninghaus, in dem das zentrale Bild der »Schwelle« bei Benjamin herausgearbeitet wird. W. Menninghaus, Schwellenkunde. Walter Benjamins Passagen. Frankfurt/M. 1987. W. Benjamin, Berliner Chronik. Mit einem Nachwort herausgegeben von G. Scholem. Frankfurt/M. 1970, S. 53. S. Freud/J. Breuer, Studien über Hysterie (1892). Frankfurt/M. 1970, S. 10. »Wir müssen ( . . . ) erwähnen, daß die Kranken nicht etwa über diese Erinnerungen wie über andere ihres Lebens verfügen. Im Gegenteil, diese Erlebnisse fehlen dem Gedächtnisse der Kranken in ihrem gewöhnlichen psychischen Zustande völlig oder sind nur höchst summarisch darin vorhanden. Erst wenn man die Kranken in der Hypnose befragt, stellen sich diese Erinnerungen mit der unverminderten Lebhaftigkeit frischer Geschehnisse ein.« (Ebd., S. 12) Es ist durchaus auch nichts Selbstverständliches, daß die Hypnose als Medium der Erinnerung und nicht der Zukunftsschau aufgefaßt wird. 281

wiesen. Rousseau entdeckt, daß die — um Musils Formulierung aufzugreifen — in Begriffe umgearbeitete Vergangenheit gleichsam einschrumpft und nicht mehr wiedererkennen läßt, was all dies für das Subjekt gewesen ist. Von daher sein Interesse an den »signes mémoratifs« : was von der Aufmerksamkeit sowohl beim ersten Mal wie auch später beim konzentrierten Erinnern übersehen worden ist, kann zum Behältnis des wahren vergangenen Lebens werden. Es gibt bei Rousseau aber ein prinzipielles Vertrauen in die Untrüglichkeit des Selbstgefühls — die Grenze verläuft bei ihm zwischen unmittelbarer Selbsttransparenz und vermittelter Selbstdarstellung in der Gesellschaft: ersteres ist ein Bereich reinster Lucidität, letzteres die Welt der Finsternis, in der, Jean-Jacques verborgen, die monströsen Zerrbilder von Rousseau angefertigt werden. Die Augenblicke, in denen er zufällig auf ganz versunkene Abschnitte seiner Kindheit stößt, werden nicht strukturbildend in den Confessions, weil grundsätzlich kein Zweifel an dieser Selbsterschlossenheit besteht: in Frage steht nur immer, ob eine Vermittlung gelingt, die sie für andere erfahrbar werden läßt. Das Insistieren auf der mémoire involontaire als einzigem Zugang zur bedeutsamen Vergangenheit verlegt diese Grenze mitten ins Subjekt. Hofmannsthals Satz, daß wir das »Wichtige, was wir erleben«, gar nicht erzählen können, weil wir »es nicht bemerken« (Br KB, S. 20), formuliert in der Umkehrung die bittere Einsicht, daß alles, was im alltäglichen Leben zur Geltung kommt, was nur irgendwie >wirklich< wird — auch als bestimmter Gedanke, konkreter Wunsch oder aktuelles Gefühl —, nicht von Belang sei. Schillers traditionsgeladener Begriff der »fernenden Erinnerung«, aus der heraus das Dichten zu erfolgen habe, erhält so an der Wende zum 20. Jahrhundert eine neue Akzentuierung: keine bloße Distanzierung und »Milderung« der situativ vorherrschenden Affekte im größeren Maßstab des selbsttätigen Gemüts ist mehr gemeint, sondern geradezu deren Eliminierung im Blick auf das wahre Leben, das sie verstellt haben. Das Mißtrauen gegen einen gesellschaftlichen Betrieb (und seine Sprache), der auch die spontansten und scheinbar lautersten Äußerungen des Einzelnen prägt, führt beim Pariser Rilke zur Ausbildung eines Erfahrungsbegriffs, der dem Verzicht auf Artikulation und dem In-Vergessenheit-Halten die höchste Stelle zuweist. Die aktuellen Bewußtseinsvollzüge sollen von Anfang an durch künstlerische Technik auf dem Stand präreflexiver und in diesem Sinn unwirklicher Bewußtseinsformen gehalten werden (kindliches oder »hündisches« Anschauen), damit in einem von der deutlichen SubjektObjekt-Trennung noch unversehrten Bewußtseinsstand >Äußeres< mit »inneren« Intentionen verschmelzen kann — eine Erfahrung, auf die die bewußte Ausführung des Künstlers dann aber nicht jederzeit kontrolliert zugreifen kann. Traditionell war die Mnemotechnik mit dem Problem befaßt, aktuelle Bewußtseinsschritte so zu organisieren, daß sie jederzeit erinnerbar 283

bleiben. Zu diesem Zweck die Bildfolgen und Schemata, mittels derer später nach Bedarf ganze Argumentationsketten entfaltet werden konnten. Rilke hingegen entwirft eine Mnemotechnik, die sich geradezu gegen die Hauptelemente des klassischen Gedächtnistrainings — das ausdrückliche Einprägen und Repetieren — definiert. Im Interesse eines unvorhersehbaren späteren Erinnerns — der Offenbarung des >zweiten Mal< — wird auf Explikation des >ersten Mal< verzichtet und das Bedürfnis, dem aktuell Begegnenden sofort Bedeutsamkeit abzugewinnen, unterdrückt. Die Betonung des Vergessens ist axiomatisch in der modernen Poetik geworden. Die Einsicht, daß die wahren Erinnerungen in der Absenz lagern und daß umgekehrt die vielleicht unrevidierbare Absenz Bedingung des wahren Erinnerns ist, steht hinter der Diskreditierung der Autobiographie im frühen 20. Jahrhundert. Autoren, die Erinnerungen niederschreiben, versichern jetzt ausdrücklich, daß dies keine Autobiographie sei. Entscheidend für eine solche Abgrenzung ist natürlich nicht der Umfang, sondern ein Unbehagen über den Anspruch der Kontinuität, den die Gattung Autobiographie stellt. »(.. .) die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht«, schreibt Benjamin in der Berliner Chronik. In seinem Erinnerungsbuch aber sei »von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede«. 25 Der liber vitae, den die Menschen auf mittelalterlichen Gemälden noch um den Hals hängen haben (das Buch, in dem das für den göttlichen Richter Entscheidende eingetragen ist), kann nicht mehr zusammenhängend geschrieben werden. Der Text, der das äußere, das gelebte Leben festhält, verdeckt das Entscheidende. Im Gedächtnis liegt das Leben nicht wie ein aufgeschlagenes Buch vor Augen, sondern wie ein Palimpsest, aus dem einzelne Passagen eines bis dahin nicht sichtbar gewordenen >Urtextes< bisweilen durchscheinen mögen, niemals aber der ganze Text lesbar wird. 26 25 26

Benjamin, Berliner Chronik, S. 56 f. Reizvoll wäre eine breit angelegte Untersuchung über Gedächtnismetaphorik in den europäischen Literaturen, die in der Lage wäre, das gehäufte Auftreten des Bildes vom Palimpsest und der verwandten Archäologie-Metaphorik für das Erinnern zu einer bestimmten Zeit zu dokumentieren. J. L. Weis (The palimpsest of memory and the literature of forgetfulness. Diss. State University of New York at Buffalo 1979), dessen Arbeit sich vor allem mit de Quincey, Nietzsche, Stendhal, Gide, Borges und Hardy befaßt, gibt S. 32 zwei schöne Beispiele für die Palimpsest-Metapher bei Victor Hugo und Nerval, erhebt aber selbstverständlich auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Verschiebung vom Gedächtnis-Buch, in dem das vergangene Leben festgehalten ist, zum Palimpsest hat man sehr schön bei Amiel (Intimes Tagebuch. München 1986, S. 242 — 29.4. 1874), wo das Bewußtsein vorgestellt wird als Buch, »dessen vom Leben umgewandte Blätter sich trotz ihrer Halbdurchsichtigkeit gegenseitig verdecken«. Am bekanntesten ist wahrscheinlich die Stelle in Freuds Traumdeutung, in der Freud am Palimpsest den Unterschied

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Unwillkürlichkeit und augenblickliches Einsetzen eines im Bezeichnen der Vergangenheit zugleich wiederholenden Erinnerungsvorgangs, Diskontinuität und Desinteresse an faktischer Korrektheit in Bezug auf die erinnerten Lebensinhalte — das sind die allgemeinsten Charakteristika modernen Erinnerns. Die Gedichtinterpretationen zeigen prinzipiell, wie in der Lyrik der Augenblick der Erinnerung und ihr Vollzug vor allem an klanglich-rhythmischen Gestaltungsmitteln aufgehen; sie zeigen im besonderen, wie unterschiedlich akzentuiert das Hineinfinden in die Erinnerungsbewegung bei den einzelnen Autoren sein kann: am Anfang bei Baudelaire eine Folge von Erschütterungen, in die sich ein melancholisches Andenken versetzt: verwandt damit ist Rilkes geradezu obsessionelle Suche nach den Augenblicken der Gefahr, 27 der Angst, der Ausgeliefertheit, des existentiellen Schwindel- und Absturzgefühls als Schwellenpunkten zum wahren »Vorgang« und zu neuer Gestaltwerdung. Bei beiden Autoren steht im Vordergrund der antibürgerliche Gestus gegen den herrschenden gesellschaftlichen Betrieb und das Konventionalgedächtnis, das er jedem Einzelnen um seines Funktionierens willen einschreibt. Diesen Kodierungsapparat im eigenen Innern mit — und sei es — selbstzerstörerischen Mitteln zum Einsturz zu bringen macht den Heroismus des modernen Künstlers aus — er bezahlt mit körperlichen und psychischen Verwüstungen für seine gefahrvolle Suche nach dem wahren Leben, »das sich« — wie Rilke sagt — »nach innen zurückgezogen hatte, so tief, daß es kaum noch Vermutungen darüber gab« (vgl. S. 181). Versteht man diesen >Rückzug nach innen< als ein Weichen und Nachgeben vor den Ansprüchen der Allgemeinheit im Zug jener schmerzhaften Gedächtnisinskription, von der Nietzsche handelt, dann hat man die Interpretation des Vergessens der innigen kindheitlichen Wunschwelt als einer Verdrängung — eine Interpretation, für die die romantische Geschichte vom Blonden Eckbert beeindruckendes und beängstigendes Anschauungsmaterial bereitstellt. Hofmannsthals Erinnerungsschwelle ist (nicht nur in den besprochenen Terzinen) der leere Raum, in dem im Vorgang der Selbstbespiegelung die Reflexe spielen. Das Ich, das sich selbst erfaßt, wird im Vorgang der Iden-

17

von manifestem und latentem Trauminhalt veranschaulicht (Freud-Studienausg. Bd. II, Fußnote S. 152 [Zusatz 1914] Zitat J. Sully). Das Träumen ist für Freud ja auch ein Erinnern des nicht Wirklichkeit gewordenen Wunschlebens. Benjamin hat den Gedanken, daß nur das real nicht zur Geltung Gekommene, auf abseitige, verdeckte Äußerung Angewiesene von Bedeutung sei, geschichtsphilosophisch ausgebaut. Deshalb auch hier die Konstellation, die das historisch niemals manifest gewordene Leben auf eine spätere jähe Wiedererweckung angewiesen sein läßt. Vgl. das Benjamin-Kap. bei Roland Kany, Mnemosyne als Programm. Tübingen 1987, v. a. S.220. Auch dieser »Augenblick einer Gefahr« taucht in Benjamins Geschichtsphilosophie wieder auf. Benj. 1.2, S. 695. 285

tifikation eine Instanz gewahr, die auf eine ihm selbst entzogene und rätselhafte Weise seine Kontinuität in der Dissipation stiftet. Das Gedicht schlägt aus der Selbstbesinnung um in die Evokation einer gründenden Dimension, die in den Schlußversen auf eine gleichsam transzendentale Vorgeschichte der Herkunft aus dem Anorganischen projiziert wird. Unter den behandelten Autoren steht Hofmannsthal sicher den Romantikern am nächsten. Ein Gedicht wie die Terzinen III kann, ohne Gedankenlyrik zu sein, beinahe als poetische Realisierung des romantischen Theorems vom »Getriebensein« des Ich in seinen Akten der Selbstentgegensetzung und -Vereinigung gelesen werden. Dennoch sollte man gerade an Topoi, die eine genuin romantische Vorgeschichte haben und die auch bei Hofmannsthals Zeitgenossen auftauchen, auf die spezifischen Unterschiede achten. Ein Beispiel ist die Figur der frühkindlichen »hohen Ahnung von den Lebensdingen« und ihrer späteren Einlösung in einer ernüchterten, differenzierten Objektwelt. Sie begegnet auch bei Adorno und Benjamin, freilich in einer ganz anderen Ausrichtung. Adorno handelt bspw. im Mahler-Buch von der »Erfahrung«, »daß in der Jugend unendlich Vieles als Versprechen des Lebens, als antizipiertes Glück wahrgenommen wird, wovon dann der Alternde, durch die Erinnerung hindurch, erkennt, daß in Wahrheit die Augenblicke solchen Versprechens das Leben selber gewesen sind.«28 Das ungewordene Leben der bloßen Wunschintentionen wird hier emphatisch in Schutz genommen gegen das depravierte, das dann >Wirklichkeit heißt; eine Kontamination von Erwartung und Einlösung soll vermieden werden, um Erinnerung als Stachel gegen die Fügung ins schlecht-Alltägliche zu bewahren. Benjamin dagegen spielt in der Berliner Kindheit mit der Struktur von Versprechen und Erfüllung; deutlich sarkastisch jedoch, wenn reale Arbeitslosigkeit des Erwachsenen zur Einlösung des jugendlichen Wunsches nach Ungebundenheit wird.29 Hofmannsthal schließlich kommt es gerade auf das Akzeptieren der Ernüchterung an; sein ganzes Früh werk handelt von dem Versuch, den Schritt ins Leben zu lernen, indem konkretes soziales Handeln in einer unscheinbaren Alltagswelt als das von der frühen undeutlichen Imagination Gemeinte erkannt wird. Auch bei ihm soll die Erinnerung an die Überhöhung des »Kindersinns« keineswegs vergessen oder verdrängt werden; sie soll sich vielmehr mit der späteren Wirklichkeit derart vermitteln, daß ein gleichgültig und mechanisch empfundenes Handeln wieder als eigene Tat fühlbar wird. Am deutlichsten im Frühwerk — auch im Zusammenhang mit der Sprachproblematik — ist diese Konstellation im lyrischen Drama vom Kaiser und der Hexe. Der Kaiser erkennt seine erste politische Ernennungstat als genaue Wiederauf28 29

Adorno, Mahler, S. 196. Benj. IV.1., S. 248. Vgl. dazu Szondis Aufsatz Hoffnung

286

im

Vergangenen.

nähme seines frühen glücklichen, aber ziellos schweifenden »Lallens« (GD I, S. 491 f.). Ungarettis Gedicht nimmt unter den behandelten Texten eine Sonderstellung ein: es wendet die Metapher des Bades im »Fluß der Erinnerung« (Jiménez) ins Metonymische. »Die Flüsse« weisen so voraus auf Gedächtnisvorstellungen, die in den zwanziger und dreißiger Jahren populär wurden. Denn die Berührung und substantielle Angleichung des erinnernden Bewußtseins an das Urelement, die 1 fiumi verhalten suggeriert, wird zur ausgesprochenen Behauptung in biologistischen Dichtungstheorien (Benn), die den Poeten zum Träger eines somatisch verstandenen Urgedächtnisses machen. Fortan sollen im Strömen der Erinnerung in realem Sinn uralte Elemente in Bewegung geraten, entsprechend weit ins Archaische reicht dieses genetische Gedächtnis auch zurück. Die streng individuellen »signes mémoratifs«, über die einem Einzelnen seine Vergangenheit sich erschloß, werden bei Jung zu kollektiven Symbolen, die unmittelbar auf phylogenetisch früheste Erfahrungen zurückführen. Ungarettis Gedicht scheint die in solchen Theoriebildungen wirksame Sehnsucht nach Verströmen und selbstvergessenem Rückgang auf ein letztes undifferenziertes Elementares zu teilen.30 Man sollte aber beachten, daß seine »Flüsse« in der Gegenrichtung fließen: hin zu einer differenzierten Welt und Geschichtslandschaft und hin zum selbstbewußten Subjekt. Das allgegenwärtige Wasser steht in I fiumi in der Anapher und nicht in der Epipher. Und die Schlußstrophe spricht zwar von der »nostalgia« nach der namenlosen Klarheit, die in der Strömung gefühlt wurde, setzt aber ans Ende die kalkulierte Anordnung der Zeichen, ohne die sie kein Erscheinen und keinen Bestand hätte.

30

Der Band, in dem es 1919 stand, heißt übersetzt: »Die Heiterkeit der Schiffbrüche«. 287

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