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German Pages [407] Year 2016
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Erich Hamberger Herbert Pietschmann
Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
VERLAG KARL ALBER
https://doi.org/10.5771/9783495808016
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B
VERLAG KARL ALBER
A
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Über das Buch: Der Quantenphysiker Herbert Pietschmann beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Phänomen Kommunikation. Der Kommunikationswissenschaftler Erich Hamberger setzt sich seit langem mit der Frage der Adaptierung erkenntnistheoretischer Einsichten der Quantentheorie für die Geistes- und Biowissenschaften auseinander. 2003 begegnen sich die beiden – und staunen über die »verschränkten Erkenntnisinteressen«. 2006 bestreiten sie eine erste gemeinsame universitäre Lehrveranstaltung. 2011 folgt »Das Phänomen Kommunikation – transdisziplinär betrachtet«. Aus ihrer Zusammenarbeit ist dieses Buch entstanden. Naturwissenschaft arbeitet auf der Grundlage des mechanistischen Denkrahmens. Die bisher einzige Ausnahme ist die Quantenphysik. Weder Leben noch Kommunikation ist mittels des mechanistischen Denkrahmens zu verstehen. Auch der Denkrahmen der Quantenphysik reicht dazu nicht aus. Der Bedarf nach adäquatem Denken im Bereich der Kommunikation kann durch quantenphysikalisches Denken NICHT befriedigt werden, jedoch kann dadurch ein Weg aufgezeigt werden, wie ein adäquater Denkrahmen zu gestalten ist.
Über die Autoren: Erich Hamberger, Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft bzw. Politikwissenschaft in Salzburg. Promotion 1986. Seit 1992 u. a. Lehrbeauftragter an der Universität Salzburg am FB Kommunikationswissenschaft. Seit 1999 Initiierung, Konzeption, Koordination und Leitung transdisziplinär ausgerichteter wissenschaftlicher Projekte, Kongresse und Symposien mit dem Schwerpunkt Kommunikation. Initiator des seit 2012 laufenden fächerübergreifenden Moduls Bio-Kommunikation an der Universität Salzburg. Herbert Pietschmann, geb. 1936 in Wien, Studium der Mathematik und Physik an der Universität Wien, Promotion 1961. Habilitation in theoretischer Physik 1966. Forschungsjahre in Genf (CERN), Virginia, Göteborg und Bonn. Seit 1968 Professor für theoretische Physik in Wien, seit 1. Oktober 2004 Emeritus. Mitglied der New York Academy of Science und Fellow der World Innovation Foundation.
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Erich Hamberger / Herbert Pietschmann Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft
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Band 8
Herausgegeben von Karl-Heinz Brodbeck Stephan Grätzel Bernd Schuppener
https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Erich Hamberger / Herbert Pietschmann
Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation Mit einem Beitrag von Jörg von Hagen
Verlag Karl Alber Freiburg / München
https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2015 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48727-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-80801-6
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Inhaltsverzeichnis
I.
Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11
Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. 2.
Quantenphysik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kommunikationswissenschaft . . . . . . . . . . . . . .
17 20
III.
Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
36
II.
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1.
Grundsätzliches über neue Konzepte in Wissenschaft und Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Quantentheorie als Frucht der klassischen Physik . . 3. Die klassische Physik als Frucht des »Denkrahmens der Moderne« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die »Kalenderreform« als (Mit-)Auslöser des »Denkrahmens der Moderne« . . . . . . . . . . . . . . 5. Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch . . . . . . . 6. Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes« als Ermöglichungsbasis des »Denkrahmens der Moderne« . . . . . . . . . 7. Das Ersetzen wahrer Erkenntnis durch »gesichertes Wissen« als »neue Wahrheit« . . . . . . . . . . . . . . 8. Die Absolutsetzung von Materie, Raum und Zeit im Zuge der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Der Historismus als konsequente Folgeerscheinung der Absolutsetzung von Raum, Zeit und Materie . . . . . . 10. Die modernen Massenmedien als kulturspezifische Begleiterscheinung des »Denkrahmens der Moderne« . . 11. Die Genese der Kommunikationswissenschaft (bzw. deren Vorläufer) aus dem Geiste des »Denkrahmens der Moderne« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
36 41 47 52 58 88 107 115 123 129
142 7
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Inhaltsverzeichnis
12. Die ungeahnte »Karriere« des Phänomens (und damit Begriffs) Kommunikation seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV.
1. 2. 3. 4.
V. 1. 2.
3.
Die parallele Genese der Quantentheorie und die »Entdeckung« der Wechselwirkung/Interaktion – als grundlegendem Wirklichkeitsphänomen – um 1900 . . . . . . . Max Planck oder Die vorläufige Hilfsgröße h wird zur universellen Naturkonstanten . . . . . . . . . . . . . . Georg Simmel oder Die »Wechselwirkungs-Philosophie des Geldes« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Einstein oder Ein Patentbeamter III. Klasse dynamisiert Raum und Zeit und »quantelt« das Licht . . . . . Das große Zurückschrecken vor dem »Zu-Ende-Denken« der eigenen Erkenntnis oder Die Schwierigkeit, den »Denkrahmen der Moderne« zu überwinden . . . . . . a) Max Planck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Albert Einstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Michael Giesecke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die parallelen Erkenntnis-Revolutionen der Quantentheorie und des Dialogischen Denkens in den 1920er Jahren . . . . Die Quantentheorie als erstmalige Überwindung des »Denkrahmens der Moderne« . . . . . . . . . . . . . . Das Dialogische Denken als Überwindung des autonomen Subjekt-Konzepts der Moderne – und damit ebenfalls des »Denkrahmens der Moderne« . . . . . . . . . . . . . . Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Aporie diskret/kontinuierlich . . . . . . . . . . . b) Das »Kausalitätsdogma« oder Der mühsame Weg von der Kausalität über die A-Kausalität zur TransKausalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) »Spukhafte Fernwirkung« (bei gleichzeitiger Absolutsetzung von Raum und Zeit) . . . . . . . . . . . . . d) Die »Unabgeschlossenheit« der Quantentheorie . . .
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159 159 161 164
167 167 167 169
171 171
176 178 178
180 205 208
Inhaltsverzeichnis
4.
Hürden auf dem Weg zur dialogisch-relationalen Deutung des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das substanzial-monadische Verständnis des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das relational-systemische Verständnis des Menschen c) Der Primat der Materie . . . . . . . . . . . . . . . . d) Das fehlende (verbindende/verbindliche) »Dritte« . . e) Die »Mathematisierung« der Sprache . . . . . . . . .
VI. Die Bewältigung aporetischer Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie« . . . . . . . . . 1.
2.
Quantentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Komplementarität (Bohr) . . . . . . . . . . . . . . . b) Unbestimmtheitsrelation (Heisenberg) . . . . . . . . c) Verschränkung (Schrödinger) . . . . . . . . . . . . »Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken . . . . . . . a) (Erneuter) Primat des Geistes . . . . . . . . . . . . . b) Aporetisches Ich-Du/Wir-Verständnis . . . . . . . . c) Wort und »Zwischen« als »Drittes« bzw. als Medium und Sinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Der Andere als »Sinnereignis« bzw. das Antlitz des Anderen als Aufforderung zu wahrer Kommunikation
VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten in den Bereich »großer Objekte« . . . . . . . . 1. 2. 3. 4. 5.
Am Beispiel der Quantenfeldtheorie . . . . . . . . . . . Am Beispiel des Lebendigen: VITAporon . . . . . . . . Am Beispiel menschlichen Seins: PNEUMAporon . . . . Das HX-Schema als zentrale Verstehenshilfe aporetischer Phänomene des Lebendigen bzw. Menschlich-Geistigen . Vier Betrachtungsweisen der Welt . . . . . . . . . . . .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 2.
Die zentrale Differenzierung: Interaktion 6¼ Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drei Beschreibungsebenen von Kommunikation . . . . . a) Kommunikation als Fundamental lebendiger/geistiger Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
212 212 216 218 222 224
231 231 231 238 240 243 245 252 255 258
263 263 270 277 283 289
306 306 310 310 9
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Inhaltsverzeichnis
b) Kommunikation als gelingendes/nicht gelingendes Beziehungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . . c) Kommunikation als vorbildhaftes/zerrbildliches In-Beziehung-Treten/In-Beziehung-Sein . . . . . . . 3. Vier komplementäre Spannungsfelder im Kontext von Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ich-Du/Wir . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Personalität und Medialität . . . . . . . . . . . . . . c) Kommunikation und Erkenntnis . . . . . . . . . . . d) Begegnung und Übermittlung . . . . . . . . . . . . 4. Zentrale hierarchische Verhältnisse im Zusammenhang der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation . . . a) Entwicklung 6¼ Werden . . . . . . . . . . . . . . . . b) Form 6¼ Gestalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Komplexität 6¼ Kontextualität . . . . . . . . . . . . d) Kausalität 6¼ Transkausalität . . . . . . . . . . . . . 5. Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation für die modernen Biowissenschaften . . a) Biokommunikation: Experimentelle Ansätze (Jörg von Hagen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterschiedliche kulturparadigmatische Deutungsmöglichkeiten der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation in den Biowissenschaften . . . . . . 6. Die (quantenphysikalischen) Erkenntnismodi Komplementarität und Unbestimmtheitsrelation übertragen auf den Phänomenbereich Kommunikation . . . . 7. Das Quantenphänomen der »Verschränkung« übertragen auf den Phänomenbereich Kommunikation . . . . . . . 8. Interaktion, Kommunikation, das Eine und das Ganze . . 9. Unterschiedliche kulturparadigmatische Deutungsmöglichkeiten der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Kommunikationswissenschaft als transdisziplinäre und transkulturelle »Brückenwissenschaft« . . . . . . . . . 11. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von fächerübergreifender Forschung und Lehre, von Universität . . 12. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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311 313 314 314 315 316 317 319 319 322 324 327 333 334
344
353 359 363
369 372 376 382 384
I. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner
Quantenphysik beschäftigt sich mit subatomaren Interaktionen. Kommunikationswissenschaft ist befasst mit medial vermittelten (zwischen-)menschlichen Kommunikationsvorgängen. Quantenphysik hat zu tun mit ganz kleinen (a-biotischen) »Objekten«. Kommunikationswissenschaft setzt sich auseinander mit dem Beziehungsgeschehen zwischen großen (lebendigen) »Subjekten«. Eine oberflächliche Betrachtung mag den Eindruck erwecken, dass Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft wenig, wenn nicht gar nichts miteinander verbindet. Phänomenologisch betrachtet ist dies sicher richtig; Quantenphysik beschäftigt sich, wie gesagt, mit den Bausteinen der Materie, den kleinen und kleinsten Bestandteilen der materiellen Welt. Kommunikationswissenschaft 1 hingegen in erster Linie mit medial vermittelter »öffentlicher« Kommunikation sowie – in zunehmendem Maße – auch mit zwischenmenschlicher (face-to-face) Kommunikation, also mit verschiedenen Formen des »direkten« und indirekten In-Beziehung-Tretens zwischen Subjekten. Betrachten wir aber die logische Struktur dieser beiden Bereiche, treten – wie sich zeigen wird – Ähnlichkeiten hervor. In beiden Fällen haben wir es mit Widersprüchen zu tun, die sich nicht im Sinne des Entweder-Oder Aristotelischer Logik eliminieren lassen. Licht etwa ist immer zugleich interferenzfähige Welle und – als Photon – stoßfähiges Teilchen. Im Falle der Quantenphysik ist der Widerspruch des Wissenschaftshistorisch ein sehr junges Fach; die erstmalige universitäre Etablierung eines »Vorläufers« im deutschsprachigen Raum (Institut für Zeitungskunde, Leipzig) erfolgte 1916.
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I. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner
»Welle-Teilchen-Dualismus« bis in die Alltagssprache eingedrungen, wenn auch seine Hintergründe und Konsequenzen dabei meist nicht mitgedacht werden. Im Zusammenhang der Kommunikationswissenschaft sind vor allem destruktive Gestalten von Widersprüchen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt: man denke etwa an die sogenannte double-bindtheory (Doppelbindungstheorie) 2. Eine zentrale Intention des Buches ist es, nicht nur Beispiele konstruktiver Kommunikation aufzuzeigen, sondern Kommunikation als prinzipiell aporetisches Phänomen ersichtlich zu machen. Die Widersprüchlichkeiten der Quantenphänomene mögen auch der Grund dafür gewesen sein, dass – obwohl die Kopenhagener Deutung der Quantentheorie von der physikalischen scientific community bereits ab 1930 allgemein anerkannt wurde – diese trotzdem lange Zeit an vielen Universitäten in den Curricula nicht vorkam bzw. nicht gelehrt wurde. So konnte es passieren, dass der heute weltbekannte Wiener Quantenphysiker Anton Zeilinger sein Physikstudium an der Universität Wien noch 1963 (!) durchlief, ohne auch nur eine einzige Lehrveranstaltung in Quantenphysik absolvieren zu müssen. Um dieses Defizit auszugleichen, eignete er sich im Selbststudium aus Büchern quantenphysikalisches Wissen an und wählte schließlich, wie er selbst schreibt, »freiwillig als eines meiner Hauptprüfungsgebiete bei Herbert Pietschmann die Quantenmechanik«. 3 Doch auf welchem Weg gelangte jener junge Hochschullehrer, bei dem Anton Zeilinger seine Prüfung dann erfolgreich ablegte, zu quantentheoretischen Kenntnissen während seines Physikstudiums an der gleichen Universität in den 1950er Jahren? Zwischen 1955 und 1959 gab es an der Universität Wien keine Vorlesung über Quantenphysik. Studenten (darunter einer der Autoren, H. P.) schlossen sich zusammen, um gemeinsam in der Gruppe die Quantenmechanik aus Lehrbüchern zu erarbeiten. Ein damals beliebtes Buch wurde gewählt und alle Teilnehmer der Gruppe mussten Damit ist eine verwirrende und in bestimmten Fällen krank machende Kommunikationsform gemeint, bei der eine Botschaft widersprüchliche Elemente enthält, sodass darauf prinzipiell nicht richtig reagiert werden kann. Eine solche paradoxe Botschaft lautet etwa: »Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.« Eine typische Aussage von Opfern von Doppelbindungs-Beziehungsstrukturen lautet demzufolge: »Ich kann es X nie recht machen«. 3 Zeilinger, Anton: Einsteins Schleier. Die neue Welt der Quantenphysik, München 2003, S. 7. 2
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I. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner
es erstehen (der Kauf eines Buches war damals aus finanziellen Gründen eine Ausnahme, gelernt wurde gewöhnlich aus Skripten zu den Vorlesungen). Im Nachhinein scheint es grotesk, dass die Gruppe damals ausgerechnet jenes Lehrbuch zugrunde legte, das zwar inhaltlich vermutlich wirklich das beste, aber in seiner Darstellung damals wahrscheinlich das allerschwierigste war: P. A. M. Dirac, The Principles of Quantum Theory. Bis 1959 gab es also an der Universität Wien keine geordnete Vorlesung über Quantenphysik. Einer der älteren Professoren gab sogar noch theoretische Vorlesungen über das Bohr’sche Atommodell. Zu jener Zeit war die philosophische Fakultät noch nicht aufgespalten, also mussten auch Physiker den »Dr. phil.« machen. Damit verbunden waren zwei strenge Prüfungen (Rigorosen) in Philosophie. Das verlangte freilich nach guter Vorbereitung und Absolvierung von Vorlesungen und Prüfungen in Philosophie. Was den Physiker unter uns dabei besonders gefangen nahm, war das Problem der Subjekt-Objekt-Spaltung und damit das Problem »Erkenntnis« ganz allgemein. Diese Spaltung ist unabdingbare Voraussetzung für jede mögliche Darstellung von subjektiven Erlebnissen bis hin zu »objektiver« Erkenntnis. Jede Voraussetzung bedeutet aber zugleich Einschränkung des Auszusagenden; das lernte man schon in der Mathematik. 4 Daraus folgt aber, dass Phänomene, die durch die SubjektObjekt-Spaltung verdrängt werden, grundsätzlich nicht erkannt werden können. An dieser Stelle hatte der Physiker unter uns eine neue Einsicht: Solche Phänomene können nicht kommuniziert werden! Subjektiv erkannt werden können sie schon. Damit begann für den Physiker eine lange Reise in die Welt der Aporien, die in der klassischen Physik keine Rolle spielen, weil sie dort nach Aristotelischem Vorschlag der Logik eliminiert werden müssen. Erst in der Quantenphysik kam man nicht umhin, sie wieder aufzugreifen. Dort sind sie an den klassischen Beispielen der Schrödinger’schen Katze und des Einstein’schen Paradoxons ins Bewusstsein der Allgemeinheit gedrungen (vgl. Kap. V/3). Wolfgang Pauli – Mitbegründer der Quantenphysik – bezieht sich explizit auf die Subjekt-Objekt-Spaltung, wenn er schreibt: Wenn die Euklidischen Axiome der Geometrie vorausgesetzt werden, dann beschränken sich mögliche Aussagen auf die ebene Geometrie.
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I. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner
»Sicher aber ist, dass die moderne Physik die alte Gegenüberstellung von erkennendem Subjekt auf der einen Seite zu dem erkannten Objekt auf der anderen Seite verallgemeinert zu der Idee des Schnittes zwischen Beobachter oder Beobachtungsmittel und dem beobachteten System. Während die Existenz eines solchen Schnittes eine notwendige Bedingung menschlicher Erkenntnis ist, faßt sie die Lage des Schnittes als bis zu einem gewissen Grade willkürlich und als Resultat einer durch Zweckmäßigkeitserwägungen mitbestimmten, also teilweise freien Wahl auf.« 5
Also wurde die Beschäftigung mit Kommunikation als Subjekt-Objekt-Problem für die Quantenphysik unabdingbar. Der Physiker unter den Autoren hat schon 1983 in einem Vortrag beim WerbefunkTreff in Düsseldorf auf die Widersprüche hingewiesen, die mit dem Begriff »Kommunikation« verbunden sind: »Zur Verbesserung der Kommunikation ist es zugleich notwendig und störend, die Begriffe […] immer deutlicher zu definieren.« 6 Schließlich hat er auch den Grundwiderspruch der Kommunikation angesprochen: »dass nämlich Kommunikation jene Einheit erst herstellt zwischen den Menschen, die schon vorausgesetzt ist, damit Kommunikation überhaupt möglich ist.« In seinem Buch über Aporetik hat er 2002 geschrieben: »Kommunikation im weitesten Sinn ist eine der Hauptgrundlagen alles Lebens.« 7 Damit war der Keim gelegt, der nun zu unseren gemeinsamen Folgerungen angewachsen ist. Doch zuvor gilt es noch die Frage zu beantworten: wie kommt ausgerechnet ein Kommunikationswissenschafter zum erkenntnistheoretischen Interesse an der Quantentheorie? Das passierte (ihm) gewissermaßen in zwei Schritten. Da war zuerst Werner Heisenbergs Buch Physik und Philosophie, das dem Publizistik- und Kommunikationswissenschaftsstudenten 1981 in die Hände fällt. Dessen Meisterschaft, die geistesgeschichtliche Entwicklung der Quantentheorie nachzuzeichnen, gepaart mit seinem Vermögen, ohne mathematische
5 Pauli, Wolfgang: Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler, in: Jung, Carl Gustav; Pauli, Wolfgang: Naturerklärung und Psyche, Rascher Verl., Zürich 1952. 6 Pietschmann, Herbert: Kommunikation: Bewusst ist nur die Spitze des Eisbergs, in: Media Perspektiven, Mai 1983, S. 27 f. 7 Pietschmann, Herbert: Eris & Eirene – Anleitung zum Umgang mit Widersprüchen und Konflikten, Ibera Verlag, Wien 2002, S. 66.
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I. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner
Formeln die entscheidenden quantentheoretischen »Schritte über (Erkenntnis-)Grenzen« ersichtlich zu machen, spornen den Studenten an, quantenphysikalische Einsichten in den Bereich der Geisteswissenschaften zu übertragen. Insbesondere die Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation will er ins Publizistikwissenschaftliche transferieren. Ein Professor, dem er das Ansinnen mitteilt, schüttelt nicht einmal den Kopf. So wird der unausgereifte Gedanke fürs erste begraben; begraben freilich im Herzen. Da ruht er geraume Zeit, bis sich um die Jahrtausendwende – auf ungeahnte Weise – ein neuer Zugang zur alten Erkenntnisliebe eröffnet. Der inzwischen promovierte Kommunikationswissenschafter erhält die Gelegenheit, ein Symposion zu initiieren und zu organisieren, wo sich Vertreter verschiedenster Fachbereiche – von der Physik bis zur Theologie – treffen und darüber austauschen, welche Bedeutung der Begriff Kommunikation in ihrer jeweiligen Disziplin hat. 8 Als Physiker referiert Jürgen Audretsch (Konstanz) zum Thema Quantenphysik. Eine Welt der Beziehungen. Unvermittelt ist sie wieder da, die »erkenntnistheoretische Liebe« zur Quantenphysik. Glückliche Umstände führen in der Folge zur Lektüre des Buches Phänomenologie der Naturwissenschaft. Wissenschaftstheoretische und philosophische Probleme der Physik von Herbert Pietschmann; bald darauf folgt ein erstes persönliches Treffen mit dem Autor. Die wechselseitige Überraschung ist groß, als bei den folgenden Begegnungen deutlich wird, dass der Quantenphysiker seit Jahrzehnten nach einer allgemeinen Theorie der Kommunikation strebt und der Kommunikationswissenschaftler sich seit geraumer Zeit mit der Frage beschäftigt, wie Erkenntniselemente der Quantentheorie für die Kommunikationswissenschaft fruchtbar gemacht werden können. Auf diesem Weg lernen beide nicht nur die unterschiedlichen Erkenntnisweisen sowie die damit verbundenen Erkenntnismodi des anderen Fachbereichs immer besser zu verstehen, sondern (damit) auch die Herausforderung kennen, diese verschiedenen Erkenntnisweisen zueinander in Beziehung zu setzen bzw. ins Ganze von (wissenschaftlicher) Erkenntnis einzuordnen.
Die Resultate des Symposions sind erschienen in: Hamberger, Erich; Luger, Kurt (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation. Aktuelle Be-Deutungen des Phänomens »Kommunikation« im fächerübergreifenden Dialog, Wien 2008.
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I. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Zwei ungleiche Partner
Die dabei gewonnenen Einsichten sollen mit diesem Buch einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden. Als Einstieg bietet sich der aktuelle status quo der beiden Fachbereiche an. Dem wollen wir uns nun zuwenden.
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II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
1.
Quantenphysik: ein fest etablierter und erfolgreicher Teilbereich innerhalb der Physik mit klar umrissenem Gegenstandsbereich.
Quantenphysik wird oft als geheimnisumwobener Teil der modernen Physik aufgefasst; »Schrödingers Katze« und Einsteins »spukhafte Fernwirkungen« sind auch jenen bekannt, die sonst von Physik nicht sehr viel kennen oder an ihr gar nicht interessiert sind. Eigene Fachtagungen von Experten zum Thema »Interpretation der Quantenphysik« tragen zu diesem Bild bei. Übersehen wird dabei geflissentlich, dass offene Fragen lediglich die Interpretation betreffen, dass aber Quantenphysik eine der erfolgreichsten Disziplinen der gesamten Physik überhaupt darstellt. Als Beispiel seien hier nur einige Ergebnisse angeführt. In der kosmischen Höhenstrahlung ist ein Teilchen prominent vertreten, das sich wie ein schweres Elektron verhält. Es wurde 1936 durch Zufall entdeckt und erhielt den Namen μ-Teilchen oder Müon. Seine Ruhemasse ist etwas mehr als das 200-fache der des Elektrons, und daher hat es auch eine kurze Lebensdauer, nach der es in ein gewöhnliches Elektron (plus zwei so genannte Neutrinos) zerfällt. Die Lebensdauer beträgt gerade etwa 2 Mikrosekunden, also zwei Millionstelsekunden. Trotzdem kann es in Beschleunigeranlagen erzeugt und gründlich untersucht werden. So wie das gewöhnliche Elektron hat es ein magnetisches Moment, das sowohl theoretisch berechnet (mittels quantenphysikalischer Rechnungen) als auch experimentell gemessen werden kann. Man kann sich leicht ausmalen, dass dabei eine Fülle von Effekten berücksichtigt werden muss, um zu einer genauen Bestimmung zu gelangen. Der großartige Erfolg der Quantenphysik (in diesem Fall der relativistischen Quantenfeldtheorie) wird deutlich, wenn wir theo-
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II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
retische Berechnung und experimentelle Messung vergleichen (die Werte sind in Einheiten des so genannten Magnetons angegeben): Theoretische Berechnung
1,001165918
Experimentelle Messung
1,001165920
Zwei weitere Dezimalstellen wurden gemessen und berechnet, sind jedoch nicht mehr gesichert (mit Fehlern behaftet). Man beachte die Genauigkeit von eins zu einer Milliarde! So sehr wird sowohl der Rechnung als auch der Messung vertraut, dass der Unterschied in der letzten Dezimalstelle zu einer Fülle von publizierten Erklärungsversuchen geführt hat. Es sei wiederholt, dass es sich dabei um die Eigenschaft eines Teilchens handelt, das eine Lebensdauer von lediglich zwei Millionstelsekunden hat! Ein weiteres Beispiel betrifft die Eigenart der Quantenphysik, dass einzelne physikalische Phänomene nicht vollständig getrennt werden können. (Das wird uns im Kapitel VII noch ausführlich beschäftigen). Bei der Genauigkeit der obigen Berechnung musste zum Beispiel der Einfluss sämtlicher anderer Teilchen auf das magnetische Moment des Müons berücksichtigt werden. Das eröffnet aber die Möglichkeit, Eigenschaften von theoretisch vorhergesagten, aber noch nicht beobachteten Teilchen aus Messungen der bekannten Teilchen zu erschließen. Genau das war im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts der Fall. Um 1990 war ein noch nicht beobachtetes Teilchen (das so genannte Top-Quark) theoretisch vorhergesagt; aber man konnte seine Masse experimentell unter etwa 53 GeV (das entspricht ungefähr ebenso vielen Massen eines Wasserstoff-Atoms) ausschließen. Also begann ein Unternehmen, die Masse dieses Teilchens aus den gemessenen Eigenschaften aller bekannten Teilchen abzuschätzen. Sowohl die theoretischen Berechnungen als auch die direkte Suche wurden ständig verbessert, und als im Jahre 1994 das Top-Quark erstmalig nachgewiesen wurde, hatten sich die Werte seiner Masse aus beiden Verfahren vollständig angenähert! 1 Indirekte Vorhersage
17013 GeV
Experimenteller Wert
17416 GeV
Details in Pietschmann, Herbert: Wittgenstein, Zenon und die moderne Physik, Vortrag am Ludwig Wittgenstein-Memorial der Öst. Akademie d. Wissenschaften, Wien, 9. Nov. 2011.
1
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Quantenphysik
Die beiden Beispiele mögen genügen, um sicherzustellen, dass es sich bei der Quantenphysik (in Form der Quantenmechanik, Quantenelektrodynamik und Quantenfeldtheorie) nicht nur um einen gesicherten Bereich der Physik, sondern auch um einen außerordentlich erfolgreichen Zweig handelt, wenn quantitative Übereinstimmung von Theorie und Experiment gefordert wird. Trotzdem gibt es immer wieder Diskussionen über Quantenphysik, da sie sich nicht auf mathematische Berechnungen reduzieren lässt. Sie bedarf einer Interpretation, weil die zu berechnenden Größen keinen physikalischen Messgrößen entsprechen. Diese Interpretation kann immer sowohl auf Basis (diskreter) Teilchen als auch auf Basis (kontinuierlicher) Wellen ausgeführt werden; beide Möglichkeiten sind notwendig, um das ganze Phänomen zu beschreiben. Damit ist das Fundament naturwissenschaftlichen Denkens, die Aristotelische Logik mit ihrer Forderung nach Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit, gefallen! Nach dem Aristotelischen Axiom des »ausgeschlossenen Dritten« gibt es neben diskret und kontinuierlich (da sie einander kontradiktorisch widersprechen) keine dritte Möglichkeit. Die Teilchen des Mikrokosmos stellen aber eine solche real dar. Zwar kann in jedem einzelnen Experiment entweder der Teilchenaspekt oder der Wellenaspekt verwirklicht werden, aber dann müsste man die Forderung nach Eindeutigkeit fallen lassen; es gäbe dann bei ein und demselben Objekt wahlweise Teilchen- oder Welleneigenschaften, das Objekt würde sozusagen in zwei wesensverschiedene Objekte zerfallen. (Das Axiom der Eindeutigkeit heißt »Alles ist mit sich identisch und verschieden von anderem!«) Für alle anderen Teilgebiete der Physik gibt es einen mehr oder weniger »klassischen« Darstellungsmodus. Bei der Quantenmechanik ist dies nicht der Fall. Der mathematische Teil, der keine Widersprüche enthält, wird einheitlich dargestellt, aber die Interpretation wird von jedem akademischen Lehrer anders ausgeführt, wobei jeder meint, seine Methode sei wohl die einleuchtendste. Dies ist ein deutliches Zeichen dafür, dass wir es hier mit einer echten Synthese zu tun haben, die über die Aristotelische Logik hinausweist. Daher entstehen auch immer wieder neue Lehrbücher der Quantenmechanik, die jeweils eine andere Darstellung bringen, ohne zum mathematischen Apparat Wesentliches hinzuzufügen. Stellvertretend für viele sei aus dem Vorwort eines dieser Lehrbücher zitiert: »Das Ganze spiegelt natürlich die persönliche Sicht des Verfassers wider, wie und in wel19 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
cher Auswahl er die Quantentheorie am liebsten selbst gelernt hätte.« 2 Der Theoretiker Günther Ludwig schreibt: »Dass die Quantenmechanik in der Lage ist, große Teile physikalischer Erfahrungen zu erfassen, wird von niemandem ernstlich bezweifelt, […]. Es bestehen keine Meinungsverschiedenheiten darüber, auf welche Art die Wahrscheinlichkeit für den Ausgang von Experimenten berechnet und mit dem Experiment verglichen werden muss. Fragt man aber, was eigentlich ausgesagt wird, wenn von Wahrscheinlichkeiten, Zuständen usw. die Rede ist, so erhält man sehr viele verschiedene Antworten […].« 3
Unmissverständlich macht diese Kluft zwischen korrekter Anwendung einerseits und Verstehen der Quantentheorie andererseits Carl Friedrich von Weizsäcker deutlich, wenn er noch 1985 – also knapp 60 Jahre nach ihrer erstmaligen Formulierung – rückblickend schreibt: »Ich selbst habe […] etwa bis 1954, immer wachsend unter der Empfindung gelitten, daß ich die Quantentheorie nicht verstand. Logisch hatten sie, so schien mir um 1935, vielleicht vier bis fünf Leute verstanden, etwa Heisenberg, Pauli, Dirac, Fermi; ich gewiß nicht. Philosophisch verstand sie, so schien mir, nur Bohr; ihn verstand kein anderer; und zudem wußte selbst Bohr, so schien mir weiter, nicht das letzte Wort über sie. […] Die Tatsache, daß die Quantenphysik von den Physikern selbst zwar korrekt angewandt, aber niemals wirklich, d. h. aussprechbar, verstanden wurde, konnte auf die Dauer nicht verborgen bleiben.« 4
2.
Kommunikationswissenschaft: Ein aufstrebender und rasant wachsender – verschiedentlich verorteter – universitärer Fachbereich
Die Kommunikationswissenschaft ist – wie eingangs schon kurz erwähnt – ein wissenschaftsgeschichtlich sehr junges Fach. Erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts beginnen sich die ersten diesbezüglichen universitären Institute zu etablieren, zuerst in den USA, dann auch in Europa. Das erste »Vorläuferinstitut« der Kommunikationswissenschaft Hittmair, Otto: Lehrbuch der Quantentheorie, Verl. K. Thiemig, München 1972, S. IX. 3 Ludwig, Günther: Zur Deutung der Beobachtung in der Quantenmechanik, in: Physikalische Blätter, Heft 11, Physik-Verl., Mosbach 1955. 4 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Aufbau der Physik, 2. Aufl., München 1985, S. 550. 2
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Kommunikationswissenschaft
in Deutschland war das im November 1916 in Leipzig errichtete Institut für Zeitungskunde. 5 Der ältlich klingende Titel war übrigens Programm; denn der zum Leiter ernannte Karl Bühler dachte weniger an den Aufbau eines neuen Wissenschaftszweiges, sondern an einen Ort berufsqualifizierender Fortbildung für Journalisten. 6 Erst nach dem 1. Weltkrieg, als sich die Überzeugung breit machte, dass das Scheitern der staatlichen Presse- und Propagandapolitik die Niederlage im Weltkrieg mit verursacht habe, ließen die Widerstände an den deutschen Hochschulen gegenüber (zeitungs-)wissenschaftlichen Bestrebungen, die es auch schon vor 1914 gegeben hatte, nach. Als 1924 in Berlin das Deutsche Institut für Zeitungskunde (DIZ) ins Leben gerufen wurde, fand sich im »vorläufigen Arbeitsprogramm« der fachspezifische wissenschaftliche Aspekt bereits klar betont. 7 Allmählich begann auch die explizite Diskussion über den eigentlichen Gegenstandsbereich des Faches sowie dessen Erweiterung zu einer Publizistik-Wissenschaft. Hierbei ist vor allem das von Karl Jaeger verfasste Werk Von der Zeitungskunde zur publizistischen Wissenschaft (Jena 1926, reprint 1988) zu erwähnen, in dem der Autor eine allgemeine »Lehre von den Mitteilungen« anregt und hierfür die Bezeichnung »publizistische Wissenschaft« vorschlägt. 8 Die Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 stellte für die in statu nascendi begriffene Zeitungskunde/Zeitungswissenschaft schließlich eine gravierende Zäsur dar. Mit anderen Worten: Die Zeitungswissenschaft – gerade auf dem Weg, ihre fachspezifische Identi-
Die erstmalige Einführung des Pressewesens in den akademischen Unterricht gelang im deutschsprachigen Raum im Jahre 1903 an den Universitäten Zürich und Bern. Dort konnten sich »die hauptberuflichen Journalisten Oskar Wettstein und Michael Bühler […] für journalistische Fächer [habilitieren] und begannen als Privatdozenten zu lehren.« (Kniefacz, Katharine: Zeitungwissenschaft in Wien 1900–1945. Die Institutionalierung im Kontext der deutschsprachigen Fachentwicklung, Dipl. Arb., Wien 2008, S. 12). 6 Vgl. Vom Bruch, Rüdiger: Einleitung, in: ders.; Rögele, Otto B. (Hrsg.): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main1986, S. 1–30, hier S. 1. 7 Der Leiter des Instituts, Martin Mohr, veröffentlichte 1927 die wegweisende Schrift Zeitungskunde und Zeitungswissenschaft im Deutschen Institut für Zeitungskunde in Berlin, in der er ein Konzept systematischer zeitungswissenschaftlicher Grundlagenforschung skizziert. 8 Vgl. dazu: Hachmeister; Lutz: Theoretische Publizistik. Studien zur Kommunikationswissenschaft in Deutschland, Berlin 1987, S. 23 f. 5
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II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
tät auszubilden – wurde umgehend als nationalsozialistische »Paradedisziplin« politisch instrumentalisiert. 9 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum sich das Fach nach dem Zusammenbruch des Nazi-Regimes 1945 in Deutschland und Österreich in einer umfassenden Krise befand. Es fehlte nicht nur an Personalstellen, Räumlichkeiten und finanziellen Mitteln, sondern vor allem an institutioneller Legitimation. Noch 1960 war für den deutschen Wissenschaftsrat die Publizistik- und Zeitungswissenschaft lediglich – wie Löblich bemerkt – »ein ›Sondergebiet‹, das nur an den Universitäten Berlin und München zu pflegen sei 10. […]
Ein Beispiel soll die ideologische Vereinnahmung des Faches veranschaulichen: Anlässlich der feierlichen Eröffnung des Wiener Instituts für Zeitungswissenschaft am 7. Mai 1942 beschwor Walter Heide, der als stellvertretender Reichspressechef für die Gleichschaltung der zeitungswissenschaftlichen Forschung in Nazideutschland betraut war, die Kriegswichtigkeit der Zeitungswissenschaft, die – von Leipzig aus – zu einem »selbständigen Glied der universitas litterarum« mit eigener Methode weiterentwickelt worden sei. Die gegenwärtige Aufgabe von Presse und Zeitungswissenschaft sei vor allem der »Kampf um die Durchsetzung der deutschen Wahrheit«. Der Rektor der Universität Wien, Fritz Knoll, äußerte schließlich seine Erwartungen an das neue Institut, in dem er betonte, dass dieses mit wissenschaftlichen Methoden die Wahrheit fördern möge, die im Gegensatz zu »internationalem Judentum« und »Bolschewismus« für die Deutschen »ein besonderes Ideal« darstelle. Karl Kurth, der mit der Leitung des Instituts betraut wurde, begann schließlich seine Antrittsrede zum Thema »Zeitungswissenschaft in der Universitas litterarum« mit der Behauptung, dass sich die Presse unter dem Einfluss des Nationalsozialismus auf ihren ursprünglichen »Wesenskern«, die Übermittlung objektiver Nachrichten, rückbesonnen hätte. Das Beispiel ist entnommen aus Kniefacz: Zeitungwissenschaft in Wien 1900–1945, a. a. O., S. 170 bzw. den dort angegebenen Quellen: Wien erhielt das 11. Hochschulinstitut für Zeitungswissenschaft, in: Zeitungswissenschaft, 17/6, S. 269–273; Zeitungswissenschaftliches Institut in Wien. Tagung der Zeitungswissenschaftler, in: Deutsche Presse, 1942, H. 32 (23. Mai), S. 111 f.; Die Zeitungswissenschaft marschiert. Eröffnung des Zeitungswissenschaftlichen Instituts in Wien, in: Der Zeitschriften-Verleger, 44. Jg., H. 19 (13. Mai 1942), S. 142 f. Vgl. dazu auch: Duchkowitsch, Wolfgang; Hausjell, Fritz; Semrad, Bernd (Hrsg.): Die Spirale des Schweigens. Zum Umgang mit der nationalsozialistischen Zeitungswissenschaft, 2. Aufl., Münster 2004. 10 In Österreich wurde das – wie oben geschildert – 1942 gegründete Institut für Zeitungswissenschaft zwar bald nach dem Krieg unter schwierigen Bedingungen wiedereröffnet, jedoch unter Umgehung der problematischen Vorgeschichte, indem man tradierte, das Institut sei aus der Gesellschaft für Zeitungskunde entstanden, also aus der Zeit vor dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland (vgl. Kniefacz: Zeitungwissenschaft in Wien 1900–1945, a. a. O., S. 199). 9
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Kommunikationswissenschaft
Immer wieder erwogen Kultusminister und Fakultäten die Auflösung der fachwissenschaftlichen Einrichtungen.« 11. Mit Ausnahme von München wurde – wohl um die ideologische Verstrickung des Faches mit der NS-Vergangenheit vergessen zu machen – nach dem 2. Weltkrieg an fast allen deutschsprachigen Standorten für das Fach nunmehr die Bezeichnung Publizistik gewählt. Doch auch der nunmehrigen Publizistikwissenschaft machte das weiterhin bestehende Dilemma zu schaffen, was Gegenstandsbereich und inhaltliche Ausrichtung des Fachs anbelangte. Löblich umreißt es wie folgt: »Auf der einen Seite haben Medienpraktiker und Studierende immer Berufsvorbereitung und Auftragsforschung erwartet, auf der anderen Seite verlangten die Universitäten wissenschaftliche Forschung und Lehre«. 12 Noch Mitte der 1970er Jahre, als das Fach vermehrt studentischen Zulauf fand, beklagte Noelle-Neumann, dass die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft in der akademischen Rangordnung »ganz unten« stehe. 13 Dass das Fach in weiterer Folge zumindest in seiner universitären Daseinsberechtigung nicht mehr bestritten wurde, hatte wohl nicht nur mit der rapide zunehmenden Studierendenzahl und dem Ansteigen von Fachprofessuren zu tun, sondern insbesondere mit jenem Geschehen, dass Löblich die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft 14 nennt. In ihrer gleichnamigen Dissertation zeigt die Autorin detailliert auf, wie die Publizistikwissenschaft im deutschsprachigen Raum von 1945 bis 1980, vor allem beeinflusst durch empirisch-sozialwissenschaftliche Arbeitsweisen nach USamerikanischem Vorbild, allmählich von einem geisteswissenschaftlich-normativ zu einem empirisch-sozialwissenschaftlich dominierten Fachbereich wurde. 15 Ins thematische Zentrum rückten damit verLöblich, Maria: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistikund Zeitungswissenschaft, Köln 2010, S. 21. 12 Vor diesem Hintergrund sieht Löblich (Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft, a. a. O., S. 24 f.) die Gründung der Deutschen Gesellschaft für Publizistik und Zeitungswissenschaft (DGPuZ) im Jahr 1963 bzw. der daraus 1972 erwachsenen Deutschen Gesellschaft für Publizistikund Kommunikationswissenschaft (DGPuK). 13 Vgl. Noelle-Neumann, Elisabeth: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft: ein Wissenschaftsbereich oder ein Themenkatalog?, in: Publizistik, 20. Jg. (1975), S. 743–748. 14 Vgl. Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft, a. a. O. 15 In den USA entwickelte sich die Kommunikationsforschung ab 1900 aus einem 11
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II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
mehrt aktuelle medienpolitische und medienpraktische Themen sowie die Generierung von Anwendungswissen. Zwar gelang es mit dieser Wende (auch) nicht, ein gemeinsames Fachverständnis zu formulieren, doch besteht seitdem hinsichtlich der empirisch-analytischen Ausrichtung der Kommunikationswissenschaft weitgehend ein impliziter Konsens. 16 Zum aktuellen status quo des Faches lässt sich demnach feststelvielschichtigen interdisziplinären Forschungsfeld. Im Zentrum des Interesses standen dabei nicht – wie bei der Zeitungskunde/Zeitungswissenschaft im deutschsprachigen Raum – Journalistenausbildung und die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Presse unter vor allem historischen und rechtlichen Gesichtspunkten, sondern die »wichtigsten Untersuchungsstränge bestanden aus politologischen Analysen zu öffentlicher Meinung, Propaganda und Medieninhalten, aus soziologischen Untersuchungen über den Stellenwert von Kommunikation im sozialen Leben und über die Zusammenhänge von Medien im sozialen Wandel sowie aus sozialpsychologischen Studien, die Medienrezeption und -wirkungen, interpersonaler und GruppenKommunikation sowie Propagandaeffekten nachgingen.« (Löblich, a. a. O., S. 295). Dabei wirkte sich der Aufschwung des Behaviorismus als »methodologisches Paradigma« in der Psychologie in den 1920er Jahren genauso auf die junge US-amerikanische Kommunikationsforschung aus wie das zeitgleiche Aufkommen positivistischer und quantitativer Forschungsleitbilder in Soziologie und Politikwissenschaft (vgl. Kap. III/11). In den 1950er Jahren seien – wie Jesse Delia schreibt – die Sozialwissenschaften in den USA von »objektivistischen Methodologien« geradezu beherrscht worden. (Vgl. Delia, Jesse G.: Communication Research. A History, in: Berger, Charles R.; Chaffee, Steven H. (Eds.): Handbook of Communication Science, Newbury Park 1987, S. 20–98, insb. S. 23–46). Vor diesem Hintergrund entwickelte sich in den späten 1940er und 1950er Jahren in den USA ein eigenständiger Forschungsbereich, der Kommunikationsforschung primär als Massenkommunikationsforschung verstand bzw. Kommunikationsgeschehen vor allem als kausal-lineare, medienvermittelte Wirkungsprozesse ansah. Ziel der neuen Institutes for Communication Research waren dementsprechend – wie Löblich anmerkt – »empirische Generalisierungen oder ›Gesetze‹ des Kommunikationsverhaltens, die durch Hypothesentestung mittels standardisierter Verfahren erarbeitet werden sollten. […] Die Präferenz für quantitative Daten, experimentelle Forschung und statistische Auswertung marginalisierte historische, kulturwissenschaftliche sowie nicht-statistische Verfahren.« (Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistikund Zeitungswissenschaft, a. a. O., S. 295 f.). 16 Das Selbstverständnispapier der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft (DGPuK) aus dem Jahre 2008 macht dies deutlich, wenn es dort programmatisch heißt: »Die Kommunikations- und Medienwissenschaft versteht sich als theoretisch und empirisch arbeitende Sozialwissenschaft mit interdisziplinären Bezügen.« (DGPuK: Kommunikation und Medien in der Gesellschaft. Leistungen und Perspektiven der Kommunikations- und Medienwissenschaft. Eckpunkte für das Selbstverständnis der Kommunikations- und Medienwissenschaft, Lugano 2008, S. 1)
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Kommunikationswissenschaft
len: Auch wenn die Kommunikationswissenschaft inzwischen »von den Studenten nachgefragt, von der Praxis im allgemeinen geschätzt und von den Nachbarfächern nicht nur geduldet [wird]« 17, besteht die Legitimation des Faches in erster Linie in der Ausbildungskompetenz und nicht in der Forschungsexzellenz. 18 Im Kap. VIII/10 werden wir darauf zurückkommen. Dass das Phänomen Kommunikation im Rahmen der Wissenschaften lange Zeit fast keinerlei Beachtung fand, hängt nach Merten nicht zuletzt auch damit zusammen, »weil man unterstellte, daß das, was alltäglich ist und scheinbar problemlos funktioniert [wie eben Kommunikation], auch problemlos erklärt werden kann, also wissenschaftlicher Analyse nicht lohnt.« 19 Je mehr man sich jedoch wissenschaftstheoretisch mit dem scheinbar banalen, jederzeit von jedermann ohne große Schwierigkeiten vollziehbaren Alltagsphänomen auseinanderzusetzen begann, desto deutlicher trat zu Tage, dass es sich genau umgekehrt verhält: »Gerade weil Kommunikation so einfach und ökonomisch einzusetzen ist, bleibt verdeckt, daß deren Analyse ungemeine Schwierigkeiten mit sich bringt.« 20 Die gegenwärtige Kommunikationswissenschaft beschäftigt sich – ganz allgemein formuliert – mit menschlichen Kommunikationsvorgängen, insbesondere mit jenen, die mittels moderner »Massenmedien« wie Buch, Zeitung, Zeitschrift, Radio, Film, Fernsehen, Internet, »Social Media« 21 vonstatten gehen. Dabei differiert der jeweilige inhaltliche Fokus an verschiedenen Universitäten zum Teil erheblich. Über den engeren Fachbereich hinaus bekannt sind Kon-
Bohrmann, Hans: Zur Geschichte des Faches Kommunikationswissenschaft seit 1945, in: Fünfgeld, Hermann; Mast, Claudia: Massenkommunikation. Ergebnisse und Perspektiven. Gerhard Maletzke zum 75. Geburtstag, Opladen 1997, S. 51–67, hier S. 65. 18 Vgl. dazu: Meyen, Michael: Wer wird Professor für Kommunikationswissenschaft und Journalistik? Ein Beitrag zur Entwicklung einer Wissenschaftsdisziplin in Deutschland, in: Publizistik, 49. Jg. (2004), S. 194–206, hier S. 204. 19 Merten, Klaus: Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Münster-Hamburg 1999, S. 15. 20 Merten: ebd., S. 15. 21 Damit werden Medien und Technologien bezeichnet, die die Nutzer über digitale Kanäle in der gegenseitigen Kommunikation sowie im Austausch von Informationen unterstützen. Beispiele dafür sind etwa soziale Netzwerke wie Facebook oder Twitter, Weblogs, Internet-Foren, Online-Spiele oder Foto- und Video-Sharing. 17
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II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
zepte wie das der »Schweigespirale« 22 von Noelle-Neumann oder das Diktum von Watzlawick: »Man kann nicht nicht kommunizieren« 23. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Kommunikationswissenschaft im Rahmen der universitären Fachbereiche einen rasanten Aufschwung genommen, sodass seit einigen Jahren die Vergabe der Studienplätze wegen der hohen Nachfrage von studentischer Seite mancherorts anhand von Auswahlverfahren bzw. Eignungstests durchgeführt wird. Die erwähnte unterschiedliche universitäre Verortung des Fachbereichs mag auch mit ein Grund sein, warum aktuell im Rahmen der Kommunikationswissenschaft weder eine allgemeine Theorie der Kommunikation noch ein verbindliches Verständnis von »interpersoneller« oder massenmedial vermittelter Kommunikation vorliegt 24; Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Bereitschaft, sich öffentlich zu einer bestimmten Ansicht zu bekennen, vielfach von der Mehrheitsmeinung abhängt. Grundannahme der in den 1970er Jahren erstmals vorgestellten Konzeption ist die Isolationsangst des menschlichen Individuums. Aus Sorge, sich gesellschaftlich zu isolieren, würden die meisten Menschen eher schweigen, als eine Meinung zu vertreten, von der sie annehmen, es handle sich um eine Minderheitsmeinung.Vor diesem Hintergrund definiert Noelle-Neumann »öffentliche Meinung« wie folgt: »Öffentliche Meinung ist die Meinung im kontroversen Bereich, die man öffentlich äußern kann, ohne sich zu isolieren.« (Noelle-Neumann, Elisabeth: Öffentliche Meinung. Die Entdeckung der Schweigespirale. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt/Main 1996, S. 91.) 23 Vgl. Watzlawick, Paul; Beavin, Janet; Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969, S. 53. Watzlawick et al. verweisen auf den Umstand, dass – auf einer bestimmten Beschreibungsebene – Kommunikation kein Gegenteil kennt, sondern unabdingbar ist. Wenn sich etwa zwei Menschen begegnen, ist es unausweichlich, dass sie sich zueinander irgendwie verhalten, gleichgültig, inwieweit die Beteiligten dabei – im gängigen Sinn – in Kommunikation treten oder sich bloß anschweigen. Wir kommen in Kapitel VIII/2 darauf zurück. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass Jürgen Ruesch diesen Gedanken schon 1951 – also 16 Jahre vor dem erstmaligen Erscheinen des Buches von Watzlawick et al. – formulierte (vgl. Ruesch, Jürgen; Bateson, Gregory (Hrsg.): Die soziale Matrix der Psychiatrie, Heidelberg 1995 (orig. 1951). 24 Vgl. dazu etwa: Burkart, Roland: Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder, 4. Aufl., Wien – Graz – Köln 2002; Kuncik, Michael; Zipfel, Astrid: Publizistik, 2. Aufl., Stuttgart 2005; Schmidt, Siegfried J.; Zurstiege, Guido: Kommunikationswissenschaft. Systematik und Ziele, Reinbek bei Hamburg 2007; Rühl, Manfred: Kommunikationskulturen der Weltgesellschaft. Theorie der Kommunikationswissenschaft. Wiesbaden, 2008; Weber, Stefan (Hrsg.): Theorien der Medien. Von der Kulturkritik bis zum Konstruktivismus, 2. Auflage, Konstanz 2010; Löffelholz, Martin; Quandt, Thorsten (Hrsg.): Die neue Kommunikationswissenschaft. Theorien, Themen, Berufsfelder im Internet-Zeitalter – Eine Einführung, Wiesbaden 2003. 22
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Kommunikationswissenschaft
ebenso, dass weiterhin kein common sense darüber existiert, was den eigentlichen Gegenstandsbereich des Faches ausmacht. Treffend fasst Rühl den status quo des Faches wie folgt zusammen: »Wir wissen viel über die Kommunikation, ohne recht zu wissen, was wir wissen.« 25 Gerhard Maletzke, einer der Pioniere des Faches im deutschsprachigen Raum, meint sogar: »Der Schuh, den sich die Kommunikationswissenschaft […] mit ihrem Namen angezogen hat, war und ist ihr um einige Nummern zu groß. Mit diesem Namen weckt sie Erwartungen, die sie nicht erfüllt und in absehbarer Zeit auch nicht erfüllen kann. […] [I]hr Name [ist] eigentlich zu groß, zu anspruchsvoll.« 26
Deshalb sollen vorerst nicht verschiedene kommunikationswissenschaftliche Ansätze präsentiert, sondern zuerst der Frage nachgegangen werden: Was lässt sich trotz der Vielzahl an unterschiedlichen Zugängen und Definitionen, quasi in einer ersten Näherung, Verbindliches und damit Verbindendes über den Phänomenbereich menschliche Kommunikation allgemein sagen? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit kann diesbezüglich vorerst festgestellt werden: Jedes Verständnis von Kommunikation, also jede Kommunikationstheorie, benötigt mindestens folgende 4 Grundelemente: • Subjekte der Kommunikation; • Objekte der Kommunikation; • Mittel bzw. Medien der Kommunikation; • (Sprachliche / sprachanaloge) Mitteilungssysteme der Kommunikation. 27 Wir können auch sagen: »Kommunikative Kompetenz« drückt sich aus: • in der Möglichkeit des Wissens um sich sowie des Bezuges zu sich selbst (bzw. zu seinesgleichen);
Rühl: Kommunikationskulturen der Weltgesellschaft, a. a. O., S. 11. Maletzke, Gerhard: Kommunikationswissenschaft im Überblick. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Opladen 1998, S. 19. 27 Vgl. dazu Pürer, Heinz: Publizistik- und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch, Konstanz 2003. 25 26
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im Vermögen, verschiedenste Entitäten – Subjekte wie Objekte – »außerhalb« von sich erkennen, mit ihnen in Kontakt treten und/oder diese handhaben zu können; in der Fähigkeit, verschiedene »Medien« zur (Selbst-)Mitteilung gebrauchen zu können; in der Beherrschung unterschiedlicher Mitteilungssysteme (sprachlicher wie sprachanaloger).
Dabei gilt: Diese Grundpotenzialitäten »kommunikativer Kompetenz« stehen in einem sich gegenseitig bedingenden/ergänzenden Verhältnis zueinander, das – und darauf gilt es zentral zu achten – kulturspezifisch ganz unterschiedliche (Gewichtungs-)Formen annehmen kann (vgl. Kap. III/10). Dem Dilemma des gegenwärtigen Fehlens eines verbindlichen Verständnisses von Kommunikation wollen wir weiters mittels einer ersten handhabbaren prinzipiellen Unterscheidung im Gebrauch des Begriffs Kommunikation begegnen. Diese stammt von Sibylle Krämer, die nicht nur – wie manch andere – bloß ein Standard–Lamento zur diffusen Begrifflichkeit Kommunikation vorträgt und dabei die verschiedenen Bedeutungsweisen nebeneinander zur Darstellung bringt, sondern darüber hinaus eine operationable grundsätzliche Unterscheidung im Gebrauch des Begriffs offeriert: Sie unterscheidet hinsichtlich Kommunikation zwischen einem technischen Übertragungsmodell und einem personalen Verständigungsmodell. »Im Diskurs der Gegenwart« – so die Autorin – »führt das Wort [Kommunikation] ein begriffliches Doppelleben; es tritt auf in zwei profilierten, jedoch gegenläufig zueinander stehenden Zusammenhängen, die wir hier das ›technische Übertragungsmodell‹ und das ›personale Verständigungsmodell‹ der Kommunikation nennen wollen.« 28
Dadurch wird eine erste Doppel-Aspektivität des Phänomens deutlich (auf weitere werden wir im Kap. VIII zurückkommen).Wichtig ist dabei hinzuzufügen, dass stets beide Aspekte zugleich gegeben sind, wenn auch unter Umständen mit jeweils ganz unterschiedlichen Gewichtungen.
28 Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt/Main 2008, S. 13.
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Kommunikationswissenschaft
Demnach ist KOMMUNIKATION (stets zugleich)
Vermittlung von ETWAS Technisches Übertragungsmodell
Begegnung mit JEMAND Personales Begegnungsmodell
Abb. 1: Doppel-Aspektivität von Kommunikation (nach Krämer 2008)
Weiters lässt sich feststellen, dass menschliche Kommunikation untrennbar mit dem Phänomen Sprache verbunden ist. Dies ist spätestens seit dem sogenannten linguistic turn 29 Anfang des 20. Jahrhunderts als erkenntnistheoretische Grundlage weithin anerkannt. Es lohnt sich, etwas näher zu betrachten, was damit gemeint ist. »Linguistic Turn« – auf Deutsch etwa zu übersetzen mit »Wende zur Sprache« oder »Sprachwende« – meint die Einsicht, dass menschliche Erkenntnis (und damit Kommunikation) stets unter »sprachlichen Bedingungen« geschieht. Nicht selten wird als Vergleich eine Parallele zur sogenannten »kopernikanischen Wende« bei Immanuel Kant gezogen. Damit wird Bezug genommen auf den Umstand, dass der Königsberger Philosoph nicht länger davon ausgeht, dass die äußeren Gegenstände an sich gegeben sind und von uns als solche erkannt werden können. Vielmehr sei es genau umgekehrt (deshalb Kopernikanische Wende): Menschliche Erkenntnis richte sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände nach der Form unserer Erkenntnis. Die Dinge erscheinen – demnach – nicht einfach wie sie sind, sondern ihre Erscheinung wird vom erkennenden Subjekt bzw. den damit gegebenen Anschauungsformen Zeit und Raum einerseits mitbedingt, andererseits produziert (konstruiert). Diese »Doppelaspektivität« (der Bedingtheit einerseits bzw. Kreativität andererseits) menschlichen Erkennens wird im Rahmen des linguistic turn nun speziell auf das Phänomen Sprache hin erDer Begriff linguistic turn wurde Anfang der 1950er Jahre von Gustav Bergmann, einem aus Österreich emigrierten Wissenschaftstheoretiker, der dem Wiener Kreis nahe stand, geprägt. Nach einer Zeit als Assistent Albert Einsteins in Berlin kehrte Bergmann nach Wien zurück, studierte Jus und emigrierte schließlich 1938 – mit Hilfe Einsteins – in die USA, wo er in den Feldern Philosophie und Psychologie arbeitete; allgemein gängig wurde der Terminus erst Ende der 1960er Jahre durch einen von Richard Rorty herausgegebenen Sammelband.
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sichtlich gemacht und gesagt: Alle menschliche Erkenntnis stellt stets sprachliche Erkenntnis dar. Sprache bzw. sprachliche Strukturiertheit bilden sowohl die Voraussetzung als auch die Grenze des Erkennens und Kommunizierens. Insofern bildet Sprache nicht nur ein bestimmtes Kommunikations-Mittel, das gegebenenfalls auch durch ein anderes ersetzt werden könnte, sondern darüber hinaus vor allem ein unverzichtbares Medium menschlicher Kommunikation. In diesem Sinne wollen wir – mit Rückriem 30 – von einem Mittel sprechen, wenn damit ein »Drittes« gemeint ist, das als Instrument dient, um einen bestimmten Zweck zu verwirklichen. Ein Mittel hat stets optionalen Charakter; d. h. es ist austauschbar, mitunter sogar verzichtbar. Ein Mittel gilt in dem Maße als effektiv, wenn es mit seiner Hilfe gelingt, den jeweiligen Zweck zu verwirklichen. In diesem Sinne sind alle sogenannten modernen Massen- »Medien« als Kommunikation-Mittel (etwa zur Informationsübertragung oder zur Unterhaltung etc.) zu bezeichnen. Ein Beispiel soll den Zusammenhang illustrieren: Ich beabsichtige eine Bergtour zu unternehmen. Zu diesem Zweck benütze ich das Kommunikationsmittel Radio, um Informationen zur aktuellen Wetterlage einzuholen. Ich könnte dazu jedoch auch andere Kommunikationsmittel in Anspruch nehmen, etwa eine Tageszeitung oder das Mobiltelefon, um den Wetterdienst anzurufen; gegebenenfalls wäre es sogar möglich, auf alle diesbezüglichen Kommunikationsmittel zu verzichten und mir zu sagen: »Bei diesem strahlend blauen Himmel ist es nicht nötig, sich zu erkundigen, ob in den kommenden Stunden ein Gewitter aufzieht.« Von Medium (Medien) soll – im gravierenden Unterschied dazu – in der Folge die Rede sein, um jenen »(Vermittlungs-)Raum« zu bezeichnen, innerhalb dessen die durch Mittel vermittelte Kommunikation überhaupt erst möglich ist. Im Unterschied zu Mitteln sind Medien nicht optional, sondern existenziell, das heißt, sie stellen eine conditio sine qua non dar. Ein solches Medium bildet etwa für Wasserlebewesen Wasser, für Landlebewesen Luft. Diese Medien sind keine optionalen Mittel, auf die eventuell auch verzichtet werden könnte, sondern unabdingVgl. Rückriem, Georg: Mittel, Vermittlung, Medium. Bemerkungen zu einer wesentlichen Differenz. Vortrag am Seminar für Grundschulpädagogik der Universität Potsdam Golm, 30. Oktober 2010, Onlinequelle: http://shiftingschool.wordpress. com/2010/11/18/medienbegriff/.
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bare Voraussetzungen aller Lebensäußerungen. »Mittel« und »Medium« sind zwar beide jeweils ein Drittes, Vermittelndes – aber das sind sie auf jeweils völlig anderen Bedeutungsebenen und in völlig verschiedener Weise. Kurz: Mittel sind (austauschbare) Zweckverwirklichungsinstrumente, Medien sind (unentbehrliche) Ermöglichungsbedingungen.
In diesem Sinne ist Sprache nie bloß menschliches KommunikationsMittel, mit Hilfe dessen wir uns verständigen und begegnen, sondern immer auch – ja, in erster Linie – Kommunikations-Medium, in dem wir sind. Sprache bildet den Ermöglichungsraum für menschliche Kommunikation und Erkenntnis. Eine menschliche Existenz »außerhalb« des Mediums Sprache ist nicht denkbar. Graphisch lässt sich der Zusammenhang so darstellen: KommunikationsMedium
Kommunikations-Mittel Sprache Subjekt 1
Subjekt 2 Sprache
Abb. 2: Kommunikations-Medium Sprache
Trotz der skizzierten Strukturelemente von menschlicher Kommunikation gilt weiterhin, was Roland Burkart, einer der angesehensten Vertreter des Faches, feststellt: »Was [der Kommunikationswissenschaft bislang] fehlt, das ist eine Perspektive, aus der heraus der eigentliche kommunikationswissenschaftliche Objektbereich erst Konturen gewinnt und in den man die Einsichten und Ergebnisse gleichsam ›einordnen‹ kann, damit ihr Stellenwert, vielleicht besser: ihr Problemzusammenhang erkennbar wird.« 31 Burkart: Kommunikationswissenschaft, a. a. O., S. 413. In ähnlicher Weise moniert Rühl: »Das Kommunikationswissen ist durch eine theorienübergreifende Gesamtkonzeption zu ordnen und zu konsolidieren, orientiert an menschlichen Kommunikationsproblemen, nicht an Beziehungen zwischen Zellen, Tieren und Maschinen«. (Rühl: Kommunikationskulturen der Weltgesellschaft, a. a. O., S. 11).
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31 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
Schon 1986 teilt der Medienhistoriker und Sozialtheoretiker John Durham Peters, inzwischen angesehener Professor für Communication Studies in Stanford, der scientific community eine – bemerkenswerte – anamnetische Wahrnehmung das universitäre Fach Kommunikationswissenschaft betreffend mit. Dabei beschreibt er den »State of the Art« des Faches unter dem Doppelaspekt der »institutionellen Blüte« einerseits und der »intellektuellen Armut« andererseits. Zum einen habe das Fach im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte – weltweit – einen enormen Aufschwung genommen und trete inzwischen international unter den verschiedensten »Labels« auf: Communication, Communication Research, Mass Communication Research, Zeitungswissenschaft, Journalism, Publizistik, Publizistikwissenschaft, Kommunikationswissenschaft, Medienwissenschaft etc. Zum anderen seien jedoch eigenständige bzw. verbindliche kommunikationswissenschaftliche Theorien, Methoden und Techniken bislang kaum entwickelt worden und der eigentliche Gegenstandsbereich der Disziplin werde noch immer eher administrativ denn konzeptiv definiert. Angesichts dessen nehme es nicht wunder, dass die Kommunikationswissenschaft bislang außerstande war, einen – so Renckstorf, Peters zitierend – »originären, eine akademische Disziplin wirklich begründenden ›body of knowledge‹ zu entwickeln.« 32 Peters schrieb zusammen mit Elihu Katz, einem weiteren bekannten Medienwissenschaftler und anderen Autoren 2003 das Buch Canonic Texts in Media Research. Bemerkenswert erscheint dabei vor allem der Untertitel: Are There Any? Should There Be? How About These? Die anhaltende Aktualität des von Peters vor einem guten Vierteljahrhundert geschilderten Sachverhalts wird deutlich, wenn Meyen und Löblich in der Einleitung ihres 2006 erschienenen Bandes Klassiker der Kommunikationswissenschaft konstatieren müssen: »Die Studierenden [der Kommunikationswissenschaft] beklagten ein generelles Theoriedefizit und sagten, sie würden nach sieben oder acht Semestern endlich wissen wollen, was das für ein Fach sei, für das sie sich eingeschrieben haben.« 33
Renckstorf, Carsten: Kommunikationswissenschaft als sozialwissenschaftliche Disziplin: Theoretische Perspektiven, Forschungsfragen, Forschungsansätze, Nijmegen 1995, S. 9. 33 Meyen, Michael; Löblich, Maria: Klassiker der Kommunikationswissenschaft. Fach- und Theoriegeschichte in Deutschland, Konstanz 2006, S. 7. 32
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Kommunikationswissenschaft
Dieses kommunikationswissenschaftliche Theoriedefizit resultiert jedoch nicht aus einem Mangel an Theorien. Deren gibt es genug. Es lässt sich aber ebenso wenig durch die Fülle, ja Überfülle an Theorien, Theoriefragmenten bzw. Theoremen erklären. Der zentrale dafür verantwortliche Umstand scheint vielmehr in einem Phänomen zu liegen, das Herzog Theorien-Konkurrenz 34 nennt. Was Herzog damit bezeichnet, lässt sich gut anhand eines Disputs im Fachbereich Sozialpsychologie zeigen. Dort ging es in den 1970er Jahren ebenfalls um das Problem der fachinternen Theorieninflation. Nachdem Moscovici (1972) Kritik an der ausufernden Fülle dortiger Theorien geübt hatte, versuchte Irle (1975) dem entgegenzuhalten, dass es auch in der Physik eine Reihe von Teiltheorien gebe. Mit Hilfe von Herzogs oben erwähntem Gedanken der Theorien-Konkurrenz macht Rothe den entscheidenden Unterschied zwischen physikalischen und psychologischen (kommunikationswissenschaftlichen) Theorien wie folgt deutlich: »Irle übersieht […], dass im Unterschied zur Physik psychologische [kommunikationswissenschaftliche] Theorien nicht für voneinander abgegrenzte Gegenstandsbereiche Gültigkeit beanspruchen, sondern sie ›werden mit dem Anspruch der Geltung für denselben Gegenstandsbereich formuliert, der auch von anderen Theorien abgedeckt werden will. Es ist also die Situation der Theorienkonkurrenz, die für den Zustand der Psychologie [Kommunikationswissenschaft] typisch ist‹ (Herzog 1984, 34).« 35
Anders ausgedrückt: Theorienkonkurrenz herrscht in dem Maße, als es – um bei den erwähnten Beispielen zu bleiben – keine grundlegende, allgemein anerkannte Theorie der Psyche oder von Kommunikation gibt. 36 Von daher rührt der vielfach konstatierte Sachverhalt, dass in kommunikationswissenschaftlichen Einführungswerken eine Reihe von theoretischen Ansätzen referiert werden, ohne dass daraus 34 Vgl. Herzog, Walter: Modell und Theorie in der Psychologie, Göttingen 1984, S. 34. 35 Rothe, Friederike: Zwischenmenschliche Kommunikation. Eine interdisziplinäre Grundlegung, Darmstadt 2006, S. 20 f. 36 »Eine Abgrenzung von Theorien unterschiedlicher Geltungsbereiche voneinander« – so Rothe mit Bezug auf Holzkamp – »›setzt gerade eine übergreifende einheitliche Grundbegrifflichkeit voraus, von der aus Konsens über den Geltungsbereich bzw. die Geltungsbedingungen der jeweiligen Theorie in Abhebung von anderen Theorien erreichbar ist. Eine solche klare Abgrenzung ist in der Psychologie [Kommunikationswissenschaft] bei ihrem geschilderten gegenwärtigen Zustand gerade nicht möglich (Holzkamp 1977, 5).‹« (Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 21)
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II. Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft: Der Stand der Dinge
ersichtlich würde, welcher dieser Ansätze nun zur Beschreibung eines bestimmten Phänomens besser geeignet wäre. Folge dieser strukturellen »Theorienbeliebigkeit« ist die Tendenz, dass sich die kommunikationswissenschaftlichen Standards vermehrt auf Methodologie beziehen, hier wiederum insbesondere auf empirische Prüfmethodik. 37 Dadurch kann es zu wissenschaftlichen Arbeiten kommen, »die unterschiedliche Theorien zur Erklärung verschiedener Aspekte von Befunden heranziehen, ohne die theoretische Inkompatibilität zu sehen, also ganz eklektizistisch vorgehen, und trotzdem alle wissenschaftlichen Standards erfüllen, denn diese beziehen sich ja nur auf die Methoden. Im Bereich der theoretischen Konzeptualisierung ist also (wenn zu offensichtliche logische Widersprüche vermieden werden) sozusagen ›alles möglich‹.« 38
Fürs erste gilt es demnach festzuhalten: Die Kommunikationswissenschaft lässt sich gegenwärtig am treffendsten wohl als Wissenschaft in statu nascendi bezeichnen. Woran es diesem jungen Fachbereich aktuell offenkundig noch ermangelt, ist eine umfassende Theoriebildung bzw. eine allgemeine Theorie der Kommunikation, die der Methodik vorgeordnet ist. 39 Im Kapitel VIII werden wir uns damit eingehend auseinandersetzen. Diese anamnetische Zustandsbeschreibung der Kommunikationswissenschaft wirft eine Reihe von Fragen auf: Was macht diesen universitären Fachbereich – trotz bislang diffusem Objektbereich – für Studierende so anziehend? Wie lässt sich dem skizzierten Theoriedefizit des Faches beikommen? Handelt es sich im Falle der Kommunikationswissenschaft überhaupt um eine wissenschaftliche Disziplin im strengen Sinn oder ist dies nicht eher ein Ort der Ausbildung für angehende Medienberufler und PR-Designer? Demgegenüber scheint die Quantenphysik als Teil der »harten Naturwissenschaft« von ganz anderer Substanz. Dennoch wird sie selbst von manchen Nobelpreisträgern der Physik als unvollständig oder Vgl. dazu generell: Löblich, Maria: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Köln 2010. 38 Holzkamp, Klaus: Die Überwindung der wissenschaftlichen Beliebigkeit psycholgischer Theorien durch die Kritische Psychologie, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie 8 (1977), S. 1–22, hier S. 5. 39 Vgl. Burkart: Kommunikationswissenschaft, a. a. O., S. 13; Rühl: Kommunikationskulturen in der Weltgesellschaft, a. a. O., S. 13. 37
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Kommunikationswissenschaft
vorläufig angesehen. 40 (Die Einwände der Pioniere der Quantenphysik gegen die weitere Entwicklung haben wir schon in Kapitel I besprochen.) Grund für dieses Unbehagen liegt in der unbestreitbaren Tatsache, dass die Quantenphysik den Rahmen der Aristotelischen Logik sprengt. Es gibt daher bis heute keine »kanonische« Form der Darstellung, der sich die Mehrzahl der akademischen Lehrer anschließen könnte. Angesichts dieser Tatsachen ist es verständlich – wenn auch nicht entschuldbar – dass sich manche akademische Lehrer auf den unumstrittenen Teil beschränken und den eigentlich interessanten Teil einfach unterdrücken, weil er nicht widerspruchsfrei dargestellt werden kann. So kommt es dazu, dass man in der Gemeinschaft der Physiker zwei Gruppen erkennen kann, die als »arbeitende« und »grübelnde« Physiker zu bezeichnen wären (der Begriff »working physicist« ist in diesem Zusammenhang durchaus gebräuchlich). »Arbeitende Physiker«, die die Methode der Physik anwenden, haben keinerlei Schwierigkeiten mit der Quantenmechanik. (Allerdings sind ihnen die weitreichenden Konsequenzen für die Frage der Abbildung einer »Wirklichkeit« oft gar nicht bewusst!) Daher kommt es auch, dass die Quantenmechanik Grundlage technischer Entwicklungen werden konnte. Erst beim Versuch, die in der Praxis problemlose Methode hinsichtlich ihrer Beschreibung einer »Wirklichkeit« zu interpretieren, treten Konflikte auf. 41 Um diese »Dennochs« von Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft relevant in den Blick nehmen zu können, scheint ein geistesgeschichtlicher Rückblick unabdingbar.
So hat etwa Gerard ’t Hooft, der 1999 den Physik-Nobelpreis gemeinsam mit M. Veltmann »für ihre entscheidenden Beiträge zur Quantenfeldtheorie und speziell den Renormierungsbeweis der Theorie der elektroschwachen Wechselwirkungen« erhalten hat, am 13. November 2011 in Wien einen Vortrag zum Thema Quantum Mechanics from Classical Logic gehalten, in dem er seine Unzufriedenheit mit der derzeitigen Formulierung der Quantenphysik zum Ausdruck gebracht hat. 41 Siehe Pietschmann, Herbert: Phänomenologie der Naturwissenschaft. Wissenschaftstheoretische und philosophische Probleme der Physik, 2. Auflage, Ibera/European Univ. Press, Wien 2007, S. 220 f. 40
35 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
1.
Grundsätzliches über neue Konzepte in Wissenschaft und Forschung
Versuchen wir vorerst ein Verständnis dafür zu gewinnen, wie grundsätzlich neue Konzepte in Wissenschaft und Forschung Platz greifen, zum Durchbruch kommen. 1 Als Gewährsmann soll dabei Werner Heisenberg fungieren, der bekanntlich einen solchen Paradigmenwechsel nicht nur selbst »hautnah« miterlebt, sondern sogar mit initiiert – und schließlich auch theoretisch darüber reflektiert hat. In seinem Beitrag Änderungen der Denkstruktur im Fortschritt der Wissenschaft 2, den er 1969, also auch in einer Umbruchzeit, vor der Vereinigung deutscher Wissenschaftler in München gehalten hat, macht Heisenberg vorerst deutlich, dass Veränderungen und wechselnde Deutungen in der Wissenschaft normalerweise gerade nichts Außergewöhnliches darstellen. »Wer in der Wissenschaft arbeitet« – so Heisenberg wörtlich – »ist gewöhnt, im Laufe des Lebens neue Erscheinungen oder neue Deutungen von Erscheinungen kennenzulernen, vielleicht sogar selbst zu entdecken. Er ist darauf vorbereitet, sein Denken mit neuen Inhalten zu füllen. Er kann also gar nicht konservativ im üblichen Sinne des Wortes an Altgewohntem festhalten wollen. Daher geht es beim Fortschritt der Wissenschaft im allgemeinen ohne allzu große Widerstände und Streitigkeiten ab.« 3
Mit anderen Worten: Die in der Wissenschaft Tätigen rechnen für gewöhnlich ganz selbstverständlich damit, dass der status quo, wie er ihnen in einem bestimmten Wissenschaftsbereich aktuell entgegen Für einen Überblick über die gängigen Ansätze der Wissenschaftstheorie siehe Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O. 2 Zitiert nach Heisenberg, Werner: Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze, 3. Aufl., München 1976, S. 275–287. 3 Heisenberg: ebd., S. 283. 1
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Grundsätzliches über neue Konzepte in Wissenschaft und Forschung
tritt, gerade nicht der Weisheit letzter Schluss ist, sondern vielmehr bloß der momentane Erkenntnisstand des betreffenden Gegenstandsbereichs. Denken wir diesbezüglich etwa daran, wie sehr sich – allein im vergangenen Jahrzehnt – das Wissen im Bereich der Genom-Sequenzierung verändert hat, ja geradezu explodiert ist, oder in welch unabsehbarer Weise sich der Fachbereich Kommunikationswissenschaft im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte inhaltlich erweitert hat, etwa seit 1969, als Werner Heisenberg in München besagten Vortrag hielt und an der Universität Salzburg im selben Jahr das Institut für Publizistik und Kommunikationstheorie gegründet wurde; vorerst kaum zur Kenntnis genommen: heute – was die Studierendenzahlen anbelangt – einer der größten Fachbereiche der Universität. »Anders aber ist es« – so Heisenberg weiter – »wenn neue Gruppen von Phänomenen Änderungen in der Struktur des Denkens erzwingen.« 4 Mit anderen Worten: wenn neue Gruppen von Phänomenen offenkundig nicht nur eine neue Methode in der angestammten Struktur des Denkens erforderlich zu machen scheinen, sondern zudem nach einer grundsätzlich neuen Struktur des Bedenkens verlangen. Heisenberg weiß – als einer der Begründer der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie –, wovon er spricht, denn er hat selbst miterlebt, dass damit selbst sehr bedeutende Physiker die größten Schwierigkeiten hatten. Diese »größten Schwierigkeiten« ergeben sich seines Erachtens deshalb, da »die Forderung nach der Änderung der Denkstruktur […] das Gefühl erwecken [kann], es solle einem der Boden unter den Füßen weggezogen werden.« 5 Heisenberg geht sogar so weit, größtes Verständnis für all jene aufzubringen, die die angestammte Struktur des Denkens nicht zu verlassen vermögen, in dem er – gleichsam als advocatus traditionae – zu bedenken gibt: »Ein Gelehrter, der jahrelang mit einer von Jugend auf gewöhnten Denkstruktur große Erfolge in seiner Wissenschaft errungen hatte, kann nicht bereit sein, einfach aufgrund einiger neuer Experimente diese Denkstruktur zu ändern. Im günstigsten Fall kann hier nach einer jahrelangen gedanklichen Auseinandersetzung mit der neuen Situation eine Bewußtseinsveränderung eintreten, die den Weg in die neue Art des Denkens öffnet. Ich glaube, man kann die Schwierigkeiten an dieser Stelle gar nicht hoch genug einschätzen. Wenn man die Verzweiflung erlebt hat, mit der in der Wissenschaft kluge und konziliante Menschen auf die Forderung nach einer Änderung der Denkstruktur reagieren, kann man sich im Gegenteil eigentlich 4 5
Heisenberg: ebd., S. 283. Heisenberg: ebd.; S. 283.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
nur wundern, daß solche Revolutionen in der Wissenschaft überhaupt möglich gewesen sind.« 6
Max Planck hat das drastisch formuliert: »Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass ihre Gegner allmählich aussterben und die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist.« 7
Wir sollten uns also nicht wundern, wenn die in diesem Band dargebotenen Überlegungen zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation nicht mit offenen Armen empfangen werden. Wir sollten vielmehr darüber staunen, wenn sich eine erkleckliche Zahl an Lesern und Leserinnen findet, die den Ausführungen etwas abzugewinnen vermag. Doch zurück zu Heisenberg: im weiteren Verlauf seiner Darlegungen kommt er schließlich darauf zu sprechen, wie Änderungen der Denkstruktur im Fortschritt der Wissenschaft seines Erachtens dann doch zustande kommen. Gerade diese Mutmaßungen interessieren uns ja besonders, lassen sich diese doch gegebenenfalls in Analogie zu unserem Vorhaben bringen. Zunächst erwähnt Heisenberg zwei – mehr oder weniger – naheliegende Antworten, die jedoch beide seines Erachtens nicht zutreffend sind. Da ist auf der einen Seite die vielleicht nächstliegende Antwort: Änderungen in der Denkstruktur setzen sich deshalb durch, »weil es in der Wissenschaft ›richtig‹ und ›falsch‹ gibt und weil die neuen Vorstellungen eben richtig sind und die alten falsch.« 8 Demzufolge müsste sich in der Wissenschaft immer das Richtige durchsetzen; was aber keineswegs der Fall ist. 9 Für noch unzutreffender hält Heisenberg schließlich die Auffassung, ausschlaggebend für den Erfolg revolutionärer Denkstrukturänderungen in der Wissenschaft seien maßgebende Autoritäten in den Heisenberg: ebd., S. 284. Planck, Max: Wissenschaftliche Selbstbiographie, Johann Ambrosius Barth Verlag, Leipzig 1948, S. 22. 8 Heisenberg: Schritte über Grenzen, a. a. O., S. 284. 9 Heisenberg erwähnt in diesem Zusammenhang den Vorgang, dass die – nach heutiger Ansicht – richtige Vorstellung vom heliozentrischen Planetensystem, die Aristarch von Samos (310–230 v. Chr.) entwickelt hatte, zugunsten der (nach gegenwärtiger Sicht falschen) geozentrischen Auffassung des Claudius Ptolemäus (um 100– 160 n. Chr.) aufgegeben wurde. 6 7
38 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Grundsätzliches über neue Konzepte in Wissenschaft und Forschung
betreffenden Disziplinen; namentlich erwähnt er dabei Albert Einstein. »Denn« – so unser Gewährsmann wörtlich – »die inneren Widerstände gegen eine Änderung der Denkstruktur sind viel zu stark, um durch die Autorität eines Einzelnen überwunden zu werden.« 10 Seine Begründung, warum sich eine neue Denkstruktur a la longue dann doch durchsetzt, lautet: »Weil die in der Wissenschaft Tätigen einsehen, daß sie mit der neuen Denkstruktur größere Erfolge in ihrer Wissenschaft erringen können als mit der alten; daß sich das Neue als fruchtbarer erweist.« 11 Kurz: Ein paradigmatisch-neuer Ansatz hat in dem Maße die Chance, sich am »Markt der Ansätze« durchsetzen, als es mit ihm gelingt, mehr Phänomene oder die gegebenen Phänomene besser erklären zu können. Zuletzt verweist Heisenberg auf den Umstand, dass seines Erachtens in der Geschichte der Physik niemals der Wunsch bestanden hat, das bestehende Erkenntnis-Gebäude radikal umzubauen. »Vielmehr steht am Anfang immer ein sehr spezielles, eng umgrenztes Problem, das im traditionellen Rahmen keine [befriedigende] Lösung finden kann. Die Revolution wird herbeigeführt durch Forscher, die dieses spezielle Problem wirklich zu lösen versuchen, die aber sonst in der bisherigen Wissenschaft so wenig wie möglich ändern wollen.« 12
Vielleicht können wir so sagen: Grundlegende Denkstrukturänderungen in der Wissenschaft werden herbeigeführt durch ForscherInnen, die sich anfänglich mit einem ganz spezifischen Detail-Problem herumschlagen und dabei in zunehmendem Maße realisieren, dass dieses spezielle Problem auf herkömmliche Art prinzipiell nicht befriedigend gelöst werden kann. Dadurch stellen sie die angestammte Wissenschaft in keiner Weise in Frage, vielmehr sehen sie darin die unabdingbare Voraussetzung, um die neue Denkstruktur überhaupt entwickeln zu können. »Gerade der Wunsch, so wenig wie möglich zu ändern«, bemerkt Heisenberg, »macht deutlich, daß es sich bei dem Neuen um einen Sachzwang handelt; daß die Änderung in der Denkstruktur von den Phänomenen, von der Natur selbst erzwungen wird, nicht von irgendwelchen menschlichen Autoritäten.« 13 Vor diesem Hintergrund 10 11 12 13
Heisenberg: ebd., S. 284. Heisenberg: ebd., S. 284. Heisenberg: ebd., S. 285. Heisenberg: ebd., S. 285.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
beantwortet Heisenberg die Frage »Wie macht man eine Revolution [in der Wissenschaft]?« 14 mit den Worten: »Indem man versucht, so wenig wie möglich zu ändern. Wenn man nämlich erkannt hat, daß es ein Problem gibt, das sich im traditionellen Rahmen nicht lösen läßt, dann muß man, so scheint es, alle Kräfte auf die Lösung nur dieses einen Problems konzentrieren, ohne zunächst an Änderungen in anderen Bereichen zu denken. Dann ist – wenigstens in der Wissenschaft – die Wahrscheinlichkeit am größten, daß daraus eine echte Revolution entstehen kann, sofern überhaupt die Notwendigkeit für neue Fundamente besteht.«
Mit anderen Worten: Neue Denkstrukturen entstehen nicht dadurch, dass geniale Forscher danach streben, einen neuen »revolutionären« Ansatz zu finden, sondern indem die – auf konventionellem Wege nicht länger relevant erklärbaren – Phänomene gleichsam selbst die Forscher (herbei)rufen, auf dass sie sich mit einem Problem beschäftigen, das sich im traditionellen Rahmen nicht lösen lässt. Man denke etwa daran, mit wie viel Widerstreben Max Planck selbst seine – wenn man so sagen darf – geniale »transklassische« Quantenhypothese zur Kenntnis nahm, die ihm gerade durch den Fortschritt in der klassischen Physik aufgenötigt wurde; mit wie viel Widerstand in weiterer Folge die Verfechter der Quantentheorie konfrontiert waren, selbst von jenen Leuten, die Maßgebliches zu deren Formulierung beigetragen hatten. Umgekehrt könnte man vermuten, dass der Fortschritt der Wissenschaft ohne Sprünge kontinuierlich verläuft. Dagegen wehrt sich Ludwig Boltzmann im Nachruf auf seinen Lehrer Stefan, wenn er sagt: »Der Laie stellt sich da vielleicht die Sache so vor, dass man zu den aufgefundenen Grundvorstellungen und Grundursachen der Erscheinungen immer neue hinzufügt, und so in kontinuierlicher Entwicklung die Natur immer mehr und mehr erkennt. Diese Vorstellung ist aber eine irrige. Die Entwicklung der Theoretischen Physik war vielmehr stets eine sprunghafte. Oft hat man eine Theorie durch Jahrzehnte, ja durch mehr als ein Jahrhundert immer mehr entwickelt, so dass sie ein ziemlich übersichtliches Bild einer bestimmten Klasse von Erscheinungen bot. Da wurden neue Erscheinungen bekannt, die mit dieser Theorie in Widerspruch standen. Vergeblich Ursprünglich wollte Heisenberg (vgl. ebd. S. 275) seinem Vortrag eben diesen Titel geben, aber dann hatte er – wie er selbst sagt – »Angst davor, daß Sie etwas zu viel von meinem Vortrag erwarten könnten, vielleicht auch davor, dann die falschen Hörer zu bekommen.«
14
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Die Quantentheorie als Frucht der klassischen Physik
suchte man sie diesen anzupassen. Es entstand ein Kampf zwischen den Anhängern der alten und denen einer ganz neuen Auffassungsweise, bis endlich letztere allgemein durchdrang.« 15
Dieser von Boltzmann angesprochene »Kampf« führt allerdings selten dazu, dass eine Seite die andere überzeugt, sondern dass sich eine radikal neue wissenschaftliche Sichtweise schließlich dadurch durchsetzt, »dass die Gegner allmählich aussterben und die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist«, um den oben erwähnten Ausspruch von Max Planck noch einmal zu bemühen.
2.
Die Quantentheorie als Frucht der klassischen Physik
Am Ende des 19. Jahrhunderts gab es unter Physikern die weit verbreitete Ansicht, die Physik sei eine im Wesentlichen abgeschlossene Wissenschaft. Nur einige Detailfragen seien noch zu klären. Bekannt ist die Anekdote um Max Planck in seiner Schulzeit. Planck hatte absolutes Gehör und war neben seiner Begabung für Physik ein begnadeter Klavierspieler; er erwog, Musiker zu werden. Vor dem Abitur bat er seinen Münchner Physiklehrer, Philipp von Jolly, um Rat bei der Auswahl des Studiums. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend meinte dieser, dass in der Physik schon fast alles erforscht sei, und es nur noch gelte, einige unbedeutende Lücken zu schließen. Gottlob entschied sich Planck für die Physik, da ihm die Musik doch zu wenig Berufsperspektive zu bieten schien. (Er blieb ihr aber treu und musizierte später oft mit Albert Einstein, der Geige spielte.) Dass einige dieser Detailfragen oder unbedeutenden Lücken das gesamte Gebäude der klassischen Physik ins Wanken zu bringen vermochten und dass ausgerechnet Max Planck einer der Urheber dieser Erschütterung werden sollte, wagte damals wohl niemand anzunehmen. Die klassische Physik war ein wohlgeordnetes, elegantes und mathematisch durchdachtes Gebilde. Eine Wurzel dieses Erfolges war die Idee, mittels der Physik nicht die Welt zu beschreiben, wie wir sie erfahren, sondern ein vereinfachtes Modell zu konstruieren,
15 Broda, Engelbert: Ludwig Boltzmann – Mensch, Physiker, Philosoph. Deuticke Verlag, Wien 1955.
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das mathematisch handhabbar ist; Carl Friedrich von Weizsäcker, in Physik und Philosophie gleichermaßen bewandert, beschreibt dies so: »Galilei tat seinen großen Schritt, indem er wagte, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Er stellte Gesetze auf, die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind. So öffnete er den Weg für eine mathematische Analyse, die die Komplexheit der wirklichen Erscheinungen in einzelne Elemente zerlegt.« 16
Wir werden später (Kap. VII) zwischen »Naturnotwendigkeit« und »Naturgesetzen« unterscheiden. In der Natur können wir Notwendigkeiten beobachten, zum Beispiel, dass alle Körper fallen, wenn sie nicht daran gehindert werden. Die Komplexität solcher Erfahrungen wird von Menschen analysiert und mathematisch in »Naturgesetzen« gefasst. Dies hat aber nur dann Sinn, wenn zugleich eine Methode angegeben werden kann, wie man aus dem vereinfachten Modell auf die Welt unserer Erfahrung zurückschließt. Dies geschieht im »Verfahren der sukzessiven Approximation«. Je besser wir an die Beschreibung unserer Lebenswelt 17 herankommen wollen, umso mehr Schritte der Approximation sind notwendig. Es ist aber immer mitzudenken, dass eine vollkommene Beschreibung der Lebenswelt nicht möglich ist und dass eine solche Annäherung auch nicht in jedem Fall erfolgreich durchgeführt werden kann. In diesem Sinne kann die Naturwissenschaft nicht als Erfahrungswissenschaft bezeichnet werden, sie ist vielmehr eine experimentelle Wissenschaft. Experimente müssen diese Vereinfachungen im Auge haben und eine Extrapolation dorthin ermöglichen. Ein Beispiel möge dies veranschaulichen. Galileis Fallgesetz behauptet – im Gegensatz zu dem früheren Gesetz von Aristoteles – dass alle Körper gleich schnell fallen. Das ist durch jede Erfahrung sofort zu widerlegen, weil zum Beispiel Blätter im Wald langsamer fallen als Kastanien oder Nüsse. Im Modell Galileis wurde der Luftwiderstand weggelassen, nur im Vakuum gilt das Gesetz. Also muss ein Experiment, das dieses Gesetz überprüft, so beschaffen sein, dass der Luftwiderstand wenig Rolle spielt und auf das Vakuum extrapoliert werden kann. Diese grundlegenden Voraussetzungen der Na16 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Die Tragweite der Wissenschaft. Hirzel Verlag, Stuttgart 1976. S. 107. 17 Als »Lebenswelt« bezeichnen wir die Welt, in der wir handeln.
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Die Quantentheorie als Frucht der klassischen Physik
turwissenschaft werden leider oft übersehen oder ignoriert! (Bei einem der Apollo-Flüge zum Mond hat ein Astronaut vor laufender Fernseh-Kamera eine Daunenfeder und ein Bleikügelchen fallen lassen, um zu demonstrieren, dass sie im Vakuum des Mondes tatsächlich gleich schnell fallen.) Solche Vereinfachungen immer vorausgesetzt, war die Physik am Ende des 19. Jahrhunderts klar aufgebaut: Es gab Kontinuumsphysik (z. B. Elektrodynamik und Wellenphänomene) und Physik (diskreter) Massenpunkte (z. B. Himmelsmechanik und Stoß/Streuung). Dazu kam die Physik starrer Körper in Form der Kreiseltheorie. Alle diese Gebiete basierten auf der klassischen Mechanik; selbst elektromagnetische Phänomene wurden mechanik-analog gedacht (darum sprechen wir heute noch von »Spannung« in der Elektrizitätstheorie). 18 So elegant waren die mathematischen Formulierungen (z. B. von Lagrange oder Hamilton), dass sich schon am Ende des 18. Jahrhunderts einer der Großen auf diesem Gebiet, Pierre-Simon Laplace, dazu hinreißen ließ zu behaupten, wenn es einen Geist (den so genannten Laplace’schen Dämon) gäbe, der zu einem einzigen Augenblick sämtliche Orte und Geschwindigkeiten aller Teilchen des Universums kennte, so könnte dieser aus einer einzigen Formel berechnen, was jemals geschehen ist und was jemals geschehen wird. Das mechanistische Denken hatte seinen ersten Höhepunkt erreicht. Schon im Jahre 1897, als J. J. Thomson das Elektron entdeckt hatte, wurde diese klassische Ordnung erstmals gestört. Das Elektron trug die kleinste elektrische Ladung, die experimentell erreicht werden kann. Sie hat einen ganz bestimmten Wert – die so genannte »Elementarladung« –, der nicht unterschritten werden kann. Jede beliebige elektrische Ladung ist immer ein ganzzahliges Vielfaches dieser Elementarladung. 19 Damit konnte die Elektrizitätslehre streng genommen nicht mehr zur Kontinuumsphysik gerechnet werden! In heutiger Sprechweise heißt dies, dass die elektrische Ladung quantisiert ist. Weil aber die üblicherweise auftretenden Ladungen riesige Vielfache der Ele-
Die Sonderstellung der Wärmelehre ist beschrieben in Pietschmann, Herbert: Das Ganze und seine Teile. Neues Denken seit der Quantenphysik, Europ.Univ.Press/Ibera Verlag, Wien 2013. 19 Die Entdeckung der Quarks mit Drittelladungen ändert daran nichts, da Quarks nicht als freie Teilchen beobachtet werden können. 18
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mentarladung enthalten, ist diese Quantisierung in der Alltagsphysik unmessbar. Die elektrische Elementarladung ist eben entsprechend klein. Nach der Entdeckung des Elektrons stellte sich die Frage nach dem Aufbau des Atoms. Experimentell war sichergestellt, dass Atome im Grundzustand elektrisch neutral und (meist) kugelförmig sind; J. J. Thomson entwarf daher ein Atommodell, wonach die Atome positiv geladene Kügelchen sind, in denen die negativ geladenen Elektronen stecken. Positive und negative Ladung sollten einander gerade kompensieren, sodass das ganze Atom neutral wäre. Dieses Thomson’sche Modell wird manchmal sehr anschaulich als »Rosinenkuchen-Modell« bezeichnet, weil die Elektronen wie Rosinen im (kugelförmigen) positiven Teig stecken. Historisch wird der Beginn der Quantenphysik auf das Jahr 1900 gelegt; Max Planck hatte damals erkannt, dass elektromagnetische Strahlung – und damit auch das Licht – immer in gleichen Portionen, den sogenannten »Quanten«, emittiert und/oder absorbiert wird. Planck interpretierte dies aber noch vorsichtig als Eigenschaft der Wechselwirkung von Strahlung und Materie; weitergehende Konsequenzen wollte er daraus nicht ableiten. Erst Albert Einstein schlug 1905 vor, dem Licht (und damit jeder elektromagnetischen Welle) auch Teilcheneigenschaften zuzuschreiben. Er konnte damit Experimente erklären 20, die im reinen Wellenbild unverstanden bleiben mussten. Der Physik-Didaktiker Roman Sexl schreibt darüber: »Die Theorie der Lichtquanten war ein kühner Schritt. Er bedeutete eine völlige Abwendung von der Wellentheorie des Lichtes, zu der die Physik in jahrhundertelanger Arbeit gelangt war. […] Die klassische Physik ging von der Vorstellung aus, dass Körper aus einzelnen Atomen (›diskret‹) aufgebaut sind, während Licht eine kontinuierliche Welle bildet. Einstein stellte sich die Frage, ob nicht auch Licht aus diskreten Teilchen, den Lichtquanten, bestehen könnte. Dadurch versuchte er eine Asymmetrie aus unserer Naturbeschreibung zu eliminieren.« 21
Tatsächlich war Einsteins Lichtquanten-Hypothese so kühn, dass sie selbst von Max Planck nicht akzeptiert werden konnte. Noch im Jahre Es war der so genannte photoelektrische Effekt, für dessen theoretische Erklärung Einstein 1921 den Nobelpreis erhielt. 21 Sexl, Roman: Albert Einstein, wie seine Theorien die Physik auf den Kopf gestellt haben, in: Bild der Wissenschaft 3 (1979), S. 53. 20
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Die Quantentheorie als Frucht der klassischen Physik
1913 schrieb er in dem Antrag, Albert Einstein in die Preußische Akademie der Wissenschaften aufzunehmen: »Daß Einstein in seinen Spekulationen gelegentlich auch einmal über das Ziel hinausgeschossen haben mag, wie zum Beispiel in seiner Lichtquantenhypothese, wird man ihm nicht allzusehr anrechnen dürfen. Denn ohne einmal ein Risiko zu wagen, läßt sich auch in der exaktesten Wissenschaft keine wirkliche Neuerung einführen.« 22
Weil Teilchen- und Welleneigenschaften einander direkt widersprechen, nannte Einstein seinen Vorschlag zunächst einen »heuristischen Gesichtspunkt«. In seinem berühmten Vortrag am 21. September 1909 in der Andräschule in Salzburg vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte sagte er, die Teilchentheorie des Lichtes enthalte in einem Punkt mehr Wahres als die Wellentheorie! Damit hatte er einen neuen Widerspruch in die Physik gebracht, der sich als unauflöslich erweisen sollte. (Später wandte Einstein sich allerdings von den neuen Entwicklungen ab und wollte sie nicht mehr mittragen.) Der Todesstoß für die klassische Vorstellung vom Atom kam im Jahre 1911, als Ernest Rutherford mittels Streuexperimenten feststellte, dass sich die positive Ladung des Atoms in einem winzig kleinen »Atomkern« konzentriert findet. Durch die Entdeckung des Atomkerns war einerseits ein wichtiger Schritt zum Verständnis des Aufbaus der Materie getan, andererseits aber die Atom-Vorstellung in eine tiefe Krise gestürzt. Während das Thomson’sche »Rosinenkuchen-Modell« noch diskrete Aspekte (die »punktförmigen« Elektronen) mit kontinuierlichen (dem positiven Atomkörper) vereinte, war nun der Kontinuums-Aspekt verlorengegangen; die kontinuierliche Erfüllung des Atoms durch die positive Ladung musste ersetzt werden durch den Atomkern, der nach damaligen Möglichkeiten durchaus ebenfalls »punktförmig« angesehen werden musste! Damit war es aber unmöglich, ein statisches Modell des Atoms beizubehalten. Rutherford sah sich gezwungen, das Atom ähnlich einem kleinen Planetensystem vorzustellen, wobei die (leichten) Elektronen auf Bahnen um den schweren Atomkern kreisten. Innerhalb des mechanistischen Denkens schien dies die einzige Möglichkeit, wenn es auch Schwierigkeiten gab, die Stabilität eines solchen »Planetensystems« zu erklären. 22
Internetquelle: kworkquark.desy.de/lexikon/lexikon.planck/1/.
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Um diese Schwierigkeiten zu beheben, beauftragte Rutherford einen jungen, vielversprechenden Assistenten, sich Verbesserungen zu überlegen. Es war Niels Bohr, der daraufhin als Ad-hoc-Hypothese einfach versuchte, grundlegende Gedanken der Quantenphysik seit Max Planck und Albert Einstein auf das Rutherford’sche Atom-Modell zu übertragen. Das Ergebnis war das sogenannte »Bohr’sche Atommodell«, eine ziemlich willkürliche Zusammenschau des mechanistischen Planetenmodells mit der Quantenphysik. Die Historiker David Kaiser und Angela Creager schreiben dazu: »Niels Bohr schuf ein Atommodell, das in nahezu jeder Hinsicht falsch war, das jedoch die quantenmechanische Revolution inspirierte.« 23 Diese Tatsache kann nicht genug betont werden! Das Bohr’sche Atom-Modell widerspricht hinsichtlich einiger seiner quantitativen Voraussagen dem Experiment. Es hat daher lediglich historische Bedeutung und beschreibt in keiner Weise die tatsächliche Physik des Atoms. Bei der weiteren Entwicklung der Quantenphysik musste die mechanistische Vorstellung nach und nach aufgegeben werden. Der Widerspruch zwischen kontinuierlichen (Wellen) und diskreten (Teilchen) Aspekten war nicht zu eliminieren und ging unter dem Begriff »Komplementarität« als wesentliches Element in die Quantenphysik ein (vgl. Kap. VI/1a). Erwin Schrödinger, der die Grundgleichung der Quantenphysik gefunden hatte, konnte das nicht akzeptieren. In seiner Antrittsvorlesung an der Universität Graz sagte er: »Das reine Wellenbild wird der Sache auch nicht gerecht, ebenso wenig wie das reine Korpuskelbild. Die Wahrheit liegt – in der Mitte? Nein. Wir wissen es nicht. Hier genüsslich herumreden ist leicht. Aber das will ich […] unterlassen.« 24 Schrödinger hat das eigentliche Neue der Quantenphysik in der sogenannten »Verschränkung« gesehen und von den »Antinomien der Verschränkung« gesprochen. Dabei handelt es sich um die Tatsache, dass beim Zusammentreffen von identischen Teilchen (z. B. zwei Wasserstoffatome im Wasserstoff-Molekül) deren Identität völ-
Kaiser, David; Craeger, Angela: The right way to get it wrong, in: Scientific American 306, Nr. 6 (2012), S. 56. Original: »Niels Bohr, for example, created a model of the atom that was wrong in nearly every way, yet it inspired the quantum-mechanical revolution.« 24 Urban, Paul: Die Antrittsvorlesung Erwin Schrödingers in Graz über die »Grundidee der Wellenmechanik«, Manuskript des Inst. f. theor. Phys., Univ. Graz. 23
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Die klassische Physik als Frucht des »Denkrahmens der Moderne«
lig verloren geht und etwas ganz Neues aus den Teilchen entsteht. Wir werden darauf zurückkommen (Kap. VI/1c).
3.
Die klassische Physik als Frucht des »Denkrahmens der Moderne«
Im Jahre 1965 erhielt Jacques Monod (gemeinsam mit François Jacob und André Lwoff) den Medizin-Nobelpreis »für ihre Entdeckungen auf dem Gebiet der genetischen Kontrolle der Synthese von Enzymen und Viren«. In seinem Bestseller Zufall und Notwendigkeit wundert sich Monod, dass die Methode der Naturwissenschaft erst so spät erfunden wurde: »[…] wahre Erkenntnis kann nur aus der systematischen Gegenüberstellung von Logik und Erfahrung stammen. Es ist heute schwerlich zu fassen, warum dieser so einfache und klare Gedanke erst hunderttausend Jahre nach dem Hervortreten des homo sapiens in aller Deutlichkeit im Reich der Ideen hat auftauchen können; man kann kaum verstehen, warum so hoch entwickelte Kulturen wie die chinesische diesen Gedanken nicht gekannt haben und ihn erst vom Westen lernen mussten; noch ist es begreiflich, warum es im Abendland von Thales und Pythagoras bis zu Galilei, Descartes und Bacon fast 2500 Jahre hat dauern müssen, bis dieser Gedanke, der bis dahin nur in der Anwendung der mechanischen Künste enthalten war, endlich hervortrat.« 25
Einerseits beantwortet Monod seine Frage selbst, indem er darauf hinweist, dass dieser Gedanke in den mechanischen Künsten schon länger präsent war; die Frage bleibt aber offen, ob mechanisches (bzw. mechanistisches) Denken auch auf anderen Gebieten vernünftig ist! Andererseits zeigt er jene Blindheit, die das mechanistische Denken hervorrufen kann, wenn dessen Erfolge als Beweis für universelle Anwendbarkeit missverstanden werden. Monod bezeichnet naturwissenschaftliche Erkenntnis daher ohne weitere Untersuchung als »wahre Erkenntnis«; für ihn ist es ohne Frage, dass dazu Logik und Erfahrung dienen müssen. Dass Naturwissenschaft keine Erfahrungswissenschaft, sondern experimentelle Wissenschaft ist, haben wir besprochen; und das Experiment als Methode musste erst erfunden werden (wir werden im nächsten Abschnitt besprechen, welche Monod, Jaques: Zufall und Notwendigkeit – Philosophische Fragen der modernen Biologie, Piper Verlag, München 1971.
25
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historischen Ereignisse dazu erforderlich waren). Logik wird durch Monod ohne weitere Diskussion mit Aristotelischer Logik gleichgesetzt. Inder und Chinesen haben andere Logiken entwickelt und ihrem Denken zugrunde gelegt, und auch im Abendland war Aristoteles lange Zeit vergessen und wurde erst durch die Araber wieder entdeckt und zu uns zurück gebracht. Sehen wir uns also jene Denkform an, die zusammen mit der Naturwissenschaft im 17. Jahrhundert entwickelt worden ist. Allem menschlichen Tun liegen gewisse Formen des Denkens zugrunde, unsere Erzeugnisse entstehen zuerst im Kopf, ehe sie materielle Wirklichkeit werden oder als Gedanken auszusprechen sind. Andere Kulturen sprechen gerne von »Denkformen« oder »Denkwegen«, weil sie nicht so starr eingegrenzt sind wie in unserer Kultur. 26 Wir sprechen daher lieber vom »Denkrahmen«, der genau abgrenzt, was eingeschlossen ist und was draußen bleiben muss. Unser Denkrahmen stammt aus den Erfolgen klassischer Mechanik, wir nennen ihn daher auch »mechanistischer Denkrahmen«. Er fußt auf vier Säulen (sozusagen vier »Axiomen« mechanistischen Denkens). Die erste Säule hat Galileo Galilei mit der Erfindung des Experimentes als Kriterium für Gültigkeit von naturwissenschaftlichen Aussagen geschaffen. Obwohl die Kurzfassung nicht von ihm selbst stammt, wollen wir sie in unseren Denkrahmen einfügen: Alles, was messbar ist, messen. Wir können auch ergänzen: Alles, was messbar ist, messen und was nicht messbar ist, messbar machen. Die zweite Säule geht auf René Descartes zurück, der die Methode der Naturwissenschaft durch vier Regeln beschrieben hat. Seine zweite Regel lautet: Jedes Problem in so viele Teile teilen, wie es angeht und wie es nötig ist, um es leichter zu lösen. Erst als dritte Säule wollen wir die Aristotelische Logik nennen, und zwar in ihrer Kurzform des Entweder-Oder. Schließlich hat Isaak Newton die Aristotelische Physik überwunden, als er erkannte, dass entgegen der Meinung des Aristoteles die Physik unterhalb und jenseits der Sphäre des Mondes nicht unterschieden werden muss. Die Schwerkraft als Ursache mechanischer Phänomene war dieselbe im Fallen eines Apfels und bei der Be-
26 Z. B. Kikuchi, Makato: Creativity and Ways of Thinking: the Japanese Style, in: Physics Today, Sept. 1981, oder Badrinath, Chaturvedi: Dharma, India and the World Order, Saint Andrew Press, Edinburgh 1993.
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wegung von Planeten. Für alles Ursachen finden ist Newtons neuer Weg. Wir können nun unseren mechanistischen Denkrahmen zusammenfassen: Alles messen (Galilei) Alles in kleinste Teile zerlegen (Descartes) Immer Entweder-Oder (Aristoteles) Für alles Ursachen finden (Newton)
In der Quantenphysik bleibt davon lediglich die erste Forderung aufrecht. Wir können ein Atom nicht in seine Teile zerlegen, ohne es zu zerstören; beim Zusammensetzen eines Atoms aus den Teilen (Kern und Elektronen) verändern diese ihre ursprünglichen Eigenschaften so gründlich, dass vernünftigerweise nicht von »Zusammensetzen« gesprochen werden kann. Noch deutlicher wird das beim Zerlegen und Zusammensetzen eines Moleküls aus seinen Atomen, die dabei sogar ihre »Identität« verlieren. Erwin Schrödinger hat das deutlich ausgedrückt: »Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten, treten … nicht etwa ihre ψ-Funktionen 27 in Wechselwirkung, sondern die hören sofort zu existieren auf und eine einzige für das Gesamtsystem tritt an ihre Stelle.« 28 Das Gesamtsystem ist etwas anderes als die Summe seiner Teile! Das Aristotelische Entweder-Oder ist durch die Komplementarität von Welle und Teilchen überwunden. Und schließlich gibt es für quantenmechanische Prozesse keine Kausalität im klassischen Sinn. Der Quantenphysiker Anton Zeilinger sagt: »Eine der fundamentalsten Erkenntnisse der Quantenphysik ist es, dass es einen ›reinen Zufall‹ gibt. Es gibt also Ereignisse, denen keine kausale Bedingung zugrunde liegt. […] Des Weiteren mussten wir uns von der Annahme verabschieden, dass das, was wir beobachten, schon vor der Beobachtung existiert hat.« 29
Der klassische, mechanistische Denkrahmen ist also durch die Quantenphysik in seine Schranken gewiesen worden. Er erlaubt uns nicht Mathematische Darstellung des Systems. Schrödinger, Erwin (Arbeit in 3 Teilen): Die Naturwissenschaften 23 (1935), 807, 823, 844, § 15. 29 Zeilinger, Anton: Das Ende des kausalen Weltbildes, in: Forschungsmagazin der Österr. Akademie d. Wissenschaften, 9 (2011), S. 22. 27 28
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einmal, die Materie zu verstehen! Trotzdem wird er unermüdlich weiter propagiert. Das falsche Bohr’sche Atommodell wird noch immer in vielen Schulen unterrichtet und gilt allgemein als Grundlage für Vorstellungen vom Atom. Die Teilgebiete der Physik sind alle so aufgebaut, dass vier Stufen unterschieden werden können. Zunächst müssen die relevanten Messgrößen identifiziert werden (z. B. Energie, Impuls, Ort, Zeit usw.). Für diese Messgrößen müssen so genannte Bewegungsgleichungen gefunden werden. Das sind in der Elektrodynamik die Maxwell’schen Gleichungen, in der klassischen Mechanik die Newton’schen Gleichungen (später die Gleichungen von Hamilton und Lagrange), in der Hydrodynamik die Gleichungen von Euler und Stokes-Navier usw. Aus diesen Gleichungen können dann allgemeine Gesetze abgeleitet werden; zum Beispiel Erhaltungssätze. Schließlich folgen daraus die einzelnen Anwendungen auf konkrete Probleme. Die mathematische Struktur der Bewegungsgleichungen ist dergestalt, dass bei gegebenen Anfangsbedingungen eines zu beschreibenden Systems die weitere zeitliche Entwicklung des Systems eindeutig vorhergesagt werden kann. Wenn wir zum Beispiel ein Pendel beschreiben wollen, dann müssen wir zu einem gewählten Zeitpunkt die Lage und die Geschwindigkeit des Pendels kennen; daraus folgen mittels der Bewegungsgleichung Lage und Geschwindigkeit für alle weiteren Zeiten, vorausgesetzt, wir können die Reibung vernachlässigen. Dies ist die klassische Kausalität, dargestellt durch die Bewegungsgleichungen. Dieser Erfolg der naturwissenschaftlichen Methode hat ja – wie oben erwähnt – Laplace zu seiner kühnen These über den Laplace’schen Dämon verführt. Nun gibt es aber schon in der klassischen Physik Grenzen! Obwohl das eben Gesagte mathematisch streng gültig ist, kann es nicht unkritisch in die Physik übertragen werden, weil es sich dabei um Messgrößen handelt, die prinzipiell nicht beliebig genau bekannt sein können. Wir alle wissen aus unserer Kenntnis der Pendeluhren, dass das beim Pendel keine große Einschränkung bedeutet. Wenn wir aber eine kleine Änderung vornehmen und an das ursprüngliche Pendel ein zweites Pendel anhängen, haben wir das System nicht wesentlich verändert. Trotzdem gilt das eben Gesagte nicht mehr, es handelt sich dann um ein so genanntes chaotisches System. Die Mathematik gilt weiterhin, aber um eine Voraussage der Entwicklung des Doppelpendels zu errechnen, müssten wir die An50 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
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fangsbedingungen exakt – also »unendlich genau« – kennen, und das ist bei Messgrößen grundsätzlich unmöglich. Das Doppelpendel wird sich scheinbar zufällig entwickeln, obwohl es prinzipiell kausal beschreibbar ist. Wir sprechen in solchen Fällen vom subjektiven Zufall. (Ähnliche Beispiele sind Würfel und Roulette-Kugeln.) Grundsätzlich anders ist die Lage in der Quantenphysik. Hier gibt es den so genannten objektiven Zufall, der sich jeder mathematischen Vorhersage entzieht. Die Bewegungsgleichung der Quantenphysik, die Schrödingergleichung, bezieht sich nämlich nicht auf Messgrößen, sondern auf die so genannte ψ-Funktion, deren Absolutquadrat als Wahrscheinlichkeits-Dichte interpretiert werden kann. Sehen wir uns dies an einem einfachen Beispiel an. Bei unsauberen Glasfenstern stellen wir oft fest, dass sie nicht nur Licht von außen einlassen, sondern auch Licht von innen reflektieren. Experimentalphysiker stellen gezielt so genannte »halbversilberte« Platten her, die genau eine Hälfte des Lichts durchlassen und die andere reflektieren. Im Wellenbild des Lichts ist damit die Sache schon beschrieben. Wie aber verhält es sich im – ebenso wichtigen – Teilchenbild? Genau die Hälfte aller Lichtteilchen wird durchgehen, die andere Hälfte reflektiert. Das geschieht aber nicht regelmäßig (also abwechselnd Reflexion und Transit) sondern zufällig, nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit. Die Analogie zum Würfeln ist dabei offensichtlich; selbst wenn eine große Zahl von Lichtteilchen durchgegangen ist, bleibt die Wahrscheinlichkeit für das folgende Teilchen immer noch 50 zu 50 für Reflexion und Transit. Genau diese Eigenschaft der Quantenphysik hat ja Albert Einstein zur Ablehnung der Quantenphysik und zu seinem berühmten Ausspruch getrieben, Gott würfle nicht. Einstein war ehrlich genug, zuzugeben, dass es sich um seine ganz persönlichen Ängste handelte. Er schrieb am 7. September 1944, in seinen späteren Jahren, an seinen Freund Max Born, der 1954 den Physik-Nobelpreis »für seine grundlegenden quantenmechanischen Arbeiten, insbesondere seine statistische Deutung der Wellenfunktion« bekam: »In unserer wissenschaftlichen Erwartung haben wir uns zu Antipoden entwickelt. Du glaubst an den würfelnden Gott und ich an volle Gesetzlichkeit in einer Welt von etwas objektiv Seiendem, das ich auf wild spekulativem
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Wege zu erhaschen suche. Ich glaube fest, aber ich hoffe, dass einer einen mehr realistischen Weg, bezw. eine mehr greifbare Unterlage finden wird, als es mir gegeben ist. Der große anfängliche Erfolg der Quantentheorie kann mich doch nicht zum Glauben an das fundamentale Würfelspiel bringen, wenn ich auch wohl weiß, dass die jüngeren Kollegen dies als Folge der Verkalkung auslegen.« 30
Die Einwände Einsteins waren für die Entwicklung der Quantenphysik fruchtbar. So sagte etwa Niels Bohr: »Einsteins Bedenken und Kritik spornten uns alle in höchst wertvoller Weise dazu an, die verschiedenen Aspekte der Situation bei der Beschreibung atomarer Phänomene einer erneuten Prüfung zu unterziehen. Für mich waren sie ein willkommener Anlass, die Rolle der Messgeräte noch weiter zu klären.« 31
4.
Die »Kalenderreform« als (Mit-)Auslöser des »Denkrahmens der Moderne«
Schon im 15. Jahrhundert hatte sich der Kardinal von Brixen, Nikolaus von Kues, Sorgen über den Kalender gemacht; damals war die Grundlage der Zeitrechnung der Kalender seit Cäsar. Bei diesem wurde zwar schon die Notwendigkeit von Schaltjahren berücksichtigt, nicht aber die feinere Abstimmung, wonach alle hundert Jahre das Schaltjahr auszufallen hatte, um die Länge des astronomischen Jahres mit dem Kalender in Übereinstimmung zu halten. Im Laufe von eineinhalb Jahrtausenden hatte sich dieser »Fehler« aufsummiert und der Kalender war um etwa zehn Tage falsch. Das war auch in der Landwirtschaft – die sich damals viel stärker an den Kalender gebunden sah als heute – zu bemerken und führte zu Missernten. Für Nikolaus von Kues war jedoch noch bedeutsamer, dass mit einem falschen Kalender auch die beweglichen religiösen Feste wie Ostern und Pfingsten nicht mehr zur rechten Zeit gefeiert wurden. Also schlug er 1436 dem Konzil von Basel in einem Schreiben De correctione calendarii vor, zum Zwecke der einfacheren Neuberechnung des Kalenders anzunehmen, dass die Sonne im Mittelpunkt stehe und die Erde sich 30 Einstein, Albert; Born, Max: Briefwechsel 1916–1955, Nymphenburg Verlag, München 1969, S. 204. 31 Bohr, Niels: Diskussion mit Einstein über erkenntnistheoretische Probleme in der Atomphysik, in: Albert Einstein als Philosoph und Naturforscher, hrsg. von Paul Arthur Schilpp, Vieweg Verl., Braunschweig 1983, S. 99.
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Die »Kalenderreform« als (Mit-)Auslöser des »Denkrahmens der Moderne«
gemeinsam mit den anderen Planeten um sie bewege. Das Schreiben fand aber keine tiefere Beachtung. Die Idee wurde erst durch Nikolaus Kopernikus, Domherr in Frauenberg, wieder aufgegriffen. In dessen Todesjahr, 1543, erschien sein Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium Libri VI (Über die Kreisbewegung der Himmelskörper in sechs Büchern). Er widmete es Papst Paul III. Aber die Lehre des Kopernikus widersprach einigen Bibelstellen aus dem Alten Testament! In 1 Chronik 16,30 heißt es: »Es fürchte ihn alle Welt; er hat den Erdboden bereitet, dass er nicht bewegt wird.« Und in Josua 10,12 f. steht: »Da redete Josua mit dem Herrn […] ›Sonne, stehe still zu Gibeon, und Mond, im Tal Ajalon!‹ Da stand die Sonne und der Mond still …«. Dies wurde als eindeutiger Beweis dafür angesehen, dass »in Wahrheit« die Sonne sich bewegt und die Erde ruht. Um das kopernikanische Werk dennoch als Grundlage für die notwendige Kalenderreform zu ermöglichen, hatte die Kirche eine geradezu geniale Idee, die schließlich zur Naturwissenschaft führen sollte: Sie unterschied zwischen Wahrheit und Hypothese! Wer öffentlich gegen die Wahrheit sprach, musste mit der Strafe der Inquisition rechnen. Hypothesen dagegen durfte jeder beliebig aufstellen, weil sie lediglich nach praktischen Kriterien zu beurteilen waren. Galileo Galilei, der mit seinem Fernrohr die Monde des Jupiter entdeckt hatte und daher wusste, dass sich keinesfalls alle Himmelskörper um die Erde bewegten, wollte nicht, dass große Männer von ihm dächten, er akzeptiere die kopernikanische Lehre als bloße Hypothese, die nicht wirklich wahr sei! Verständlich, dass derlei feine Unterscheidungen nicht von Jedermann verstanden wurden und dass Galilei in den unteren Rängen der kirchlichen Hierarchie viele Feinde hatte. So kam es schon 1616 zu einer ersten Begegnung mit der Inquisition; glücklicherweise war der Großinquisitor, Kardinal Roberto Bellarmin, ein Freund Galileis. Das Werk des Kopernikus wurde noch einmal von der Inquisition geprüft; das Ergebnis soll im Wortlaut wiedergegeben werden. Kardinal Bonifacio Caetani, verantwortlich für die Prüfung, schrieb: »Wenn es bei Kopernikus Passagen über die Bewegung der Erde gibt, die keinen hypothetischen Charakter haben, so sind diese als Hypothesen zu formulieren. Dann werden sie weder gegen die Wahrheit noch gegen die Heilige Schrift verstoßen. Im Gegenteil, in gewissem Sinne werden sie mit beiden übereinstimmen, weil die Annahmen, derer sich die Wissenschaft
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von der Astronomie mit besonderem Recht zu bedienen pflegt, falscher Natur sind.« 32
Der Wissenschaftshistoriker Owen Gingerich schreibt dazu: »Der Stein, an dem sich die Theologen stießen, war nicht das kopernikanische System als solches – dies kann gar nicht genug betont werden. Vielmehr entzündete sich der Streit an der Methode, wie wahre Erkenntnis der Welt zu erlangen sei, und vor allem an der Frage, ob auf dem Weg zur Wahrheit das Buch der Natur in irgend einer Weise mit der unfehlbaren Heiligen Schrift in Konflikt geraten könnte.« 33
Also war Galilei in einer Klemme, denn er wollte seine Freunde in der Kirche nicht verlieren. In dieser Situation fand er eine dialektische Lösung: Er erfand ein drittes Argument, um zwischen falsch und richtig zu unterscheiden: Das Experiment! Mit seinem Fernrohr hatte er die Phasen der Venus entdeckt und konnte nun deren Verlauf sowohl aus dem kopernikanischen, als auch aus dem älteren ptolemäischen System vorhersagen. Ein Vergleich mit den Beobachtungen zeigte, dass die Vorhersagen des Kopernikus richtig, die des Ptolemäus hingegen falsch waren. Damit war das ptolemäische System experimentell widerlegt. Das war die Geburt der naturwissenschaftlichen Methode! Im Jahre 1624 wurde Galileis Verehrer, Kardinal Maffeo Barberini, zum Papst Urban VIII. gewählt. Barberini wollte als Förderer der Wissenschaften in die Geschichte eingehen. Er hatte an Galilei, als der erkrankte, geschrieben: »Ich schreibe, weil Männer wie Ihr, die von großem Wert für das Allgemeinwohl sind, ein langes Leben verdienen, und ich bin dazu auch veranlasst durch das besondere Interesse und die Zuneigung, die ich für Euch hege, und durch die beständige Wertschätzung Eurer Person und Eures Werkes.« 34
Galilei fasste daher den Mut, seine Überlegungen zu den »beiden hauptsächlichen Weltsystemen« in einem großen Buch darzustellen. 1630 war er fertig und sandte das Manuskript an die Inquisition in
Zitiert nach Gingerich, Owen: The Galileo Affair, in: Scientific American, August 1982, S. 124 (Deutsch: Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1982, S. 116). 33 Gingerich: ebd., S. 123 f. (Deutsch S. 116). 34 Zitiert nach Fölsing, Albrecht: Galileo Galilei, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 355. 32
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Florenz mit der Bitte um Druckerlaubnis. Nach einigen Änderungen und genauem Studium wurde sie ihm 1632 erteilt! Warum der Papst noch im selben Jahr den berühmten Prozess forderte, ist bis heute nicht geklärt. Vermutlich waren es die Wirren des 30-jährigen Krieges, die ihn dazu veranlassten. Der Feind (die Schweden) steht an der Grenze Italiens und der Papst befasst sich mit Wissenschaft! So waren wohl die Argumente seiner Gegner. Vielleicht wollte Urban sein Ansehen wieder herstellen, vielleicht wollte er sogar sein Leben retten? Jedenfalls verlangte er den Prozess. Das stieß aber auf Schwierigkeiten, weil Galilei ja die Druckerlaubnis der Inquisition eingeholt hatte! Also musste ein anderer Grund für den Prozess im Jahre 1633 gefunden werden (nach Ansicht des Physikers Jauch wurde dazu sogar ein Dokument gefälscht); die Anklage lautete auf Ungehorsam. Nicht alle Kardinäle des Richterkollegiums unterzeichneten das Urteil! Galilei erhielt Hausarrest und durfte in seine eigene Villa in Arcetri bei Florenz zurückkehren. Dort verfasste er sein zweites Hauptwerk über die Fallgesetze und die Mechanik (ausführlicher in Kap. III/5). Während Galilei in seinem Werk über Kopernikus und Ptolemäus noch mit Gott argumentierte, kommt in seinem zweiten Hauptwerk Gott nicht mehr vor – wohl aus Gründen der Vorsicht. Wahrscheinlich war das eine der schwerwiegenderen Folgen des Prozesses Galilei: Die Trennung von Naturwissenschaft und Religion, die Voltaire schließlich zu der Ansicht führte, Physik sei nun die neue Religion. Als ihm der Physiker Maupertuis die Newton’sche Theorie erklärt hatte, schrieb ihm Voltaire am 15. November 1732: »Ihr erster Brief hat mich auf die neue Newtonsche Religion getauft, Ihr zweiter hat mir die Firmung gegeben. Ich bleibe voller Dank für Ihre Sakramente. Verbrennen Sie, bitte, meine lächerlichen Einwürfe. Sie stammen von einem Ungläubigen. Ich werde auf ewig Ihre Briefe bewahren, sie kommen von einem großen Apostel Newtons, des Lichts zur Erleuchtung der Heiden.« 35
Deutlicher kann man den Religionsanspruch der neuen Naturwissenschaft kaum ausdrücken.
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Zitiert nach Schramm, Matthias: Natur ohne Sinn? Styria Verlag, Graz 1985, S. 87.
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Im 18. Jahrhundert wurden die Ansätze Newtons zu einer eleganten und mathematisch großartig ausformulierten Theorie der Mechanik. 36 Die ungeahnten Fortschritte im Verständnis mechanischer Vorgänge nährten die Hoffnung, dereinst alle Wirklichkeitsvorgänge mathematisch berechnen (und somit vorhersagen) zu können. Wir wissen heute, dass es nicht erst der Quantenphysik bedurfte, um diesen Anspruch als haltlos zu erkennen. Schon in der klassischen Mechanik gibt es ziemlich einfache Fälle, bei denen die Orte und Geschwindigkeiten der betrachteten Teilchen vollkommen exakt, also mit unendlicher (!) Genauigkeit bekannt sein müssten, um ihre Bewegung voraussagen zu können. 37 Der Laplace’sche Dämon ist also nicht Ergebnis sorgfältiger Überlegung, vielmehr Ausdruck einer Euphorie, die sich ob der unerwarteten Erfolge mechanistischen Denkens einstellte. Als einer der Ersten erkannte Goethe die Gefahr, die mit solch eingeschränktem Denken einhergeht. Es ist wenig bekannt, dass Johann Wolfgang Goethe seine Farbenlehre als seinen wichtigsten Beitrag zur Kulturgeschichte betrachtete. Darin wandte er sich entschieden gegen den mechanistischen Denkrahmen – er nannte ihn das »Newton’sche Denken«. In seiner Farbenlehre schrieb er über Newton: »Jedermann weiß, dass vor mehr als hundert Jahren ein tiefsinniger Mann sich mit dieser Materie beschäftigte, mancherlei Erfahrungen anstellte, ein Lehrgebäude, gleichsam als eine Feste mitten im Felde dieser Wissenschaft, errichtete, und durch eine mächtige Schule seine Nachfolger nöthigte, sich an diese Partei anzuschließen, wenn sie nicht besorgen wollten, ganz und gar verdrängt zu werden.« 38
Goethe vergleicht die Newtonsche Optik mit einer alten Burg, welche ständig verstärkt, verbessert und vergrößert wird und niemals eingenommen werden konnte. Im Vorwort zur ersten Ausgabe seiner »Farbenlehre« (1810) schreibt er: »Niemandem fällt es auf, dass der alte Bau unbewohnbar geworden. Immer wird von seiner vortrefflichen Dauer, von seiner köstlichen Einrichtung gesprochen.« 39 Die Systeme von Hamilton und Lagrange sind heute noch Teil jeder Vorlesung über klassische Mechanik. 37 Solche Systeme sind Gegenstand der sog. Chaos-Theorie, siehe Abschnitt III/3. 38 Goethe, Johann Wolfgang von: Beiträge zur Optik, Weimar 1791, § 10. 39 Goethe, Johann Wolfgang von: Farbenlehre. Vorwort zur ersten Ausgabe, Tübingen 1810. 36
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Goethe hat damit zweifellos einen wunden Punkt des Denkrahmens der Naturwissenschaft getroffen: Die Ausklammerung des Menschen zugunsten einer immer trefflicheren Beschreibung und Beherrschung der toten Materie. Aber Goethe wollte nicht etwa den Denkrahmen der Moderne durch einen anderen ersetzen! Er wollte die starren Mauern dieses Denkrahmens niederreißen, um eine Öffnung des Denkens zu ermöglichen. Goethe schrieb: »Gelingt es uns nun, mit froher Anwendung möglichster Kraft und Geschickes, jene Bastille zu schleifen und einen freien Raum zu gewinnen, so ist keineswegs die Absicht, ihn etwa sogleich wieder mit einem neuen Gebäude zu überbauen und zu belästigen; wir wollen uns vielmehr desselben bedienen, um eine schöne Reihe mannigfacher Gestalten vorzuführen.« 40
Aber Goethe war seiner Zeit voraus! Am Beginn des 19. Jahrhunderts gab es die berechtigte Hoffnung, dass der Denkrahmen der Moderne noch viele Geschenke für die Menschheit bereit hielt. Die Beleuchtung der Städte und Wohnungen wurde auch im übertragenen Sinn als »Erleuchtung« erlebt. Die Ernte, die der Denkrahmen versprach, schien noch nicht vollständig in die Scheune gefahren zu sein. Alte Menschheitsträume waren noch nicht verwirklicht, dämmerten vielleicht schon am Horizont herauf: Fliegen, Allgegenwart (durch Fernsehen und Mobil-Telefon) und Allwissenheit (durch Großcomputer und Internet), um nur die spektakulärsten zu nennen! Heute sind diese Träume erfüllt und in immer schnellerem Tempo geht es weiter; die Scheune scheint – um im Bild zu bleiben – schnell zu klein zu werden, um all die Früchte aufnehmen zu können. Dabei laufen wir jedoch Gefahr, zu übersehen, dass zusammen mit vielen genießbaren Früchten nunmehr auch Fallobst, Unkraut, ja sogar giftige Produkte in die Scheune gelangen. Nur so ist es zu erklären, dass die Grenzen des mechanistischen Denkens zwar durch die Quantenphysik eindeutig aufgezeigt worden sind, dass sie aber in der Gesellschaft weitgehend ignoriert und nicht zur Kenntnis genommen werden.
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Goethe, Johann Wolfgang von: ebd.
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
Nun ist es notwendig, dass wir uns den prinzipiellen Unterschied zwischen (wissenschaftlichem) Paradigmenwechsel und (kulturellem) Überlieferungsbruch vor Augen führen. Beginnen wir mit ersterem: Der Begriff Paradigma ist inzwischen – vergleichbar jenem des Quantensprungs – allgemein geläufig. In den wissenschaftstheoretischen Diskurs wurde er vor allem durch Thomas Kuhn eingebracht, insbesondere durch dessen Werk Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen 41. Kuhn schreibt: »Die Physica von Aristoteles, der Almagest von Ptolemäus, Newtons Principia und Opticks, Franklins Electricity, Lavoisiers Chimie, Lyells Geology – diese und viele andere Werke dienten eine Zeitlang dazu, für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebietes zu bestimmen. Sie vermochten dies, da sie zwei wesentliche Eigenschaften gemeinsam hatten. Ihre Leistung war beispiellos genug, um eine beständige Gruppe von Anhängern anzuziehen, hinweg von den wetteifernden Verfahren wissenschaftlicher Tätigkeit, und gleichzeitig war sie noch offen genug, um der neu bestimmten Gruppe von Fachleuten alle möglichen Probleme zur Lösung zu überlassen. Leistungen mit diesen beiden Merkmalen werde ich von nun an als ›Paradigma‹ bezeichnen, ein Ausdruck, der eng mit dem der ›normalen Wissenschaft‹ zusammenhängt.« 42
Paradigma meint dabei den (weitestgehenden) Konsens aller Forscher einer Disziplin hinsichtlich der theoretischen Grundlagen ihres Gegenstandsbereichs (z. B. der Atomtheorie) sowie den damit verbundenen methodologischen und experimentellen Rahmen. Kurz: den aktuellen »common sense« an verbindlichen bzw. verbindenden Grundlagen einer Disziplin. Wenn der Rahmen eines Paradigmas eingehalten wird, spricht Kuhn von »normaler Wissenschaft«; wörtlich: »eine Forschung, die fest auf einer oder mehreren wissenschaftlichen Leistungen der Vergangenheit beruht, Leistungen, die von einer bestimmten wissenschaftlichen Gemeinschaft eine Zeitlang als Grundlage für ihre weitere Arbeit anerkannt werden.« 43 Zuerst erschienen engl. 1962, deutsch zuerst: 1967. Kuhn, Thomas S.: The Structure of Scientific Revolutions, Univ. Chicago Press, Chicago 1962. Deutsche Fassung: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Verlag, 2. Aufl., Frankfurt/Main 1976, S. 28. 43 Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 11. 41 42
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
Paradigma
Theoretische Grundlagen
Methodologischer Rahmen
Abb. 3: Wissenschaftliches Paradigma (nach Kuhn)
Kuhn schreibt diesbezüglich: »Von diesen [Paradigmen] glaube ich, daß sie allgemein anerkannte wissenschaftliche Leistungen sind, die für eine gewisse Zeit einer Gemeinschaft von Fachleuten Modelle und Lösungen liefern.« 44 Der Fortschritt der Wissenschaft vollzieht sich nach Kuhn durch »Paradigmenwechsel«, das sind Revolutionen, die von einem Abschnitt normaler Wissenschaft zu einem neuen führen: »Die Erwerbung eines Paradigmas […] ist ein Zeichen der Reife in der Entwicklung jedes besonderen wissenschaftlichen Fachgebietes. […] Der fortlaufende Übergang von einem Paradigma zu einem anderen auf dem Wege der Revolution ist das übliche Entwicklungsschema einer reifen Wissenschaft.« 45
Dabei unterscheidet Kuhn zwischen zwei Haupt-Phasen von Wissenschaftlichkeit: Eine – wenn man so sagen kann – »Normal-Science-Phase«, in der sich ein Paradigma – im Kampf verschiedener Theorien und Hypothesen – durchgesetzt hat und mehr oder weniger unangefochten »in Blüte« steht; mit der Möglichkeit der Erweiterung. Davon hebt Kuhn die Phase der »wissenschaftlichen Revolution« ab, des sogenannten »paradigm shift«. Wann kommt es nun zu einer solchen unruhigen Phase »wissenschaftlicher Revolution«? Dies geschieht in dem Maße, als »zu viele (mit den gängigen Methoden !! erhobenen) Tatsachen [bzw. Daten] unerklärt bleiben [bzw. durch das vorherrschende Paradigma nicht befriedigend erklärt werden können] und/oder wenn dabei zu viele störende Widersprüche auftauchen.« 46 Einer der spektakulärsten Paradigmenwechsel in der Geschichte der modernen Wissenschaft war jener von der klassischen Physik hin zur Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 11. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, a. a. O., S. 30 f. 46 Pietschmann, Herbert: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte. Von der Öffnung des naturwissenschaftlichen Denkens, Stuttgart – Wien 1990, S. 155. 44 45
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Quantenmechanik. Zeitlich dauerte diese Phase in etwa ein Vierteljahrhundert; wenn man den Beginn der »Quantenrevolution« mit Max Plancks »Quantenhypothese« im Jahre 1900 ansetzt, die Formulierung der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie (die die neuen paradigmatischen Grundlagen bildete) 1927 bzw. den endgültigen Durchbruch der Theorie bei der Solvay-Konferenz 1930 als Ende der revolutionären Phase ansieht – unabhängig davon, dass federführende Vertreter der scientific community bis zu ihrem Ableben sich dem neuen Paradigma nicht anschlossen. Zu diesen von Kuhn vorgeschlagenen zwei Phasen wollen wir die Hinzufügung einer dritten anregen: jene der Paradigmen-Optimierung (paradigm optimizing). Damit soll jener Abschnitt bezeichnet werden, in dem ein Paradigma in all seinen Möglichkeiten »ausgereizt« wird bis hin zu dessen Überstrapazierung. Zur Illustration eignet sich das aktuelle wissenschaftliche Großvorhaben des Human-Brain-Projects. Dabei soll – nach Aussagen der Betreiber 47 – das ehrgeizige Vorhaben verwirklicht werden, das menschliche Gehirn 48 eins zu eins, Zelle für Zelle, im Computer nachzubauen, also zu simulieren. Martin Kugler schreibt dazu wörtlich, Henry Markram (ETH Lausanne), den Leiter des Projekts, zitierend: »Wenn man immer mehr Teile zusammenfügt, dann entstehen neue Eigenschaften«, und fügt hinzu: »Kognitive Fähigkeiten sind demnach eine ›emergente‹ Eigenschaft von Neuronen, die zu Netzwerken zusammengeschlossen sind.« 49 Das Herzstück des Vorhabens bildet eine Plattform, in der alles Wissen über das Gehirn – derzeit fünf Millionen Artikel – gesammelt und zu einem die Fachdisziplinen übersteigenden Ganzen zusammengefasst – »integriert« – werden soll. 50 Wissenschafts- bzw. geistesgeschichtlich kontextualisiert Markram das Human-Brain-Projekt wie folgt: »Im 19. Jahrhundert wollte man das Gehirn durch die Philosophie des Denkens verstehen, im 20. Jahrhundert durch naturwis47 Vgl. dazu Kugler, Martin: Das Gehirn im Computer in: Die Presse vom 22. Mai 2011, S. 24. 48 Das menschliche Gehirn besteht – nach gegenwärtigen Schätzungen – aus etwa 100 Milliarden Neuronen, die ihrerseits durch eine Billiarde Synapsen miteinander verbunden sind. 49 Markram zit. nach Kugler: Das Gehirn im Computer, a. a. O., S. 24. 50 Die Kosten des Projekts werden auf mehr als 1 Milliarde Euro, der Zeitaufwand auf zehn Jahre veranschlagt. Man rechnet übrigens mit rund 1000 Dissertationen im Projekt.
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
senschaftliche Reduktion. Die Strategie des 21. Jahrhunderts ist die Integration des gesamten Wissens, die durch Computer möglich wird.« 51 Hierbei handelt es sich unseres Erachtens offenkundig um den Fall einer Ausreizung, ja Überbeanspruchung eines spezifischen wissenschaftlichen Paradigmas. Ein ähnlicher Fall liegt offenkundig vor, wenn auf dem Cover der Ausgabe des Scientific American vom Oktober 2012 ein synaptischer Spalt zwischen zwei Nervenzellen (Neuronen) unter folgender Headline zu sehen gegeben wird: The language of the Brain. How the world’s most complicated machine (!) processes and communicates information. In den Zusammenhang der Paradigmenoptimierung passt auch das nachfolgende programmatische Zitat von Walter Senn, in dem skizziert wird, was der Biologie gegenwärtig noch fehlt, um zur neuen wissenschaftlichen Leitwissenschaft aufzusteigen: »Um wirklich eine Leitwissenschaft zu werden, welche Denkmuster und Gesetzmässigkeiten auf andere wissenschaftliche, gesellschaftliche oder technische Bereiche überträgt, muss [auch für die Biologie] ein kausales Verständnis verlangt werden. Nur wenn die biologischen Prozesse begrifflich reduziert werden und die Theorie stufenweise eine kausale Verbindung von [molekularen physiko-chemischen] mikroskopischen Prozessen zu makroskopischen [Lebens- bzw. Kommunikations-] Phänomenen ermöglicht, werden wir die biologischen Prozesse zu unserem allgemeinen Nutzen instrumentalisieren können. So wie es begriffliche Vereinfachungen in der Physik erlauben, die Brücke von mechanischen Stössen zu idealen Gasen zu schlagen, so können in der Biologie vereinfachende mathematische Modelle die Stabilität der Artenvielfalt aus der Chromosomentheorie herleiten, oder Prinzipien von Wahrnehmung und Gedächtnis aus der Theorie von Neuronen und Synapsen erklären. Mit zunehmendem Grade der Mathematisierung durch begriffliche Reduktion können die Erkenntnisse der Biologie vermehrt kausal in ein Gesamtsystem integriert und technisch nutzbar gemacht werden. Durch diesen fortschreitenden Prozess der Theoriebildung wird auch die Biologie zur Wissenschaft, welche nicht nur Aufsehen erregende Einzelresultate liefert, sondern auch nachhaltige gesellschaftliche Entwicklungen ›leiten‹ kann.« 52 51 Markram zit. nach Kugler: Das Gehirn im Computer, a. a. O., S. 24; siehe auch Yuste, Rafael; Church, George M.: The new century of the brain – Big science lights the way to an understanding of how the world’s most complex machine (!) gives rise to our thaughts and emotions, in: Scientific American, March 2014, S. 22. 52 Senn, Walter: Mathematisierung der Biologie: Mode oder Notwendigkeit? Vortrag im Rahmen des Collegium Generale bzw. der Vortragsserie »Aktualität und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften«, Universität Bern, 6. Dezember 2006, Manuskript
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Das Zitat macht unmissverständlich die paradigmenoptimierende Zielrichtung des aktuellen Mainstreams biowissenschaftlicher Forschung deutlich. Es geht um die Forcierung bzw. Optimierung des kausal-linearen Erkenntnisparadigmas im Rahmen der Lebenswissenschaften. Wir weisen explizit darauf hin, dass in diesen Aussagen der mechanistische Denkrahmen ungebrochen zugrunde gelegt wird. Wenn es heißt: »Begriffliche Vereinfachungen in der Physik erlauben, die Brücke von mechanischen Stößen zu idealen Gasen zu schlagen«, so ist darauf zu verweisen, dass diese »idealen Gase« eine grobe Näherung darstellen, die bei tiefen Temperaturen und/oder hohem Druck versagt, weil dort quantenphysikalische Phänomene nicht mehr vernachlässigt werden können. Es erscheint höchst fragwürdig, beim Gehirn, bei der »kompliziertesten Maschine der Welt«, zu hoffen, dass die klassische Physik zum Verständnis ausreicht! Konkret wird bei diesem – nennen wir ihn »Biomathematik-Ansatz« – versucht, durch vermehrtes Ausnützen der Möglichkeiten zur computerunterstützten Generierung und Analyse von Daten ein besseres Verständnis der in Frage stehenden Interaktionsprozesse im Kontext des Lebendigen zu erzielen. Durch den zunehmenden Grad dieser »Mathematisierung des Lebendigen« soll eine kausale Verbindung von molekularen Prozessen zu makroskopischen Phänomenen hergestellt und die dabei gewonnenen Erkenntnisse kausal in ein biowissenschaftliches Gesamtsystem integriert und in weiterer Folge technisch nutzbar gemacht werden. Die paradigmenoptimierende Grundüberlegung dabei: Mehr Daten (auf Basis des bestehenden Paradigmas) liefern ein besseres Verständnis biologischer Interaktionsprozesse bzw. kausaler Wechselwirkungsabläufe. Im Unterschied dazu wird beim paradigmatisch-revolutionären »Biokommunikationsansatz« ein grundsätzlich neuer – »paradigmenwechselnder« – theoretischer Zugang zum Verständnis zellulärer Interaktionsprozesse bzw. Kommunikationsabläufe vorgeschlagen, basierend auf der prinzipiellen Differenzierung zwischen kausal-linearen (physiko-chemischen) Interaktionsprozessen und transkausalen 53 gesamtzellulären Kommunikationsakten (vgl. Kap. VIII/5a). S. 16.; Internetquelle: www.physio.unibe.ch/publicationPDF/null_1.pdf ; zugleich in: Rusterholz, Peter; Zwahlen, Sara Margarita; Meyer-Schweizer, Ruth (Hrsg.): Aktualitiät und Vergänglichkeit der Leitwissenschaften, Bern u. a. 2009, S. 97–118. 53 Zum Terminus transkausal bzw. Transkausalität siehe Kap. VIII/4d.
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
Die Basisüberlegung hierbei: Andere Deutung, besseres Verständnis des zellulären Kommunikationsgeschehens. 54 Veranschaulichen wir uns diese prinzipielle Unterschiedlichkeit anhand der vorhin in formal-allgemeiner Struktur dargestellten Graphik. Klassisches naturwissenschaftliches Paradigma am Beispiel des »Bio-Mathematik-Ansatzes«
Theoretische Grundlagen »Denkrahmen der Moderne« spezifiziert für die Biowissenschaften
Methodologischer Rahmen Adaptiert aus Physik, Chemie Informatik, Mathematik
Abb. 4: Klassisches naturwissenschaftliches Paradigma
Theoretische Grundlage der Erkenntnis bildet hier in zentraler Weise der – für die Biowissenschaften spezifizierte – »Denkrahmen der Moderne«, während der methodologische Rahmen weitgegend von Physik, Chemie, Informatik und Mathematik gestellt wird. »Trans-Klassisches« naturwissenschaftliches Paradigma am Beispiel des »Bio-Kommunikations-Ansatzes«
Theoretische Grundlagen »Denkrahmen der Moderne« ergänzt durch eine »transkausale« Bio-Kommunikationstheorie, basierend auf einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Methodologischer Rahmen Klassische Methoden aus Physik und Chemie etc. ergänzt durch adaptierte Erkenntnismodi aus Quantenphysik und Humanwissenschaften.
Abb. 5: »Trans-Klassisches« naturwissenschaftliches Paradigma
Im Unterschied dazu wird beim »Biokommunikationsansatz« das Beziehungsgeschehen im Kontext des Lebendigen (»Biokommunikation«) nicht als die Summe (bzw. mehr als die Summe) physiko-chemischer Interaktionen (und nichts sonst) verstanden, sondern als Vgl. Hamberger, Erich: Die Relevanz des dialogischen Subjekt-Konzepts von Ferdinand Ebner für die modernen Biowissenschaften, in: Bidese, Ermenegildo u. a. (Hrsg.): Pneumatologie als Grammatik der Subjektivität: Ferdinand Ebner, Wien – Berlin 2012, S. 215–246.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
etwas (ganz) anderes, was zur Folge hat, dass sich mit den erweiterten theoretischen Grundlagen auch der methodologische Rahmen verändert bzw. zu erweitern ist. Thomas Kuhn beschäftigte sich in seinem Werk mit der Wissenschaft. Mittlerweile hat der Begriff »Paradigma« (und damit Paradigmenwechsel) Eingang gefunden in die allgemeine Sprechweise. In diesem weiteren Sinne wäre auch der Denkrahmen der Moderne als Paradigma zu bezeichnen, allerdings mit besonderen Eigenschaften, ist er doch die (uneingesehene) Grundlage allen abendländischen Denkens seit dem Siegeszug der Naturwissenschaft. Gerade an der Tatsache, dass sich trotz Paradigmenwechsels in der Atomphysik der Denkrahmen nicht geändert hat, sehen wir, dass zwischen Paradigmenwechsel und Überlieferungsbruch (der das gesamte Weltbild einer Gemeinschaft/Kultur verändert) grundsätzlich zu unterscheiden ist. Die oben genannten Beispiele von Kuhn differenzieren nicht; wir wollen daher ausdrücklich darauf hinweisen, dass die erstgenannten Beispiele (Physica und Almagest) durch einen Überlieferungsbruch verschwunden sind; das Ersetzen der Physik des Aristoteles und der Kosmologie des Ptolemäus durch das kopernikanische System war nicht einfach ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaft, es erschütterte die Vorstellungen aller Menschen von ihrer Welt und wird heute oft als eine der drei »großen Kränkungen« der Menschheit bezeichnet. Das kopernikanische System wird oft als »Weltbild« bezeichnet. Wir wollen jedoch mit Karl Jaspers diesen Begriff nicht unhinterfragt verwenden. Jaspers schreibt: »Weltbilder standen am Anfang des menschlichen Erkennens; und ein Weltbild will jederzeit der Erkennende, um des Ganzen in einem gewiss zu sein. Nun ist es merkwürdig und folgenreich, […] dass dieses so selbstverständliche Begehren nach einer totalen Weltanschauung auf einem grundsätzlichen Irrtum beruht, der erst in neuerer Zeit ganz durchsichtig geworden ist. Das eine Ganze der Welt, zu der alle die erkenntnismäßig erforschbaren Einheiten gehören, ist selber keine Einheit … Es gibt kein Weltbild, sondern nur eine Systematik der Wissenschaften.« 55
Der neuzeitliche Überlieferungsbruch war nicht Folge eines Paradigmenwechsels in der Naturwissenschaft, sondern er hat diesen ParaJaspers, Karl: Einführung in die Philosophie, Serie Piper Band 13, München 1971, S. 58 f.
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
digmenwechsel erst initiiert! Wie es dazu kommen konnte, wollen wir in der Folge mit Hilfe von Natur- und Geisteswissenschaftlern näher betrachten. Dabei wird die kulturelle Dimension von wissenschaftlichen, gerade auch naturwissenschaftlichen Erkenntnisweisen, etwa von Experimenten, deutlich. Da ist zuerst Ludwik Fleck (1886–1961); jüdischer Arzt, genauer: Seuchenmediziner im altösterreichischen Lemberg 56, Philosoph und Wissenschaftshistoriker sowie – schon Ende der 1920er bzw. 1930er Jahre – Verfasser grundlegender Arbeiten zur Entstehungsgeschichte wissenschaftlicher Theorien. 57 Er konnte zeigen, dass sich Vorstellungen von Erkenntnis – auch im Hinblick auf naturwissenschaftlichen Fortschritt – nicht entlang rationaler Einsichten entwickeln, sondern von kulturspezifischen Vorstellungen ebenso abhängen wie von der akzeptierten Sichtweise der Gruppe, der jemand angehört. Kurz: Er machte deutlich, dass Fakten bzw. Befunde, die dem anerkannten Paradigma widersprechen, vielfach nicht wahrgenommen oder in der Wahrnehmung so zurechtgebogen werden, dass sie »passen«. Fleck spricht in diesem Zusammenhang von »Harmonie der Täuschungen« und postuliert schon 1929: »Jede Erkenntnis-[und damit Kommunikations-]theorie [muss] mit Sozialem und weiterhin mit Kulturhistorischem in Beziehung gebracht werden, insofern sie nicht in schwerem Widerspruch mit der Geschichte der Erkenntnis und der täglichen Erfahrung des Lehrenden und Lernenden geraten will.« 58 Dem heute zur Ukraine gehörigen Lwiw. Als sein Hauptwerk gilt das 1935 erstmals (in polnisch) erschienene Buch Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Ludwik Fleck überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Buchenwald und starb in Ness Ziona, Israel, am 5. Juni 1961. Bekannt wurden seine Werke erst ab den 1980er Jahren, insbesondere im Zuge des Erfolgs von Kuhns epocheprägendem Band Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (Chicago 1962); im Vorwort des genannten Werkes schreibt Kuhn, dass Fleck viele seiner Gedanken vorweggenommen habe. In jüngerer Zeit macht sich u. a. Hans-Jörg Rheinberger verdient, auf das Werk Flecks hinzuweisen. Vgl. dazu: Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen 2001; Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, 2. Aufl., Hamburg 2008; Historische Epistemologie zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg 2008; sowie Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme (zusammen mit Staffan Müller-Wille), Frankfurt/Main 2009. 58 Fleck, Ludwik: Zur Krise der »Wirklichkeit«, in: ders.: Erfahrung und Tatsache. Gesammelte Aufsätze, Frankfurt/Main 1983, S. 46–58, hier S. 46; zuerst erschienen in: Die Naturwissenschaften 17 (1929), S. 425–430. 56 57
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Und dies gilt – wie erwähnt – nicht nur für kultur- und geisteswissenschaftliche, sondern ebenso für naturwissenschaftliche Erkenntnis. Wie ein Einzel-Experiment nie isoliert verstanden werden könne, sondern allein im Kontext eines Experimental-Systems, so seien Experimentalsysteme ihrerseits stets rückverbunden bzw. Ausdruck eines kulturspezifischen Denk-Stils. Oder anders ausgedrückt: Ein Experimental-System, d. h. ein Gesamt von Experimenten, bilde den sichtbaren Ausdruck eines bestimmten wissenschaftlichen Denkstils. »Der Denkstil ist dabei nicht« – wie Rheinberger bemerkt – »als ein logisches System zu charakterisieren, sein ›Hauptbestandteil‹ ist vielmehr die ›Bereitschaft für gerichtetes Wahrnehmen‹« 59. (Er entspricht unserem Begriff des »Denkrahmens«.) Damit grenzt sich Fleck dezidiert gegenüber den in den 1930er Jahren vorherrschenden logizistischen und positivistischen Erkenntnistheorien (Wiener Kreis, Carnap, Popper) ab; also von der Annahme der Möglichkeit voraussetzungslosen Beobachtens. Einen Denkstil kann man sich nach Fleck nun nicht im selben Sinne aneignen bzw. ablegen wie etwa ein Auto; ich gebe das alte zurück und steige einfach in das neue ein. Dies macht Rheinberger in seinem Werk Experimentalsysteme und epistemische Dinge sehr gut deutlich, wenn er das folgende biowissenschaftsgeschichtliche Ereignis wiedergibt: »Auf einem Symposion über die Struktur von Enzymen und Proteinen im Jahr 1955 hielt Paul Zamecnik einen Vortrag über den ›Mechanismus des Einbaus markierter Aminosäuren in Protein‹. Als in der anschließenden Diskussion Sol Spiegelman über seine eigenen Experimente zur Induktion von Enzymen in Hefekulturen berichtete, antwortete Zamecnik: ›Wir würden auch gerne die induzierte Enzymbildung untersuchen; aber das erinnert mich an eine Geschichte, die mir Dr. Hotchkiss erzählte. Es war einmal ein Mann, der wollte sich einen neuen Bumerang zulegen. Aber er schaffte es nicht, den alten wegzuwerfen.‹« 60
Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, a. a. O., S. 51. In ähnlicher Weise beschreibt der Epistemologe Gaston Bachelard (1884–1962) Experimente als »materialisierte Therorien« bzw. Theorien als »idealisierte Maschinen«; siehe dazu: Bachelard, Gaston: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt/Main 1987; im Original erschienen 1938 unter dem Titel La formation de l’esprit scientifique. Contribution à une psychanalyse de la connaissance objective. Vgl. dazu auch Pernkopf, Elisabeth: Unerwartetes erwarten. Zur Rolle des Experimentierens in naturwissenschaftlicher Forschung, Würzburg 2006. 60 Rheinberger: Experimentalsysteme und epistemische Dinge, a. a. O., S. 18. 59
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
Die Anekdote illustriert die Herausforderung: Es bedarf eines Perspektivenwechsels, den es zu erlernen und einzuüben gilt. »Gerichtetes Sehen verdankt sich […] immer einer Einübung.« 61 »Die ›wissenschaftliche Tatsache‹ 62 ist [insofern] nicht« – wie Rheinberger im Anschluss an Fleck schreibt – »der Ausgangspunkt der Beobachtung, sondern das Ergebnis der Herausbildung einer Wahrnehmungsgewohnheit.« 63 Singuläre Experimente sind demnach rückverbunden bzw. ändern sich mit dem Experimentalsystem; dieses wiederum ist rückverbunden in bzw. ändert sich mit dem vorherrschenden Denk-/Kommunikationsstil 64, dem »wissenschaftlichen Paradigma«. Das führt unweigerlich zur Frage: Inwiefern sind Denk-/bzw. Kommunikations-Stile rückverbunden? Die Antwort darauf lautet: Im je spezifischen Kultur-Paradigma! (s. Abb. 6, S. 67) Ein wissenschaftlicher Paradigmenwechel ist demzufolge etwas gänzlich anderes als ein kultureller Überlieferungsbruch, ein Wechsel des Kultur-Paradigmas. 65 Mit anderen Worten: Ein wissenschaftlicher Paradigmenwechsel (wie etwa im Fall der Quantentheorie) muss nicht notwendigerweise mit dem Wechsel des Kultur-Paradigmas, also einem Überlieferungsbruch, einhergehen. Im Folgenden soll dieser Unterschied anhand des wohl gravierendsten Überlieferungsbruchs ersichtlich gemacht werden, den die menschliche Kulturgeschichte kennt: jenen von der jüdisch-christlichen Tradition hin zur säkularen abendländischen Moderne; dieser Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, a. a. O., S. 51. Die vielgepriesenen »harten Daten und Fakten«. 63 Rheinberger: Historische Epistemologie zur Einführung, a. a. O., S. 52. 64 Es scheint uns angemessen, ergänzend den Aspekt des Kommunikations-Stils ins Treffen zu führen, da Erkenntnis und Kommunikation nur als verschränkte ZweiEinheit denkbar sind. Mit anderen Worten: Ein spezifischer Denkstil hat stets einen spezifischen Kommunikationsstil zur Seite (und umgekehrt); Erkenntnis-Verständnis und Kommunikations-Verständnis gehen stets Hand in Hand – ohne dass dieser Umstand vielfach bewusst sein mag. 65 Auf diesen zentralen Unterschied verweist aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht Giesecke, wenn er schreibt: »Es [Gieseckes Buch] geht dabei von der Prämisse aus, daß bislang alle tiefgreifenden kulturellen Veränderungen, die wir in der Geschichte verfolgen können, auch zu Veränderungen der Informationstypen und Denkstile geführt haben, die die Kulturen prämieren.« (Giesecke, Michael: Die Entdeckung der kommunikativen Welt, Frankfurt/Main 2007, S. 11) 61 62
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
ermöglichte nicht nur die gegenwärtige Welt-Zivilisation 66, sondern in dessen Kontext entstand auch die moderne Wissenschaft. Dazu wollen wir uns vorerst mit der Frage nach dem Ermöglichungsgrund des wissenschaftlichen »Denkrahmens der Moderne« befassen. Dies soll mit Hilfe eines theoretischen Physikers geschehen, der maßgeblich an der Entwicklung der Quantentheorie beteiligt war: Wolfgang Pauli. In seinem Aufsatz Die Wissenschaft und das abendländische Denken 67 wagt sich der theoretische Physiker an eine geistesgeschichtliche Deutung der Genese abendländischer Wissenschaftlichkeit, die sich nicht bloß in einer Aufzählung historischer Daten, Fakten und (alt)bekannter oder aktuell anerkannter Verlaufsfiguren erschöpft. Er stellt die spezifische Erkenntnisweise der modernen Wissenschaftlichkeit also nicht nur – wie zumeist üblich – anhand ihrer faktischen Genese (sowie damit verbundener methodischer und technischer Errungenschaften) dar, sondern insbesondere vor dem Hintergrund von deren geistesgeschichtlichem Möglich-Werden. Er beginnt seine Überlegungen mit dem – weitgehend konsensfähigen – Gedanken, dass Wissenschaftlichkeit eine charakteristische Gestalt der abendländischen Kultur darstelle, ja dass Wissenschaftlichkeit »mehr als alles andere« für die abendländische Kultur kennzeichnend sei. Wenn wir genau hinhören, bemerken wir: Er sagt nicht, Wissenschaftlichkeit sei eine spezifisch-abendländische kulturelle Hervorbringung, – was man auch sagen könnte. 68 Er formuliert so: Nichts sei kennzeichnender für die abendländische Kultur als die Wissenschaft. Wenn keine gemeinsame kulturprägende Überlieferung mehr vorausgesetzt werden kann und es trotzdem zu einschneidenden Ereignissen kommt (wie etwa dem Holocaust während des 2. Weltkrieges, dem Abwurf der Atombomben am 6. und 9. August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki, dem Anschlag auf die Twin Towers »9/11« in New York), schlagen wir – mit Hanna Arendt – vor, in diesen Fällen von einem Zivilisationsbruch zu sprechen. 67 Ursprünglich erschienen in: Göhring, Martin: Europa – Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongreß Mainz 1955, Wiesbaden 1956, bzw. Pauli, Wolfgang: Aufsätze und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie, Braunschweig 1961, S. 102–112; hier zitiert nach: Dürr, Hans Peter (Hrsg.): Physik und Transzendenz. Die großen Physiker unseres Jahrhunderts über ihre Begegnung mit dem Wunderbaren, Bern – München – Wien 1986, S. 193–205. Vgl. zum erwähnten Aufsatz von Pauli auch: Heisenberg, Werner: Wolfgang Paulis philosophische Auffassungen, in: ders.: Schritte über Grenzen. Gesammelte Reden und Aufsätze, erweiterte Neuausgabe, München 1976, S. 43–51. 68 So argumentiert etwa Matthias Vereno in seinem Band Mythisches Wissen und Offenbarung (Münster 1958). 66
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
Denk- bzw. Kommunikationsstil
Singuläres Experiment ExperimentalSystem WissenschaftsParadigma Kultur-»Paradigma«
Abb. 6: Dimensionen der Rückverbundenheit
Stimmt das? Ist diesem Gedanken beizupflichten? Ist damit gemeint, dass man moderner Wissenschaftlichkeit im Abendland auf Schritt und Tritt begegnet, ja dass die ganze abendländische Kultur – und von da aus: die ins Globale ausgreifende Weltzivilisation – davon in einer unübersehbaren Weise gekennzeichnet ist? Man denke etwa an die Skyline einer beliebigen Großstadt: Praktisch alles, was hier zu sehen ist, etwa im Zuge eines Landeanflugs, ist Ausdruck, Resultat von moderner Wissenschaft. Wenn das gemeint ist, dann kann Pauli gar nicht nicht zugestimmt werden. Aber sein Satz: »Mehr als alles andere ist Wissenschaft für das Abendland charakteristisch« könnte auch anders gemeint sein, nämlich im Sinne von: Nichts bringt dasjenige, das abendländische Kultur ausmacht, besser zum Vorschein als Wissenschaft. Diese Deutung würde vermutlich nicht auf einhellige Zustimmung stoßen. Man könnte dem etwa mit Revers entgegenhalten: »Wissenschaft ist eine späte Frucht abendländischer Kultur.« 69 Oder:
Revers, Wilhelm Josef, in: Gebsattel, Viktor Emil: Imago Hominis. Beiträge zu einer personalen Anthropologie, Schweinfurt 1964, Vorwort, S. 9.
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Moderne Wissenschaft stelle vielleicht das offensichtlichste, aber nicht das eigentliche Charakteristikum abendländischer Kultur dar. Möglicherweise wäre auch von der Gefahr des Szientismus die Rede oder gar vom Kampf gegen den Omnipotenz-Anspruch moderner Wissenschaftlichkeit. 70 Festzuhalten gilt es jedenfalls – neutral formuliert –, dass die abendländische Moderne ohne den Faktor Wissenschaftlichkeit schlichtweg nicht zu denken ist. Vor diesem Hintergrund skizziert Pauli (Natur-)Wissenschaftlichkeit nun näher: Als zentrale Merkmale dieser spezifischen Erkenntnisweise des Menschen (neben anderen Erkenntnis-Modi) sieht er die Aspekte der (mehr oder weniger direkten) Lehrbarkeit und (subjektvariablen) Prüfbarkeit. Erhellend führt er dazu aus: »Unter Lehrbarkeit verstehe ich die Mitteilbarkeit von Gedankengängen und Ergebnissen an andere, die eine fortschreitende Tradition ermöglicht, indem das Erlernen des schon Bekannten eine geistige Anstrengung von ganz verschiedener Art erfordert als das Auffinden von etwas Neuem.« 71
Pauli unterscheidet also – ganz im Sinne Albert Einsteins 72 – zwei grundsätzlich unterschiedliche geistige Anstrengungen, die mit dem Erkenntnismodus »Wissenschaft« verbunden sind: zum einen das Erlernen des schon Bekannten, den »Traditionsaspekt« von Erkenntnis; zum anderen das Entdecken, Konstruieren von Neuem, den individuell schöpferischen, »prophetischen« Aspekt von Erkenntnis. Demzufolge sieht Pauli Wissenschaft als das dialektische Wechselspiel zwischen »erlernt-traditioneller« und »erahnt-intuitiver« Erkenntnis, jeweils verbunden mit der Gefahr, nach einer der beiden Seiten hin »abzustürzen«. Dazu unser Gewährsmann noch einmal mit eigenen Worten: »In der Naturwissenschaft gibt es keine allgemeine Regel [»objektive« Verfahrensweise], wie man vom empirischen Material [bzw. von der erlernttraditionellen Erkenntnis] zu neuen mathematisch formulierbaren Begriffen und Theorien kommen kann. Einerseits geben die empirischen Ergebnisse Anregungen zu Gedankengängen, andererseits sind Gedanken, Ideen selbst Phänomene, die spontan entstehen, um nachher bei Konfrontation
Vgl. dazu etwa den Band Die Befreiung vom wissenschaftlichen Glauben, hrsg. vom Natur-Wissenschafter (!) Heinrich Zoller (Freiburg 1974). 71 Pauli zitiert nach Dürr: Physik und Transzendenz, a. a. O., S. 193. 72 Vgl. dazu Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., S. 143. 70
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
mit den Beobachtungsdaten [= dem empirischen Material] wieder Modifikationen zu erfahren.« 73
Albert Einstein beschreibt das ganz ähnlich: »Die Methode des Theoretikers bringt es mit sich, dass er als Fundament allgemeine Voraussetzungen, so genannte Prinzipe, braucht, aus denen er Folgerungen deduzieren kann. Seine Tätigkeit zerfällt also in zwei Teile. Er hat erstens jene Prinzipe aufzusuchen, zweitens die aus den Prinzipen fließenden Folgerungen zu entwickeln. Für die Erfüllung der zweiten Aufgabe erhält er auf der Schule ein treffliches Rüstzeug. […] Die erste der genannten Aufgaben, nämlich jene, die Prinzipe aufzustellen, die der Deduktion als Basis dienen sollen, ist von ganz anderer Art. Hier gibt es keine erlernbare, systematisch anwendbare Methode, die zum Ziele führt. Der Forscher muss vielmehr der Natur jene allgemeinen Prinzipe gleichsam ablauschen, indem er an größeren Komplexen von Erfahrungstatsachen gewisse allgemeine Züge erschaut, die sich scharf formulieren lassen.« 74
Das zweite charakteristische Erkenntniselement von Wissenschaftlichkeit (neben der Lehrbarkeit) stelle die subjektvariable (prinzipielle) Nachvollziehbarkeit/Prüfbarkeit – sowohl der Gedankengänge als auch der experimentellen Handlungsabläufe, dar. 75 Von hier geht Pauli nun einen Schritt über die rein methodologische Betrachtung von »Wissenschaftlichkeit« hinaus. Dabei beginnt er mit der Differenzierung zwischen Naturwissenschaft (der stets ein empirischer Gegenstand zugrunde liege) und Mathematik (die in der Regel als Formal- bzw. Hilfs-Wissenschaft angesehen werde, da sie keinen »gegenständlichen Außenbezug« habe) 76 um schließlich – mit einem Satz, sozusagen in einem großen GedankenSchritt – etwas Eigentümliches festzustellen: »Die Möglichkeit des mathematischen Beweises und die Möglichkeit, Mathematik auf die Pauli zitiert nach Dürr: Physik und Transzendenz, a. a. O., S. 193. Einstein, Albert: Mein Weltbild, Querido Verlag, Amsterdam 1934, S. 110 f. 75 Hierzu bemerkt Pauli präzisierend: »Nicht jede Einzelaussage einer naturwissenschaftlichen Theorie kann immer direkt empirisch kontrolliert werden, doch das Gedankensystem als Ganzen muss Möglichkeiten einer Kontrolle durch empirische Methoden enthalten, wenn es den Namen einer naturwissenschaftlichen Theorie verdient. Darin besteht seine Prüfbarkeit.« (Pauli zit. nach Dürr: Physik und Transzendenz, S. 193) 76 Nur am Rande sei vermerkt, dass Mathematik – seiner griechischen Ursprungsbedeutung gemäß – etwas ganz anderes bedeutete als »Wissenschaft von den Raumund Zahlengrößen«. Fußend auf dem Stammwort manthánein stand es einst für (kennen-)lernen, erfahren, das etymologisch verwandt ist mit dem deutschen munter (vgl. Duden: Bd. 7 [Etymologie], Mannheim – Wien – Zürich 1963, S. 427 f.). 73 74
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Natur [verstanden als die empirische ›Realität‹] anzuwenden, sind fundamentale Erfahrungen der Menschheit, die zuerst in der Antike entstanden sind.« 77 Lassen wir einmal die Frage beiseite, wo und wann diese Möglichkeit(en), Mathematik auf die Natur anzuwenden, zuerst entdeckt worden sind, in der Antike (wie Pauli meint) oder noch früher; in jedem Fall verweist unser Gewährsmann auf das Erstaunliche, dass Mathematik – das heißt rein geistige menschliche Konstruktion – überhaupt auf empirische Realität relevant anwendbar ist. Explizit verweist er auf diesen oft übersehenen Umstand, wenn er bemerkt: »Diese Erfahrungen [der menschlichen Möglichkeit, Mathematik auf die Natur anzuwenden] sind sogleich [von den Erkennenden der Antike] als rätselhaft-übermenschlich, göttlich empfunden worden, und die religiöse Atmosphäre war berührt.« 78 (Einstein meinte oft, das Unbegreiflichste an der Natur sei ihre Begreiflichkeit.) Damit macht Pauli zweierlei deutlich: Zum einen, dass Mathematik bzw. Geometrie in der Antike nicht in erster Linie als Hilfsbzw. Formal-Wissenschaften verstanden wurden, sondern vielmehr – fast ist man geneigt zu sagen: au contraire – als Real- bzw. Relational- »Wissenschaften«. 79 Zum anderen, dass wissenschaftliche Erkenntnis stets basiert bzw. verbunden ist (wie verdeckt auch immer) mit Orientierungs-Wissen respektive Erkenntnis des Wahren und/ oder Heilbringenden. Dieser Hinweis Paulis scheint äußerst wichtig und ist immer wieder – gerade im Kontext moderner wissenschaftlicher Erkenntnisvermittlung – aufs Neue in Erinnerung zu rufen: Der Umstand, dass wissenschaftliche Erkenntnis stets basiert auf außerwissenschaftlichen Erkenntnismodi – wobei das Verhältnis dieser unterschiedlichen Erkenntnisweisen immer wieder neu in Frage steht bzw. »im Fluss ist«. 80 Pauli zitiert nach Dürr: Physik und Transzendenz, a. a. O., S. 194. Pauli, ebd., S. 194. 79 Dies aufgrund des Umstandes, dass die empirische Wirklichkeit als durchwirkt von Zahlenverhältnissen, ja als harmonische Relationalität, als Zahlen-Ordungs-Gefüge angesehen wurde; das Paradebeispiel für diese Sichtweise bildet bekanntlich Pythagoras bzw. der Pythagoreismus; aber man denke auch an Johannes Kepler (siehe zum Theorie-Begriff in Antike bzw. abendländischer Moderne Kapitel III/10 bzw. Vonessen, Franz: Signaturen des Kosmos. Welterfahrung in Mythen, Märchen und Träumen, Witzenhausen 1992, insb. S. 167 ff.). 80 In diesem Sinne bemerkt Ferdinand Ebner: »Ein wissenschaftliches ›Weltbild‹ aber gibt es überhaupt nicht. Alles Sein und alle Wirklichkeit ist im ›Wort‹, diesem diametralen Gegensatz zur mathematischen Formel. […] Und im Wort ist auch, was sie 77 78
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
Genau an dieser Stelle beginnt die Argumentation Paulis etwas wackelig zu werden. Aber hören wir erneut noch einmal Pauli selbst; er schreibt – auf die angedeutete Beziehung zwischen Orientierungswissen und wissenschaftlicher Erkenntnis Bezug nehmend – folgendes: »Auf Perioden nüchterner kritischer Forschung folgen oft andere [Perioden], wo eine Einordnung der Wissenschaft in eine umfassendere, mystische Elemente enthaltene Geistigkeit erstrebt und versucht wird.« 81 In einem Brief an Victor Weisskopf schrieb Pauli im Februar 1954: »Nach meiner Ansicht ist es nur ein schmaler Weg der Wahrheit, der zwischen der Scylla eines blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis eines sterilen Rationalismus hindurchführt. Dieser Weg wird immer voller Fallen sein und man kann nach beiden Seiten abstürzen.« 82 Was wird damit zu verstehen gegeben? Pauli möchte damit allem Anschein nach zum Ausdruck bringen, dass in der Kulturgeschichte der Menschheit bzw. im Verlaufe menschlicher Kulturalität – respektive damit verbundenen kulturellen Wandels – Perioden »nüchterner Forschung« oft – um nicht zu sagen: in der Regel – von Epochen gefolgt bzw. abgelöst werden, in denen eher »mystisch-umfassende« (um das Wort ganzheitlich zu vermeiden) Erkenntnis gefragt ist. Dieser Gedanke hat zweifellos etwas für sich und ist in seiner allgemeinen Evidenz kaum zu bestreiten: Auf Phasen des »Aufbauens«/Etablierens von (neuen) Wirklichkeitsverständnissen (und -aspekten) folgt – nach einer Plateauphase – die »prophetische (Erkenntnis-)Kritik« am status quo, die wohl stets aus einer »mystischumfassenden« Erkenntnis-Erfahrung ersteht; man denke an Buddha Gautama, Lao Dse und Konfuzius, die hinduistischen Rishis (Seher), die Propheten Israels, oder – im abendländischen Kontext – an Franziskus oder Luther; im Rahmen moderner Wissenschaftlichkeit an Pascal, Hamann, Kierkegaard, Nietzsche, Ebner, Bohr/Heisenberg/ Pauli. Dennoch scheint uns der Gedanke von Pauli – zumindest tendenziell – in eine falsche Richtung zu weisen, indem gleichsam stillnicht hat und nicht geben kann: das Bild der Welt.« (Ebner, Ferdinand: Schriften, Bd. 1, München 1963, S. 960; vgl. dazu auch: Tenbruck, Friedrich: Das Elend der Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, Graz – Wien – Köln 1984). 81 Pauli zitiert nach Dürr: Physik und Transzendenz, a. a. O., S. 194. 82 Pauli zitiert nach Fischer, Ernst Peter: Niels Bohr. Physiker und Philosoph des Atomzeitalters, München 2012, S. 184.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
schweigend mitgesagt wird: alles kulturgeschichtliche ErkenntnisGeschehen sei prinzipiell – in mehr oder weniger gleichem Maße (bei freilich unterschiedlichen spezifischen Gestalten) – von diesem dialektischen Prozess gekennzeichnet. Dies deshalb, weil damit das Geistesgeschichtlich-Spezifische der abendländischen Moderne (bzw. moderner Wissenschaftlichkeit als deren hervorragender Erscheinungsweise) aus dem Blick gerät: nämlich der zentrale Umstand, dass in der Moderne der Aspekt der »nüchternen Forschung« nicht nur die Oberhand über die »mystisch-umfassende« Erkenntnisweise gewinnt, sondern als die eigentliche und einzige übersubjektiv-allgemeine Gestalt humaner Erkenntnis betrachtet wird. Damit kein Missverständnis aufkommt: Pauli sieht sehr wohl die mit dem Übergewicht des wissenschaftlichen Erkenntnisaspekts im Kontext der Moderne verbundene Bedrohung genau und weist darauf hin, wie wichtig das Anstreben der oben skizzierten ErkenntnisBalance ist, etwa wenn er schreibt: »Ich glaube, daß es das Schicksal des Abendlandes ist, diese beiden Grundhaltungen, die kritisch-rationale, verstehen wollende auf der einen Seite und die mystisch-irrationale, das erlösende Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite, immer wieder in Verbindung zueinander zu bringen.« 83
Doch nimmt er diese Bedrohung (schon) mit den (geblendeten) »Erkenntnis-Augen« des »Denkrahmens der Moderne« wahr, in dem er die nicht-wissenschaftliche Erkenntnisgrundhaltung als irrational bezeichnet, das heißt als unüberbrückbaren Gegensatz zur rationalen Erkenntnisweise der modernen Wissenschaft auffasst bzw. zu verstehen gibt, und diese irrationale Erkenntnisausrichtung zudem als Suche nach dem mystisch-erlösenden Einheitserlebnis darstellt. So verlassen wir an dieser Stelle den Pauli’schen Gedankengang, nicht ohne zu erwähnen, dass von den federführenden Physikern des 20. Jahrhunderts Wolfgang Pauli nicht der einzige war, der solche geistesgeschichtliche Überlegungen angestellt und publiziert hat. So lesen wir etwa bei Erwin Schrödinger: »Überschaut man den theoretischen und praktischen Enderfolg des abendländischen Denkens während anderthalb Jahrtausenden, so ist er nicht gerade ermutigend. Der wesentlichen Weisheit letzter Schluß, daß alle Trans83
Pauli zitiert nach Dürr: Physik und Transzendenz, a. a. O., S. 194.
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zendenz ein für allemal zu verschwinden hat, läßt sich auf dem Gebiet des Erkennens, für das er eigentlich gemeint ist, nicht wirklich durchsetzen, weil wir hier der metaphysischen Führung doch nicht entraten können, sondern, wo wir das glauben, meist nur unendlich viel naivere und kleinherzige an die Stelle der alten großzügigen metaphysischen Irrlehren treten lassen. Dagegen ist auf dem Gebiete des Lebens, ausgehend vom intellektuellen Mittelstand, eine praktische metaphysische Befreiung in die Wege geleitet, vor deren Anblick den edlen Aposteln dieser Freiheit – ich meine vor allem die Aufklärungsphilosophen und Kant – schaudern würde, wenn sie ihn erlebt hätten. Der Zustand hat, wie schon oft bemerkt worden ist, eine erschreckende Ähnlichkeit mit dem am Ausgang des Altertums. Und zwar nicht nur hinsichtlich der allgemeinen Religions- und Sittenlosigkeit, sondern auch in dem Punkt besteht Übereinstimmung, daß beide Epochen auf dem Gebiete der pragmatischen Erkenntnis in feste und sichere Bahnen eingelaufen zu sein glauben, die nach der Überzeugung des Zeitalters wenigstens hinsichtlich ihrer allgemeinen Form und ihrer Grundlagen dem Wechsel der Meinungen entrückt scheinen: damals die Philosophie des Aristoteles, heute die moderne Naturwissenschaft. Hält der Vergleich auch in diesem Punkt Stich, so steht es um die letztere übel! Will man sich also wundern, daß uns Enkeln bei näherem Zusehen der Mut gebricht, uns zu Erben dieser reichlich passiven Verlassenschaft zu erklären und Gedanken weiterzudenken, die so offenkundig nach zweitausend Jahren zum zweiten Mal dem Bankrott zusteuern!« 84
Der durch die naturwissenschaftliche Methodik eingeleitete Überlieferungsbruch wird – verkürzt – häufig mit der Erfindung der experimentellen Methode durch Galileo Galilei gleichgesetzt. Es ist uns ein Bedürfnis, darauf hinzuweisen, dass das neuzeitliche Geschehen der Durchsetzung eines Weltverständnisses, in dem alles Geistige eliminiert bzw. zu etwas Sekundärem erklärt und nur Materie als das »eigentlich Reale« betrachtet wurde, weder als zwangsläufig anzusehen ist noch sich »von heute auf morgen« vollzog. Die unseres Erachtens verkürzte Sicht dieses geistesgeschichtlichen Vorgangs findet ihren Ausdruck in der Tatsache, dass nach allgemeiner – aber falscher – Meinung Galilei von der katholischen Kirche in einem aufsehenerregenden Prozess 1633 wegen Häresie verurteilt worden ist. Im Kapitel III/4 haben wir gezeigt, wie die anstehende Kalenderreform Triebfeder für die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode durch Galilei wurde. Die Kalenderreform wurde 1582 durchgeführt. Papst Gregor XIII. führte den neuen Kalender ein und 84 Schrödinger, Erwin: Mein Leben, meine Weltansicht, Zsolnay Verlag, Wien 1985, S. 52 f.
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ordnete an, dass auf den 4. Oktober 1582 unmittelbar der 15. Oktober zu folgen habe. (Damit war die aufgetretene Differenz von 10 Tagen beseitigt.) 85 Galilei konnte sich nicht mit der Spaltung von Wahrheit und Hypothese abfinden (siehe Kap. III/4). Zwar war er – als gläubiger Katholik, Freund und sogar Vorbild vieler Kardinäle – mit der Unterscheidung von Wahrheit und Hypothese einverstanden, wollte sie aber nicht zur Trennung führen. Er schrieb: »Ich bin geneigt zu glauben, die Autorität der Heiligen Schrift habe den Zweck, die Menschen von jenen Wahrheiten zu überzeugen, welche für ihr Seelenheil notwendig sind und die, jede menschliche Urteilskraft völlig übersteigend, durch keine Wissenschaft noch irgendein anderes Mittel als eben durch Offenbarung des Heiligen Geistes sich Glaubwürdigkeit verschaffen können. Dass aber dieser selbe Gott, der uns mit Sinnen, Verstand und Urteilsvermögen ausgestattet hat, uns deren Anwendung nicht erlauben und uns auf einem anderen Weg jene Kenntnisse beibringen will, die wir doch mittels jener Eigenschaft selbst erlangen können, das bin ich, scheint mir, nicht verpflichtet zu glauben.« 86
In diesem Dilemma, in dem sich Galilei weder dafür entscheiden konnte, das kopernikanische System als bloße Hypothese zu akzeptieren, noch es zur Wahrheit zu erheben, fand Galilei – wie erwähnt (siehe Kap. III/3) – einen Ausweg: Er erfand das Experiment als Kriterium. Gingerich schreibt dazu: »Als Galilei erkannte, dass die Venusphasen mit dem ptolemäischen System unvereinbar waren, musste er unweigerlich zu der Einsicht gelangen, dass das Buch der Natur tatsächlich etwas über die Bewegung der Gestirne aussagte. Da nun das ptolemäische System nicht mehr in Frage kam, schloss sich Galilei voll und ganz dem kopernikanischen Weltbild 87 an.« 88
Allerdings wollte er eine Unterscheidung beibehalten, nur sprach er nicht mehr von Hypothese, sondern von Wissen oder Kenntnis über die Natur. In geradezu sokratischer Bescheidenheit sagte Galilei: »Die eitle Einbildung, man verstehe alles, kann ja nur daher kommen, dass man nie etwas verstanden hat. Denn wer nur ein einziges Mal das VerständBemerkenswerterweise starb die große spanische Mystikern Teresa von Avila ausgerechnet in dieser Nacht vom 4. auf den 15. Oktober 1582. 86 Galilei, Galileo: Brief an Castelli vom 21. Dez. 1613, in: Favaro, Antonio: Le Opere di Galileo Galilei, Ed. Nazionale (1890–1909), Volume V (Roma 1895), S. 281. 87 Gemeint ist das Kopernikanische Bild des Sonnensystems. 88 Gingerich: The Galileo Affair, a. a. O., S. 113. 85
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nis einer Sache erlebt hat, wer wirklich geschmeckt hat, wie man zum Wissen gelangt, der weiß auch, dass er von der Unendlichkeit der übrigen Wahrheiten nichts weiß.« 89
Erst nach dem unseligen Prozess von 1633 verfasste Galilei sein zweites Hauptwerk, die Discorsi, das die Mechanik und die Fallgesetze behandelt. Der Galilei-Biograf Albrecht Fölsing schreibt dazu: »Anders als im ›Dialog‹ kommt Gott als der große Weltenbaumeister in den ›Discorsi‹ nicht mehr vor, aber nicht etwa, weil Galilei an ihm irre geworden wäre. Der wesentlichste Grund dürfte wohl die Angst vor der Inquisition gewesen sein, der durch die Publizierung eines neuen Buches des Geächteten ohnehin schon die Grenzen ihrer Macht in einer für Galilei nicht ganz risikolosen Weise deutlich wurden […]« 90.
Damit wurde – zumindest strukturell – der Unterschied zwischen Wahrheit und Wissen zur Trennung geführt. Gott war aus den Überlegungen der Naturwissenschaft ausgegrenzt worden. Diese Trennung von Naturwissenschaft und Religion führte Voltaire schließlich zu der Ansicht, Physik sei nun die neue Religion. Als ihm der Physiker Maupertuis die Newton’sche Theorie erklärt hatte, schrieb ihm Voltaire den schon in Kap. III/3 erwähnten Brief, in welchem er sich als ›erleuchteter Heide‹ bezeichnet. 91 Ging es bei Galilei um die Dialektik von Wahrheit und Wissen, also um Gott und Welt oder Schöpfer und Schöpfung, so kämpfte sein Zeitgenosse René Descartes mit der Dialektik von Materie und Geist. Es ist immer im Auge zu behalten, dass die Erfindung der Naturwissenschaft zeitlich mit dem Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) zusammenfällt, also einem Krieg, der um der Wahrheit willen zu unvorstellbaren Grausamkeiten geführt hat. René Descartes hatte als Soldat bei Herzog Maximilian von Bayern an den ersten Kämpfen dieses schrecklichen Krieges teilgenommen. Vielleicht hat ihn dies beeinflusst, als er bei der Suche nach Wahrheit auf die Idee kam, er könne diese nur alleine, also in sich finden. Dazu kam, dass der Dreißigjährige Krieg der Konfessionen auch ein Krieg der Theolog(i)en war 92; keine tradierte Glaubenswahrheit war mehr sakrosankt, an Einzelheiten z. B. in Jauch, Josef Maria: The Trial of Galileo Galilei, in: Yellow CERN-Report 64–36, Genf 1964 oder Lerner, Lawrence S.; Gosselin, Edward A: Galilei and the Specter of Bruno, in: Scientific American 11 (1986), S. 116. 90 Fölsing: Galileo Galilei, a. a. O., S. 449. 91 Zitiert nach Schramm: Natur ohne Sinn? a. a. O., S. 87. 92 Dies macht etwa der Umstand drastisch deutlich, dass in bestimmten Gegenden 89
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nichts und niemand schien man sich länger zweifelsfrei halten zu können. So lag der Gedanke nahe: Wenn man einen Zweiten zur Wahrheitsfindung benötige, führe dies unweigerlich zu Auseinandersetzung und Streit, was doch nicht die Voraussetzung der Wahrheitsfindung sein könne. Mit seinen eigenen Worten: »Da ich mich aber damals nur auf die Suche nach der Wahrheit begeben wollte, glaubte ich, ich müsse ganz das Gegenteil tun und all das als völlig falsch verwerfen, wofür ich mir nur den geringsten Zweifel ausdenken könnte, um zu sehen, ob danach nicht irgendeine Überzeugung zurückbliebe, die gänzlich unbezweifelbar wäre.« 93
Das Ergebnis seiner Suche ist bekannt: Cogito ergo sum, denkend bin ich. »Alsbald aber fiel mir auf, dass, während ich auf diese Weise zu denken versuchte, alles sei falsch, doch notwendig ich, der es dachte, etwas sei. Und indem ich erkannte, dass diese Wahrheit: ›ich denke, also bin ich‹ so fest und sicher ist, dass die ausgefallensten Unterstellungen der Skeptiker sie nicht zu erschüttern vermöchten, so entschied ich, dass ich sie ohne Bedenken als ersten Grundsatz der Philosophie, die ich suchte, ansetzen könne.« 94
Unsere Kritik am »Cogito ergo sum« werden wir in Kapitel VII darlegen. Hier geht es um die Konsequenzen der Unterscheidung von Geist und Materie. Für Descartes folgt diese Unterscheidung notwendig aus dem »cogito ergo sum«. Geist ist für Descartes »denkendes Sein« (res cogitans), Materie ist ausgedehnt, sie erfüllt den Raum (res extensa). Dass diese Unterscheidung zur Trennung und Ableugnung des Geistes (als Primärphänomen) wurde, darf zunächst nicht Descartes zur Last gelegt werden. Carl Friedrich von Weizsäcker sagt das deutlich: »In der Tat ist seine Philosophie weder einseitig dem Geist noch einseitig der Materie zugewandt. Zwar hat er Geist und Materie scharf unterschienicht-aristotelisches Philosophieren bei Todesstrafe verboten war. Vgl. dazu Lojacono, Ettore: René Descartes, Verlag Spektrum d. Wissenschaft, Heidelberg 2001, S. 39: »Einige junge Philosophen hatten es gewagt, einen Saal zu mieten, um öffentlich vierzehn Thesen gegen Aristoteles zu verkünden. Das Parlament von Paris verhängte daraufhin die Todesstrafe gegen jeden, der sich künftig unterstand, nichtaristotelisch zu philosophieren.« 93 Descartes, René: Discours de la méthode, Französisch-Deutsch, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1990, S. 53. 94 Ebd., S. 53.
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den, vielleicht schärfer als es je zuvor in der Geschichte der Philosophie geschehen ist. Aber er hat sie unterschieden, um dann auch die Art ihrer Beziehung zueinander ebenso scharf bezeichnen zu können. Historisch gehört er daher ebenso sehr zu den Stammvätern des Methodenbewusstseins der Naturwissenschaft wie zu denen der Philosophie des Geistes.« 95
Der nächste Schritt im Überlieferungsbruch ergab sich aus der Tatsache, dass die »neue Wissenschaft« (nuova scienza) des Galilei zunächst nur auf Materie anwendbar schien. Descartes hat dazu beigetragen, indem er die Methode in seinen vier Vorschriften charakterisierte und die Zerlegung in kleinste Einheiten propagierte und sie so in den Denkrahmen eingefügt werden konnte (siehe Kap. III/3). So musste sich Newton nach der Veröffentlichung seiner GravitationsTheorie in den Principia Mathematica gefallen lassen, von den Anhängern Descartes’ als Spiritist bezeichnet zu werden, weil die Schwerkraft nicht als »res extensa« einzustufen war und daher geisterhaften Charakter hatte. Newton hat unter diesen Anschuldigungen gelitten. In den Principia Mathematica sagt er: »Es würde hier der Ort sein, etwas über die geistige Substanz hinzuzufügen, welche alle festen Körper durchdringt und in ihnen enthalten ist. Durch die Kraft und Tätigkeit dieser geistigen Substanz ziehen sich die Teilchen der Körper wechselseitig in den kleinsten Entfernungen an und haften aneinander, wenn sie sich berühren.« 96
Und in einem Brief an Richard Bentley, den befreundeten Altphilologen, schreibt er am 25. 2. 1693: »Dass Gravitation eingeboren, inhärent und der Materie wesentlich sein sollte, so dass ein Körper über eine Distanz hin und durch den leeren Raum auf einen anderen wirken sollte, ohne die Vermittlung von irgend etwas, durch das ihre Aktion und Kraft von einem zum anderen geleitet werden könnte, ist für mich eine so große Absurdität, dass ich glaube, kein Mensch, der in philosophischen Angelegenheiten kompetent ist, kann jemals darauf verfallen. Die Gravitation muss durch ein Agens verursacht sein, das konstant nach gewissen Gesetzen wirkt; ob aber dieses Agens materiell oder immateriell ist, habe ich dem Urteil meiner Leser überlassen.« 97
Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft, a. a. O., S. 202. Zitiert nach Heuser, Harro: Der Physiker Gottes. Isaak Newton oder die Revolution des Denkens, Herder Verlag, Freiburg 2005, S. 140. 97 Newton zitiert nach Pietschmann, Herbert: Zum Begriff des »Aporon«. RaumZeit-Gravitation in physikalischer und philosophischer Sicht, in: Hashi, Hisaki 95 96
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Obwohl Newton an der Gottesfrage mindestens ebenso interessiert war wie an seinen physikalischen Überlegungen, wurde gerade er zum Sinnbild einer neuen Zeit, die Gott und Geist schließlich aus der öffentlichen Diskussion verdrängte. 98 Newton hat dazu insofern beigetragen, als er seine Gravitationstheorie mit den berühmten Worten verteidigte: »Es ist mir noch nicht gelungen, aus den Erscheinungen den Grund dieser Eigenschaft der Schwere abzuleiten, und Hypothesen erdichte ich nicht […]. Es genügt, dass die Schwere existiere, dass sie nach den von uns dargelegten Gesetzen wirke und dass sie alle Bewegungen der Himmelskörper und des Meeres zu erklären imstande ist.« 99
Häufig wird angeführt, die Aufklärung habe eine Trennung von Religion und Wissenschaft (Kirche und Staat) zum Ziele gehabt. Bei genauerer Analyse zeigt sich jedoch, dass die Aufklärer Religion durch Naturwissenschaft ersetzen wollten! Voltaires Brief vom 15. November 1732 an den Physiker Maupertuis gibt davon deutlich Zeugnis (siehe oben). In gewissem Sinne hat die Aufklärung eine negativ-aporetische Entwicklung induziert: Einerseits hat sie die Wissenschaft von der Religion getrennt, andererseits ist sie selbst zur neuen Religion geworden. Dem entspricht die neue ambivalente Haltung zur Trennung von Geist und Materie: Einerseits wird Materie zum einzig wahren Seienden erklärt, andererseits wird der Geist nun in der Materie gesucht; das Gehirn nimmt nun seinen Platz in der Forschung ein. 100 So konnte Carl Friedrich von Weizsäcker mit Recht schreiben: »Die Wissenschaft scheint irgendwie das Wesen und das Schicksal unserer Zeit auszudrücken. Ich versuche, diesen Gedanken in zwei Thesen zu fassen, die eine nicht ganz übliche Terminologie benützen. Die Thesen lauten: (Hrsg.): Interdisziplinäre Philosophie der Gegenwart, Frankfurt/Main 2009, S. 119– 130, hier S. 120. 98 Maßgeblich trug dazu – im Rückblick betrachtet – wohl auch der Umstand bei, dass Newton mit seiner Gravitationstheorie die Aristotelische Physik bzw. die damit verbundene Unterscheidung zwischen der Sphäre unterhalb und oberhalb des Mondes aufhob und damit eine kosmisch einheitliche Raumzeitdimension schuf. Dadurch verfiel nämlich ebenso die Differenzierung zwischen dem Bereich des »unidealen« sublunaren Seins und jener translunaren Sphäre, die das Spiegelbild himmlischer Vollkommenheit darstellte. 99 Zitiert nach Heuser: Der Physiker Gottes, a. a. O., S. 140. 100 Vgl. dazu: Knaup, Marcus: Seele und Leib oder mind and brain? Zu einem Paradimenwechsel im Menschenbild der Moderne, München 2012.
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1. Der Glaube an die Wissenschaft spielt die Rolle der herrschenden Religion unserer Zeit. 2. Man kann die Bedeutung der Wissenschaft für unsere Zeit, wenigstens heute, nur in Begriffen erläutern, die eine Zweideutigkeit ausdrücken. Man kann die beiden Thesen nur gemeinsam verstehen. So habe ich, indem ich den Glauben an die Wissenschaft als so etwas wie die Religion unserer Zeit bezeichnete, eine zweideutige Sprache gesprochen. In einem Sinne des Worts Religion ist diese These, wie ich meine, richtig, in einem anderen Sinne ist sie sicher falsch. Ich versuche, unsere Zeit durch eine Analyse dieser Zweideutigkeit zu verstehen.« 101
Im Jahrhundert der Aufklärung, als sich dieser Überlieferungsbruch zusehends anbahnte, versuchte Prospero Lorenzo Lambertini, von 1740 bis 1758 Papst Benedikt XIV., ein kritisches Gespräch mit der Aufklärung, insbesondere mit Voltaire, herbeizuführen. Er war als Intellektueller weithin anerkannt, hob den Bann gegen die Lehre des Nikolaus Kopernikus auf und unterstützte die Gründung ausländischer Kulturakademien in Rom. Auf ein Schreiben von Benedikt XIV. antwortete Voltaire jedoch lediglich mit der Gratulation zu Benedikts vollendeter Beherrschung der lateinischen Sprache! 102 Betrachten wir nun das in Frage stehende Geschehen der Genese der Moderne bzw. der modernen Wissenschaftlichkeit sowie den damit verbundenen Kulturparadigmenwandel / Überlieferungsbruch unter Bezugnahme auf einen der wohl besten Kenner dieser »Materie«: den Religionsphilosophen Matthias Vereno (1922–2009), der sich in seinen Schriften insbesondere um den Dialog der Kulturen zwischen Ost und West verdient gemacht hat. 103 Für unsere Thematik ist insbesondere seine Schrift Tradition und Symbol. Die Bedeutung altüberlieferter Weisheit für den modernen Menschen 104 hilfreich, da Vereno dort eine prinzipielle Differen-
Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft, a. a. O., S. 3. Vgl. die Ausstellung Lux in arcana (Rom 2012) mit bis dato unveröffentlichten Dokumenten des vatikanischen Archivs. 103 Aus einer Fülle von Publikationen seien erwähnt: Menschheitsüberlieferung und Heilsgeschichte. Zum Verständnis der geistigen Begegnung zwischen Asien und dem Abendland, Salzburg 1960; Religionen des Ostens, Olten 1961; Mythisches Wissen und Offenbarung, Münster 1958. 104 Vereno, Matthias: Tradition und Symbol. Die Bedeutung altüberlieferter Weisheit für den modernen Menschen, in: Symbolon. Jahrbuch für Symbolforschung, hrsg. von Julius Schwabe, Band 5 (1966), S. 9–24. 101 102
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zierung zwischen traditioneller 105 und neuzeitlich wissenschaftlicher Erkenntnisweise vornimmt, wobei er folgende vier zentrale Unterschiede hervorhebt: 1. Traditionelle Erkenntnis ist stets auf personale Verwirklichung bezogen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass es im Rahmen einer spirituellen Überlieferung bzw. einer Offenbarungskultur 106 nie bloß um faktisches bzw. technisches Bescheid-Wissen geht, sondern um den persönlichen Vollzug des als gesollt Erkannten. Vereno schreibt dazu wörtlich: »Traditionelles Wissen […] ist grundsätzlich auf persönliches Reifen, auf echte, wirkliche Seinswandlung bezogen.« 107 2. Erkenntnis steht im Rahmen vormoderner Überlieferungen grundsätzlich im Zusammenhang einer überindividuellen Kontinuität. »Tradition« – so Vereno zu diesem Aspekt – »heißt wörtlich ›Weitergabe‹, ›Überlieferung‹ ; den gleichen Sinn haben die entsprechenden Worte in Latein, Griechisch, Sanskrit und Hebräisch: traditio, parádōsis, smŗti, kabbala. Traditionelles Wissen beruht wesentlich auf dem autoritativen Wort und hat in diesem seine Kontinuität. – Nicht nur der Mensch, der solches Wissen erwirbt, auch das Wissen selber ist gewissermaßen ›ehrfürchtig‹«. 108 105 Traditionelle Erkenntnis meint dabei Erkenntnis im Rahmen einer spirituellen bzw. religiösen Überlieferung. 106 Mit dieser Bezeichnung sind alle jene Geisteskulturen gemeint, die von der Ansicht getragen sind, dass es einen transzendenten Seins-Grund gibt, der sich in der Welt der Erscheinungen – des Werden und Vergehens – zeigt, eben offenbart. Alle diese Kulturen gehen davon aus, dass die raumzeitliche Wirklichkeit nicht identisch ist mit dem Sein selbst. Im Kontext dieser Kulturen wird Menschsein demzufolge in erster Linie darin erblickt, zum unvergänglichen Sein zu gelangen; und dies nicht primär mit Hilfe von Erkenntnis bzw. individuellen gedanklichen Konzeptionen, sondern durch Rückbindung/Kommunikation an den Seins-Grund. (Vgl. dazu: Vereno: Mythisches Wissen und Offenbarung, a. a. O., bzw. Hamberger, Erich: Komplementarität und Kommunikation. Fragmente einer transdisziplinären und transkulturellen Kommunikationstheorie, in: Hamberger/Luger: Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O., S. 218–265, insbesondere S. 228 ff. 107 Vereno, Tradition und Symbol, a. a. O., S. 9. Vgl. dazu Bamberg, Corona: Was Menschsein kostet. Aus der Erfahrung frühchristlicher Mönche gedeutet, Mainz 2001. 108 Vereno: ebd., S. 9.
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3. Traditionelle Erkenntnis setzt die Anerkennung eines Wesens der Dinge voraus. Diese Voraussetzung ist die Basis bzw. die Begründung eines übersubjektiven Wahrheitsbezugs aller vormodernen Überlieferungen. Alle Erscheinungswirklichkeit ruft demnach zu ihrer wesenhaften Erkenntnis auf. Zentral ist dabei der Hinweis von Vereno, dass die »Relativität der Auslegungen […] nicht ein beliebiges Auf und Ab der Meinungen [bedeutet], sondern es […] realiter verschiedene Grade der Annäherung [gibt]. […] Darum steht […] das Pflegen 109 höher als das Kämpfen, das Dienen höher als das Herrschen.« 110 Das Wissen um die Wesenhaftigkeit alles Seienden, des Belebten (Bewussten) wie des Unbelebten (Unbewussten) sowie das Streben nach der zweckfreien Schau der Dinge ist schließlich seinerseits ein wesentliches Element auf dem Weg der menschlichen Verwirklichung des eigenen Wesens bzw. des eigenen Werdens (vgl. Kap. VIII/4a: Werden 6¼ Entwicklung). 4. In vormodernen Kulturen wird zwischen sakral und profan unterschieden. Der Begriff sakral steht ursprünglich für das zu Scheuende, das zu Verehrende, das Heilige. Sakrales Wissen meint demnach – in Abhebung von profanem (teilheitlichem) Wissen – ganzheitliche Erkenntnis. Vereno bemerkt dazu: »›Heilig‹ […] hängt mit ›heil‹ (= ganz) zusammen (von der Bedeutung ›ganz‹ ist die Bedeutung ›gesund‹ abgeleitet). Zwischen Ganz-sein und Teil-sein besteht ein qualitativer Unterschied. Während von den quantitativen Unterscheidungen des Teil-seins her dieser Unterschied als solcher nicht anerkannt werden kann, wird vom Ganz-sein her gerade durch diese Unterscheidung das Teil-sein als solches anerkannt und respektiert, zugleich aber, weil eben eine qualitative Unterscheidung das Teil-sein als solches begründet, in dem ganzheitlichen Zusammenhang rückverbunden. Zu ganzheitlichem Erkennen gehört auch die Überwindung des Gegensatzes, der Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Daher muß es personales Erkennen sein, nämlich in solcher Weise, daß sein Subjekt nicht eine Teilfunktion ist – etwa das Denken –, sondern die gesamte Person.« 111
109 Vgl. die ursprüngliche Bedeutung von Kultur und Kult im Sinne der Hege und Pflege. Siehe dazu etwa: Rassem, Mohammed: Stiftung und Leistung. Essays zur Kultursoziologie, Mittenwald 1979. 110 Vereno, Tradition und Symbol, a. a. O., S. 15. 111 Vereno: Tradition und Symbol, a. a. O., S. 16.
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In analoger Weise lesen wir bei Tenbruck: »Eine [wissenschaftliche] ›Erkenntnis‹ ist eben durch das, was sie als ›richtig‹ vorbringt, nur unvollständig bestimmt. ›Verlässlich‹ wird sie erst, ›Genaues‹ sagt sie erst in dem Maß, wie sie ›in das Ganze‹ der Erkenntnis – oder der Wirklichkeit – eingeordnet werden kann.« 112 Vergleichen wir nun – mit Vereno – die vier skizzierten Kennzeichnungen traditioneller Erkenntnis im Kontext von Offenbarungskulturen mit den Merkmalen der Erkenntnisstruktur moderner Wissenschaftlichkeit, so wird deutlich, dass diese einen gänzlichen Überlieferungsbruch darstellt. 113 Ein solcher Vergleich erscheint uns in dem Maße statthaft, als – wie an anderer Stelle schon gezeigt wurde (siehe oben) – im Zuge der Neuzeit im Hinblick auf Erkenntnis die moderne Wissenschaft jene kulturprägende Stellung einnimmt, die vormals die Religion innehatte. Bevor wir diesbezüglich mit Vereno die vier Merkmale noch einmal der Reihe nach durchgehen, gilt es festzuhalten, dass in dem Maße, als Wissenschaftlichkeit in der Neuzeit zur kulturprägenden Erkenntnisstruktur wird, sich die abendländische Moderne selbst als Nicht-Offenbarungskultur 114 begreift. Warum? Dies nicht primär deshalb, weil die traditionellen Glaubensvorstellungen für überholt angesehen, sondern vor allem, weil Materie bzw. Raum und Zeit (und damit Werden und Vergehen) absolut gesetzt werden (vgl. Kap. IV/2). Wenn alles – basierend auf Materie – bloß wird und vergeht und nichts eigentlich dauert, wie sollte es da Offenbarung geben? Vor diesem Hintergrund kann Religion gar nichts anderes sein als Vertröstung auf ein nicht-existierendes Jenseits, als Opium zur Übertäubung der prekären Verhältnisse – und seien diese noch so luxuriös. Vereno bemerkt dazu prinzipiell: 112 Tenbruck: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder Die Abschaffung des Menschen, a. a. O., S. 276. 113 Vgl. Vereno: Tradition und Symbol, a. a. O., S. 16. 114 Darunter werden Überlieferungen verstanden, die davon ausgehen, dass die vorgegebene Wirklichkeit keinerlei Offenbarungscharakter aufweise bzw. mit dem werdenden/vergehenden Raumzeitkontinuum identisch sei. Hierbei lässt sich differenzieren zwischen der abendländischen Moderne als Nicht-Offenbarungskultur mit Erkenntnis-Primat und der ins Globale ausgreifenden Post-Moderne als Nicht-Offenbarungskultur mit Kommunikations-Primat (vgl. Hamberger: Kommunikation und Komplementarität, a. a. O., S. 233 ff.
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
»Gewiß kann die Wissenschaft ihre relative Gültigkeit vertreten, indem sie diese ihre Begrenzung – die sie als das, was sie ist, als ›moderne Wissenschaft‹ konstituiert – anerkennt. Sie wird aber immer in Gefahr stehen, sich zu verabsolutieren, das heißt, ihre Zuständigkeit für alle Wirklichkeit zu behaupten, die von ihr nicht erfaßbaren Kategorien für irreal zu erklären. Und damit wird sie dann allerdings zum Instrument ungeheuerlicher Fehldeutungen und Mißverständnisse – es sei denn, sie hätte mit solcher Annahme ihrer absoluten und universalen Zuständigkeit recht, in welchem Falle alle in vorliegender Arbeit ausgeführten Gedanken hinfällig wären.« 115
Beginnend mit dem Umstand, dass Materie und damit Raum und Zeit als eigentliches Grundelement der Wirklichkeit angesehen wird, wollen wir nun die vier von Vereno erwähnten Kennzeichen traditioneller Erkenntnis aus neuzeitlich-wissenschaftlicher Sicht betrachten. Welche Erkenntniskonsequenzen sind damit verbunden? 1. Es gibt kein Wesen der Dinge bzw. ebenso wenig der geistigen Entitäten (mehr). Insofern können die Dinge bzw. die Mitwelt keinen wirklichen Anspruch (mehr) darstellen, dem es zu entsprechen gilt, sondern bilden allein eine Ansammlung von Handlungsmöglichkeiten. Vereno drückt dies so aus: »Wenn nicht [länger] gilt: gut ist, was dem Wesen der Dinge entspricht, böse ist, was dem Wesen widerstreitet –, so gibt es kein objektives moralisches Kriterium im Umgang mit den Dingen. […] Es gibt [dann] keine Verpflichtung gegenüber den Dingen.« 116 Dazu kommt, dass in einer Kultur wie der abendländischen Moderne, in der Wesenhaft-Dauerndes schwerlich aufgewiesen werden kann, ebenso schwierig die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit postuliert zu werden vermag – mit der konsequenten Folge, dass die Zweckhaftigkeit an deren Stelle tritt. In diesem Sinne bemerkt Vereno: »Wesensverwirklichung ist in höchstem Grade sinnvoll und zugleich völlig zweckfrei. In dem Maße aber, in dem das Wesen geleugnet wird, wird der Sinn durch den Zweck ersetzt.« 117
Vereno: Tradition und Symbol, a. a. O., S. 16. Vereno, ebd., S. 17. Vereno erwähnte zur Veranschaulichung dieses Zusammenhangs mündlich öfters das Märchen von Frau Holle mit den Hauptdarstellerinnen Goldmarie und Pechmarie, in dem die Bäume zu den Mädchen rufen »Schüttelt uns!« und die fertig gebackenen Brotlaibe bittend flehen »Holt uns raus!« 117 Vereno: ebd., S. 17. 115 116
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
2. Es gibt keine Differenzierung zwischen sakraler Erkenntnis und profanem Wissen. Eine weitere Konsequenz des Kulturprägendwerdens wissenschaftlichen Wissens ist die Aufhebung der Differenz zwischen sakraler Erkenntnis und profanem Wissen. Denn auch das Sakrale wird nunmehr allein im Erkenntnishorizont der Wissenschaft erforscht. Es wird im Kontext wissenschaftlicher Betrachtung – wie Vereno bemerkt – »ipse facto allen anderen möglichen Gegenständen der Wissenschaft gleichgestellt und also ›profaniert‹.« 118 Vor allem fallen dieser Vorgehensweise all jene »Wirklichkeiten« bzw. Phänomene zum Opfer, die nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten nicht beforscht werden können. 3. Erkennen steht in der wissenschaftlichen Moderne prinzipiell nicht (mehr) im Zusammenhang einer überindividuellen Kontinuität. Doch hierbei handelt es sich nicht »um individuelle Zwecke – von diesen abzusehen, ist tatsächlich Conditio sine qua non echter Wissenschaftlichkeit, und eben deshalb ist die gesamte Zweckgebundenheit der Wissenschaft als solcher so schwer zu durchschauen –, sondern um Individualität als Strukturprinzip des Erkennens.« 119 Diese These scheint aufs Erste schwer nachvollziehbar, meint man doch problemlos behaupten zu können, moderne Wissenschaft sei geradezu gekennzeichnet durch einen kontinuierlichen Wissenszuwachs. 120 Doch gemeint ist damit, dass in einer Kultur wie der eu118 Vereno: ebd., S. 16. Dass sich in den Wissenschaften selbst allmählich Kritik an dieser Ansicht formiert, zeigt das bemerkenswerte Buch Das Wissen der Religion (München 2008) des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz. 119 Vereno: ebd.; S. 18. Schon die Forderung nach Reproduzierbarkeit (unabhängig vom Subjekt) weist deutlich darauf hin. 120 Allenthalben ist von einer Verdopplung des wissenschaftlichen Wissens innerhalb eines (nach der jeweiligen Quelle anderen) bestimmten Zeitraums zu lesen. Beispielhaft heißt es dazu: »Laut einer Rechnung von Jakob Nielsen wächst das Internet zur Zeit mit einer jährlichen Rate von 18 % und wird weltweit von mehr als einer Milliarde Menschen genutzt. In etwa 10 Jahren sollen bereits 2 Milliarden Menschen über das Internet miteinander verbunden sein, dieses Wachstum wird dann vor allem in China und Indien stattfinden. Durch den Eintritt von China und Indien in die Wissensgesellschaft wird sich das Wachstum des menschlichen Wissens nochmals beschleunigen. Ab 2050 wird sich bereits das Wissen der Menschheit täglich verdoppeln und man wird die Verdoppelung des Wissens in Stunden berechnen.« (Internetquelle: http://www.ciwm-wissenstransform.de/).
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Paradigmenwechsel 6¼ Überlieferungsbruch
ropäischen Moderne, in deren Mittelpunkt zunehmend das autonome Subjekt (mit seinen individuellen zweckhaften Strebungszielen) steht, Wissenschaftlichkeit – bei allem ermittelten übersubjektiv-gültigen »gesicherten Wissen« – letztlich stets individuellen Zwecken dienen muss, wenn es nicht (siehe oben) in einer Offenbarungstradition rückgebunden ist. Auf diesen nicht leicht einzusehenden Sachverhalt verweist auch Tenbruck, wenn er zu bedenken gibt: »Wissenschaft bildet die Wirklichkeit nicht ab. Sie liefert eine besondere Art des Wissens und beruht deshalb auf einem irgendwie gearteten Interesse 121 an dieser Art von Wissen. Logisch geht also eine aktuell verdeckte Wertentscheidung voraus, die diese Art von Wissen für wissenswert hält. Ob es das ist oder nicht, läßt sich jedenfalls wissenschaftlich nicht mehr bündig entscheiden.« 122
4. Wissenschaftlichkeit ist gekennzeichnet durch die Auswechselbarkeit der erkennenden Subjekte. Ist traditionelle Erkenntnis auf unvertretbar-personale Verwirklichung bezogen, so ist wissenschaftliche Erkenntnis durch die Auswechselbarkeit der erkennenden Subjekte gekennzeichnet. Das heißt – mit Vereno gesprochen – »daß das Subjekt nicht als Person, sondern nur als [prinzipiell ersetzbares] Individuum in den Erkenntnisakt [eintritt].« 123 Gerade die »strukturelle Entpersönlichung« bzw. zweckorientierte Versächlichung 124 der modernen Wissenschaft habe – so unser Gewährsmann sinngemäß – entscheidend mit zur Entwicklung der Technik bzw. im ständigen Wechselspiel zu jenen atemberaubenden Erfolgen geführt, die den (Kurz-)Schluss nahe legten, dass mit dieser Erkenntnismethode alle offenen Menschheitsfragen beantwortet werden könnten. Diese führte in der Folge zum Glauben an die Machbarkeit einer auf Wissenschaftlichkeit gründenden humanen Zivilisation – oder anders ausgedrückt, zu jenem Überlieferungsbruch, der deshalb so schwer wahrzunehmen ist, weil er – vielfach unbewusst – unser Leben, Erkennen und Kommunizieren prägt. 121 Dieses Interesse ist in der Moderne individuell, in den traditionellen Kulturen überindividuell. 122 Tenbruck: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, a. a. O., S. 272. 123 Vereno: Tradition und Symbol, a. a. O., S. 19. 124 Vgl. zur Differenz zwischen Sachlichkeit und Sächlichkeit Hengstenberg, HansEduard: Philosophische Anthropologie, Stuttgart 1958, S. 9–18, insbes. S. 14.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Hier der Zusammenhang noch einmal auf einen Blick: Erkenntnisstrukturvergleich Offenbarungstraditionen / Nichtoffenbarungskultur (wissenschaftsgeprägte Moderne) (nach VERENO) »Traditionelle« Erkenntnis
Wissenschaftliche Erkenntnis
1. Erkenntnis ist auf personale Verwirklichung bezogen.
1. Erkenntnis erfolgt vor dem Hintergrund der Austauschbarkeit
2. Erkennen steht im Zusammenhang 2. Individualität als Struktur-Prinzip einer überindividuellen Kontinuität 3. Voraussetzung/Anerkennung eines 3. Nicht-Anerkennung eines Wesens der Dinge »Wesens« der Dinge 4. Differenzierung zwischen sakral und profan (weltlich).
4. Prinzipiell »profane« (weltliche) Struktur der Erkenntnis
5. Geist Grundlage aller Realität
5. Materie Grundlage aller Realität
6.
Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes« als Ermöglichungsbasis des »Denkrahmens der Moderne«
Mit der Skizzierung der zentralen Unterschiede zwischen (geistes-) traditioneller und wissenschaftlicher Erkenntnis ist es jedoch noch nicht getan: es bleibt die Frage nach der Ermöglichungsbasis dieses Überlieferungsbruchs im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts, der geistesgeschichtlich – soweit wir sehen – ohne Parallele ist. Berglar sieht in diesem Umwälzungsgeschehen gar die ungelöste Kernfrage der ganzen Menschheitsgeschichte, wenn er schreibt: »Es bleibt für mich das eigentliche Rätsel der Geschichte, wieso dieser Sturz aus dem Offenbarungsglauben heraus möglich gewesen ist, wieso gerade in diesem Sturz die gewaltigen Kräfte zur Errichtung der auf mathematischtechnischer Weltbewältigung gründenden Zivilisation freigesetzt wurden.« 125
Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, erscheint es sachdienlich, wenn wir uns zunächst einmal bewusst machen, von welcher kultur125 Berglar, Peter: Fortschritt zum Ursprung. Von der Geschichtsneurose des modernen Menschen, Salzburg 1978, S. 44.
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
spezifischen Überlieferung ausgehend sich dieser Bruch vollzog. Darüber herrscht breiter Konsens. Es handelte sich um die christliche Geistestradition. Das nachfolgende allgemeine Kulturenvergleichsschema 126 soll nun dabei helfen, die spezifische kulturelle Differenz zwischen abendländisch-säkularer Moderne und christlicher Überlieferung in einen größeren gesamtkulturellen Kontext zu stellen. KULTURVERGLEICHSSCHEMA
Offenbarungskulturen (nicht säkular)
Wortoffenbarungs-K.
Nicht-WortOffenbar.
Nicht-Offenbarungskulturen (säkular)
Abendl. Moderne (ErkenntnisPrimat)
Globale Postmoderne (Kommunikations-Primat)
Abb. 7: Kulturenvergleichsschema
Die Abbildung veranschaulicht drei prinzipielle kulturelle Differenzierungen: In einer übergeordneten wird dabei zwischen Offenbarungs- und Nicht-Offenbarungskulturen unterschieden. Was ist damit gemeint? Damit soll der grundsätzliche Unterschied zum Ausdruck gebracht werden, dass Offenbarungs-Kulturen, zu denen alle traditionellen religiösen 127 Überlieferungen zu zählen sind, die Ansicht vertreten, dass die (werdend-vergehende) raumzeitliche Wirklichkeit nicht identisch ist mit dem Sein selbst, während in NichtOffenbarungskulturen die Auffassung vorherrscht, dass die raumzeitlich erscheinende Wirklichkeit keinerlei Offenbarungscharakter aufweise. In den zwei »Feindifferenzierungen« wird hinsichtlich OffenVgl. Hamberger, Erich: Kommunikation in postsäkularer Kultur, in: GmainerPranzl, Franz; Rettenbacher, Sigrid (Hrsg.): Religion in postsäkularer Gesellschaft. Interdisziplinäre Perspektiven, Frankfurt/Main 2013, S. 141–168, hier S. 149. 127 Religiös meint in diesem Zusammenhang den aktiven Vollzug einer Überlieferung im gemeinschaftsbezogenen Ritus bzw. in der individuellen Praxis und Übung. Eine zentrale Rolle nimmt dabei sowohl die betreffende (Religions-)Gemeinschaft wie die persönliche Fühlungnahme mit dem Göttlichen bzw. mit Gott ein. 126
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barungs-Kulturen zwischen Wort-Offenbarungskulturen 128 und Nicht-Wortoffenbarungskulturen 129 unterteilt. Damit soll ersichtlich gemacht werden, dass Erstere durch die Ansicht gekennzeichnet sind, dass sich der Seins-Grund selbst den Menschen im Wort, d. h. in der Anrede von Ich zu Ich geoffenbart habe. Zweitere gehen zwar ebenfalls vom Offenbarungscharakter der Erscheinungswirklichkeit aus, vertreten jedoch die Auffassung, dass sich der Seinsgrund allein in der unsagbaren individuellen Erfahrung des Einzelnen bzw. im bild-/zeichenhaften Symbol offenbart habe bzw. offenbare. Hinsichtlich der als Nicht-Offenbarungskulturen bezeichneten Überlieferungen wird schließlich differenziert zwischen jener mit Erkenntnis-Primat (abendländische Moderne) und jener mit KommunikationsPrimat (globale Post-Moderne). Bevor in der Folge unterschiedliche kulturspezifische Be-Deutungen näher in Augenschein genommen werden, erscheint es sachdienlich, wenn wir uns zuvor – insbesondere mit Bezug auf den Freiburger Philosophen Franz Vonessen – jene kulturenübergreifenden Grundfragen im Hinblick auf das Sein bewusst machen, deren »AntwortGestalt« die jeweiligen kulturellen Wirklichkeitsverständnisse darstellen. 130 Eine erste diesbezügliche Frage ist die nach dem Rätsel des Seins selbst. Damit ist (noch gar) nicht die Frage nach dem Ursprung der Dinge gemeint, sondern nach dem Ursprung des Seins selbst. 131 Wir können diese Problemstellung sofort vor Augen führen, in dem wir uns die Frage stellen: Wann hat SEIN angefangen?
Allein die Frage macht deutlich: Hinsichtlich des Seins können wir einen Anfang – im Sinne von »Am Anfang« 132 – nicht denken. Wir können nicht sinnvoll fragen: Unter die Wort-Offenbarungskulturen fallen die drei als abrahamitische Überlieferungen bezeichneten Religionen Judentum, Christentum und Islam. 129 Dazu zählen u. a. sowohl die großen asiatischen Geistestraditionen Indiens und Chinas, aber auch die griechisch-römische Antike. 130 Vgl. dazu folgende Werke von Franz Vonessen: Platons Ideenlehre. Wiederentdeckung eines verlorenen Weges, Küsterdingen 2001, insbesondere S. 53–60; Signaturen des Kosmos, a. a. O., S. 58–113 sowie Krisis der praktischen Vernunft, Heideneim 1988, S. 264–280. 131 Dinge sind als »Seiendes« vom Sein selbst zu unterscheiden. 132 Wir werden in Kap. VIII/9 darauf zurückkommen. 128
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
Seit wann gibt es Sein? Wo ist es zuerst aufgetaucht? Wie lange existiert es voraussichtlich? Das Staunen um das Rätsel des Seins ist insofern kein Staunen in dem Sinne, wie man über etwas Neues staunt, das alsbald gewöhnlich wird und wo sich in dem Maße auch das Staunen darüber mehr oder weniger rasch verflüchtigt. Auch das Staunen eines Wissenschafters über ein unerklärliches Phänomen ist nicht damit gemeint: denn sobald das staunenerregende Phänomen als geklärt gilt, man darüber – wie es heißt – »Bescheid weiß«, ist das Staunen bald wieder verschwunden. Dem steht das andauernde Staunen über das Sein gegenüber, das grundsätzlich nicht vergeht, das sogar mit der Zeit an Lebendigkeit noch zunehmen kann, jenes Staunen, das Schelling als (erste und damit) »letzte« Frage der Philosophie und aller Kulturen wie folgt formuliert: Warum IST überhaupt etwas, warum ist nicht nichts? 133
Hans Jonas schreibt in diesem Sinne: »[D]er Mensch [hat] keinen moralischen Anspruch auf die Gabe ewigen Lebens und kein Recht zur Beschwerde über sein Sterblichsein. […] Denn es gibt keine Notwendigkeit, dass überhaupt eine Welt sei. Warum Etwas ist anstatt Nichts – diese unbeantwortbare Frage der Metaphysik sollte davor schützen, Dasein schlechthin als Axiom zu unterstellen und dann seine Endlichkeit als angefallenen Makel oder als Kürzung seines Rechts.« 134
Eine zweite kulturenprägende Frage – genauso verwirrend wie die erste – thematisiert Vonessen schließlich, wenn er bemerkt: »Wo man das Sein auch packen will, es hält nicht stand. Die Aussage, dass etwas sei, wird den Sachen und Tatsachen im konkreten Leben nicht wirklich gerecht. Alles, was uns als Seiendes vorkommt, kann sein Versprechen nicht halten. Einst war es nicht, und immer wird es nicht bleiben.« 135 133 Vonessen bemerkt dazu: »Das Staunen über das Rätsel, daß überhaupt etwas ist und nicht Nichts ist – oder umgekehrt formuliert, über ›das Wunder aller Wunder, daß Seiendes ist‹, hat von sich selbst aus kein Ende«. (Vonessen: Platons Ideenlehre, a. a. O., S. 56.). Doch dieses Wunder konnte in einer Kultur wie der abendländischen Moderne – wo Materie als Grundelement der Wirklichkeit angesehen wird – leichter aus dem Blick geraten, weil bei einer materialen Entität, etwa einem Stein, weniger offensichtlich ist, dass dieser »im Sein gehalten« werden muss, als bei einem Lebewesen oder einem Menschen. 134 Jonas, Hans: Organismus und Freiheit – Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1973, S. 336 f. 135 Vonessen: Platons Ideenlehre, a. a. O., S. 54.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
»Denn« – so unser Gewährsmann an anderer Stelle – »was geworden ist, ›ist‹ ja im strengen Sinne nicht; wir können allenfalls sagen, es durchlaufe, aber ohne je über sie zu verfügen, Zustände, die ›seinsähnlich‹ sind. Es ist nicht, sondern es wird, es ›ist‹ nur geboren oder entstanden und muß, weil es gewissermaßen seinsflüchtig ist, unentwegt, durch Ernährung und auf allerlei andere Weisen, ›im Sein gehalten‹ werden, in dem es von sich aus nicht zu stehen vermag. […] Wenn [dennoch] an Sätzen wie ›Der Hammer ist‹ der Begriff des Seienden festgemacht wird, dann ist das Wissen vom Sein philosophisch ans Ende gekommen.« 136
Mit anderen Worten: Besteht der erste rätselhafte Befund bezüglich des Seins im Umstand, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, so der zweite, dass alles erkennbare Seiende sein Sein nicht besitzt, sondern nur für eine bestimmte Zeit gewissermaßen entlehnt oder überantwortet bekommt. Als Frage formuliert: Warum begegnen wir nur »seinsflüchtigen« bzw. »seinsbedürftigen« Phänomenen?
Deutlich wird dieser Sachverhalt nicht nur an allen Dingen der Wirklichkeit, sondern vor allem auch an uns selbst. »Was die Überlegungen der Alten [Philosophen] am stärksten aufrührte, war« – so Vonessen dazu wörtlich – »die Einsicht, daß auch die Existenz ihrer selbst als […] ein So-gut-wie-nicht-sein, jedenfalls als etwas ganz Ungewisses, das nicht einfach Nichts, aber erst recht nicht einfach Sein genannt werden konnte.« 137
Diese Unklarheit über ihren fragwürdigen Anteil am Sein führte in den verschiedenen Kulturen zu einer dritten zentralen Frage im Hinblick auf das Sein: Was meint Sein, das diesen Namen im Vollsinn verdient?
Denn, so noch einmal Vonessen, »die Halbschlächtigkeit, das Mindersein unserer selbst und aller Dinge unseres Umgangs und unseres Lebens, ist nur insofern verständlich, als es ein tragendes, unzerstörbares Seiendes gibt.« 138 Mit anderen Worten: Unvergängliches, wahrhaftes SEIN, das nicht wird und nicht vergeht, sondern stets IST, immer, seit jeher, also anfanglos. Vielleicht ist es interessant zu hören, wie andere Kulturen mit Vonessen: Krisis der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 280. Vonessen: Platons Ideenlehre, a. a. O., S. 57; siehe dazu das Platon-Zitat aus Kap. III/8. 138 Vonessen: ebd., S. 58. 136 137
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
diesem allgemein-menschlichen Problem umgehen. Dschuang-Dsi, der chinesische Weise des Taoismus, schreibt dazu: »Gibt es Sein, so geht ihm das Nicht-Sein voran, und diesem Nicht-Sein geht eine Zeit voran, da auch das Nicht-Sein noch nicht angefangen hatte, und weiterhin eine Zeit, da der Nicht-Anfang des Nicht-Seins noch nicht angefangen hatte. Unvermittelt tritt nun das Nicht-Sein in die Existenz, ohne dass man sagen könnte, ob dieses Sein des Nicht-Seins dem Sein zuzurechnen ist oder dem Nicht-Sein. […] Wenn man nun schon vom NichtSein aus das Sein erreicht […], wohin kommt man dann erst, wenn man vom Sein aus das Sein erreichen will! Man erreicht nichts damit. Darum genug davon.« 139
Um nun diese Differenz zwischen ungewordenem Sein und werdendem bzw. vergehendem Seienden, das an diesem »eigentlichen« Sein Anteil hat, zu kennzeichnen, wird von ihm ausgesagt, dass es nicht am Anfang war (denn dann wäre es ja selbst geworden und würde selbst wieder vergehen), sondern dass es im Anfang war und ist. 140 Platon macht darauf aufmerksam, dass wir als Wesen in der Zeit über Ewigkeit nicht einmal sprechen können, denn »das ›War‹ und ›Wird sein‹ sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst täuschend, mit Unrecht auf das unvergängliche Sein beziehen; denn wir sagen von ihm ›es war‹, ›es ist‹ und ›es wird sein‹, während ihm in Wahrheit nur die Bezeichnung ›es ist‹ zukommt.« 141 Ganz in diesem Sinne schreibt Konrad Gaiser über Platons ungeschriebene Lehre: »[D]ie Erkenntnis der Seinsprinzipien an sich ist dem Logos entzogen und einer intuitiv-»mystischen« Erfahrung vorbehalten.« 142 Behalten wir diese Überlegungen im Hinterkopf, wenn wir uns nun die zentralen Elemente des christlichen Wirklichkeitsverständnisses – in Abgrenzung gegenüber anderen kulturellen Überlieferungen – vor Augen führen. Was also unterscheidet das Christentum von anderen Religionen bzw. Offenbarungskulturen? Dabei wird folgendes deutlich: Das Christentum stellt neben Judentum und Islam eine der drei großen Wort-Offenbarungskulturen dar, die sich ihrerseits wesentlich von Nicht-Wortoffenbarungsüber139 Dschunang-Dsi: Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Diederichs Gelbe Reihe, Düsseldorf 1977, S. 46 (Buch II/6). 140 »Im Anfang« meint demzufolge das allem Zeiträumlichen bzw. Werdenden/Vergehenden beständig Vorausliegende bzw. vorausliegend Beständige. 141 Platon: Timaios 37C6–38A8. 142 Gaiser, Konrad: Platons ungeschriebene Lehre, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1963, S. 5.
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lieferungen – zu denen die großen Überlieferungen Asiens und Indiens genauso gezählt werden wie etwa die griechische Antike – unterscheiden. Mit letztgenannter Differenzierung wollen wir beginnen, um so – Schritt für Schritt – das Spezifische der christlichen Tradition ersichtlich zu machen. Dadurch soll besser nachvollziehbar werden, warum gerade die jüdisch-christliche Überlieferung jenen Kulturboden abgab, aus dem sich die Nicht-Offenbarungskultur der abendländischen Moderne und in weiterer Folge die neuzeitliche Wissenschaft entwickeln konnte. Wie oben bereits ausgeführt, verbindet alle Offenbarungskulturen die Ansicht, dass die raumzeitliche Wirklichkeit nicht identisch ist mit dem Sein selbst. In diesen Überlieferungen wird ein transzendenter Seins-Grund vorausgesetzt, der sich in der Welt der Erscheinungen offenbart. Doch wodurch unterscheiden sich nun Wort- von Nicht-Wortoffenbarungskulturen? Sie unterscheiden sich im Verständnis, wie sich Offenbarung ereignet. Nicht-Wortoffenbarungstraditonen eint – wie die Bezeichnung andeutet – die Ansicht, dass sich der offenbarende Seinsgrund nicht im Wort offenbart habe bzw. offenbare, d. h. nicht in Gestalt der Selbst-Offenbarung des Absoluten in der Rede von göttlichem Ich zu menschlichem Ich, sondern allein in der unsagbaren individuellen Erfahrung bzw. im bild-/zeichenhaften Symbol. Das zentrale Erkenntnismedium ist dementsprechend hier nicht das gesprochene/geschriebene Wort, sondern das in unmittelbarer Ergriffenheit geschaute Bild bzw. das Schweigen. 143 Vereno schreibt, auf diesen Umstand im Kontext der Nicht-Wortoffenbarungstradition des Buddhismus verweisend: »Immer wieder, auf jeder erreichten Stufe von neuem, muß der […] Strebende im schweigenden Innesein erkennen, daß das Gesagte, das Sagbare nicht das Eigentliche ist. Der Buddha spricht diese Tatsache aus, daß es so sei; aber den Inhalt dessen, das ›was‹ und ›wie‹ es sei, lässt er im Schweigen. So ist das Schweigen als Schweigen in das Wort getreten, und dies ist tatsächlich, wenn auch in ›negativer‹ Weise, wirkliche Offenbarung.« 144
143 Im Umstand, dass in den Nicht-Wortoffenbarungskulturen dem Bild/Symbol ein höherer Erkenntniswert zugemessen wird als dem Wort (dem Sprachlich-Fixierbaren; vgl. dazu etwa den Kontext der Zen-Malerei aus der »Großen Erfahrung«) ist unseres Erachtens letztlich auch der Grund zu sehen, warum der Buchdruck in China und Korea, obwohl er dort Jahrhunderte vor Gutenberg bereits in analoger technischer Fertigkeit vorlag, in diesen Kulturen nicht geschichtsmächtig wurde. 144 Vereno: Mythisches Wissen und Offenbarung, a. a. O., S. 71.
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
Ganz analog beginnt das Hauptwerk des Taoismus, das Tao te King von Lao tse, mit folgenden Versen: »Das Tao, das sich aussprechen lässt, ist nicht das ewige Tao.« (Übersetzung von Wilhelm 145). In der Übersetzung von Lin Yutang: »Das Tao, über das ausgesagt werden kann, ist nicht das absolute Tao.« Folglich: »Der Wissende redet nicht. Der Redende weiß nicht.« 146 Im Unterschied dazu gehen die Wort-Offenbarungskulturen – also jene drei großen Überlieferungen, die in der Gestalt des Abraham ihren Stammvater (an)erkennen (Judentum, Christentum und Islam), davon aus, dass sich der unsagbare Seinsgrund SELBST offenbart habe/offenbare und er deshalb – in gewisser Weise – in die Dimension der Sagbarkeit eingetreten ist. Ohne auf Einzelheiten der genannten Traditionen im Rahmen dieser Schrift 147 eingehen zu können, kann also festgestellt werden: Diese Kulturen sind – in je eigener Weise – von der Überzeugung getragen, dass sich der Seinsgrund SELBST den Menschen in offenbarender Anrede, d. h. im Wort, zu erkennen gegeben hat. Demzufolge herrscht in den Wort-Offenbarungskulturen die Ansicht vor, dass der zeit- und raummächtige Seins- und Sinngrund verbal ausdrückbar, vermittelbar, sprachlich-kommunizierbar ist. Dadurch gewinnt der Aspekt der Erkenntnis vermehrt an Bedeutung. Dies gilt in besonderer Weise für die christliche Überlieferung, da hier – zudem – die Menschwerdung des Seinsgrundes geglaubt wird. Auf diesen Umstand hinweisend bemerkt Vereno: »Christus hat uns gegeben, daß wir das Mysterium sagen können.« 148 Erkenntnisfortschritt bedeutet folglich hier einen »Hervortritt des WORTES aus dem Schweigen« 149. Kurz: Mit den Wort-Offenbarungskulturen – insbesondere mit dem Christentum – ist untrennbar das Element der »Sagbarkeit des Seinsgrundes« verbunden. Dabei gilt es indes gleich hinzuzufügen, dass diese Sagbarkeit stets vor dem Hintergrund einer größeren Unsagbarkeit verstanden wird. Demzufolge ist der Glaube prinzipiell nicht durch (und sei es auch religiöses) Wissen ersetzbar. 145 Laotse: Tao te king (übersetzt von Richard Wilhelm), Diederichs gelbe Reihe. Diederichs Verlag, Düsseldorf 1978. 146 Yutang, Lin: Die Weisheit des Laotse, Fischer Bücherei, Frankfurt/Main 1955. 147 Vgl. dazu etwa Vereno: Menschheitsüberlieferung und Heilsgeschichte, a. a. O. 148 Vereno: Mythisches Wissen und Offenbarung, S. 89. 149 Vereno: ebd., S. 63.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
So heißt es etwa bei Ephraim dem Syrer, einem in der Ost- und Westkirche verehrten frühchristlichen Kirchenlehrer aus dem 4. Jahrhundert: »Herr, wer könnte mit seinem Geist auch nur eines deiner Worte ganz verstehen? Das, was wir nicht erfassen, bleibt größer als das, was wir verstehen, wie Dürstende, die an einer Quelle trinken. Wer also einen Teil aus diesem Schatz bekommt, meine nicht, das Wort enthalte nur das, was er selbst gefunden hat. […] Der Dürstende freut sich beim Trinken und trauert nicht darüber, dass er die Quelle nicht austrinken kann. Die Quelle besiege deinen Durst, nicht dein Durst die Quelle.« 150
In diesem Sinne heißt es in den Beschlüssen des 4. Laterankonzils (1215), dass – bei der Berechtigung, in Analogie von Gott sprechen zu können – stets zu bedenken ist, dass die verbleibende Unähnlichkeit unendlich größer ist als alle denkbare Ähnlichkeit. 151 In der Übernahme dieses Aspekts der »Sagbarkeit des Seinsgrundes« aus der christlichen Überlieferung – gepaart mit der ebenfalls säkularisierten Vorstellung eines positiv fortschreitenden Entwicklungsgangs der Geschichte 152 – sehen wir nun die Ermöglichungsbasis für das Geschichtsmächtigwerden des »Denkrahmens der Moderne«. Dabei wird der in der Wort-Offenbarungstradition des Christentums in den Vordergrund rückende Aspekt der Erkenntnis im Verlauf der zunehmend wissenschaftszentrierten Moderne beibehalten, ja noch verstärkt, jedoch nunmehr in säkularisierter Form, d. h. ohne Transzendenzbezug. Mit anderen Worten: Der Aspekt der »Sagbarkeit des Seinsgrundes« wird in der Neuzeit von der christlichen Tradition einerseits übernommen, andererseits aus seinem religiösen Kontext gelöst und dadurch verabsolutiert. Im 20. Jahrhundert gab es eine Diskussion unter Nobelpreisträgern über den Beginn des Johannes-Evangeliums. Walther Nernst, der Begründer des dritten Hauptsatzes der Wärmelehre, schrieb darüber am 13. Februar 1938 an Max von Laue 153: »›Logos‹ ist natürlich (nicht als ›Wort‹, sondern) als ›Gesetz‹ zu übersetzen […]; und da es Ephraim d. Syrer: Commentarium in Diatessaron, Cap. 1, 18–19: SC 121, S. 52 f., zitiert nach Vereno, Matthias: Das Wort in den Worten (o. J.), S. 2. 151 Vgl. dazu: Wohlmuth, Josef (Hrsg.): Dekrete der ökumenischen Konzilien, Band 2: Konzilien des Mittelalters, Paderborn u. a. 2000, insbes. S. 227–271. 152 Die in Georg Wilhem Friedrich Hegel (1770–1831) ihren Höhe- und zugleich Kipppunkt erreicht. 153 Siehe: Sondersammlungen der Bibliothek des Deutschen Museums (Sign. 1964 – 2/1). 150
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
am Anfang keine Menschen gab, so kann logos nur Naturgesetz bedeuten.« 154 Auch Werner Heisenberg benützte die Metapher des Johannes Evangeliums. Er sagte zu den neueren Entwicklungen der Teilchen-Physik: »Bis dahin hatten wir immer an die alte Vorstellung des Demokrit geglaubt, die man mit dem Satz umschreiben kann: ›Am Anfang war das Teilchen‹. Man nahm an, die sichtbare Materie sei zusammengesetzt aus kleineren Einheiten, und wenn man immer weiter teile, so komme man schließlich zu den kleinsten Einheiten, […]. Aber vielleicht war diese ganze Philosophie falsch. Vielleicht gab es gar keine kleinsten Bausteine, die man nicht mehr teilen kann. […] Aber was war dann am Anfang? Ein Naturgesetz, Mathematik, Symmetrie?« 155
Vereno beschreibt diesen Zusammenhang in präziser Kürze, wenn er bemerkt, dass sich »die nachchristlichen Säkularisationen [zwar] an das Wort [halten] […], aber […] dieses Wort von Christus los[lösen], so daß es wie im Mythos [d. h. den Nicht-Wortoffenbarungskulturen] außen, statt wie in der Kirche innen steht. Und sie halten – hier nun wieder im Gegensatz zum Mythos – das Wort für das Wesentliche, was es doch nicht außen, sondern nur innen ist.« 156
Doch wie hat man sich die Adaption des Elements der »Sagbarkeit des Grundes« nun näherhin vorzustellen? Dazu ist ein aufs erste befremdlich anmutendes Zitat des österreichischen Dialogphilosophen Ferdinand Ebner hilfreich, stammend aus dem 1. Fragment seines Hauptwerks Das Wort und die geistigen Realitäten. Es lautet folgendermaßen: »Das ›Ich‹ ist eine spätere Entdeckung des auf sich selbst sich besinnenden menschlichen Geistes als die Idee. Die antike Philosophie wusste noch nichts von ihm.« 157 Damit weist Ebner auf den Umstand hin, das die »Ich-Vorstellung«, wie wir sie – als Europäer bzw. als Kinder der abendländischen Moderne – kennen, etwas darstellt, von dem die Antike noch nichts wusste. Demnach stellt die uns geläufige Vorstellung eines »Ich« also 154 Nernst zitiert nach Hermann, Armin: Die Suche nach dem Absoluten. Max Planck und die Platonische Philosophie, S. 4 (Onlinequelle: http://www.deutsches-museum. de/fileadmin/Content/data/020_Dokumente/040_KuT_Artikel/1977/1–1–2.pdf 155 Siehe dazu Pietschmann, Herbert: Geschichten zur Teilchenphysik. Europ. Univ. Press, Wien 2007, S. 127 f. 156 Vereno: Mythisches Wissen und Offenbarung, a. a. O., S. 89. 157 Ebner: Schriften, Bd. I, a. a. O., S. 84.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
gerade keine »transkulturelle Universalie« dar, die in jeder menschlichen Geistestradition zu finden wäre. Doch warum hat die Antike eine solche Vorstellung nicht entwickelt? Oder die japanische Kultur? Dies macht unseres Erachtens Greshake deutlich, wenn er ausführt: »Die Urfrage der Griechen ist die Frage nach dem (Sein als) Bleibendem im ständigen Werden. Um zu diesem Bleibenden zu gelangen, muß die ›Oberfläche‹ des sich ständig verändernden Sinnenhaft-Einzelnen durchbrochen werden, um auf das ›Allgemeine‹, auf die (Wesens-)Substanz, auf das Unveränderliche, Tragende, im Werden sich Durchhaltende zu treffen.« 158
Auf den Menschen bezogen bedeutet das, dass es – so Greshake weiter wörtlich – »dem griechischen Denken […] nicht um den einzelnen und schon gar nicht um dessen zielgerichtete Verwirklichung in der Geschichte [geht]. Wie Zeit und Geschichte nur Schattenriß der Ewigkeit und als solche zu überwinden sind, so ist auch der einzelne nur eine vorübergehende Vereinzelung des allgemeinen Geistes in zufälliger materieverhafteter Existenzweise.« 159
Allgemein ausgedrückt: Nicht-Wortoffenbarungkulturen ist die Vorstellung eines »beständig-dauernden Ich« im Wandel von Raum und Zeit fremd, wie dies gemäß europäischem Verständnis der Fall ist. Wichtig in diesem Zusammenhang: Obwohl das Sein in den betreffenden Überlieferungen als unsagbar angesehen wird, heißt dies nicht, dass es explizit als nicht-ichhaft vorgestellt würde; vielmehr wird diese Frage in der Schwebe gehalten. 160 Das als unsagbar geltende Sein wird weder explizit als ichhaft noch als explizit nicht-ichhaft beschrieben. Schließlich weist Greshake auf jenen kulturspezifischen jüdischchristlichen Kontext hin, in dem sich eine Ich-Vorstellung des Seinsgrundes ausbilden konnte, wenn er feststellt: »Findet man also im antiken Denken auch einige Einzelmomente für ein spezifisches Personverständnis, insofern man zur Bewußtwerdung […] allgemeiner Wesensgesetze des Menschen (jedoch nicht zur Entdeckung des personalen Ich) gelangte, so ist als eigentliche Vorgeschichte des Person-
Greshake, Gisbert: Der dreieine Gott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg/Breisgau 1997, S. 75. 159 Greshake: ebd., S. 75. 160 Am prägnantesten vielleicht veranschaulicht durch den bekannten Ausspruch Heraklits: »Eins, das allein Weise, will und will nicht Zeus genannt werden.« 158
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
begriffs vor allem die anhebende Offenbarungsgeschichte im Alten Testament hervorzuheben.« 161
Dies liegt darin begründet, dass in der alttestamentlichen Überlieferung die – für nicht-biblische Geistestraditionen – ungeheuerliche, ja skandalöse Ansicht vertreten wird, dass sich das Sein selbst, also das – im antiken Verständnis – Eigentlich-Dauernde, Allgemeine, Unvordenkliche und Unsagbare, der Seins-Grund von allem, als ICH-BIN namentlich offenbart und somit anrufbar gemacht hat. 162 »Die Paradoxie des biblischen Gottesglaubens besteht [demnach] … darin,« – wie Ratzinger prägnant formuliert – »daß das Sein als Person und die Person als das Sein geglaubt wird.« 163 Das Sein selbst, also das NichtGewordene und Nicht-Vergehende, wird hier gleichgesetzt mit Personalität. Im Christentum erfährt diese Ansicht schließlich eine weitere radikale Zuspitzung, als hier gar die Menschwerdung des Seins geglaubt wird, in Gestalt des Jesus von Nazareth, der auf die Bemerkung, ob ihm nicht Abraham zeitlich voraus sei, die verblüffende Antwort gibt: »Ehe Abraham ward, bin ich« 164. Im Christentum wird also nicht nur das Sein als Person, sondern zudem das Sein als Person, die Mensch geworden ist, geglaubt! Auf diese »potenzierte Ungeheuerlichkeit« christlichen Glaubens nimmt bemerkenswerter Weise der jüdische Rabbiner Jakob Neusner in seinem Buch A Rabbi talks with Jesus 165 Bezug. Darin versucht der traditionelle Jude Neusner in einem fiktiven Gespräch, in dem er sich in die zeitliche Gegenwart Jesu begibt, auszuloten, inwiefern dessen Lehre mit der jüdischen Tradition vereinbar ist, in dem er Jesu Worte mit den Worten des Alten Testaments und mit den rabbinischen Überlieferungen vergleicht. Es kann hier nicht auf Einzelheiten eingegangen, sondern nur der zentrale Gedanke übermittelt werden. Neusner beschreibt dabei eine Szene, wie er in seinem inneren Dialog Jesus den ganzen Tag gefolgt ist und sich nun in eine kleine Stadt zurückzieht, um das Gehörte dem dortigen Rabbi vorzutragen und
Greshake: Der dreieine Gott, a. a. O., S. 75. So lautet bekanntlich die Übersetzung des alttestamentlichen Gottesnamens Jahwe (JHWH), den Moses nach jüdischer Überlieferung am Berg Horeb empfing (Ex 3,14). 163 Ratzinger, Joseph: Einführung in das Christentum, München 1985, S. 102. 164 Joh, 8,58. 165 Neusner, Jakob: A rabbi talks with Jesus, Philadelphia 1993; dt. Ein Rabbi spricht mit Jesus: ein jüdisch-christlicher Dialog, München 1997. 161 162
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
mit ihm zu besprechen. Der Rabbi fragt ihn: »Was hat Jesus, der Gelehrte, von der Überlieferung weggelassen?« Darauf Neusner – als fiktiver Schüler Jesu –: »Nichts!« Darauf der Rabbi: »Was hat er dann hinzugefügt?« Neusner: »Sich selbst.« 166 Vor diesem Hintergrund entwickelt die frühe Kirche das Dogma der Trinität: Gott als der Eine im Wesen, aber unterschieden in den drei Personen. »Der Gott der Christen ist infolgedessen« – wie Greshake ausführt – »keine einsame Monade, […] [sondern] ist vielmehr sich ereignende Gemeinschaft, communio und communicatio – in sich selbst und in seinem Verhältnis zur Menschheit.« 167 Dies führte, um noch einmal Greshake zu zitieren, »zu einem völlig neuen […] Wirklichkeits- und darin auch Kommunikationsverständnis. Denn wenn Gott nicht die eine unwandelbare Monade ist, sondern sich mitteilendes Leben, Beziehung, Communio, dann ist das, was bei Aristoteles den geringsten und schwächsten Seinsbestand hat, die Beziehung, das wahre Wesen allen Seins. Sein ist Beziehung, Mitsein, Miteinandersein, ›Vernetztsein‹, kurz: Kommunikation.« 168
Das neue christliche Gottesverständnis hatte auch für das Selbstverständnis des Menschen insofern Konsequenzen, als diese trinitarischrelationale Grundbestimmung nicht nur von Gott selbst galt, sondern »von allem, was ist, weil alles nach dem Bild und Gleichnis Gottes geschaffen [gedacht] wurde.« 169 Weil nun der Mensch als Ähnlichkeit – als Bild Gottes – erschaffen gedacht wurde, war es konsequent, dass sich »erstmals ein PerVgl. Neusner: Ein Rabbi spricht mit Jesus, a. a. O., S. 114. Joseph Ratzinger, der diese Szene zitiert und dazu bemerkt, er habe von kaum einem christlichen Theologen mehr über den historischen Jesus gelernt wie durch den gläubigen Juden Neusner, fügt dazu an: »Dies ist der zentrale Punkt des Erschreckens vor Jesu Botschaft für den gläubigen Juden Neusner, und dies ist der zentrale Grund, warum er Jesus nicht folgen will, sondern beim ›ewigen Israel‹ bleibt: die Zentralität des Ich Jesu in seiner Botschaft, die allem eine neue Richtung gibt.« (Ratzinger, Joseph/ Benedikt XVI.: Jesus von Nazareth, Bd. 1, Freiburg 2007, S. 136 f.) Anschaulich wird dieser Zusammenhang in der ostkirchlichen Ikonentradition, wo Christus-Darstellungen als Pantokrator (= Allherrscher) verbunden sind mit der schriftlichen Kennzeichnung ho on: der Seiende. 167 Greshake, Gisbert: Der Ursprung der Kommunikationsidee, in: Hamberger/Luger (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O., S. 200. 168 Greshake: ebd., S. 200. 169 Greshake: ebd., S. 203. 166
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
sonbegriff ausgebildet hat, der nicht nur die Einmaligkeit des Menschen betont, sondern auch dessen Mitkonstituiertsein durch andere.« 170 Kurz: Der Glaube der Christen an den dreieinen Gott ist insofern gerade nicht der Glaube an drei göttliche Individuen im Sinne dreier Monaden oder dreier Götter (das ist die Kritik des Islam am Christentum). Das wird schon deutlich am – aus dem Griechischen entlehnten – Begriff der Person. Dieser dient vorerst gar nicht der Kennzeichnung des Menschen, sondern dem Unterfangen, das Mysterium des dreipersonalen Seins sprachlich auszudrücken. Person meint dabei Relation, reines Bezogensein. Eine Person ist in diesem Verständnis ein Widerspruch in sich. Person-Sein meint per definitionem Bezogen-Sein auf eine andere Person. Insofern kann man sagen: Gemäß christlicher Überlieferung wird Sein nicht nur als Ich gedacht, sondern zudem als Wir (vgl. Kap. VII/3). Erst in einem zweiten Schritt wird der Begriff der Person auch auf den Menschen übertragen: der Mensch ist Person, weil er als Abbild des drei-einigen personalen Seins verstanden wird. Dabei ist zu bedenken, dass sich dieser Verständniswandel nicht von heute auf morgen vollzog; vor allem: dass sich dieses Geschehen im Umfeld der griechisch-römischen Antike, d. h. einer Nicht-Wortoffenbarungskultur vollzog, in der das Sein (das Eigentlich-Dauernde) gerade nicht relational, sondern substanzial verstanden wurde. Dementsprechend wurde auch der Mensch primär als Individuum, als eine für sich stehende einzelne »Ich-Substanz«, verstanden, zu dem das Element des Relationalen, das Bezogensein, das Element der Kommunikation, bloß hinzukommt,während es bei der Person konstitutiv ist. Dieses personale Verständnis von Sein und Mensch war so neu, dass es Jahrhunderte dauerte, bis es dogmatisch ausformuliert war; und so 170 Greshake: ebd.; S. 203. In diesem Sinne führt Ebner das oben begonnene Zitat wie folgt fort: »Das ›Ich‹ ist eine spätere Entdeckung des auf sich selbst sich besinnenden menschlichen Geistes als die Idee. Die antike Philosophie wusste noch nichts von ihm. Denn es wurde erst durch den Geist des Christentums […] dem Menschen zu Bewusstsein gebracht.« (Ebner: Schriften, Bd. I, a. a. O., S. 84) Die jüdisch-christliche Überlieferung bildete insofern den Ermöglichungsgrund für die »Entdeckung des Ich« in der Neuzeit. Warum? Eben weil Judentum und Christentum – in abgewandelter Weise auch der Islam – von der Ansicht getragen sind, dass sich das Sein selbst eben als Selbst, als Ich-Bin geoffenbart habe (und insofern als sagbar, ichhaft und anrufbar erachtet) und der einzelne Mensch dabei als Ähnlichkeit dieses personalen Absoluten begriffen wird.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
revolutionär, dass man verstehen kann, warum es nicht gleich in seinem ganzen Umfang bzw. in letzter Konsequenz erfasst wurde, sondern nur teilweise. So konnte es kommen, dass sich schließlich – was das Verständnis des Menschen anlangt – in weiterer Folge doch (wieder) das antike Individuums- bzw. Substanz-Verständnis durchsetzte; jetzt allerdings versehen mit einem »upgrade« als Ähnlichkeit des Absoluten (vgl. Kap. V/4a). Als Folge davon wurde Person in vermehrtem Maße mit Individuum gleichgesetzt und – von da her – das Dogma der Trinität zunehmend unverständlich. Vor diesem Hintergrund schreibt Karl Rahner bezugnehmend auf die Moderne, »daß die Christen bei all ihrem orthodoxen Bekenntnis zur Dreifaltigkeit in ihrem religiösen Daseinsvollzug beinahe nur ›Monotheisten‹ sind. Man wird also die Behauptung wagen dürfen, daß, wenn man die Trinitätslehre als falsch ausmerzen müßte, bei dieser Prozedur der Großteil der religiösen Literatur fast unverändert bleiben könnte.« 171
Schauen wir uns den Zusammenhang im Überblick an: KULTUR ANTIKE
GEIST-/ oder MATERIEPrimat GEIST
CHRISTENTUM GEIST
Abendländische MODERNE
MATERIE
Globalisierende POSTMODERNE
MATERIE
SUBSTANZRELATIONSPrimat SUBSTANZ (unter Geistprimat)
SEIN: Personal / A-Personal
MENSCH
Weder explizit »personal« noch »a-personal«
Individuum weder explizit dauernd noch nicht dauernd
RELATION und SUBSTANZ PERSONAL SUBSTANZ (unter Materieprimat)
A-PERSONAL
RELATION (unter Materieprimat)
A-PERSONAL
Person Explizit dauernd Individuum Explizit nicht dauernd ?
Durch diese schematische Darstellung wird erahnbar, welch umwälzender Wandel hinsichtlich des Wirklichkeits-, Seins- und Menschenbildes sich einerseits von der Antike zum Christentum, anderer-
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Rahner, Karl, zitiert nach Greshake: Der dreieine Gott, a. a. O., S. 15.
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
seits vom Christentum zur abendländischen Moderne vollzog. Vor allem: wie sich über die Re-Substanzialisierungstendenz im Verständnis des Menschen jenes Verständnis des »autonomen Subjekts« entwickeln konnte, das vorerst zur »Vermessung der Welt«, in weiterer Folge zur »Vermessung des Lebendigen« schließlich zur »Vermessung des Menschen« führte. In diesen Zusammenhang gehört noch ein anderes – mit der christlichen Tradition verbundenes – Element, dass weithin aus dem Blick geraten ist: Luther thematisiert es, wenn er von der »Freiheit eines Christenmenschen« spricht. Den Hintergrund bildet der Umstand, dass sich das Christentum allein auf die Person des Gottmenschen stützt bzw. gründet. Dies bedeutet, dass die konkreten Rechtsund Sozialordnungen in der christlichen Tradition nicht mehr – wie bis dato – als sakral-göttliche Satzungen festgestellt bzw. festgelegt werden, sondern als Elemente, die – je nach den sozialen und politischen Gegebenheiten – frei gestaltet werden können. Vereno drückt diesen Zusammenhang so aus: »Durch die Gründung ihrer Religion in der Fleischwerdung des Wortes [göttlichen Logos] wurden sie [die Christen] von allen einschränkenden Naturbindungen frei – von der Bindung an traditionelle [kulturbedingte] Gesellschaftsordnungen, volksgebundene Lehrüberlieferungen, an spezifische regionale Räume –, weil für die Christen die einzige Naturbindung die an die menschliche Natur des Erlösers ist.« 172
Die christliche Tradition ist in ihrer Grundstruktur demnach transkulturell. Sie kennt keine »kulturspezifischen Bedingtheiten« (wie andere Religionen), weil sie sich allein auf den gottmenschlichen Erlöser 173 stützt. Diese »transkulturelle Freiheit« des Christentums wird sofort 172 Vereno: Mythisches Wissen und Offenbarung, a. a. O., S. 90. In analoger Weise heißt es bei Ratzinger: »Die konkreten politischen und sozialen Ordnungen werden [im Rahmen des Christentums] aus der unmittelbaren Sakralität, aus der gottesrechtlichen Gesetzgebung entlassen und der Freiheit des Menschen übertragen.« (Ratzinger: Jesus von Nazareth, Bd. 1, a. a. O., S. 151). 173 Die Natur ist nach christlichem Verständnis auch nicht mehr »voll von Göttern«, wie etwa bei Thales von Milet (ca. 624–547 v. Chr.), nicht mehr voll von ungewissen Mächten, guten wie bösen, denen es zu opfern, deren Geneigtheit es zu erwerben gilt. All diese anonymen Natur-Kräfte, Mächte bzw. Gottheiten gelten im Christentum als überwunden; auch die Notwendigkeit des Opfers, da sich – gemäß christlicher Lehre – Gott in Jesus Christus selbst geopfert und durch sein stellvertretendes Leiden ein für allemal alle Schuld aller Menschen gesühnt, jeden einzelnen freigekauft hat.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
deutlich, wenn wir uns nochmals dem Judentum bzw. dessen sozialen Gesetzen zuwenden 174: »Ehre deinen Vater und deine Mutter, damit Du lange lebst in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt.« So lautet bekanntlich das 4. Gebot des mosaischen Gesetzes. Es stellt damit die Gemeinschaft der Familie bzw. der Generationen des auserwählten Volkes als eine gottgewollte und geschützte soziale Ordnung auf. In diesem Sinne schreibt der oben schon erwähnte jüdische Rabbi Jakob Neusner: »Wir beten zu dem Gott, den wir – am Anfang – durch das Zeugnis unserer Familie kennen, zum Gott Abrahams, Saras, Isaaks und Rebekkas, Jakobs, Leas und Rahels. Um zu erklären, wer wir, das ewige Israel, sind, verweisen die Gelehrten auf unsere Abstammung, auf fleischliche Bande, auf den Zusammenhalt der Familie als Grundlage für die Existenz Israels.« 175
Genau diesen soziokulturellen Zusammenhang stellt nun – nach Neusner – Jesus prinzipiell in Frage, wenn er – als ihm gesagt wird, seine Mutter und seine Brüder seien draußen und wollten ihn sprechen – antwortet: »Wer ist meine Mutter, und wer sind meine Brüder?« und die Hand über seine Jünger ausstreckend schließlich sagt: »Das hier sind meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen des himmlischen Vaters erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.« 176 Lehrt Jesus damit nicht, gegen die göttlichen Gebote zur sozialen Ordnung zu verstoßen?, fragt Neusner. Israels präzise Sozialordnung, die seinen Bestand durch alle Wirrnisse der Geschichte gewährleistet haben, werden durch Jesus beiseite geschoben. »Von dieser neuen Interpretation des 4. Gebotes ist nicht nur« – wie Ratzinger ausführt – »das Eltern-Kind-Verhältnis betroffen, sondern der gesamte Bereich der Sozialstruktur des Volkes Israel.« 177 Wie wird diese neue Interpretation gerechtfertigt? Einzig und allein durch den Anspruch Jesu, »mit seiner Jüngergemeinschaft Ursprung und Mitte eines neuen Israel zu sein« 178, wobei wichtig zu erwähnen ist, dass damit keine konkret realisierbare Sozialstruktur verbunden ist; d. h. aus der Bergpredigt lässt sich nicht direkt eine staatliche Sozialordnung ableiten. Damit ist eine ungeheure Novität verbunden: Inwiefern? Die konkreten Rechts- und Sozialordnungen 174 175 176 177 178
Auch den nachfolgenden Vergleich verdanken wir Joseph Ratzinger. Neusner: Ein Rabbi spricht mit Jesus, a. a. O., S. 59 f. Mt 12, 46–50. Ratzinger: Jesus von Nazareth, Bd. 1, a. a. O., S. 146. Ratzinger: ebd., S. 147.
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Die »Sagbarkeit des Seinsgrundes«
sind nicht länger als göttliche Satzungen festgestellt bzw. festgelegt, sondern christlich geprägte Kulturen sind frei, zu erkennen bzw. zu bestimmen, was den jeweiligen sozialen und politischen Gegebenheiten gemäß ist, also frei, selbst die rechtlichen Ordnungen zu gestalten. Dieser Freiheit wird sich der abendländische Mensch vermehrt bewusst in der Renaissance. Ein exemplarisches Beispiel dafür bildet Pico della Mirandola (1463–1494), der in seinem Traktat De hominis dignitate (Über die Würde des Menschen) geradezu programmatisch feststellt, dass es die Natur des Menschen sei, keine (feste) Natur zu haben. 179 Damit entwirft er den Menschen als das freie Wesen schlechthin: als den wesenhaft Freien zur Gestaltung alles Mitgeschaffenen. Wichtig ist dabei mitzu(be)denken, dass Pico seinen Entwurf gerade nicht anti-theologisch – im Sinne eines Humanismus ohne Gott (dies kommt erst später mit der Aufklärung) – versteht; vielmehr betrachtet er das Christentum als den religiösen Garant höchster Freiheit und den Menschen als secundus deus, als zweiten Gott. 180 Der Mensch – als Krone der Schöpfung – wird insofern als jenes freie Wesen gesehen, das der Schöpfer zur Hege und Pflege der übrigen Schöpfung – im weitestgehenden Sinne – frei ließ, damit er den Auftrag Gottes übernehme. Dadurch wird erahnbar, welches Freiheitspotenzial strukturell mit der christlichen Lehre verbunden war bzw. ist. Dieses Freiheitselement wird nun im Zuge der Moderne ebenfalls säkularisiert, ja geradezu zu einem Freiheitspathos verklärt. Frei ist der Mensch nun nicht mehr als der vom menschgewordenen Gott Befreite, sondern als der sich selbst von aller Unterdrückung und Knechtung durch andere Befreiende. Dieses Vermögen des freien Umgangs mit der entgöttlichten Natur birgt indes auch ein Gefahrenpotenzial; nämlich die Gefahr einer Bemächtigung der Natur: der Mensch will zunehmend Vgl. dazu: Pico della Mirandola: De hominis dignitate – Über die Würde des Menschen, lateinisch/deutsch, hrsg. von Gerd von der Gönna, Leipzig 1997. 180 Dazu ein weiterer Satz von Pico della Mirandola aus De hominis dignitate, der heutzutage wohl bei den meisten nur ein unverständliches Kopfschütteln nach sich ziehen würde: »Der Mensch ist Gott, mit menschlichem Fleisch umkleidet.« (Pico della Mirandola zit. nach Meid, Volker: Die deutsche Literatur im Zeitalter des Barock. Vom Späthumanismus zur Frühaufklärung, München 2009, S. 814). Für die Hinweise auf die Zitate von Pico della Mirandola danken die Autoren Frau Prof. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz. 179
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
wissen, wie die Natur funktioniert; er geht daran, sie zu vermessen. Doch die Vermessung macht bei Natur und Umwelt nicht halt; mit der Moderne beginnt sich der Mensch selbst zu vermessen. Deutlich wird diese »Geometrisierung des Menschen« etwa schon bei Vesalius 181, der als einer der ersten Leichen seziert und sich bemüht, in seinem Hauptwerk De humanis corporis fabrica den Körper des Menschen möglichst getreu wiederzugeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich gut zeigen, was sich nun dadurch änderte, als sich – wie oben mit Hilfe von Vereno deutlich gemacht – die wissenschaftszentrierte Moderne weiter an das Wort hielt, dieses jedoch nicht mehr im Kontext der Offenbarung eines sinnhaften Seinsgrundes sah: In dem Maße, als die raumzeitliche Erscheinungswirklichkeit nicht mehr als schöpferische An-Rede, sondern als stumme Natur- bzw. Kulturgesetzlichkeit, als mechanische Wirklichkeit verstanden wird, muss dadurch beinahe zwangsläufig die zweckhaft-rationale Herangehensweise an die Realität, die Buber als »wisserisches Verhältnis zum Absoluten« bezeichnet, 182 in den Vordergrund rücken. Die Ich-Du-Beziehung – die solange im Zentrum stand, wie davon ausgegangen werden konnte, damit dem Seins-Grund zu begegnen, ja ihn mit Namen anreden zu können – wurde in den Bereich des Privaten verbannt. Das Seins-Ganze selbst konnte vor diesem Hintergrund schwerlich anders denn als »ES«, d. h. als irgendwie dinghaft angesehen werden; mit der Folge, dass als letztliche Instanz allen Handelns das individuelle Ich-Subjekt verstanden werden musste. Selbst wenn – wie Vereno schreibt – »der Wille das Absolute erstrebt, so wird dieses doch zum ›Es‹ gemacht; und da von diesem keine Antwort erfolgen kann, so muß er sich zwangsläufig zum Ich zurückwenden und dieses umkreisen. Auch wenn theoretisch nicht
181 Andreas Vesalius (auch: Andreas Vesal; eigentlich Andreas Witinck) (1514–1564) war ein flämischer Anatom. Er gilt als Begründer der neuzeitlichen Anatomie. Er war Leibarzt Karls V. und Phillips II. von Spanien. In Bologna, an der Scholarenuniversität, sezierte Vesalius 1539 und 1540 öffentlich: Die erste Vorlesung fand in der Kirche San Salvador statt, die anatomische Demonstration in einem eigens dazu errichteten Anatomischen Theater, unter dem sakralen Schutz der Kirche San Francesco. Sein Hauptwerk, De humanis corporis fabrica (1543), ein sorgfältig typographisch ausgestattetes Lehrbuch, zeigt rund 200 zum Teil ganzseitige Illustrationen. Dort vertritt er – entgegen der allgemeinen Überzeugung – die Ansicht, allein der (tote) menschliche Körper sei der zuverlässige Weg zur Erkenntnis des Leibes. 182 Vgl. dazu: Buber, Martin: Einsichten, Wiesbaden 1953.
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Das Ersetzen wahrer Erkenntnis durch »gesichertes Wissen« als »neue Wahr-
das Ich – als ›Selbst‹ – mit dem Absoluten in eins gesetzt wird, so wird doch auf jeden Fall praktisch das Ich verabsolutiert als der einzige wirklich verpflichtende Bezugspunkt des geistigen Strebens.« 183
Wir hoffen dadurch gezeigt zu haben, dass der oben skizzierte Gedanke Wolfgang Paulis, die Kulturgeschichte der Menschheit sei geprägt durch einen regelmäßig wiederkehrenden Wandel, wonach auf Perioden »nüchterner Forschung« Epochen »mystisch-umfassender« Erkenntnis folgten, bei aller damit verbundenen Evidenz doch der Ergänzung bedarf; das heißt, dass Paulis Ansatz zu erweitern ist durch dessen Einbettung in das heilsgeschichtliche Wirklichkeitkeitsverständnis der Wort-Offenbarungtraditionen, insbesondere in den Kontext des singulären Erlösungsglaubens des Christentums bzw. der damit verbundenen erkenntnis- und kommunikationstheoretischen Konsequenzen. Denn nur dadurch gelangt unseres Erachtens das Geistesgeschichtlich-Spezifische der abendländischen Moderne und damit moderner Wissenschaftlichkeit mit dessen Absolutsetzung als »neue Wahrheit« relevant in den Blick. Diesem Aspekt wollen wir uns im folgenden Kapitel nun näher zuwenden.
7.
Das Ersetzen wahrer Erkenntnis durch »gesichertes Wissen« als »neue Wahrheit«
Max Planck spricht in seinem obigen Zitat (Kap. III/1) von »wissenschaftlicher Wahrheit«. Leider hat sich diese unsaubere Sprechweise seit dem 18. Jahrhundert eingebürgert. Auch Albert Einstein verwendet sie in seinem Vorwort zur Deutschen Ausgabe des ersten Galileischen Hauptwerkes Dialog über die beiden hauptsächlichen Weltsysteme, wenn er schreibt: »Das Leitmotiv von Galileis Schaffen sehe ich in dem leidenschaftlichen Kampf gegen jeglichen auf Autorität sich stützenden Glauben. Erfahrung und sorgfältige Überlegung allein lässt er als Kriterien der Wahrheit gelten. Wir können uns heute schwer vorstellen, wie unheimlich und revolutionär eine solche Einstellung zu Galileos Zeit erschien, in welcher der bloße Zwei-
183 Vereno, Matthias: Wurzel und Baum der modernen Gnosis. Das Geheimwissen und die Absolutsetzung des Ich, in: Wort und Wahrheit, XV. Jahrgang (1960), Heft 8/9 (August/September), S. 500–508, hier S. 500.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
fel an der Wahrheit von auf bloße Autorität sich stützenden Meinungen als todeswürdiges Verbrechen betrachtet und bestraft wurde.« 184
Wir haben im Kapitel III/1c ausgeführt, dass die Galileische Methode gerade deshalb zum Durchbruch kam, weil sie nicht den Anspruch erhob, Wahrheiten zu erkennen. Galilei selbst hat das deutlich gemacht. Hier noch einmal das betreffende Zitat: »Ich bin geneigt zu glauben, die Autorität der Heiligen Schrift habe den Zweck, die Menschen von jenen Wahrheiten zu überzeugen, welche für ihr Seelenheil notwendig sind und die, jede menschliche Urteilskraft völlig übersteigend, durch keine Wissenschaft noch irgendein anderes Mittel als eben durch Offenbarung des Heiligen Geistes sich Glaubwürdigkeit verschaffen können. Dass aber dieser selbe Gott, der uns mit Sinnen, Verstand und Urteilsvermögen ausgestattet hat, uns deren Anwendung nicht erlauben und uns auf einem anderen Weg jene Kenntnisse beibringen will, die wir doch mittels jener Eigenschaft selbst erlangen können, das bin ich, scheint mir, nicht verpflichtet zu glauben.« 185
Galilei unterscheidet Wahrheit von »Kenntnissen«, manchmal auch von »Wissen«. Die Naturwissenschaft entstand, weil Galilei die Alternative, es handle sich dabei um Hypothesen, die nicht wirklich wahr seien, auch nicht akzeptieren konnte (siehe Kapitel III/1c). In diesem Dilemma zwischen Wahrheit und Hypothese schuf er mittels des Wechselspiels von Experiment und Theorie eine dritte Kategorie, das gesicherte Wissen. Naturwissenschaftliche Erkenntnisse können nicht – im Sinne der Mathematik – bewiesen werden, sie sind in diesem Sinne nicht »richtig«. Sie bedürfen aber auch keiner emotionalen Identifikation, wir können uns auf ihre Aussagen verlassen, selbst wenn wir selbst über keine wie immer gearteten Kenntnisse der Naturgesetze verfügen und auch gar kein Verlangen danach haben. (Flugzeuge fliegen auch, wenn alle Passagiere Physik verabscheuen und nichts davon halten; ja selbst die Piloten müssen nur die Checkliste richtig abarbeiten, welche emotionale Einstellung sie dabei haben, ist gleichgültig). Es gibt also eine dreifache Unterscheidung zwischen »richtig« (beweisbar), »sicher« (falsifizierbar, aber nicht falsifiziert) und »wahr« (bezweifelbar, aber nicht bezweifelt).
184 Einstein, Albert: Galileo Galilei, in: Galilei, Galileo: Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme, Stuttgart 1982, S. XII. 185 Galilei: Brief an Castelli vom 21. Dez. 1613, a. a. O., S. 281.
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Das Ersetzen wahrer Erkenntnis durch »gesichertes Wissen« als »neue Wahr-
Mathematik, Formalwissenschaften
Naturwissenschaften, Kulturwissenschaften
Richtig Sicher
Philosophie, Theologie Lebenspraxis
Wahr
Abb. 8: Richtig / sicher / wahr
Leider wird diese Differenzierung heute in mehrfacher Hinsicht missachtet: Mathematisch »richtige« Aussagen (z. B. 2 + 3 = 5) werden oft als »wahre Aussagen« bezeichnet und Naturgesetze oft mit »Wahrheit« verwechselt. In Kap. III/4 zeigt das Zitat von Voltaire, dass damit eine Sehnsucht nach religiösen Aspekten des Lebens erfüllt werden soll, sodass auch Albert Einstein, der in anderen Aussagen genaue Differenzierungen vornimmt, in diese Falle tappen kann. Wir wollen diese dreifache Dialektik – als Dreifeld – auch grafisch darstellen, weil wir in Kapitel VII/5 darauf zurückkommen müssen: richtig
wahr
sicher Abb. 9: Dreieck: Richtig / wahr / sicher
Eine weitere Graphik soll veranschaulichen, wie sehr mit der Etablierung »gesicherten Wissens« die naturwissenschaftliche Erkenntnismethode auch in den Bereichen des Lebendigen bzw. des Menschlichen Einzug hielt. 109 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
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Gesichertes Wissen
Materie Leben Mensch
Abb. 10: Erkenntnis materie-analog
Durch die fälschliche Gleichsetzung von richtig und wahr geht die Differenz von Konstruktion und dem Gegebenen verloren. Die konstruierte Wirklichkeit wird dann mit dem Sein schlechthin identifiziert. Materie allein wird als »wahrhaft« existent gelten gelassen, wie unten dargestellt:
»Mathemathisierung« der Wirklichkeit; Das formal Richtige wird mit dem Wahren gleichgesetzt. Richtig Sicher Wahr
Abb. 11: »Mathematisierung der Wirklichkeit« als Erkenntnis-Grenzüberschreitung
Peter Schuster macht darauf aufmerksam, dass Joseph Loschmidt (1821–1895), der (weithin vergessene) österreichische Physiker und Chemiker, der schon 1861 (also einige Jahre vor Kekulé) Vorschläge für die ringförmige Struktur des Benzols machte und 1865 als erster 110 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Das Ersetzen wahrer Erkenntnis durch »gesichertes Wissen« als »neue Wahr-
die Größe der Luftmoleküle zu bestimmen vermochte, sein durch Franz Seraphin Exner 186 angeregtes Philosophiestudium deshalb abbrach, »weil ihm die gestellte Aufgabe, die von Herbart versuchten Anwendungen der Mathematik auf psychologische und philosophische Probleme zu begründen und konsequent durchzuführen, im Prinzip verfehlt erschien und ihm dabei die ganze Jämmerlichkeit der gerade modischen experimentellen Philosophie bewusst wurde.« 187
Eine weitere Gestalt der Missachtung der skizzierten Differenzierung bilden pseudo- bzw. säkularreligiöse Heilslehren und »fundamentalistische« Deutungen traditioneller religiöser Überlieferungen sowie individuelle »fixe Ideen«. Hierbei werden die Erkenntnis-Dimensionen der Mathematik (richtig/falsch) bzw. der Naturwissenschaft (sicher/ungesichert) instrumentalisiert, um eine politische bzw. religiöse Idee »wisserisch« zu untermauern.
Richtig Sicher Wahr
Politische und religiöse Ideologien, »Fixe Ideen« bzw. Lebenspraxis instrumentalisieren Mathematik und »Gesichertes Wissen«
Abb. 12: Ideologische Erkenntnis-Grenzüberschreitung (nach Reisenbichler)
Die wohl am schwersten als solche erkennbare, jedoch gegenwärtig kulturprägendste »Erkenntnis-Grenzüberschreitung« stellt die »szientistische« dar. Hierbei wird dem Menschen – weithin – die
Vater des Physikers Franz Exner. Schuster, Peter: Und was ist mit dem Licht? Physiker, Dichter und andere Reisende – Essays, Wien u. a. 2006, S. 65. 186 187
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Wahrheits(erkenntnis)fähigkeit abgesprochen 188 und insofern nolens volens (einmal abgesehen von unhinterfragbaren fundamentalistisch-»dogmatischen« Voraussetzungen verschiedenster Art) allein das »wissenschaftliche Wissen« als übersubjektiv-verbindliche Erkenntnis anerkannt. Diese Gestalt hat nicht zuletzt deshalb so suggestiven Charakter, weil als Garant nicht nur mathematische Richtigkeit fungiert, sondern darüber hinaus das – im Experiment – gewonnene gesicherte Wissen.
Richtig Sicher Wahr
Gleichsetzung des experimentell erprobten »gesicherten Wissens« mit wahrer Erkenntnis. Mathematik stellt eine Hilfswissenschaft dar.
Abb. 13: Scientistische Erkenntnis-Grenzüberschreitung
Doch wenn – wie in der Naturwissenschaft – »die Theorie als Modellbildung verstanden wird und durch das Experiment bestätigt werden soll, dann erhebt sich die Frage, was sie eigentlich beschreibt [erkennt]. Denn sie kann weder als bloße Beschreibung der experimentellen Ergebnisse noch als Abbildung einer irgendwie gegebenen (oder vorhandenen) ›Realität‹ aufgefasst werden.« 189
Die Quantenphysiker haben sich inzwischen an die – damit erkenntnistheoretisch verbundene – »weitere Fassung der Objektivität« gewöhnt, wenn auch oft mit innerem Widerstreben. Woran es sich offenkundig noch zu gewöhnen gilt, ist eine komplementäre »weitere Fassung der Subjektivität« (im Sinne eines Übersubjektiv-Verbindlichen). Auch diesbezüglich sollen uns wieder 188 Vgl. dazu etwa: Benedikt XVI (Joseph Ratzinger): Die Ökologie des Menschen, München 2012, insbes. S. 385–408. 189 Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., S. 22.
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– vorerst – klassische Vertreter der Quantentheorie behilflich sein, genauer: ein Dialog, den Heisenberg, Pauli und Dirac im Jahre 1927 in Brüssel geführt haben. 190 Mit wachem Auge diskutieren die drei Pioniere der Quantenmechanik eine (damals) zu beobachtende neue Offenheit von Naturwissenschaftlern gegenüber der Religion. Heisenberg interpretiert diese neue Offenheit in der Hinsicht, dass es sich dabei um zwei völlig verschiedene – und sich deshalb nicht konkurrierende – Sphären handle. In den Naturwissenschaften ginge es um richtig und falsch, in der Religion um gut und böse bzw. wertvoll und wertlos. Auf der einen Seite der Bereich der nach (subjektunabhängiger) »Objektivierung« strebenden Wissenschaft, auf der anderen Seite der auf (objektiv nicht beweisbaren) subjektiven Überzeugungen gründenden Welt der Religion(en). Wörtlich führt er dazu aus: »Die Naturwissenschaft ist gewissermaßen die Art, wie wir der objektiven Seite der Wirklichkeit gegenübertreten. […] Der religiöse Glaube ist umgekehrt der Ausdruck einer subjektiven Entscheidung, mit der wir für uns die Werte setzen, nach denen wir uns im Leben richten.« 191
Zwar sei diese Entscheidung – so Heisenberg weiter – nicht in einem absoluten Sinn subjektiv, sondern mitgeprägt von verschiedenen soziokulturellen Vorbedingungen, jedoch nicht dem objektiven Unterscheidungskriterium »richtig« oder »falsch« ausgesetzt. So könnten Religion und Naturwissenschaft nebeneinander koexistieren. In dieser Weise habe sich etwa Max Planck subjektiv für die christliche Wertewelt entschieden. Einschränkend fügt Heisenberg jedoch an: »Ich muß gestehen, daß mir bei dieser Trennung nicht wohl ist. Ich bezweifle, ob menschliche Gemeinschaften auf die Dauer mit dieser scharfen Trennung zwischen Wissen und Glauben leben können.« 192 An dieser Stelle des Gespräches meldet sich nun Pauli zu Wort und ergänzt bzw. verstärkt Heisenbergs Zweifel, indem er – um dies noch einmal in Erinnerung zu rufen: bereits 1927 – zu bedenken gibt:
190 Veröffentlicht in: Heisenberg, Werner: Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik, München 1969. Bemerkenswerterweise kommt auch Joseph Ratzinger in seinem Band Glaube, Wahrheit, Toleranz im Kapitel Wahrheit des Christentums? (3. Aufl., Freiburg 2004, S. 112 f.) auf dieses Gespräch eingehend zurück. 191 Heisenberg: Der Teil und das Ganze, a. a. O., S. 117. 192 Heisenberg: ebd. S. 117.
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»Die vollständige Trennung zwischen Wissen und Glauben ist sicher nur ein Notbehelf für eine sehr begrenzte Zeit. Im westlichen Kulturkreis zum Beispiel könnte in nicht zu ferner Zukunft der Zeitpunkt kommen, zu dem die Gleichnisse und Bilder der bisherigen Religion auch für das einfache Volk keine Überzeugungskraft mehr besitzen; dann wird, so fürchte ich, auch die bisherige Ethik in kürzester Zeit zusammenbrechen und es werden Dinge geschehen von einer Schrecklichkeit, von der wir uns jetzt noch gar keine Vorstellung machen können.« 193
Inzwischen wissen wir, wie sehr die prophetische Ahnung Paulis Wirklichkeit geworden ist. Aber haben wir inzwischen auch verstehen gelernt, warum diese »unvorstellbare Schrecklichkeit« Wirklichkeit werden konnte? Dass dieses Wirklich-Werden des UnvorstellbarSchrecklichen mit der oben erwähnten – konzeptionell – gänzlichen Trennung zwischen Wissen und Glauben zusammenhängt? Dass es womöglich kein Zufall war, dass sich die nationalsozialistische Rassen-Ideologie als »wissenschaftliche« Welt-Anschauung zu verstehen gab? Bodamer verweist auf den Umstand, »daß Kierkegaard als erster den Argwohn aussprach, alles existenzielle Verderben werde zuletzt von den Naturwissenschaften kommen, und daß er als einziger den Mut zur Frage gehabt hat, ob wir überhaupt noch Menschen seien.« 194 Das nachfolgende Schaubild soll illustrieren, wie im Falle »ideologischer Totalitarismen« das »gesicherte Wissen« wissenschaftlicher Forschung instrumentalisiert wird bzw. sich Ideologien unter dem Deckmantel »gesicherten Wissens« zu etablieren suchen.
Gesichertes
Wissen
Ideologische »Wahrheit«
Ideologische »Wahrheit«
Ideologische »Wahrheit«
Ideologische »Wahrheit«
Abb. 14: Erkenntnis ideologiefunktional
Heisenberg: ebd. S. 118. Bodamer, Joachim: Sind wir überhaupt noch Menschen? Freiburg – Basel – Wien 1967, S. 13. 193 194
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Die Absolutsetzung von Materie, Raum und Zeit im Zuge der Neuzeit
8.
Die Absolutsetzung von Materie, Raum und Zeit im Zuge der Neuzeit
Die Auseinandersetzung zwischen Vertretern einer materiezentrierten und einer geistzentrierten Weltsicht ist so alt wie das systematische Denken überhaupt. So schreibt schon Platon, der Schöpfer der Ideen-Lehre: »Die einen ziehen alles vom Himmel und aus dem Unsichtbaren zur Erde herab, wobei sie wahre Felsblöcke und Eichen mit ihren Händen umklammern. Denn indem sie sich an allem derartigen festhalten, behaupten sie steif und fest, nur das sei, was irgendwie Zugriff oder Berührung zulässt, und bestimmen Körper und Sein als ein und dasselbe; und wenn von den anderen einer für seiend erklärt, was keinen Körper besitzt, so sind sie überhaupt voller Verachtung und wollen nichts weiter hören. […] Daher verteidigen sich denn auch ihre Gegner sehr vorsichtig von oben her aus dem Unsichtbaren und versuchen zu erzwingen, dass gewisse intelligible und unkörperliche Ideen das wahrhafte Sein sind.« 195
Platon wendet sich damit auch gegen einen großen Vorgänger Parmenides und seinen eigenen Schüler Aristoteles, der seinerseits seinen Lehrer Platon kritisierte: »Und da sich nun Sokrates mit den ethischen Gegenständen beschäftigte und gar nicht mit der gesamten Natur, in jenen aber das Allgemeine suchte und sein Nachdenken zuerst auf Definitionen richtete, so brachte dies den Platon, der seine Ansichten aufnahm, zu der Annahme, dass die Definition etwas von dem Sinnlichen Verschiedenes zu ihrem Gegenstand habe; denn unmöglich könne es eine allgemeine Definition von irgendeinem sinnlichen Gegenstande geben, da diese sich in beständiger Veränderung befänden.« 196
Platon hat in seinem Timaios-Dialog die Grundlage seines Denkens dargelegt: • Das SEIN, das immer ist, unterliegt nicht dem Entstehen und Werden. (Es wird mit der Vernunft durch das Denken erfasst) • Das WERDEN, das kontinuierlich entsteht, ist niemals ein wahres Sein. (Es wird durch die von der Vernunft verschiedene Sinnes-Wahrnehmung erfasst) • Alles, was dem Prozess des Entstehens unterliegt, verlangt nach einer Ursache. Diese Ursache ist ein DEMIURG (»Werkmeister«). 195 196
Platon: Sophistes 245E6–246C4. Aristoteles: Metaphysik, 987b.
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Für Platon stehen Sein und Werden nicht im Entweder-Oder. Es sind die zwei Seiten ein und derselben »Münze« und können daher nicht getrennt werden. Daher ist der Gegenstand der Sinneswahrnehmung (das Werden) vom Gegenstand der Vernunft (das Sein) zwar zu unterscheiden, aber nicht zu trennen. »Zeit« (in der das Werden regiert) ist somit für Platon nicht zu verstehen ohne ihr Gegenstück, die »Ewigkeit« (in der das Sein zuhause ist). Aristoteles kann diese Aporie (diesen Widerspruch) nicht bestehen lassen. Er stellt das Sein dem Nichtsein im Sinne des EntwederOder entgegen: »Denn zu behaupten, das Seiende sei nicht oder das Nichtseiende sei, ist falsch. Aber zu behaupten, dass das Seiende sei und das Nichtseiende nicht sei, ist wahr.« 197 Für Platon stehen Sein und Nichtsein in einem dialektischen Verhältnis und er widerspricht daher schon Parmenides: »Es kann uns zum Zwecke der Verteidigung nicht erspart werden, den Satz unseres Vaters Parmenides genau zu prüfen, und das Nichtseiende zu zwingen, dass es in gewisser Hinsicht ist, und andererseits das Seiende, dass es irgendwie nicht ist.« 198 Und vom »Nichtseienden« sagt Platon: »Mit einem Gegensatz, ob es ist oder nicht ist, ob es in sich vernünftig oder ganz und gar unerklärlich ist, haben wir es bei ihm schon längst nicht mehr zu tun.« 199 Analog zu dem Problem von Sein und Werden steht das Verhältnis von Ewigkeit und Zeit. Für Platon ist es ebenfalls dialektisch, und er beschreibt es in dichterischer Form: »Als nun der schaffende Vater dieses Abbild der ewigen Götter von Bewegung erfüllt sah, freute er sich. […] [E]r beschließt, ein sich bewegendes Abbild der Ewigkeit herzustellen. Gleichzeitig mit der Ordnung des Weltalls überhaupt schafft er ein nach der Zahl fortschreitendes Abbild, dem wir den Namen Zeit gegeben haben.«
Sodann macht er aufmerksam, dass wir als Wesen in der Zeit über Ewigkeit nicht einmal sprechen können, denn »[…] das ›War‹ und ›Wird sein‹ sind gewordene Formen der Zeit, die wir, uns selbst täuschend, mit Unrecht auf das unvergängliche Sein beziehen; denn wir sagen von ihm ›es war‹, ›es ist‹ und ›es wird sein‹, während ihm in Wahrheit nur die Bezeichnung ›es ist‹ zukommt.« 200 197 198 199 200
Aristoteles: Metaphysik, 1011b 26 ff. Platon: Sophistes, 241D1. Platon: Sophistes, 259B7. Platon: Timaios, 37C6–38A8.
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Die Absolutsetzung von Materie, Raum und Zeit im Zuge der Neuzeit
Der zeitgenössische Platon-Forscher Giovanni Reale sagt dazu: »Platon stellt damit eine wahrhaft bahnbrechende These auf, die seine eigenen Schüler nicht richtig aufzunehmen vermochten, indem sie sie entweder allegorisch-didaktisch auslegten oder sie wie Aristoteles zurückwiesen.« 201 Aristoteles muss die Aporie der Zeit anerkennen, aber er verbindet Zeit mit Bewegung, nicht mit Ewigkeit: »Wir messen also nicht nur die Bewegung durch die Zeit, sondern auch die Zeit durch die Bewegung, weil sie einander begrenzen und bestimmen. So bestimmt also die Zeit die Bewegung selbst als Zahl und genauso die Bewegung die Zeit.« 202 Allerdings ist für Aristoteles die Zeit kein physikalisches Phänomen, sie ist für ihn an die Seele gebunden: »Man könnte sich streiten, ob auch dann Zeit sei, wenn es kein Bewusstsein und keine Seele gäbe. Denn wo keiner zählen kann, kann auch nichts Abzählbares sein, folglich auch keine Zahl. Denn Zahl ist entweder das Gezählte oder das Abzählbare. Wenn aber seinem Wesen nach nichts anderes zählen kann als die Seele und in ihr die Vernunft, dann kann unmöglich Zeit ohne Seele bestehen …« 203
Ehe wir uns mit der weiteren Entfaltung des Problems in der Neuzeit beschäftigen, müssen wir noch einen Zwischenhalt bei Augustinus einlegen. Augustinus von Hippo (354–430) hat sich am Ausführlichsten mit der »Zeit« befasst. Die Aporie von Zeit und Bewegung zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass nur eine Seite, nämlich die Bewegung, überhaupt erkennbar ist. Die Zeit ist vorausgesetzt, aber selbst gar nicht feststellbar. Daher wird manchmal versucht, die Zeit zu leugnen und nur Bewegungen anzuerkennen. Diesem Versuch hat Augustinus in seinen Bekenntnissen deutlich widersprochen. Er sagt dort zu seinem Gott: »Befiehlst Du, ich solle beistimmen, wenn jemand behauptet, Zeit sei die Bewegung eines Körpers? Du befiehlst es nicht. Denn von Dir selbst höre ich, dass sich ein Körper nur in der Zeit bewegen kann. Du sagst also keineswegs, dass die Bewegung eines Körpers nun selber die Zeit sei. Wenn ein Körper in Bewegung ist, so ist die Zeit nur das Mittel, die Dauer der Bewe-
201 Reale, Giovanni: Zu einer neuen Interpretation Platons, F. Schöningh, Paderborn 1993, S. 506. 202 Alle folgenden Zitate von Aristoteles und Augustinus werden zitiert nach Schwarz, Gerhard: Raum und Zeit als naturphilosophisches Problem, Wiener Univ. Verl., Wien 1992. 203 Schwarz: ebd.
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gung zu messen von dem Augenblick, da sie anfing, bis zu dem, da sie aufhörte […]. Denn wenn wir eine Aussage über eine Zeitdauer machen, so können wir das nur, indem wir eine Relation herstellen zwischen zwei Zeitlängen.« 204
Augustinus kommt dann zu dem bekannten Schluss: »›Was ist die Zeit‹ ? Wer könnte das leicht und kurz erklären? Wer vermöchte es auch nur gedanklich zu begreifen, um sich im Wort darüber auszusprechen? Gleichwohl, was ginge uns beim Reden vertrauter und geläufiger vom Munde, als ›Zeit‹ ? Beim Aussprechen des Wortes verstehen wir auch, was es meint, und verstehen es gleich so, wenn wir es einen anderen aussprechen hören. Was also ist ›Zeit‹ ? Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es: will ich es einem Fragenden erklären, weiß ich es nicht.« 205
Die Neuzeit, in der die Naturwissenschaft den Denkrahmen bestimmt, muss solche Aporien ausklammern. Carl Friedrich von Weizsäcker macht das deutlich, wenn er schreibt: »Philosophie stellt diejenigen Fragen, die nicht gestellt zu haben die Erfolgsbedingung des wissenschaftlichen Verfahrens war.« 206 In einem der bekanntesten Lehrbücher der theoretischen Physik schreibt der Nobelpreisträger Richard Feynman folgerichtig: »Was ist Zeit? Es wäre schön, wenn wir eine gute Definition der Zeit finden könnten […]. [W]as jedoch wirklich wichtig ist, ist nicht, wie wir Zeit definieren, sondern wie wir sie messen. Eine Möglichkeit, Zeit zu messen, ist die Benützung von etwas, das immer wieder in regelmäßiger Art geschieht – etwas Periodischem […]. Alles, was wir sagen können, ist, dass wir eine Übereinstimmung finden zwischen einer Regelmäßigkeit der einen Art mit einer Regelmäßigkeit der anderen Art. Wir können nur sagen, dass wir unsere Zeit-Definition auf der Wiederholung eines offensichtlich periodischen Ereignisses aufbauen.« 207
Am Beginn der naturwissenschaftlichen Epoche war sich Newton dieser Problematik noch bewusst. In seinem Hauptwerk, den Principia Mathematica, sagt er deutlich: »Zeit, Raum, Ort und Bewegung, als allen bekannt, erkläre ich nicht.« 208 Er muss jedoch den subjekti-
Schwarz: ebd. Schwarz: ebd. 206 Weizsäcker, Carl Friedrich von: Deutlichkeit, Hanser Verl., München 1978, S. 167. 207 Feynman, Richard P.; Leighton, Robert B.; Sands, Matthew: The Feynman-Lectures on Physics, Vol. I, Addison Wesley Publ.Comp, Reading/Mass. 1963, S. 5–1. 208 Zitiert nach Heuser: Der Physiker Gottes, a. a. O., S. 140. 204 205
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ven Zeitbegriff von dem in seiner Naturwissenschaft wirksamen trennen: »Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand. Sie wird so auch mit dem Namen: Dauer belegt. Die relative, scheinbare und gewöhnliche Zeit ist ein fühlbares und äußerliches, entweder genaues oder ungleiches Maß der Dauer, dessen man sich gewöhnlich statt der wahren Zeit bedient, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr.« 209
Newton hat damit »absolute« und »relative«, »wahre« und »scheinbare«, sowie »mathematische« und »gewöhnliche« Zeit einander entgegengestellt. Obwohl er selbst sagt, »Zeit« (neben Raum, Ort und Bewegung) nicht zu erklären, weil sie »allen bekannt« seien, muss er nun zum Zwecke der intersubjektiven Messbarkeit die in seiner Physik zu verwendende Zeit von jenen Elementen säubern, die im täglichen Umgang mit der Zeit den Begriff gewissermaßen »unsauber« werden lassen. Heute sprechen wir in der Physik von der »Homogenität« der Zeit und meinen damit den von Newton herausgegriffenen Aspekt; diese Homogenität der Zeit ist deshalb so wichtig, weil sie in direkter Folge zum Satz von der Erhaltung der Energie (in abgeschlossenen Systemen) führt. Dieser so genannte »Energie-Satz« wurde von Max Planck folgerichtig zum wichtigsten Naturgesetz überhaupt erklärt. Daran änderte sich auch nichts, als Albert Einstein im Jahre 1905 den Newton’schen Ansatz verwarf und erklärte, in relativ zueinander bewegten Bezugssystemen gäbe es keine gemeinsame Zeit, die Zeit sei also nicht absolut, sondern relativ, bezogen auf den Bewegungszustand des zugrunde liegenden Koordinatensystems. Allerdings musste der Energie-Satz dabei erweitert werden, weil nunmehr nicht die Summe aller Energie-Formen in einem abgeschlossenen System immer gleich zu bleiben hatte, sondern die um das Massenäquivalent (E = m c2) erweiterte Summe. Leider wird in Lehrbüchern der zweite Satz des Newton’schen Ansatzes allzu häufig weggelassen und der erste fälschlicherweise als »Zeitdefinition« Newtons bezeichnet. Damit wird unterstellt, dass schon Newton die in der Physik maßgebende Form der »Zeit« als objektiv der subjektiven Zeit der Menschen entgegenstellte. Zwar schreibt er von »wahrer« und »scheinbarer« Zeit, setzt dieses Paar aber den Paaren »absolute« und »relative« sowie »mathematische« 209 Newton, Isaak: Mathematische Prinzipien der Naturlehre [principia mathematica], hrsg. von Jakob Philipp Wolfers, Berlin 1872, reprint Darmstadt 1963, S. 25.
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und »gewöhnliche« Zeit gleich. Es bedurfte der Trennung von Geist und Materie durch René Descartes, um jene Bewegung in Gang zu setzen, die schließlich dazu führte, die Materie als alleingültige »Realität« zu werten. Descartes hatte die Schrecken des 30jährigen Krieges mit eigenen Augen erlebt. Dieser Krieg wurde bekanntlich um der »Wahrheit« willen geführt, er tobte zwischen Katholiken und Protestanten. Descartes, der unter dem Wahnsinn des Krieges litt, wollte einen Weg zur Wahrheit finden, der nicht sofort in Blutvergießen ausartete (siehe Kap. III/5). Das Ergebnis seiner Suche ist wohlbekannt: Cogito ergo sum, denkend bin ich. Damit ist aber nur die Existenz des Geistes (und zwar genauer: nur meines momentanen Geistes! Vgl. Kapitel VII Aporon) unumstößliche Wahrheit. Um weiter zu kommen, unterschied Descartes Geist und Materie als res cogitans (denkendes Sein) und res extensa (ausgedehntes Sein). Wichtig ist zu betonen, dass Descartes einen Unterschied erkannte, jedoch noch keine Trennung verlangte. Carl Friedrich von Weizsäcker sagt das – wie schon erwähnt – deutlich: »In der Tat ist seine Philosophie weder einseitig dem Geist noch einseitig der Materie zugewandt. Zwar hat er Geist und Materie scharf unterschieden, vielleicht schärfer, als es je zuvor in der Geschichte der Philosophie geschehen ist. Aber er hat sie unterschieden, um dann auch die Art ihrer Beziehung zueinander ebenso scharf bezeichnen zu können. Historisch gehört er daher ebensosehr zu den Stammvätern des Methodenbewußtseins der Naturwissenschaft wie zu denen der Philosophie des Geistes.« 210
Erst als sich herausstellte, dass die neue Methode Galileis nur für Materie anwendbar war und sich dort großartige Erfolge einstellten, geriet der Geist mehr und mehr ins Abseits der Betrachtungen und wurde schließlich oft ganz geleugnet. Aus dem Unterschied wurde eine Trennung, eine Beurteilung der beiden Seiten und sodann Verdrängung des Geistes. Das mechanistische Denken hatte sich vollständig durchgesetzt. Materie erschien nunmehr als einzig »wahre« Realität, die von der Naturwissenschaft konstruierte Wirklichkeit brauchte sich um den Geist nicht mehr zu kümmern. Die aufs Erste schwer zu erfassende Tragweite dieser Wende vom Geist- zum Materieprimat macht Ratzinger deutlich, wenn er dazu prägnant ausführt:
210
Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft, a. a. O., S. 202.
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»Was ist das eigentlich, Materie? Und was ist das: der Geist? Sehr abkürzend könnten wir sagen: Materie nennen wir ein Sein, das nicht selbst seinsverstehend ist, das also zwar ›ist‹, aber nicht sich selbst versteht. Die Reduktion allen Seins auf Materie als die primäre Form von Wirklichkeit behauptet folglich, daß den Anfang und den Grund allen Seins jene Form von Sein bildet, das nicht selber seinsverstehend ist: das heißt dann weiter, daß das Verstehen von Sein nur als ein sekundäres Zufallsprodukt im Lauf der Entwicklung sich einstellt.« 211
In diesem Zusammenhang erscheint weiters die Erwähnung des Umstandes wichtig, dass man unter dem Primat der Materie praktisch genötigt ist, alles in den Kategorien von Raum und Zeit zu denken bzw. zu verorten, d. h. einer etwaigen Dimension der Raum-Zeitmächtigkeit 212 prinzipiell kein Platz mehr zugewiesen werden kann. Vor diesem Hintergrund ist sowohl der bekannte Ausspruch von Rudolf Virchow, dem berühmten Berliner Arzt und Entwickler der Zellularpathologie: »Ich habe so viele Leichen seziert, aber nie eine Seele gefunden« 213, zu lesen als auch das Statement von Jury Gagarin, dem ersten Raumfahrer im Weltall, der, nachdem er am 12. April 1961 als erster Mensch im Weltraum die Erde umkreist hatte, gesagt haben soll: »Ich bin in den Weltraum geflogen, aber Gott habe ich dort nicht gesehen.« 214 Die Jünger des Descartes hatten schon Newton in Bedrängnis 211 Ratzinger: Einführung in das Christentum, a. a. O., S. 119 f. Basierend auf der entfalteten Definition von Materie beschreibt Ratzinger (ebd., S. 120) Geist »als das sich selbst verstehende Sein […], als Sein, das bei sich selber ist.« 212 Die jener Seinsdimension entsprach, die in der abendländischen Tradition für gewöhnlich als Ewigkeit bezeichnet wird. 213 Siehe dazu: Haßlauer, Steffen: Polemik und Argumentation in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts: eine pragmalinguistische Untersuchung der Auseinandersetzung zwischen Carl Vogt und Rudolph Wagner um die »Seele«, Berlin – New York 2010. 214 Es spielt dabei keine Rolle, ob Gagarin dies tatsächlich selbst gesagt hat oder ob es ihm von der Sowjet-Propaganda – als vorgeprägtes »Ideologem« – in den Mund gelegt wurde. Zum 50. Jahrestag dieser ersten Reise des Menschen ins All (12. April 2011) wurde auf YouTube der Film First Orbit ins Internet gestellt, der historische Tonaufnahmen des ersten Kosmonauten mit neuem Filmmaterial seiner Erdumrundung 1957 verbindet. In Zusammenarbeit mit der Europäischen Weltraumbehörde ESA und den Astronauten der Internationalen Raumstation ISS zeichnet dabei der Filmemacher Chris Riley die Erdumrundung Gagarins – in Echtzeit – nach. Das hochauflösende Filmmaterial gleicht die Umlaufbahn der Internationalen Raumstation ISS der ersten Erdumrundung Gagarins möglichst originalgetreu an. Wer sich diesen ersten Raumflug in Echtzeit mit Originaltonaufnahmen betrachten will, siehe: http:// www.googlewatchblog.de/2011/04/first-orbit-in-108-minuten-um-die-welt/
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gebracht, indem sie ihn als Spiritisten bezeichneten. Denn die Schwerkraft konnte nicht als res extensa (ausgedehntes Sein) bezeichnet werden, also war sie geistiger Natur und Newton hatte unerlaubter Weise geistige Elemente in die Beschreibung der Materie eingeführt. Newton zog sich aus der Affäre, indem er den bis heute gültigen Weg einschlug, als Berechtigung seiner Überlegungen ausschließlich die möglichen Voraussagen gelten zu lassen (siehe Kap. III/5). Wir wissen seit den Erkenntnissen Albert Einsteins in seiner Allgemeinen Relativitätstheorie, dass die Idee der Schwerkraft eine grobe Näherung an die Natur darstellt, die nur für schwache Gravitationsfelder gerechtfertigt ist. Wenn die gewünschte Genauigkeit der Vorhersage eine gewisse Grenze überschreitet, genügt die Newton’sche Theorie der Schwerkraft nicht mehr. Das ist zum Beispiel bei der Berechnung der Bahn des Merkur, aber auch bei allen Satelliten-Navigationssystemen der Fall. Obwohl sich die Einstein’sche Gravitationstheorie als physikalische Theorie selbstverständlich auch auf Materie beschränkt und geistige Elemente vollständig ausgeklammert bleiben, vermag sie dennoch erstaunliche Anregungen zu geben; sie ist – wie jede physikalische Theorie – eine Theorie über Materie in Raum und Zeit. Aber sie verbindet in eigentümlicher Weise diese drei Grundbegriffe. Das ist einleuchtend durch eine Anekdote darzustellen, wonach Einstein bei seiner ersten Ankunft in den USA von Reportern gefragt wurde, ob er seine Allgemeine Relativitätstheorie in wenigen Worten charakterisieren könne. Er soll darauf geantwortet haben: Vor der Allgemeinen Relativitätstheorie dachte man, wenn man die Materie aus dem Universum entfernt, bleiben Raum und Zeit übrig; seit der Allgemeinen Relativitätstheorie wissen wir, dass mit der Materie auch Raum und Zeit verschwinden! Wenn wir diese tiefe physikalische Erkenntnis weiterdenken, müssen wir folgern, dass Raum und Zeit gewissermaßen das »Gefäß« für Materie darstellen und dass alles andere, vor allem Geist, nicht in diesem »Gefäß« zu finden ist. Wenn wir Geist nicht einfach ableugnen wollen, dann folgt daraus, dass er nicht in Raum und Zeit zu finden sein kann. Damit schließt sich der Kreis zu den eingangs geschilderten Gedanken Platons. Seine Unterscheidung von Ewigkeit und Zeit scheint nun in natürlicher Weise auch auf Geist und Materie zuzutreffen. Die Schilderungen des Phänomens der Verschränkung in Kapitel 122 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Der Historismus als konsequente Folgeerscheinung
VI/1c zeigen, dass eine strikte Trennung nicht einmal für Materie sinnvoll bleibt, wenn wir sie bis in ihre kleinsten Bausteine verfolgen. Bedenkenswert erscheinen in diesem Zusammenhang schließlich auch die Überlegungen von Mircea Eliade zur unterschiedlichen Raum-Erfahrung in Offenbarungs- und Nicht-Offenbarungskulturen: »[D]ie Offenbarung eines heiligen Raumes gibt dem Menschen einen ›festen Punkt‹ und damit die Möglichkeit, sich in der chaotischen Homogenität zu orientieren, ›die Welt zu gründen‹ und wirklich zu leben. Die profane Erfahrung [im soziokulturellen Kontext einer Nicht-Offenbarungstradition] dagegen bleibt bei der Homogenität und folglich der Relativität des Raumes. Eine wahre Orientierung ist unmöglich, denn der feste Punkt ist nicht mehr eindeutig ontologisch bestimmt; er erscheint und verschwindet je nach den Erfordernissen des Tages.« 215
9.
Der Historismus als konsequente Folgeerscheinung der Absolutsetzung von Materie, Raum und Zeit
Um den Historismus als Folgeerscheinung der Absolutsetzung von Materie und damit von Raum und Zeit adäquat nachvollziehen zu können, erscheint auch hier ein Rückblick in die Geistesgeschichte angebracht; etwa in die vorchristliche griechisch-antike Kultur. Dabei wird deutlich, dass »[d]ie klassische Philosophie, von den Vorsokratikern bis zu Lukrez 216, […] die Welt und den Menschen nicht im zeitlichen Horizont der Geschichte und ihrer zufälligen Geschicke, sondern im ewigen Umkreis der Physis [dachte]« 217. Nicht zufällig hat Aristoteles, der den verschiedensten Phänomenen eine Schrift gewidmet hat, kein Buch über Geschichte verfasst. Ja, es ist geradezu absurd sich vorzustellen, dass Aristoteles – um Löwith zu zitieren – »in Alexander 218 [dem Großen], so wie Hegel in Napoleon, den ›Weltgeist‹ der Weltgeschichte hätte erblicken können, denn das würde voraussetzen, daß der Logos des ewigen Kosmos Eliade, Mircea: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt/Main 1984, S. 25. 216 Lukrez – eigentlich Titus Lucretius Carus (vermutlich 97–55 v. Chr.), römischer Dichter und Philosoph. 217 Löwith, Karl: Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, S. 184. 218 Gemeint ist Alexander der Große (356–323 v. Chr.), der große Feldherr und Freund Aristoteles’. 215
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in die vergänglichen pragmata unserer Geschichte eingehen könnte.« 219 Anders ausgedrückt: Das Fehlen eines Geschichtswerks im Aristotelischen Opus ist nicht auf einen Lapsus des Stagiriten zurückzuführen, sondern auf dessen kulturspezifische klare Einsicht, dass vom Werdenden und Vergehenden höchstens berichtet 220, jedoch keine wahre Erkenntnis gewonnen werden kann. Von einem geschichtlichen Bewusstsein kann erst im Judentum und Christentum mit ihrem eschatologisch-zielgerichteten Verständnis des zeiträumlichen Geschehnisablaufes gesprochen werden. In diesem Sinne schreibt Löwith: »Die ›Entdeckung‹ der geschichtlichen Welt und der geschichtlichen Existenz, deren Sinn in der Zukunft liegt, ist nicht das Ergebnis einer philosophischen Einsicht, sondern das Produkt einer hoffnungsvollen Erwartung.« 221 Diese Erwartung bezieht sich ursprünglich – also in Judentum und Christentum – auf das Reich Gottes. Mit der – sich von religiösen Konnationen emanzipierenden – Moderne wird daraus in vermehrtem Maße die Vorstellung eines utopisch-idealen Reiches des Menschen. Mit anderen Worten: Die heilsgeschichtlich-christliche Zuversicht wird gleichsam »säkularisiert«. »[A]uch die radikal weltlichen Fortschrittsphilosophien von Concordet, Comte und Marx sind eschatologisch von der Zukunft her motiviert und nicht minder ihr Umschlag in negativ fortschreitende Verfallstheorien.« 222 Dieser geistesgeschichtliche Verlauf im Zuge der Neuzeit wird begleitet von einem Geschehen, das als »Entewigung« bezeichnet werden kann. Darunter ist zu verstehen, dass mit der Primärsetzung der Materie bzw. von Raum und Zeit – wie Koslowski schreibt – »alles Seiende, die Gesamtwirklichkeit, ausschließlich als Werden und Ver-
Löwith: Gesammelte Abhandlungen, a. a. O., S. 154. Der griechische Begriff hierfür ist historein; von daher stammt das deutsche Wort Historie. Damit ist jedoch nicht etwas spezifisch »Geschichtliches« gemeint, sondern alles irgendwie Bericht- bzw. Erkundbare. In diesem Sinne schreibt Löwith: »Die historiae der antiken Historiker berichten, wie noch die ›Storie Fiorientine‹ von Macciavelli, Geschichten im Plural, sie deuten aber keine Geschichte im Sinne einer geschichtlichen ›Welt‹, und noch weniger haben die klassischen Historiker die unbeantwortbare Frage nach dem Zweck, dem ›Wozu‹, als dem Sinne der Weltgeschichte gestellt.« (Löwith: Gesammelte Abhandlungen, a. a. O., S. 156). 221 Löwith: Gesammelte Abhandlungen, a. a. O., S. 157. 222 Löwith: ebda, S. 157; hinsichtlich der Verfallstheorien denke man etwa an das Epoche machende Werk Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spängler oder Karl Kraus’ Stück Die letzten Tage der Menschheit. 219 220
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Der Historismus als konsequente Folgeerscheinung
gehen ohne [eigentliche] Dauer und ruhendes [überzeitlich-ewiges] Sein gedacht werden.« 223 Aus diesem Umstand lassen sich nun völlig unterschiedliche Konsequenzen ziehen: Dies soll anhand des Vergleichs zwischen dem Lebens-Philosophen Georg Simmel (1858–1918) und dem Dialog-Philosophen Franz Rosenzweig (1886–1929) exemplarisch aufgezeigt werden. Beide, Simmel und Rosenzweig, sind jüdischer Herkunft und entstammen Kaufmannsfamilien. 224 Doch sie ziehen gänzlich divergente Schlüsse aus dem Umstand der Verabsolutierung von Raum und Zeit im Verlauf der Neuzeit, insbesondere mit dem 19. Jahrhundert. Georg Simmel nimmt – von Nietzsche beeinflusst – ab den 1890er Jahren einen positivistisch-darwinistischen Standpunkt ein und postuliert, »dass es nicht [länger] Werte gibt, die wir als solche wollen, sondern dass wir umgekehrt einen Wert nennen, was wir wollen« 225. In seinem Zentralwerk Philosophie des Geldes (1900) vollzieht er schließlich den – gemäß dem vorherrschenden Seins-, besser: Werdens-Verständnis, wonach alle gestalthafte Wirklichkeit (und insofern auch alles Inhaltlich-Werthafte) dem unaufhaltsamen Lebensfluss untergeordnet ist – konsequenten finalen Gedankenschritt, indem er das Phänomen der Wechselwirkung in den Rang des metaphysischen Grundprinzips schlechthin erhebt. Mit anderen Worten: Er löst Werthaftigkeit auch vom subjektiven Wollen. Dieses »Wechselwirkungs-Credo« kleidet er wie folgt in Worte: »Die zeitgeschichtliche Auflösung alles Substanziellen, Absoluten, Ewigen in den Fluss der Dinge, in die historische Wandelbarkeit, in die nur psychologische Wirklichkeit scheint mir nur dann vor einem haltlosen Subjektivismus und Skeptizismus gesichert, wenn man an die Stelle jener substan223 Koslowski, Peter: Genetisierung und Verlust der Gestalt. Folgen der Genetik für die Deutung des Menschen und der Gesamtwirklichkeit, in: Löw, Reinhard; Schenk, Richard (Hrsg.): Natur in der Krise, Hildesheim 1994, S. 235. 224 Siehe zu Georg Simmel bzw. Franz Rosenzweig: Jung, Werner: Georg Simmel zur Einführung, Hamburg 1990; Junge, Matthias: Georg Simmel kompakt, Bielefeld 2009; Kim, David (Ed.): Georg Simmel in Translation. Interdisciplinary Border-Crossings in Culture and Modernity, Cambridge 2006; Glatzer, Nahum N.: Franz Rosenzweig. His Life and Thought, 2. Aufl., New York 1998; Hahn, Franz: Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen. Annäherungen an Franz Rosenzweigs Sprachdenken, München 2013; Sindoni, Paola Ricci: Franz Rosenzweig. L’altro, il tempo e l’eterno, Rom 2012. 225 Simmel, Georg: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 70 [1892/1893]. Vgl. dazu auch das Paulus-Zitat (1 Kor 15, 32): »So die Toten nicht auferstehen: ›lasset uns essen und trinken; denn morgen sind wir tot!‹«
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
ziell festen Werte die lebendige Wechselwirkung von Elementen setzt, welche letzteren wieder der gleichen Auflösung ins Unendliche hin unterliegen.« 226
Auch Franz Rosenzweig realisiert die fundamentale Relativierung alles Werthaften durch die Absolutsetzung von Raum und Zeit. Als Historiker befasste er sich eingehend mit der Frage – wie Reinhold Meyer in der Einleitung von Rosenzweigs Zentralwerk Stern der Erlösung (1921) schreibt –, »ob und wie es für den in die geschichtlichen Wandlungen verstrickten Menschen allgemein gültige Wahrheit geben könne. Die Schwierigkeit, verbindliche Wahrheit in der Geschichte zu finden, war im neuzeitlichen Denken umso deutlicher geworden, je weniger von der geschichtlichen Bedingtheit aller Vorstellungen und Erkenntnisse einer Zeit abgesehen werden konnte.« 227
War für Georg Simmel das Judentum, dem seine Eltern nicht mehr angehörten, »durchaus ein Ding der Vergangenheit« wie Liebschütz schreibt 228, so bildet es für Rosenzweig (spätestens ab 1913) – au contraire – den Garant dafür, dass es noch Dauer gibt. Diese »Wende zum Sein« verlief dabei durchaus nicht undramatisch. Über seinen Vetter Rudolf Ehrenberg (1884–1969), der – weil er eine christliche Mutter hatte – schon als Kind getauft worden war, hatte Rosenzweig den Rechtshistoriker und bekennenden Christen Eugen Rosenstock (1888–1973) kennengelernt. Im so genannten »Leipziger Nachtgespräch« vom 7. Juli 1913 überredeten seine beiden christlichen Freunde Rosenzweig zur Konversion. Rosenzweig erbat sich jedoch Bedenkzeit, um sich zuvor intensiv mit seinem Judentum zu beschäftigen, da er als Jude, nicht als Heide konvertieren wollte. Nach Monaten »gründlicher Überlegung« teilte Rosenzweig Ehrenberg dann Ende Oktober 1913 mit, dass er Jude bleiben wolle. Nachfolgend Auszüge aus dem erwähnten Brief: »Berlin, 31. 10. 1913. Lieber Rudi, ich muß dir mitteilen, was dich bekümmern und, zunächst mindestens, Dir unbegreiflich sein wird: ich bin in langer und, wie ich meine,
Simmel zitiert nach Rammstedt 1994, a. a. O., S. 19. Mayer, Reinhold: Einführung, in: Rosenzweig, Franz: Der Stern der Erlösung, Frankfurt 1988, S. IX. 228 Liebeschütz, Hans: Von Georg Simmel zu Franz Rosenzweig. Studien zum jüdischen Denken im deutschen Kulturbereich, Tübingen 1970, S. 104. 226 227
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Der Historismus als konsequente Folgeerscheinung
gründlicher Überlegung dazu gekommen, meinen Entschluß zurückzunehmen. Er scheint mir nicht mehr notwendig und daher, in meinem Fall, nicht mehr möglich. Ich bleibe also Jude. […] In dem Leipziger Nachtgespräch, wo mich Rosenstock Schritt für Schritt aus den letzten relativistischen Positionen, die ich noch hielt, herausdrängte und mich zu einer unrelativistischen Stellungnahme zwang, war ich ihm deshalb von vorneherein unterlegen, weil ich das Recht dieses Angriffs auch von mir aus bejahen mußte. Hätte ich ihm damals meinen Dualismus Offenbarung und Welt mit einem metaphysischen Dualismus Gott und Teufel unterbauen können, so wäre ich unangreifbar gewesen. Aber daran hinderte mich der erste Satz der Bibel. Dieses Stück gemeinsamen Bodens zwang mich, ihm standzuhalten. Es ist auch weiter in den folgenden Wochen der unverrückte Ausgangspunkt geblieben. Jeder Relativismus der Weltanschauung ist mir nun verboten. […] Es kommt niemand zum Vater – anders aber, wenn einer nicht mehr zum Vater zu kommen braucht, weil er schon bei ihm ist. Und dies ist nun der Fall des Volkes Israel (nicht des einzelnen Juden). Das Volk Israel, erwählt von seinem Vater, blickt starr über Welt und Geschichte hinüber auf jenen letzten fernsten Punkt, wo dieser sein Vater, dieser selbe, der Eine und Einzige – ›Alles in Allem‹ ! – sein wird. An diesem Punkt, wo Christus aufhört der Herr zu sein, hört Israel auf erwählt zu sein; an diesem Tage verliert Gott den Namen, mit dem ihn allein Israel anruft; Gott ist dann nicht mehr ›sein‹ Gott. Bis zu diesem Tage aber ist es Israels Leben, diesen ewigen Tag in Bekenntnis und Handlung vorwegzunehmen, als ein lebendes Vorzeichen dieses Tages dazustehen, ein Volk von Priestern, mit dem Gesetz, durch die eigene Heiligkeit den Namen Gottes zu heiligen. Wie dieses Volk Gottes in der Welt steht, welche äußeren (Verfolgung) und inneren (Erstarrung) Leiden es durch seine Absonderung auf sich nimmt, darüber sind wir wieder einig.« 229
Rosenzweig vermeint im Zuge der Wiederentdeckung des Glaubens seiner Väter nicht nur zu erkennen, dass mit dem »Tode Gottes« auch der Tod aller wahren Werthaftigkeit einhergeht, sondern zudem die Bedeutsamkeit des darauf folgenden Satzes von Nietzsche: »dass wir [die Menschen der Moderne] ihn [Gott] getötet haben«; getötet durch die Absolutsetzung von Raum und Zeit bzw. der forcierten Historisierung der Wirklichkeit. 230
229 Franz Rosenzweig an Rudolf Ehrenberg, 31. 10. 1913, zitiert nach: Franz Rosenzweig: Der Mensch und sein Werk. Gesammelte Schriften I: Briefe und Tagebücher (2 Bände durchpaginiert), hrsg. von Rachel Rosenzweig und Edith RosenzweigScheinmann unter Mitwirkung von Bernhard Casper, Haag 1979, 1. Band 1900–1918; 2. Band 1918–1929, hier 1. Band, S. 132 ff. 230 Vor diesem Hintergrund schlägt er die Offerte von Meinecke zu einer geschichtswissenschaftlichen Karriere aus.
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Vor diesem Hintergrund wird erst eigentlich verständlich, wenn Vonessen in seinem Band Kritik der praktischen Vernunft. Ethik nach dem »Tod Gottes« lapidar bemerkt: »Was Ethik ist, wissen wir nicht. Für den Laien klingt das verwunderlich, beinahe unglaublich, jedoch es ist wahr. Was Ethik ist, kann man nur wissen, wenn man jenen ›festen Standpunkt‹ hat, an den, wie Kant es ausdrückte, alles ›gehängt‹ werden kann, oder wovon es ›gestützt‹ wird. Und der eben fehlt.« 231
Wie sehr dieses Fehlen eines verbindlichen und damit verbindenden »Dritten« lebenspraktische Auswirkungen haben kann, macht der Mediziner Viktor Emil von Gebsattel deutlich, wenn er eine Patientin zu Wort kommen lässt, die offenkundig existenziell daran leidet, dass Dauerndes – im eigentlichen Sinne – fehlt. Wörtlich heißt es da: »Wenn die Schwester E. mir schreibt: Ich komme Sonntag in 8 Tagen um 8 Uhr 9 Min., so kann ich das nicht verstehen. Ich kann nicht verstehen, daß Menschen Pläne machen und einen Sinn mit solchen Zeitangaben verbinden und dabei ganz ruhig bleiben. Ich fühle mich darum allen Menschen entfremdet, so als gehörte ich nicht dazu, als sei ich ganz anders. Wenn die Menschen reden, so kann ich sie nicht verstehen, d. h. mit dem Verstand schon, aber eigentlich verstehe ich doch nicht, daß sie so einfach und ruhig reden und nicht unaufhörlich denken: Jetzt rede ich, das dauert so und so lange, dann tue ich das, dann jenes, und das alles dauert 60 Jahre, dann sterbe ich, dann kommen andere, die leben auch ungefähr so lange, und essen und schlafen wie ich, und dann kommen wieder andere, und so geht es weiter, ohne Sinn, Tausende von Jahren. […] Ich denke oft, daß ich nicht krank bin, sondern, daß ich etwas erkannt habe, was die anderen nicht erkannt haben; daß ich mir nur eine so unglückliche Weltanschauung gebildet habe,
Vonessen: Kritik der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 32. In diesem Sinne bemerkt Benedikt XVI. im Gespräch mit Peter Seewald: »Es ist offenkundig, dass der Begriff der Wahrheit unter Verdacht geraten ist. Natürlich ist richtig, dass er viel missbraucht wurde. Im Namen der Wahrheit kam es zu Intoleranz und Grausamkeit. Insofern fürchtet man sich davor, wenn jemand sagt: Dies ist die Wahrheit, oder gar: ich habe die Wahrheit. Wir haben sie nie, bestenfalls hat sie uns. […] Ein Großteil der heutigen Philosophen besteht tatsächlich darauf, zu sagen, der Mensch sei nicht wahrheitsfähig. Aber so gesehen wäre er auch nicht zum Ethos befähigt. Dann hätte er keine Maßstäbe. Dann müsste man nur noch beachten, wie man sich einigermaßen arrangiert, und dann würde allenfalls die Meinung der Mehrheit zum einzigen Kriterium, das zählt. Wie zerstörerisch Mehrheiten sein können, hat die Geschichte genügend gezeigt, etwa in [ideologischen] Systemen wie Nazismus und Marxismus […].« Benedikt XVI.: Licht der Welt. Der Papst, die Kirche und die Zeichen der Zeit. Ein Gespräch mit Peter Seewald, Freiburg 2010, S. 69 f.
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Die modernen Massenmedien als kulturspezifische Begleiterscheinungen
die die anderen nicht teilen, die aber ganz logisch ist; ich verstehe überhaupt nicht, daß man anders denken kann.« 232
10. Die modernen Massenmedien als kulturspezifische Begleiterscheinungen des »Denkrahmens der Moderne« Dass das Geschichtsmächtigwerden der modernen Massenmedien nun als eine kulturspezifische Begleiterscheinung der Genese der abendländischen Moderne anzusehen ist, macht der Medienwissenschaftler Michael Giesecke – insbesondere in seinem Standardwerk Der Buchdruck in der frühen Neuzeit 233 – deutlich. Dort setzt er sich mit einer der grundlegenden Fragen der Medienwissenschaft auseinander: Warum wurden die modernen Massenmedien ausgerechnet im 15. Jahrhundert und in Europa geschichtsmächtig, – und nicht etwa in China oder Korea, wo eine analoge Drucktechnik schon Jahrhunderte vor Gutenberg »gebrauchsfertig« zur Verfügung stand? Die vorherrschende Meinung der medienwissenschaftlichen scientific community dazu lautet(e): auch in Asien hätte sich die Druckkunst in gleicher Weise wie in Europa durchgesetzt, wäre diese nicht vom soziokulturellen Umfeld daran gehindert worden. Die große Erkenntnis Gieseckes besteht dabei nicht – wie man vielleicht vermuten könnte – darin, die idealen Bedingungen für das Aufkommen des Buchdrucks im vormodernen Europa aufzuzeigen 234, sondern – genau umgekehrt – schlüssig darzulegen, dass das kulturelle Umfeld im frühneuzeitlichen Abendland dafür keinesfalls förderlicher war als in Asien, ja dass »die Buchdruckkultur in Europa mit noch weit größeren Hindernissen zu kämpfen hatte, diese aber in kürzester Zeit bewältigen konnte.« 235 Giesecke machte damit nicht nur deutlich, dass die bislang vorherrschende sozioökonomische Erklärung des Nicht-Geschichtsmächtigwerdens des Buchdrucks in Asien einer kritischen Analyse genauso wenig standhält wie die Ansicht des Zurückführens der Ge232 Gebsattel, Viktor Emil: Prolegomena einer anthropologischen Medizin, Berlin 1954, S. 2. 233 Vgl. Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1992 (inzwischen in 4. Auflage 2006). 234 Vgl. insbesondere Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, a. a. O. 235 Markus, Mark: Bild-Medien und Welt-Bild. Versuch einer geistesgeschichtlichen Kontextualisierung der Bild-Medien, phil. Diss., Salzburg 2006, S. 139.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
schichtsmächtigkeit des Buchdrucks in Europa auf passende sozioökonomische Bedingungen. Er öffnete damit – wie Markus schreibt – »den Raum für die Vermutung, die Geschichtsmächtigkeit des Buchdrucks sei in China und Korea vielleicht gar nicht ausgeblieben, sondern wäre auch unter idealsten sozioökonomischen Bedingungen nicht [nie] eingetreten«. 236 Eine Einsicht, die mit kaum auslotbaren Konsequenzen verbunden ist. Damit war es einerseits nicht länger möglich, einfach davon auszugehen, eine Buchdruckkultur etabliere sich überall dort, wo eine Gesellschaft auf einer bestimmten »Höhe der Entwicklung« angelangt sei. Gleichzeitig stand bzw. steht damit völlig neu in Frage, wie es zur Geschichtsmächtigkeit des Buchdrucks (und in weiterer, indirekter Folge auch der modernen Naturwissenschaft) im Europa der frühen Neuzeit kommen konnte. Dass das Medium Schrift in vormodernen Kulturen eine – im Verhältnis zum aktuell gesprochenen Wort – nachrangige Bedeutung innehatte, gilt als common sense in der Buchdruck- bzw. Schriftforschung. Doch aufgezeigt zu haben, warum dies so war, warum die europäische Vormoderne keine versteckte schriftliche Kultur darstellt, kann als weitere gravierende Einsicht Gieseckes angesehen werden, die ihm dadurch gelang, dass er das Phänomen Schrift nicht aus der uns vertrauten Warte der Moderne, sondern vor dem Hintergrund der Vormoderne betrachtete. Der wesentliche Unterschied: Die vormoderne abendländische Kultur des Christentums stellt eine Offenbarungs-Kultur dar (vgl. Kap. III/5–7), während die abendländische Neuzeit im wesentlichen als eine Nicht-Offenbarungskultur anzusehen ist. Offenbarungskultur 237 meint – wie oben erwähnt – die kulturprägende Ansicht, dass sich einerseits das Sein selbst den Menschen offenbart hat bzw. weiter offenbart, etwa mittels der als göttliche Schöpfung betrachteten Erscheinungswirklichkeit. Nicht-Offenbarungskultur steht im Gegensatz dazu für die Ansicht, dass in der betreffenden Gesellschaft die raumzeitliche Erscheinungswirklichkeit mit dem Sein selbst gleichsetzt wird, also keine – wie immer geartete – Form von transzenden-
Markus ebd., S. 139. In diesem Sinne schreibt Giesecke (Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, a. a. O., S. 577): »Die christlich-mittelalterliche Erkenntnis ist im Prinzip eine Offenbarungsoder Verkündigungslehre. Ohne die Berücksichtigung des Verkünders, Gottes nämlich, als Kommunikator läßt sie sich nur unvollkommen verstehen.« 236 237
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Die modernen Massenmedien als kulturspezifische Begleiterscheinungen
ter Offenbarung angenommen wird. Nachfolgende Graphik 238 soll diese prinzipielle Differenz veranschaulichen.
Zeit- / Raummächtigkeit
Raumzeitlichkeit
Offenbarungskulturen Sein We r d e n / Ve r g e h e n
Offenbarung
Religion
Säkuläre Nicht-Offb.-Kulturen
Abb. 15: Offenbarungskulturen vs. Nichtoffenbarungskulturen
Indem Giesecke aufzeigt, dass göttliche Offenbarung bzw. die geschöpfliche Offenbarungsstruktur der Erscheinungswelt sowohl menschliche Rede als auch Schrift prinzipiell übersteigt 239, entdeckt er den »Verständnisschlüssel« für das mittelalterliche Informations-, Kommunikations- und Erkenntnisverständnis. Auch (noch) bei Martin Luther bedeutet sein Sola-ScripturaPrinzip nicht, Erkenntnis ließe sich allein aus der (Heiligen) Schrift gewinnen, ohne offenbarenden Beistand göttlichen Geistes. 240 Auf Siehe dazu Hamberger: Kommunikation in postsäkularer Kultur, a. a. O., S. 150. Der Theologe Ratzinger schreibt dazu: »Offenbarung besagt […] das gesamte Sprechen und Tun Gottes an den Menschen, sie besagt Wirklichkeit, von der die Schrift Kunde gibt, die aber die Schrift nicht einfach selber ist. Die Offenbarung überschreitet daher die Schrift im selben Maß, in dem die Wirklichkeit die Kunde von ihr überschreitet. […] Als Wirklichkeit, die sich auf den Menschen hin im Glauben zuträgt, reicht sie […] über das vermittelnde Faktum der Schrift hinaus.« Ratzinger, Joseph: Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs, in: Rahner, Karl; Ratzinger, Joseph: Offenbarung und Überlieferung, Freiburg 1965, S. 25–69, hier S. 34 f. 240 Flachmann führt dazu aus: »Sowohl das mündliche und das gehörte als auch das geschriebene und gelesene Wort bleiben [bei Luther] Buchstabe, wenn ihnen nicht 238 239
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
diesen zentralen Umstand verweist Ratzinger, wenn er zu bedenken gibt: »Er [der Leser] kann die [Heilige] Schrift lesen und wissen, was in ihr steht, sogar rein gedanklich begreifen, was gemeint ist und wie ihre Aussagen zusammenhängen – dennoch ist er nicht der Offenbarung teilhaftig geworden. Offenbarung ist vielmehr erst da angekommen, wo außer den sie bezeugenden materialen Aussagen auch ihre innere Wirklichkeit selbst in der Weise des Glaubens wirksam geworden ist. Insofern gehört in die Offenbarung bis zu einem gewissen Grad auch das empfangende Subjekt, ohne das sie nicht existiert. Man kann Offenbarung nicht in die Tasche stecken, wie man ein Buch mit sich tragen kann. Sie ist eine lebendige Wirklichkeit, die den lebendigen Menschen als Ort ihrer Anwesenheit verlangt.« 241
Gieseckes weitere Argumentation lautet nach Markus nun wie folgt: »Wenn der Schrift aufgrund des skizzierten Erkenntnis- und Informationsverständnisses im Mittelalter nur eine periphere Rolle zukam, musste ihre Aufwertung in der Neuzeit mit einer grundlegenden Umgestaltung dieses Verständnisses einhergehen«. 242 Genauer: mit einer fundamentalen Vereinfachung der Informations- und Erkenntnisweise gegenüber der vormodern-traditionellen. Markus macht die damit verbundene Herausforderung präzise deutlich, wenn er schreibt: »Es geht [im Kontext der Durchsetzung moderner Massenmedien] nicht nur um die massenhafte Vervielfältigung und Verbreitung der schriftlichen Informationsmittel, sondern auch um die massenhafte Verstehbarkeit und Nachvollziehbarkeit (und in weiterer Folge Nützlichkeit) der darin gespei-
Gott selbst durch seinen Heiligen Geist Leben schenkt, das heißt die gläubige Annahme im Herzen, Gewissen oder Gehör gewährt. […] Entscheidend ist, daß das äußere Wort, welches entweder akustisch gehört oder gelesen werden kann, zum lebendigen inneren Wort wird.« (Flachmann, Holger: Martin Luther und das Buch. Eine historische Studie zur Bedeutung des Buches im Handeln und Denken des Reformators, Tübingen 1996, S. 269). 241 Ratzinger: Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs, a. a. O., S. 35. In diesem Sinne lesen wir auch bei Markus: »Weil die Offenbarung immer in Form der (sich von ihr emanzipierenden) Schrift zu erstarren drohte, wurde stets, auch von den höchsten Autoritäten, die unzureichende Rolle der Schrift bei Vermittlung der informativen Fülle (Offenbarung) akzentuiert.« (Markus: Bild-Medien und Welt-Bild, a. a. O., S. 146) Im Unterschied dazu ist für die gängige moderne Betrachtungsweise die Vormoderne nur insofern Offenbarungskultur, als Offenbarung mit schriftlich fixierter/ tradierter Offenbarung gleichgesetzt wird. 242 Markus: Bild-Medien und Welt-Bild, a. a. O., S. 148.
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Die modernen Massenmedien als kulturspezifische Begleiterscheinungen
cherten Informationen – ein Aspekt, der bei Giesecke nicht vorausgesetzt werden darf.« 243
Durch Gieseckes Arbeiten wissen wir, dass die damit verbundenen Voraussetzungen ein Spezifikum der europäischen Neuzeit darstellen. Warum? Weil er zeigen konnte, dass das vormoderne »Erkenntnis- und Informationsverständnis die wiederholbare oder [massenhafte] intersubjektive Information nicht nur erschwert, sondern geradezu ausschließt.« 244 Mit anderen Worten: Zur Etablierung der Buchkultur war es nötig, die bislang gebräuchliche Vorstellung eines – was die Erkenntnis anbelangt – zweidimensionalen Sinnesorganmodells 245 (innere und äußere Sinne, wobei die inneren Sinne die eigentlichen Erkenntnisorgane darstellen) auf die äußeren Sinne zu reduzieren. »Wenn der Prozeß der Informationsgewinnung der Autoren reversibel, für die Käufer der gedruckten Bücher wiederholbar sein soll, dann muß man nach einem anderen, einfacheren [Erkenntnis-]Modell vorgehen. Eine solche Vereinfachung nahmen die Autoren der Fachprosa in der frühen Neuzeit vor. Sie sahen von den inneren Sinnesorganen ab und schufen ein eindimensionales Bild des Menschen als informationsverarbeitendem System. In diesem war kein Raum mehr für einen allmächtigen Kommunikator [für Markus, ebd, S. 149. Markus, ebd., S. 151. Giesecke bemerkt dazu: »Das mittelalterliche christliche Kommunikations- und Informationsmodell eignete sich, so läßt sich zusammenfassen, nicht zur Befriedigung der Ansprüche der [neuzeitlichen] Autoren und Leser […]. Die ›Offenbarung‹ ließ sich nicht operationalisieren. Das innere Auge folgt einem äußeren Zwang, seine Arbeit und damit auch die durch diese geschaffenen Informationen blieben außerhalb der Kontrolle [Wiederholbarkeit] der Erkenntnissubjekte.« (Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, a. a. O., S. 587) 245 Markus führt dazu aus: »Wesentlich sind [im Kontext der menschlichen Erkenntnisvorgänge in der Vormoderne] zwei unterschiedliche Klassen von Erkenntnissensoren, mit denen der Mensch ausgestattet [gedacht] war: Einerseits fünf äußere Sinne für die Aufnahme der materiellen Welt, andererseits das innere Auge für die Aufnahme der Offenbarung Gottes. Die Gesamtheit der Erkenntnisse aus beiden Erkenntnissensoren bestimmt das Handeln des Menschen, der so in seiner Tätigkeit die Immanenz und Transzendenz miteinander vereinigt.« (Markus: Bild-Medien und Welt-Bild, a. a. O., S. 152) Giesecke bemerkt ganz ähnlich: »Um die Probleme zu verstehen, die von den Menschen in der frühen Neuzeit zu überwinden waren, um das typographische System mit nützlicher Software zu versorgen, reicht es aus, sich klarzumachen, daß für dieses mittelalterliche Kommunikations- und Erkenntnismodell zwei völlig unterschiedliche Klassen von Sensoren und Informationen […] konstitutiv sind. […] Das Erkenntnismodell ist zweidimensional und unerhört komplex angelegt, es besitzt eben nicht nur verschiedene Sensoren, sondern verschiedene Typen von Sensoren.« (Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, a. a. O., S. 582 f.) 243 244
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Offenbarung]. Statt dessen postulierte man die Gleichheit aller Phänomene der Umwelt und erklärte alle Informationen, die nicht mit den äußeren Sinnen aufgenommen werden konnten, als nicht relevant für die Fachprosa.« 246
In der Neuzeit wird demzufolge das bisensorische Erkenntnisverständnis radikal reduziert: allein auf die äußeren Sinne. »Und auch das ›dritte Ohr‹,« schreibt Giesecke, »welches die psychoanalytische Erkenntnislehre nutzt, hört nur in sich hinein, es ist ein Sensor innerhalb des psychischen Apparates ohne Kontakt zu den Erscheinungen der Außenwelt.« 247 Kurz: Der skizzierte Vorgang der Reduzierung des zwei- auf ein eindimensionales Erkenntnismodell – unter weitgehender erkenntnistheoretischer Ausblendung der Dimension der Offenbarung 248 – kann als die entscheidende Voraussetzung für die Etablierung moderner Massenkommunikation angesehen werden. Oder wie Giesecke erhellend formuliert: »Das Grundproblem der Autoren in der frühen Neuzeit, dessen Lösung überhaupt erst den Weg für einen multifunktionalen Einsatz der typographischen Informationsmedien freimachte, war […] nicht die Verschriftung von zuvor sprachlich gespeicherten Informationen und natürlich erst recht nicht die bloße Transformation von Manuskripten in eine Druckfassung, sondern die Operationalisierung der Wahrnehmung.« 249
Findet sich in den Offenbarungskulturen eine Dreiheit von zentralen Erkenntnisvermittlungselementen: die überlieferte Lehre (»ES«), die (jeweilige) Gemeinschaft (»WIR«) und der persönliche geistige MeisGiesecke: ebd., S. 587. Giesecke: ebd., S. 583. Bis heute werden »innere Stimmen« weitgehend als »interne psychophysische Prozesse« interpretiert, ohne eine andere Möglichkeit auch nur in Erwägung zu ziehen. 248 Durch die Marginalisierung der Dimension der Offenbarung »ließ sich [unter Nichtbeachtung der einzelnen Person] eine intersubjektive Information herstellen, die bei jedermann gleiche Erkenntnisvorgänge reproduzieren konnte und erst so die Herausbildung des typographischen Informationssystems ermöglichte.« (Markus: Bild-Medien und Welt-Bild, a. a. O., S. 153) In Kap. IV/2c soll gezeigt werden, wie Franz Rosenzweig gerade in der Dimension der – zwischen Ich und Du geschehenden – Offenbarung einen Ausweg aus der Erkenntniskrise der historistischen bzw. relativistischen Moderne sieht. 249 Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, a. a. O., S. 562 f. Vgl. dazu auch die Arbeiten von Ludwik Fleck, etwa: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Frankfurt 1980; Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse, Frankfurt 2011. 246 247
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Die modernen Massenmedien als kulturspezifische Begleiterscheinungen
ter (»DU«) 250; dem entsprechend als Erkenntnisvermittlungsstrukturen sowohl one-to-many (die eine Lehre, die es an viele zu übermitteln gilt) als auch one-to-one (die persönliche Übermittlung von Lehrer zu Schüler 251), so stellt sich Erkenntnisvermittlung in der NichtOffenbarungskultur der abendländischen Moderne völlig anders dar: Hier wird keine überlieferte Offenbarungserkenntnis tradiert, sondern einzig (ständig wachsendes) »gesichertes Wissen« bzw. damit verbundenes Know-how (»ES«) als zu tradierende »objektive« Erkenntnis. Dieses allgemeine gesicherte Wissen (gewonnen aus dem Wechselspiel zwischen Theorie und Experiment bzw. zwischen Theorie und Empirie) wird an viele übermittelt bzw. öffentlich zugänglich gemacht. Daher bildet die primäre und einzige Vermittlungsstruktur hier das einwegige bzw. monologische one-to-many! 252 Graphisch dargestellt: ONE
to MANY
Abb. 16: One-to-many
Es steht außer Frage, dass mit dem geschilderten Prozess sich nicht nur ein Kulturwandel vollzog, sondern jener in Kap. III/5 skizzierte Überlieferungsbruch einherging, der bei vielen mit gravierenden Orientierungschwierigkeiten verbunden war. Dies nicht zuletzt bedingt durch den Umstand, dass sich dieses Geschehen in rascher Folge ereignete und die gesamte europäische Kultur ergriff. In Kap. II/2 haben wir – mit Rückriem – zwischen Kommunikations-Mittel (als austauschbare Zweckverwirklichungsinstrumente) und Kommunikations-Medium (als unentbehrliche Ermöglichungsbedingung) unterschieden. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung lässt sich feststellen, dass jede Kultur von spezifischen LeitMedien gekennzeichnet ist, die das betreffende Erkenntnis- und Vgl. dazu: Sudbrack, Josef: Geistliche Führung. Die Frage nach dem Meister, dem geistlichen Begleiter und Gottes Geist, Freiburg/Br. 1981. 251 Dabei »erkennt« der Schüler den Lehrer, der insofern nicht als beliebig austauschbar gilt. 252 One meint hier das vom Menschen produzierte gesicherte (wissenschaftliche) Wissen, verbunden mit der Ansicht, dass dieses (durch experimentelle Verifizierung gesicherte) Wissen das traditionelle religiöse Heils-Wissen völlig zu ersetzen imstande ist. 250
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Kommunikations-Milieu prägen. Diese präparieren gleichsam den »kulturmedialen Raum« der Welt-Anschauung bzw. Welt-Aneigung in bestimmter Weise vor – basierend auf spezifischen Prämierungen von Mitteln der Erkenntnis und Kommunikation. Neben Harold Innies 253 und Marshall McLuhan 254 – die diesen Zusammenhang wohl als erste medientheoretisch erkannt haben – sowie Michael Giesecke und Norbert Bolz 255 im deutschsprachigen Raum sind hier auch Derrick de Kerckhove 256 oder Neil Postman 257 zu nennen, die Medien als »Weltanschauungsapparate« (de Kerckhove) bzw. »Epistemologien« (Postman) bezeichnen. In diesem Sinne ist die Überlegung Gieseckes konsequent, Kulturgeschichte als Mediengeschichte zu begreifen. 258 Dabei werden Kommunikations-Mittel erst in dem Maße zu (kulturbestimmenden) Medien, als die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten erfasst und gesellschaftsbestimmend werden. So gesehen lassen sich neue Kommunikations- und Erkenntnis-Medien auch nicht auf direktem Wege machen, sondern sind vielmehr als indirekte Manifestationen von kulturellen Überlieferungsbrüchen aufzufassen. Die Bedeutung eines neuen Leit-Mediums wird deshalb in der Regel auch nicht sofort er-
253 Harold Adam Innies (1894–1952), kanadischer Professor für Ökonomische Theorie in Toronto und Verfasser zahlreicher Werke in den Bereichen Medien- und Kommunikationstheorie, darunter: Empire and Communication, Oxford 1950; The Bias of Communication, Toronto 1951; The Strategy of Culture, Toronto 1952; Chanching Concepts of Time, Toronto 1952. 254 Herbert Marshall McLuhan (1911–1980), kanadischer Geisteswissenschaftler und Kommunikationstheoretiker, der insbesondere durch seine These Das Medium ist die Botschaft sowie den Begriff Globales Dorf weithin bekannt geworden ist. Zu seinen bekanntesten Werken – die aktuell eine Renaissance erleben – zählen: The GutenbergGalaxy, Toronto 1962 (dt. Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters); Understanding Media. The Extensions of Man, New York 1964 (dt. Die magischen Kanäle); The Media is the Message [manchmal auch Massage – im Sinne von mass age – geschrieben], New York – London – Toronto 1967 (dt. Das Medium ist die Botschaft). 255 Vgl. Bolz, Norbert: Theorie der neuen Medien, München 1993; Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, 3. Aufl., München 2008. 256 Vgl. De Kerckhove, Derrick; Leeker, Martina; Schmidt, Kerstin (Hrsg.): Mc Luhan neu lesen. Kritische Analysen zu Medien und Kultur im 21. Jahrhundert, Bielefeld 2008. 257 Vgl. Postman, Neil: Technopoly. The Surrender of Culture to Technology, New York 1992. 258 Dadurch wäre es z. B. möglich, die aktuell viel thematisierten »Social Media« sowie die weltweit wachsende virtuelle »Online-Kultur« als epochenbestimmendes Leit-Medium zu betrachten.
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fasst, sondern erst in dem Maße, als die damit verbundene grundlegende Perspektivenveränderung nachvollzogen wird. 259
KommunikationsMedium
Kommunikations-Mittel Sprache Subjekt 1
Subjekt 2 Sprache
Kulturelles Leit-Medium
Abb. 17: Kulturelles Leit-Medium
Damit stellt sich die Frage: Worin ist der eigentliche Motor des dynamischen medialen Wandels mit Beginn der Neuzeit zu erblicken? Doch gerade dazu äußert sich Giesecke kaum, und wenn – dann missverständlich. Markus schreibt gar: »Giesecke schweigt zu dieser entscheidenden Frage, die sich von selbst aufdrängt, ja gewissermaßen vor der Tür liegt, und begnügt sich mit der Feststellung und (wiederum) einmaliger Beschreibung des Bedarfs. Die Begründung bleibt interessanterweise aus.« 260 Aber Giesecke ist – in Bezug auf diese Frage – in guter Gesellschaft. 261 So wollen wir uns diesem Zusammenhang nun noch aus einer anderen Warte zuwenden; konkret: dem fundamentalen Verständniswandel des Theorie-Begriffs von seiner ursprünglich-antiken zu seiner im Zuge der abendländischen Moderne gebräuchlichen Bedeutung. 259 Demnach hat Gutenberg selbst kein »neues Kommunikations-Medium« erfinden wollen, sondern lediglich ein besseres Kommunikations-Mittel zur Verwirklichung seiner Vorstellung einer besonders repräsentativen Bibel. Zum kulturellen Leit-Medium wurde der Buchdruck erst, als seine Bedeutung für die Veränderung aller Bereiche der menschlichen Praxis erkannt und schließlich umfassend realisiert wurde. Dies geschah insbesondere im Kontext der Genese der modernen Naturwissenschaftlichkeit. 260 Markus: Bild-Medien und Welt-Bild, a. a. O., S. 157. 261 Vgl. dazu etwa Berglar: Fortschritt zum Ursprung, a. a. O., S. 44.
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Das Wort Theorie leitet sich bekanntlich her vom Griechischen theoria. Dies sei deshalb extra erwähnt, weil die griechisch-antike Kultur ein völlig anderes Wirklichkeitsverständnis hatte als die abendländisch-christliche Tradition oder unsere von Aufklärung und (Post-)Moderne geprägte Gegenwartskultur. Diesen Umstand bedenkend, können wir womöglich leichter nachvollziehen, wie sehr der Begriff seine Bedeutung inzwischen verändert und das uns heute geläufige Verständnis erlangt hat. Dazu gilt es zunächst zu fragen: Was meinte der Terminus ursprünglich in seinem antiken Umfeld? Hannelore Rausch macht deutlich, dass sich in den gängigen griechischen Lexika für das Wort Theoria – in seiner vorphilosophischen Bedeutung – zwei Übersetzungsmöglichkeiten finden: »Erstens bezeichnet das Wort ganz allgemein ein Anschauen oder Zuschauen. Als solches wird es in Verbindung gebracht mit dem Phänomen des Festes und heißt dann: Festschau, Schaufest, Schauspiel. Daran schließt sich die Wortbedeutung Festgesandtschaft, Festzug, an. Zweitens wird das Anschauen ausdrücklich mit dem Phänomen des Geistes verbunden und bedeutet dann geistiges Anschauen, Betrachten.« 262
Ohne auf die einzelnen Bedeutungslinien näher einzugehen, können wir festhalten, dass sich als Hintergrund, auf den sich die Begrifflichkeit theoria ursprünglich bezieht, das Sakrale darstellt, in Zusammenhang mit dem Phänomen des Festes. Im sakralen Bereich des Festes, eingebunden in Kult und Spiel, zeigt sich an einem heiligen Ort zu heiliger Zeit das Göttliche, kommt es zur Möglichkeit der Schau des Göttlichen. Dessen Erscheinen (Epiphanie) wird dabei als reines Geschenk verstanden, also in keiner Weise vom Menschen herstellbar. Die Festgesandten, die theoroi, kommen zum Fest, um das Orakel zu befragen, um die Meinung des Gottes zu erfahren. Theoria meint die Schau, das Wahrnehmen dieses göttlichen Willens. Vor diesem Hintergrund werden auch damit verbundene Begriffe wie theos (göttlich) bzw. theatrum deutlich. Allmählich erhält der Begriff theoria (auch) die Bedeutung tradierbarer Erkenntnis, im Sinne von Erfahrung, Erkenntnis, die man auf Reisen 263 gewinnt. Platon ist es schließlich, der einerseits an diese 262 Rausch, Hannelore: Theoria. Von ihrer sakralen zu ihrer philosophischen Bedeutung, München 1982, S. 8. 263 Das Reisemotiv war dadurch gegeben, dass die Schau an heiligen Orten im Regelfall mit Reisen verbunden war.
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erweiterte Bedeutung anknüpft, sie jedoch vom Reisemotiv löst in Richtung auf das (ortsunabhängige) Erkennen des Göttlichen. Theoria wird damit – als permanente Möglichkeit und zugleich Aufgabe – sozusagen in den Menschen transferiert. Doch wie hat man sich diese »Innenschau« vorzustellen? Nach Platonischer Ansicht entzieht sich das – allem gestalthaften Werdenden und Vergehenden zugrunde liegende unvergängliche – Sein der direkten sinnlichen Anschauung; es wird bestimmt als farblos, gestaltlos, unberührbar, und insofern unbeschreiblich, unsagbar. »Dennoch« – so Rausch – »ist es [das Sein] beschaubar (theate), aber nicht für ein sinnliches Auge, sondern für die Einsicht (nous), den Führer der Seele.« 264 Anders ausgedrückt: In der Schau (theoria) erfasst die Seele »das Eine, Ursprüngliche, das sich jenseits des Werdens und der Geschichtlichkeit in ewiger Gegenwart darbietet.« 265 Diese beschaubare Einsicht mit Hilfe innerer/geistiger Sinne (vgl. Kap. III/6) lasse sich – so die Vorstellung – mit Hilfe der Analogie, der sprachlich-bildhaften Entsprechung, in den Bereich der äußeren Sinne bzw. in die menschliche Sprache übertragen. Auf diesem (Erkenntnis-)Weg ist der Mensch – nach platonisch-antikem Verständnis – imstande, das Viele, die vielfältigen Sinneseindrücke zu verarbeiten bzw. zu ordnen. Graphisch lässt sich dieses antike Theorieverständnis wie folgt darstellen: SEIN THEORIA
ERSCHEINUNGSWIRKLICHKEIT (WERDEN/VERGEHEN) Abb. 18: Antikes Theoriverständnis
Dabei gilt es mitzudenken, dass – nach Ansicht der Antike – Wirklichkeit von vornherein, d. h. ohne menschliches Zutun, als verstehbar gilt, anders ausgedrückt: als logoshaft. Alles, was dem Menschen entgegentritt bzw. besser: begegnet, ist ein legomenon, ein – aufgrund seiner Logoshaftigkeit – lesbares Bruchstück eines vorgegebenen sinnvollen Zusammenhangs. 264 265
Rausch: Theoria, a. a. O., S. 57. Rausch: Theoria. a. a. O., S. 59.
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Dieses antike Theorieverständnis wird in weiterer Folge in der christlich-abendländischen Geistestradition schließlich adaptiert und der unterschiedlichen Gottesvorstellung angepasst. Doch in der Grundstruktur bleibt es wirkmächtig bis über das Mittelalter hinaus. Erst mit der Neuzeit, genauer: mit der Entwicklung der modernen Naturwissenschaften beginnt es sich grundlegend zu verändern. Nicht mehr die Schau eines vorgegebenen sinnvollen göttlichen Seins-Grundes bzw. einer verstehbaren/lesbaren Wirklichkeit wird jetzt darunter verstanden, sondern die menschliche (Gedanken-)Konstruktion einer nun sinnfrei vorgestellten Erscheinungswirklichkeit. Theorie stellt damit – als abstrakte Gedankenkonstruktion – keine in sich sinnvolle Handlung mehr dar, sondern hat zunehmend rein funktional-zweckhaften Charakter, insbesondere im Zusammenhang des Wechselspiels mit dem Experiment zur Erkenntnisgewinnung von notwendigen (physikalisch-chemischen) Ablaufsfolgen. Anders ausgedrückt: Der Begriff Theorie steht in der abendländischen Moderne zunehmend für ein vom Menschen konstruiertes Modell, das sich mit Hilfe des Experiments bestätigen oder falsifizieren lässt. Diesen Umstand hat der Physiker unter uns an anderer Stelle wie folgt beschrieben: »Es ist […] ein geradezu beschreibendes Merkmal der Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert, dass ihr Theoriebegriff nicht ohne den Bezug auf das Experiment verstanden werden kann«. 266 Dies lässt sich graphisch folgendermaßen veranschaulichen: ERSCHEINUNGSWIRKLICHKEIT (WERDEN und VERGEHEN)
(theoretisches) MODELL Abb. 19: Theorieverständnis der abendländischen Moderne
Doch mit diesem neuzeitlichen Theorieverständnis taucht zugleich ein neues Rätsel auf: »Wenn die Theorie [wie in der Moderne] als Modellbildung verstanden wird und durch das Experiment bestätigt werden soll, dann erhebt sich die Frage, was sie eigentlich beschreibt. Denn sie kann weder als bloße Be-
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Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft. a. a. O., S. 21.
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schreibung der experimentellen Ergebnisse noch als Abbildung einer irgendwie gegebenen (oder vorhandenen) ›Realität‹ aufgefasst werden.« 267
Dazu sei zunächst Carl Friedrich von Weizsäcker zustimmend zitiert: »Das späte Mittelalter war in keiner Weise ein dunkles Zeitalter; es war eine Zeit hoher Kultur, von gedanklicher Energie sprühend. Jene Zeit übernahm die Philosophie des Aristoteles, weil er sich mehr als irgendein Anderer der sinnlichen Wirklichkeit annahm. Aber die Hauptschwäche des Aristoteles war, dass er zu empirisch war. Deshalb brachte er es nicht zu einer mathematischen Theorie der Natur. Galilei tat seinen großen Schritt, indem er wagte, die Welt so zu beschreiben, wie wir sie nicht erfahren. Er stellte Gesetze auf, die in der Form, in der er sie aussprach, niemals in der wirklichen Erfahrung gelten und die darum niemals durch irgendeine einzelne Beobachtung bestätigt werden können, die aber dafür mathematisch einfach sind […]. Das wissenschaftliche Experiment unterscheidet sich von der Alltagserfahrung dadurch, dass es von einer mathematischen Theorie geleitet ist, die eine Frage stellt und fähig ist, die Antwort zu deuten. So verwandelt sich gegebene ›Natur‹ in eine manipulierbare ›Realität‹.« 268
In Übereinstimmung mit Wolfgang Pauli (siehe Kap. V/3b) sprechen wir lieber von »Wirklichkeit« und lassen den Begriff »Realität« für Weizsäckers »gegebene ›Natur‹«; (Realität ist nicht zugänglich, analog dem »Ding an sich« von Kant.) Naturwissenschaftliche Theorien sind keine »Beschreibung der Realität«, vielmehr konstruieren sie eine Wirklichkeit, die mathematisch einfach beschrieben werden kann und daher durch Experimente falsifizierbar (niemals verifizierbar!) ist. Diese (konstruierte) Wirklichkeit kann nicht als »Weltbild« bezeichnet werden, weil sie schon in ihren einzelnen, so genannten »Naturgesetzen«, keinen Anspruch erhebt, die Natur darzustellen, und weil sie explizit reduktionistisch ist, also die Frage nach allem Immateriellen gar nicht zulässt. Platon hat das schon deutlich gemacht, als von moderner Naturwissenschaft noch keine Rede sein konnte (siehe dazu nochmals das Platon-Zitat am Anfang von III/8). Die von der Naturwissenschaft gezeichnete Wirklichkeit unterliegt
267 Pietschmann: ebd., S. 21 f. In ähnlicher Weise lässt sich fragen, was Kommunikations-Theorien eigentlich beschreiben, die als Modellbildung verstanden werden und empirischer Bestätigung bedürfen. Denn auch diese können in diesem Fall weder als bloße Beschreibung der ermittelten empirischen Resultate noch als Abbildung einer irgendwie vorgegebenen »Realität« verstanden werden. 268 Weizsäcker: Die Tragweite der Wissenschaft, a. a. O., S. 107 f.
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immer wieder inhaltlichen Änderungen, ja Umstürzen, wenn es zu einem Paradigmenwechsel kommt (wie z. B. beim Übergang der klassischen Physik zur modernen Physik mit Quantenmechanik und Relativitätstheorie). Daher können wir folgende, (vorläufige) Schlussfolgerung ziehen: »Es gibt keine gesicherte Beschreibung der Natur; insofern Naturgesetze als Aussagen über die Natur aufgefasst werden, sind sie nicht sicher, sondern Teil der vom Menschen konstruierten Wirklichkeit. Aber es gibt ›invariante Aussagen‹ über das Ergebnis von Handlungsketten! ›Invariant‹ bezieht sich dabei auf Paradigmenwechsel, das heißt die Voraussage über den Ausgang solcher Handlungsketten bleibt bei inhaltlichen Änderungen der theoretischen Beschreibung gleich! Diese Voraussage betrifft dabei lediglich den reproduzierbar-quantitativen Teil der Lebenswelt, also das, was wir naturwissenschaftliche Wirklichkeit genannt haben.« 269
11. Die Genese der Kommunikationswissenschaft (bzw. deren Vorläufer) aus dem Geiste des »Denkrahmens der Moderne« Die Entstehungsgeschichte der Kommunikationswissenschaft ist im Kontext der Genese der modernen Wissenschaftlichkeit zu lesen; das heißt wiederum: vor dem Hintergrund des Wirklichkeitsverständnisses der Moderne. Robert Spaemann stellt diesbezüglich zwei Schlüsselzitate der Weltanschauung der Moderne heraus. Da ist zum einen der (kommunikationstheoretische) Satz von David Hume (1711– 1776): »We never advance one step beyond ourselves.« 270
Wir Menschen seien nicht in der Lage, einen (kommunikativen) Schritt über uns selbst hinaus – zum anderen – zu vollziehen. Mit dem Wir deutet Hume an, dass er diese Ansicht nicht nur als seine private Meinung verstanden haben will. Spaemann legt diesen Satz als Hintergrundfolie seinen beiden Bänden Gesammelte Reden und Aufsätze, die nicht zufällig den ge-
269 Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., Kap. 9.3.4, S. 278 ff. 270 Hume, David; zitiert nach Spaemann, Robert: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze, Bd. II, Stuttgart 2011, S. 9.
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meinsamen Titel Schritte über uns hinaus 271 tragen, deshalb zugrunde, um »darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Satz [Humes] den Mainstream des modernen Bewusstseins kennzeichnet.« 272 Dieser Satz ist zwar widersprüchlich – wie Spaemann gleich dazu sagt –, »denn wenn er wahr wäre, könnten wir ihn nicht aussprechen und von seiner Wahrheit nicht wissen. Aber er ist suggestiv.« 273 Vor allem: Er korrespondiert treffend mit einem anderen, dem erkenntnistheoretischen Grund-Satz von Thomas Hobbes (1588–1679), der ebenfalls in der Neuzeit geschichtsmächtig werden sollte: Eine Sache erkennen heiße: »to know what we can do with it when we have it«. 274
Warum eignet sich die Erkenntnis-Maxime von Hobbes so treffend als Ergänzung der Kommunikations-Maxime von Hume? Weil auch im Falle, dass der oder das Andere in seiner Andersheit für mich nicht erkennbar sind, diese mir trotzdem die Fähigkeit vermitteln, zu wissen, inwiefern mir dasjenige, das ich im Grunde nicht erkennen kann, für mich zu benützen lerne. Erkenntnis wird so strukturell reduziert zum Know-how, zum Gewusst-Wie, zum »Wissen ist Macht« (und sonst nichts) des Francis Bacon. 275 Der Kommunikationswissenschaftler Manfred Rühl macht im Kapitel Neue Wissenschaft – neue Kommunikation – neue Gesellschaft: Francis Bacon seines Bandes Publizieren. Eine Sinngeschichte der öffentlichen Kommunikation deutlich, wie sich mit dem Erkenntnisverständnis auch das Kommunikationsverständnis gravierend wandelt; wörtlich heißt es da: »Francis Bacon (1561–1626) attackiert das Kommunikationsverständnis der klassischen Rhetorik – [Seine] Empirisierung der Wissenschaft […] hat erstaunliche gesellschaftliche Veränderungen zur Folge. Der Aufbruch aus dem feudalagrarischen Europa in die kapitalistisch-industrielle Weltord271 Spaemann, Robert: Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I und II, Stuttgart 2010/2011. 272 Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 9. Im ersten Band schreibt Spaemann dazu erläuternd: »Dass wir niemals einen Schritt über uns hinaus tun, diesen Satz David Humes finde ich bei Durchsicht meiner Texte aus den letzten Jahren immer wieder zitiert. Er scheint mir als ein Schlüssel zur modernen Weltanschauung.« (Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. I, a. a. O., S. 7) 273 Spaemann: ebd., S. 7. 274 Vgl. Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 9. 275 Diese bekannte Formel findet sich im Aphorismus I seines Hauptwerks Neues Organon (1620), sinngemäß auch schon in seinen Essays (1597).
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nung ist eng mit Bacons semantisch-sozialem Umbau von Kommunikation und Wissenschaft verbunden. Insofern bilden Denken und Werk Francis Bacons für eine Sinngeschichte des Publizierens besondere Dreh- und Angelpunkte.« 276
Ähnlich wie Descartes entwickelt auch Bacon seine Erkenntniskonzeption als Reaktion auf die erstarrte und sich widersprechende Buchgelehrsamkeit Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts. Um künftigen Herausforderungen gewachsen zu sein, sei es notwendig, die Natur (besser) zu beherrschen. Der Mensch könne die Natur jedoch nur dann besser beherrschen, wenn er sie besser kenne. Wie ist eine solche bessere Kenntnis der Natur möglich? Zunächst gelte es dazu, auf die Natur zu horchen, ja ihr zu gehorchen. Dazu wiederum sei es unabdingbar, sich verschiedener (intellektueller bzw. traditioneller) Vorurteile zu entledigen. Durch eingehende Naturbeobachtung und induktive Schlussfolgerung sollen schließlich allgemeine Naturgesetze aufgefunden werden. Diese allein dürfen fortan als Erklärungsgrund physikalischer Vorgänge angenommen werden. Wissen wird so mit dem Aspekt der Wiederholbarkeit verknüpft. Das gewonnene naturgesetzliche Wissen sei schließlich dem Praktiker zum Zweck der sicheren Handhabung bereitzustellen. Das heißt: Bacon ging es – nicht zuletzt als Politiker, der er auch war – um die praktische Nutzanwendung des Wissens zum Zweck des allgemeinen Fortschritts. Sein unbedingter Glaube an das kontinuierliche Wachstum des empirisch ermittelten Wissens 277 – mit dem er die Forcierung der empirischen Forschung begründet – hat konsequenterweise eine Funktionalisierung von Kommunikation (zum Zweck des Erkenntnisgewinns) zur Folge. In diesem Sinne befürwortet er das kontinuierliche Gespräch zwischen den Forschern. Dem entspricht ebenso seine Ansicht, dass Zeitungen, die Relations – neben Chroniken und Annalen – eine Quelle der Geschichtsschreibung darstellen. 278 Es steht außer Zweifel, dass Bacons Erkenntnisverständnis bereits jenes Rühl, Manfred: Publizieren. Eine Sinngeschichte der öffentlichen Kommunikation, Wiesbaden 1999, S. 75. Rühl verweist in diesem Zusammenhang insbesondere auf Bacons Schrift The Advancement of Learning (1605), in deutsch 1783 erschienen unter dem Titel Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften. 277 Er war überzeugt, dass menschliches Wissen kumulativ sei. 278 In diesem Sinne lesen wir bei Rühl: »Zeitungen berichten nach Bacons Deutung über politische Ereignisse und Vorfälle. Von ihnen fordert er Klarheit, Aufrichtigkeit und Wahrheit der Erzählung. […] Bacon stellt seine Untersuchungen der Zeitungen 276
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– allein die äußeren Sinne berücksichtigende – eindimensionale Sinnesorganmodell ganz selbstverständlich voraussetzt, das sich in der frühen Neuzeit Bahn bricht und das Giesecke als die entscheidende Voraussetzung für die Etablierung moderner Massenkommunikation ersichtlich gemacht hat (vgl. Kap. III/10). Wie im 18. Jahrhundert dieses Erkenntnisverständnis zunehmend in eine utilitaristische Handlungs- bzw. Kommunikationstheorie eingebettet wird, lässt sich anhand von Adam Smith (1723–1790) sehr gut zeigen, der für gewöhnlich allein im Kontext von (National-) Ökonomie und Volkswirtschaftslehre Beachtung findet. Rühl moniert zurecht, dass Smith als Kommunikationstheoretiker noch zu entdecken ist. 279 Weit davon entfernt, Thomas Hobbes’ Anschauung eines Kampfes aller gegen alle zu teilen, kann Adam Smith menschliches Handeln – ganz im Verständnis der Moderne – dennoch nicht ich-überschreitend denken. Demnach bestimmt seines Erachtens neben Sympathie und Sprache vor allem der Tausch menschliches Kommunizieren. Vor diesem Hintergrund ist für ihn der Markt die eigentliche »Bühne der Begegnung«; Markt jedoch nicht verstanden in einem engen wirtschaftlichen Verständnis, sondern als Austausch von Gütern im weitesten Sinne. Smith entwirft so eine marktförmige Kommunikationstheorie, die Georg Simmel um die Wende zum 20. Jahrhundert zu Ende denken wird (vgl. Kap. VI/2). Zunehmend wurde die Bedeutung der modernen Massenmedien zur Beeinflussung der Öffentlichkeit erkannt. Dies nicht nur im Hinblick auf Zensur, sondern vor allem im Sinne positiver Imagepflege. Karl Nessmann verweist darauf, dass schon Kaiserin Maria Theresia (1717–1780) Informationsblätter verbreiten ließ, in denen die Bevölkerung über geplante Reformen »medial« vorinformiert wurde; etwa über die Einführung des allgemeinen Schulsystems. 280 und der Rhetorik unter den Gesichtspunkt der Transmission.« Rühl: Publizieren, a. a. O., S. 81. 279 Er verweist darauf, dass Smith in kommunikationswissenschaftlichen Standardwerken wie Littlejohns Theories of Human communication (5. Aufl., Belmont 1996) oder Burkarts Kommunikationswissenschaft (a. a. O.) nicht vorkommt; vgl. Rühl: Publizieren, a. a. O., S. 109. 280 Vgl.: Nessmann, Karl: PR-Berufsgeschichte Österreich, in: Bentele, Günther; Fröhlich, Romy; Szyszka, Peter (Hrsg.): Handbuch der Public Relations. Wissenschaftliche Grundlagen und berufliches Handeln, Wiesbaden 2005, S. 405–412, hier S. 405.
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Als weiteres frühes Beispiel aus dem deutschen Sprachraum sei Preußen genannt. In der Rigaer Denkschrift Über die Reorganisation des Preußischen Staates 281 aus dem Jahre 1807, die als Meilenstein in der Geschichte der deutschen Öffentlichkeitsarbeit gilt, wird nicht nur allgemein auf die Wichtigkeit der Imagepflege im Ausland hingewiesen, sondern dort werden ganz konkrete Empfehlungen gegeben; etwa die »Hauptmänner der Literatur« für Preußens Interessen zu gewinnen, denn: Schriftsteller wären glaubwürdiger als Zeitungsschreiber. 282 Einen zweifellosen Höhepunkt staatlich-medialer Öffentlichkeitsarbeit an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stellt die von Alfred von Tirpitz (1849–1930) geleitete Medien-Kampagne für den Ausbau der deutschen Flotte in der Wilhelminischen Ära dar. Kunczik schreibt dazu: »Wesentliches Merkmal der Flottenkampagne war deren Zielgruppenorientierung, d. h. verschiedene Teilöffentlichkeiten wurden mit unterschiedlichen Methoden [bzw. Medien] angesprochen. […] Durch Denkschriften, welche die Flottenvorlagen ab 1897 begleiteten, wurde die Öffentlichkeit ebenso beeinflusst wie durch die Jahrbücher für Deutschlands Seeinteressen […]. Die zukünftigen Oberlehrer sollten auf der Universität die Weltpolitik begreifen lernen, um dann ihrerseits im Geschichtsunterricht die höheren Klassen der Gymnasien im Sinne der Marine bearbeiten zu können. […] Um die Jugend langfristig zu beeinflussen, wurden sogar Spielplätze genutzt. […] Im Grunewald etwa stand eine dem Schulschiff Iltis nachgebaute Holzattrappe. […] Der Flottenverein entwickelte sich zu einer regelrechten Volksbewegung.« 283
Ganz allgemein lässt sich feststellen: Hand in Hand mit dem Aufkommen der Massen-Medien gewinnt die Vorstellung vom MassenMenschen an Gewicht, spätestens nachdem der französische Arzt und Soziologe Gustave Le Bon (1841–1931) in seinem Werk Die Psychologie der Massen (1895) die neue Ära als »Zeitalter der Massen« di-
281 Die Schrift wurde vom preußischen König höchstpersönlich in Auftrag gegeben und vom Geheimen Oberfinanzrat Karl Freiherr von Stein zu Altenstein (1770–1840) sowie von Karl August Fürst von Hardenberg (1750–1822), einer Zentralgestalt in der Reform Preußens zu dieser Zeit, verfasst (vgl.: Hofmeister-Hunger, Andrea: Pressepolitik und Staatsreform. Die Institutionalisierung staatlicher Öffentlichkeitsarbeit bei Karl August von Hardenberg (1792–1822), Göttingen 1994. 282 Vgl. dazu: Kunczik, Michael: Public Relations. Konzepte und Theorien, 5. Aufl., Wien – Weimar – Köln 2010, S. 105. 283 Kunczik: ebd., S. 110 f.
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agnostizierte. Der einzelne wird dabei als ein »dem Gesetz der [gemeinschafts]seelischen Einheit der Massen unterliegendes Wesen verstanden, deren Mitglieder nur noch ideomotorisch, also [weitgehend] ohne Mitwirkung des Willens, handeln könnten« 284. Damit sind aber nicht etwa abwertend unintelligente und desinteressierte Menschen gemeint. Der spanische Kulturphilosoph Ortega y Gasset hat 1929 in seinem Hauptwerk Der Aufstand der Massen (deutsch 1931) den zeitgenössischen Wissenschaftler als Idealtyp eines Massenmenschen charakterisiert. Hier zeigt sich unmissverständlich, wie sehr der »Denkrahmen der Moderne« im 19. Jahrhundert nicht mehr nur naturgesetzlich, sondern bereits auch kulturgesetzlich in Anwendung gebracht wird. Am treffendsten wird dies vielleicht deutlich an der Konzeptierung der Soziologie als »Soziale Physik« bei Auguste Comte. Dies wird in weiterer Folge exemplarisch beim amerikanischen PR-Pionier Edward L. Bernays (1891–1995) 285 deutlich, dessen Werk Crystallizing Public Opinion (1923) als erster Versuch gelten kann, Public Relations theoretisch zu erfassen. 286 Für das Verständnis seiner PR-Theorie ist dabei nicht nur von zentraler Bedeutung, dass seine Familie aus Wien stammte 287, sondern vor allem, dass sein Onkel Sigmund Freud hieß. 288 Genauso wie dessen Schriften einen starken Eindruck bei seinem Neffen hinterließen, machte dieser Freuds Werke in Amerika bekannt. So sorgte Bernays in den 1920er Jahren für die Veröffentlichung von A General Introduction to Psychoanalysis. 289 Kunczik: ebd., S. 230. Bernays war der erste, der sich als counsel on public relations bezeichnete, was in etwa mit PR-Berater übersetzt werden kann. Erst 1998 (New York) erschien unter dem Titel The Father of Spin – Edward L. Bernays and the Birth of Public Relation eine Biographie zu Bernays, verfasst von Larry Tye. 286 Joseph Goebbels benutzte Bernays Crystallizing Public Opinion zur Konzipierung seiner antijüdischen Propaganda im nationalsozialistischen Deutschland (vgl. Tye: The Father of Spin, a. a. O., S. 111) 287 Seine Familie übersiedelte bereits 1892 mit dem einjährigen Edward nach New York. 288 In seinem Aufsatz My Uncle Sigmund Freud aus dem Jahre 1954 schreibt Bernays, dass seine Mutter Freuds Schwester und die Schwester seines Vaters Freuds Frau war. In seiner Autobiographie bemerkt er dazu wörtlich: »In Vienna my father met Anna Freud, fell in love with her and married her in 1883. Three years later his youngest sister Martha married Anna’s brother Sigmund, a young physician [!] just establishing himself.« (Bernays zitiert nach Kunczik: Public Relations, a. a. O., S. 224). 289 Vgl. Cutlip, Scott: The Unseen Power: Public Relations: A History, Hillsdale, New Jersey 1994, S. 170. 284 285
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Bernays verstand sich – beeinflusst von den Theorien seines Onkels – gewissermaßen als Psychoanalytiker für Firmen bzw. Institutionen. Klar tritt dies auch zu Tage in seinem fünf Jahre nach Crystallizing Public Opinion erschienenen Werk Propaganda (1928), in dem er die These vertritt, die Menschheit könne und solle mit Hilfe der Erkenntnisse der Massenpsychologie manipuliert werden. Dies – wohlgemerkt – verstanden nicht im Rahmen einer Diktatur, sondern einer (Massen-)Demokratie. Zentral ist für Bernays dabei – wie Kunczik ausführt – »das engineering of consent, d. h. die Anwendung wissenschaftlicher Prinzipien zur Manipulation bzw. Steuerung der Gesellschaft.« 290 Dazu gäbe es keine Alternative. Um die Ordnung einer Gesellschaft zu gewährleisten, sei es nötig, die Mechanismen (!) und Motive gesellschaftlicher Gruppen zu verstehen und das gewonnene Wissen mit Hilfe von PR instrumentell einzusetzen. 291 »Das Individuum wird dabei« – um noch einmal Kunczik zu zitieren – »als Zelle im Organismus der menschlichen Gesellschaft gesehen. Es komme darauf an, die Nerven des sozialen Körpers [mittels gezielter medialer Intervention] an der richtigen Stelle zu treffen, dann erhalte man, wie beim Pawlowschen Hund, die richtige Reaktion.« 292
Zeitlich parallel entstehen die zeitungswissenschaftlichen Vorläufer der Kommunikationswissenschaft im deutschsprachigen Raum (Leipzig 1916, Münster 1919, München 1924, Berlin 1925). 293 Ein gänzlich anderes – wenngleich ebenso funktionales – Verständnis im Zuge des Aufkommens der modernen Massenkommunikationsmittel vertreten Karl Marx – sowie in dessen gedanklichem Gefolge Emile Durkheim, Max Weber, Ferdinand Tönnies oder Robert Ezra Park bis hin zu Jürgen Habermas. Sie heben die Bedeutung der – vorerst – zensurfreien Presse als »Stimme zur Herstellung gesellschaftlicher Öffentlichkeit« bzw. als »Agent gesellschaftlicher Partizipation« hervor. So heißt es etwa bei Marx: »Die freie Presse ist das
Kunzcik: Public Relations, a. a. O., S. 235. Dem entsprechend trägt das erste Kapitel von Propaganda die Überschrift Organizing Chaos und beginnt mit dem Satz: »The conscious and intelligent manipulation of the organized habits and opinions of the masses is an important element in democratic society.« (Bernays, Edward: Propaganda, New York 1928, S. 9 f.) 292 Kunczik: Public Relations, a. a. O., S. 235. 293 Vgl. dazu etwa: Vom Bruch, Rüdiger; Roegele, Otto (Hrsg): Von der Zeitungskunde zur Publizistik. Biographisch-institutionelle Stationen der deutschen Zeitungswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1986. 290 291
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überall offene Auge des Volksgeistes, das verkörperte Vertrauen eines Volkes zu sich selbst, das sprechende Band, das den einzelnen mit dem Staat und mit der Welt verknüpft …« 294 Dahinter steht die – aus der bürgerlichen Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts insbesondere Frankreichs, Englands und Deutschlands kommende – Vorstellung, mit Hilfe der neuen Massenkommunikationsmittel vernunftbasierte Gesellschaften gestalten zu können. »Die Aufgabe der Publizität besteht hierbei« – wie Kleiner dazu schreibt – »nicht in Veränderung von Herrschaft als solcher, sondern das bürgerliche Publikum erlangt durch diese ein Kritikund Kontrollinstrumentarium.« 295 Oder wie es Jürgen Habermas, der wohl prominenteste aktuelle Vertreter dieser Denkrichtung, formuliert: Öffentlichkeit soll als »Rationalisierung der politischen Herrschaft, als einer Herrschaft von Menschen über Menschen [dienen].« 296 Im Zentrum öffentlicher Diskurse sollen demnach Rationalität, Verständnisorientierung, Vermittlung und der hierarchiefreie Diskurs zwischen den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen stehen, nicht das Durchsetzen egoistischer Motive. Diese aufklärerische Idee der Nützung moderner Kommunikationsmittel zum Zweck eines herrschaftsfreien Diskurses sei jedoch – so Habermas – durch einen (erneuten) Strukturwandel der Öffentlichkeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts in Folge von zunehmender Zweckrationalisierung und organisiertem Kapitalismus abgelöst worden. Aus »Medien der Emanzipation« seien »Medien der Manipulation« geworden, die von herrschenden gesellschaftlichen Machteliten dominiert und diktiert würden. Oder anders ausgedrückt: Es sei zu einer »Refeudalisierung von Öffentlichkeit« gekommen. In diesem Sinne bemerkt auch Adorno: »Öffentlichkeit heute serviert den Menschen, was sie nichts angeht, und enthält ihnen vor, oder rüstet es ideologisch zu, was sie ja anginge.« 297 Daran anschließend wagt er gar die Aussage: »Habermas hat diese Entwicklung als
Marx, Karl; zitiert nach Kleiner, Marcus S.: Information, Kritik und Boulevardisierung, in: ders. (Hrsg.): Grundlagentexte zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik, Wiesbaden 2010, S. 90–120, hier S. 90. 295 Kleiner: Information, Kritik und Boulevardisierung, a. a. O., S. 94. 296 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied-Berlin 1962, S. 141 f. 297 Adorno, Theodor W.: Meinungsforschung und Öffentlichkeit, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8 (Soziologische Schriften I), Frankfurt/Main 1997, S. 534. 294
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Zerfall der Öffentlichkeit zusammengefasst. Vielleicht war Öffentlichkeit in Wahrheit nie verwirklicht.« 298 Soll heißen: Den Strukturwandel der Öffentlichkeit vom absolutistischen feudalen Staat zur bürgerlichen Öffentlichkeit habe es – de facto – niemals gegeben; höchstens in Gestalt einer unrealisierten Säkularutopie. Diese Überlegung von Adorno greift wiederum Norbert Bolz auf, wenn er zu bedenken gibt: »Die Isolationsangst – wie Kierkegaard gesagt hätte: die Angst davor, ein Einzelner zu sein – regiert die Welt. Aus Tocquevilles Amerika-Buch 299 geht schon klar hervor, dass es in modernen Massendemokratien nicht um Argumente und Überzeugung geht, sondern dass die öffentliche Meinung einen geistigen Druck ausübt, dem sich niemand entziehen kann. Das ist ein neues Gesicht der Knechtschaft.« 300
Für dieses »Gesicht« gibt es inzwischen auch einen Begriff: politische Korrektheit. Norbert Bolz stellt den Zusammenhang zwischen öffentlicher Meinung, politischer Korrektheit und die Rolle der Kommunikationsmittel in modernen demokratischen Gesellschaften wie folgt dar: »Öffentliche Meinung ist […] nicht das, was die Leute meinen, sondern das, was die Leute meinen ›was die Leute meinen‹. Und die Massenmedien informieren uns vor allem darüber, dass die meisten der gleichen Meinung sind. Wenn man aber sagt, dass die öffentliche Meinung die Versklavung der eigenen Meinung darstellt, dann muss das nicht nur heißen, dass ich die Meinung der Anderen übernehme. Viel wichtiger ist, dass ich den Themenrahmen [bzw. Denk- und Kommunikationsrahmen] der Öffentlichkeit übernehme.« 301
In diesem Sinne lässt sich in Abwandlung einer bekannten Formel konstatieren: »Cuisus regio, eius communicatio« 302. – Wer regiert, bestimmt nicht nur die Inhalte, sondern vor allem auch den kultur-
Adorno: ebd., S. 534. Gemeint ist sein Werk Die Demokratie in Amerika, München 1976; ursprünglich 1835/1840 in Paris unter dem Titel De la démocratie en Amérique in 2 Bänden erschienen. 300 Bolz, Norbert: Die ungeliebte Freiheit. Ein Lagebericht, München 2010, S. 85. 301 Bolz: ebd., S. 86 f. 302 Die erwähnte Formel lautet ursprünglich cuius regio, eius religio – Wer regiert, bestimmt die Religion der Untertanen und ist die Kurzform eines im Zuge des Augsburger Religionsfriedens (1555) formulierten Rechtsprinzips. Die lateinische Redewendung wurde von Joachim Stefani, Rechtsprofessor in Greifswald, 1612 geprägt. 298 299
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Die Genese der Kommunikationswissenschaft
spezifischen »Medien-Raum«, innerhalb dessen sich Kommunikation und Erkenntnis (systemstabilisierend) vollziehen. 303 Ganguin schreibt zwar zurecht, dass »die Geschichte der Kritik an einem Medium jeweils beinahe genauso weit zurückreicht wie das Entstehen des betreffenden Mediums selbst« 304, gleichgültig, ob es sich dabei um Buch, Zeitung, Zeitschrift, Rundfunk, Fernsehen, Social Media etc. handelt. Denn schon im 17. Jahrhundert gab es vereinzelte Streitschriften gegen die »Unzeitige Neue-Zeitungs-Sucht« (Johannes L. Hartmann, 1679). Ende des 18. Jahrhunderts wettert Johann Gottfried Hoche in seiner Schrift Vertraute Briefe gegen die jetzige abentheuerliche Lesesucht (1794): »Die Lesesucht ist ein thörigter schädlicher Mißbrauch einer sonst guten Sache, ein wirklich großes Übel, das so ansteckend ist wie das gelbe Fieber in Philadelphia; sie ist die Quelle des sittlichen Verderbens für Kinder und Kindes Kinder« 305, und 1808 warnt Karl Morgenstern »vor einer ›Bücherfluth‹, die zu einem ›Ocean‹ anschwillt, auf den sich niemand bei Gefahr seines Untergangs ›ohne harte […] Steuerruder‹ hinauswagen darf.« 306 Dennoch scheint die Feststellung berechtigt, dass insbesondere nach dem 2. Weltkrieg medienkritische Stimmen von bislang nicht gekanntem Ausmaß laut werden. Sie reichen von den kulturkritischen Medientheorien Max Picards (Hitler in uns selbst 307, 1946), 303 Vgl. dazu: Roth, Paul: Cuisus regio, eius informatio. Moskaus Modell für die Weltinformationsordnung, Graz 1987. 304 Ganguin, Sonja: Medienkritik aus Expertensicht, Dipl.Arbeit, Bielefeld 2003, S. 30. 305 Hoche zitiert nach http://www.medien-gesellschaft.de/html/lese-sucht.html 306 Hoche: ebd. 307 Hierin schreibt der Schweizer Kulturphilosoph gleich zu Beginn: »Während einer Reise in Deutschland im Jahre 1932 besuchte mich der Chef einer großen deutschen Partei und fragte mich, wieso es möglich gewesen sei, daß Hitler so bekannt habe werden, daß er so viele Anhänger habe finden können. Ich wies auf die illustrierte Zeitung hin, die auf dem Tisch lag, und sagte zu ihm, er möge sie anschauen. Auf der ersten Seite war eine fast nackte Tänzerin abgebildet; auf der zweiten Seite übte ein Bataillon Soldaten mit einem Maschinengewehr; darunter wurde der Gelehrte X in seinem Laboratorium gezeigt; auf der dritten Seite war die Entwicklung des Fahrrades von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute abgebildet; daneben war ein chinesisches Gedicht abgedruckt; auf der nächsten Seite waren Gymnastikübungen der Arbeiter in der Y-Fabrik während der Freizeit photographiert, darunter die Knüpfschrift eines südamerikanischen Indianerstammes. Gegenüber steht der Abgeordnete A in der Sommerfrische. ›Das ist die Art‹, sagte ich, ›wie der Mensch von heute die Dinge der Außenwelt zu sich nimmt. Der Mensch von heute bewegt alle Dinge zu sich hin in
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Günther Anders’ (Die Antiquiertheit des Menschen, 1956) und Theodor W. Adornos (Prolog zum Fernsehen, 1963) der späten 1940er bis 1960er Jahre über Claus Eurich (Das verkabelte Leben, 1980; Die Megamaschine, 1988) bis hin zu Stefan Webers Medialisierungsfalle (2008) und der gegenwärtigen Kritik an den Social Media; im englischsprachigen Raum von der soziologischen Studie The lonely crowd (Riesman, Glazer und Reuel, 1950), Vance Packards The Hidden Persuaders (1957) über Neil Postmans Amusing Ourselves to Death. Public Discorse in the Age of Showbusiness (1985) zu Norman Solomons aktueller Kritik an der weltweiten mediendigitalen Überwachung von Seiten amerikanischer Geheimdienste. Dabei wird insbesondere die »Konsumstruktur« der modernen Bild-Medien kritisch reflektiert: Sigrid Löffler schreibt schon 1994 – also lange vor Etablierung der Social Media – im Hinblick auf einen neuen Typus von Printbildmedien: »Was sie liefern wollen, ist gedrucktes Fernsehen. Es sind Zeitschriften für Zapper und Switcher, Druckerzeugnisse für zappelige, zerstreute ChannelHopper, kurz: Video-Clip-Medien. […] Die Heftseiten zucken und zappeln mit lauter Bildchen und Kästchen und zersplittern Informationen in Häppchen und Bröckchen, garniert mit lauter optischen Lesehilfen für den unaufmerksamen Leser, sozusagen visuellen Blinkanlagen. Analysen werden ersetzt durch Appetizer. Im Geflacker der Info-Bits und der Graphik-Torten geht der öffentliche Diskurs mit seinem Akzent auf dem Wort und dem Argument zuschanden.« 308
Daneben sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass mit dem Aufkommen des Digitalmediums Internet Ende des 20. Jahrhunderts – strukturell – eine völlig neue Medien-Gebrauchsweise einhergeht. Denn mit dem Aufkommen des World Wide Web tritt – neben dessen massenmedialer Verwendungsweise – die Möglichkeit zur aktiven Individualnutzung bzw. Teilnahme in den Vordergrund. D. h. es kommt zur Überwindung der »klassischen« weitestgehend durch einem zusammenhanglosen Durcheinander; […] Es wird gar nicht mehr geprüft, was auf einen zukommt, man ist zufrieden, daß überhaupt etwas kommt, und in dieses zusammenhanglose Durcheinander kann sich jedes und jeder hineinmischen, – auch Adolf Hitler.‹ […] Diese Zusammenhanglosigkeit einer illustrierten Zeitschrift ist im Vergleich mit dem Radio fast altmodisch, fast noch handwerklich. Das Radio hat den maschinellen Betrieb der Zusammenhanglosigkeit übernommen.« (Picard, Max: Hitler in uns selbst, 4. Aufl., Erlenbach-Zürich/Stuttgart 1980, S. 13 f.) 308 Löffler, Sigrid: Gedruckte Video-Clips, in: Salzburger Nachrichten, Ausgabe vom 26. November 1994, S. V (Beilage Leben heute).
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Die Genese der Kommunikationswissenschaft
»Einweg-Kommunikation« (one-to-many) bestimmten Sender-Empfänger-Relation (vgl. Kap. III/10). Dies nicht nur deshalb, weil mit dem digitalen Multimedium Internet bzw. den Social Media – potenziell – eine Dialogstruktur gegeben ist, die über das »passive« Rezipieren bzw. Konsumieren hinaus eine teilnehmende Aktivität erlaubt, sondern vor allem, weil mit der Krise der säkularen Fortschrittsutopien bzw. politischen Heilslehren, d. h. den »großen Erzählungen der Moderne«, ein – zumindest was Umfang und Tempo anbelangt – unvorhersehbarer kultureller Leitmedienwandel einherging und weiter einhergeht. Die oben erwähnte »One-to-many-Erkenntnisvermittlungsstrukur« wird – insbesondere mit Hilfe des globalen und digitalen »Weltkommunikationsmediums« Internet – zunehmend in Frage gestellt durch völlig neue Strukturen der Erkenntnisvermittlung: One-to-one, Many-to-many sowie Many-to-one. ONE
to ONE
Abb. 20: One-to-one
Einerseits taucht die One-to-one-Erkenntnisvermittlungsstruktur (wieder) auf. Doch hier ist diese nicht rückgebunden in einer religiösen Tradition (und damit einer parallelen One-to-many-Offenbarungsstruktur – vgl. Kap. III/10). Deshalb ist die »One-to-oneStruktur« in diesem Fall auch nicht hierarchisch (Lehrer-Schüler-Verhältnis), sondern egalitär, in Gestalt des Austauschs individuell-autonomer Sinnentwürfe auf »gleicher Augenhöhe« im Kontext der Konstruktion der je eigenen (Patchwork-)Identität. MANY
to MANY
Abb. 21: Many-to-many
Daneben ist mit den sogenannten Social Media die Kommunikation von vielen mit vielen (Many-to-many) möglich und zunehmend Realität geworden. Dabei kommt es zu einem – weitestgehend »hierarchiefrei-horizontalen« – Austausch zwischen zahlreichen Nutzern sozialer Netzwerke. 309 Diese »Many-to-many-Kommunikation« ist in besonderer Weise an Technologie gebunden bzw. durch diese erst 309 Vgl. dazu: Shirky, Clay: Here Comes Everybody: The Power of Organizing Without Organizations, New York 2008.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
ermöglicht. Jeder Akteur ist dabei (zumindest potenziell) nicht nur passiver Teilnehmer, sondern auch aktiver Kreator von Kommunikation(sinhalten). MANY
to ONE
Abb. 22: Many-to-one
Mit dem Internet bzw. den sozialen Netzwerken kommt schließlich eine weitere – jedoch wenig bewusste – Kommunikationsform auf: Many-to-one. Damit sei der Umstand beschrieben, dass der Einzelne heutzutage vor der Herausforderung steht, aus vielen – sich zum Teil gravierend widersprechenden – inhaltlichen »Angeboten« zu bestimmten Themen wählen zu können bzw. zu müssen. Diese Herausforderung fällt umso schwerer, je weniger der oder die Betreffende nicht (länger) in einer traditionellen (One-to-many) Anschauung »rückgebunden« ist. Dass die skizzierten neuen Kommunikationsgestalten – je nach Perspektive – als großes Potenzial oder als Bedrohung bzw. Gefahr gesehen werden, ist ein fast »klassisch« zu nennender mediengeschichtlicher Vorgang: Denn das Aufkommen eines neuen Mediums ist im Regelfall immer begleitet von den Extrempositionen kritikloser Verklärung und kulturkritischer Verteufelung. 310 Blenden wir noch einmal zurück (Kap. II/2) und erinnern uns an folgendes Schema: Kommunikation (stets zugleich)
Vermittlung von ETWAS technisches Übertragungsmodell
Begegnung mit JEMAND Personales Begegnungsmodell
Abb. 23: Doppel-Aspektivität von Kommunikation (nach Krämer 2008)
Wir haben erwähnt, dass im Falle von Kommunikation stets zugleich beide Aspekte gegeben sind; jedoch nicht notwendigerweise gleich gewichtet, sondern gegebenenfalls höchst ungleich. Zwei solch unterschiedliche Szenarien werden etwa deutlich im Kontext-Vergleich der abendländischen Moderne 310 Vgl. Faulstich, Werner: Mediengeschichte, in: ders. (Hrsg.): Grundwissen Medien, München 1998, S. 40.
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Die Genese der Kommunikationswissenschaft
Kommunikation (Gewichtung im Kontext der abendländischen Moderne)
Vermittlung von ETWAS
Begegnung mit JEMAND
Abb. 24: Kommunikation: abendländische Moderne
mit der – ins Globale ausgreifenden – Post-Moderne: KOMMUNIKATION (Gewichtung im Kontext der – ins Globale ausgreifenden – Post-Moderne)
Vermittlung von ETWAS
Begegnung mit »ETWAS«/Jemand
Abb. 25: Kommunikation: globale Post-Moderne
Wird – generell gesprochen – Kommunikation in der abendländischen Moderne überwiegend funktional verstanden, als Mittel zur Erlangung verschiedenster Zwecke, so in der Post-Moderne zunehmend im Schema der Selbstzweckhaftigkeit. In keiner der beiden – gegenwärtig parallel beobachtbaren – kulturspezifischen Kontexte werden Kommunikation jedoch selbsttranszendierende Züge zugemessen. 311 Betrachten wir schließlich maßgebliche neuzeitliche Kommunikationsverständnisse aus erkenntnistheoretischer Sicht, so lässt sich vorerst allgemein bzw. grundsätzlich feststellen: Dem Denkrahmen der Moderne entsprechend wird hierbei versucht, menschliche Kommunikation widerspruchsfrei zu konzipieren. Dabei lassen sich – grosso modo – zwei hauptsächliche Ansätze unterscheiden: Entweder wird der kommunizierende Mensch individuumszentriert gedacht,
311 Deshalb die Hervorhebung des »Etwas« auch im Rahmen des Aspekts der Begegnung im Graphikschema der Post-Moderne (vgl. dazu in Kap. VII/4 das HX-Schema ICH-DU / EGO-Pseudo-Du. Dem widerspricht nicht, dass Friedrich Schleiermacher (1768–1834) in seiner Theorie des geselligen Betragens (1799) und Georg Simmel (1858–1918) in seiner Theorie der Geselligkeit (1900) – als Zeit-Genossen der Moderne – das selbstzweckhafte menschliche Mit-Einander-Sein als Höchstform von Kommunikation ansehen. Denn Schleiermachers Ideal ist nicht an der rationalistischfunktionalen Neuzeit, sondern an der Freundschaftsidee der Antike ausgerichtet, Simmels Vorbild ist der zwecklose dynamische Austausch freier Menschen (vgl. Kap. IV/2).
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
d. h. als jemand, der im Grunde »alleine vollständig, nicht ergänzungsbedürftig [ist]« 312, oder er wird gänzlich relational gedacht, als »Subsystem« im übergeordneten Ganzen eines gesellschaftlichen Systems. Bei den individuumszentrieren Ansätzen kommt es dadurch zur Vernachlässigung des Relations- bzw. Sozietätsaspekts, bei den relations- bzw. systemzentrierten Ansätzen zur Vernachlässigung des Personalitäts- bzw. Subjektaspekts von Humankommunikation. Stellt sich bei den erstgenannten Konzeptionen die Frage, wie Kommunikation zwischen zwei sich selbst genügenden, im Grunde nicht ergänzungsbedürftigen, d. h. alleine vollständigen »Individuumsmonaden« gedacht werden kann, die – um mit Hume zu sprechen – keinen Schritt über sich hinaus zu tun vermögen, so kann bei den relationalen Ansätzen zwar Kommunikation gut plausibel gemacht bzw. gedacht werden, doch taucht hier das Problem auf, dass sich die Invidualität, das Einzigartige des Einzelnen nicht (mehr) eigentlich fassen lässt, wenn menschliche Handlungen – wie etwa bei Luhmann – primär als Systemelemente verstanden werden, nicht als Ausdrucksgestalten von individuellen oder kollektiven Subjekten 313 (vgl. Kap. V/4b).
12. Die ungeahnte »Karriere« des Phänomens (und damit Begriffs) Kommunikation seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem mit den 1970er Jahren kommt es – sowohl erkenntnistheoretisch wie gesellschaftspraktisch – zu einem, zumindest in diesem Ausmaß nicht vorherzusehenden, allgemeinen Interesse für das Phänomen – und damit den Begriff – Kommunikation. Da ist zum einen der zu konstatierende Sachverhalt, dass inzwischen in den unterschiedlichsten universitären Fachbereichen das Phänomen Kommunikation als Erkenntnisobjekt auftaucht 314. Eben-
Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 32. Vgl. dazu Rothe: ebd., S. 107. 314 Vgl. dazu etwa Burkart, der in seinem Standardwerk Kommunikationswissenschaft (a. a. O., S. 15) diesbezüglich namentlich Soziologie, (Sozial-)Psychologie, Psychiatrie, Politikwissenschaft, Sprachwissenschaft/Linguistik, Biologie, Physik, Che312 313
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Die ungeahnte »Karriere« des Phänomens
so, dass sich wirtschaftliches und politisches Handeln zumeist mittels intensiver Unterstützung durch begleitende Kommunikations- bzw. Medienstrategien vollzieht; oder dass sich innerhalb weniger Jahrzehnte – neben den herkömmlichen Massenkommunikationsmitteln wie Buch, Zeitung, Rundfunk und Fernsehen – Mobiltelefon, Internet und Social Media praktisch quer durch alle Bevölkerungsschichten weltweit im privaten Alltag etablieren konnten. Vor allem scheint der Umstand beachtenswert, dass die verschiedensten Aspekte der Wirklichkeit inzwischen vermehrt als »relationale« Beziehungsphänomene verstanden werden. Dabei sollte freilich nicht übersehen werden, dass dieser Zugang zu den verschiedensten Aspekten des Phänomenbereichs Kommunikation meist technisch-instrumenteller Art ist, der vor allem das reibungslose Gelingen von Kommunikation bzw. das Verhindern des Misslingens von Kommunikation im Auge hat. 315 Auf diese Engführung hat Rombach schon Ende der 1970er Jahre wie folgt aufmerksam gemacht: »Ein Blick in die angeschwollene Literatur zur ›Kommunikationsforschung‹ zeigt, daß die an sich begrüßenswerten Bestrebungen in der Gefahr stehen, einen verengten und vereinseitigten Kommunikationsbegriff, wie er vor allem von den Ingenieurwissenschaften und von den Forschungen zur Massenkommunikation her bestimmt ist, zu etablieren. Dadurch wird natürlich nicht die gesuchte und gewünschte Erweiterung und Vertiefung des Wissens vom Menschen, sondern eine Nivellierung und Verengung […] erreicht. […] Nicht anders kann die drohende Einschränkung und Nivellierung aufgezeigt und aufgebrochen werden, als durch den Aufweis des Phänomens [Kommunikation] in seiner vollen Struktur.« 316
Was Rombach und andere mit der Gefahr der Etablierung eines – von den Natur- bzw. Ingenieurwissenschaften entlehnten – verengten und vereinseitigten Kommunikationsbegriffs meinen, soll die nachfolgende Graphik illustrieren.
mie und Informatik erwähnt; doch ließen sich problemlos noch eine Reihe anderer Disziplinen nennen – man denke etwa an Philosophie oder Theologie. 315 Aus der Quantenphysik hat sich ein eigenes Fach »Quanten-Kryptographie« entwickelt. 316 Rombach, Heinrich: Die Grundstruktur der menschlichen Kommunikation. Zur kritischen Phänomenologie des Verstehens und Mißverstehens, in: Orth, Ernst Wolfgang (Red.): Mensch, Welt, Verständigung. Perspektiven einer Phänomenologie der Kommunikation, Freiburg/Br. 1978, S. 19–51, hier S. 20.
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III. Die Vor-Geschichte(n) oder Wie es zum status quo kam
Interaktion
Materie Leben Mensch
Abb. 26: Kommunikation materie-analog
Das Schaubild zeigt die entstehende Problematik, wenn das (im Bereich des A-Biotischen) zunehmend besser erforschte Phänomen der Wechselwirkung / Interaktion – im Sinne einer notwendigen kausalen Abfolge bzw. eines Reiz-Reaktionsmechanismus – einfachhin auf den Bereich des Lebendigen bzw. des Menschlichen übertragen wird und dabei die prinzipielle Differenz gegenüber Kommunikationsgeschehnissen zu verschwimmen droht; mit der Folge, dass selbst menschliche Kommunikations-Akte bloß als Summe hochkomplexer Interaktionsprozesse (und nichts sonst!) zu verstehen versucht werden. Im Hinblick auf die Lebenswissenschaften bemerkt dazu Ulrich, dass die Problematik gegenwärtiger biowissenschaftlicher Forschung darin liegt, dass der Unterschied zwischen den Sätzen »Leben ist ein physiko-chemischer [Interaktions-]Prozeß und Leben ist nichts als ein physiko-chemischer [Interaktions-]Prozeß weitgehend unbeachtet bleibt« 317. Wir werden auf diesen Zusammenhang in Kap. VIII/1 (Die zentrale Differenzierung: Interaktion 6¼ Kommunikation) noch ausführlich eingehen.
Ulrich, Gerald: Biomedizin. Die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs, Stuttgart / New York 1997, S. 9.
317
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie und der »Entdeckung« der Wechselwirkung/Interaktion – als grundlegendem Wirklichkeitsphänomen – um 1900
1.
Max Planck oder Die vorläufige Hilfsgröße h wird zur universellen Naturkonstanten
Am Ende des 19. Jahrhunderts war die vorherrschende Meinung, die Physik hätte nun nahezu alle Fragen über die materielle Welt beantwortet und es wären nur mehr wenige offene Probleme, sozusagen Aufräumungsarbeiten, zu bewältigen. Die Situation wird durch die schon erwähnte Anekdote um den heranwachsenden Max Planck gut beleuchtet, der seinen Münchner Physiklehrer, Philipp von Jolly, um Rat bei der Auswahl des Studiums bat. Dem damaligen Zeitgeist entsprechend meinte dieser, dass in der Physik schon fast alles erforscht sei, und es nur noch gelte, einige unbedeutende Lücken zu schließen. Der Quantenphysiker Anton Zeilinger schreibt dazu: »Heute kann man über eine solche Aussage nur lächeln. Man sollte sie jedoch durchaus auch als Warnungstafel sehen. Es gibt ja auch heute wieder Physiker, die behaupten, wir stünden kurz davor, im Wesentlichen alles erklären zu können. Damals wie heute wird durch eine solche Haltung nichts anderes dokumentiert als die Tatsache, wie eng und kurzsichtig die menschliche Phantasie oft sein kann.« 1
Planck entschied sich für die Physik und wurde zur Schlüsselperson, die das Tor zu einer ganz neuen Welt der Physik aufstoßen sollte. In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine der anstehenden Fragen, welche Form der Straßenbeleuchtung (Gas- oder elektrisches Licht) in Zukunft als optimal erscheinen würde. Daher war auch die Grundlagenforschung mit der Frage nach der Form der Strahlungsgesetze beschäftigt. Schon aus der Physik des Alltags ist bekannt, dass etwa bei Erhitzen eines Eisenstabes zunächst dunkelrote Glut er1
Zeilinger: Einsteins Schleier, a. a. O., S. 15.
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie
scheint, die beim Ansteigen der Temperatur ins Hellrote, dann Weiße und schließlich Bläuliche übergeht. Quantitativ heißt das, dass die Wellenlänge des ausgestrahlten Lichtes mit steigender Temperatur kleiner wird. Die Herausforderung an die theoretische Physik war daher, diesen Zusammenhang mathematisch exakt zu formulieren. Auf Grund der damals bekannten – sogenannten »klassischen« – Physik gab es einige Ansätze, die sich aber schnell als unbrauchbar erwiesen. Am 19. Oktober 1900 hielt Max Planck in Berlin einen Vortrag vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, in dem er eine heuristische Formel vorschlug, die zwei unbekannte Konstanten enthielt. Eine experimentelle Überprüfung bestätigte die Richtigkeit. 2 Dies spornte Planck zu einer intensiveren Überlegung an, und am 14. Dezember 1900 konnte er in einem weiteren Vortrag vor der Deutschen Physikalischen Gesellschaft sein endgültiges Ergebnis präsentieren, das nur mehr eine einzige unbekannte Konstante h enthielt. 3 Diese bis dahin unbekannte, neue Konstante – das so genannte Planck’sche Wirkungsquantum – hat das bis dahin gültige Bild der elektromagnetischen Strahlung zerstört: Bei gegebener Wellenlänge konnte Energie immer nur in ganzzahligen Vielfachen des Produkts dieser Konstante mit der Frequenz der Strahlung ausgesandt oder absorbiert werden. Planck wollte diese »Quantelung« auf die Wechselwirkung von Strahlung mit Materie beschränkt wissen und war sehr zurückhaltend, als Einstein postulierte, dass derselbe Effekt schon in der elektromagnetischen Strahlung selbst zu beobachten sei. Plancks Zurückhaltung ist wahrscheinlich zu erklären durch die tief sitzende Vermutung, die »Natur mache keine Sprünge«. Selbst Erwin Schrödinger, der die Grundgleichung der Quantenphysik geschaffen hat, lehnte die neue Physik der Quantenmechanik wegen dieser »Quantensprünge« ab; er ließ nur die kontinuierliche Interpretation gelten und sprach immer von »Wellenmechanik«, niemals von »Quantenmechanik«. Freilich sind – quantitativ betrachtet – solche »Quantensprünge« winzig klein, handelt es sich doch um ein Phänomen der Mikrophysik. Aber qualitativ sind sie eine bis dahin noch nie vermutete Neu2 Für Details siehe Rubens, Heinrich; Michel, Gerhard: Prüfung der Planck’schen Strahlungsformel, in: Physikalische Zeitschrift 22 (1921), S. 569. 3 Planck, Max: Über das Gesetz der Energieverteilung im Normalspektrum, in: Annalen der Physik 4 (1901), S. 553.
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Georg Simmel
heit: Wenn sich zum Beispiel ein hantelförmiges Atom (bei der Wechselwirkung mit elektromagnetischer Strahlung) durch einen Quantensprung instantan, d. h. im genau gleichen Moment, ohne zeitliche Erstreckung, in eine Kugel verwandelt.
2.
Georg Simmel oder Die »Wechselwirkungs-Philosophie des Geldes«
Georg Simmel, der als einer der Gründerväter der modernen Soziologie gilt, wird – wie Max Planck – 1858 geboren, als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie im Berlin der Gründerzeit. 1874 stirbt sein Vater und ein Freund der Familie, der Musikverleger Julius Friedländer, wird sein Vormund. 4 Vielleicht deshalb tritt er nicht in die Fußstapfen seiner Vorfahren, sondern studiert ab 1876 in seinem Geburtsort Philosophie, Geschichte und Völkerpsychologie. 1881 wird er mit einer preisgekrönten Arbeit über Kant promoviert, nachdem sein ursprüngliches Dissertationsvorhaben auf Bedenken stößt. Auch seine Habilitation verläuft vorerst nicht reibungslos; erst im zweiten Anlauf wird er 1884 seitens der Fakultät akzeptiert. Es dauert bis 1900, dass er eine Berufung an die Berliner Universität erhält, und dies als unbezahlte a. o. Professur für Philosophie. 5 Außerordentlich ist auch seine Beliebtheit als universitärer Lehrer. Seine Lehrveranstaltungen zu Themen wie Ethik, Ästhetik, Soziologie, Sozialpsychologie sind enorm beliebt, ja ein gesellschaftliches Ereignis. Mitunter werden sie sogar in Zeitungen angekündigt. Dem entsprechend geht Simmels Einfluss weit über die rein akademische Welt hinaus und harrt teilweise noch heute der Entdeckung. Als eines seiner Hauptwerke gilt die Philosophie des Geldes (vgl. Kap. III/9), das übrigens im gleichen Jahr – 1900 – erscheint, in dem Planck seine Quantenhypothese formuliert. 6 Mit diesem Werk unternimmt er den Versuch, die Größe Geld nicht aus ökonomischer Sicht, sondern auf der Grundlage einer Philosophie zu bearbeiten. Seinen Dieser adoptiert Georg Simmel in weiterer Folge und hinterlässt ihm ein Vermögen, das ihm wirtschaftliche Unabhängigkeit sichert. 5 Einen Ruf an die Universität Heidelberg konnte er 1908 aufgrund eines antisemitischen Gutachtens des Historikers Dietrich Schäfer, trotz der Fürsprache Max Webers, nicht annehmen. Erst in seinen letzten Lebensjahren, 1914–1918, hatte er eine ordentliche Professur – im damals deutschen Straßburg – inne. 6 Eine zweite Auflage folgt 1907. 4
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie
gedanklichen Ausgangspunkt bildet dabei das Phänomen des Tausches, genauer: des Tausches als soziale Form, die den verschiedensten Inhalten offen steht. Ihn interessiert der Tausch nicht als ein durch bestimmte subjektive Motive bedingtes menschliches Handeln, sondern als eine Gestalt der Wechselwirkung zwischen Individuen. Anders formuliert: Simmel geht es nicht um die Tausch-Inhalte, sondern um die Kommunikations-Form »Tausch«. Tausch ist für ihn – noch radikaler als für Adam Smith (vgl. Kap. III/11) – die soziale Form schlechthin. Seines Erachtens lässt sich jede zwischenmenschliche Wechselwirkung als Tausch analysieren, 7 ja er erblickt im Phänomen der Wechselwirkung das Grundprinzip der Wirklichkeit schlechthin. Insofern ist »Wechselwirkung« nicht nur als zentraler Terminus der Philosophie des Geldes, sondern der ganzen Simmel’schen Lebensphilosophie anzusehen. 8 Allgemeiner formuliert: Simmels Erkenntnisstreben geht vor allem dahin zu klären, was zwischen den Menschen geschieht. D. h. ihn interessiert der Mensch nicht primär als autonomes Subjekt, sondern als Mensch mit dem Menschen, ja man kann beinahe sagen: ihn interessiert vor allem dieses mit. 9 7 Pointiert formuliert er diese These in seiner Soziologie von 1908, wo es heißt: »Der Tausch ist die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen.« (Simmel, Georg: Soziologie, zitiert nach Georg Simmel Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 11, Frankfurt/Main, S. 662.) 8 Der Begriff der Wechselwirkung ist dabei nicht deshalb als Zentralbegriff bei Simmel anzusehen, weil er im Tausch das entscheidende Phänomen einer Geld-Theorie erblickt, sondern umgekehrt: weil er im Phänomen der Wechselwirkung das Grundprinzip der Wirklichkeit erkannt zu haben meint, sowie im Tausch dessen reinsten Ausdruck. 9 Rammstedt bemerkt ganz analog: »Simmel geht immer von dem aus, was zwischen den Menschen ist: Das Interagieren, die Wechselwirkung – im Amerikanischen seit 100 Jahren als interaction übersetzt –, und lässt zwischen den Akteuren Formen des Verhaltens sich herausbilden, die qualitativ neu und eigenständig sind, da sie sich gerade in Lösung von den je individuellen psychischen Handlungsanlässen kristallisieren. Sie werden gelernt mit ihren Regeln, sie steuern dann das Verhalten der Akteure. Diese sozialen Formen bewirken nicht Gesellschaft, sie sind vielmehr – nach Simmel – Gesellschaft.« (Rammstedt, Otthein: Geld und Gesellschaft in der »Philosophie des Geldes«, in: Binswanger, Hans Christoph; Flotow, Paschen von (Hrsg.): Geld & Wachstum. Zur Philosophie und Praxis des Geldes, Stuttgart – Wien 1994, S. 15–31, hier S. 18). Es wäre interessant zu klären, inwieweit Simmel Feuerbachs Schrift Grundsätze der Philosophie der Zukunft aus dem Jahr 1843 kannte, in der dieser schreibt: »Das Wesen des Menschen ist nur in der Gemeinschaft, in der Einheit des Menschen mit dem Menschen enthalten – eine Einheit, die sich aber nur auf die Realität des Unterschieds von Ich und Du stützt.« (Feuerbach, Ludwig: Grundsätze der Philosophie der Zukunft, in: Sämtliche Werke, Bd. 2, Leipzig 1846, S. 59).
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Georg Simmel
Um diesen Grundgedanken besser nachvollziehen zu können ist es hilfreich, wenn wir uns Simmels Konzeption der sogenannten »Achsendrehung« vor Augen führen. Was ist damit gemeint? Damit beschreibt er – in einer ersten Bedeutung – das Geschehen der Kulturwerdung des Menschen, verstanden als den Wendeprozess von der Inhaltsdominanz des Lebens zur Formdominanz sozialer Gestalten. Doch lassen wir den Lebensphilosophen Georg Simmel dazu selbst mittels zweier Zitate zu Wort kommen. Das erste ist genommen aus seiner Soziologie, genauer aus dem Kapitel über Geselligkeit; da heißt es: »So scheint alles Erkennen [bzw. zwischenmenschliche Wechselwirken] ursprünglich ein Mittel im Kampf ums Dasein zu sein; das wahre Verhalten der Dinge zu wissen, ist für die Erhaltung und Förderung des Lebens von unübersehbarem Nutzen.« 10 Die oben erwähnte »Achsendrehung zur Kultur« 11 beschreibt Simmel in seinem nachgelassenen Werk Lebensanschauung schließlich wie folgt: »Und nun geschieht die große Wendung, mit der uns die Reiche der Idee entstehen: Die Formen und Funktionen, die das [werdende] Leben um seiner selbst willen, aus seiner eigenen Dynamik hervorgetrieben hat, werden derart selbständig und definitiv, daß umgekehrt das Leben [der Inhalt] ihnen [den Kultur-Formen] dient […].« 12
Als eine jener Kulturformen, die sich vom dynamischen Leben emanzipiert hätten, sieht er die moderne Wissenschaft. 13 Soweit würden Simmels Gedankengang wohl nicht wenige folgen. Doch sieht er noch eine zweite Achsendrehung, der er seine Kennzeichnung als Lebens-Philosoph verdankt: »Das Leben« – so Simmel dazu wörtlich – »will nicht von dem beherrscht sein, was unter ihm ist [der Bereich des Materialen, des Stofflichen], aber es
10 Simmel, Georg: Die Geselligkeit, in: ders.: Grundfragen der Soziologie, 3. Aufl., Berlin 1970, S. 50. 11 Er nennt dieses Geschehen an anderer Stelle auch »Ideozentrierung« oder »Wende zur Idee«. 12 Simmel, Georg: Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München 1918, S. 38. 13 »Wissenschaft – als eigenständige Erkenntnis-Form – aber bedeutet, daß sich das Erkennen nicht mehr zu dieser praktischen [dem Leben dienenden] Leistung hergibt, sondern ein Eigenwert geworden ist, sich von sich aus seine Gegenstände wählt, sie nach seinen inneren Bedürfnissen gestaltet und über seine Selbstvollendung nicht hinausfragt.« Simmel: Die Geselligkeit, a. a. O., S. 50)
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie
will überhaupt nicht beherrscht sein, also auch nicht von der Idealität [dem Bereich des Geistes], die sich den Rang oberhalb seiner zuspricht.« 14
Damit erklärt er die Abkünftigkeit des Geistes – seit der Moderne ja eine permanente Problemfrage – aus dem Leben. 15 Alles geistige Leben ist demnach nur dadurch möglich bzw. mit einer Chance des Gelingens ausgestattet, dass der Geist selbst aus dem Leben kommt. Mit diesem (erneuten) Primat des Lebens gegenüber Geist und Gestalt gelangt der Lebensphilosoph konsequenterweise zur Ansicht, dass es letztlich keine allgemeinen, dauernden Werte gibt bzw. geben kann, sondern Werte einzig aus der zwischenmenschlichen Wechselwirkung entstehen. 16 So gelangt Georg Simmel zu jener »Wechselwirkungs-Philosophie«, die sein Denken in geistige Nähe zum sogenannten Dialogischen Denken bringt, auf das wir in Kap. VI/2 näher eingehen werden.
3.
Albert Einstein oder Ein Patentbeamter III. Klasse dynamisiert Raum und Zeit und quantelt das Licht
Das Jahr 1905 gilt als »annus mirabilis« der Physik, weil Albert Einstein – damals noch Patentbeamter III. Klasse in Bern – in diesem Jahr fünf physikalische Arbeiten publiziert hat, von denen ihm jede ein-
14 Simmel, Georg: Der Konflikt der modernen Kultur. Ein Vortrag, München und Leipzig 1926, S. 20. Seine Philosophie des Geldes kann insofern als Anwendung seiner Konzeption der Achsendrehung verstanden werden. 15 Zur Frage der Abkünftigkeit des Lebens gegenüber der Materie äußert er sich hingegen nicht explizit. Hier ein diesbezüglich zentrales Zitat: »Wenn sich dennoch kein höheres Leben dem entziehen kann, sich unter die Führung der Idee [des Geistes] – sei es als transzendenter Macht, sei es als sittlicher oder sonst wertmäßiger Forderung – zu wissen, so scheint dies nur dadurch möglich oder dadurch mit einer Chance des Gelingens ausgestattet, daß die Ideen [der Geist] selbst aus dem Leben kommen.« (Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, a. a. O., S. 20.) 16 Mit den Worten von Otthein Rammstedt, des Herausgebers der Georg Simmel Gesamtausgabe (in 24 Bänden): »Daß Werte sich in der Wechselwirkung ergeben und stabilisiert werden, dafür steht Simmel der Tausch, der die ›einzigartige Bedeutung‹ für die Gesellschaft habe, daß er das einzelne Ding und seine Bedeutung für den einzelnen Menschen aus ihrer Singularität erhebe, aber nicht in die Sphäre des Abstrakten hinein, sondern in die Lebendigkeit der Wechselwirkung, die gleichsam der Körper des wirtschaftlichen Wertes sei.« (Rammstedt: Geld und Gesellschaft in der »Philosophie des Geldes«, a. a. O., S. 20.
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Albert Einstein
zelne ein Ruhmesblatt in der Geschichte der Physik eingebracht hätte. Am bekanntesten ist wohl seine »spezielle Relativitätstheorie«, die ihn über die Physik hinaus zu einer öffentlichen Persönlichkeit machte. Der Mathematiker Hermann Minkowski hat die physikalischen Erkenntnisse Einsteins in mathematische Form gebracht und sie in einem Vortrag vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Köln 1908 dargestellt. Er begann mit folgender dramatischen Eröffnung: »Meine Herren! Die Anschauungen über Raum und Zeit, die ich Ihnen entwickeln möchte, sind auf experimentell physikalischem Boden erwachsen. Darin liegt ihre Stärke. Ihre Tendenz ist eine radikale. Von Stund’ an sollen Raum für sich und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken, und nur noch eine Art Union der beiden soll Selbstständigkeit bewahren.« 17
Weil Einstein erkannt hatte, dass die Lichtgeschwindigkeit im Vakuum unabhängig von der Geschwindigkeit des Beobachters und/oder der Lichtquelle immer konstant blieb, die Lichtgeschwindigkeit also keine Messgröße, sondern eine Naturkonstante ist, bedurften Längen und Zeitintervalle keiner getrennten Einheiten mehr. Längen konnten – wie in der Astronomie üblich – in Lichtjahren oder Zeitintervalle in Lichtkilometern gemessen werden. Damit konnte die Errungenschaft der französischen Revolution, universelle Einheiten (Meter, Kilogramm, Sekunde) »für alle Zeiten und alle Völker« 18 geschaffen zu haben, noch vertieft werden, weil nun die Natur selbst eine dieser Einheiten vorgegeben hatte; heute ist die von der »International Union of Pure and Applied Physics« definierte Einheit der Länge gegeben durch die Lichtgeschwindigkeit: »Das Meter ist die Länge der Strecke, die das Licht im Vakuum während eines Zeitintervalls von 1/299792458 einer Sekunde zurücklegt.« Damit war aber auch der den leeren Raum erfüllende Äther hinfällig geworden. Nach der Relativitätstheorie sollten die Naturgesetze in allen gleichförmig relativ zueinander bewegten Bezugssystemen in unveränderter Form gelten. Der Äther zeichnete aber ein bestimmtes System aus, in dem er »ruhte«, in dem sozusagen »Äther-Windstille« 17 Minkowski, Hermann: Raum und Zeit. 80. Versammlung Deutscher Naturforscher in Köln 1908, in: Physikalische Zeitschrift 10 (1909), S. 104–111. 18 1799 beschloss der französische Nationalkonvent die Auflage einer Gedenkmedaille an die Begründung des neuen Maßsystems mit der Inschrift »A tous les temps, à tous les peuples«.
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie
herrschte, während in allen anderen Systemen »Ätherwind« beobachtbar sein müsste. Also schaffte Einstein den Äther ab! Das brachte aber andere Probleme mit sich, denn der Äther war ja das Medium, in dem sich elektro-magnetische Wellen ausbreiten konnten, der ihnen sozusagen das Schwingen ermöglichte wie die Luft den Schallwellen. Ohne Äther gab es also keine Licht-wellen! Einstein konnte dieses Problem nicht vollständig lösen, das schaffte erst die Quantenphysik. Aber er zog immerhin in Erwägung, dass Licht auch durch eine Teilchenbewegung beschreibbar war, dass Licht gewissermaßen auch als Teilchenstrom aufzufassen sei. Damit gab er den Anstoß zu einer Entwicklung, die schließlich in der Quantenphysik mündete. (Davon hatte sich Einstein aber später wieder distanziert.) In einem Vortrag vor der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte in Salzburg stellte Einstein 1909 seine Überlegungen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vor. 19 In der Diskussion nach Einsteins Vortrag meldete sich als erster Max Planck, der vor Einstein den ersten Anstoß zu solchen Überlegungen gegeben hatte (siehe Kap. IV/1). Planck war vorsichtig und wollte nichts zugestehen, was nicht vollständig abgesichert war. Er sagte daher: »Das scheint mir ein Schritt, der in meiner Auffassung noch nicht als notwendig geboten ist.« 20 Dennoch klingt aus seinem Einwand eine gewisse Sehnsucht nach der mechanistischen Denkweise, die gerade über Bord zu gehen schien. Er sagte: »Mechanisch erscheint das als unmöglich und man wird sich daran gewöhnen müssen. Auch unsere Versuche, den Lichtäther mechanisch darzustellen, sind ja vollständig gescheitert.« 21 19 Einstein, Albert: Über die Entwicklung unserer Anschauungen über das Wesen und die Konstitution der Strahlung, in: Physikalische Zeitschrift, Bd. 10 (1909), S. 821. Details in Pietschmann: Das Ganze und seine Teile, a. a. O. Dass sowohl die Einstein’sche Relativitätstheorie als auch die Quantentheorie schon früh von Philosophen und vor allem von Literaten rezipiert wurde, macht Elisabeth Ernter in ihrer bemerkenswerten Schrift Literatur und Quantenphysik. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren (1925– 1970), Berlin 1990, deutlich. 20 Planck, Max; zitiert in: Einstein, Albert: Über die Entwicklung unserer Anschauungen über das Wesen und die Konstitution der Strahlung, in: Physikalische Zeitschrift, Bd. 10 (1909), Nr. 22, S. 817–825, hier S. 825. 21 Planck zitiert nach Stachel, John (Ed.): The collected Papers of Albert Einstein, Princeton 1989, S. 585; siehe dazu auch: Jäckels, Gerhard: Naturalistische Anthropologie und moderne Physik – eine Kritik szientistischer und reduktionistischer Menschenbilder, phil. Diss., Trier 2007, S. 73.
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Das große Zurückschrecken vor dem »Zu-Ende-Denken«
4.
Das große Zurückschrecken vor dem »Zu-Ende-Denken« der eigenen Erkenntnis oder Die Schwierigkeit, den »Denkrahmen der Moderne« zu überwinden
a)
Max Planck
Niels Bohr hatte die Planck’sche Hypothese verwendet, um das Strahlungsspektrum des Wasserstoffs zu erklären. Er schrieb in seiner Originalarbeit: »Nun ist der wesentliche Punkt in der Strahlungstheorie von Planck, dass die Energiestrahlung eines atomaren Systems nicht kontinuierlich stattfindet, wie dies in der gewöhnlichen Elektrodynamik angenommen wird, dass sie im Gegenteil in deutlich getrennten Emissionen stattfindet, […]«. 22
Als Einstein mit seiner Teilchen-Hypothese des Lichtes (siehe Kap. IV/3) diesen »getrennten Emissionen« realen Charakter verlieh – wir nennen sie heute »Lichtquanten« –, wollte Planck nicht mehr folgen; er meinte: »Die Theorie des Lichtes würde nicht um Jahrzehnte, sondern um Jahrhunderte zurückgeworfen, bis in die Zeit, da Christian Huygens seinen Kampf gegen die übermächtige Newtonsche Emissionstheorie wagte […], und alle diese Errungenschaften, die zu den stolzesten Erfolgen der Physik, ja der Naturforschung überhaupt gehören, sollen preisgegeben werden um einiger noch recht anfechtbarer Betrachtungen willen?« 23
Tatsächlich war Einsteins Lichtquanten-Hypothese so kühn, dass sie von Max Planck nicht akzeptiert werden konnte. (Siehe den Brief Plancks von 1913 an die Preußische Akademie der Wissenschaften, Kap. III/2.)
b)
Albert Einstein
Selbst Albert Einstein, der als erster wagte, die reine Wellennatur des Lichtes in Frage zu stellen, wandte sich von der weiteren Entwicklung 22 Bohr, Niels: On the Constitution of Atoms and Molecules, in: Philosophical Magazine 26 (1913) S. 1–25. Original: »Now the essential point in Planck’s theory of radiation is that the energy radiation from an atomic system does not take place in the continuous way assumed in the ordinary electrodynamics, but that it, on the contrary, takes place in distinctly separated emissions, …«. 23 Planck, Max: Vorträge und Erinnerungen, Stuttgart 1949.
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie
der Quantenphysik ab, als er die weitreichenden Konsequenzen seiner mutigen Tat ahnte. Heute wissen wir, dass dieser »Dualismus« von Welle und Teilchen (oder kontinuierlich und diskret) nicht auf das Licht beschränkt bleibt, sondern für alle Teilchen im Mikrokosmos gilt. Albert Einstein und jene Kollegen, die seine Meinung teilten, hatten keine Probleme, die Quantenphysik zu verstehen, sie konnten sie nur nicht akzeptieren! Der Grund dafür war ein Festhalten am mechanistischen Konzept einer »Realität«, die in irgendeiner Form durch physikalische Gesetze »abgebildet« oder wenigstens »dargestellt« wird. Albert Einstein machte dies ganz deutlich. Er schrieb noch 1950 an Schrödinger: »Du bist (neben Laue) unter den zeitgenössischen Physikern der einzige, der sieht, dass man um die Setzung der Wirklichkeit nicht herumkommen kann – wenn man nur ehrlich ist. Die meisten sehen gar nicht, was sie für ein gewagtes Spiel mit der Wirklichkeit treiben.« 24
Der Nobelpreisträger Wolfgang Pauli schildert Einsteins Haltung wie folgt: »Mit lauter ›vielleicht‹ kann man doch keine Theorie machen, sagte er oft, und ›in der Tiefe ist es falsch, wenn auch empirisch und logisch richtig‹. Ein Denken in Gegensatzpaaren, anschauliche Bilder, die von der Wahl der Versuchsanordnung abhängen, primäre Wahrscheinlichkeiten, das konnte Einstein nicht akzeptieren. […] ›Physik ist doch die Beschreibung des Wirklichen‹, sagte er zu mir und fuhr mit einem sarkastischen Blick auf mich fort: ›oder soll ich vielleicht sagen, Physik ist die Beschreibung dessen, was man sich bloß einbildet?‹ Diese Frage zeigt deutlich Einsteins Besorgnis, dass durch eine Theorie vom Typus der Quantenmechanik der objektive Charakter der Physik verlorengehen könnte, indem durch deren weitere Fassung der Objektivität einer Naturerklärung der Unterschied der physikalischen Wirklichkeit von Traum oder Halluzination verschwommen werden könnte.« 25
Einstein hat selbst im vorgeschrittenen Alter erkannt, dass ihn seine Einwände gegen die Quantenphysik wohl nicht überleben werden.
Schrödinger, Erwin; Planck, Max; Einstein, Albert; Lorentz, Hendrik Antoon: Briefe zur Wellenmechanik, herausgegben von Karl Przibram, Springer Verlag, Wien 1976. 25 Pauli, Wolfgang: Physik und Erkenntnistheorie, Vieweg Verlag, Braunschweig 1984, S. 89. 24
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Das große Zurückschrecken vor dem »Zu-Ende-Denken«
Am 7. September 1944 schrieb er (wie erwähnt) an seinen Freund Max Born, der 1954 den Physik-Nobelpreis »für seine grundlegenden quantenmechanischen Arbeiten, insbesondere seine statistische Deutung der Wellenfunktion« erhielt: »Der große anfängliche Erfolg der Quantentheorie kann mich doch nicht zum Glauben an das fundamentale Würfelspiel bringen, wenn ich auch wohl weiß, dass die jüngeren Kollegen dies als Folge der Verkalkung auslegen.« 26
c)
Michael Giesecke
In seiner bemerkenswerten Dissertation Bild-Medien und WeltBild 27 wirft Mark Markus die Frage auf, ob dem – oben schon erwähnten – Medienwissenschaftler Michael Giesecke auf kommunikationswissenschaftlichem Feld womöglich eine ähnliche Rolle zukomme wie Max Planck im Bereich der Physik. 28 Nach Ansicht von Markus hat Giesecke – analog zu Plancks Entdeckung des Wirkungsquantums – eine Reihe bis dato unverstandener medienwissenschaftlicher Phänomene in ein derart neues Licht gerückt (vgl. Kap. III/10), dass dadurch das gängige Verständnis der »Mediagenese« (der Entstehung der modernen Massenmedien) prinzipiell in Frage gestellt werde. Dabei habe Giesecke jedoch – wie Planck – die revolutionäre Tragweite seiner Entdeckung selbst nicht gebührend beachtet, ja sogar – erneut analog zu Planck – versucht, diese in das bestehende Erkenntnisverständnis einzubauen. Dass Giesecke dies – wieder ähnlich zu Planck (ebenso) – nicht gelingt, vermag Markus in seiner Arbeit zu zeigen. Wie oben (vgl. Kap. III/11) dargelegt, illustriert Giesecke in seinem Standardwerk Der Buchdruck in der frühen Neuzeit in meisterhafter Weise den zunehmenden Bedarf nach Gedrucktem mit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts im Abendland, nachdem er zuvor plausibel macht, warum der Buchdruck (obwohl dieser in rein technischer Hinsicht teilweise schon Jahrhunderte früher vorlag) weder in Asien noch im vormodernen Europa kulturprägend werden konnte.
Einstein/Born: Briefwechsel 1916–1955, a. a. O., S. 204. Markus: Bild-Medien und Welt-Bild, a. a. O. 28 Vgl. Markus: ebd., Kap. II/3: Ist Michael Giesecke ein kommunikationswissenschaftlicher Max Planck?, S. 135–159. 26 27
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IV. Die parallele Genese der Quantentheorie
Doch erstaunlicherweise geht Giesecke auf den gesamten 800 Seiten seines erwähnten Werkes der Frage eigentlich nicht nach 29, wodurch schließlich am Beginn der Neuzeit jene positive Erwartungshaltung unterschiedlicher Bereiche in Bezug auf Schrift und Buchdruck entstand, bis dahin, dass das Typographeum sogar als »allerletztes Geschenk Gottes« aufgefasst wurde 30! Warum nicht? Dies lässt sich wohl nur dadurch erklären, dass er die Frage schon bzw. besser: immer noch für bereits beantwortet hält; beantwortet im Rahmen des vorherrschenden Paradigmas, demzufolge der Siegeszug des Buchdrucks in der abendländischen Neuzeit ein – keiner näheren Begründung bedürftiger – allgemein-menschlicher Fortschritt im Zuge der Erkenntnisevolution der Geistesgeschichte darstelle. Mit anderen Worten: Giesecke sieht die umfassende bzw. grundverändernde Bedeutung seiner eigenen Entdeckung nicht und versucht diese irgendwie ins gängige Verständnisschema der »Mediagenese« zu integrieren. Dies ist umso erstaunlicher, als Giesecke an besagter Stelle ebenso stimmig nachweist, dass die mittelalterliche Vormoderne in Europa keine »Noch-Nicht-Buchdruck-Kultur« war, die quasi in den Startlöchern stand, bis die nötigen drucktechnischen Entdeckungen gemacht waren. In ähnlicher Weise verfasste Max Planck – ebenso in Verkennung der eigentlichen Dimension seiner Quanten-Entdeckung – noch 1913 sein Gutachten zur Aufnahme Albert Einsteins in die Kaiser Wilhelm Gesellschaft (siehe Kap. IV/4a).
Markus (ebd., S. 140) schreibt dazu: »Einerseits hat Giesecke eine einzigartige Einsicht in den Umstand, wie weit die kommunikativen Gewohnheiten des Mittelalters von einer Schriftbegeisterung entfernt waren. Andererseits weiß er wie kein anderer auch um die anhaltende Schrifthysterie der Neuzeit, um die Tatsache also, dass man sich von der Schrift vieles, ja beinahe alles versprach. Trotzdem geht Michael Giesecke nicht näher auf die Frage ein, weshalb nun die Schrift in der Neuzeit dermaßen an Bedeutung zulegen und kulturprägend werden konnte.« 30 Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit, a. a. O., S. 159 sowie S. 504 ff. 29
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V. Die parallelen Erkenntnis-Revolutionen der Quantentheorie und des Dialogischen Denkens in den 1920er Jahren
In der Folge wollen wir uns nun jenen zwei »Erkenntnis-Revolutionen« zuwenden, die – unabhängig voneinander, jedoch zeitlich praktisch parallel – in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts vor sich gingen: Gemeint sind die beiden paradigmenstürzenden Konzeptionen der Quantentheorie und des Dialogischen Denkens.
1.
Die Quantentheorie als erstmalige Überwindung des »Denkrahmens der Moderne«
Bis an das Ende des 19. Jahrhunderts war der Denkrahmen der Moderne unangefochtene Grundlage der so genannten »klassischen Physik«. Die theoretischen Beschreibungen in der Physik umfassten mehrere, getrennte Kapitel, von denen einige die Begriffe der Kontinuums-Physik (u. a. Wellen-Phänomene), andere die der »Physik der Massenpunkte« (u. a. Teilchen-Phänomene) gebrauchten. Begriffsbildungen und physikalische Vorgänge waren in den beiden Bereichen grundverschieden und unvereinbar. Die alte Newton’sche Teilchentheorie des Lichtes war verworfen worden, weil Licht durch sein Interferenz-Vermögen eindeutig als Wellenbewegung erkannt worden war. Licht und die gesamte Elektrodynamik gehörten zur Kontinuumsphysik. Im Jahre 1897 entdeckte J. J. Thomson das Elektron. 1 Damit wurde erstmalig klar, dass die Teilbarkeit einer bis dahin kontinuierlich gedachten Größe, der elektrischen Ladung, eine grundsätzliche Grenze hat! Die Ladung des Elektrons, die elektrische Elementarladung, ist 1 Für Details siehe z. B. Weinberg, Steven: Teile des Unteilbaren – Entdeckungen im Atom, Verl. Spektr. d. Wiss., Heidelberg 1984; oder Lemmerich, Jost: The History of the Discovery of the Electron, in: Proc. 18. Int. Symp. Lepton-Photon Interactions, World Scient. Publ., Singapore 1998, S. 617 ff.
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
einerseits endlich (größer als Null), andererseits nicht mehr weiter teilbar. Wir können symbolisch die Elementarladung als »Atom der elektrischen Ladung bezeichnen«. Nach der Entdeckung des Elektrons stellte sich die Frage nach dem Aufbau des Atoms. Experimentell war sichergestellt, dass Atome im Grundzustand elektrisch neutral und (meist) kugelförmig sind. J. J. Thomson entwarf daher ein Atommodell, wonach die Atome positiv geladene Kügelchen sind, in denen die negativ geladenen Elektronen stecken. Positive und negative Ladung sollten einander gerade kompensieren, sodass das ganze Atom neutral wäre. Dieses Thomson’sche Modell wird manchmal sehr anschaulich als »Rosinenkuchen-Modell« bezeichnet, weil die Elektronen wie Rosinen im (kugelförmigen) positiven Teig stecken. Heute wird dieses Modell meist als Notlösung in einer neuen Situation beschrieben, es hatte aber durchaus Erfolge aufzuweisen. Die Elektronen sollten im Atom regelmäßig angeordnet sein, um die Stabilität zu garantieren. Die Periodizität der chemischen Atome, die wir aus dem Periodensystem kennen, ergab sich ganz natürlich aus den geometrischen Anordnungen der Elektronen. Das einfachste Atom, das Wasserstoffatom, bestand demnach aus einem kleinen Kügelchen positiv geladener »Teigmasse«; im Mittelpunkt befand sich ein Elektron, das die Ladung des »Teiges« gerade kompensierte. Kam dieses Elektron durch Anregung in Schwingung, dann konnte es Licht abstrahlen. Allerdings nur Licht einer ganz bestimmten Wellenlänge, die gerade dem Schwingungsmodus des Elektrons entsprach. Das Thomson’sche Atommodell hatte also keine Probleme, die Stabilität und geometrische Gestalt der Atome darzustellen; aber es konnte nicht erklären, wieso Wasserstoff Licht mit einer Fülle von konkreten Wellenlängen abstrahlte. Das so genannte »Linienspektrum« des Wasserstoffs war empirisch gut bekannt und stellte eine Herausforderung an theoretische Physiker dar, dieses Spektrum quantitativ zu erklären. Der nächste Schritt in die Welt der Atome gelang Ernest Rutherford, einem gebürtigen Neuseeländer. 1895 ging er nach Cambridge zu J. J. Thomson. Im folgenden Jahr wurde die Radioaktivität entdeckt und Rutherford erkannte den Unterschied zwischen Alphaund Beta-Strahlen. Im Jahre 1911 machte er Experimente mit Alpha-Strahlen, die er an Goldfolien streute, und registrierte die Verteilung der Streuwinkel. Nach dem Thomson’schen Atommodell soll172 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Die Quantentheorie
ten Alpha-Strahlen ziemlich ungestört durch Metallfolien hindurchgehen. Es stellte sich aber heraus, dass einige von ihnen stark gestreut, ja sogar zurückreflektiert wurden. Die Verblüffung darüber formulierte Rutherford mit einem dramatischen Vergleich: Das war so, wie wenn man »eine 15-Zoll Marinegranate gegen ein Papiertaschentuch schießt und sie wird zurückreflektiert.« 2 Also schloss Rutherford, dass die positive Ladung nicht wie im Thomson’schen Modell im ganzen Atom als »Teig« verteilt ist, sondern dass im Atom eine Art »Kern« die gesamte positive Ladung in sich vereint. Das war die Entdeckung des Atomkerns im Jahre 1911. 3 Das Thomson’sche Rosinenkuchenmodell war damit zu Grabe getragen worden. Wie aber sollte man sich das Atom vorstellen? Wenn nahezu punktförmige Teilchen in einem System gebunden sind, dann erinnert das vielleicht an das Planetensystem, und so ungefähr stellte sich Rutherford das Atom vor. Elektronen sollten wie Planeten um den Atomkern kreisen. Aber damit waren unlösbare Probleme verbunden. Wenn geladene Teilchen sich auf Kreisbahnen bewegen, dann strahlen sie Energie ab; das ist ein Grundgesetz der Elektrodynamik, auf diesem Gesetz beruht jede Sendeantenne. Also konnte ein solches Atom nicht stabil sein. Es konnte auch nicht das Linienspektrum des Wasserstoffs erklären, ja im Gegensatz zu Thomson nicht einmal eine einzige Linie. Die Physik war durch die Entdeckung des Atomkerns in eine tiefe, unüberbrückbar scheinende Krise gestürzt. In dieser kritischen Situation half der Zufall: Ein begabter, junger Theoretiker aus Dänemark namens Niels Bohr kam nach Manchester, um mit Rutherford zu arbeiten. Inzwischen hatte es eine andere Entwicklung gegeben, die vielleicht hilfreich sein konnte. Ähnlich wie die Elementarladung des Elektrons einen Bruch in die Kontinuumsphysik getragen hatte, war durch Max Planck eine andere Naturkonstante – das so genannte Planck’sche Wirkungsquantum – entdeckt worden, die das klassische Bild zerstörte: Elektromagnetische Strahlung konnte – bei gegebener Wellenlänge – immer nur in ganzzahligen Vielfachen des Produkts
Original: »It was as if a 15-inch naval shell had been fired at a piece of tissue paper and it bounced back.« 3 Weil Rutherford drei Jahre zuvor den Nobelpreis für Chemie »für seine Untersuchungen über den Zerfall der Elemente und die Chemie radioaktiver Stoffe« erhalten hatte, wurde für diese sensationelle Entdeckung nie ein Nobelpreis vergeben. 2
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
dieser Konstante mit der Frequenz der Strahlung ausgesandt oder absorbiert werden (siehe Kap. IV/1). Wenn dies ein allgemeines Naturgesetz sein sollte, dann konnte auch das Wasserstoffatom Licht nur in bestimmten »Portionen« – so genannten »Quanten« – aussenden. Diesen »Portionen« mussten dann die Linien des Spektrums entsprechen. Aber das widersprach der klassischen Elektrodynamik, also musste sie Bohr für die Atomphysik außer Kraft setzen; wahrlich eine gewagte Tat! Bohr machte nun einen mathematischen Ansatz, der sich später als falsch herausstellen sollte; 4 aber mittels dieses Ansatzes gelang es ihm, die empirische Formel für das Wasserstoff-Spektrum zu berechnen. Das war ein so lange erwartetes Ergebnis, dass es zunächst als großer Triumph gefeiert wurde. Bohr erhielt dafür im Jahre 1922 den Nobelpreis »für seine Verdienste um die Erforschung der Struktur der Atome und der von den Atomen ausgehenden Strahlung«. Das Bohr’sche Atommodell, in dem Elektronen wie Planeten auf bestimmten Bahnen um den Atomkern kreisen, ist eigentlich absurd! Das Wasserstoffatom wäre ein Scheibchen und keine Kugel, die ganze Konstruktion wäre so fragil, dass sie die Festigkeit der Materie niemals erklären könnte. Aber es ist das letzte mechanistische Atommodell, das in den Denkrahmen passt, und daher das letzte Atommodell, das man noch »verstehen« kann. Also bleibt es in der allgemeinen Vorstellung weiterhin als Atommodell schlechthin gültig. Die folgenden zwölf Jahre werden manchmal als die »heroische Epoche« der Physik bezeichnet und mit den Worten charakterisiert: Nie haben so wenige in so kurzer Zeit so viel geschaffen, nämlich die Quantenphysik! In diesen Jahren wurde ein ganz neuer Denkrahmen entwickelt, der es erlaubte, die Physik des Mikrokosmos mathematisch zu begreifen. Auf Anschaulichkeit musste dabei allerdings verzichtet werden. Dies führte den Nobelpreisträger Richard Feynman zu seinem berühmten Ausspruch: »Selbst Experten verstehen sie nicht so, wie sie gerne wollten, und das ist auch in Ordnung, weil sich alle menschliche Erfahrung und Intuition auf große Objekte bezieht.« 5 Bohr nahm an, dass der Drehimpuls des kreisenden Elektrons ein ganzzahliges Vielfaches der Planck’schen Konstante sei. Dieser Zusammenhang ist aber viel komplexer. Siehe Pietschmann, Herbert: Quantenmechanik verstehen. Eine Einführung in den Welle-Teilchen-Dualismus, Springer Verlag, Berlin 2003, S. 131. 5 Feynman, Richard P.: Lectures on Physics – Quantum Mechanics, Addison-Wesley, Reading/Massachusetts 1965, 1–1. Original: »Even the experts do not understand it 4
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Die Quantentheorie
Wir werden diese Entwicklung an mehreren Stellen im Detail beschreiben (siehe Kap. VI/1). Hier sei nur das Ergebnis zusammengefasst: In der Quantenphysik bleibt von den vier Säulen des mechanistischen Denkrahmens nur die erste (alles messen) bestehen. Auch diese erfährt grundsätzliche Einschränkungen, einerseits durch die Heisenberg’sche Unbestimmtheitsrelation (siehe VI/1b), andererseits durch die Tatsache, dass durch die Messung die Eigenschaften des gemessenen Objekts erst hergestellt (und nicht nur festgestellt) werden (siehe V/3a). Die zweite Säule des Denkrahmens muss ersetzt werden durch die Erkenntnis, dass das Ganze nicht mehr ist als die Summe seiner Teile, sondern etwas ganz anderes! Wolfgang Pauli sagt dazu: »Die Phänomene haben somit in der Atomphysik eine neue Eigenschaft der Ganzheit, indem sie sich nicht in Teilphänomene zerlegen lassen, ohne das ganze Phänomen dabei jedes Mal wesentlich zu ändern.« 6 (Siehe Kap. V/3d). Erinnert sei auch an Erwin Schrödinger: »Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten, treten, wie wir gesehen haben, nicht etwa ihre ψ-Funktionen in Wechselwirkung, sondern die hören sofort zu existieren auf und eine einzige für das Gesamtsystem tritt an ihre Stelle.« (Kap. VIII/3) Schließlich ist durch den Welle-Teilchen Dualismus (vgl. Kap. II/1) klar gestellt, dass die Quantenphysik nicht mit den Forderungen der Aristotelischen Logik vereinbar ist, dass sie also nur aporetisch aufgefasst werden kann. Der in der Quantenphysik gebrauchte Begriff ist »Komplementarität« (vgl. Kap. VIII/6). Die vierte Säule des mechanistischen Denkrahmens wird durch die Quantenphysik ebenfalls negiert (Siehe das Zitat von Anton Zeilinger in Kap. III/3). Albert Einstein hat sich mit dem berühmten Ausspruch »Gott würfelt nicht« aus diesem Grund von der Quantenphysik abgewandt (siehe Kap. IV/2b). Damit ist der Paradigmenwechsel inhaltlich vollzogen, hat sich aber – wie bei fundamentalen Paradigmenwechseln naheliegend – noch nicht wirklich allgemein durchgesetzt. Immer noch herrscht die Meinung vor, das Atom sei einem kleinen Planetensystem vergleichbar und Ereignisse ohne konkrete Ursache seien ebenso undenkbar wie das Auftreten von Widersprüchen in der Materie. the way they would like to, and it is perfectly reasonable that they should not, because all of direct, human experience and of human intuition applies to large objects.« 6 Pauli: Physik und Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 115.
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
2.
Das Dialogische Denken als Überwindung des autonomen Subjekt-Konzepts der Moderne – und damit ebenfalls des »Denkrahmens der Moderne«
Um die Bedeutung des Dialogischen Denkens als Überwindung des autonomen Subjekt-Konzepts der Moderne (bzw. des damit verbundenen Denkrahmens) relevant ins Licht zu rücken, scheint es angebracht, wenn wir als Ausgangspunkt unserer Überlegungen jene – oben schon erwähnte – mit der Moderne (bzw. der damit verbundenen Etablierung der Materie als Grundelement der Wirklichkeit) aufkommende Problemstellung wählen, die der Physiker unter den Autoren wie folgt beschrieben hat: »Entweder wir gründen die einfachen Substanzen als Atome (oder Elementarteilchen) in der Materie, dann können wir den Geist nicht finden; oder wir gründen sie als Monaden im Geist, dann können wir Kommunikation nicht verstehen.« 7 Anders ausgedrückt: Wird Kommunikation materieanalog zu begreifen versucht, kann dies nicht anders geschehen denn in Gestalt notwendiger Wechselwirkung (Interaktion), d. h. ohne Möglichkeit zu Verhaltensvariabilität, die Kommunikation für gewöhnlich gerade kennzeichnet. Wird umgekehrt individueller menschlicher Geist – und damit die Möglichkeit zu nicht-determinierten Handlungen – vorausgesetzt, dann lässt sich nicht ersichtlich machen, wie Kommunikation zwischen menschlichen Individuen (als »Geist-Monaden«) möglich sein soll. Die Gestaltwerdung jener spezifischen Denkrichtung im Europa 8 der 1910er und 1920er Jahre, die inzwischen als Dialogphilosophie oder Dialogisches Denken 9 bezeichnet wird, ist insofern als Reaktion auf die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend bewusst werdende Unselbstverständlichkeit des mitmenschlichen Ich-DuVerhältnisses anzusehen. Bernhard Casper, einer der großen Kenner dieser Denkrichtung, fasst Genese, Hauptvertreter und inhaltlichen Fokus des Dialogischen Denkens wie folgt zusammen:
Pietschmann, Herbert: Die Atomisierung der Gesellschaft, Wien 2009, S. 115. Dabei wiederum speziell im deutschsprachigen Raum, doch ebenfalls in anderen Ländern (u. a. Frankreich, Niederlande, Spanien, Russland); vgl. dazu: Böckenhoff, Josef: Die Begegnungsphilosophie. Ihre Geschichte – ihre Aspekte, Freiburg / München 1970. 9 Böckenhoff nennt diese Denkrichtung auch »Begegnungs-Philosophie« (siehe ebd.) 7 8
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Das Dialogische Denken
»Angesichts dieser [oben skizzierten] Problemlage gewinnen die Gedanken einer Gruppe von Denkern Bedeutung, die ihr Denken selbst das dialogische nennen. Im deutschen Sprachraum sind dies vor allem Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihre entscheidenden Gedanken fast gleichzeitig und weitgehend, ohne voneinander zu wissen 10, in dem kurzen Zeitraum von 1917–1923 entwickeln und daß dabei das phänomenale Feld des Denkens bei allen dreien Geschichte und Sprache sind …« 11
Neben den von Casper genannten Hauptvertretern Franz Rosenzweig (1886–1929), Ferdinand Ebner (1882–1931) und Martin Buber (1879–1965) werden inzwischen auch andere, etwa Eugen Rosenstock-Huessy (1888–1973) 12 oder Michael Bachtin (1895–1975) zu den dialogischen Denkern gerechnet 13, in indirekter Weise neuerdings auch Edith Stein. 14 Analog zur Quantentheorie werden auch im Kontext des Dialogischen Denkens zentrale Säulen des »Denkrahmens der Moderne« Dieses Nichtwissen gilt – wie inzwischen von der jüdischen Philosophin Rivka Horwitz ersichtlich gemacht – nur bedingt, was die Buber’sche Kenntnis vom Werk Ebners anbelangt (vgl. dazu: Horwitz, Rivka: To the History of Martin Buber’s book ›I and Thou‹ (Hebrew), Jerusalem 1975; Buber’s Way to ›I and Thou‹. An Historical Analysis and the First Publication of Martin Buber’s Lectures ›Religion als Gegenwart‹, Heidelberg 1978 sowie Ebner und Buber, Rosenzweig und Ehrenberg, in: Methlagl, Walter (u. a. Hrsg.): Gegen den Traum vom Geist. Beiträge zum Symposion Gablitz 1981, Salzburg 1985, S. 97–115. Dort (S. 100) schreibt die jüdische Gelehrte wörtlich: »Über Bubers Übergang vom [Monistisch-]Mystischen zum Dialogischen hat man bis heute nur wenig gewußt. In meiner Arbeit habe ich gezeigt, daß Buber von 1920–1922 Ebner gelesen hat und dann auch mit Rosenzweig befreundet war. […] Bubers Aussage, daß er von Ebner nicht beeinflußt war, ist im Gegensatz zu meinen philosophischen Beweisen und für mich unannehmbar.« 11 Casper, Bernhard: Das dialogische Denken, Freiburg – Basel – Wien 1967, S. 12 f. 12 Vgl. etwa den von Karl-Heinz Brodbeck, Stefan Grätzel und Bernd Schuppener herausgegeben Band: Eugen Rosenstock-Huessy: Die kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, München 2012. 13 Zu den Vorläufern des Dialogischen Denkens sind unter anderen zu zählen: Johann Georg Hamann (1730–1788), Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), Ludwig Feuerbach (1804–1872), Sören Kierkegaard (1813–1855), Georg Simmel (1858–1918), die in je unterschiedlicher Weise Elemente des Dialogischen Denkens vorweggenommen haben. 14 Auf diesen Zusammenhang verwies unlängst (2014) Hanna Barbara Gerl-Falkovitz, indem sie ersichtlich machte, dass Edith Stein (1891–1942), Husserls Meisterschülerin, obwohl sie die zeitgleiche Dialogphilosophie nicht zur Kenntnis nimmt, dennoch in den 1920er Jahren eine eigenständige »Phänomenologie der Person« entwickelt, in der sie den Menschen als das »In-Begegnung-werdende-Wesen« entfaltet. Vgl. http:// www.ebner-gesellschaft.org/aktuelles/hanna-barbara-gerl-falkovitz-in-innsbruck 10
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
– diesmal im Hinblick auf den Menschen – prinzipiell in Frage gestellt. Explizit zu nennen sind hierbei die Aufkündigung des Primats der Materie durch die »Reprimatisierung des Geistes«, die Infragestellung des widerspruchsfreien Verständnisses des Menschen in der Moderne durch die Ersichtlichmachung von dessen grundsätzlich aporetischer Natur 15 sowie die Überwindung der Vorstellung des Menschen als eines »autonomen Subjekts« durch das Postulat der Notwendigkeit eines verbindenden (geistigen) »Dritten« zur Konstituierung von Ich und Du. Wir werden darauf gleich näher zurückkommen (Kap. V/4 bzw. VI/2).
3.
Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie
a)
Die Aporie diskret-kontinuierlich
Die Aporie diskret-kontinuierlich ist seit den Vorsokratikern bekannt. Am deutlichsten hat sie Zenon von Elea, ein Schüler des Parmenides, formuliert. Am bekanntesten ist die Aporie, wonach Achilles eine Schildkröte nicht einholen kann, weil sie immer schon ein kleines Stückchen weiter ist, wenn Achilles ihren vorher eingenommenen Platz erreicht. Am wichtigsten ist jedoch die Aporie vom fliegenden Pfeil, der sein Ziel nicht erreichen kann; sie ist die reinste Form der Aporie von diskret und kontinuierlich. Nach Zenon muss der Pfeil, ehe er sein Ziel erreicht, die halbe Strecke durchlaufen; dann hat er aber wieder eine Strecke vor sich, deren Hälfte er zunächst zurücklegen muss und so weiter. Manchmal wird diese Aporie als Scheinproblem dargestellt, das längst gelöst sei. Es handelt sich aber um eine echte Aporie, die im Sinne des logisch-analytischen Denkens unlösbar bleibt. Zenon hat in der damaligen Sprache einen mathematischen Satz formuliert, der heute noch in jeder Anfänger-Vorlesung der Mathematik gelehrt wird, nämlich: »Eine unendliche Folge kann sich einem Grenzwert beliebig nähern, ohne ihn je zu erreichen.« 16 Ein anderer Vorsokratiker, Demokrit von Abdera, hat die Aporie Dies durch die Infragestellung sowohl der substanzial-monadischen wie relationalsystemischen Konzeption. 16 Für eine Diskussion der operationalen Bewältigung dieser Aporie durch die moder15
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Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie
von diskret und kontinuierlich einfach beiseitegeschoben, indem er definierte, die Atome und der leere Raum seien die einzigen existierenden Dinge. Er hat damit gewissermaßen die neuzeitliche Rolle der Physik vorweggenommen, weil er die von ihm eingeführten Begriffe pragmatisch gebrauchte, ohne sie bis zu ihren Aporien weiter zu denken. Der »leere Raum« ist nur aporetisch zu verstehen 17 und Atomen im leeren Raum fehlen die Kräfte, die sie in Bewegung bringen. Aristoteles hat daher Demokrit kritisiert: »Leukippos aber und sein Genosse Demokritos setzen als Elemente das Volle und das Leere, deren eines sie das Seiende, das andere das Nichtseiende nennen. […] Die Frage aber nach der Bewegung, woher denn oder wie sie bei dem Seienden stattfinde, haben auch diese mit ähnlichem Leichtsinn wie die übrigen beiseite gesetzt.« 18
Mit dem Atom-Begriff ist die Aporie von diskret und kontinuierlich untrennbar verbunden! Wer versucht, die kontinuierlich erscheinende Materie auf letzte, unteilbare Einheiten zurückzuführen, wird unweigerlich auf diese Aporie stoßen! (Demokrit nannte diese Einheiten »Atome«, heute sind es die elementaren Teilchen. 19) Wenn die letzten Einheiten keine Ausdehnung besitzen (also »punktförmig« sind), kann aus ihnen nichts Ausgedehntes zusammengesetzt werden, und wenn sie selbst schon ausgedehnt sind, können sie nicht unteilbar sein, weil Ausdehnung geradezu synonym mit »teilbar« gedacht werden kann. Die Quantenphysik ist im 20. Jahrhundert auf diese Aporie gestoßen, nachdem sie einsehen musste, dass mechanistische Vorstellungen (das Bohr’sche Atommodell) zur Lösung der Probleme bzw. zur Überwindung der Aporie nicht ausreichen (siehe Kap. III/1a). Werner Heisenberg hat das resigniert festgestellt: »Die Schwierigkeiten und inneren Widersprüche, die einem Verständnis der Atome und ihrer Stabilität entgegenstanden, konnten nicht etwa gemildert oder beseitigt werden. Im Gegenteil, sie traten immer schärfer hervor. Jeder Versuch, sie mit den begrifflichen Mitteln der früheren Physik zu bewältigen, schien von vornherein zum Scheitern verurteilt.« 20 ne Mathematik siehe Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., Kap. 3.3. 17 Siehe z. B. Schwarz: Raum und Zeit als naturphilosophisches Problem, a. a. O. 18 Aristoteles: Metaphysik I, 985b 19 Quarks, Leptonen und Bosonen. 20 Heisenberg: Der Teil und das Ganze, a. a. O., S. 85.
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
Die physikalischen Objekte des Mikrokosmos zeigen sowohl diskrete (Teilchen-)Eigenschaften als auch kontinuierliche (Wellen-)Eigenschaften. Da diese nicht widerspruchslos vereint werden können, ist es nicht möglich, von der Natur solcher Objekte unabhängig von ihrer Messung zu sprechen. Erst bei einer Messung stellen sich entweder Teilcheneigenschaften (z. B. ein bestimmter Ort oder eine bestimmte Bahn) oder Welleneigenschaften (z. B. Interferenz) – aber niemals beide zugleich – ein. Damit ist das unerwartet Neue der Quantenphysik angesprochen: Die Eigenschaften eines Objektes werden in der Quantenphysik durch die Messung nicht festgestellt, sondern erst hergestellt! Aus historischen Gründen werden die beiden komplementären Aspekte (kontinuierlich und diskret) mit den Begriffen »Welle« und »Teilchen« verbunden; wegen ihrer »widersprüchlichen Vereinigung« spricht man daher vom »Welle-Teilchen-Dualismus« oder von Komplementarität. Damit ist gemeint, dass wir in konkreten Beispielen die mathematischen Ergebnisse entweder statistisch (Aufenthaltswahrscheinlichkeit des Elektrons als »Teilchen«) oder als Verteilung (Ladungsdichte des »verschmierten« Elektrons) interpretieren können. Wichtig ist aber, dass auf keine der beiden Interpretationen verzichtet werden kann, weil sich sonst Fehler einstellen. 21 Wir weisen besonders darauf hin, dass Komplementarität nicht dialektisch verstanden werden kann. Dieser Unterschied ist deshalb so wichtig, weil er auf die fundamentale Differenz von Interaktion und Kommunikation verweist. Da die Quantenphysik Materie beschreibt, bleibt sie auch dann vollständig im Bereich der Interaktion, wenn Aporien auftreten!
b)
Das »Kausalitätsdogma« oder Der mühsame Weg von der Kausalität über die A-Kausalität zur Transkausalität
Wir erinnern uns (vgl. Kap. III/3): Mit dem »Denkrahmen der Moderne« untrennbar verbunden ist die Vorstellung der klassischen Kausalität in der Physik. Aus mathematisch formulierten Bewegungsgleichungen, die für relevante Messgrößen (z. B. Energie, Impuls etc.) gefunden werden, werden allgemeine Gesetze abgeleitet, die 21 Siehe dazu Pietschmann: Quantenmechanik verstehen, a. a. O., oder das Video Aufbruch in die Quantenwelt ([email protected])
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Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie
es ermöglichen, bei gegebenen Anfangsbedingungen eines zu beschreibenden Systems die weitere zeitliche Entwicklung des Systems eindeutig vorherzusagen. Ziel dieser Vorgangsweise ist es, notwendige Ablaufsfolgen zu ermitteln, die eine präzise (mathematische) Vorausberechnung von Interaktionen ermöglichen. Ursprünglich allein auf die Materie angewandt, kam es in dem Maße, als die »naturwissenschaftliche Methode« – in Wechselwirkung mit den »Segnungen der Technik« – von Erfolg zu Erfolg eilte, dazu, diese Methode auch auf die Bereiche des Lebendigen bzw. des Menschlichen zu übertragen und dort zur Anwendung zu bringen. 22 Hermann Krings illustriert diesen Vorgang sehr anschaulich wie folgt: »Man entdeckte [im Kontext der Moderne] die Möglichkeit der Erklärung der Natur als [kausale] Ereignisse. Doch um diese Möglichkeit [auch für den Bereich des Lebendigen bzw. Humanen] zu realisieren, mußte die [lebendige] Natur zum Schweigen gebracht werden. Man brachte sie zum Schweigen, und nun war der Weg frei fürs [kausale] Erklären. Die Folge ist, daß man nicht exakt feststellen kann, ob die [lebendige] Natur redet [kommuniziert]; denn eben dies, daß sie nicht redet [kommuniziert], ist die Voraussetzung exakten Feststellens.« 23
Ganz ähnlich sagt Reinhard Löw: Biologie, die Wissenschaft vom Leben, definiere sich durch die Anstrengung, das Lebendige auf das Tote zu reduzieren. 24 Diese Vorgangsweise ist deshalb möglich, weil alles beobachtbare Lebendige bzw. Menschliche immer auch materiale Anteile hat, die gemäß naturwissenschaftlich-kausaler Methodik analysierbar sind. Sie erscheint dann legitim bzw. angezeigt, wenn angenommen wird, dass Materie das eigentliche Grundelement der Wirklichkeit darstellt. Denn in diesem Fall stellt alles Lebendige, Menschliche bzw. Geistige ein Epiphänomen der Materie dar, das sich prinzipiell auf materiale »Bestandteile« reduzieren und – ausgehend von diesen – verstehen lässt. Vgl. dazu aktuell: Grätzel, Stephan: Die Ideologisierung der Kausalität als Folge einer »Entideologisierung« der Schuld, in: Enders, Markus (Hrsg.): Jahrbuch für Religionsphilosophie, Band 9, Frankfurt/Main 2010, S. 25–39. 23 Krings, Hermann: Kann man die Natur verstehen?, in: Kuhlmann, Wolfgang; Böhler, Dietrich (Hrsg.): Kommunikation und Reflexion, Suhrkamp-Verl., Frankfurt/ Main 1982, S. 371–398, hier S. 391. 24 Siehe Reinhard Löw: Philosophie des Lebendigen. Der Begriff des Organischen bei Kant, sein Grund und seine Aktualität, Suhrkamp Verl., Frankfurt/Main 1980. 22
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
In diesem Sinne bemerkt Euler 25 1908: »Mit jedem experimentellen Fortschritt in der Pflanzenphysiologie wird es deutlicher, daß diese Wissenschaft früher oder später mit der Pflanzenchemie zusammenfallen wird. Seitdem es allgemein anerkannt ist, daß ein prinzipieller Unterschied zwischen chemischen Reaktionen [Interaktionen] außerhalb und innerhalb des lebendigen Organismus nicht besteht, muß es die Aufgabe der Physiologie sein, die Lebenserscheinungen [bzw. damit verbundene Kommunikationsereignisse] als chemische Reaktionen darzustellen.« 26
Zwar taucht in etwa zur selben Zeit, Anfang des 20. Jahrhunderts, auch eine neue Spielart vitalistischer Theorien auf, deren Vertreter (hier vor allem zu nennen: Hans Driesch) die Ansicht vertreten, dass die Existenz bzw. die Konstanz der Lebewesen nicht kausal-mechanistisch, also im Sinne einer »Maschinentheorie des Lebendigen«, plausibel erklärt werden könne, sondern eine »Eigengesetzlichkeit des Lebendigen« angenommen werden müsse. Doch setzt sich – ausgehend von den USA – in den 1920er und 1930er Jahren schließlich ein weitestgehend uneingeschränkter, experimentbasierender, kausal-mechanistischer Erkenntnisoptimismus in der Erforschung des Lebendigen durch. Mit der Entdeckung der DNA (1953) bzw. der damit verbundenen Hoffnung, das Leben restlos »entschlüsseln« zu können, gewinnt schließlich die Vorstellung an Boden, dass es tatsächlich keine – prinzipielle – Grenze in der mechanistisch-kausalen Erforschung des Lebens gäbe. In diesem Zusammenhang vollzieht die Biologie im Verlauf des 20. Jahrhunderts den Wandel von einer »weichen« beschreibenden Wissenschaft hin zu einer »harten« – an Physik, Chemie und Mathematik orientierten – Naturwissenschaft. Führen wir uns die eigentliche biowissenschaftstheoretische Herausforderung der Gegenwart vor Augen, so können wir – in Abwandlung eines Zitats von Rehmann-Sutter – wie folgt formulieren: Dass Lebendiges mit Beziehungsgeschehen verbunden ist, stellt ein offensichtliches Faktum dar. Aber wie dieses Beziehungsgeschehen nun genauerhin aufzufassen ist, kann nicht geklärt werden ohne Rückgriff auf ein vorausgesetztes (Vor-)Verständnis von BeziehungsHans von Euler (1873–1964): Schwedischer Chemiker deutscher Herkunft. Er erhielt 1929 zusammen mit Arthur Harden den Nobelpreis für Chemie für die Erforschung der alkoholischen Gärung von Kohlehydraten und die Rolle der dabei beteiligten Enzyme. 26 Euler zitiert nach Jahn, Ilse: Geschichte der Biologie, 3. Aufl., Hamburg 2004, S. 506. 25
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Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie
geschehen im Kontext des Lebendigen, das eines von mehreren möglichen Verständnissen darstellt. Ein mögliches Verständnis besteht z. B. in der Voraussetzung, dass Leben die Summe von physiko-chemischen Interaktionen – und nichts sonst – darstellt. Eine andere – davon prinzipiell zu differenzierende – Ansicht vertritt die Auffassung, dass Leben letztlich nicht (nur) mehr ist als die Summe von physiko-chemischen Ablaufsfolgen, sondern etwas ganz anderes. •
• •
Beide Vorstellungen sind dabei vor dem Hintergrund des offenkundigen Faktums lebendigen Beziehungsgeschehens entwickelt; beide weisen auf eine ihres Erachtens notwendige Weiterentwicklungsrichtung biowissenschaftlicher Forschung hin; doch beide verweisen dabei in diametral entgegengesetzte Richtungen.
Während die zweitgenannte Vorstellung die Problematik gegenwärtiger biowissenschaftlicher Forschung – auch hinsichtlich des Beziehungsgeschehens des Lebendigen – gerade darin erblickt, dass diese nicht unterscheidet zwischen kausalen physiko-chemischen Prozessen (Interaktionen) und unreduzierbaren Weisen von Kommunikation 27, vertreten die Verfechter der erstgenannten Ansicht die genau umgekehrte Theorie: Biowissenschaftliche Forschung basiere noch immer zu wenig auf einem kausalen Erkenntnis-Schema. Dies wird etwa deutlich, wenn Walter Senn programmatisch erklärt: »Um wirklich eine Leitwissenschaft zu werden, […] muss [für die Biologie] ein kausales Verständnis verlangt werden. Nur wenn die biologischen Prozesse begrifflich reduziert werden und die Theorie stufenweise eine kausale Verbindung von [molekularen physiko-chemischen] mikroskopischen Prozessen zu makroskopischen [Lebens- bzw. Kommunikations-] Phänomenen ermöglicht, werden wir die biologischen Prozesse zu unserem allgemeinen Nutzen instrumentalisieren können. […] Mit zunehmendem Grade der Mathematisierung durch begriffliche Reduktion können die Erkenntnisse der Biologie vermehrt kausal in ein Gesamtsystem integriert und technisch nutzbar gemacht werden.« 28
Vgl. Ulrich: Biomedizin. Die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs, a. a. O. 28 Senn: Mathematisierung der Biologie. Mode oder Notwendigkeit? a. a. O., S. 117. 27
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
Um die skizzierte Problemstellung noch präziser herauszuarbeiten, soll einer der federführenden Biologietheoretiker des 20. Jahrhunderts zu Wort kommen: Ernst Mayr (1904–2005). In seinem späten Text Die Autonomie der Biologie heißt es gleich zu Beginn: »Die Biologie ist eine Naturwissenschaft wie Physik und Chemie, und doch ist sie in vieler Hinsicht anders als diese so genannten exakten Wissenschaften.« 29 Worin besteht – nach Mayr – nun diese Andersheit der Biologie als Naturwissenschaft in Abhebung von Physik und Chemie? Um dies ersichtlich zu machen, bemüht Mayr die Wissenschaftsgeschichte und führt dazu folgendes aus: »Unser heutiges Verständnis von Wissenschaft ist das Produkt von Entwicklungen, die im 17. und 18. Jahrhundert vor sich gingen. Was man sich damals unter Wissenschaft vorstellte, war durch die Namen Galilei, Kepler, Newton, Descartes und Leibniz gekennzeichnet. Es war der glorreiche Aufstieg der physikalischen Wissenschaften, die von Erfolg zu Erfolg schritten. Man meinte Physik, wenn man von Wissenschaft sprach. Die Biologie war dabei nie mit eingeschlossen. Bezeichnenderweise stiftete Alfred Nobel Preise für Physik und Chemie, nicht aber für die Biologie. Die Wissenschaft der Biologie war eine Schöpfung des 19. Jahrhunderts. Natürlich gab es in der Medizin Teildisziplinen wie Anatomie, Physiologie und Embryologie, die wir heute der Biologie zurechnen. Aber durch ihre Ausrichtung auf Heilung wurden sie nicht als Teil einer gesonderten Wissenschaft, nämlich der Biologie, angesehen. Daneben gab es durchaus ein blühendes Interesse an der Naturgeschichte, aber unter dem Namen von Naturtheologie. Die Biologie führte bis ins 19. Jahrhundert ein Schattendasein.« 30
Dass sich die Biologie schließlich als Naturwissenschaft etablieren konnte, hat seines Erachtens vor allem mit folgenden drei Ereignissen zu tun: • Der Widerlegung gewisser »Irrlehren«, insbesondere des Vitalismus und des Konzepts der Teleologie; • Dem Aufweis, dass gewisse Grundprinzipien der Physik nicht auf die Biologie anwendbar sind, und schließlich: • Die Anerkennung der Eigenständigkeit verschiedener Grundprinzipien der Biologie, die nicht auf die unbelebte Welt angewendet werden können. 29 Mayr, Ernst: Die Autonomie der Biologie, in: Naturwissenschaftliche Rundschau, 55. Jg, Heft I (2002) S. 23–29. Onlinequelle: http://www.biologie.uni-hamburg.de/bonline/d01_2/autonomie.htm#2 30 Mayr: ebd.
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Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie
Wörtlich heißt es bei Mayr dazu: »Die Biologie konnte nicht als eine der Physik ebenbürtige Wissenschaft anerkannt werden, solange ein Großteil der Biologen diese Irrlehren vertraten. Die zwei wesentlichen Irrlehren sind der Vitalismus 31 und die kosmische Teleologie. Nach Widerlegung dieser beiden Lehren stand der Anerkennung der Biologie nichts mehr im Wege.« 32
Der Evolutionsbiologe Mayr weist darauf hin, dass zahlreiche Grundprobleme der Biologie von einer Philosophie wie der von Descartes, in der ein Organismus einfach als eine Maschine gilt, nicht gelöst werden können. Etwa: Wie kann eine Maschine verlorene Teile ebenso erneuern, wie es viele Tierformen vermögen? Wie kann eine Maschine sich selbst reproduzieren? Wie können zwei Maschinen zu einer einzigen verschmelzen, vergleichbar der Verschmelzung zweier Keimzellen, die ein neues Individuum erzeugt? Vor diesem Hintergrund entwickelt Mayr schließlich sein Konzept der dualen Kausalität. Wörtlich bemerkt er dazu: »Die duale Kausalität, […] vielleicht das wichtigste Merkmal der Biologie, durch das sie sich eindeutig von den physikalischen Wissenschaften unterscheidet, ist eine Eigenschaft beider Gebiete der Biologie 33. Mit dualer KauZum Vitalismus schreibt Mayr: »Seit Beginn der Philosophie war die Natur des Lebens, des Lebendigseins, ein Rätsel. Descartes versuchte dies dadurch zu lösen, daß er das ›Lebendigsein‹ einfach ignorierte. Ein Organismus ist weiter nichts als eine Maschine, sagte er. Die meisten Naturforscher waren damit keineswegs einverstanden. Sie waren davon überzeugt, daß in einem lebenden Organismus gewisse Kräfte tätig sind, die es in der unbelebten Natur nicht gibt. Sie schlossen, daß genau so wie die Bewegung der Planeten, Sonnen und Sterne durch eine okkulte, unsichtbare Kraft reguliert wird, die Isaac Newton Schwerkraft genannt hatte, die Bewegungen und andere Äußerungen des Lebens bei Organismen durch eine verborgene Kraft, eine Lebenskraft oder vis vitalis, reguliert würden. Wer an eine solche Kraft glaubte, wurde ein Vitalist genannt. Vitalismus war vom frühen 17. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre hinein populär. Es war eine ganz natürliche Reaktion auf den krassen Mechanismus von Rene Descartes. Zwei der bedeutendsten Vertreter des Vitalismus waren Henry Bergson und Hans Driesch.« (Mayr, ebd.). Der Vitalismus kam nach Ansicht von Mayr jedoch an sein Ende, als er keine Anhänger mehr finden konnte. Dafür wären zwei Gründe ausschlaggebend gewesen: Zum einen das Fehlschlagen all der Tausende von Versuchen, die Existenz einer Lebenskraft nachzuweisen. Zweitens die Entdeckung, dass die Biologie – mit dem Aufkommen der Genetik und Molekularbiologie – all die Probleme lösen konnte, für die man früher eine Lebenskraft brauchte. Die Annahme einer solchen vis vitalis sei überflüssig geworden. 32 Mayr: ebd. 33 Hier unterscheidet Mayr zwischen funktionaler und historischer Biologie. Während sich die funktionale Biologie dabei mit der Physiologie aller Vorgänge bei leben31
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
salität meine ich hier natürlich nicht Descartes’ Unterscheidung von Leib und Seele, sondern vielmehr die Tatsache, daß alle lebenden Prozesse zwei Kausalitäten gehorchen. Die eine sind die Naturgesetze, die gemeinsam mit dem Zufall alles vollständig steuern, was in der Welt der exakten Naturwissenschaften passiert. Die andere Kausalität ist das genetische Programm, das die lebende Welt auf einzigartige Weise kennzeichnet. Es gibt in der lebenden Welt kein einziges Phänomen beziehungsweise keinen einzigen Prozeß, der nicht durch ein im Genom enthaltenes genetisches Programm gesteuert wird. Es gibt keine einzige Aktivität eines Organismus, die nicht von einem solchen Programm gesteuert wird. Es gibt nichts Vergleichbares in der unbelebten Welt.« 34
Mit dem Konzept der dualen Kausalität ist es Mayr zweifellos in gewisser Weise gelungen, die Biologie von Physik und Chemie abzugrenzen und als naturwissenschaftliche Disziplin zu positionieren. Doch es stellt sich die Frage, ob man damit das Phänomen Leben in seiner Eigentlichkeit in den Blick bekommen kann. Zudem: Es mag in der lebenden Welt kein einziges Phänomen beziehungsweise keinen einzigen Prozess geben, der nicht durch ein im Genom enthaltenes genetisches Programm gesteuert wird. Doch ebenso evident ist, dass jedes »genetische Programm« (wie alle epigenetischen Mechanismen) – aus sich – nichts vermag, sondern einer (lebendigen) Aktivierungsinstanz bedarf, damit sich die damit verbundenen kausalen Abläufe vollziehen können. Mit den Worten von Fox-Keller: »Gene wirken nicht einfach. Sie müssen aktiviert (oder inaktiviert) werden.« 35 Mit anderen Worten: Fragen wie: »Welches Protein soll ein Gen wann und unter welchen Bedingungen herstellen? Wie entscheidet es sich?« sind falsch gestellt. Tatsächlich entscheidet sich weder ein Protein noch ein Gen. »Die Verantwortung für diese Entscheidung« – so nochmal Fox-Keller – »liegt anderswo, in der komplexen Regulationsdynamik der gesamten [lebenden bzw. kommunizierenden] Zelle. Von hier und nicht vom Gen kommt in Wirklichkeit das Signal (oder kommen die Signale), die das spezi-
digen Organismen beschäftigt, setzt sich die historische Biologie mit denjenigen Aspekten der lebendigen Welt auseinander, die in der Zeit stattfinden oder stattgefunden haben (vgl. Mayr: ebd., S. 25). 34 Mayr: ebd.; S. 26. 35 Fox-Keller, Evelyn: Das Jahrhundert des Gens, Frankfurt/Main 2001, S. 79.
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Hürden auf dem Weg zur »Kopenhagener Deutung« der Quantentheorie
fische Muster 36 [Gestalt] festlegen, nach dem das endgültige Transkript gebildet wird.« 37
Es bedurfte offenkundig eines Physikers wie Erwin Schrödinger, der in seinem Buch Was ist Leben? nicht nur wesentliche Impulse für die Entdeckung der DNA gab, sondern darin auch auf ein Spezifikum des Lebendigen hinwies, das geeignet erscheint, uns auf unserem DenkWeg von der Kausalität über die A-Kausalität zur Trans-Kausalität behilflich zu sein. Konkret handelt es sich dabei um das – aus der Physik bekannte – Phänomen der Entropie. Damit wird der Sachverhalt bezeichnet, dass in (abgeschlossenen) a-biotischen Systemen Übergänge bzw. Veränderungen stets von geordneten zu weniger geordneten Zuständen erfolgen, die Entropie also zunimmt. Für gewöhnlich wird insbesondere Werner Heisenberg genannt, wenn es darum geht, die Relativierung der oben skizzierten klassischen Kausalität bzw. die Entdeckung der A-Kausalität wissenschaftshistorisch nachzuzeichnen. Dabei wird jedoch meist nicht erwähnt, dass Heisenberg sowie die anderen federführenden Quantentheoretiker keineswegs die ersten waren, die in dieser Hinsicht Überlegungen anstellten. 38 In der neueren Physik äußert schon Ende des 19. Jahrhunderts Ludwig Boltzmann Zweifel an einer kausalen Verkettung von Ursache und Wirkung im physikalischen Bereich. »Vielleicht durch den Erfolg seiner wahrscheinlichkeitstheoretischen Interpretation des Entropiesatzes angeregt« – so wie von Meyenn vermutet – »zog er ein Aussetzen der Gesetzmäßigkeiten im atomaren Bereich in ErVgl. Aristoteles: Metaphysik 1013a: »Ursache wird in einer Bedeutung der immanente Stoff genannt; […] in einer anderen Bedeutung heißt Ursache die Form und das Musterbild.« 37 Fox-Keller: Das Jahrhundert des Gens, a. a. O., S. 86. 38 Auf diesen Umstand hingewiesen zu haben ist insbesondere das Verdienst von Paul Formans Werk Weimar Culture, Causality and Quantum Theory, 1918–1927: Adaptation by German Physicists and Mathematicians to a Hostile Intellectual Environment, in: Historical Studies in the Physical Sciences 3 (1971), S. 1–114; in erweiterter Form publiziert unter dem Titel Kausalität, Anschaulichkeit und Individualität, oder wie Wesen und Thesen, die der Quantenmechanik zugeschrieben, durch kulturelle Werte vorgeschrieben wurden, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 22: Wissenssoziologie, S. 393–406, Wiesbaden 1981. Karl von Meyenn behandelt die Thesen von Forman im von ihm herausgegebenen Band Quantenmechanik und Weimarer Republik (Braunschweig – Wiesbaden 1994), auf den wir in der Folge immer wieder Bezug nehmen. 36
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wägung, sofern sie erlaubten, durch Mittelung zu den gewohnten makroskopischen Gesetzen zu gelangen.« 39
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügt man bereits über einen empirischen Hinweis auf a-kausale Vorgänge; nämlich beim spontanen radioaktiven Zerfall. Egon von Schweidler erkannte wohl als erster, dass dieser Zerfallsvorgang die Kennzeichen eines Zufallsereignisses aufweist, und berichtete darüber 1905 auf dem internationalen Radiologen-Kongress in Lüttich. 40 Mit anderen Worten: Aus physikalischer Sicht war um bzw. knapp nach 1900 schon ein gewisser Spielraum geschaffen, der die Postulierung von a-kausalen Phänomenen zumindest nicht prinzipiell ausschloss. Einstein nützte diesen Erklärungsspielraum 1916 bereits ganz selbstverständlich, wenn er ihn »in der Hypothese einer von Zufallsereignissen abhängigen Strahlungsdichte bei der Ableitung des Planckschen Strahlungsgesetzes« 41 verwendet, wie von Meyenn bemerkt. Freilich: Bis Mitte der 1920er Jahre herrscht keine Einigkeit darüber, ob die beschriebenen Zufallsereignisse letztlich auf Unkenntnis hinsichtlich bislang noch nicht entdeckter (oder grundsätzlich nicht ermittelbarer) kausaler Mechanismen beruht (subjektiver Zufall), oder ob es sich hier um eine fundamentale bzw. prinzipielle a-kausale Eigenschaft physikalischer Phänomene handelt (objektiver Zufall). 42 Inwieweit dabei – wie Paul Forman (zuerst 1971, dann weiterführend 1980) zu untermauern sucht – das allgemeine europäische Kulturmilieu im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts dafür verantwortlich zeichnet, dass, wie von Meyenn schreibt, »viele Vertreter der exakten Meyenn, Karl von: Ist die Quantentheorie milieubedingt? in: ders. (Hrsg.): Quantenmechanik und Weimarer Republik, Braunschweig – Wiesbaden 1994, S. 3–58, hier S. 56. 40 Vgl. dazu: Schweidler, Egon von: Über Schwankungen der radioaktiven Umwandlung, in: Comptes Rendus du Premier Congrès International pour l’étude de la Radiologie et de la Ionisation, tenue à Liège du 12 au 14 Septembre 1905, Brüssel 1906. Siehe dazu auch die wissenschaftshistorischen Untersuchungen von Amaldi, Edoardo: Radioactivity, a Pragmatic Pillar of Probabilistic Conceptions, in: Toraldo di Francia, Giuliano (Hrsg.): Problems in the foundations of physics, New York 1979, sowie Brakel, Jaap van: The possible influence of the discovery of radio-active decay on the concept of physical probability, in: Archive for History of Exact Sciences 31 (1985), S. 369–385. 41 Meyenn: Ist die Quantentheorie milieubedingt?, a. a. O., S. 57. 42 Die Frage wird übrigens bis heute kontrovers diskutiert; für diesbezügliche Literatur siehe Meyenn; a. a. O., S. 58. 39
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Naturwissenschaft ohne zwingende wissenschaftliche Motivation die Kausalität schon auf[gaben], bevor die rationale Quantenmechanik die Berechtigung dazu lieferte« 43, sei dahingestellt. Unbezweifelbar ist, dass es – speziell in Europa – um 1900 zu einer ersten vehementen Krise der rationalistischen Moderne kommt. Ausdruck dessen sind unter anderem das Aufkommen von Lebensphilosophie (Nietzsche, Simmel, Bergson), Psychoanalyse (Freud), Phänomenologie (Husserl) und Existenzialismus (zunehmende Kierkegaard-Rezeption). In der Biologie wird dies vor allem deutlich in der Ablehnung eines mechanistischen Determinismus durch den sog. (Neo-)Vitalismus (Driesch). Daneben blühen sowohl neugnostische wie synkretistische Geistesströmungen (Theosophie, Anthroposophie) sowie die vermehrte Ausbreitung von spiritistischen und okkultistischen Zirkeln. 44 Erstaunlich präzise diagnostiziert Arnold Sommerfeld – der große Lehrer von Heisenberg und Pauli – diese Situation Mitte der 1920er Jahre wie folgt: »Der Glaube an eine vernünftige Weltordnung ist durch Kriegsausgang und Friedensdiktat erschüttert; also sucht man das Heil in einer unvernünftigen Weltordnung. Aber der Grund muß tiefer liegen, denn auch bei unseren Kriegsgegnern blüht Astrologie, Spiritismus und Christian Science. Wir haben es also wohl wieder mit einer Welle der Irrationalität und Romantik zu tun, wie sie vor hundert Jahren über Europa ging als Gegenbewegung gegen den Rationalismus des 18. Jahrhunderts und seine Tendenz, sich die Erklärung der Welträtsel etwas zu leicht zu machen. Wenn wir uns auch nicht einbilden, diese Welle durch Vernunftgründe aufhalten zu können, so wollen wir uns ihr doch entschieden entgegenwerfen.« 45
Besonders Mathematiker und theoretische Physiker standen in der öffentlichen Meinung nach dem 1. Weltkrieg offenkundig in keinem guten Licht. 1920 sahen sich in Deutschland die Mathematiker – auf Grund der »mathematikfeindlichen Strömungen« – sogar zur Schaffung einer Verteidigungsorganisation genötigt, dem Mathematischen
Meyenn: Ist die Quantentheorie milieubedingt?, a. a. O., S. 56. Küenzlen gibt davon ein gutes Bild in seiner Habilitationsschrift Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, München 1994. 45 Sommerfeld, Arthur: Über kosmische Strahlung, in: Süddeutsche Monatshefte 24 (1927), S. 195–198, zitiert nach Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 72. 43 44
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Reichsverband, um auf diese Weise die bedrohte Stellung der Mathematik im Schulunterricht zu schützen. 46 Selbst die Einstein’sche Relativitätstheorie wurde als Argumentationshilfe für den aufkommenden Irrationalismus instrumentalisiert. Einstein bemerkt diesbezüglich 1921, dass »eine eigentümliche Ironie darin [liegt], daß viele Menschen glauben, daß die antirationalistische Tendenz unserer Tage an der Relativitätstheorie eine Stütze findet.« 47 Kurz: In den 1920er Jahren gewinnt im Nachkriegseuropa zunehmend ein kulturelles Milieu an Bedeutung, das sich gegen mechanistische bzw. deterministische (und insofern gegen kausale) Erklärungsschemata wendet. Als 1925 Theodor Litt in seiner Schrift Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal das zeitgenössische Denken sichtet, stellt er fest, dass die Lebensphilosophie die prägende Geistesströmung darstelle, obwohl damit weder ein einendes System noch eine spezifische Denkschule verbunden sei. 48 Diese definiere sich vor allem dadurch, was abgelehnt bzw. als zu überwindend erachtet würde. Dies sei »auf der einen Seite« – so Litt wörtlich – »der Mechanismus und der Determinismus kausaler Erklärung, welcher jede Sache im Voraus berechnet, alles vergleichbar macht, alles in Elemente zerlegt – auf der anderen Seite […] der Rationalismus und Formalismus logischer Systematisierung, welcher alles herleitet, alles klassifiziert und alles Begriffen unterordnet.« 49 46 Vgl. dazu Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 72 bzw. Hamel, Georg: Bericht von W. Lietzmann über die Delegiertenversammlung des Mathematischen Reichsverbandes zu Jena, 23. September 1921, in: Jahresberichte der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 31, 2. Teil (1922), S. 118–120. 47 Einstein zitiert nach Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 72. 48 Als vereinende charakteristische Elemente lebensphilosophisch (mit-)geprägter Konzeptionen lassen sich allenfalls unscharfe Begriffe wie Ganzheitlichkeit, Gestalt, Leben etc. nennen; vgl. dazu: Weizsäcker, Viktor von: Der Gestaltkreis, Theorie der Einheit von Wahrnehmen und Bewegen, Leipzig 1940 (6. Aufl., Stuttgart 1996); Portmann, Adolf: Einführung in die vergleichende Morphologie der Wirbeltiere, Basel 1948. 49 Litt, Theodor: Die Philosophie der Gegenwart und ihr Einfluß auf das Bildungsideal, Leipzig 1925; zitiert nach Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 78. Demnach hält die nicht selten vertretene Ansicht, der sog. »Wiener Kreis« bzw. der logische Positivismus wären die vorherrschende Richtung in der deutschen Philosophie während der 1920er Jahre gewesen, einer näheren Betrachtung nicht stand. Wohl erscheint etwa Wittgensteins Tracdatus (in der deutschen Ausgabe) schon 1921 (in den von Ostwald herausgegebenen Annalen der Naturphilosophie),
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Inwieweit mit dem allgemeinen Krisenbewusstsein nach dem 1. Weltkrieg auch eine negative Bewertung der traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen samt der damit verbundenen Methoden im Einzelnen zusammenhängt, braucht uns hier nicht weiter zu beschäftigen. Unstrittig scheint jedenfalls, dass in den 1920er Jahren vermehrt auch von einer »Krise der Wissenschaft« gesprochen wird, verbunden mit dem Ruf nach einer »neuen Wissenschaft« auf lebensphilosophischer Basis, in deren Zentrum das Leben bzw. das Organische, Gefühl, Intuition und Ganzheitlichkeit stehen. 50 Faktum ist ebenfalls, dass im Sommer und Herbst 1921 »fast religiöse Bekehrungen zur Akausalität,« – wie von Meyenn bemerkt – »von denen Weyl 51 das früheste Beispiel ist, […] zu einer allgemeinen Erscheinung in der deutschen physikalischen Gemeinschaft [werden].« 52 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass sich – insbesondere um 1920 – in den Jahresverzeichnissen deutscher Bücher und Zeitschriften eine bemerkenswerte Anzahl an Artikeln und Beiträgen finden, die im Titel den Begriff Kausalität beinhalten; wohl Anzei-
bleibt jedoch offenkundig ungelesen und bildet keineswegs – wie etwa Hughes meint – »das einflussreichste philosophische Werk der Nachkriegsjahre« (Hughes, Henry Stuart: Consciousness and Society. The Reorientiation of European Social Thought 1890–1930, New York 1958, zit. nach Meyenn: Quantenphysik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 80). Meyenn verweist diesbezüglich auf Ringer, der bemerkt, dass »die Tonart«, mit welcher der »Wiener Kreis« mit der Broschüre Wissenschaftliche Weltauffassung (!) 1929 erstmals öffentlich in Erscheinung trat, »die von aufgebrachten Aussenseitern [war]« (Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 80); vgl. dazu Ringer, Fritz K.: The Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1880–1933, Cambridge/Mass. 1969, S. 308. 50 Von Meyenn (Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 89) verweist in diesem Zusammenhang auf die Schrift von Barthel Mechanischer und organischer Naturbegriff, wo es heißt: »Die organische Naturauffassung möchte sich nun fragen, ob es der einzige Weg des Denkens sein dürfte, drei abstrakte Prinzipien [Raum, Zeit, Kausalität] zum Erklärungsgrund einer Welt voll konkreter, lebendiger Inhalte zu machen …« (S. 71), vor allem vor dem Hintergrund der Folgerung, dass »die Qualität der Phänomene und ihr Zusammenhang […] auf einem Gebiete nichtkausaler Harmonie [liegt], die nur durch Intuition erfaßbar ist« (S. 75 f.) (Barthel, Ernst: Mechanischer und organischer Naturbegriff, in: Annalen der Philosophie 5 (1925), S. 57–76. 51 Hermann Weyl (1885–1955): Dt. Mathematiker, Physiker und Philosoph; studierte u. a. bei Husserl, promovierte bei David Hilbert. Er beschäftigte sich intensiv mit den mathematischen Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie Einsteins. Als weitere »Konvertiten zur Akausalität« nennt von Meyenn Walter Schottky, Richard von Mises und Walther Nernst. 52 Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 142.
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chen einer diesbezüglichen Meinungsverschiedenheit, die Max Planck 1923 wie folgt kommentiert: »Seit langem ist über die Bedeutung des Kausalitätsgesetzes in der Naturund Geisteswelt […] nicht so heftig gestritten worden wie in unseren Tagen. […] Fast hat es den Anschein, als ob die denkende Menschheit bezüglich dieser Fragen in zwei getrennte Lager gespalten ist.« 53
Einstein tritt dabei im Zuge eines 1922 für ein allgemeines Publikum bestimmten Aufsatzes Über die gegenwärtige Krise der theoretischen Physik als Vertreter des Lagers der Bewahrer des Kausalitätsprinzips auf. Wörtlich heißt es da: »Es ist Ziel der theoretischen Physik, ein auf möglichst wenigen voneinander unabhängigen Hypothesen ruhendes logisches Gedankensystem zu schaffen, das den ganzen Komplex der physikalischen Prozesse kausal zu erfassen gestattet.« 54
Kausalität steht für Gesetzmäßigkeit, der zufolge »alles Geschehen in der Natur ausnahmslos gültigen Gesetzen unterworfen ist.« 55 In diesem Sinne stellt auch Reichenbach (1920) fest: »[W]enn es eine Erkenntnis der Natur gibt, dann gilt das Kausalitätsprinzip, denn ohne dieses ist Erkennen ihrem Sinne nach nicht möglich.« 56 Vor dem Hintergrund dieser Kausalitätsdefinition gilt es zu fragen: Wie gelangt man überhaupt – insbesondere in der Physik – zur Ansicht eines a-kausalen Wirklichkeitsverständnisses? Bei der Beantwortung dieser Frage hilft uns die Beschäftigung mit Franz Exner (1849–1926) weiter, jenem vielseitig gebildeten, visionären österreichischen Physiker, dem es unter anderem zu verdanken ist, dass man sich in Österreich bereits früh mit Phänomenen wie Radioaktivität, Spektroskopie oder der Elektrizität in der Atmosphäre beschäftigte. Exner, Rektor der Wiener Universität 1908, zeichnete auch maßgeblich für den Aufbau des Wiener »Instituts für Radiumforschung« (Einweihung 1910) verantwortlich. Planck zitiert nach Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 126. 54 Einstein, Albert: Über die gegenwärtige Krise der theoretischen Physik, in: Kaizo (Tokio) 4, (Dezember) 1–8 (1922), S. 1; ebenso abgedruckt in Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 234–239, hier S. 234. 55 Schlick, Moritz: Naturphilosophische Betrachtungen über das Kausalprinzip, in: Die Naturwissenschaften 8 (1920), S. 461–474, Anfangsparagraph. 56 Reichenbach, Hans: Philosophische Kritik der Wahrscheinlichkeitsrechnung, in: Die Naturwissenschaften 8 (1920), S. 146–153. 53
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In seinen opus magnum Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften 57 vertritt er nämlich einen dezidiert kausalitätskritischen Standpunkt. Wie er dazu gekommen ist, lässt sich nicht mehr mit Gewissheit sagen. Es steht zu vermuten, dass dabei der Dialog mit Ludwig Boltzmann ebenso eine Rolle spielte wie die Erfahrung des Weltkrieges und schließlich die Beschäftigung mit Oswald Spenglers epocheprägendem Werk Untergang des Abendlandes 58. Exner postuliert jedenfalls ebendort, dass Naturgesetze letztlich eine Schöpfung des Menschen seien und nicht ein Stück Natur. Der Mensch habe folglich nicht das Recht, die Existenz einer absoluten Kausalität zu behaupten. Wörtlich schreibt er dazu: »[D]ie Natur fragt gar nicht danach, ob der Mensch sie versteht oder nicht, auch haben wir keine unserem Verständnis adäquate Natur zu konstruieren, sondern wir haben uns lediglich mit der gegebenen abzufinden, so gut wir es vermögen.« 59
Nach Kant ist die Kausalität Bedingung für mögliche Erkenntnis mit apriorischer Gültigkeit. »Kausalität begegnet nach Kant nicht in der Natur und ist nicht aus der Erfahrung abstrahiert 60 […], sondern ist eine spontane, synthetische Ordnung des Gegebenen durch die nur dem Denken zugehörige Relation von Ursache und Wirkung.« (Metzlers Philosophie Lexikon). Die Frage, ob Kausalität in der Natur gegeben sei oder vom Menschen konstruiert wurde, entpuppt sich damit als Scheinproblem. Wohl aber ist die Frage berechtigt, ob wir ein Bild der Natur konstruieren oder uns bloß mit dem Gegebenen abfinden, »so gut wir es vermögen«. In dieser schwierigen Lage haben sich in der Wissenschaftstheorie zwei entgegengesetzte Lager gebildet; das eine vertritt einen (kritischen) »Realismus« und meint, wir könnten uns ein Bild der gegebenen Natur schaffen. (Es wird meist mit dem Namen Karl Popper verbunden.) Das andere vertritt einen (gemäßigten bis radikalen) »Konstruktivismus« und behauptet, wir könnten über die gegebene Natur keine wie immer gearteten Aussagen treffen, es bleibe bei der von uns Menschen geschaffenen Exner, Franz-Serafin: Vorlesungen über die physikalischen Grundlagen der Naturwissenschaften, Wien 1919, 2. vermehrte Aufl., Leizig-Wien 1922. 58 Dies wird auch deutlich anhand seiner Arbeit an einem in den späten Jahren entstehenden (aber nicht veröffentlichten) Werk Vom Chaos zur Gegenwart. 59 Exner zitiert nach Meyenn: Quantenmechanik und Weimarer Republik, a. a. O., S. 136. 60 Wie z. B. Hume behauptete. 57
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»Konstruktion« der gegebenen Natur. (Es wird meist mit dem Namen Thomas Kuhn verbunden, siehe Kap. III/1c.) Max Planck hat auf die Problematik des naiven Realismus wie folgt hingewiesen: »Zusammenfassend können wir sagen, dass die physikalische Wissenschaft die Annahme einer realen, von uns unabhängigen Welt fordert, die wir allerdings niemals direkt erkennen, sondern immer nur durch die Brille unserer Sinnesempfindungen und der durch sie vermittelten Messungen wahrnehmen können.« 61
Wolfgang Pauli hat in diesem Dilemma auf einen Mittelweg verwiesen, wenn er schreibt: »Unsere Vorstellungen verlaufen nicht willkürlich, sondern erscheinen in einer gewissen Ordnung. Es ist der Zusammenhang der Bewusstseinsinhalte, der uns erlaubt, Träumen und Wachen zu unterscheiden und unwillkürlich äußere Objekte, sowie auch das Bewusstsein der Mitmenschen, als existierend zu erleben. Das, was wir antreffen, was sich unserer Willkür entzieht, womit wir rechnen müssen, ist das, was man als wirklich bezeichnet. Die europäischen Sprachen haben zwei verschieden abgeleitete Worte hierfür, das eine, lateinische: Realität von res = Sache, das andere, deutsche: Wirklichkeit, von Wirken. […] Der abstraktere, von Wirken abgeleitete Begriff ist derjenige, der dem in der Wissenschaft gebrauchten näher steht.« 62
Damit hat Wolfgang Pauli einer erstaunlich einfältigen Argumentation zugunsten des naiven Realismus den Todesstoß erteilt: Es wird nämlich immer wieder ernsthaft behauptet, man möge doch mit dem Kopf gegen eine Wand rennen, um mittels der auftretenden Schmerzen festzustellen, dass die Wand wirklich vorhanden und keine bloße Konstruktion ist. Dieses Argument ist deshalb so einfältig, weil wir doch ohne weiteres annehmen können, dass Teilnehmer an einer erkenntnistheoretischen Diskussion einhellig der Meinung sind, ein Anschlagen an einer Wand verursache Schmerzen. Pauli hat den Unterschied zwischen Realismus und Konstruktivismus trotzdem deutlich gemacht: Der Realist schließt aus der Existenz der Wand auf die Schmerzen. Der Konstruktivist schließt aus der Erwartung von Schmerzen auf die Existenz der Wand!
Planck, Max: Religion und Naturwissenschaft, 14. Aufl., Barth-Verl., Leipzig 1958, S. 19. 62 Pauli: Physik und Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 95. 61
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Wir schließen uns der Unterscheidung von »Realität« (als dem Gegebenen) und »Wirklichkeit« (als dem von uns Menschen konstruierten Bild) an. Die (naturwissenschaftliche) Wirklichkeit (das Paradigma Kuhns) ist demnach weder Abbild des Gegebenen noch frei erfundene Beschreibung. Sie kann zwar nicht direkt mit dem Gegebenen, mit der Natur, verglichen werden, aber sie kann durch Aufspüren von Widersprüchen zum Gegebenen ständig angepasst werden, ohne je den Anspruch stellen zu können, das Gegebene direkt darzustellen. Der Erfolg neuzeitlicher Naturwissenschaft liegt in ihrer Verknüpfung von Theorie und Experiment. Während Theorien immer konstruierte Wirklichkeiten beschreiben, finden Experimente als unmittelbare Handlungen im Gegebenen (in der »Lebenswelt«) statt; sie stellen somit die Verbindung der jeweiligen Wirklichkeit zum Gegebenen, zur Realität, her. Freilich geht diese Verbindung immer über die Elimination von Widersprüchen (Falsifikation im Sinne Poppers) und niemals als unmittelbare Sicherstellung. In diesem Sinne ist moderne Naturwissenschaft keine Erfahrungswissenschaft, sondern experimentelle Wissenschaft, die der Erfahrung sogar diametral widersprechen kann. (Siehe z. B. Galileis Fallgesetz, wonach alle Körper gleich schnell fallen!) Jede Erfahrungswissenschaft (wie etwa die Aristotelische Physik oder die Naturbeschreibung anderer Hochkulturen, z. B. der Chinesen) ist in diesem Sinne »lediglich« eine – eventuell sehr tiefgehende – Verbesserung der auf Tradition und Intuition basierenden Lebenswelt-Konstruktion und muss daher immer mit Überraschungen hinsichtlich ihrer Vorhersagen rechnen. 63 Eine gesicherte Erkenntnis, auf die sich moderne Technik gründet, ist auf diesem Wege nicht erreichbar. 64 Wir haben im Kap. III/2 auf den Unterschied von Naturnotwendigkeit und (vereinfachten) Naturgesetzen hingewiesen. Daher ist auch auf moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnis eine sichere Ein Beispiel ist der (bisher) vergebliche Versuch, Erdbeben vorherzusagen. Das Ganze der Erde ist zu komplex, um mit der Methode der Naturwissenschaft seriös erfasst werden zu können. Naturwissenschaft beschreibt immer ein vereinfachtes Modell, niemals die gegebene Realität. Erdbebenwissenschaft bleibt also eine durch naturwissenschaftliche Methoden unterstützte Erfahrungswissenschaft und daher unsicher in ihren Voraussagen. 64 Ausführlich in Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., Kap. 9. 63
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Technik nicht unmittelbar zu gründen, weil Naturgesetze nicht in der Lebenswelt, sondern für ein vereinfachtes Modell gelten. Diese Aporie wird mittels des Begriffes der »technischen Sicherheit« bewältigt. Wenn ein technisches Objekt (z. B. eine Brücke oder Seilbahn) konstruiert werden soll, dann ist die zulässige Höchstbelastung für die Konstruktion mit einem vorgeschriebenen Sicherheitsfaktor zu multiplizieren (für Brücken oder Seilbahnen ist dieser Faktor 10, bei Flugzeugen lediglich 1.5). Wie schon im Kap. III/1b ausgeführt wurde, ist die Kausalität eine der Säulen des Denkrahmens der Moderne. Insofern dieser Denkrahmen Werkzeug zur Konstruktion der Wirklichkeit ist, ist sie – in Übereinstimmung mit Kant – Voraussetzung und nicht Ergebnis unserer Beschreibung der Natur. Sehen wir uns die Entwicklung des Kausalitätsbegriffes seit Aristoteles genauer an. Aristoteles unterscheidet vier Formen der Ursachen: Die Materialursache (causa materialis), die Formursache (causa formalis), die Wirkursache (causa efficiens) und die Zielursache (causa finalis): »Ursache wird in einer Bedeutung der immanente Stoff genannt; […] in einer anderen Bedeutung heißt Ursache die Form und das Musterbild. […] Ferner heißt Ursache dasjenige, von dem aus die Veränderung oder die Ruhe ihren ersten Anfang nimmt […]. Ferner heißt etwas Ursache als Zweck, d. h. als dasjenige, um deswillen etwas geschieht […]« 65. Aristoteles braucht die Zielursache vor allem für seinen Begriff der Entelechie, ohne den er das Lebendige nicht zu verstehen vermag. 66 Diese vier Ursachen sind an allem Geschehen – mit unterschiedlichen Gewichten – beteiligt: »In so vielen Bedeutungen wird ungefähr Ursache gebraucht; da aber Ursache in mehreren Bedeutungen ausgesagt wird, so ergibt sich daraus, dass dasselbe Ding mehrere Ursachen hat […]«. 67 Als Beispiel für das Zusammenspiel der vier Ursachen des ArisAristoteles: Metaphysik 1013a. In dieser Hinsicht schreibt auch Reisner: »Es gehört zum Wesen des Lebendigen, auf etwas hin zu sein […]. Natürlich kann man auch ein lebendiges Wesen unter den Kategorien seines bloßen Seins, seiner Gewordenheit, seines Von-her, seiner kausalen Bedingtheit betrachten und beurteilen und also vom Sinn abstrahieren, aber dann bekommt man es gerade nicht als Lebendiges in den Blick, dann sieht man vorbei an dem, wodurch es lebt. Unter allen Wesen ist der Mensch dasjenige, von dem das im höchsten Grade gilt.« Reisner, Erwin: Krankheit und Gesundung, Berlin 1954, S. 14. 67 Aristoteles: Metaphysik 1013b. 65 66
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toteles wird oft der Bau eines Hauses gewählt: Zunächst muss jemand den Entschluss fassen, ein Haus bauen zu wollen (Zielursache). Dann bedarf es eines Planes (Formursache) und des nötigen Materials (Materialursache). Erst danach kann mit dem Bauen begonnen werden (Wirkursache), wobei Materie in Raum und Zeit so bewegt wird, dass der Plan erfüllt wird und das Haus entsteht. Der Physiker Markus Fierz sagt dazu: »Die vier Gründe werden logisch erfasst. Mathematisch kann nur die causa formalis dargestellt werden, weshalb für Aristoteles eine mathematische Physik gar keine Physik sein kann, denn diese hat alle Gründe zu berücksichtigen. Das kann nur die Logik, die darum für ihn höher steht als die Mathematik und sie umfasst.« 68
Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich »Mathematik« damals im Wesentlichen auf Geometrie beschränkte. Algebra und Trigonometrie sind erst durch die Araber nach Europa gelangt und die für die moderne Physik unentbehrliche Differentialrechnung ist erst im 17. Jahrhundert durch Leibniz und Newton entwickelt worden. Als Galilei in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts die Methode der Naturwissenschaft entwickelte, beschränkte er sich ganz selbstverständlich auf die Beschreibung toter Materie (siehe Kap. III/4). Er konnte daher die causa finalis, die Zielursache, getrost weglassen und die causa efficiens gegenüber allen drei anderen Gründen hervorheben. Johannes Kepler – Zeitgenosse Galileis und mit ihm in brieflicher Verbindung – war noch anderer Meinung. Für ihn war die Beschäftigung mit den Himmelskörpern eine Frage nach dem Ziel Gottes in seiner Schöpfung. Wohl werden die drei Kepler’schen Gesetze über die Planetenbewegung noch heute in jeder Vorlesung über theoretische Mechanik abgeleitet, aber sie waren nicht das Ziel Kepler’scher Bemühungen, vielmehr Mittel zum Zweck: Der Erkenntnis, dass Gott im Planetensystem die Harmonie der Welt zum Ausdruck bringen wollte. Folgerichtig heißt Keplers Hauptwerk Harmonices mundi. Kepler hatte die Ellipsenform der Planetenbahnen entdeckt. Bei Ellipsen ist die Geschwindigkeit im sonnennächsten Punkt (Perihel) am größten, im sonnenfernsten Punkt (Aphel) am kleinsten (2. Kepler’sches Gesetz). Wenn nun diese Geschwindigkeiten ins Ver-
Fierz, Markus: Vorlesungen zur Entwicklungsgeschichte der Mechanik, Springer Verlag, Berlin 1972, S. 11.
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hältnis gesetzt werden, kann man sie als musikalische Intervalle interpretieren, da diese ja auch als Verhältnisse von Schwingungszahlen (früher Saitenlängen des Monochords) dargestellt werden können. Demnach ist etwa Perihel des Saturn zu Aphel des Jupiter eine Oktave, Aphel zu Perihel des Saturn eine große Terz, Perihel des Mars zu Aphel der Erde eine Quinte und so fort. Das Überraschende dabei ist, dass – von Ausnahmen abgesehen – diese Intervalle Konsonanten, also »Wohlklänge« sind! Verständlich ist darum Keplers Jubelruf: »Ich überlasse mich heiliger Raserei. Ich trotze höhnend den Sterblichen mit dem offenen Bekenntnis: Ich habe die goldenen Gefäße der Ägypter geraubt, um meinem Gott daraus eine heilige Hütte einzurichten, weitab von den Grenzen Ägyptens.« 69 Rudolf Haase, ehemaliger Leiter des Instituts für harmonikale Grundlagenforschung der Hochschule für Musik und darstellende Kunst in Wien, schreibt dazu: »Es ist eine noch nicht genug beachtete Tatsache, dass Johannes Keplers Lebenswerk einseitig und zum Teil sogar falsch tradiert worden ist. Seit Laplace sieht man in Kepler ausschließlich den großen Mathematiker und Naturwissenschaftler, den Entdecker der drei nach ihm benannten Planetengesetze, während man seine Harmonices mundi libri V ignorierte, fehlinterpretierte, bestenfalls entschuldigen zu müssen vermeinte. […] Denn natürlich verhielt es sich mit Kepler ja ganz anders: Er strebte von Anbeginn an nach dem Beweis der legendären Lehre von der Weltharmonie, und sein erstes wissenschaftliches Werk, das berühmte Mysterium cosmographicum, gibt davon in beredter Weise Zeugnis. Dieses Streben gipfelte schließlich in den Harmonices mundi libri V, wo ihm der erhoffte Beweis tatsächlich glückte und ihm der – auch heute noch gültige! – Nachweis einer akustisch-musikalischen Gesetzmäßigkeit in den Planetenbahnen gelang. Kepler hat wiederholt und eindeutig dieses Buch als die Vollendung seines Lebenswerkes bezeichnet und offen gesagt, dass seine anderen Arbeiten gleichsam nur auf dem Wege zu diesem Ziel erfolgt seien […]« 70.
Die causa finalis in der Himmelsmechanik wurde erst durch Newton endgültig verworfen. 71 Für Newton war die Ellipsenform der PlaneKayser, Hans: Weltharmonik, 2. Auflage, Darmstadt 1967, S. 280. Haase, Rudolf: Keplers Weltharmonik heute, Ahlerstedt 1989. 71 Zusammen mit der Primärsetzung der Materie als Grundlage aller Wirklichkeit konnte so ein mechanistisches »Kosmos-Welt-Bild« Gestalt gewinnen. Es scheint, als ahnte Pascal schon früh diesen Zusammenhang, wenn er im Fragment 314 seiner Pensées schreibt: »Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich.« (Pascal, Blaise: Pensées. Gedanken über die Religion und einige andere Themen, Stuttgart 1997, S. 141.) 69 70
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tenbahnen nicht Ausdruck des Willens Gottes, die Weltharmonie darzustellen, sondern mathematische Konsequenz der Tatsache, dass die Gravitationskraft mit dem Quadrat der Entfernung einander anziehender Körper abnimmt. Newtons Gravitationskraft ist Ursache sowohl für die EllipsenBahnen der Planeten als auch für die Bewegung von fallenden Gegenständen; Newton hat mit dieser Idee die Aristotelische Physik endgültig überwunden. Erinnern wir uns an Kapitel III/1: Bei Aristoteles war die Physik jenseits der Sphäre des Mondes grundlegend verschieden von der Physik diesseits der Sphäre des Mondes! Für Newton ist es dieselbe Kraft, die den Apfel vom Baum fallen lässt und die die Planeten um die Sonne bewegt. Sein Gravitations-Gesetz gilt für alle Zeiten und Orte im Kosmos. Das ist freilich nicht empirisch überprüfbar. Es bedeutet den ersten Schritt in eine neue Zeit, in der die Gesetze der Natur erarbeitet werden und zur Grundlage erklärt werden für das Gesamtverständnis der Welt inklusive alles Lebendigen und Menschlichen. Die Annahme, dass Naturgesetze – einmal erkannt – zu allen Zeiten und Orten des Kosmos Gültigkeit haben, ist die Voraussetzung für die Möglichkeit, moderne Naturwissenschaft zu treiben und daher selbst nicht überprüfbar. (Wir nennen sie gewöhnlich »Universalitätsprinzip«.) Aber hat Newton die Schwerkraft entdeckt oder erfunden? Er kann sie wohl nicht »entdeckt« haben, denn sie ist als Ursache niemals durch irgendein Experiment nachweisbar! Lediglich ihre Wirkungen können wir beobachten. Aber er kann sie auch nicht frei erfunden haben, denn sie beschreibt – immer als Ursache – die Bewegungen der Planeten und fallenden Objekte in überprüfbarer Weise. Uns scheint am besten der Kuhn’sche Begriff des Paradigmas für das Ereignis zu passen (siehe Kap. III/1c). Newton hat ein neues Paradigma geschaffen! Dass dies einer Revolution entsprach – wie Kuhn insistiert –, sieht man daraus, dass Newtons Gegner, die Anhänger Descartes’scher Philosophie, ihn bekämpften und als Spiritist abqualifizieren wollten, weil nach der Lehre Descartes’ alles entweder Materie oder Geist sein müsse. Da die Schwerkraft keine Materie ist, kann sie nur Geist sein, und Newton war demnach Spiritist! Er hat unter diesen Anschuldigungen gelitten, wie in Kap. III/5 ausgeführt. Das Newton’sche Paradigma wurde durch die Einstein’sche Revolution von 1915, als Albert Einstein in seiner Allgemeinen Relativitäts199 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
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theorie die Schwerkraft durch die Geometrie der Raum-Zeit ersetzte, überholt und durch ein anderes ersetzt. Dennoch bleibt es erhalten und wird aus praktischen Gründen weiter gelehrt. Also liegen uns zwei unterschiedliche Paradigmen vor, die beide ihren Platz in der Physik beanspruchen können. Aber die Kausalität ist in beiden Paradigmen grundverschieden! Hier die Schwerkraft, dort die RaumZeit-Krümmung. In beiden Fällen handelt es sich um die causa efficiens; die causa finalis hat in der neuzeitlichen Naturwissenschaft seit Newton keinen Platz mehr. Diese Haltung wurde später von der Physik auch auf die Biologie übertragen und hat damit den mechanistischen Denkrahmen zementiert. Umso bahnbrechender war die Erkenntnis der Quantenphysik, dass Kausalität auch im Sinne der causa efficiens nicht universell gültig sein kann. Argumentieren – wie wir sahen – die Vertreter der A-Kausalität vor der Quantentheorie primär philosophisch-weltanschaulich, so gelangt Heisenberg ganz anders zur Erkenntnis der relativen Gültigkeit von Kausalität: nämlich über seine Entdeckung der Unbestimmtheitsrelation. Hören wir dazu Heisenberg selbst anhand seiner Darstellung aus dem Jahr 1927: »In unserer [allgemeinen] Anschauung hat es, auch für sehr kleine Teilchen, wie z. B. Elektronen, immer einen unmittelbaren Sinn, vom ›Ort‹ und von der ›Geschwindigkeit‹ eines Teilchens zu sprechen. Der Physiker stellt sich jedoch auf den Standpunkt: Diese Worte haben nur einen Sinn, sofern man angeben kann, in welcher Weise sich ›Ort‹ und ›Geschwindigkeit‹ feststellen, d. h. experimentell messen lassen. Man kann sich sehr wohl Experimente denken, die eine Messung etwa des ›Ortes‹ beliebig genau ermöglichen: z. B. kann man prinzipiell das Elektron unter einem Mikroskop sehr großen Auflösungsvermögens betrachten; ebenso gibt es Messungen zur Bestimmung der Geschwindigkeit (z. B. durch Dopplereffekt). Es scheint aber ein allgemeines Naturgesetz zu sein, daß wir Ort und Geschwindigkeit nicht simultan beliebig genau bestimmen können. Je genauer wir den Ort bestimmen, desto ungenauer ist in diesem Augenblick die Geschwindigkeit bestimmbar und umgekehrt.« 72 »In prinzipieller Hinsicht« – so Heisenberg schlussfolgernd – »hat die obengenannte von der Natur festgestellte Genauigkeitsgrenze die wichtige Folge, daß das Kausalitätsgesetz in gewisser Weise gegenstandslos wird.« 73
72 Heisenberg, Werner: Über die Grundprinzipien der »Quantenmechanik«, in: Forschungen und Fortschritte 3 (1927), S. 83. 73 Heisenberg: ebd., S. 83.
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Mag mit der Formulierung Heisenbergs, dass durch die Entdeckung der Unbestimmtheitsrelation »das Kausalitätsgesetz in gewisser Weise gegenstandslos wird«, auch ein Überschwang einhergehen, so werden dadurch in jedem Fall prinzipielle Erkenntnisgrenzen deutlich, was die Anwendung der Kausalität im Bereich des Subatomaren betrifft. Heisenberg dazu noch einmal wörtlich: »An der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes: Wenn wir die Gegenwart kennen, können wir die Zukunft berechnen, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart prinzipiell nicht in allen Bestimmungsstücken genau kennen lernen. Da diese Genauigkeitsgrenze eine notwendige Voraussetzung der Quantenmechanik ist, und da andererseits die Quantenmechanik experimentell als gesichert angesehen werden darf, so scheint durch die neuere Entwicklung der Atomphysik die Ungültigkeit oder jedenfalls die Gegenstandslosigkeit des Kausalgesetzes definitiv festgestellt.« 74
Anders ausgedrückt: Mit der Etablierung der Quantentheorie 75, genauer: der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie, ist das Phänomen der A-Kausalität für den Bereich des Subatomaren experimentell aufgewiesen. Inwieweit tangiert diese Erkenntnis – so lässt sich fragen – jedoch den Bereich der »großen Objekte«? Ist das Phänomen der AKausalität hierbei nicht irrelevant, zumindest vernachlässigbar? Denken wir an das oben erwähnte Beispiel eines Pendels. Die (kausale) Vorhersage von dessen Bewegungen 76 kann zwar – aufgrund des Umstandes, dass wir es mit Messgrößen (und nicht bloß mit Zahlen) zu tun haben – nicht beliebig genau geschehen, aber doch in einer zufriedenstellenden Präzision. Dieser Umstand machte und macht immer noch die Faszination der naturwissenschaftlichen Methode aus. Auch bei Geräten, die auf den Erkenntnissen der Quantenphysik beruhen, spielt die A-Kausalität in ihrem Gebrauch keine Rolle. Quantenphysik war unerlässlich bei der Erfindung, der Konstruktion und dem Verständnis solcher Geräte; bei deren Anwendung tritt sie völlig in den Schatten. Es ist ja kaum vorstellbar, dass nahezu alle modernen Geräte ohne die Physik der Quantenwelt nicht existieren Heisenberg: ebd., S. 83. Die spätestens mit der Solvay-Konferenz 1930 anzusetzen ist. 76 Ausgehend von einem gewählten Zeitpunkt mit bekannter Lage und Geschwindigkeit bei Vernachlässigung der Reibung. 74 75
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würden. Viele moderne Materialien, insbesondere solche, die in elektronischen Geräten verwendet werden, beruhen auf Erkenntnissen der Quantenphysik. Laser, die in jedem CD- und DVD-Spieler benutzt werden, setzen die neuen Erkenntnisse der Quantenphysik voraus, Transistoren wären ohne sie nicht vorstellbar. Trotzdem gibt es immer wieder Versuche, die Quantenphysik in den mechanistischen Denkrahmen zu pressen (siehe Kap. IV/4). Doch wie sieht es hinsichtlich der Kausalität im Kontext des Lebendigen bzw. des Human-Geistigen aus? Mit eben dieser Frage beschäftigte sich um 1920 der österreichische Biologe Paul Kammerer 77. In seinem Werk Das Gesetz der Serie (1919), das vom Titel her nach klassischer Kausalität klingt, ging es Kammerer jedoch um gänzlich anderes: nämlich um den Aufweis, dass es neben dem bekannten kausalen Ursache-Wirkung-Schema der Naturwissenschaften noch eine andere Form von Gesetzmäßigkeit gibt, die sich in Gestalt von Serien zeigt. Serie meint dabei – so Kammerer wörtlich – »eine gesetzmäßige Wiederholung gleicher oder ähnlicher Dinge und Ereignisse – eine Wiederholung (Häufung) in der Zeit oder im Raume, deren Einzelfälle, soweit sie nur sorgsame Untersuchung zu offenbaren vermag, nicht durch dieselbe, gemeinsam fortwirkende Ursache verknüpft sein können.« 78
Arthur Köstler, der sich eingehend mit Werk und Leben Kammerers beschäftigt hat 79, bemerkt dazu: »Kammerers Absicht ist es, [im Buch Das Gesetz der Serie] […] zu beweisen – daß Koinzidenzen, ob sie nun einzeln oder in Serie auftreten, Manifestationen eines universalen Naturprinzips sind, das unabhängig von physikalischen Kausalprinzipien wirkt.« 80
Paul Kammerer (1880–1926): Österreichischer Biologe. Ab 1902 mit der Errichtung von Terrarien und Aquarien im Zuge des Entstehens der Biologischen Versuchsanstalt in Wien betraut. Mit den zu dieser Zeit modernsten Einrichtungen begann er Amphibien zu züchten. 1910 Habilitation zur experimentellen Morphologie der Tiere. Kammerer wollte die Vererbung erworbener Eigenschaften durch Versuche mit Geburtshelferkröten nachweisen. 1919 veröffentlicht Kammerer das oben erwähnte Werk Das Gesetz der Serie. Eine Lehre von den Wiederholungen im Lebens- und Weltgeschehen. Als er Mitte der 1920er Jahre unter den Verdacht gerät, seine Experimente gefälscht zu haben, nimmt er sich das Leben. 78 Kammerer, Paul: Das Gesetz der Serie, Stuttgart – Berlin 1919, S. 36. 79 Hierbei ist vor allem seine Kammerer-Biographie zu nennen, die unter dem Titel Der Krötenküsser auch in deutsch erschien. 80 Köstler, Arthur: Die Wurzeln des Zufalls, 3. TB-Aufl., Frankfurt/Main 1980, S. 87. 77
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Das Werk ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil findet sich eine Klassifikation von zu unterscheidenden Koinzidenzserien, die Kammerer »mit der Sorgfalt eines systematisierenden Zoologen betreibt.« 81 Im zweiten, theoretischen Teil breitet er seinen zentralen Gedanken aus, demzufolge im Universum neben der Kausalität ein akausales Prinzip wirksam sei. »In gewisser Hinsicht« – so Köstler – »ist es [das von Kammerer postulierte akausale Prinzip] der Schwerkraft vergleichbar – die für den Physiker ebenfalls noch ein Geheimnis darstellt. Doch ungleich der Schwerkraft, die auf jede Masse gleichermaßen einwirkt, wirkt diese Kraft selektiv auf Form und Funktion ein, um verwandte Konfigurationen in Raum und Zeit zusammenzufügen; sie hängt mit Affinität zusammen. Auf welche Weise diese akausale 82 Wirkkraft in die kausale Ordnung der Dinge eindringt – sowohl in dramatischen als auch in trivialen Fällen – können wir nicht sagen, da sie ex hypothesi, d. h. außerhalb der bisher bekannten Kausalitätsgesetze wirksam wird.« 83
Wir haben das Werk von Kammerer nicht zuletzt deshalb etwas ausführlicher erwähnt, weil es in der Folge zu einer wesentlichen Quelle für den Quantenphysiker und Nobelpreisträger Wolfgang Pauli wird, der – zusammen mit C. G. Jung 84 – ab den 1930er Jahren ähnlichen Phänomenen nachgeht. Pauli und Jung teilen die Auffassung von Kammerer, dass die Wirklichkeit neben physikalisch-kausalen auch von a-kausalen Faktoren geprägt sei. In seiner 1952 veröffentlichten Abhandlung Der Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler vermerkt Pauli gerade mit dem indirekten Hinweis auf die A-Kausalität die Notwendigkeit einer Relativierung der wissenschaftlichen Erkenntnisweise, wenn er – mit Hilfe einer nicht glücklichen Formulierung – vom akKöstler: ebd., S. 87. Im Text bei Köstler (ebd., S. 88) steht kausal (und nicht akausal) – aber es dürfte sich um einen sinnentstellenden Druckfehler handeln. 83 Köstler: Die Wurzeln des Zufalls, a. a. O., S. 88. 84 Carl Gustav Jung (1875–1961), Schweizer Psychiater mit einem Naheverhältnis zu Spiritismus, Alchemie, Gnosis und östlichen Religionen. Über die Fachgrenzen hinaus bekannt ist der von ihm geprägte Begriff des Kollektiven Unbewussten. Vgl. zu Jungs Denken: Goldbrunner, Josef: Individuation. Selbstfindung und Selbstentfaltung, Krailling vor München 1949 (mit Bibliographie C. G. Jungs); Nannen, Els: C. G. Jung. Der getriebene Visionär, 2. Aufl., Bielefeld 2003 sowie zum Pauli-Jung-Dialog: Atmanspacher, Harald; Primas, Hans; Wertenschlag-Birkhäuser, Eva (Hrsg.): Der Pauli-Jung-Dialog und seine Bedeutung für die moderne Wissenschaft. Springer-Verl., Berlin 1995. 81 82
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tuellen Fehlen eines »naturwissenschaftlichen Weltbildes« spricht. Wörtlich heißt es da: »Heute besitzen wir zwar Naturwissenschaften, aber kein naturwissenschaftliches Weltbild mehr. […] Seit der Entdeckung des Wirkungsquantums war ja die Physik allmählich gezwungen, ihren stolzen Anspruch, im Prinzip die ganze Welt verstehen zu können, aufzugeben. Eben dieser Umstand könnte aber als Korrektur der früheren Einseitigkeit 85 den Keim eines Fortschrittes in sich tragen in Richtung auf ein einheitliches Gesamtweltbild, in welchem die Naturwissenschaften nur ein Teil sind.« 86
Paulis Überzeugung, dass es neben den physikalisch-kausalen auch a-kausale Faktoren gibt, hielt ihn davon ab, parapsychologische Phänomene im Rahmen einer physikalisch-kausalen Theorie erklären zu wollen. Er hielt es für angemessener bzw. weiterführender, »die parapsychologischen Phänomene, einschließlich der augenfälligen Koinzidenzen, als sichtbare Spuren der nicht aufzuspürenden akausalen Prinzipien im Universum anzusehen« 87, wie Köstler schreibt. Auf Basis dieser Ansicht erwuchs aus dem Dialog mit C. G. Jung dessen Abhandlung Synchronizität als ein Prinzip akausaler Zusammenhänge, die gemeinsam mit Paulis oben erwähnter Arbeit über Kepler erschien. 88 Synchronizität wird dabei definiert als »Gleichzeitigkeit zweier sinngemäß, aber akausal verbundener Ereignisse« 89 bzw. als »zeitliche Koinzidenz zweier oder mehrerer nicht kausal aufeinander bezogener Ereignisse, welche von gleichem oder ähnlichem Sinngehalt sind« 90, das heißt als »ein Erklärungsfaktor, der ebenbürtig der Kausalität gegenübersteht.« 91 Es geht hier nicht darum, die Konzeptionen von Pauli und Jung im Einzelnen näher darzustellen, sondern allein zu zeigen, dass ein weltbekannter Psychologe und ein großer Physiker Mitte des 20. Jahrhunderts gemeinsam daran gehen, den kausalen Der Absolutsetzung der »klassischen« Kausalität im Sinne eines Ursache-Wirkungs-Mechanismus. 86 Pauli, Wolfgang: Der Einfluß archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler, in: Jung/Pauli: Naturerklärung und Psyche, a. a. O., S. 163 f. 87 Köstler: Die Wurzeln des Zufalls, a. a. O., S. 93. 88 Jung/Pauli: Naturerklärung und Psyche, a. a. O. 89 Jung zitiert nach Köstler: Die Wurzeln des Zufalls, a. a. O., S. 97. 90 Jung: ebd., S. 97. 91 Jung: ebd., S. 97. Köstler macht darauf aufmerksam, dass dies eine fast wörtliche Wiederholung der Definition der »Serialität« bei Kammerer darstellt. 85
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»Denkrahmen der Moderne« zu überschreiten. Oder mit den Worten von Köstler: »das Prinzip der akausalen Ereignisse von der Mikrophysik (wo seine Anwendbarkeit [bereits] anerkannt wurde) auf die Makrophysik (wo das nicht der Fall war) auszudehnen« 92. So unbestritten wichtig die Bemühung der Überschreitung des »Denkrahmens der Moderne« durch Kammerer, Pauli, Jung u. a. mit Hilfe des Postulats eines akausalen Prinzips war, so zweifelsfrei haben diese Konzepte ihre prinzipiellen Grenzen. Dies einerseits deshalb, weil man versucht, daraus wiederum – nun a-kausale – »Gesetzmäßigkeiten« abzuleiten, die dann irgendwie »technisch« gehandhabt werden können, zum anderen, weil dabei gerade das Spezifische des Lebendigen, Menschlichen bzw. Geistigen außer Acht gelassen wird: der Umstand, dass wir es hierbei nicht allein mit A-Kausalität, sondern darüber hinaus mit Trans-Kausalität zu tun haben. Wir werden auf diesen Zusammenhang im Kapitel VIII/3b (Kausalität 6¼ Transkausalität) eingehend zurückkommen. Rückblickend erscheint es hoch bemerkenswert, dass Niels Bohr diese wesentliche Differenz zwischen A-Kausalität und Trans-Kausalität schon in den 1930er Jahren – um es paradox zu formulieren – präzise geahnt hat. Als ihn nämlich Pascal Jordan mit der Idee konfrontierte, ob nicht in den Unbestimmtheiten der Quantenphänome womöglich auch ein Verstehensgrund für die Willensfreiheit des Menschen zu erblicken sei, stieß dieser beim Vater der Quantenmechanik auf wenig Verständnis. Denn das Phänomen der menschlichen Freiheit war für Bohr nicht ein zufälliges (a-kausales) Geschehen, sondern ein schöpferisches (transkausales) Ereignis. 93
c)
»Spukhafte Fernwirkung« (bei gleichzeitiger Absolutsetzung von Raum und Zeit)
Einsteins Unbehagen mit der Quantentheorie gründete auf seiner festen Überzeugung, die Physik müsse eine realistische Erkenntnisvorstellung zugrunde legen. (Wir haben das im ersten Kapitel ausgeführt.) Zwar ist er selbst mit seiner speziellen Relativitätstheorie von dieser Anschauung abgewichen, als er die absolute Zeit verwarf, weil sie grundsätzlich nicht messbar ist. In seinen späteren Jahren 92 93
Köstler: Die Wurzeln des Zufalls, a. a. O., S. 102. Vgl. dazu Fischer: Niels Bohr, a. a. O., S. 156.
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distanzierte er sich aber von seiner eigenen Einstellung. Werner Heisenberg erinnert sich an ein Gespräch mit Einstein aus dem Jahre 1926, in dem er sagte: »Da es aber doch vernünftig ist, in eine Theorie nur die Größen aufzunehmen, die beobachtet werden können, […]«. Zu seinem Erstaunen erwiderte Einstein: »Aber Sie glauben doch nicht im Ernst, dass man in eine physikalische Theorie nur beobachtbare Größen aufnehmen kann.« Worauf Heisenberg meinte: »Ich dachte, dass gerade Sie diesen Gedanken zur Grundlage Ihrer Relativitätstheorie gemacht hätten?« Darauf Einstein: »Vielleicht habe ich diese Art von Philosophie benützt, aber sie ist trotzdem Unsinn.« 94 Also wollte Einstein die oben ausgeführte neue Einstellung der Quantenphysik widerlegen, wonach die Eigenschaften eines Objektes erst durch die Messung erzeugt werden und vorher nicht bestehen. Er erfand dazu ein geniales Gedankenexperiment, das er zusammen mit Podolsky und Rosen im Jahre 1935 publizierte. 95 (Es ist als »EPR-Paradoxon« auch in die populäre Literatur eingegangen.) Die drei Autoren nehmen an, ein instabiles Teilchen zerfalle in zwei gleiche Tochter-Teilchen. Im Ruhesystem des zerfallenden Teilchens müssen die beiden Tochterteilchen in entgegengesetzter Richtung kollinear ausgesandt werden; das folgt aus der Erhaltung des Impulses, so wie der Rückstoß beim Abschießen eines Gewehres immer genau entgegengesetzt der Richtung des Projektils erfolgt. Nach den Regeln der Quantenmechanik ist die konkrete Richtung der Teilchen nicht festgelegt, solange sie nicht gemessen werden; sie müssen lediglich entgegengesetzt gerichtet sein, um den Impuls zu erhalten. Im Gedanken-Experiment stellen wir uns das System in einem leeren Raum (also ohne Störung) vor und können beliebig weit weg vom zerfallenden Teilchen den Ort eines der beiden »Tochter«-Teilchen bestimmen. Durch diese Messung wird aber nicht nur der Ort dieses Teilchens festgelegt, sondern – wegen der ImpulsErhaltung – auch der des anderen, das sich nun doppelt so weit weg befindet! Dies scheint im Widerspruch zur speziellen RelativitätsTheorie zu stehen, die ja bekanntlich ausschließt, dass sich Wirkungen schneller als mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten können. Es ist daher verständlich, dass Einstein diesen Einwand als genügend graHeisenberg: Der Teil und das Ganze, a. a. O., S. 60. Einstein, Albert; Podolsky, Boris; Rosen, Nathan: Can quantum-mechanical description of physical reality be considered complete? in: Phys. Rev. 47 (1935), S. 777; dt. Übersetzung in: Der Physikunterricht 1 (1978), S. 56.
94 95
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vierend empfand, um die Quantenmechanik in dieser Form abzulehnen. Zunächst wollen wir festhalten, dass mittlerweile diese Frage experimentell geklärt werden konnte und die Vorhersagen der Quantenphysik (inklusive des EPR-Paradoxons) glänzend bestätigt wurden. 96 Die Frage bleibt aber offen, wie sich solche Erkenntnisse in das vorhandene Bild der Physik einordnen lassen. 97 Das Paradoxon stellt zwar keinen Widerspruch zur speziellen Relativitäts-Theorie dar, wohl aber zur naiven Vorstellung einer »Realität«, die – unabhängig von ihrer Beobachtung – in beliebig kleinen, lokalisierbaren Teilen »beschreibbar« ist. Die Relativitäts-Theorie verbietet nämlich nicht per se jede Überlichtgeschwindigkeit; die so genannte »Phasengeschwindigkeit« elektromagnetischer Wellen ist oft größer als die Lichtgeschwindigkeit. Sie behauptet nur, dass massive Teilchen die Lichtgeschwindigkeit niemals erreichen, geschweige denn überschreiten können und dass (physikalische) Wirkungen sich niemals mit Überlichtgeschwindigkeit ausbreiten können. (Ein schönes Beispiel ist die Gravitationswirkung der Sonne auf die Erde. Könnte ein gedachtes, omnipotentes Wesen die Sonne plötzlich entfernen, würde die Erde noch ca. acht Minuten in ihrer Bahn weiterfliegen und sich erst dann geradlinig ins All bewegen.) Mittlerweile ist schlüssig gezeigt, dass das EPR-Experiment keine instantane Übertragung erlaubt und daher der Relativitäts-Theorie nicht widerspricht. Dies scheint der naiven Vorstellung zweier voneinander weit entfernter Teilchen, die dennoch gemeinsame Eigenschaften haben, diametral zu widersprechen – und tut es auch!
96 Ausführliche Darstellung z. B. in Pietschmann: Quantenmechanik verstehen, a. a. O., Kap. 7.3, oder in Weinfurter, Harald; Zeilinger, Anton: Informationsübertragung und Informationsverarbeitung in der Quantenwelt, in: Phys.Bl. 52 (1996), S. 219. 97 In diesem Sinne bemerkt Anton Zeilinger im Rahmen eines Interviews (veröffentlicht am 20. 03. 2014) zum Phänomen der »spukhaften Fernwirkung« (Verschränkung): »Es gibt die sogenannte Verschränkung, wo zwei Teilchen so zusammenhängen, auch über große Entfernung, dass die Messung an einem der beiden den Zustand des anderen sofort ändert, ohne dass es da ein Signal von A nach B geben kann; und da fragt man sich natürlich: Wie ist das möglich? Und da muss man sagen: Die Quantenphysik kann das mathematisch wunderbar beschreiben, das ist überhaupt keine Frage, dass das korrekt ist. Aber anschaulich verstehen, das ist die Herausforderung. Das hat man eigentlich noch nicht gelöst.« Onlinequelle: youtube.com/watch?v=MgM4–4_ Dr1w
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Der Fehler bei dieser naiven Vorstellung liegt gerade darin, an zwei getrennte Teilchen zu denken. Das wesentlich Neue der Quantenphysik liegt unter anderem im Phänomen der »Verschränkung«, von dem Erwin Schrödinger meinte, dies sei das eigentlich Unerwartete der Quantenphysik; er sprach von den »Antinomien der Verschränkung« (Kap. III/2). Wenn zwei gleiche Teilchen miteinander wechselwirken, dann vereinigen sie sich zu einem »Doppelteilchen« und verlieren dabei ihre ursprüngliche »Identität«. Erst durch Zerstörung des Doppelteilchens entstehen wieder zwei Teilchen mit jeweils zugeordneten Eigenschaften. Im Falle des EPR-Paradoxons sind diese Eigenschaften korreliert und entstehen durch die Zerstörung des »Doppelteilchens« an verschiedenen Orten. Übrigens hat sich schon Gottfried Wilhelm Leibniz – Zeitgenosse Newtons – in seiner Auseinandersetzung mit Descartes damit befasst, dass individuelle Identität verloren geht, wenn gleiche Teilchen zusammentreffen: »Auch gäbe es, wenn die einfachen Substanzen sich nicht durch ihre Qualitäten unterscheiden würden, gar kein Mittel, irgendeine Veränderung in den Dingen zu bemerken, weil das, was im Zusammengesetzten vorkommt, nur von seinen einfachen Bestandteilen herrühren kann.« 98
Wie es dazu kommen kann, dass zwei Teilchen an verschiedenen Orten dennoch »gemeinsame« Eigenschaften haben, werden wir im Kapitel VI/1 genauer erörtern.
d)
Die »Unabgeschlossenheit« der Quantentheorie
Der Mathematiker Leopold Kronecker postulierte: »Gott schuf die natürlichen Zahlen, alles andere ist Menschenwerk.« Es sei dahingestellt, inwieweit diesem Spruch zu folgen ist, wichtig ist jedoch, dass Mathematik in wesentlichen Zügen Menschenwerk ist. Wir können behaupten, Mathematik sei eine »Ausfaltung« der Aristotelischen Logik, indem sie alles zu denken versucht, was mit den drei Axiomen dieser Logik vereinbar gedacht werden kann. In diesem Sinne ordnet sie sich dem Denkrahmen der Moderne vollkommen unter, ja sie wird wesentliches Hilfsmittel, diesen Denkrahmen zu entfalten.
98
Leibniz, Gottfried Wilhelm: Monadologie, Lehrsatz 8.
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Damit laufen wir aber in eine Aporie: Mathematik soll auch Grundlage der Quantentheorie sein, diese aber setzt einen anderen Denkrahmen voraus, der insbesondere die Aristotelische Logik überschreitet. Widersprüchliche Konzepte wie Welle und Teilchen sollen dennoch mathematisch beschrieben werden; und es ist auch gelungen! Die operationale Bewältigung dieser Aporie war die Trennung von Mathematik und Interpretation. Der mathematische Apparat der Quantentheorie ist – wie jeder mathematische Apparat – widerspruchsfrei. Aber im Gegensatz zur klassischen Physik beschreibt er keine Größen, die unmittelbar gemessen werden können. Ein Beispiel ist die Wellenfunktion als Lösung der Schrödinger-Gleichung. Ihr Absolut-Quadrat kann zwar gemessen werden, aber erst nach einer Interpretation, die auf widersprüchliche Weise zweifach getan werden kann: Entweder als Ladungsdichte-Verteilung (Kontinuums-Interpretation) oder als Dichte der Aufenthaltswahrscheinlichkeit (Teilchen-Interpretation). Was bei einem konkreten Experiment gemessen wird, kann nicht vorgegeben werden, es ergibt sich aus der Konfiguration der experimentellen Anordnung, gegebenenfalls unterliegt es Wahrscheinlichkeits-Überlegungen. Die physikalischen Objekte des Mikrokosmos zeigen sowohl diskrete als auch kontinuierliche Eigenschaften. Da diese nicht widerspruchslos vereint werden können, ist es nicht möglich, von der Natur solcher Objekte unabhängig von ihrer Messung zu sprechen. Erst bei einer Messung stellen sich entweder Teilcheneigenschaften (z. B. eine bestimmte Bahn oder ein bestimmter Ort) oder Welleneigenschaften (z. B. Ausdehnung oder Interferenz) – nicht beide zugleich – ein; sie werden erst durch die Messung »hergestellt«. So können wir das Elektron im Wasserstoff-Atom als Kugel auffassen, wenn wir das Atom als Ganzes »messen«; wir können aber auch von der Aufenthalts-Wahrscheinlichkeit eines (punktförmigen) Elektrons sprechen, wenn wir durch ein Experiment den Ort des Elektrons eingrenzen. Das gleiche gilt für die Teilchen des Atomkerns, etwa für ein Proton. Es kann als Teilchen im Ganzen betrachtet werden, wenn wir durch elastische Streuung die sogenannten »Formfaktoren« messen. Es kann aber auch als zusammengesetzt aus Quarks betrachtet werden, wenn wir tief inelastische Streuung beobachten. In beiden Fällen werden Elektronen auf das Proton geschossen; ob ersterer oder letzterer Fall eintritt, bestimmt die Wahrscheinlichkeit. Nun erhebt sich aber ein gravierendes Problem: Das Ergebnis einer Messung muss widerspruchsfrei sein (d. h. es unterliegt dem 209 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
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mechanistischen Denkrahmen). In der Kopenhagener Interpretation der Quantenphysik wird dieses Problem durch ein Postulat entkräftet: »Die Messinstrumente müssen klassisch beschrieben werden!« Damit sind in der Praxis alle Probleme überwunden, 99 aber die Quantenphysik wird dadurch zu einer unabgeschlossenen Theorie, weil sie der klassischen Physik bedarf, ohne die sie nicht ausgeführt werden kann. (Bis heute wird daher um eine andere Interpretation gerungen, aber ohne durchschlagenden Erfolg.) Aufgabe der Physik ist es, Theorien zu schaffen, die von keinem Experiment falsifiziert werden – und das ist der Quantenphysik (freilich unter Einbeziehung der klassischen Physik) in niemals übertroffener Weise gelungen. Es gibt also eigentlich keinen Bedarf, die Theorie zu ändern, außer einem subjektiven Unbehagen mancher Physiker. Wolfgang Pauli hat das deutlich gemacht: »Die Phänomene haben somit in der Atomphysik eine neue Eigenschaft der Ganzheit, indem sie sich nicht in Teilphänomene zerlegen lassen, ohne das ganze Phänomen dabei jedes Mal wesentlich zu ändern. Hat der physikalische Beobachter einmal seine Versuchsanordnung gewählt, so hat er keinen Einfluss mehr auf das Resultat der Messung, das objektiv registriert allgemein zugänglich vorliegt. Subjektive Eigenschaften des Beobachters oder sein psychischer Zustand gehen in die Naturgesetze der Quantenmechanik ebenso wenig ein wie in die der klassischen Physik.« 100
Wolfgang Pauli empfand die neue Begriffswelt der Quantenmechanik nicht als unbefriedigend, er schrieb: »Der Verfasser gehört zu den Physikern, welche glauben, dass die neue, der Quantenmechanik zugrunde liegende erkenntnistheoretische Situation befriedigend ist, und zwar sowohl vom Standpunkt der Physik, als auch von dem weiteren Standpunkt der menschlichen Erkenntnis im allgemeinen.« 101
Der angesprochene Bruch zwischen quantenmechanischer und klassischer Beschreibung heißt »Heisenberg’scher Schnitt«. Wiederholen wir dazu die klare und deutliche Darstellung aus Kap. I von Wolfgang Pauli: »Sicher aber ist, dass die moderne Physik die alte Gegenüberstellung von erkennendem Subjekt auf der einen Seite zu dem erkannten Objekt auf der
Siehe dazu Pietschmann: Quantenmechanik verstehen, a. a. O., Kap. 5. Pauli: Physik und Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 115. 101 Pauli: Physik und Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 61. 99
100
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anderen Seite verallgemeinert zu der Idee des Schnittes zwischen Beobachter oder Beobachtungsmittel und dem beobachteten System. Während die Existenz eines solchen Schnittes eine notwendige Bedingung menschlicher Erkenntnis ist, faßt sie die Lage des Schnittes als bis zu einem gewissen Grade willkürlich und als Resultat einer durch Zweckmäßigkeitserwägungen mitbestimmten, also teilweise freien Wahl auf.« 102
Wo dieser Schnitt zu legen ist, kann nur empirisch, also durch Experimente festgestellt werden. Dabei wurde erkannt, dass noch erstaunlich große Objekte im Doppelspalt-Experiment quantenphysikalische Eigenschaften zeigen, also sowohl diskret als auch kontinuierlich aufzufassen sind. 103 Erwin Schrödinger wollte den Schnitt nicht akzeptieren. Er hat versucht, mit seiner berühmten Katze die Quantenphysik ad absurdum zu führen. »Man kann auch ganz burleske Fälle konstruieren. Eine Katze wird in eine Stahlkammer gesperrt, zusammen mit folgender Höllenmaschine (die man gegen den direkten Zugriff der Katze sichern muß): in einem Geigerschen Zählrohr befindet sich eine winzige Menge radioaktiver Substanz, so wenig, daß im Lauf einer Stunde vielleicht eines von den Atomen zerfällt, ebenso wahrscheinlich aber auch keines; geschieht es, so spricht das Zählrohr an und betätigt über ein Relais ein Hämmerchen, das ein Kölbchen mit Blausäure zertrümmert. Hat man dieses ganze System eine Stunde lang sich selbst überlassen, so wird man sich sagen, daß die Katze noch lebt, wenn inzwischen kein Atom zerfallen ist. Der erste Atomzerfall würde sie vergiftet haben. Die ψ-Funktion des ganzen Systems würde das so zum Ausdruck bringen, daß in ihr die lebende und die tote Katze zu gleichen Teilen gemischt oder verschmiert sind.« 104
Im Mikrobereich werden solche »Katzen-Zustände« (Fachausdruck!) heute experimentell untersucht. Es bleibt aber eine Herausforderung, die Grenze quantenphysikalischer Beschreibung experimentell auszuloten.
102 Pauli: Der Einfluss archetypischer Vorstellungen auf die Bildung naturwissenschaftlicher Theorien bei Kepler, in: Jung/Pauli: Naturerklärung und Psyche, a. a. O. 103 Univ. Wien, Vienna Center for Quantum Science and Technology; vgl. Gerlich, Stefan et al.: Quantum Interference of large organic molecules, in: Nature Communications, 2:263 doi: 10.1038/ncomms1263 (2011); Markus Arndt & Klaus Hornberger Insight review: Testing the limits of quantum mechanical superpositions, in: Nature Physics 10 (2014), S. 271–277. 104 Schrödinger: Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik, in: Die Naturwissenschaften 23 (1935), 807, 823, 844, § 5.
211 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
4.
Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
a)
Das substanzial-monadische Verständnis des Menschen (im Gefolge von Augustinus und Leibniz)
Dazu gilt es etwas auszuholen und zwei geistige Wurzeln des Abendlandes diesbezüglich näher zu betrachten: die griechische Antike und die christliche Überlieferung. Die Antike ist geprägt durch die Frage nach dem eigentlich Dauernden im Wandel der Dinge (vgl. Kap. III/6), durch die Frage nach dem Beständigen, nach dem nicht nur Werdenden und Vergehenden, sondern nach dem unwandelbar Seienden. Dieses wird gesehen im Einen, dem alles Viele ontologisch nachgeordnet ist. In diesem Sinne schreibt Greshake: »Das höchste Eine wie auch das allgemeine Wesen jedes Seienden ist [im griechischen Denken] gerade dadurch definiert, dass es alle Vielheit, alle Andersheit, alle innere Relationalität und Kommunikation ausschließt.« 105 Greshake sieht darin auch die Not des Menschen der Antike, »hinter« der chaotischen Vielfalt und Veränderung einen letztlichen Grund, einen stabilen Anker im Fluss der Dinge zu finden. Dieser wird in einer unwandelbaren Monas bzw. in unwandelbaren, allgemeinen Wesenheiten gesehen. »Konsequenz all dessen«, so noch einmal Greshake wörtlich, »ist die Bedeutungslosigkeit, die man der Kategorie Relation, Beziehung zuschreibt, die nicht von ungefähr bei Aristoteles als letzte in der Kategorientafel figuriert. Denn zur Beziehung gehört ja notwendig Vielheit, gehören wenigstens zwei, die miteinander in Relation und in veränderlicher Reziprozität stehen. Wahres, wirkliches Sein schließt deshalb Beziehung aus; wahres und wirkliches Sein heißt für das antike Denken ›In-Sich-Sein‹ und ›Fürsich-Sein‹. Wahres Sein ist – in einem Wort gesagt – substanzielles Sein.« 106 Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Beziehung, Kommunikation in der Antike einen zweitrangigen Modus der Wirklichkeit darstellt, warum der Mensch primär als Individuum, gleichsam als eine zwar vorübergehende, jedoch für sich stehende, unteil105 Greshake: Der Ursprung der Kommunikationsidee, in: Hamberger/Luger (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O., S. 195–215, hier S. 198. 106 Greshake: ebd., S. 199 (Kursivierung von den Autoren).
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Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
bare einzelne »Ich-Substanz« verstanden wird, zu der das Element des Relationalen, des Bezogenseins, der Kommunikation, bloß hinzukommt, jedoch nicht konstitutiv ist. Dieses Verständnis erfährt mit dem aufkommenden Christentum eine gravierende Veränderung, ja es kommt zu einem fundamentalen Wandel des Seinsverständnisses. Denn das höchste Sein wird im Christentum nicht nur als Person geglaubt, sondern als der eine Gott in drei Personen, d. h. als Trinität. Infolgedessen ist das höchste Sein gemäß christlicher Tradition keine unveränderliche Monade, sondern sich unablässig ereignende Gemeinschaft, in sich selbst und in seiner Beziehung zur Menschheit. Greshake bemerkt dazu: »Nicht mehr eine transzendente Monas, eine höchste göttliche Substanz, ist [im Christentum] der letzte Bezugspunkt aller Wirklichkeit, sondern ein Gott, der Differenz und Einheit in sich birgt, ein Gott, der als ›relationale Einheit‹ und in sich selbst Kommunikation ist.« 107 Dieses neue Seins- bzw. Gottesverständnis hatte nun – wie erwähnt (vgl. Kap. III/6) – auch für das Selbst-Verständnis des Menschen insofern Konsequenzen, als die skizzierte trinitarisch-relationale Grundbestimmung nicht nur für Gott selbst gilt, sondern für alles, was ist, insbesondere für den Menschen, der als Ähnlichkeit, als Ebenbild Gottes geschaffen gedacht wurde. So bildete sich im abendländischen Denken »erstmals ein Personbegriff 108 aus, der nicht nur die Würde und Einmaligkeit des Menschen betonte, sondern darüber hinaus dessen Mitkonstituiertsein durch andere. 109 Das bedeutet: Zum Menschsein als Person kommt das Element des Relationalen, der Kommunikation nicht mehr bloß hinzu; es ist konstitutiv. Ratzinger macht auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass dieses revolutionär-neue Verständnis des Menschen – als in gleicher Weise substanziales wie relationales Wesen – in weiterer Folge nicht 107 Greshake: ebd., S. 200 f. Bei der Formulierung des zentralen christlichen Dogmas der Trinität ging es demzufolge darum, die – wie Dalferth schreibt – »undifferenzierte platonische Monas und die ihr hierarchisch subordinierten Hypostasen durch eine relationale Einheit zu ersetzen.« (Dalferth, Ingulf: Jenseits von Mythos und Logos, Freiburg/Br. 1993, S. 95) Fortan sind Substanz und Relation gleichen ontologischen Ranges; so kann der frühchristliche Bischof Novitian die göttliche Substanz communio substantiae nennen (vgl. Werbig, Jürgen: Trinitätslehre, in: Handbuch der Dogmatik, Bd. II, Düsseldorf 1992, S. 495). 108 Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass der – aus dem Griechischen entlehnte – Begriff der Person vorerst gar nicht der Bezeichnung des Menschen dient, sondern dem Unterfangen, das Mysterium des dreipersonalen Seins sprachlich auszudrücken. 109 Vgl. Greshake: Der Ursprung der Kommunikationsidee, a. a. O., S. 203.
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
gleich, vor allem nicht in letzter Konsequenz erfasst wurde. So habe Augustinus, also jener Kirchenlehrer, der im ersten Jahrtausend als die theologische Autorität betrachtet wurde, das trinitarische Personverständnis nur verkürzt auf den Menschen übertragen. Wörtlich schreibt er dazu: »Augustinus hat […] die Übertragung [der] theologischen Aussage [der Dreipersonalität Gottes] in die Anthropologie ausdrücklich vorgenommen, indem er den Menschen als Abbild der Trinität zu beschreiben und ihn von diesem Gottesbegriff her zu verstehen versucht. Aber er hat dabei leider eine entscheidende Verkürzung vorgenommen, […] insofern er die göttlichen Personen [zwar] in das Innere des Menschen hineindeutet, als ihre Entsprechungen innerpsychische Vermögen annimmt, […] den Menschen insgesamt [jedoch] in Entsprechung zur Substanz Gottes setzt, so daß der [relationale] Personbegriff nicht in seiner unmittelbaren Wucht ins Menschliche übertragen wird.« 110
Dieser Umstand ist nach Ratzinger nun maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich in weiterer Folge im abendländischen Denken dann doch (wieder) das antike Individuums- bzw. Substanz-Verständnis des Menschen durchsetzen konnte. In diesem geistesgeschichtlichen Kontext ist die Monadenlehre von Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) zu sehen. Schon ganz im Rückgriff auf die Antike postuliert er: Einfache Substanzen muss es geben, da es Zusammengesetztes gibt. Gemäß der traditionellen Maxime, dass das Niedere aus dem Höheren zu deuten sei, versteht er dabei unter Substanzen jedoch keine materialen Entitäten, sondern gewissermaßen »Geist-Atome«. Leibniz nennt diese einfachsten geistigen Substanzen Monaden und versteht den Menschen (erneut) als »monadisches Individuum« 111. Ratzinger: Dogma und Verkündigung, a. a. O., S. 215. Vorländer schreibt zum Verständnis der Monaden bei Leibniz: »Weil ohne Teile, können die Monaden auf natürliche Weise weder entstehen noch zerstört werden, sondern sie dauern so lange als das von Gott geschaffene All. Ohne Gestalt und Ausdehnung, unterscheiden sie sich voneinander nur durch ihre inneren Eigenschaften, nämlich ihre Vorstellungen, d. i. die im Einfachen enthaltenen »Darstellungen« des Zusammengesetzten, und ihr Begehren, von einer Vorstellung zur anderen überzugehen. Denn jede Monade verändert sich immerfort, und zwar kraft eines »inneren Prinzips« der Vorstellungen und des Begehrungstriebes, das sich aus mechanischen Gründen nicht erklären läßt. Jede Monade ist ferner der anderen gegenüber vollkommen selbständig, sie hat keine »Fenster«, durch die etwas in sie hinein oder von ihr ausgehen könnte. […] Wird sie ihrer selbst bewußt, so erhebt sie sich zum Geiste oder zur vernünftigen Seele, die nur dem Menschen zukommt und durch die Wissenschaf110 111
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Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
Damit gelingt es ihm zwar, den Primat des Geistes gegenüber der Materie zu retten, er gerät jedoch in Schwierigkeiten beim Erklärungsversuch, wie Kommunikation zwischen den (fensterlos gedachten) Monaden von statten gehen kann. Als Lösung des Problems entwickelt er die Hypothese der sogenannten »prästabilierten Harmonie« 112, d. h. einen von Anbeginn abgestimmten Einklang zwischen den unendlich verschiedenen Monaden durch die höchste Monade, Gott. In dem Maße, als im Zuge der Aufklärung ein solch »transzendenter Harmonisator« nicht mehr einfachhin postuliert werden konnte 113 und Materie als eigentliches Grundelement der Wirklichkeit angesehen wurde, konnte zwar das Phänomen Kommunikation (als materiale Wechselwirkung) verstanden werden, jedoch kam nun die Größe Geist abhanden. Sehr gut wird dieses doppelte Dilemma zu Beginn der Moderne durch das oben schon erwähnte Zitat deutlich, wo der Physiker unter den Autoren – gleichsam aus der Warte der Neuzeit schreibend – den Problemhorizont wie folgt aufspannt: »Entweder wir gründen die einfachen Substanzen als Atome (oder Elementarteilchen) in der Materie, dann können wir den Geist nicht finden; oder wir gründen sie als Monaden im Geist, dann können wir Kommunikation [im Sinne geistigen Austauschs bzw. geistigen Mit-Einander-Seins] nicht verstehen.« 114
Als sich mit dem 18. Jahrhundert die erstgenannte Ansicht durchzusetzen beginnt 115, wird die europäische Moderne zur Epoche der ten (durch Wiegen, Messen, Zählen) in ihrem Bereiche und in ihrer kleinen Welt das nachahmt, was Gott in der großen schafft. Eine deutliche Kenntnis von allem, was da ist, hat nur Gott, die höchste Monade, denn er ist die Quelle von allem. Die Monade ist – das wird der aufmerksame Leser bereits gemerkt haben – in heutiger Sprache nichts anderes als das Individuum, vom einfachsten Organismus bis hinauf zur Gottheit, das in seinen Vorstellungen und in seinem Streben die Welt je nach seiner spezifischen Art widerspiegelt.« (Vorländer, Karl: Die Geschichte der Philosophie, Leipzig 1903) 112 Die er nach Spaemann der Engellehre des Thomas von Aquin entlehnte (vgl. Spaemann: Schritte über Grenzen, Bd. II, a. a. O., S. 191 f. 113 Man denke an das bekannte überlieferte Wort, wonach der Mathematiker PierreSimon Laplace auf die Frage Napoleons, wo in seinem Gedankensystem Gott vorkomme, geantwortet haben soll: »Sire, wir bedürfen dieser Hypothese nicht mehr«. 114 Pietschmann: Die Atomisierung der Gesellschaft, a. a. O., S. 115. Vgl. zu dieser Thematik: Nagel, Thomas: Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Frankfurt/Main 2013. 115 Dies wird etwa dadurch deutlich, dass im Hinblick auf Kommunikation zuneh-
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
Mythisierung von Rationalität bzw. zum Ort der Emotionalisierung von Wissenschaftlichkeit, was spätestens im 19. Jahrhundert mit dem Streit um das Darwin’sche Evolutionstheorem einen ersten »Höhentiefpunkt« erreicht.
b)
Das relational-systemische Verständnis des Menschen
So einleuchtend ein substanzial-monadisches Verständnis des Menschen als Hürde auf dem Weg zu einer dialogischen Deutung des Menschen ist, so wenig plausibel scheint dies aufs Erste bei relational-systemischen Konzeptionen des Menschen der Fall zu sein; wohnt diesen Verständnissen doch schon von der Bezeichnung her ein Beziehungselement inne. Dennoch sind auch diese Ansätze letztlich nicht geeignet, ein dialogisches Verständnis des Menschen zu befördern. Warum ist das so? Ausschlaggebend hierfür ist der genau umgekehrte Grund wie bei den substanzial-monadischen Konzeptionen. Findet bei diesen der »Kommunikationsaspekt« zu wenig theoretische Beachtung, so wird hier dem »Subjekt-Aspekt« nur eine nachrangige theoretische Bedeutung zuerkannt. Bei ersteren meint man den relationalen Aspekt vernachlässigen zu können, weil der Mensch gemäß dieser Verständnisse als alleine vollständig, d. h. als im Grunde nicht ergänzungsbedürftig angesehen wird. Bei zweiteren rückt zwar der Beziehungsaspekt in den Mittelpunkt, die Kommunikation innerhalb eines sozio-kulturellen Systems, dies jedoch auf Kosten des Personalen, des Individuell-Einzigartigen. Rothe bringt die damit verbundene doppelte kommunikationstheoretische Problemstellung auf den Punkt, wenn sie – die Konzeption von Kenneth Gergen in Frage stellend – schreibt: »Entweder bringt er [Gergen] nachträglich zwei Individuen in Beziehung, die zuvor als unabhängig voneinander gesetzt wurden, oder aber er ›vernichtet‹ das Individuum und setzt es stattdessen als individelles Moment eines sozialen Prozesses. Dann aber kann nicht mehr ernsthaft von Relationalität die Rede sein.« 116
mend der technische Aspekt des Informationstransfers bzw. der Nachrichtenübermittlung in den Vordergrund tritt. 116 Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 43.
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Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
In ähnlicher Weise stellt Susanne Jacob den relational-systemischen Ansatz in Frage, wenn sie zu bedenken gibt: »Was ist der Mensch, wenn er in jeder Hinsicht als relational beschrieben wird? Wo bleibt das Einzigartige eines jeden Menschen?« 117 In diesem konzeptionellen Fahrwasser ist – um ein bekanntes Beispiel zu nennen – Niklas Luhmanns Systemtheorie anzusiedeln. Dies macht wiederum Rothe deutlich, wenn sie dazu bemerkt: »Irritierend an Luhmanns Ansatz ist der konsequente Verzicht auf den Subjektbegriff. Stattdessen ist die Rede von abstrakten Subjekt-Aktanden wie ›Differenzierung‹, ›System‹, ›Operation‹ etc., die ›wählen‹, ›entscheiden‹ oder ›verhindern‹. Dieser Versuch der Negation des individuellen Subjekts muss allerdings letztlich scheitern, weil er schon sprachlich nicht möglich ist.« 118
Menschliche Handlungen können bei diesen Ansätzen insofern schwerlich als personale Kommunikations-Akte verstanden werden, sondern allein als systemisch-relationale Funktionselemente. Zu Ende gedacht heißt dies, dass es hier den Menschen als kommunizierende Person eigentlich nicht mehr gibt; er erscheint vielmehr reduziert auf ein neurophysiologisches System. Prägnant bemerkt dazu Schmidinger: »Übernimmt die Konstitution von Identität ein übergeordnetes System, so tritt an die Stelle des Individuums ein untergeordnetes ›selbstreferentielles‹ Subsystem. […] Von Identität kann jetzt höchstens noch im numerischen Zusammenhang gesprochen werden.« 119
Kurz: Bei relational-systemischen Ansätzen wird kommunikationsspezifisch deutlich, was oben als allgemeines Strukturelement des widerspruchsfreien Denkrahmens der Moderne ersichtlich gemacht wurde: In dem Maße, als Wirklichkeit als Materie bzw. als daraus evolvierend gedachte »neurophysiologische Systeme« verstanden wird, gerät der (individuelle) Geist des einzelnen Menschen aus dem theoretischen Blick und kann schwerlich anders denn als Systemfunktion eines übergeordneten systemischen Ganzen (und sonst nichts) betrachtet werden. Das führt uns auf direktem Weg zur
117 Jacob, Susanne: Soziale Repräsentationen und Relationale Realitäten. Theoretische Entwürfe der Sozialpsychologie bei Serge Moscovici und Kenneth J. Gergen, Wiesbaden 2004, S. 189. 118 Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 130. 119 Schmidinger, Heinrich: Der Mensch ist Person, Innsbruck 1994, S. 20.
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
nächsten Hürde, die es auf dem Weg zu einer relational-dialogischen Konzeption des Menschen zu überwinden gilt.
c)
Der Primat der Materie (und damit von Zeit und Raum)
Die damit verbundene Problematik macht Joseph Ratzinger deutlich, wenn er – von Einsteins Relativitätstheorie ausgehend – zu bedenken gibt: »Die von Einstein formulierte Relativitätstheorie betrifft als solche den physischen Kosmos. Aber sie scheint mir auch die Situation des geistigen Kosmos unserer Zeit treffend zu beschreiben. Die Relativitätstheorie besagt, dass es innerhalb des Weltalls keine festen Bezugssysteme gibt. Es ist unsere Festlegung, wenn wir ein System als Bezugspunkt erklären, von dem aus wir das Ganze zu messen versuchen, weil wir nur so überhaupt zu Ergebnissen gelangen können. Aber die Festlegung könnte immer auch anders erfolgen. Was über den physischen Kosmos gesagt ist, spiegelt auch unser […] Grundverhältnis zur Wirklichkeit: Die Wahrheit als solche, das Absolute, der Bezugspunkt des Denkens überhaupt, ist nicht mehr sichtbar. Darum gibt es – gerade auch geistig betrachtet – kein Oben und kein Unten mehr. […] Jeder bestimmt sich selbst seine Maßstäbe, und in der allgemeinen Relativität kann auch niemand dem anderen behilflich sein, noch weniger ihm Vorschriften machen. […] [Denn:] Es gibt keine [Sinn-]Richtungen in einer Welt ohne feste Messpunkte. Was wir als [Sinn-]Richtung ansehen, beruht nicht auf einem in sich wahren Maßstab, sondern auf unserer Entscheidung, letztlich auf Gesichtspunkten der Nützlichkeit. […] Hier sind wir am eigentlichen Brennpunkt angelangt: Wo die Inhalte nicht mehr zählen, wo die reine Praxeologie die Herrschaft übernimmt, wird das Können zum obersten Kriterium. Das aber bedeutet: Die Macht wird zur alles beherrschenden Kategorie – revolutionär oder reaktionär.« 120
Diese von Ratzinger skizzierte Wende vollzieht sich in geradezu archetypischer Anschaulichkeit in der Lebensphilosophie von Georg Simmel (vgl. Kap. III/9), der als einer der Gründerväter der modernen Soziologie angesehen wird. Hineingeboren in das Berlin der Gründerzeit (1858), erlebt Simmel hautnah den umwälzenden technischen Fortschritt der großstädtischen Lebenswelt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Diese »Dynamisierung des Wirklichkeitsverständnisses« bildet in der Folge auch den Hintergrund seiner 120 Ratzinger, Joseph: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg – Basel – Wien 2005, S. 112 f.
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Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
Lebensphilosophie. Dabei sieht Simmel alles Gestalthafte (und insofern auch alles Inhaltlich-Werthafte) dem dynamisch-absoluten Lebensfluss 121 untergeordnet und postuliert so das Phänomen der Wechselwirkung als »objektives« Grundprinzip der Realität. Werte ergeben sich demzufolge letztlich bzw. vorrangig aus zwischenmenschlicher Interaktion, wobei der Tausch dessen sichtbarstes Symbol darstellt. Er beschreibt diese Wende als »Achsendrehung« vom Inhalts- zum Formprimat (vgl. Kap. IV/2). Einsteins – quasi zeitgleich entwickelte – Relativitätstheorie für den physischen Kosmos (der großen Objekte) erfuhr eine glänzende experimentelle Bestätigung. Kann dies auch von Simmels Interaktionskonzeption gesagt werden? Wohl hat er – als einer der ersten – die grundlegende Bedeutung des Relationalen für die Sphäre des Menschlichen erkannt. Doch durch die Postulierung der Nicht-Dauerhaftigkeit alles Inhaltlich-Werthaften kommt menschlich-intentionalem Handeln dabei zwangsläufig das Wozu abhanden, das »Jenseits des Tausches«, verbleibt jeder letztlich in seiner »Ich-Einsamkeit« 122 mit seinen privaten – von der Nützlichkeit diktierten – Strebungszielen, kommt es zu einem inhaltlichen »Ende der Wechselwirkung« 123 in einem geistigen Kosmos ohne feste Messpunkte, ohne gemeinsame Mitte. Diesem Umstand scheint Simmel nicht genug Beachtung geschenkt zu haben. Wenngleich in weiterer Folge etwa Heidegger in seinem frühen Hauptwerk Sein und Zeit (1927) die Frage der Sinnhaftigkeit menschlichen Daseins – vor dem Hintergrund der Angst – neu ins Zentrum philosophischen Nachdenkens stellt, 124 geschieht dies bereits auf Basis einer diskussionslos vorausgesetzten Absolutsetzung von Raum und Zeit. Es sind nun nur noch Stimmen am Rande, die auf diesen Umstand aufmerksam machen; etwa Edith Stein, die in AuschAuf der Grundlage eines sich stets wandelnden Raum-Zeit-Kontinuums. Ein zentraler – von Ferdinand Ebner geprägter – Begriff des auf die Lebensphilosophie folgenden Dialogischen Denkens der 1920er Jahre (Ebner, Rosenzweig, Rosenstock-Huessy, Buber u. a.), auf dessen Bedeutung weiter unter noch eingegangen wird. 123 Vgl. dazu den gleichnamigen Aufsatz Das Ende der Wechselwirkung – Prolegomena einer Philosophie des (unsichtbaren) Geldes von Aldo Haesler in: Kintzelé, Jeff; Schneider, Peter (Hrsg.): Georg Simmels Philosophie des Geldes, Frankfurt/Main 1993, S. 221–263. 124 Ganz im Unterschied zu seinem Lehrer Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie, dessen Denken um die Frage menschlicher Erkenntnis bzw. den eigentlichen Erkenntnisakt kreist. 121 122
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
witz zu Tode gebrachte jüdisch-christliche Meisterschülerin Husserls, die in ihrem Hauptwerk Endliches und ewiges Sein 125 aufzeigt, dass Heidegger Sein primär von der Zeit her denkt und so Sinn als etwas allein vom Menschen Konstruiertes verstehen muss. Wörtlich bemerkt sie dazu: »Es ist augenscheinlich, dass die ganze Untersuchung bei Heidegger [gemeint ist Sein und Zeit] schon von einer bestimmten vorgefassten Meinung über das Sein getragen ist: […] Es ist von vorn herein alles darauf angelegt, die Zeitlichkeit des Seins zu beweisen. Darum wird überall ein Riegel vorgeschoben, wo sich ein Ausblick zum Ewigen [Zeitmächtigen] eröffnet; Darum darf es kein vom Dasein unterschiedenes Wesen geben, dass sich im Dasein verwirklicht; Darum keinen vom Verstehen verschiedenen SINN, der im Verstehen erfasst wird [sondern als etwas rein vom Menschen Gemachtes]; Darum keine vom menschlichen Erkennen unabhängigen ewigen Wahrheiten –. Durch all das würde ja die Zeitlichkeit des Seins gesprengt, und das darf nicht sein, mögen auch Dasein, Verstehen und ›Entdecken‹ noch so sehr zu ihrer eigenen Klärung nach etwas von ihnen selbst Unabhängigem, Zeitlosem [Zeitmächtigem] verlangen, was durch sie und in ihnen in die Zeitlichkeit eingeht.« 126
Oder der junge Balduin Schwarz (1902–1993), der in seinem 1937 erschienenen Werk Ewige Philosophie. Gesetz und Freiheit in der Geistesgeschichte 127 gleich einleitend differenziert zwischen der Überzeitlichkeit als dem höchsten Kennzeichen der Wahrheit und der Gültigkeit menschlichen Erkennens einerseits und der Außerzeitlichkeit bzw. Zeitlosigkeit als dessen »falschem Gegenstück« andererseits. »Bezeichnend ist es jedenfalls« – so Schwarz wörtlich – »daß man sich einzureden versucht, die ehemals so ersehnte, in unzähligen Anläufen angesprungene ›Endgültigkeit‹ in den Grundanschauungen der Welt sei gar nicht erstrebenswert. Benedetto Croce hat nur der herrschenden Anschauung Stimme verliehen, wenn er auf dem Oxforder Philosophenkongress des Jahres 1930 verkündete, der Glaube an eine immer ›wahre‹ Wahrheit sei Selbstmord des Geistes, denn dieser wolle die Bewegung. Der ewige Wandel, das sei das Symptom der ›Lebendigkeit‹ des Geistes. Bei all dem lärmenden Reden vom ›Leben‹ – ist dieses Wort nicht das große asylum ignorna-
Verfasst 1934, erstmals publiziert 1950. Stein, Edith: Endliches und ewiges Sein. Aufstieg zum Sinn des Seins, Freiburg 1950, S. 134. 127 Schwarz, Balduin: Ewige Philosophie. Gesetz und Freiheit in der Geistesgeschichte, Leipzig 1937, S. 11. 125 126
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tiae der gegenwärtigen Zeit? – blickt man gar nicht mehr auf etwas wirklich Lebendiges hin, denn sonst müßte man sich erinnern, daß das Lebendige stetig wächst; es […] ist ein Bewegt-Bleibendes«. 128
Kierkegaard war wohl einer der ersten, der diesen Sachverhalt in vollem Umfang wahrgenommen hat. Schon Mitte des 19. Jahrhunderts weist er darauf hin, dass etwas »unbedingt Feststehendes« fehle. 129 »Was […] der Zeit im tiefsten Grund not tut« – so Kierkegaard wörtlich –, »das läßt sich in einem einzigen Wort vollständig ausdrücken: sie braucht Ewigkeit. Das Unglück unserer Zeit ist, daß sie zur bloßen ›Zeit‹, zur Zeitlichkeit geworden ist, die ungeduldig nichts von der Ewigkeit [Zeitmächtigkeit] hören will und sodann […] durch eine erkünstelte Nachäffung gar das Ewige ganz überflüssig machen will, was doch in Ewigkeit nicht glückt; denn je mehr man das Ewige entbehren zu können glaubt oder sich darin verhärtet, daß man es entbehren könne, desto mehr bedarf man im Grunde seiner.« 130
In einem Gespräch mit Judith Hardegger (24. 04. 2011) macht schließlich Robert Spaemann – von der aktuell gegebenen Situation eines Interviews ausgehend – die letztlichen Konsequenzen eines zeit- bzw. raummächtigkeitslosen Wirklichkeitsverständnisses wie folgt deutlich: »Sie und ich sind heute Vormittag hier und sprechen miteinander über Wahrheit und Gott. Morgen werden wir hier gesessen haben. Und in einer Million Jahre werden wir immer noch hier gesessen haben; denn jedes Präsens hat ein futurum exactum – und das futurum exactum dauert ewig. Wenn nun jemand sagen würde: naja – Moment, aber die Erinnerung gibt es ja dann nicht mehr und die Menschheit ist verschwunden, es gibt auch keine Spuren mehr – dann ist es auch nicht mehr wahr, dass wir hier gesprochen haben; – das kann man nicht denken. […] Ich frage jetzt einmal umgekehrt: Was heißt dann Wahrheit [nach einer Million Jahren]? Nun ist die klassische Definition der Wahrheit: […] Übereinstimmung des Denkens mit der Sache. Wenn nun aber kein Denken mehr existiert, überhaupt kein Denken; ist dann noch irgend etwas gewesen? Gewesensein ist nämlich ein bestimmter Modus von Gegenwart. Das Gegenwärtige wird dann gewesen
128 Schwarz: ebd., S. 31. Mit der Kennzeichnung des Lebendigen als Bewegt-Bleibendem wird dessen aporetische Struktur treffend zum Ausdruck gebracht (vgl. dazu Kap. VII/2). 129 Vgl dazu: Löwith, Karl: Wissen, Glaube und Skepsis, 3. Aufl, Göttingen 1962, insbes. S. 59 ff. 130 Kierkegaard zitiert nach Löwith: Wissen, Glaube und Skepsis, a. a. O., S. 63.
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
sein und das Gewesensein ist das Gewesensein der jeweiligen Gegenwart. Wenn es [aber] keine Gegenwart mehr gibt, im Sinne eines denkenden Jetzt, dann gibt es auch keine Vergangenheit mehr.« 131
So kommt Spaemann konsequenterweise zur Schlussfolgerung: Unter Voraus-Setzung der Materie als Grundelement der Realität bzw. der Absolutsetzung von Zeit und Raum werden wir irgendwann einmal alle nie gewesen sein. Niemand von uns wird je gewesen sein: die von uns geliebtesten Menschen werden nie gewesen sein; und auch Sie, geneigter Leser, geneigte Leserin, die Sie gerade diesen Text lesen, werden – unter Voraussetzung der Absolutsetzung von Raum, Zeit und Materie – dereinst nie gewesen sein.
d)
Das fehlende (verbindende/verbindliche) »Dritte«
Unter Voraussetzung der Materie als Grundelement der Wirklichkeit kann das Ich und Ich verbindende »Dritte« konsequenterweise letztlich auch nur materialiter gedacht werden. Damit fehlt jene entscheidende Größe, die vormals ich-überschreitende Kommunikation und Erkenntnis ermöglichte. Damit keine Mißverständnisse aufkommen: unabhängig vom spezifischen kulturellen Kontext gilt: jede Weise von menschlicher Kommunikation bedarf immer auch materialer Vermittlungselemente (vgl. Kap. II/2). Splett weist auf diesen Umstand hin, wenn er schreibt: »Das Miteinander, wie immer man es verstehe, bedarf zur Kommunikation eines Mediums, das nicht selber Freiheitswesen sein darf, aber eigengesetzlich sein muß: zur Interpersonalität gehört die Koordinate des Naturalen [Materialen]. Man kann dies am ›Tonträger‹ Luft zwischen den Sprechenden veranschaulichen. Sie darf einerseits nicht selbst die Worte ändern können, andererseits nicht
131 Robert Spaemann: Onlinequelle: http://www.srf.ch/player/tv/sternstunde-reli gion/video/wahrheitsfindung-und-gottessuche–robert-spaemann-im-gespraech?id= 04c46bd4-d25a-454d-b31d-e70653fabef1; vgl. dazu Spaemann: Der letzte Gottesbeweis, München 2007. Aus diesem Blickwinkel erweist sich die pointierte Formulierung Marianne Gronemeyers: »Die Gattung hat Zeit, das Individuum nicht« (Gronemeyer, Marianne: Das Leben als letzte Gelegenheit. Sicherheitsbedürfnisse und Zeitknappheit, Darmstadt 1993, S. 131), womit sie die Zeit-Not des ewigkeitslosen modernen Menschen gegenüber der sich in großen Zeiträumen entfaltenden biologischen Art zum Ausdruck bringen will, als nur relativ gültig.
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Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
durch den Hörenden beliebig veränderbar sein, da er ja das Gehörte hören soll.« 132 Daneben ist – ebenso kulturenübergreifend – jeder menschliche Beziehungsakt gekennzeichnet durch die Notwendigkeit des Gebrauchs »kultürlicher« Kommunikationsmittel wie Sprache, Schrift, technischer Vermittlungsgeräte etc. Anders ausgedrückt: Es gibt keine »unmittelbare« menschliche Kommunikation. 133 Jede Gestalt von Kommunikation, wie »unmittelbar« diese auch sein mag, bedarf stets zugleich »natürlich-materialer« wie »kultürlich-geistiger« Mittel bzw. Medien, wobei – wie wir in Kap. II/2 anhand des linguistic turn vor Augen führten – Sprache nie bloß ein optionales Mittel zur Kommunikation darstellt, sondern in erster Linie ein essentielles Medium menschlicher Kommunikation, außerhalb dessen menschliches Sein (und damit Kommunizieren) nicht denkbar ist. Wird nun kulturspezifisch – wie in der abendländischen Moderne – Materie als Grundelement der Wirklichkeit erachtet, können konsequenterweise auch sämtliche kulturellen bzw. geistigen Kommunikationsmittel schwerlich anders denn materieanalog gedacht werden. 134 Vor allem fehlt damit jene Vermittlungsgröße, jenes geistige »Dritte«, die vormals Garant für die Möglichkeit ich-überschreitender (also nicht-egozentrischer) Kommunikation und Erkenntnis war. Erst vor diesem Hintergrund wird die Konsequenz des Gedankens von Hume in seiner eigentlichen Tragweite offensichtlich, dass der Mensch keinen Schritt über sich hinaus zu tun imstande ist. Die damit verbundenen Folgen beschreibt Böning mit Bezug auf Nietzsche wie folgt: »Daß Nietzsche [die] Annahme eines gegebenen Dritten mit seinem berühmtesten Satz für tot erklärt, bedeutet somit mindestens dreierlei: 1. daß Ich und Du radikal getrennt und d. h. einander fremd sind; 2. daß sich diese Fremdheit nur scheinhaft und mit Gewalt überwinden läßt; 3. daß die mit den Trennungen verbundene Pluralität nicht auf das Zerbrechen einer vor-
132 Splett, Jörg: Lernziel Menschlichkeit. Philosophische Grundperspektiven, Frankfurt/Main 1976, S. 27. 133 Vgl. Schreiber, Erhard: Repetitorium Kommunikationswissenschaft, 3. Aufl., München 1990. 134 Dadurch kommt es tendenziell bzw. strukturell zur Vermischung bzw. Nicht-Unterscheidung zwischen Kommunikation (als verhaltensvariables transkausales Geschehen) und Interaktion (als notwendige kausale Ablaufsfolge); vgl. Kap. VIII/1.
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ab bestehenden, mithin wieder herzustellenden Identität zurückgeführt werden kann.« 135
Damit wird auch verständlich(er), warum in der Moderne primär der technische Übermittlungsaspekt von Kommunikation in den Vordergrund rückt und nicht jener des personalen Mitseins (vgl. Kap. III/11).
e)
Die »Mathematisierung« der Sprache
Wir haben in Kap. II/2 darauf hingewiesen, dass menschliche Kommunikation seit dem sogenannten linguistic turn Anfang des 20. Jahrhunderts untrennbar mit Sprache verbunden verstanden wird. Gerade deshalb drängt sich die Frage auf, warum die Sprachwissenschaft der Kommunikationswissenschaft – im Verhältnis – eigentlich sehr wenige Impulse gibt. Einer der Hauptgründe ist wohl darin zu erblicken, dass der zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Ferdinand de Saussure (1857–1913) und seinen Schülern geprägte – und die moderne Linguistik nachhaltig bestimmende – Sprachbegriff ungeeignet ist, um zwischenmenschliche Kommunikation, als Sprachgeschehen im Vollzug des Sprechens, relevant in den Blick zu nehmen. Denn de Saussure und seine Schüler wollten Sprachwissenschaft – in Anlehnung an die Naturwissenschaften – als exakte Disziplin etablieren. Dazu war es nötig, das sprachliche Urphänomen der menschlichen Rede modellhaft zu vereinfachen. Wie geht de Saussure dabei konkret vor? Er differenziert vorerst zwischen menschlicher Rede (langage), dem Sprechen (parole) und der Sprache (langue). Auf Basis dieser Differenzierung vollführt er nun drei Abstraktionsschritte. In einem ersten unterscheidet de Saussure hinsichtlich menschlicher Rede zwischen zwei »Objekten«: der Sprache und dem Sprechen. Genauer: Er führt eine modellhaft-künstliche Trennung der beiden an sich untrennbar verbundenen und sich gegenseitig bedingenden Elemente durch und stellt fest: »Die Sprache ist für uns die menschliche Rede abzüglich des Sprechens.« 136 Die vom Akt des Böning, Thomas: »Wir sind Dickhäuter.« Der Mensch zwischen Verstehen und Nicht-Verstehen. Heimat und Fremde, unveröffentlichter Vortrag, gehalten im Rahmen des Symposions Dialog der Erkenntnis-Kulturen (Salzburg 2003), S. 5. 136 Saussure zitiert nach Giesecke, Michael: Was kommt nach der ›langue‹ ? Eine in135
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Sprechens abstrahierte Sprache wird demzufolge als der eigentliche Gegenstand der Sprach-Wissenschaft angesehen. Die damit verbundene Konsequenz macht Giesecke in seinem Aufsatz Was kommt nach der ›langue‹ ? wie folgt deutlich: »Diese Sprachwissenschaft kann sich per definitionem nicht mit der parole [dem Sprechen bzw. dem Kommunikations-Akt] beschäftigen.« 137 In einem zweiten Abstraktionsschritt wird schließlich die – zum eigentlichen Gegenstand der Sprachwissenschaft gemachte – Sprache (langue) weiter aus ihrem natürlichen Kontext »herausreduziert« bzw. »naturwissenschaftsförmig« gemacht, in dem von den – für das Sprechen bzw. Kommunizieren konstitutiven – Elementen der Zeit sowie der Sozietät abgesehen wird. Was übrig bleibt, ist Sprache als ein zeitlos gedachtes System von Zeichen. Giesecke bemerkt dazu: »Weder auf die ›Sprachgemeinschaft‹ noch über die ›Zeit‹ noch über die Beziehungen zwischen der Sprache und diesen beiden Größen entwickelt de Saussure Modellierungen. Vielmehr konzentriert er sich auf die Beschreibung der langue als Zeichen.« 138 Zeitlosigkeit wird dabei als die Bedingung der Möglichkeit angesehen, dass Sprache als geschlossenes Zeichensystem behandelt werden kann. Insofern differenziert de Saussure zwischen einer diachronen (Zeit berücksichtigenden) und einer synchronen (Zeit nicht berücksichtigenden) Betrachtungsweise von Sprache, wobei nur letztere seinen sprachwissenschaftlichen Anforderungen genügt, da zeitbedingte Sprachphänomene unsystematisierbare Sonderfälle darstellten. In einem dritten Abstraktionsschritt geht es – in folgerichtiger Konsequenz – schließlich um möglichste Ausschaltung aller sozialen Kontextualität von Sprache, deren Reduktion auf ein reines Zeichensystem. Dem entsprechend heißt es: »Unsere Definition der Sprache setzt voraus, daß wir von ihr alles fernhalten, was ihrem Organismus, ihrem System, fremd ist.« 139 De Saussure unterscheidet also ein drittes Mal zwischen äußerer (ordnender, aber nicht systematischer) und innerer (»systematisch-reiner«) Sprachwissenschaft.
formations- und medientheoretische Antwort auf de Saussure, in: ders.: Sinnenwandel, Sprachwandel, Kulturwandel. Studien zur Vorschichte der Informationsgesellschaft, Frankfurt/Main 1991, S. 18–35, hier S. 20. 137 Giesecke: Was kommt nach der ›langue‹ ?, a. a. O., S. 20. 138 Giesecke: ebd., S. 20. 139 Saussure zitiert nach Giesecke: Was kommt nach der ›langue‹ ?, a. a. O., S. 21.
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Dabei muss aber der (dem Kybernetiker Norbert Wiener zugeschriebene) alte Sinnspruch ignoriert werden: »Ich wusste nicht, was ich sagte, ehe ich deine Antwort gehört hatte.« Giesecke schreibt dazu mit wörtlichem Bezug auf de Saussure: »Genauso wie das Sprechen in sich kein System bildet, die diachronische Betrachtung es nur mit unsystematischen Zufällen zu tun hat, kann auch die ›äußere Sprachwissenschaft‹ [SW] zwar ›eine Unmenge von Einzelheiten zusammentragen, ohne dabei [jedoch] in das Netz eines Systems eingespannt zu sein … Bei der inneren Sprachwissenschaft [SW] dagegen verhält es sich ganz anders: da kann man nicht irgendeine beliebige Disposition anwenden; die Sprache ist ein System, das nur seine eigene Ordnung zuläßt.‹« 140
Kurzum: nach der Konstruktion von drei oppositionellen Abstraktionsebenen ermittelt de Saussure den Pol der inneren Sprachwissenschaft als den eigentlichen Gegenstandsbereich der Linguistik; alle anderen Aspekte von Sprache werden – als nicht systematisierbar – bestenfalls am Rande verfolgt. Giesecke stellt den Sachverhalt mit Hilfe des nachfolgenden von de Saussure gebrauchten Schemas dar: 0
menschliche Rede
1
Sprechen
Sprache
2
diachron
synchron
3
äußere SW
innere SW
Abb. 27: Der Objektbereich der Sprachwissenschaft nach de Saussure (zitiert nach Giesecke: Sprachwandel, Frankfurt/Main 2002, S. 22)
Abschließend bemerkt er dazu: »Die von de Saussure skizzierte Bestimmung des Objektbereichs hat sich im Wissenschaftsbetrieb durchgesetzt. Wenn heute von einer ›Allgemeinen Sprachwissenschaft‹ oder der ›Linguistik‹ die Rede ist, dann im Sinne einer Wis-
140
Giesecke: ebd., S. 21.
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senschaft von dem inneren Bezirk der langue als synchronem Zeichensystem.« 141 Hand in Hand mit dieser Entkontextualisierung bzw. Systematisierung der Sprache – ganz im Sinne des »Denkrahmens der Moderne« – ging schließlich auch deren Mathematisierung. Dies lässt sich sowohl im universitären Bereich konstatieren, etwa in Gestalt der aktuell beherrschenden Stellung der analytischen Philosophie oder im Mainstream der Biomathematik in den Lebenswissenschaften 142, als auch durch eine weithin beobachtbare Technisierung bzw. »Mathematisierung der Lebenswelt«. Damit ist nicht nur bzw. nicht in erster Linie die Entwicklung von modernen Kommunikationstechnologien respektive deren gegenwärtige Omnipräsenz gemeint 143, sondern der Umstand, dass beispielsweise in Wirtschaft und Politik Kommunikationshandlungen zunehmend auf Basis spieltheoretisch-mathematischer Grundlagen analysiert, prognostiziert, optimiert und schließlich operationalisiert werden. 144 Erwähnenswert in diesem Zusammenhang erscheint eine Beobachtung des Sprachwissenschaftlers Uwe Pörksen. 145 Er beschreibt einen geistesgeschichtlichen Vorgang, bei dem vorerst Wörter aus der Umgangssprache – wie etwa Information, System oder Energie – im Bereich der Wissenschaften unter neuer bzw. reduziert-veränderter Bedeutung Verwendung finden. Versehen mit der Aura der Wissenschaftlichkeit werden diese dann in einer »Rückholphase« in die Alltagssprache reintegriert, nun allerdings als entkontextualisierte mo141 Giesecke: ebd. S. 23. Vgl. dazu auch: Weingarten, Rüdiger (Hrsg.): Information ohne Kommunikation? Die Loslösung der Sprache vom Sprecher, Frankfurt/Main 1990. 142 Vgl. dazu: Witzany, Günther: Sprache der Natur – Natur der Sprache, Würzburg 1993 (engl. Hamburg 2000) sowie Kap. III/5. 143 Eine nicht unmaßgebliche Rolle spielte dabei der kurz nach dem 2. Weltkrieg erschienene Aufsatz A Mathematical Theory of Communication (1948), verfasst vom Mathematiker und Elektrotechniker Claude Elwood Shannon (1916–2001), der zu diesem Zeitpunkt für die Bell Telephone Laboratories arbeitete. Ein Jahr später erschien der Text – zusammen mit einem Aufsatz des Mathematikers Warren Weaver (1894–1978) – unter einem beinahe gleich lautenden Titel als Buch, das zahlreiche Auflagen erlebte und in der Folge auch die Kommunikationswissenschaft nachhaltig beeinflusste (vgl. dazu etwa: Baecker, Dirk: Kommunikation, Hamburg 2005). 144 Vgl. dazu Reisenbichler, Florian: Erneute Betrachtung der Spieltheorie. Ein Beitrag zu einer Soziologie des Lebendigen, Dipl.-Arb., Salzburg 2011. 145 Vgl. dazu: Pörksen, Uwe: Plastikwörter: Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 1988 bzw. Pörksen, Uwe: Wissenschaftssprache und Sprachkritik – Untersuchungen zu Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1994.
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nadisch-singuläre Begriffsikonen bzw. Wortautoritäten, die als »pluripotente Füllwörter« beliebige Bedeutungen annehmen können. 146 Aufgrund ihrer »semantischen Plastizität« spricht Pörksen hierbei von Amöben- oder Plastikwörtern ohne eigentliche Bedeutung. 147 Dabei vertritt er die Ansicht, dass diese – je nach Zusammenhang – multivariablen Wörter die Umgangssprache »mathematisieren«. Dies deshalb, da sich die betreffenden Termini durch einen hohen Abstraktionsgrad und beinahe unbegrenzten Anwendungsbereich auszeichneten. Pörksen dazu wörtlich: »Diese Legowörter tendieren in fast jeder Anordnung dazu, Sätze zu bilden. ›Problem – Lösung – Strategie‹ : Das ist fast schon ein Satz und, darf man hinzusetzen, ein weitreichendes Instrumentarium. […] Die Wörter sind auf beunruhigende Weise austauschbar, sie lassen sich gleichsetzen, in einer Kette von Gleichsetzungssätzen aneinanderreihen. Es scheint immer wieder Sinn zu geben: ›Kommunikation ist Austausch. Austausch ist eine Beziehung. Beziehung ist ein Prozeß. Prozeß bedeutet Entwicklung. Entwicklung ist ein Grundbedürfnis. Grundbedürfnisse sind Ressourcen. Ressourcen sind ein Problem. Probleme bedeuten Dienstleistung. Dienstleistungssysteme sind Rollensysteme. Rollensysteme sind Partnersysteme. Partnersysteme bedeuten Kommunikation. Kommunikation ist eine Art von Energieaustausch.‹« 148
Weiters fehle ihnen die geschichtliche und soziale Dimension. Deren Sprachgebrauch biete deshalb die Möglichkeit, lebendige transkausale Kommunikations-Kontexte in kausale Naturvorgänge umzudeuten. So entstehe auch von vielem Lebendigen und Geistigen die Vorstellung von dessen Quantifizierbarkeit. Pörksen dazu wörtlich: »Nicht nur ›Energie, Produktion, Konsum‹, auch ›Information‹ oder ›Kommunikation‹ erscheinen für unser alltägliches Bewußtsein zunehmend in der Dimension von Zahl und Statistik.« 149 Auf Grund der erwähnten Charakteristika hat es für Pörksen Sinn, von einer Mathematisierung der Umgangssprache zu spre146 Wörtlich schreibt Pörksen dazu: »Der Übersprung von den Wissenschaften in die Lebenswelt wird dadurch begünstigt, daß die beiden Bereiche durch eine scheinbar gemeinsame Sprache überbrückt sind. Die breitesten Brücken sind die Plastikwörter.« (Pörksen: Plastikwörter, a. a. O., S. 110). 147 Pörksen spricht dabei zwar nur von einem relativen kleinen Satz von solchen Plastik-Wörtern (30–40), die jedoch als entkontextualisierte und insofern an sich bedeutungsfreie Bausteine die Fähigkeit besitzen, fast unbegrenzt modellhafte »Bedeutungs«-verbindungen einzugehen. 148 Pörksen: Plastikwörter, a. a. O., S. 79 f. 149 Pörksen: ebd., S. 112.
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Hürden auf dem Weg zur Dialogisch-Relationalen Deutung des Menschen
chen. »Der Universalitätsanspruch der Mathematik« – so der Sprachwissenschafter noch einmal wörtlich – »hat nicht nur die Humanwissenschaften erreicht, er springt auch seit langem über in die Lebenswelt und spiegelt sich in der Sprache.« 150 Bemerkenswert erscheint, dass auch Pörksen im oben skizzierten linguistischen Sprachbegriff von de Saussure (zu Beginn des 20. Jhs.) eine erste Unterstützung der Mathematisierung und Mobilisierung der Umgangssprache sieht, gefolgt von Ogdens Konzept des »Basic English« Mitte der 1930er Jahre 151 sowie der mathematischen Syntax-Theorie bzw. Universalgrammatik von Noam Chomsky 152 in den 1950er und 1960er Jahren, in der er nicht nur die am weitesten vorangetriebene Formulierung eines mathematischen Sprachbegriffs erblickt, sondern zudem den adäquatesten Ausdruck einer Epoche. Schon früh – Anfang der 1920er Jahre – äußern sich zentrale Vertreter des sog. Dialogischen Denkens, allen voran Ferdinand Ebner und Franz Rosenzweig, gegen die sich abzeichnende Tendenz einer Mathematisierung der Sprache auf Kosten von Gespräch und Vollzug des Sprechens. So bemerkt Ebner im 12. Fragment seines Hauptwerks: »Mathematik zu werden, ist bekanntlich das Ziel aller Naturwissenschaft, alles Wissens um das Geschehen in der äußeren Welt; und die allerletzte physikalische Erkenntnis wird vielleicht einmal in einer mathematischen Formel zum Ausdruck gebracht werden, die sich nicht mehr in Worten aussprechen lässt. Das Wissen aber um das ›Geschehen in der inneren [lebendigen, geistigen] Welt‹ muß Wort werden und am Wort sich erproben, und ganz unmöglich kann man es jemals in einer mathematischen Formel ausdrücken.« 153
Im Zentrum von Rosenzweigs »Neuem Denken« (siehe Kap. V/2) steht ebenfalls die Sprache, jedoch nicht die analysierbar-vorliegende Pörksen: ebd., S. 112. Charles Kay Ogden (1889–1957) schlug eine aus 850 englischen Wörtern bestehende vereinfachte »Plansprache« vor, deren begrenztes Zeichenrepertoir durch einfache Mittel der Wortbildung variiert werden sollte. 152 Noam Chomsky (* 1928) vertritt die These, dass alle Sprachen nach demselben grammatischen Muster angelegt seien und insofern die Entwicklung einer »kulturenübergreifenden« (besser: kulturfreien) »Universalgrammatik« möglich sei. Deshalb sollte seines Erachtens die Fähigkeit, mit einer begrenzten Anzahl an Zeichen und einem kleinen Satz von Verknüpfungsregeln unendlich viele Sätze zu erzeugen und zu verstehen, zum leitenden Motiv der Grammatik werden. 153 Ebner: Schriften, Bd. I, a. a. O., S. 223. 150 151
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V. Parallele Erkenntnis-Revolutionen: Quantentheorie und Dialogisches Denken
Sprache (langue), sondern das geschehende Sprechen (langage), das Gespräch – bei dem die Dimension der Zeit nicht mehr eliminert wird. 154
154 Bernhard Casper, der große Rosenzweig-Kenner, verweist auf diesen Umstand, wenn er schreibt: »Nicht zeitloses, sondern sich ereignendes, zeitigendes Denken aber ist das Sprechen. Die Sprache, nicht insofern sie vorliegt, sondern insofern sie gesprochen wird, wird deshalb zum Organon des neuen Denkens [von Rosenzweig].« (Casper, Bernhard: Das Dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber, 2. Auflage, München 2002, S. 120)
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VI. Die Bewältigung aporetischer Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
1.
Quantentheorie
a)
Komplementarität (Bohr)
Wenden wir uns nun einem Phänomen, Begriff bzw. Erkenntnis-Modus zu, der im Kontext der Quantentheorie mit im Zentrum der Betrachtungen steht: jenem der Komplementarität, in die wissenschaftliche Debatte von Niels Bohr 1927 eingebracht. Obwohl der Begriff »Komplementarität« – neben jenem der Verschränkung – als der zentrale Begriff der Kopenhagener Deutung der Quantentheorie anzusehen ist 1, stellt der Naturwissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer noch 1995 fest, »dass dieser Gedanke noch nicht sehr viele Anhänger gefunden hat, und er weitgehend unbekannt bleibt.« 2 Der Physiker unter uns hat am 3. Oktober 2003 an der Tufts Universität in Boston einen Vortrag zum Thema »Complementarity in Quantum Mechanics and in Life« (Komplementarität in der Quantenmechanik und im Leben) gehalten. Nach dem Vortrag sagte der Vorsitzende, dass vielleicht die jüngeren Studenten Schwierigkeiten gehabt hätten, weil der Begriff »Komplementarität« neuerdings in den Vorlesungen zur Quantenphysik nicht mehr erwähnt wird! Komplementarität war der neue Grundbegriff, der dem Kreis um Niels Bohr ermöglichte, trotz aller Widersprüche nachts wieder zu schlafen. Bohr beruhigte seine Mitstreiter mit dem berühmt gewordenen Ausspruch, das Gegenteil einer richtigen Behauptung sei eine falsche Behauptung, das Gegenteil einer tiefen Wahrheit kann aber 1 Vgl. dazu die bemerkenswerte Arbeit von Erich Röhrle: Komplementarität und Erkenntnis. Von der Physik zur Philosophie, Münster 2001, insbesondere S. 7 ff. 2 Fischer, Ernst Peter: Die aufschimmernde Nachtseite der Wissenschaft, Lengwiel 1995, S. 97, zit. nach Röhrle: Komplementarität und Erkenntnis, a. a. O., S. 7.
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
wieder eine tiefe Wahrheit sein. (Siehe dazu unsere fundamentale Unterscheidung von »richtig« und »wahr«, Kap. III/7.) Widersprüche sind Naturwissenschaftlern ein Gräuel, den Begriff Aporie haben sie verdrängt. Mit dem neuen Begriff Komplementarität schien ein wenig Friede einzukehren. Die Entwicklung der Quantenphysik hat dazu geführt, dass die Aporie von Welle und Teilchen (kontinuierlich und diskret) in einer Synthese aufgehoben wurde. Komplementarität bedeutet also nicht mehr nur den Widerspruch in seiner ursprünglichen, verletzenden Form; vielmehr ist er – im Sinne Hegels – »aufgehoben« in des Wortes dreifacher Bedeutung: Der aufgehobene Widerspruch aufheben = bewahren (wie ein Andenken) aufheben = ungültig machen (wie ein Gesetz) aufheben = höher heben (Neues ist entstanden)
Dass mit der Quantenphysik etwas vollkommen Neues entstanden ist, braucht nicht mehr betont zu werden. Zwar kann die Quantenphysik vollständig mathematisch beschrieben werden, und die Mathematik ist (auf diesem Niveau) der Inbegriff der Widerspruchsfreiheit! Also ist der Widerspruch auch ungültig gemacht. Aber das Neue der Quantenphysik ist unter anderem die Verwendung von mathematischen Symbolen, die nicht unmittelbar mit experimentellen Größen identifiziert werden können. 3 Diese müssen erst interpretiert werden, und damit kommt der Widerspruch wieder zurück, denn die Interpretation kann und muss immer sowohl kontinuierlich als Welle als auch diskret durch Teilchen erfolgen (siehe Kap. II/1 bzw. V/3d). Komplementarität bezeichnet also die Synthese der ursprünglichen Aporie und ist als eigener Begriff nicht mehr notwendig zum Verständnis der Quantenphysik. Allerdings erhebt sich beim Vermeiden des Begriffes die Gefahr, die Aporie als Ganzes zu vergessen und sich allein auf den mathematischen Apparat zu konzentrieren. Leider kommt dies im Alltag der universitären Lehre allzu oft vor. Studentinnen und Studenten können dann ohne Schwierigkeiten Probleme mathematisch lösen, ohne sich der zugrundeliegenden Aporie bewusst zu werden. Das ist vor allem deshalb ungünstig, weil manche 3
Zum Beispiel die schon einige Male erwähnte ψ-Funktion.
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Quantentheorie
Begriffe der Quantenphysik von der Öffentlichkeit verwendet werden, ohne sie wirklich zu kennen, wie etwa Schrödingers Katze oder Einsteins Paradoxon. Damit sind die Aporien der Quantenphysik gemeint, und wenn ausgebildete Physiker entgegnen, das ließe sich alles mathematisch berechnen und könne daher nicht widerspruchsvoll sein, dann entsteht eine Sprachverwirrung, die nicht heilsam sein kann. Daneben zeigt Röhrle in seiner Dissertation Komplementarität und Erkenntnis. Von der Physik zur Philosophie (2001), wie sehr sich in den vergangenen Jahrzehnten, d. h. nach der Begriffs-Etablierung durch Bohr (1927), inzwischen die verschiedensten Autoren bzw. Wissenschaftsbereiche damit auseinandergesetzt haben bzw. aktuell auseinandersetzen. So listet er im Anhang seines Werkes eine Übersicht der – wie er schreibt – »(möglicherweise) komplementären Gegensatzpaare« auf, die er sämtlich in seinem Werk diskutiert. Dabei werden nicht weniger als 124 (!) aufgelistet. 4 Es ist hier nicht der Raum, die dabei vorgestellte Bandbreite auch nur annähernd inhaltlich näher zu behandeln; vielmehr soll darangegangen werden, zu skizzieren, wie Bohr diesen Begriff in die Debatte einbrachte; wozu er diesen benützte (benötigte); wofür er diesen – in weiterer Folge – sonst noch für dienlich hielt; schließlich bzw. erstlich: • woher er diese Konzeption selbst entlehnte. • • •
Schon das Jahr seines erstmaligen Gebrauchs (1927) macht – zumindest für thematisch etwas Vertraute – deutlich, dass der »Vater der Quantentheorie« den Begriff Komplementarität in engem Zusammenhang mit der Formulierung eben der sogenannten Kopenhagener Deutung der Quantentheorie ins Spiel brachte: Erstmalig taucht der Begriff bei Bohr im Manuskript für einen Vortrag in Como (im September desselben Jahres) auf, anlässlich eines internationalen Physikerkongresses zu Ehren des 100. Todestages von Alessandro Voltà. Bohr referierte dabei zum Thema The quantum postulate and the recent development of atomic theory. Stolzenburg weist darauf hin, dass Bohrs Manuskript für Nature nicht rechtzeitig fertig und auch 4
Röhrle: Komplementarität und Erkenntnis, a. a. O., S. 284 ff.
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
später nicht publiziert wurde. 5 So ist also dessen genannter Vortrag am 16. September 1927 als jenes Datum anzusehen, an dem der Komplementaritätsbegriff zum ersten Mal im Kontext moderner Wissenschaftlichkeit auftaucht. 6 Bohr bezeichnet Komplementarität dabei als »›die sich gegenseitig widersprechenden, aber gleichzeitig notwendigen Bilder der physikalischen Beschreibung‹ von Welle und Korpuskel.« 7 Er reagierte mit der Etablierung des Begriffs Komplementarität auf ein Erkenntnisproblem in der Physik, das seit längerem einer Lösung harrte. Bis dato lagen bekanntlich zwei – sich dual entgegengesetzte – Theorien bezüglich des Lichts vor: Eine – nennen wir sie »Wellentheorie« – beschrieb Licht als ein kontinuierliches Phänomen. Sie fußte auf der Licht-Brechungstheorie von Christian Huygens (1629–1695) und fand insbesondere mit dem (erst im Zuge der Quantentheorie eigentlich einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gewordenen) Doppelspaltexperiment von Young Anfang des 19. Jahrhunderts (1802) eine glänzende Untermauerung. Die andere – nennen wir sie »Korpuskeltheorie« – begriff bzw. beschrieb Licht als eine Abfolge »diskreter Teilchen«. Dieses Verständnis basierte vor allem auf der Autorität Isaak Newtons (1643– 1727), geriet jedoch – nicht zuletzt durch das erwähnte Doppelspaltexperiment von Young, das die »Wellen-Natur« des Lichts ja offenkundig zu machen schien – ins Hintertreffen, bis schließlich Albert Einstein 1905 (in Weiterführung der Planck’schen »Quanten-Hypothese« von 1900) mit seinem Postulat von Licht-Teilchen (Photonen) die »Korpuskeltheorie« ebenso plausibel experimentell untermauern konnte (siehe Kap. IV/3). Bohrs erste wesentliche erkenntnistheoretische Leistung in diesem Zusammenhang bestand – wie Röhrle präzise formuliert 8 – nun 5 Stolzenburg, Klaus: Die Entwicklung des Bohrschen Komplementaritätsgedankens in den Jahren 1924 bis 1929, Diss., Stuttgart 1977, S. 179. 6 Wenn man von William James absieht, der das Adjektiv komplementär schon in den 1890er Jahren zur Bezeichnung von »relations of mutual exclusion« bei schizophrenen Personen benutzt (vgl. James, William: The Principles of Psychology, London 1891 bzw. Röhrle: Komplementarität und Erkenntnis, a. a. O., S. 14 f.) 7 Bohr zitiert nach Stolzenburg: Die Entwicklung des Bohrschen Komplementaritätsgedankens in den Jahren 1924 bis 1929, a. a. O., S. 297 f. bzw. nach Röhrle: Komplementarität und Erkenntnis, a. a. O., S. 16. 8 Röhrle: Komplementarität und Erkenntnis, a. a. O., S. 16.
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darin, dass er sich (bereits 1913) entschied, diese unvereinbar-erscheinenden Deutungen nicht nach einer Richtung hin aufzulösen, sondern in ihrer »Gegensätzlichkeit« bestehen zu lassen. Doch damit war er gedanklich noch nicht zum Konzept der Komplementarität durchgedrungen, sondern erst bei jenem der Dualität angelangt. Wenngleich Bohr nicht allzu viele Mitstreiter im Bereich der Physik hatte, was dieses spezifische Erkenntnisproblem anging, so war mit Beginn des 20. Jahrhunderts doch (nicht zuletzt auch von Physikern) eine vermehrte Hinwendung zu einem allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisverständnis zu verzeichnen, dass unzweideutig dualistische Züge trug. Doch der Reihe nach: Wie in Kapitel III/1b näher ausgeführt, wurde im Europa des 17. Jahrhunderts jener naturwissenschaftlichmechanistische Denk-Rahmen zur Erforschung bzw. Beherrschung (vorerst allein der Materie) geschichtsmächtig, der auf den »4 Säulen« Experiment (Galilei); Analyse (Descartes), Widerspruchsfreie Logik (Aristoteles) und Kausalität (Newton) beruhte. Unter anderem vor dem Hintergrund der damit erzielten (ungeahnten) Erfolge lag der Gedanke nahe, dieses Erkenntnis-Schema über den Bereich des A-Biotischen hinaus anzuwenden; d. h. auch auf Entitäten des Lebendigen bzw. des Geistigen zu übertragen. In diesem Sinne verstand schon Descartes auch Lebendiges (außer dem Menschen), also etwa eine Katze, als mechanischen Automat, dessen Verhalten nur deshalb (noch) nicht vorausberechenbar sei, weil es sich um einen sehr komplexen Mechanismus handle. Aber im Prinzip sei dies möglich. So nimmt es nicht Wunder, dass man im 19. Jahrhundert schließlich vermehrt auch von »Natur-Gesetzen des Denkens« sprach, das heißt auch geistige Phänomene in das Korsett des naturwissenschaftlichen Denkrahmens zu zwingen sich anschickte. Um die Wende zum 20. Jahrhundert mehrten sich jedoch auch Gegenstimmen gegen dieses Überhandnehmen einer primär universalrationalistischen, ja logizistischen Erkenntniskonzeption. Wiederum waren es Physiker, die hier mit in der ersten Reihe standen: Hierbei soll vor allem auf Ernst Mach und Ludwig Boltzmann kurz eingegangen werden. Mach hob dabei vor allem den »nicht-logischen, nicht rationalen Charakter der Prinzipien der wissenschaftlichen Erkenntnis hervor.« 9 Ludwig Boltzmann, sonst ein 9 Mach zitiert nach Gargani, Aldo: Wittgenstein und die wissenschaftliche und literarische Kultur in Österreich, in: Haller, Rudolf (Hrsg.): Sprache und Erkenntnis als
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
Widersacher von Ernst Mach, äußerte sich in ähnlicher Weise. Gargani bemerkt dazu: »Ähnlich wie […] Mach unduldsam gegenüber den ständigen Einmischungen logistischer Methoden auf der Grundlage angeblicher Naturgesetze des Denkens, wie man sie gewöhnlich nannte, in die Wissenschaft der Physik, entwarf Boltzmann in ›Über statistische Mechanik‹ ein Thema, nämlich dasjenige, philosophische Aktivität als Mißverständnis unserer konzeptionellen und linguistischen Gewohnheiten anzusehen, auf Grund dessen die Menschen theoretische Muster entwerfen, innerhalb derer sie sich nicht zu orientieren vermögen und sich unvermeidbar in Widersprüche verwickeln.« 10 »›Dies Logik zu nennen‹« – so Gargani, Boltzmann wörtlich zitierend – »›kommt mir vor, wie wenn jemand, um eine Bergtour zu machen, ein so langes faltenreiches Gewand anzöge, daß sich darin seine Füße fortwährend verwickelten und er schon bei den ersten Schritten in der Ebene hinfiele. Die Quelle dieser Art Logik ist das übermäßige Vertrauen in die sogenannten Naturgesetze.‹« 11
Ähnlich wie in der Folge die Sprach-Denker Mauthner, Wittgenstein und Ebner kritisierte schon Boltzmann die übergroß ausgedehnte Reichweite etwa des Ursache-Wirkungs-Prinzips bis hinein in philosophische Spekulationen. »[D]iese Denkgesetze«, so Boltzmann in seiner Schrift Über eine These Schopenhauers dazu wörtlich, »sind uns so zur festen Gewohnheit geworden, daß sie übers Ziel hinausschießen und uns auch dann nicht loslassen, wenn sie nicht mehr am Platze sind.« 12 Nicht zufällig entdeckt in etwa zeitlich parallel Sigmund Freud den Bereich des Un(ter)bewussten im Menschen, zu dem die naturwissenschaftlich-rationale Erkenntnisweise prinzipiell keinen Zugang hat. Beck verweist auf diesen Umstand erhellend: »Freud bezeichnet es als eine der unliebsamen Behauptungen der Psychoanalyse, daß ›die seelischen Vorgänge an und für sich unbewußt sind und die bewußten bloß einzelne Akte und Anteile des ganzen Seelenlebens‹ [zit. nach Freud: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, 19]. Die soziale Tatsache. Beiträge des Wittgenstein Symposions Rom 1979, Wien 1981, S. 13–22. 10 Gargani: Wittgenstein und die wissenschaftliche und literarische Kultur in Österreich, a. a. O., S. 17. 11 Boltzmann zitiert nach Gargani: ebd., S. 17. 12 Boltzmann zitiert nach Gargani: ebd., S. 17.
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Quantentheorie
Psychoanalyse könne eine Identität von Bewußtem und Seelischem nicht annehmen. Deshalb lautet ihre Definition des Seelischen, ›es seien Vorgänge von der Art des Fühlens, Denkens und Wollens, und sie muß vertreten, daß es unbewußtes Denken und ungewußtes Wollen gibt [ebd. S. 20].‹ Mit dieser Annahme unbewußter Seelenvorgänge ist nach Freuds Worten eine entscheidende Neuorientierung in Welt und Wissenschaft gegenüber der vormaligen Gleichsetzung von Bewußtem und Unbewußtem angebahnt.« 13
Schließlich führt Beck – gleichsam auf unsere Fragestellung Bezug nehmend – aus: »Mit dieser Sichtweise überschritt Freud die Betrachtung des ›Menschen als Maschine‹ entscheidend und öffnete den Weg für ein Menschenbild, das den Innenraum des Menschen in seinem Erleben, Fühlen und Denken [in seiner Eigenständigkeit] ernst nimmt und ihn insofern besser und umfassender erkennt als eine physikalisch-naturwissenschaftliche Betrachtung.« 14
Kurz: Um 1900 breitet sich ein wissenschaftliches Klima aus, das menschliche Erkenntnis vermehrt in dualer Aspektivität zu betrachten beginnt: Rationale Erkenntnis auf der einen, irrationale bzw. vorrationale auf der anderen Seite. Oder: Rational-Bewusstes einerseits, Seelisch-Unbewusstes (bzw. prinzipiell Unwissbares) andererseits. Niels Bohr nimmt – wie uns scheint – dieses aufkommende dualistische Verständnis menschlichen Erkennens nun insofern auf, als er dieses – und das ist das Neue – in die Sphäre der Rationalität selbst überträgt. Anders – wie schon oben – ausgedrückt: Er entscheidet sich, innerhalb des rationalen Erkenntnis-Rahmens der Physik die Dualität zwischen Welle- und Teilchen-Theorie des Lichts bestehen zu lassen. Doch wie kam Bohr von dieser Dualitäts-Konzeption (ab 1913) schließlich zur Komplementaritäts-Konzeption (ab 1927)? Ein Erkenntnisschritt, der 14 Jahre Bedenkzeit in Anspruch nahm! Es ist das Verdienst Stolzenburgs, sich mit dieser Frage in seiner Dissertation 15 intensiv auseinandergesetzt zu haben. Darin zeigt der Autor, wie sich der Komplementaritätsbegriff bei Bohr aus dem Dualitätsbegriff entwickelte. Wörtlich führt er dazu in einer zentralen Passage aus: Beck, Matthias: Seele und Krankheit, 3. erw. Aufl., Paderborn 2003, S. 55. Beck: ebd., S. 55. 15 Stolzenburg: Die Entwicklung des Bohrschen Komplementaritätsgedankens in den Jahren 1924 bis 1929, a. a. O. 13 14
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
»Der Übergang von dem Begriff Dualität zu Komplementarität [bei Bohr] stellt eine logische Entwicklung dar. Während Dualität zwei sich widersprechende Bilder erkennt, fordert Komplementarität darüber hinaus, daß sich diese beiden einander widersprechenden Bilder gleichzeitig zu einer vollständigen Beschreibung ergänzen.« 16
Abgesehen von der – hier nicht zentralen – Frage, inwiefern es sich dabei um eine logische Entwicklung handelte, interessiert uns in diesem Zusammenhang vor allem, welchen entscheidenden inhaltlichen Gedankenschritt Bohr zu gehen hatte, um von der Dualitäts- zur Komplementaritätskonzeption zu gelangen. Wir gehen wohl nicht fehl in der Annahme, wenn wir diesen in der Überlegung erblicken, dass Bohr nicht länger von einer Wellen- bzw. Korpuskel-Natur des Lichts ausgeht, d. h. die Vorstellung aufgibt, feststellbare Erkenntnis sei Erkenntnis über die Wirklichkeit, also »wie es IST«, sondern Erkenntnis sei bloß dasjenige, »was wir über die Natur sagen können« 17.
b)
Unbestimmtheitsrelation (Heisenberg)
Anlässlich der Diskussion um die Kausalität haben wir im Kap. V/2b ausführlich über die Unbestimmtheitsrelation geschrieben. Nun geht es darum, zu zeigen, dass die Unbestimmtheitsrelation nicht nur eine Aussage über Mess-Möglichkeiten und deren grundsätzliche Beschränktheit macht, sondern dass sie vielmehr ein tiefer Eingriff ist in unsere Vorstellungen von Realität (dem »Gegebenen«) und deren Abbildung als Wirklichkeit. Dies ist vergleichbar mit der schon oben getroffenen Behauptung, die Quantenphysik stelle durch eine Messung die Eigenschaften des gemessenen Objektes nicht fest, sondern überhaupt erst her! Damit ist zugleich behauptet, dass kein direkter Zugang zur Realität (zum »Gegebenen«) jenseits der physikalisch konstruierten Wirklichkeit möglich ist, dass Wirklichkeit nicht als
Stolzenburg: ebd., S. 297 f. In diesem Sinne findet Bohr zu einem Erkenntnis-Verständnis (zurück), das schon die frühen Kirchenväter bei der Formulierung der Dogmen leitete; auch diese fragten bei der Formulierung eines Dogmas nie: »Wie ist es«? sondern stets: »Wie muss man (am besten) sagen?« Vgl. dazu etwa Hoff, Gregor Maria: Chalkedon im Paradigma negativer Theologie, in: Theologie und Philosophie 70 (1995), S. 355–371 bzw. Waldenfels, Hans: Christus und die Religionen, Regensburg 2002. 16 17
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Quantentheorie
»Abbild« einer so gedachten Realität verstanden werden kann, dass sie vielmehr eine Konstruktion ist, die allerdings auf dem Wege des Experimentes nach Widersprüchen zur Realität (zum »Gegebenen«) abgetastet werden kann. Diese Möglichkeit beruht auf der großartigen Erfindung der Physik, die im Geiste konstruierte Wirklichkeit mittels Handlungen in der Lebenswelt (Experimenten) in Frage zu stellen. Allerdings bedarf es dazu der besprochenen Reduktion der Wirklichkeit auf materielle Aspekte der Realität (des Gegebenen), da nur diese in reinen Handlungen erfasst werden können (Kap. III/5). Doch nun zur Unbestimmtheitsrelation: Zunächst sagt sie aus, dass (so genannte konjugierte) Paare von Messgrößen nicht zugleich beliebig genau gemessen werden können (wir haben das besprochen, siehe Kap. V/1). Da aber der Zustand eines zu messenden Objektes erst durch die Messung hergestellt wird, folgt daraus, dass diese Paare (z. B. Ort und Impuls) zugleich gar nicht genau existieren können! Das aber hat weitreichende Folgen, völlig unabhängig von einer konkreten Messung. Dazu ein Beispiel: Stellen wir uns einen Kristall eines Elementes, z. B. eines Metalls, vor. An jedem sogenannten »Gitterpunkt« des Kristalles befindet sich ein Atom. Der Ort dieses Atomes (also des Gitterpunktes) kann nicht genau bestimmt sein, weil sonst der Impuls (und damit die Energie) des Atoms vollkommen unbekannt und damit unbegrenzt wäre. Die Energie der Gitterpunkte wird durch die Temperatur des ganzen Kristalls bestimmt. Nun ist die Unbestimmtheit einer Messgröße immer kleiner als der Wert der Messgröße selbst. Je niedriger die Temperatur, umso geringer ist die Energie (und der Impuls), d. h. umso kleiner ist auch die Unbestimmtheit des Impulses – und damit ist die Unbestimmtheit des Ortes umso größer. Bei normalen Temperaturen ist dieser kleine Effekt nicht beobachtbar. Wird aber die Temperatur abgesenkt, so kommen wir in einen Bereich, in dem die Unbestimmtheit des Ortes zum Zerfall des Kristalls führen könnte. Bei den meisten Kristallen ist das zwar nicht der Fall, es bleibt aber unmöglich, die Energie aus dem Kristall vollkommen zu entfernen; selbst beim absoluten Nullpunkt der Temperatur bleibt eine Restenergie – die so genannte »Nullpunktenergie« – als Folge der Unbestimmtheitsrelation bestehen. Beim normalen Helium ist sogar – wie gerade besprochen – eine Kristallbildung erst bei hohem Druck möglich; bei normalem Druck bleibt Helium auch beim absoluten Nullpunkt der Temperatur flüssig. Offensichtlich ist dies eine Folge der Unbestimmtheitsrelation, völlig unabhängig von konkreten Messungen; es gilt auch an entfern239 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
ten Orten des Universums, wo wir gar keine Messungen durchführen könnten. Ganz ähnliche Überlegungen führen zur Abschätzung der Größe von Atomen. Am Beispiel des einfachsten Atoms, des Wasserstoffatoms, kann dies am leichtesten eingesehen werden. (Wir haben schon betont, dass die Vorstellung des Wasserstoffatoms als Planetensystem unsinnig ist.) Ein freies Elektron kann als punktförmiges Teilchen angesehen werden, weil der gemessene Radius kleiner ist als die kleinste messbare Länge. Wenn aber ein Elektron vom Kern des Wasserstoffatoms (vom Proton) »eingefangen« wird, dann ist sein Ort durch das Proton festgelegt, allerdings wegen der Unbestimmtheitsrelation nicht genau. Die Größe des (nicht angeregten) Wasserstoffatoms wird dadurch bestimmt, dass Ort und Impuls (und damit Energie) zugleich so minimal sind, dass die Unbestimmtheitsrelation optimal erfüllt bleibt. 18 Auch das gilt völlig unabhängig von Messungen immer und überall! Zugleich wird damit einsichtig, dass das Wasserstoffatom im Grundzustand kugelsymmetrisch ist. Das Elektron ist innerhalb des Radius des Atoms »ausgeschmiert« (Fachausdruck!), es ist dort kein punktförmiges Teilchen. Erst wenn das Atom zerstört wird, nimmt das nunmehr wieder freie Elektron (dessen Ort nicht mehr festgelegt ist) seine punktförmige Gestalt wieder an. Der kugelförmige Zustand des Wasserstoffatoms im Grundzustand ist ein so genannter »stationärer Zustand«, das heißt, er ist zeitunabhängig. Es gibt also keine Bewegung im Atom, was erneut die (leider gängige) Vorstellung vom Atom als Planetensystem widerlegt.
c)
Verschränkung (Schrödinger)
Im Kap. V/3c haben wir das Phänomen der Verschränkung am Beispiel des EPR-Paradoxons besprochen. Wir sind dabei aber innerhalb des Erklärungsrahmens der Physik geblieben; die Frage, wie zwei Teilchen in Beziehung treten können, obwohl sie räumlich weit voneinander entfernt sind, blieb dabei offen. (Dass sie es können, hat der physikalische Formalismus inklusive seiner Interpretation gezeigt.)
Eine einfache Rechnung dazu (ohne höhere Mathematik) findet sich in Pietschmann: Quantenmechanik verstehen, a. a. O., S. 29 f.
18
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Quantentheorie
Um dieser Frage näher treten zu können, wollen wir uns den physikalischen Formalismus – soweit notwendig – näher ansehen. Die Wechselwirkung von Teilchen wird im physikalischen Formalismus als Energie dargestellt. Zum Beispiel wird die Energie des Wasserstoff-Atoms aus drei Beiträgen zusammengestellt: Der Bewegungsenergie des Protons, der des Elektrons und der Wechselwirkungsenergie, das ist im einfachsten Fall die so genannte CoulombEnergie, also die elektrostatische Anziehung der beiden Teilchen. Diese drei Beiträge sind auf dem Raum-Zeit-Kontinuum definiert (z. B. ist die Coulomb-Energie verkehrt proportional dem Quadrat des Abstandes der beiden Teilchen 19). Schon beim nächsten Atom, beim Helium-Atom wird die Sache umfangreich; neben den drei Bewegungsenergien der beiden Elektronen und des Atomkerns gibt es drei Wechselwirkungsenergien, die der beiden Elektronen mit dem Kern und die der Elektronen untereinander. Stellen wir uns ein Heliumatom vor: Ähnlich wie ein Wasserstoffatom ist es ein Kügelchen, allerdings mit zwei Elektronen in der Atomhülle. In diesem Bild ergibt es überhaupt keinen Sinn, von zwei Elektronen zu sprechen, denn die Doppel-Ladung ist in der Hülle kugelförmig verteilt und kann nicht in die Ladungen der einzelnen Elektronen aufgeteilt werden! 20 Daher muss im mathematischen Apparat dafür Rechnung getragen werden, dass an jedem beliebigen Punkt der Hülle mit je 50 % Wahrscheinlichkeit sowohl das eine als auch das andere Elektron erscheint. 21 Das ist genau jener Vorgang, den Schrödinger mit dem Begriff »Verschränkung« bezeichnet hat (Kap. III/3). Er schrieb: »Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten, treten, wie wir gesehen haben, nicht etwa ihre ψ-Funktionen in Wechselwirkung, sondern die hören sofort zu existieren auf und eine einzige für das Gesamtsystem tritt an ihre Stelle.« 22 Die ψ-Funktion ist der mathematische Ausdruck eines Systems, Die drei Beiträge sind als Energie-Dichten Funktionen von Raum- und Zeit-Koordinaten. 20 So wie wenn wir zwei Glas Wasser in eine Schüssel leeren und dann fragen wollten, aus welchem Glas ein herausgegriffener Tropfen Wasser stammt! 21 Formal heißt dies, dass die Wellenfunktion der Elektronen bezüglich der beiden Teilchen symmetrisiert (bzw. antisymmetrisiert) werden muss. Also ist schon die Sprechweise »das eine und das andere Elektron« irreführend, weil die beiden Elektronen ununterscheidbar sind, also nicht »abgezählt« werden können. 22 Schrödinger, Erwin (Arbeit in 3 Teilen): Die Naturwissenschaften 23 (1935), 807,823,844; § 15 (siehe Kap. III/3). 19
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
und wir können daher auch sagen, wenn zwei Systeme in Wechselwirkung treten, hören sie sofort zu existieren auf und ein Gesamtsystem tritt an ihre Stelle. Noch deutlicher gesagt: Das Ganze ist nicht mehr, sondern etwas anderes als die Summe seiner Teile!
Das eigentlich Wesentliche dabei ist, dass sich nun bei der Berechnung der Energie-Niveaus des Helium-Atoms zu den anfangs aufgelisteten Energien eine neue hinzugesellt, die nicht in der ursprünglichen Liste aufscheint und mathematisch auch nicht hinzukommt! Sie ergibt sich lediglich bei der Berechnung konkreter Energiewerte aus dem Umstand der Verschränkung der Elektronen. Formal wird sie »Austausch-Energie« genannt, weil sie aus der Ununterscheidbarkeit und daher der Austauschbarkeit der beiden Elektronen stammt. Es handelt sich um einen messbaren Energiebetrag, der aber erst bei konkreter Berechnung auftritt und nicht als grundlegende Wechselwirkungsenergie eingeführt wird. 23 Sozusagen eine Energie, die nicht aus der Wechselwirkung, sondern aus der Ununterscheidbarkeit der Teilchen stammt. Die Ununterscheidbarkeit selbst ist also eine Art der Interaktion, die zwar als Energiebeitrag messbar ist, aber nicht lokal und nicht zeitlich bestimmt bleibt. 24
Insofern regen wir – im Sinn einer heuristischen Hypothese – an, das Phänomen der Verschränkung als raumzeitmächtige 25 Interaktion zu verstehen. Dies nicht nur, weil Fernwirkungen 26 auftreten, also etwa
Der daher auch nicht (als Energie-Dichte) auf dem Raum-Zeit-Kontinuum definiert ist. 24 Das Phänomen der Verschränkung kann auch in der Kryptographie nützlich verwendet werden. Häufig wird das als neue Art der (sicheren) Signal- bzw. Botschaftsübermittlung bezeichnet. Wir weisen darauf hin, dass es sich dabei um eine neue Art des Informationstransfers handelt, wobei das eigentliche Phänomen der Kommunikation unberührt bleibt. Siehe Zeilinger: Einsteins Spuk, a. a. O. 25 Den Begriff der Zeitmächtigkeit übernehmen wir von Ratzinger, der damit jene Größe bezeichnet, die traditionell Ewigkeit genannt wird. Wörtlich schreibt er dazu: »Ewigkeit steht nicht etwa beziehungslos neben der Zeit, sondern ist die schöpferisch tragende Macht aller Zeit, die die vorübergehende Zeit in ihrer einigen Gegenwart umspannt und ihr so das Seinkönnen gibt. Sie ist nicht Zeitlosigkeit, sondern Zeitmächtigkeit.« (Ratzinger: Einführung in das Christentum, a. a. O., S. 263). 26 Die Einstein bekanntlich als »spukhafte« bezeichnete. 23
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
das Verschränkungsphänomen, dass (Doppel-)Teilchen einander (unabhängig, wie weit sie voneinander entfernt sind) instantan 27 beeinflussen können, sondern vor allem deshalb – worauf Bryson hinweist –, weil »bis heute […] niemand erklärt [hat], wie die Teilchen diese Leistung vollbringen.« 28 Der Quantenphysiker Anton Zeilinger, der mit seiner Forschungsgruppe die bahnbrechendsten Experimente dazu durchgeführt hat, sagt in einem Interview der Austrian Press Agency (APA): »In einem gewissen Sinne sind Quantenereignisse unabhängig von Raum und Zeit.« (Er konnte die Verschränkung von Photonenpaaren über 144 Kilometer – zwischen La Palma und Teneriffa – nachweisen.) 29
2.
»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
Dass der Mensch ein dialogisches Wesen darstellt, ist unstrittig. Schon Aristoteles kennzeichnet ihn als zoon politikon, als Gemeinschaftswesen. Der Mensch ist alleine gar nicht zu denken, sondern immer und überall zugleich als Mensch mit anderen. Keine Anthropologie kommt umhin, diesem Umstand in irgendeiner Weise Rechnung zu tragen. Dieser offensichtliche dialogische Aspekt des Menschseins wurde jedoch erst ziemlich spät zu einem zentralen Gegenstand philosophischer Reflexion, nämlich Anfang des 20. Jahrhunderts, genauer: während bzw. kurz nach dem 1. Weltkrieg. Warum? Dies hängt wohl damit zusammen, dass erst in der Neuzeit das zwischenmenschliche Ich-Du-Verhältnis zu einem (erkenntnistheoretischen) Problem wurde, das in dem Maße vollends ins Bewusstsein trat, als um 1900 die Moderne in ihre erste große Krise geriet. 30 Evers drückt dies so aus: »Der Andere war zu Beginn des philosophischen Denkens nicht pro-
Also ohne »Zeitverlust«, ohne jedwede zeitliche Verzögerung. Bryson, Bill: Eine kurze Geschichte von fast allem (engl. Orig.: A Short History of Nearly Everything, New York), München 2005, S. 191. 29 Xiao-Song Ma, J. Kofler, A. Qarry, N. Tetik, T. Scheidl, R. Ursin, S. Ramelow, T. Herbst, L. Ratschbacher, A. Fedrizzi, T. Jennewein, A. Zeilinger: Quantum erasure with causally disconnected choice, in: Proc. Nat. Acad. Science (3. Januar 2013). 30 Vgl. dazu: Küenzlen, Gottfried: Der Neue Mensch, a. a. O. 27 28
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
blematisch. Er war selbstverständlich. […] Zu Beginn der Neuzeit wird der Andere [jedoch] zu einem [philosophischen] Problem.« 31 Erinnern wir uns: Leibniz (1646–1716) gelingt es (gerade) noch, seine Monadenlehre mit Hilfe eines vorausgesetzten transzendenten Gottes plausibel zu machen, in dem er Kommunikation zwischen den – als »fensterlose Geistesatome« gedachten – Menschen(monaden) durch eine »prästabilierte Harmonie« erklärt. Doch bereits David Hume (1711–1776) postuliert, dass der Mensch keinen Schritt über sich selbst hinaus zu tun vermag. 32 Dies ist absolut konsequent gedacht. Denn in dem Maße, als man das menschliche Ich nicht (länger) aus der Relation zu einem göttlichen DU 33 her versteht, wird es unmöglich, eine wahre Beziehung eines menschlichen Ich zu einem menschlichen Du zu denken. Dabei ist es völlig gleichgültig, ob Materie oder Geist als Grundelement der Wirklichkeit angenommen wird. Dies zeigt – wie an anderer Stelle schon dargelegt – der Physiker unter den Autoren, wenn er das folgende neuzeitliche Verständnisdilemma in Bezug des Verhältnisses von Geist, Materie und Kommunikation deutlich macht: »Entweder wir gründen die einfachen Substanzen als Atome (oder Elementarteilchen) in der Materie [wie die Naturalisten], dann können wir den Geist nicht finden; oder wir gründen sie [wie Leibniz] als Monaden im Geist, dann können wir Kommunikation nicht verstehen.« 34
Dialog, Gespräch, kommunikatives Miteinander: Das lange als selbstverständlich Angesehene wird im Zuge der Neuzeit in dem Maße als frag-würdig erkannt, als mit Religionskriegen, Individualiserung und Nationalismus das Ich-und-Du-Vereinende hinter das Ich-und-Du-Trennende in den Hintergrund tritt, ja dieses Verbindende in dem Maße schwerlich mehr aufgewiesen werden kann, als der vormals gemeinsame christliche Glaube seine gesellschaftsprägende Kraft verliert. 35 31 Evers, Gernot Dirk: Sittlichkeit im Wort-Feld der Begegnung. Sittlichkeit als strukturdialogisches Freiheits-Ereignis, dargestellt an der Strukturontologie Heinrich Rombachs und der Pneumatologie Ferdinand Ebners, Regensburg 1979, S. 78. 32 Vgl. dazu: Spaemann: Schritte über Grenzen, 2 Bde., a. a. O. 33 Dabei ist es nicht entscheidend, ob dieses Du – wie im Christentum – als explizit ansprechbar gilt. 34 Pietschmann: Die Atomisierung der Gesellschaft, a. a. O., S. 115. 35 In ähnlicher Weise äußert sich Bernhard Casper: »Das Geschick des Abendlandes und der von ihm bestimmten Welt ist seit dem Beginn der Neuzeit gekennzeichnet durch eine scheinbar immer größere Entzogenheit des Religiösen. Das Aufkommen
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
Noch einmal sei in diesem Zusammenhang Thomas Böning zitiert, wenn er im Anschluss an Nietzsches Diktum vom Tode Gottes feststellt: »Daß Nietzsche diese Annahme eines gegebenen [Ich und Du verbindenden] Dritten [Gott] mit seinem berühmtesten Satz für tot erklärt, bedeutet somit mindestens dreierlei: 1. daß Ich und Du radikal getrennt und d. h. einander fremd sind; 2. daß sich diese Fremdheit nur scheinhaft und mit Gewalt überwinden läßt; 3. daß die mit den Trennungen verbundene Pluralität nicht auf das Zerbrechen einer vorab bestehenden, mithin wieder herzustellenden Identität zurückgeführt werden kann.« 36
Wir wollen uns nun näher mit der Frage befassen, welche spezifischen Elemente für die Dialogphilosophie bzw. das Dialogische Denken kennzeichnend sind, um damit das für die abendländische Moderne kennzeichnende Konzept des »autonomes Subjekts« zu überwinden.
a)
(Erneuter) Primat des Geistes
Ein erstes für das Dialogische Denken charakteristische Element ist in der Reprimatisierung des Geistes zu erblicken. Damit befinden sich die Vertreter dieser Denkrichtung zwar im Gegensatz zu vielen zeitprägenden Denkern der neuzeitlichen Moderne und aktuellen PostModerne, die Geist als Epiphänomen der Materie betrachten und insofern alle Wirklichkeit als physikalistisch reduzierbar erachten 37, – eines neuen Wissenschaftsbewußtseins im 17. Jahrhundert, […] Kants Kritik der Gottesbeweise, Feuerbachs und Marxens Kritik an der Religion und schließlich der europäische Nihilismus sind Stationen auf diesem Wege. An dieser Situation hat sich, wie Dichtung und Philosophie unseres [20.] Jahrhunderts zeigen, bis heute nichts Wesentliches geändert, es sei denn, daß der Situation der Reiz des Neuen genommen und sie dadurch nur noch gewöhnlicher und allgemeiner wurde. Die pantechnische Zivilisation scheint die Äußerungen der überkommenen Religionen zu dulden, ohne mit ihnen jedoch in Wirklichkeit etwas anfangen zu können. […] Der Mensch wird in der Frage nach dem absoluten Maß [auch was Kommunikation und Erkenntnis anbelangt] auf sich selbst zurückverwiesen. Dieses sein eigenes Sein scheint die unüberwindbare Grenze, die jedem Denken des Menschen gesetzt ist.« (Casper: Das dialogische Denken, a. a. O., S. 11 f.) 36 Böning: »Wir sind Dickhäuter«, a. a. O., S. 5. 37 Physikalismus meint die Ansicht, alles Existierende sei direkt oder indirekt auf physikalische Gesetzmäßigkeiten rückführbar. Im Band Post-Physikalismus wird dazu einleitend Jaegwon Kim, ein amerikanischer Philosoph koreanischer Abstammung
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
jedoch im Einklang mit den großen Überlieferungen außerabendländischer Philosophien bzw. Weisheitslehren des Ostens und Westens. Da mit dem Primat des Geistes – wie noch zu zeigen sein wird (Kap. VII/3) – vernünftigerweise stets eine aporetische Struktur verbunden ist, ist mit der Reprimatisierung des Geistes nolens volens auch eine Überschreitung jenes »universalen Kausalstils« (Stephan Grätzel) verbunden, der als »Denkrahmen der Moderne« gekennzeichnet wurde. Dadurch wird (wieder) eine grundsätzliche Relativierung »wissenschaftlichen Wissens« gegenüber anderen Weisen menschlicher Erkenntnis strukturell möglich, die solange nicht statthaben kann, als man davon ausgeht, dass – wie Grätzel anmerkt – »alles im Stil der wissenschaftlichen Kausalität zusammengehört, [denn] dann kann auf [die Erkenntnisweisen der] Erfahrung und Wahrnehmung verzichtet werden […] [, wodurch] ganze Welten aus dem Gesichtskreis der Forschung [verschwinden].« 38 Wie sehr dieses Element mit asiatischem Denken, etwa jenem von Keiji Nishitani, der als größter japanischer Philosoph des 20. Jahrhunderts gilt, in Einklang steht, zeigt das nachfolgende Zitat: »Wissenschaft besteht nicht losgelöst von denen, die sich mit ihr befassen. Überdies stellt das ›Wissen‹ in ›Wissenschaft‹ nur eine Art menschlichen Wissens dar. Als Mensch ist der Wissenschaftler zum Beispiel wie jeder andere mit dem nihilum konfrontiert; womöglich zweifelt er am Sinn seiner eigenen Existenz wie an dem der Existenz aller anderen Dinge. Die Dimension, in der ein solcher Zweifel sich erhebt, die Dimension, in der vielleicht eine Antwort auf diesen Zweifel möglich ist, übersteigt den Bereich dieser Art von Wissen bei weitem. Es ist dies eine Dimension, die sich im Grund der menschlichen Existenz selbst eröffnet.« 39
Auf diese Reprimatisierung des Geistes verweisen gerade in jüngster Zeit – insbesondere auch im Zusammenhang mit naturwissenschaftlicher Forschung – eine wachsende Zahl von Autoren und Autorinnen. 40 All diese Personen eint die Ansicht, dass sich menschlicher mit den Worten zitiert: »There seems no credible alternative to physikalism as a general worldview. Physikalism is not the whole truth, but it is the truth near enough.« (Kim zitiert nach Knaup, Marcus u. a. (Hrsg.): Postphysikalismus, München 2011, S. 13) 38 Grätzel, Stephan: Verstummen der Natur. Zur Autokratisierung des Wissens, Würzburg 1997, S. 89. 39 Nishitani, Keiji: Was ist Religion? Frankfurt/Main 1982, S. 99. 40 Aus einer Fülle von diesbezüglicher Literatur sei verwiesen auf: Knaup, Markus:
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
Geist, Bewusstsein, Denken, wertgeleitetes Handeln nicht auf physikalische Gesetze reduzieren lässt.
Wahre/
Erken-
Gesichertes
Wissen
unwahre
ntnis
Materie
Leben Mensch
Abb. 28: Erkenntnis geist-analog
Anhand der Graphik soll deutlich werden, dass – unter Voraussetzung eines Primats des Geistes gegenüber der Materie – neben dem »gesicherten Wissen« weitere Formen übersubjektiv gültiger Erkenntnis angenommen werden können. 41 Damit lässt sich fragen, inwieweit nicht nur die Natur (im Quantenbereich) Sprünge macht, sondern sich das Phänomen des »Nicht-Kontinuierlichen« auch im Bereich der Kultur, des Lebens und des Geistes plausibel machen lässt. Doch der Reihe nach: Das Planck’sche Wirkungsquantum zeigt(e) – entgegen der bis dato maß-
Leib und Seele oder mind and brain, Freiburg i. Br. 2013; Pietschmann, Herbert: Das Ganze und seine Teile. Neues Denken seit der Quantenphysik, Wien 2013; Nagel, Thomas: Mind and Cosmos. Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False, New York 2012. 41 Vgl. dazu: Vereno: Tradition und Symbol, a. a. O., Hamberger, Erich: Transdisciplinarity. A Scientific Essential, in: Bradlow, Leon H. et al. (Eds.): Signal Transduction and Communication in Cancer Cells (= Annuals of the New York Academy of Sciences Vol. 1028), S. 487–496; Vilsmaier, Ulli: ÜberRäumlichkeit. Ein Beitrag zur anthropologischen Konstitution von Raum, rer. nat. Diss., Salzburg 2009.
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
geblichen Ansicht von Leibniz: natura non facit saltus! – deutlich: Natur macht Sprünge! Bohr hatte in der Arbeit zu seinem Atommodell (1913) gerade den Umstand der nicht-kontinuierlichen Energiestrahlung als den wesentlichen Punkt der Planck’schen Strahlungstheorie herausgestellt (vgl. Kap. IV/4a). Dass dieses Faktum nicht allen Physikern in ihr Konzept passte, zeigt die kolportierte Aussage von Schrödinger: »Wenn es doch bei dieser verdammten Quantenspringerei bleiben soll, so bedaure ich, mich mit der Quantentheorie überhaupt beschäftigt zu haben.« 42 Inwiefern lässt sich nun dieses quantenphysikalische Strukturelement der Nicht-Kontinuität – unter Voraussetzung des Primats des Geistes – auf den Bereich des Lebendigen bzw. Geistigen übertragen? Dazu gibt uns erneut Niels Bohr einen entscheidenden Hinweis, wenn er – in jenem oben erwähnten Disput mit Pascal Jordan – darauf hinweist, dass sich Freiheit (Verhaltensvariabilität) beim Lebendigen und erst recht beim Human-Geistigen nicht in einem zufälligen (a-kausalen) Geschehen, sondern in einem schöpferischen (transkausalen) Ereignis ausdrücke (vgl. Kap. VIII/4d bzw. VIII/5b: Kommunikationsgradientenmodell). »Schöpferisches Ereignis der Freiheit« meint dabei das Vermögen, Entscheidungen treffen zu können (wobei auch das Sich-Nicht-Entscheiden eine Entscheidung darstellt). Ein Entscheidungs-Akt stellt insofern ein nicht-kontinuierliches schöpferisches Geschehen dar. 43 Man kann auch so sagen: Das Lebendige bzw. insbesondere der Mensch sind zur (freien) Entscheidung genötigt, denn Freiheitsfähigkeit bedeutet immer zugleich Entscheidungsnotwendigkeit. Hengstenberg drückt dies in Bezug auf den Menschen wie folgt aus: »Zur Entscheidung ist der Mensch gezwungen, in der Entscheidung aber frei. Das heißt: Der Mensch ist das zur Freiheit gezwungene Wesen.« 44 Damit korrespondiert der Gedanke von Hattrup, dass das Schrödinger (1926), zitiert nach Heisenberg, Werner: Die Entwicklung der Deutung der Quantentheorie, in: Physikalische Blätter 12 (1956), S. 289–304. 43 Im biologischen Bereich wird dies seit Jahren insbesondere im Kontext der »Bakterien-Kommunikation« diskutiert. Vgl. dazu u. a.: Adler, Julius; Wung-Wai, Tso: »Decision«-making in bacteria: Chemotactic Response of Escherichia Coli to Conflicting Stimuli, in: Science 184 (1974), S. 1292–1294; Kondev, Jané: Bacterial decision making, in: Physics Today 67 (2), (2014), S. 31; Ben Jacob; Eshel; Becker, Israela; Shapira, Joash; Levine, Herbert: Bacterial linguistic communication and social intetelligence, in: Trends in Microbiology, Vol. 12, Nr. 8 (2004), S. 366–372. 44 Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 42. 42
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
Bewusstsein zunächst als eine Hemmung erscheint, »als« – wie er schreibt – »eine Verhinderung der Weitergabe, es [das Bewusstsein] unterbricht den glatten [interaktionalen] Übergang vom Reiz zur Reaktion […]«. 45 Ein schöpferisches Ereignis stellt unseres Erachtens demnach gerade keine zwangsläufige, kontinuierlich-prozesshafte Verlaufsabfolge dar, sondern einen nicht-kontinuierlichen Entscheidungs-Akt, vergleichbar einem »Sprung«. Was unterscheidet nun das Phänomen des diskontinuierlichen (diskreten) »Sprungs« im Quantenbereich von jenem des »Entscheidungs-Sprungs« – etwa im Bereich des Menschlichen? Der offensichtliche Unterschied besteht darin, dass sich im Quantenbereich dieses Moment des Diskontiniuerlich-Sprunghaften – bei entsprechenden Vorgegebenheiten – notwendig vollzieht, während im Bereich des Menschlichen nur die unabdingbare Notwendigkeit zum Sprung (zum Entscheidungsakt) gegeben ist. Was den »Entscheidungs-Sprung« als solchen anbelangt, ist der Mensch indes gerade nicht determiniert, sondern kann (mehr oder weniger) frei zwischen verschiedenen Handlungsalternativen wählen. Diese Handlungsalternativen sind jedoch – und dies ist der weniger augenscheinliche Unterschied zwischen Quanten-Sprung im Bereich der Materie und Entscheidungs-Akt im Bereich des Menschlichen (Lebendigen) – nie neutral, sondern haben stets entweder positiven oder negativen Charakter. Auf diesen wichtigen Umstand verweist Hengstenberg, wenn er zu bedenken gibt, dass »der Mensch jeden Augenblick jedem Objekt [bzw. Subjekt] gegenüber in der Situation der Entscheidung für oder gegen Sachlichkeit [steht].« 46 Von da her ist für ihn der Mensch geradezu charakterisiert als das zur Entscheidung zwischen Sachlichkeit (Positivität) und Unsachlichkeit (Negativität) fähige und zugleich gezwungene Wesen. Vor diesem Hintergrund gilt es im Bereich des Humanen (Geistigen) bzw. des Lebendigen – strukturell – stets zwischen zwei Arten von Sprung zu differenzieren: einem negativen, lebens-, gemeinHattrup, Dieter: Darwins Zufall oder Wie Gott die Welt erschuf, Freiburg – Basel – Wien 2008, S. 128. 46 Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 41 f. Dabei macht der Autor (ebd., S. 42) den wichtigen Zusatz, dass das Nützliche die Entscheidung nicht abnehmen kann, »da es [das Utilitäre] selbst nur entweder von der Sachlichkeit oder von der Unsachlichkeit geformt sein kann.« 45
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
schafts- und/bzw. geisttötenden, nennen wir diesen »salto mortale«, und einem positiven, lebens-, gemeinschafts- und geistfördernden, den wir als »salto vivale« bezeichnen wollen. Beide Sprünge stellen jeweils – wie erwähnt – keinen notwendigen Prozess dar, sondern ein »grundloses« schöpferisches Ereignis. 47 Spoerri macht deutlich, dass schon Pascal diesen diffizilen Sachverhalt im Sinn hat, wenn er im Fragment 351 der Pensées schreibt: »Den großen Aufschwung des Geistes, zu dem zuweilen die Seele gelangt, ist ein Zustand, in dem sie sich nicht halten kann; sie erreicht ihn nur im Sprung, nicht wie man auf einem Throne sitzt, für immer, sondern nur für einen Augenblick.« 48 Anhand zweier Beispiele soll der Zusammenhang veranschaulicht werden: Das erste ist genommen aus Heimito von Doderers Roman Ein Mord, den jeder begeht. 49 Darin schildert der Autor die Lebensgeschichte eines Mannes gewissermaßen anhand von dessen (positiven wie negativen) Entscheidungs-Sprüngen. Der Freiburger Philosoph Franz Vonessen hat Doderers Erstlingswerk in seinem Band Krisis der praktischen Vernunft einen ganzen Abschnitt gewidmet und beschreibt dort einen frühen Wahl-Akt im Leben von Conrad, so der Name der Hauptfigur, beim Spiel mit Gleichaltrigen am Ufer eines Flusses wie folgt:
Hierzu bemerkt Hengstenberg: »Für diese Entscheidung für oder gegen die Sachlichkeit gibt es keine ›Gründe‹ mehr. Der Übergang von der sachlichen zur unsachlichen Haltung und umgekehrt ist grundlos. […] Denn warum sollte der Mensch aus der sachlichen zur unsachlichen Haltung übergehen? Aus utilitären Gründen nicht, denn die unsachliche Haltung ist nicht utilitär. Aus Gründen der Sachlichkeit kann es erst recht nicht geschehen. Umgekehrt: Warum wendet sich der Mensch ›umsinnend‹ von der unsachlichen zur sachlichen Haltung? Aus utilitären Gründen nicht, denn Sachlichkeit ist nicht utilitär; aus unsachlichen Gründen kann er erst recht nicht die Unsachlichkeit aufgeben. […] [Wohlgemerkt:] Nicht die Entscheidung als Realgeschehen ist grundlos. Als solche setzt sie vielmehr einerseits die eben auf Entscheidung angelegte Natur des Menschen voraus, andererseits reale Objekte, vor denen der Mensch die Grundentscheidung fällt. Grundlosigkeit besteht nur hinsichtlich der Qualifikation der Grundentscheidung, hierfür gibt es keine Gründe, d h. keine Motive. […] [D]er Übergang also von der sachlichen zur unsachlichen Haltung oder Handlung bzw. umgekehrt […] muß ›grundlos‹ sein, wenn das Phänomen der Freiheit der Entscheidung und damit der Sachlichkeit gewahrt bleiben soll.« (Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 42 f.) 48 Pascal zitiert nach: Spoerri, Theophil: Pascals Hintergedanken, Hamburg 1958, S. 17. 49 In deutsch zuerst erschienen München 1938. 47
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
»Während die Knaben Molche fangen, bemerken sie eine Ringelnatter, die, gerade auf sie zu schwimmend, an Land zu kommen versucht. Sie machen ein Spiel daraus, das Tierchen immer wieder ins Wasser zu werfen, je weiter, je besser; die Tierquälerei wird zum Wettkampf. Conrad stand abseits und schaute zu. In ihm ›erhob sich jetzt etwas, was man sehr wohl als das Bewußtsein von einem entscheidenen Augenblick bezeichnen könnte: denn es zeigte sich die Möglichkeit, nun endlich freizugeben, was in Gesellschaft dieser Knaben sonst immer in ihm zusammengedrückt und wie eine niedergehaltene Sprungfeder hatte liegen müssen – es freizugeben, kost’ es, was es wolle. Die Fäden durchzureißen, die ihn, wie es schien, ganz leichthin und zufällig an solches Treiben banden, beiseite zu treten, und sei’s, daß er dann allein dastünde, und die anderen unmutig oder gar als Feinde ihm gegenüber.‹ Dann« – so Vonessen weiter kommentierend – »folgt im Text eine Wendung, die sich an allen entscheidenden Stellen im Roman wiederfindet: ›Er schaute an dieser Möglichkeit entlang‹, gewissermaßen als sei sie ein Richtungsanzeiger, ein Wegweiser in sein ferneres Leben; aber dann – tat er genau das Gegenteil von dem, was er eine Sekunde lang glaubte zu wollen. Er sprang vor, ergriff die Schlange und warf sie weiter als alle – bis an das Ziel, einen im Wasser versunkenen Baum, dessen Äste noch vorragten. Dort blieb das Tierchen hängen und rührte sich nicht mehr. Drei Tage später hing es immer noch da. Es war tot.« 50
Das zweite Beispiel ist dem schmalen Bändchen Weitere Notizen des Berliner Schriftstellers Günter Ullmann entlehnt. Unter dem Titel Schizophrenie beschreibt er ein unscheinbares autobiographisches Entscheidungs-Erlebnis wie folgt: »Es war auf dem Leipziger Hauptbahnhof. Damals war ich psychisch schlecht dran. Ich wartete auf dem Bahnsteig auf den Zug, und der Zug kam nicht. Es kam aber eine Taube, die landete vor meinen Füßen und tippelte vor mir her. Ich folgte der Taube auf einen anderen Bahnsteig, auf dem auch schon ›mein‹ Zug stand. – In gesundem Zustand wäre ich nie einer Taube gefolgt.« 51
Neidl macht plausibel, dass ein eigentlicher »schöpferischer Entscheidungs-Akt« – sei er positiv oder negativ – nie bloß ein Geschehen in Raum und Zeit darstellt, indem er auf folgenden Umstand verweist: »[U]nser Denken ist auf das Vorhandene, den Ist-Bereich angewiesen, es kann nur auf dem Boden der bestehenden [raumzeitlichen] Wirklichkeit denken. Der Übergang vom Nichts zum Ist [d. h. ein Schöpfungs-Akt], also das Werden im strengen Sinn, ist uns absolut entzogen. Das heißt: das
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Vonessen: Krisis der praktischen Vernunft, a. a. O., S. 228 f. Ullmann, Günter: Weitere Notizen, Berlin – Haifa 2003, S. 11.
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
Werden als Werdensvollzug […] bleibt unserem Denken wesensgemäß unzugänglich.« 52
Damit will uns Neidl sagen: Im Hinblick auf den Schöpfungs-/Entscheidungsakt – sollte es sich hierbei tatsächlich um einen kreativen Vollzug im eigentlichen Sinne handeln und nicht bloß um eine hochkomplexe Form von physiko-chemischen Ablaufsfolgen (und sonst nichts!) – ist es vernünftig, etwas vorauszusetzen, was sowohl reflexivem menschlichem Wissen als auch experimenteller Evidenz prinzipiell unzugänglich ist: die Dimensionen des Geistes als grundlegender Realität sowie – damit verbunden – jene der Raumzeitmächtigkeit.
b)
Aporetisches Ich-Du/Wir-Verständnis
Karl Jaspers sagt: »Ich bin nur in Kommunikation mit dem anderen. Ein einziges isoliertes Bewusstsein wäre ohne Mitteilung, ohne Frage und Antwort, daher ohne Selbstbewusstsein. Es muss im anderen Ich sich wiedererkennen. In der Kommunikation, durch die ich mich selbst getroffen weiß, ist der Andere nur dieser unvertretbare Andere.« 53
Diese Aporie ist ständiger Begleiter, ja Bedränger jedes Ichs. Einerseits strebt das Ich nach Selbstverwirklichung, andererseits ist es auf ein Du angewiesen, um überhaupt Ich sein zu können. Ferdinand Ebner spricht von der bedrängenden »Ich-Einsamkeit«: Kommunikation erfordert gleichzeitiges Ernstnehmen von Ich und Du! Erst dadurch werden beide wirklich. Wir weisen besonders darauf hin, dass sich diese Aporien von der Komplementarität der Quantenphysik so unterscheiden wie Kommunikation von Interaktion. Neidl, Walter: Die philosophisch-religiöse Kosmoserfahrung der ›Hellenen‹ als Gegensatz zur jüdisch-christlichen Schöfungswirklichkeit, in: Kairos, N.F. 27. Jg (1985), Heft 1–2, S. 192–206, hier S. 200. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, inwiefern auch der sogenannte materiale »Quantensprung«, der als Begriff bekanntlich nur eine unzureichende Metapher darstellt, weil jegliche Art von Sprüngen (wie kurz und schnell auch immer) sich doch stets in Raum und Zeit vollziehen, d. h. Raum und Zeit benötigen, während das damit bezeichnete Geschehen instantan, also ohne Zeitverlust, vor sich geht, also ein Phänomen darstellt, dass die Dimension der Raum- und Zeitmächtigkeit vorauszusetzen scheint (vgl. Kap. VI/2), 53 Jaspers, Karl: Philosophie, Band II: Existenzerhaltung, Berlin 1973, S. 50. 52
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
Wie konnte Descartes ein Ich behaupten, das ohne Du selbstständig sein sollte? Nach unserer Meinung ist sein »cogito ergo sum« ein Kind des mechanistischen Denkens, ein Versuch, den Denkrahmen auch dem Menschsein aufzuprägen. Auch andere Kulturen haben das erkannt. So schreibt etwa Keiji Nishitani: »Wenn wir sagen können, Descartes’ Philosophie habe die Weise, in der der moderne Mensch existiert, am besten zum Ausdruck gebracht, so kann man auch sagen, sie verdecke die Problematik, welche der Existenzweise des neuzeitlichen Ich zugrunde liegt.« 54 Der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges schreibt: »Der heutige Mensch – überinformiert, aber kaum noch orientiert – verfällt einer Verfremdung und Ich-Fixierung. Er hat keine Zeit mehr, zu reflektieren, in sich zu gehen, zu sich zu kommen und damit auch zu anderen.« 55 Beim Descartes’schen cogito ergo sum handelt es sich um eine statische Erkenntnis, die ein Erwachsener trifft, ohne zu bedenken, dass es einer Frau bedurfte, die ihn zur Welt brachte und so lange liebevoll großzog, bis er überhaupt zu denken beginnen konnte. Ein bekanntes Experiment von Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert belegt dies deutlich. Er übergab Ammen eine Anzahl verwaister Neugeborener zur Aufzucht mit dem Auftrag, sie zu nähren und zu pflegen, aber mit dem strengsten Verbote jeglicher Kommunikation, geschweige denn sie jemals zu liebkosen oder vor ihnen ein Wort zu sprechen. Es geschah nach des Kaisers Willen; aber alle Kinder starben im frühesten Alter. Das Ich bedarf der Kommunikation, also auch eines Du, mit dem es kommunizieren kann. Wir schlagen daher vor, den Begriff »Individuum« zu ersetzen durch »Aporon« 56, um die obige Aporie in den Begriff zu integrieren. 57 »Cogito ergo sum« ist dann zu ersetzen durch »communico ergo sumus«.
Nishitani: Was ist Religion?, a. a. O. Schipperges, Heinrich: Lebensqualität im Wertewandel der Medizin, in: Sokratische Spurensuche ins 21. Jahrhundert, hrsg. von Hanno Beck, Wolfgang Hinrichs und Wolfgang Weber, Verlag d. Humboldt-Ges., Mannheim 1998, S. 401. 56 In diesem Zusammenhang soll darauf hingewiesen werden, dass der Begriff der Person, inzwischen vielfach als Synonym für Individuum verwendet, ursprünglich aporetisch verstanden wurde (vgl. Greshake: Der Ursprung der Kommunikationsidee, in: Hamberger/Luger (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O., S. 195–215 bzw. Kap. III/6. 57 Pietschmann: Die Atomisierung der Gesellschaft, a. a. O., Kap. IV. 54 55
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
ICH kommuniziere, also sind WIR und äquivalent: WIR kommunizieren, also bin ICH
Nicht »ich kommuniziere, also bin ich« und nicht »wir kommunizieren, also sind wir« darf es heißen! Der Widerspruch von Individuum und Gemeinschaft muss in dieser Erkenntnis mitgedacht werden! Kitaro Nishida, Begründer der Kyoto-Schule der Philosophie, sagt unmissverständlich: 58 »Die Realität ist eine Einheit, die den Widerspruch in sich fasst.« Und erläutert: »Für den Aufbau der Realität sind die […] fundamentale Einheit und die gegenseitige Opposition, ja der Widerspruch notwendige Voraussetzungen. In dem Sinne, in dem Heraklit gesagt hat, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, wird die Realität durch den Widerspruch konstituiert. […] Mit dem Verschwinden des Widerspruchs würde sich auch die Realität auflösen.«
Heidegger hat den Heraklit’schen Satz (den wir lieber übersetzen mit »Der Kampf …«) ergänzt: »Der größte Kampf aber ist die Liebe, weil sie den tiefsten Streit erregt, um in seiner Bewältigung sie selbst zu sein!« Wir erinnern auch an den Hegel’schen Satz: »Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten.« 59 Das solipsistische Ich des »cogito ergo sum« ist demnach weder lebendig noch liebesfähig! Erst der Widerspruch des »communico ergo sumus«, also das Aporon (Person) bringt Leben (und Liebe) in die Welt. Wir werden im Kapitel VII ausführlich auf den Begriff »Aporon« eingehen. Ganz im Sinne unserer fundamentalen Differenz von Interaktion und Kommunikation müssen wir dann differenzieren zwischen dem Aporon, das auch in den Urbausteinen der Materie angelegt ist (und lediglich den Interaktionen der Materie unterliegt), dem VITAporon des Lebendigen (z. B. einer Zelle) und dem PNEUMAporon (auch Human-Aporon bzw. Person), bei dem Geist Freiheit ermöglicht, die zu verantworten ist.
Nishida, Kitaro: Über das Gute, Insel Verlag, Frankfurt/Main 1989. Hegel, G. W. F.: Wissenschaft der Logik, in: Werke, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 6, Frankfurt/Main 1969, S. 76.
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
c)
Wort und »Zwischen« als »Drittes« bzw. als Medium und Sinn
Ein zweites charakteristisches Element der dialogphilosophischen Denkrichtung ist in der Voraussetzung / Etablierung eines »Zwischen« – als eines »geistigen Dritten« – zu sehen, das Ich und Du nicht nur verbindet, sondern erst konstituiert. 60 Michael Theunissen macht in seinem klassischen Werk Der Andere darauf aufmerksam, wie zentral diese Kategorie des Zwischen im Konzept dialogischen Denkens ist, wenn er schreibt: »Der Begriff des Zwischen ist der Schlüsselbegriff, der den Zugang […] zum ganzen Dialogismus eröffnet.« 61 Und Theunissen ist es auch, der den für viele wohl überraschenden Sachverhalt darlegt, dass in jenem Werk, das wie kein anderes mit Dialog und der Kategorie des Zwischen assoziiert wird, nämlich Martin Bubers Hauptwerk Ich und Du, dieses zentrale Element des dialogischen Denkens schlichtweg nicht vorkommt. Wörtlich heißt es bei Theunissen: »Die Geburt der Partner aus dem Ereignis der Begegnung denkt Buber als die gegenseitige Konstitution von Ich und Du, als Entstehung des Ich aus dem Du und des Du aus dem Ich. ›Ich-wirkend-Du und Du-wirkend-Ich‹ (Ich und Du, S. 30) – das soll die Urgenesis sein, die der Stiftung alles Subjektiven wie alles Objektiven vorhergeht. Aber nur als Chiffre für den Ursprung von Ich und Du aus dem Zwischen hat der Gedanke der gegenseitigen Konstitution einen Sinn.« 62
So kommt Theunissen schließlich zu der Aussage: »Man muß sich nun fragen, ob Buber überhaupt eine Ontologie des Zwischen geben wollte. Buber gebraucht zwar das Wort ›Ontologie des Zwischenmenschlichen‹ (Werke I, S. 283). Wenn darunter jedoch eine vollstänAuf diesen zentralen Umstand verweist Böning – ohne Ebner oder Nishitani zu nennen – wie folgt: »[I]mmer brauche ich ein dem Ich und dem Du vorausgesetztes allgemein-, das heißt gleich-gültiges [geistiges] Drittes, dem sich beide unterordnen, damit ich dem Dilemma entkommen kann, daß ich das Du nur vermöge meiner eigenen Deutungsleistungen zu verstehen vermag. Gibt es [solch] ein gegebenes Drittes […] dann darf das Ich davon ausgehen, daß seine [des Ichs] Deutungsleistungen dem Du adäquat sind, dann darf es behaupten, daß es ihm mit diesem »selbsthaften« Verstehen keine Gewalt antut, weil dann das begegnende Du nicht radikal, sondern nur relativ anders oder fremd ist, so daß ihm keine Anderheit (alterité, Alterität), sondern nur Andersheit zukommt.« (Böning: »Wir sind Dickhäuter«, a. a. O., S. 5; vgl. dazu Cattepoel, Jan: Sören Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker, Mainz 2005, S. 55) 61 Theunissen, Michael: Der Andere, 2. Aufl., Berlin 1977, S. 259. 62 Theunissen: ebd., S. 273. 60
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dige Beschreibung des Phänomens des Zwischen verstanden werden soll, so hat Buber sie nicht gegeben.« 63
Mit Hilfe von Böning wurden oben schon die Konsequenzen skizziert, die zu konstatieren sind, wenn dieses verbindende geistige »Dritte« (wie in der abendländischen Moderne) für tot (Nietzsche), erst evolutiv-werdend (Hegel) bzw. nicht existent (Physikalisten) erklärt wird. Fehlt dieses geistige »Zwischen«, so ist der Mensch genötigt, aus sich (bzw. wechselseitig) all jenes zu leisten bzw. zu produzieren, was das Leben lebenswert macht: Liebe, Freundschaft, Treue, Freude, Glück, Offenheit, Verzeihen u. a. m. Unnachahmlich veranschaulicht diesen Zusammenhang auf philosophisch-literarischem Gebiet Sören Kierkegaard, wenn er verschiedene Gestalten von »dämonischen« Ästhetikern vor Augen stellt, die allesamt vorgeben, Macht über jenes Ich und Du verbindende »Dritte« zu besitzen und so gewissermaßen als »Zwischen«-Händler auftreten. Cattepoel spricht in diesem Zusammenhang von »gebrochenem Dialog«, der ein Element zu viel enthält. Wörtlich führt er dazu aus: »[V]iele der von Kierkegaard dargestellten Dämonen-Typen [versprechen], sie könnten ihren Adepten Schönheit oder Wahrheit, Glück oder Freiheit, Glauben oder inneren Frieden geben [vermitteln], was unmöglich ist, denn zu diesen Qualitäten kann der Einzelne nur unmittelbar selbst gelangen, sie können auf keinen Fall durch einen anderen [Menschen] vermittelt werden.« 64
Die zentralen dialogphilosophischen Denker, allen voran Ferdinand Ebner und Franz Rosenzweig, versuchen nun, dieses – in der materiezentrierten Moderne weithin unbeachtete – »Zwischen« als geistiges »Zwischen« wieder zu etablieren, in dem sie den Menschen weder vom Du noch vom Ich her zu verstehen trachten 65, sondern von einem geistigen »Dritten« her, das Ich und Du verbindet bzw. erst
Theunissen: ebd., S. 284. Der Begriff des Zwischen taucht bei Buber erst später auf. Es muss demnach davon ausgegangen werden, dass in Bubers zentraler dialogischer Schrift Ich und Du die alles entscheidende Begrifflichkeit zum Verständnis wahren Mitseins fehlt: eben der Topos bzw. der Terminus des »Zwischen«, ohne den das »dialogische Prinzip« ein monologisches bleiben muss. 64 Cattepoel: Sören Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker, a. a. O., S. 129. 65 Auch nicht wechselseitig, wie dies Buber in Ich und Du vornimmt. 63
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
konstituiert: bei Ebner ist dies das »Wort«, bei Rosenzweig das »Gespräch«, beim späten Buber das »Zwischen«. Dass auch diesbezüglich eine verblüffende Nähe zum japanischen bzw. ostasiatischen Denken besteht, wird beispielhaft deutlich, wenn es bei Ryogy Okochi heißt: »Der Japaner sieht den Ort, wo das Wesen des Menschen sich zeigt, nicht als den Ich-Punkt, den Körper-Ort, sondern als das Dasein in der Gestalt von Zwischenraum zwischen den Menschen.« 66 Das japanische Denken begreift den Menschen also weder als »autonomes Subjekt« noch als »ichlosen Mechanismus«, sondern in seiner Zwischenhaftigkeit. Dadurch erscheint es nicht nur prädestinierter, die Bedeutung jenes »existenziellen Dritten« der Dialogphilosophien eines Ebner, Rosenzweig oder (späten) Buber zu erfassen, sondern auch die Dimension des Bösen nicht allein am menschlichen Subjekt oder an der Gesellschaft festzumachen, vielmehr an seiner (negativen) Zwischenhaftigkeit. 67 Pietschmann: Das Ganze und seine Teile, a. a. O., S. 168. Auch das Böse wird hier als unsagbare und unfassbare Realität beschrieben, jedoch im Gegensatz zum positiven Zwischen als »unterzeitlich«; seine zeiträumliche Andock- bzw. Realisierungstelle hat es allein am Grunde des einzelnen Subjekts. Keiji Nishitani bemerkt dazu: »Gewöhnlich verbinden wir das Böse und die Sünde mit Ereignissen in der Welt der zeitlichen Erfahrung, mit Ereignissen a posteriori; solange wir aber auf dieser Stufe stehenbleiben, sind nur die Zweige und die Blätter des Bösen sichtbar und ist die Wurzel verborgen. Das fundamentale Gewahrwerden des Bösen setzt ein, wenn wir den Ursprung einzelner Übel innerhalb der Zeit bis auf den Grund unseres Selbstseins verfolgen. Wenn Kant sagt, das ›radikal Böse‹ liege allen zeitlichen Erfahrungen voraus als etwas, das seine Wurzeln im Grund des Subjekts habe, meinte er damit nicht, daß es jeder zeitlichen Erfahrung zeitlich vorausgehe, so wie wir etwa von der Zeit, ehe wir geboren wurden, sprechen. Dies besagt, dass das ›radikal Böse‹ direkt unterhalb der Gegenwart realisiert wird, die, stets inmitten der Zeit, die Zeit selbst durchbricht. Das heißt ferner: Wir werden des radikal Bösen im tiefsten Grund unserer Existenz als einer Realität gewahr, und zwar gleichsam ›in einem Nu‹, in einem Augenblick als einem ›Atom der Ewigkeit in der Zeit‹, wie Kierkegaard sagt. Gerade weil das Böse im tiefsten Grund des Subjekts offenbar wird, ist es mehr als etwas Böses, das ›von ihm‹ selbst begangen worden ist. Es ist etwas Wesenhaftes, das sich in seiner ›Soheit‹ im Grund unseres Seins selbst vergegenwärtigt. Wo wir davon sprechen, daß ›wir‹ Böses verüben, läßt es sich nicht fassen. In diesem Sinne ist es für ›uns‹, für das Ich, unfaßbar. Seine Unfaßbarkeit bedeutet gerade seine Vergegenwärtigung als etwas Reales und Wesenhaftes, weil es nicht etwas uns irgendwoher von [zeiträumlich] außen Zukommendes, sondern eine auf dem Grund des Subjekts geoffenbarte Realität ist, gehört es allein zum Subjekt selbst. Der Grund des Subjekts ist der Ort, wo das radikal Böse entspringt; und indem es jenes Bösen gewahr wird, ist das Selbst in seinem eigenen Grund seiner selbst gewahr als der realen Realisation des Bösen, jenes Bösen als Realität.« (Nishitani: Was ist Religion? a. a. O., S. 67; vgl. dazu auch Ratzinger: Dogma und Verkündigung, a. a. O., S. 233)
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Erhellend ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf einen abendländischen Denker, der den Zusammenhang zwischen personal-dialogischem und asiatischem Denken schon früh erkannt hat: Joseph Ratzinger. In seinem Werk Dogma und Verkündigung schreibt er zur Bedeutung des »Zwischen«: »[D]ie tieferen Formen des Personalismus [haben] durchaus erkannt, dass man mit den Kategorien Ich und Du allein unmöglich die ganze Wirklichkeit erklären kann – daß gerade das ›Zwischen‹, das die beiden Pole miteinander verbindet, eine Realität eigener Art und eigener Kraft ist. Anregungen asiatischen Denkens lassen heute diesen Zusammenhang noch stärker hervortreten. Seelische Erkrankung, so sagen sie etwa, ist nicht einfach eine Befindlichkeit des Ich, sondern beruht gerade auf einer Störung des ›Zwischen‹ ; weil das Zwischen in Unordnung ist, abgebrochen, fehlgeleitet, verkehrt, darum ist auch das Ich selber aus dem Gefüge. Das Zwischen ist eine schicksalentscheidende Macht, über die unser Ich keineswegs restlos verfügt: Dies zu meinen ist ein Rationalismus von einer fast abenteuerlich wirkenden Naivität.« 68
Mit Hilfe von Nishitani und Ratzinger lässt sich also zeigen, dass mit der skizzierten (Wieder-)Entdeckung der Dimension des »Zwischen« 69 auch die Dimension eines »Pseudo-Zwischen« oder »ZerrWortes« auftaucht. 70
d)
Der Andere als »Sinnereignis« bzw. das Antlitz des Anderen als Aufforderung zu wahrer Kommunikation
Schließlich soll an dieser Stelle noch auf eine aktuelle philosophische Tendenz eingegangen werden, die als »dialogische Ahnungen« umschrieben werden kann und insbesondere in Frankreich, dem Mutterland der Post-Moderne, dabei ist, Fuß zu fassen. Gemeint ist damit die Auseinandersetzung mit dem – im Sinne der Aufklärung – unerklär-
Ratzinger: Dogma und Verkündigung, a. a. O., S. 233. Vgl. dazu auch die Konzeption des »Feldes des Zwischen« bei Hashi; siehe: Hashi, Hisaki: Naturphilosophie und Naturwissenschaft. Tangente und Emergenz im interdisziplinären Spannungsfeld, Wien – Berlin 2010, S. 185–197. 70 Vgl. dazu auch: Gebsattel, Viktor Emil: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, Berlin u. a. 1954, S. 230; Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 40 sowie Hamberger, Erich: Die aktuelle Bedeutung von Ferdinand Ebner für die komparative Philosophie in einer transkulturell werdenden Welt (wird erscheinen). 68 69
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
lichen bzw. »unmachbaren« Phänomen des »Sinnereignisses«. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz schreibt dazu: »Philosophie ist zurück in einer Fassungslosigkeit, von der sich die Autonomie-Formel der Aufklärung nichts hat träumen lassen.« 71 Diese Fassungslosigkeit ist bedingt durch die philosophische Reflexion des Phänomens, dass Sinnhaftes empfangen werden kann, d. h. als offerierte Gabe von außen. Anders formuliert: Sie resultiert also gerade nicht daher, dass konstatiert werden muss, im Wandel der Dinge nichts mehr eigentlich erkennen zu können, sondern umgekehrt in der Wahrnehmung, dass sich – entgegen postmodern-säkularer Erkenntnis- und Kommunikationstheorien – Verbindlich-Verbindendes erkennen lässt, weil »es« sich zu erkennen gibt. Dieses Gewahrungserlebnis destruiert die vermeintliche (post-)moderne Gewissheit, dass es (vgl. David Hume) dem Menschen unmöglich ist, einen Erkenntnis- und Kommunikationsschritt über sich hinaus zu tun. Insofern handelt es sich um eine geradezu umgekehrte Fassungslosigkeit wie bei jener um 1900, als sich im Zuge der Etablierung von Psychoanalyse, Quantentheorie u. a. unverrückbar-gewiss Scheinendes als prinzipiell unwissbar herausstellte. Den Topos des Ereignisses von Jean-François Lyotard (1924–1998) 72 adaptierend, verwendet Jean-Luc Marion diesbezüglich den Terminus Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, in: Schweidler, Postsäkulare Gesellschaft, München 2007, S. 201– 220, hier S. 204. Namentlich verweist Gerl-Falkovitz dabei nicht nur auf die französischen Denker Francois Lyotard, Jean-Luc Marion und Jaques Derrida, sondern erwähnt ebenso Jürgen Habermas, George Steiner, Gianni Vattimo und Botho Strauss. Nicht zuletzt zeigt sie die dialogische Qualität des Denkens der Husserl-Schülerin Edith Stein anhand des Topos der »Gegenintentionalität« auf. Vgl. dazu Stein, Edith: Natur, Freiheit und Gnade (irrtümlich veröffentlicht unter dem Titel Die ontische Struktur der Person und ihre erkenntnistheoretische Problematik), in: dies., Welt und Person. Beitrag zum christlichen Wahrheitsstreben, Freiburg – Basel – Wien 1962, S. 137–153. 72 Jean-François Lyotard (1924–1998), frz. Philosoph, der mit seinem Essay La condition postmoderne, Paris 1979 (dt. Das postmoderne Wissen) die Geistesströmung der sogenannten Post-Moderne entscheidend mit auslöste. »Das [Kommunikations-] Ereignis« – so Gerl-Falkovitz Lyotards Konzeption der erkenntnistheoretischen Unverfügbarkeit kommunikativen Geschehens erläuternd – »als Ereignis sei philosophisch nicht systematisierbar, es bleibe unbestimmt im Sinne des Undarstellbaren.« (GerlFalkovitz: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, a. a. O., S. 205 f.). 71
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
Sinn-Ereignis. Indem er »vom Sinnereignis als jenem Einbruch in das intentionale gegenstandsbezogene Bewusstsein – wie von Husserl entwickelt – als ›Gegenintentionalität‹ [spricht]« 73, rückt er damit eine dialogphilosophische Deutung menschlicher Kommunikationsvollzüge in den Mittelpunkt. Dies deshalb, weil er Sinn nicht – vom Ich aus – als etwas Kausal-Herleitbares versteht, das dem intentionalen Bewusstsein entspringt, sondern als Unerwartetes, ja mitunter Verstörend-Neues. In diesem Zusammenhang kritisiert Marion Husserls Konzeption der Intentionalität als eine ich-immanente. Warum? Weil eine vom Ich ausgehende (und letztlich bei diesem verbleibende) »Blick-Richtung« sein Gegenüber als idolisierten Gegenstand konstruiert, ohne darin – wie Gerl-Falkovitz präzise bemerkt – »die Eigenspiegelung (Reflexion) durch das Idolisierte zu erkennen.« 74 Ein solcher rein ich-immanent-konstruktivistischer Blick fixiert und erschöpft sich nach Marion im Erblickbaren. Ich sehe, was ich (im anderen) sehen will. Allgemein ausgedrückt: Der Mensch erschafft sich seine Idole, seine »Götzenbilder«, indem er keinen Schritt über sich hinaus vollzieht und so das nicht-ichhafte Erblickbare fixiert, »wobei die [Ich-]Starre des Blicks […] zur (unerkannten) Starrheit des Idols führt [, als dem] Göttliche[n] nach dem Maß des menschlichen Blicks«. 75 Marion legt damit die Auffassung nahe, dass das Sichtbare bzw. Reale sich erst da zeigt, wo die Ab-Sicht aufhört, d. h. im absichtslosen Sehen. Denn das Sinnereignis bzw. der Kommunikations-Akt wird hier nicht (primär) verstanden als konstruiert, sondern als empfangen; empfangen von einem Anderen, »das« mir entgegen kommt, gleichsam von einem »Entgegenüber«, oder in der oben gebrauchten Terminologie formuliert: als »Gegenintentionalität«. Mit den Worten Marions ausgedrückt: »Das Wesentliche in ihm [dem Blick] kommt ihm von anderswoher zu, oder vielmehr: kommt ihm als dieses Anderswo zu.« 76 Dies bedeutet: Der Andere ist insofern immer mehr als ich (von ihm) erblicke; er ist immer zugleich auch Bild der Verheißung, Verweis auf (noch) Unerblicktes, noch Unerblickbares. Solche Erfahrungen kommen – um ein Bild von Ferdi73 Gerl-Falkovitz: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, S. 207. 74 Gerl-Falkovitz: ebd., S. 207. 75 Gerl-Falkovitz: ebd., S. 207. 76 Marion, Jean-Luc: Idol und Bild, in: Casper, Bernhard (Hrsg.): Phänomenologie des Idols, Freiburg – München 1981, S. 107–132, hier S. 128.
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»Dialogphilosophie« / Dialogisches Denken
nand Ebner zu verwenden – dem unausdenkbaren Ereignis des Einsturzes der »Chinesischen Mauer« gleich, die Ich und Ich prinzipiell voneinander zu trennen scheint – was die wechselseitige Erkennbarkeit bzw. wahre ich-übersteigende Kommunikation anbelangt. Hans Müller-Eckhard verweist aufgrund von Patientenerfahrungen aus seiner psychotherapeutischen Praxis dabei schon in den 1960er Jahren auf den Umstand, dass solche Sinn-Erlebnisse, ja geradezu Sinn-Einbrüche vielfach im Widerspruch zu unserer rationalisierten bzw. technisierten Kultur empfunden werden. Wörtlich schreibt er dazu: »Durch die Intellektualisierung des gegenwärtigen Lebens, die intellektuelle Präjudizierung alles Denkens und Fühlens wird eine Kundgabe der Tiefe als Zumutung empfunden; will man sie ernst nehmen, […] dann ist das zunächst nicht ohne Widerspruch des Verstandes möglich.« 77
Jedenfalls lässt sich feststellen, dass aktuelle Tendenzen in der Philosophie – in dem sie den Sinn-Ereignis-Charakter von Kommunikation in den Blick rücken – indirekt darauf verweisen, dass Kommunikation nie bloß einen kausal-linearen Prozess, sondern ein dialogisches Geschehnis darstellt, das stets trans-kausale Züge aufweist, wie Gerl-Falkovitz schreibt: »Sie [die kommunikative Gegebenheit] tritt als ursprüngliches, ungeschuldetes Phänomen in Erscheinung, als unvordenklich, transkausal.« 78 Zwar darf man auf Grund dieser Befunde oder wegen der Konjunktur des Begriffs Dialog nicht direkt auch auf eine Aktualität des dialogischen Denkens schließen: dazu sind die meisten diesbezüglichen Werke doch zu sehr geprägt von einer wechselseitigen Konstitution von Ich und Du, ohne dass die zentrale Dimension des »Zwischen« beachtet würde; doch sind gerade in den vergangenen Jahren 77 Müller-Eckhard, Hans: Das Unzerstörbare. Religiöse Existenz im Klima des Absurden, Stuttgart 1964, S. 63. Wie solche Sinn-Ereignisse auch in anderer Weise verdrängt, unterdrückt bzw. nicht zur (Er-)Kenntnis genommen oder sukzessive »erfolgreich« entstellt werden können, führt Sören Kierkegaard am Ende des 1. Bandes seines Werkes Entweder/Oder im Tagebuch des Verführers trefflich vor Augen, wo Johannes – so der Name des ästhetischen Bonvivants – das völlig unerwartete SinnEreignis der Begegnung mit der »Frau seines Lebens« in der Folge konsequent »domestiziert« und die betreffende Dame peu à peu in ein Objekt für sich verwandelt; vgl. Kierkegaard, Sören: Entweder/Oder, Bd. 1, ungekürzte TB-Ausgabe, München 1988, S. 351–521. 78 Vgl. Gerl-Falkovitz: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, a. a. O., S. 203.
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VI. Aporetische Herausforderungen in Quantentheorie und »Dialogphilosophie«
zahlreiche Neuerscheinungen speziell zum Dialogischen Denken zu konstatieren: Im deutschsprachigen Raum erschienen allein im Jahre 2013 fünf Monographien zum Denken von Franz Rosenzweig; daneben finden sich neue Zugänge zum dialogischen Sprachdenken von Eugen Rosenstock-Huessy, etwa Grammatik statt Ontologie: Eugen Rosenstock-Huessys Herausforderung der Philosophie (Schmidt 2011), die Wiederauflage von Ebners Hauptwerk Das Wort und die geistigen Realitäten 2009, die erstmalige Edition seines Frühwerks Ethik und Leben 2013, die Veröffentlichung seines 1918er Tagebuches 2014 usw. 79
Eine kleine Auswahl: Ebner, Ferdinand: Ethik und Leben. Fragmente einer Metaphysik der individuellen Existenz, hrsg. von Richard Hörmann und Ernst Pavelka, Wien – Berlin 2013; Bidese, Ermenegildo u. a. (Hrsg): Pneumatologie als Grammatik der Subjektivität: Ferdinand Ebner, Münster 2012; Flatscher, Markus; Hörmann, Richard (Hrsg.): Ferdinand Ebner Tagebuch 1918, Wien – Berlin 2014; Hahn, Karl: Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen. Annäherungen an Franz Rosenzweigs Sprachdenken, Freiburg/Br. 2013; Brasser, Martin (Hrsg.): Dialogphilosophie, Freiburg/Br.-München 2013; Rosenzweig, Franz: Mein Ich entsteht im Du. Aufgewählte Texte zu Sprache, Dialog und Übersetzung, hrsg. von Stephan Grätzel, Freiburg/Br. 2013; Ricci-Sindoni, Paola: Franz Rosenzweig: l’altro, il tempo e l’eterno, Roma 2012; Yehoyada, Amir u. a. (Hrsg.): Faith, truth and reason: new perspectives on Franz Rosenzweig’s »Star of redemption«, Freiburg/Br. 2012; Herzfeld, Wolfgang D. (Hrsg.): Feldpostbriefe: die Korrespondenz mit den Eltern (1914–1917) / Franz Rosenzweig, Freiburg – München 2013; Rosenstock-Huessy, Eugen: Die kopernikanische Wende in der Sprachphilosophie, hrsg. von Stephan Grätzel, Freiburg/Br. 2012; Schmidt, Manfred A.: Grammatik statt Ontologie: Eugen Rosenstock-Huessys Herausforderung der Philosophie, Freiburg – München 2011.
79
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten in den Bereich »großer Objekte«
Im vorigen Kapitel haben wir vorgeschlagen, den Begriff »Individuum« durch »Aporon« zu ersetzen, um die grundsätzlich widersprüchliche Natur des Menschen deutlich werden zu lassen. Es stellt sich heraus, dass schon im Bereich der Materie der Begriff »Aporon« eher stimmig ist als etwa der Demokrit’sche Begriff des »Atoms« (heute Elementarteilchen). Der englische Physiker Eddington hat schon 1928 vorgeschlagen 1, statt »Partikel« (particle) lieber »Wellikel« (wavicle) zu sagen, um auf die innere Widersprüchlichkeit Rücksicht zu nehmen. Dieser Vorschlag hat sich aber nicht durchgesetzt und ist heute weithin unbekannt. Ehe wir uns dem Begriff des Aporon am Beispiel des Menschen nähern, wollen wir daher zusehen, wie sich dieser Begriff schon in der toten Materie und im Lebendigen schlechthin vorbereitet. 2
1.
Am Beispiel der Quantenfeldtheorie
»Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch«, sagt Angelus Silesius. Interessanterweise stellte sich bei der Entwicklung der Quantenfeldtheorie heraus, dass auch dort Widersprüche auftraten, deren Elimination erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Wir werden im Folgenden zeigen, dass gewisse Ähnlichkeiten zwischen den beiden Arten von Widersprüchen bestehen, dass aber keinesfalls ihre wesentlichen Unterschiede dabei übersehen werden dürfen. Die Ähnlichkeiten stammen aus dem zweiten Postulat des meEddington, Arthur S.: The Nature of the Physical World, New York – Cambridge 1928. 2 Siehe dazu auch Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., Anhang A3. 1
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
chanistischen Denkrahmens, der Forderung nach Zerlegbarkeit. Das Ergebnis einer – notfalls gewaltsamen – Zerlegung in kleinste Teile ist im menschlichen Bereich das Individuum, im Bereich des Mikrokosmos das elementare Teilchen. Es zeigt sich, dass bei einer solchen Zerlegung zwar das Ganze verloren geht, aber dennoch immer vorausgesetzt werden muss, wenn eine Zerlegung durchgeführt werden soll. In beiden Fällen ist dies die grundlegende Aporie. 3 Beim Elementarteilchen wollen wir nicht von »Individuum« sprechen; wenn z. B. zwei Elektronen zusammentreffen, verlieren sie sofort ihre »Identität« durch Verschränkung (siehe Kap. VI/1c). Sie bilden ein »Doppelelektron«, in dem die einzelnen Teilchen vollkommen aufgehen. Am deutlichsten wird dies beim Phänomen der »Bose-Einstein-Kondensation« (bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt), bei dem eine beliebige Anzahl von Einzelteilchen (oder Atomen) sich so verschränken, dass mit Fug und Recht von einem »Gesamtteilchen« gesprochen werden kann; dieses verhält sich so wie ein einziges Objekt, in dem keine weitere Unterteilung erkannt werden kann. Ein fundamentaler Unterschied besteht hingegen darin, dass wir bei den Elementarteilchen im Bereich der Materie gefangen bleiben, somit der Naturnotwendigkeit vollständig unterliegen. Im Bereich des Lebendigen ist die reine Naturnotwendigkeit eingeschränkt; es gilt weder strenge Kausalität noch der objektive Zufall (Akausalität). Erinnert sei an den Hegel’schen Satz: »Etwas ist lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält.« Im Gegensatz zu den Elementarteilchen gibt es im Bereich des Lebendigen immer erste Ansätze von Freiheit. Heitler nennt dies »Verhaltensvariabilität« 4; lebendige Individuen sind zumindest in Grenzen frei, ob und wie weit sie sich vom Ganzen entfernen oder trennen; sie sind unseres Erachtens nicht mehr auf Materie allein reduzierbar (vgl. Kap. V/2). Erst der Mensch ist sich dieser Möglichkeit bewusst, sodass dort der Widerspruch bestimmendes Element des Individuums wird (siehe Kap. VI/2). Betrachten wir nun die Probleme, die sich beim Aufbau der Quantenfeldtheorie ergeben haben. Schon bei der Entwicklung der In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der Teilchenphysik einen Richtungsstreit, ob das Ganze (»Bootstrap-Theorie«) oder das Einzelne (»Quantenfeldtheorie«) Vorrang haben sollte; siehe dazu Pietschmann, Herbert: The Early History of Current Algebra, in: Eur.Phys.J., H 36 (2011), S. 75–84. 4 Vgl. Heitler, Walter: Naturphilosophische Streifzüge. Vorträge und Aufsätze, Braunschweig 1970. 3
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Am Beispiel der Quantenfeldtheorie
(nichtrelativistischen) Quantenphysik schienen die Widersprüche unüberwindlich (siehe Kap. V/3a). Werner Heisenberg sagte: »Die Schwierigkeiten und inneren Widersprüche, die einem Verständnis der Atome und ihrer Stabilität entgegenstanden, konnten nicht etwa gemildert oder beseitigt werden. Im Gegenteil, sie traten immer schärfer hervor. Jeder Versuch, sie mit den begrifflichen Mitteln der früheren Physik zu bewältigen, schien von vornherein zum Scheitern verurteilt.« 5
Seit der Vereinigung der Quantenmechanik mit der speziellen Relativitätstheorie durch Paul A. M. Dirac wurde es nötig, ganz neue Begriffe zu entwickeln, die zu einem dramatischen Paradigmenwechsel geführt haben. An erster Stelle sei hier die Vorhersage der Antiteilchen (und damit der Antimaterie) erwähnt, die trotz emotionaler Widerstände 6 aller Beteiligten experimentell glänzend bestätigt wurde. Die nähere Analyse des Teilchenbegriffes führt zur Aporie des Einzelnen (Teilchen), das einerseits abgeschlossenes, selbständiges Ganzes (im Sinne der Leibniz’schen Monade) sein sollte, andererseits aber erst durch die Interaktion (Fachsprache: Wechselwirkung) mit anderen Teilchen seine »Identität« erhalten kann. Betrachten wir das nun genauer am Beispiel eines isolierten Elektrons. Wie jeder quantenphysikalische Zustand ist es durch seine Eigenschaften (Quantenzahlen) zu charakterisieren. Die wichtigsten sind Masse und Ladung (auf weitere wie z. B. Spin können wir hier verzichten). Aber Masse und Ladung sind an einem isolierten Elektron nicht festzustellen, dazu bedarf es der Interaktion (Wechselwirkung) mit dem elektromagnetischen Feld. In der Fachsprache heißen diese Größen »nackte« Masse und »nackte« Ladung, und das Elektron ohne elektromagnetisches Feld heißt »nacktes« Teilchen (»bare« particle). Freilich ist es in dieser Form – wie gesagt – nicht beobachtbar, weil es ohne Interaktion in der physikalischen Welt gar nicht existiert. Geben wir die Interaktion mit dem elektromagnetischen Feld (repräsentiert durch Photonen) dazu, dann werden durch die Wechselwirkung Masse und Ladung geändert; die neuen Werte werden als »physikalische« Masse und »physikalische« Ladung bezeichnet. (Manchmal auch »angezogene« Masse und Ladung, englisch »dressed« mass and charge). Das Elektron wurde durch die WechselHeisenberg: Der Teil und das Ganze, a. a. O., S. 85. Dirac selbst konnte sich in seiner ersten Arbeit nicht zur Vorhersage des Positrons durchringen; er versuchte es mit verschiedenen Argumenten wegzuinterpretieren.
5 6
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
wirkung nun zum »physikalischen« Teilchen, dessen Masse und Ladung gemessen werden können. »Nackte« Masse und »nackte« Ladung sind nicht messbar, weil ein Elektron – wie schon betont – ohne elektromagnetisches Feld zwar in unserer Vorstellung, nicht aber in der Welt existiert. Aber sie können aus der Theorie formal berechnet werden! Und da stellte sich zum Schrecken aller betroffenen Physiker heraus, dass die Differenzen zwischen nackter und physikalischer Masse und Ladung unendlich sind! (Genauer gesagt, dass die entsprechenden Integrale im mathematischen Sinn nicht existieren.) Damit ist sogar im mathematischen Formalismus eindrucksvoll gezeigt, dass auch im Bereich der Teilchen dem Begriff des »Individuums ohne Interaktion« (Wechselwirkung) kein vernünftiger Sinn unterlegt werden kann. Um dieses Problem zu bewältigen wurde ein eigenes Programm entwickelt, das so genannte »Renormierungsverfahren« (für das mehrere Nobelpreise vergeben wurden). Zunächst müssen die mathematisch nicht definierten (weil unendlichen) Integrale handhabbar gemacht werden. Das entsprechende Verfahren heißt »Regularisierung«. Sodann müssen alle Terme, die keiner physikalisch messbaren Größe entsprechen, eliminiert werden; dieses Verfahren heißt »Renormierung«. Heute hat die Quantenfeldtheorie ihren Siegeszug angetreten, und die Möglichkeit, experimentelle Ergebnisse richtig vorherzusagen, ist überwältigend (siehe Kapitel II). Anfangs ist sie jedoch auf ziemlich erbitterten Widerstand gestoßen; ihr wurde vorgehalten, dass Unendlichkeiten (nicht existierende Integrale) einfach durch Renormierung »unter den Teppich gekehrt« 7 würden. Die Unmöglichkeit, ein Teilchen ohne seine Interaktion zu erfassen, hat direkte experimentelle Konsequenzen. Theoretisch können wir unterscheiden zwischen so genannten elastischen und inelastischen Stößen. Elastisch wird ein Stoß- (oder Streu-)Prozess genannt, wenn nach dem Stoß genau dieselben Teilchen vorliegen wie vor dem Stoß. Ein Beispiel ist die Streuung von zwei Elektronen aneinander, wobei keine weiteren Teilchen erzeugt werden. 8 Inelastisch ist der Stoß dann, wenn bei der Streuung ein oder mehrere zusätzliche Teilchen – im einfachsten Fall ein Photon – entstehen. 9 7 8 9
Details in Pietschmann: The Early History of Current Algebra, a. a. O. Symbolisch e + e → e + e Symbolisch e + e → e + e + γ
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Am Beispiel der Quantenfeldtheorie
Theoretische Berechnungen können im Allgemeinen ganz einfach zwischen diesen beiden Fällen unterscheiden. Gerade beim Photon geht das aber nicht, weil (langwellige) Photonen beliebig kleine Energien haben können und somit auch bei den exaktesten Messungen unbeobachtbar bleiben können. Für jede Messapparatur sind also zusätzliche Rechnungen (so genannte »Strahlungskorrekturen«) notwendig, die der grundsätzlichen Nichtunterscheidbarkeit von elastischen und inelastischen Prozessen Rechnung tragen. Dies ist einmal mehr ein Beispiel, dass Teilchen von ihrer Wechselwirkung nicht separiert werden können. 10 Jedes Teilchen ist mit allen Teilchen immer in Wechselwirkung! Das monadenartige »Individuum« ist bezüglich der Teilchen eine Abstraktion, die physikalisch unhaltbar ist. Wir verwenden daher den Begriff »Aporon«, der – nicht nur in Bezug auf die Teilchen – das »Individuum« ersetzen sollte, wie einer von uns vorgeschlagen hat: »Physikalische Teilchen tragen […] den Widerspruch in sich, einerseits selbständige Objekte zu sein, andererseits ohne Wechselwirkung keine Existenzberechtigung zu haben. In diesem Sinne möchte ich sie als APORONS bezeichnen.« 11 Der Vorschlag, den Begriff »Individuum« durch »Aporon« zu ersetzen, hat keine Auswirkungen auf die Physik. Aber eine philosophische Betrachtung 12 der spezifischen Bedeutung von Individuum, Monade und Aporon könnte doch fruchtbar sein. Es ergibt sich eine interessante Parallele zum Denken des japanischen Philosophen Kitaro Nishida aus Kyoto (1870–1945), der sich – ausgehend von der Philosophie des Zen-Buddhismus – intensiv mit der abendländischen Naturwissenschaft und insbesondere der Quantenphysik befasst hat und zum Schluss kommt: »Die Realität ist eine Einheit, die den Widerspruch in sich fasst. […] Für den Aufbau der Realität sind die […] fundamentale Einheit und die gegenseitige Opposition, ja der Widerspruch notwendige Voraussetzungen.« 13 Im Kapitel II haben wir gezeigt, dass wegen dieser unauflösbaren Verquickung aller Teilchen beim Messen der Eigenschaften eines bestimmten Teilchens alle übrigen mitberücksichtigt werden, wenn Es gibt eigene Symposien über Strahlungskorrekturen (Radiative Corrections), z. B. das »International Symposium on Radiative Corrections«, das im Oktober 2007 in Florenz zum achten Mal stattfand. 11 Pietschmann: Die Atomisierung der Gesellschaft, a. a. O., Anhang 3. 12 Siehe dazu Klein, Hans-Dieter: Vernunft und Wirklichkeit, Band 2, Oldenburg Verlag, Wien 1975, S. 85 f. 13 Nishida: Über das Gute, a. a. O., S. 93 & 101. 10
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
auch manchmal mit sehr kleinen Beiträgen. Die »Aporon-Natur« der elementaren Teilchen stammt aus dem Widerspruch, dass die Gesamtheit aller Teilchen vorausgesetzt sein muss, wenn ein einzelnes betrachtet wird. Freilich ist eine Reduktion auf wenige Teilchen möglich, wenn die Genauigkeit nicht allzu groß sein muss. In unserem obigen Beispiel haben wir lediglich Elektronen und Photonen, also die Interaktion der geladenen Elektronen mit dem elektromagnetischen Feld betrachtet. Dabei müssen wir nun auf einen grundlegenden Unterschied aufmerksam machen: Elektronen sind (wie Protonen, Neutronen oder auch Quarks) Bausteine der Materie, Photonen repräsentieren die elektromagnetischen Kräfte; sie sind die Teilchen, die dem elektromagnetischen Feld entstammen. 14 (Felder und Teilchen stehen in der Quantenfeldtheorie in einem ähnlichen Verhältnis wie Wellen und Teilchen in der nicht-relativistischen Quantenphysik.) Den Begriff »Individuum« haben wir hier immer in Anführungszeichen gesetzt, um ihn deutlich von den im Bereich des Lebendigen erscheinenden Individuen zu unterscheiden. Elementarteilchen sind insofern keine Individuen, als sie sich mit gleichartigen »verschränken« können und dabei ihre Individualität vollständig einbüßen 15 (siehe Kap. V/1). Als Ludwig Boltzmann die statistische Theorie der Wärme schuf, nahm er die Teilchen z. B. eines Gases noch als mechanistische Individuen an. Die Vertauschung zweier Teilchen in einem Gas war für ihn ein vom ursprünglichen Zustand unterscheidbarer, anderer Zustand. Es stellte sich jedoch heraus, dass diese statistische Physik bei kleinen Temperaturen (oder großen Dichten) eines Gases den Experimenten widersprach, also falsifiziert wurde. Die Quantenphysik konnte das korrigieren, weil sie die Teilchen eines Gases als vollkommen ununterscheidbar, also ohne Individualität voraussetzte. Die statistische Wärmelehre wird daher heute nur bei normalen und hohen Temperaturen nach Boltzmann formuliert, bei tiefen Temperaturen gilt für Materie-Teilchen und Interaktions-Teilchen jeweils eine andere Formulierung (nach Fermi-Dirac bzw. BoseEinstein, siehe oben). Im Gegensatz zu den Individuen im Bereich des Lebendigen, die ohne den Begriff des Todes nicht denkbar sind, gibt es für die Bausteine der Materie Erhaltungssätze; das heißt, dass in einem abgeIn der Fachsprache heißen erstere »Fermionen«, letztere »Bosonen«. Wir erinnern daran, dass diese Verschränkung zwar energetisch messbar sein kann, aber keiner Interaktion im obigen Sinne entspricht.
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Am Beispiel der Quantenfeldtheorie
schlossenen Bereich ihre Zahl immer gleich bleibt, wobei allerdings Anti-Teilchen negativ gezählt werden müssen. So kann sich zum Beispiel die Zahl der Elektronen in einem abgeschlossenen Bereich um eins, zwei, drei usw. erhöhen, wenn gleichzeitig in diesem Bereich ein, zwei, drei usw. Positronen entstehen. In der Fachsprache heißt dies »Paar-Erzeugung« und »Paar-Vernichtung« (jeweils ein TeilchenAntiteilchen-Paar). 16 Einzelteilchen können weder erzeugt noch vernichtet werden. Wenn in unserer Welt, in der Materie vorherrscht, ein Positron durch Paar-Erzeugung entsteht, wird es sehr bald wieder auf ein Elektron stoßen und durch Paar-Vernichtung verschwinden. Richard Feynman, der für die zugehörigen mathematischen Entwicklungen den Nobelpreis erhalten hat, fand dafür ein anschauliches Bild: »[D]ie Weltlinien 17 [der beiden Elektronen und des Positrons] bilden eine kontinuierliche Linie, obwohl der ›Positronteil‹ […] dieser kontinuierlichen Linie in der Zeit rückwärts gerichtet ist. Wenn wir der Ladung und nicht den Teilchen folgen, betrachten wir diese kontinuierliche Weltlinie als Ganzes und zerstückeln sie nicht in Teile. Es ist so, wie wenn ein Bomberpilot niedrig entlang einer Straße fliegt und plötzlich drei Straßen sieht; erst wenn zwei davon zusammen kommen und verschwinden, wird ihm klar, dass er bloß über eine lange Rückwärts-Kehre einer einzigen Straße geflogen ist.« 18
Wir können also auch sagen, in einem abgeschlossenen System bleibt die Zahl der Weltlinien (von Materie-Teilchen) stets unverändert. Diese Erhaltungssätze sind für die Laborphysik leicht zu verstehen, werden aber sofort problematisch, wenn man etwa an den gesamten Kosmos denkt; dann kommt das der ersten Kantischen Antinomie nahe: »These: Die Welt hat der Zeit […] nach einen Anfang. Anti-
Im mathematischen Formalismus gibt es dazu so genannte »Erzeugungs- und Vernichtungs-Operatoren« (englisch: creation and annihilation operators). 17 Als »Weltlinie« bezeichnet man die Trajektorie eines Teilchen in der (vierdimensionalen) Raum-Zeit. 18 Feynman, Richard P.: The Theory of Positrons, in: Physical Review 76 (1949), S. 749. Original: »… the world lines […] together form one continuous line albeit the ›positron part‹ […] of this continuous line is directed backwards in time. Following the charge rather than the particles corresponds to considering this continuous world line as a whole rather than breaking it up into pieces. It is as though a bombardier flying low over a road suddenly sees three roads and it is only when two of them come together and disappear again that he realizes that he has simply passed over a long switchback in a simple road.« 16
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
these: Die Welt ist der Zeit nach unendlich.« 19 (Bekanntlich hat Aristoteles den Widerspruch eliminiert und diese These verworfen, die Antithese dagegen akzeptiert.) Für einige Zeit haben Kosmologen angenommen, die Welt müsse etwa gleich viel Materie und Antimaterie (freilich in getrennten Gegenden) enthalten. Diese Annahme wurde aber empirisch eindeutig ausgeschlossen (falsifiziert). Heute nimmt man an, dass der angesprochene Erhaltungssatz nicht absolut gültig ist; wie sich das auf einen Kosmos auswirkt, der vorwiegend aus Materie besteht, ist aber noch eine offene Frage.
2.
Am Beispiel des Lebendigen: VITAporon
Wenn wir uns zunächst fragen: Was ist Leben – im Unterschied zum Nicht-Lebendigen? –, so erhalten wir von Spaemann die bemerkenswerte Auskunft: »Leben ist keine klare und distinkte Perzeption«, 20 gefolgt vom wichtigen Nachsatz: »Darum hat die neuzeitliche Philosophie den Begriff des Lebens als ontologischen Begriff verabschiedet.« 21 Erst vor diesem Hintergrund wird die Unselbstverständlichkeit der Descartes’schen Differenzierung zwischen res cogitans und res extensa vollends bewusst – bzw. die Relevanz der Frage: Warum hat Descartes allein zwischen res cogitans und res extensa unterschieden und nicht zwischen res cogitans, res vivens 22 und res extensa? Anders formuliert: Warum gibt es für Descartes »keine spezifische Ordnung des Lebens zwischen dem Sein des Geistes und dem Sein toter, passiver Materie«? 23 Dadurch ist Descartes genötigt – gegen intuitiv-menschliches Empfinden – anzunehmen, Tiere wären nicht in der Lage zu fühlen. Denn um Fühlen zu können, ist – unter Voraussetzung der harten Differenzierung allein zwischen ausgedehnter Materie und denkendem Geist – eben die res cogitans nötig; und genau darüber verfüge kein Nicht-Menschlich-Lebendiges; ergo dessen
19 Kant, Immanuel: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, § 51. 20 Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 82. 21 Spaemann: ebd., S. 82. 22 Vgl. dazu: Cheung, Tobias: Res vivens. Agentenmodelle organischer Ordnung 1600–1800, Freiburg/Br. 2008. 23 Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 83.
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Am Beispiel des Lebendigen: VITAporon
ist es – nach Descartes – etwa einer Katze unmöglich, Schmerz zu empfinden. Der Verzicht auf den (Mittel-)Begriff des Lebens (zwischen jenen des Geistes und der Materie) geht Hand in Hand mit dem Verzicht auf jegliche teleologische (zielgerichtete) Betrachtung der Natur, was nach Spaemann damit zusammenhängt, dass die teleologisch-intentionale Struktur – und damit Bewegung – ebenso wenig klar und distinkt ist wie jene des Lebens. Aber war es nicht Leibniz und Newton gelungen, Bewegung mathematisch zu beschreiben und so in den Erkenntnisrahmen der Moderne zu integrieren? Zweifelsohne. Doch dies war ihnen – mit Hilfe der Infinitesimalrechnung – nur dadurch möglich, in dem sie Bewegung in eine Abfolge unendlicher statischer Zustände zerlegten. »Bewegung lässt sich nur denken als Analogie von Leben.« 24 Leibniz war das (noch) bewusst. Doch verhindert seine strikte Zweiteilung zwischen der unräumlichen Innenwelt der lebendigen (Geistes-)Monaden einerseits und der ausgedehnten Welt der Erscheinungen andererseits eine prinzipielle Differenzierung zwischen Phänomenen des Lebendigen und jenen des Physikalischen. Die moderne Biologie hat sich in der Folge dafür entschieden, das Lebendige im – von Physik, Chemie und Mathematik geprägten – Denkrahmen moderner Naturwissenschaftlichkeit zu beforschen. Der eigentlichen Seinsverfassung alles Lebendigen, der Zielgerichtetheit, dem Aus-sein-auf, versuchte man dadurch theoretisch Herr zu werden, indem man Finalität aus Kausalität herleitete. Dazu diente als Begriff jener der Teleonomie 25 (als die kausalanalytische Erklärungsweise für einen – dem Augenschein nach – zielgerichteten Vorgang); als anschauliches Beispiel fungierten etwa »zielstrebige« Maschinen. 26 Spaemann: ebd., S. 84. Detailliert heißt es dazu: »Tatsächlich können wir etwas als bewegt nur denken, wenn wir in die Definition seines Zustandes zu einem bestimmten Zeitpunkt t1 bereits seinen potenziellen Zustand zu einem Zeitpunkt t2 mit aufnehmen. Ein Paradigma für dieses Paradox haben wir nur in jenem Aus-sein-auf, das für Leben charakteristisch ist […].« (Spaemann, ebd., S. 84). 25 In die wissenschaftliche Diskussion wurde der Terminus 1958 durch Colin Pittendrigh eingebracht. 26 Spaemann bemerkt dazu kritisch: »Im Begriff der Finalität war der Begriff der Wirkursächlichkeit immer schon mitgedacht. Im neuzeitlichen Begriff der Kausalität ist aber das Aus-Sein-auf gerade nicht mitgedacht. Darum soll es nun [mit Hilfe des Konzepts der Teleonomie] als sekundäre Dimension aus jener konstruiert werden.« (Spaemann: Schritte über uns hinaus. Bd. II, a. a. O., S. 88) 24
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
Im Hintergrund dieser Umkehrung steht – zumeist unerwähnt – der mit der Moderne einsetzende Vorgang einer Primärsetzung der Materie (gegenüber den als nachrangig erachteten Phänomenen Leben und Geist) als Grundelement aller Realität. Erneut ist es Spaemann, der die gravierend unterschiedlichen Konsequenzen aufzeigt, die sich ergeben, je nachdem ob Leben (und damit Finalität) entweder als etwas Ontologisch-Ursprüngliches oder als nachrangiges Phänomen verstanden wird. »Wenn wir uns fragen«, so Spaemann dazu wörtlich, »wo eigentlich die Entscheidung fällt über die Interpretation des Lebens als Epiphänomen oder als ontologisch ursprüngliche Dimension, so scheint mir die Antwort davon abzuhängen, ob wir die Finalität des Lebens primär als eine Finalität der Selbsterhaltung oder als eine Finalität der Selbsttranszendenz betrachten.« 27
Mit anderen Worten: Für den Fall, dass Leben (und damit Finalität) als etwas gegenüber der Materie ontologisch Nachrangiges angesehen wird, kann Leben (bzw. in weiterer Folge auch Geist) letztlich nur selbstbezüglich, selbsterhaltend verstanden werden (vgl. Kap. V/4d). Wo in der Neuzeit, so noch einmal Spaemann, »von Streben die Rede ist, da wird dieses Streben zum bloßen conatus sese conservandi, wie es bei Spinoza heißt. Finalität existiert nur als selbstbezügliche, sie ist Trieb, der sich auf Selbstbehauptung, nicht auf Selbststeigerung bezieht. Und so wird er auch in der modernen Biologie verstanden. Alle Evolution ist das beiläufige Ergebnis des Strebens nach Selbstbehauptung. Erhaltungsfunktionalität ist der einzige Gesichtspunkt, der den Gegenstand der Biologie von dem der Physik unterscheidet.« 28
In analoger Weise können hierbei auch Werte und Sinnhaftes allein in Relation zu Selbsterhaltungsdienlichem verstanden werden. Dem entsprechend kann es keine Werte an sich geben, sondern allein Werte zur Selbsterhaltung; sogar als unbedingt gut Erachtetes wie Wahrheit oder Liebe können hierbei nicht anders vorgestellt werden denn als erhaltungsdienliche Funktionen – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Nur: muss man so denken? Nein! Unter Voraussetzung des Geistes als Grundelement der Wirklichkeit ist es genauso gut möglich, Leben primär unter dem Gesichtspunkt der »Selbsttranszen27 28
Spaemann: ebd., S. 88. Spaemann: ebd., S. 89.
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Am Beispiel des Lebendigen: VITAporon
denz« zu verstehen; forcierte Selbstbehauptung wäre dabei gerade eine Fehlgestalt des Lebendigen oder Geistigen (siehe dazu Kap. VIII/4a und VIII/5). Im Unterschied zu den Teilchen der Materie ist für alles (Individuell-) Lebendige die Frage des Überlebens essentiell; denn es gibt im Bereich des Lebendigen keinen Erhaltungssatz. Das heißt: Das Überleben ist nicht durch Naturnotwendigkeit garantiert; es bildet vielmehr eine Grundbedingung, die permanent aufrechterhalten und damit angestrebt werden muss. Selbst wenn durch Zellteilung eine individuelle Zelle grundsätzlich unbegrenzt überleben kann, bleibt der Tod immer eine zu vermeidende Möglichkeit. Mit der Notwendigkeit der Aufrechterhaltung des Überlebens wird etwas deutlich, das nicht mehr allein mit Materie identifiziert und daher im mechanistischen Denkrahmen prinzipiell nicht vollständig erfasst werden kann. Damit wird zugleich der Unterschied zwischen Interaktion und Kommunikation deutlich (vgl. Kap. VIII/1): Materie-Teilchen unterliegen stets der zu ihnen gehörigen Interaktion, sie sind »Aporons« in dem Sinne, dass sie von ihrer Interaktion nicht getrennt werden können (siehe Kap. VII/1). Ein Elektron in einem elektromagnetischen Feld wird in seiner Bewegung beeinflusst und kann dem ebenso wenig entgehen wie ein Stein der Schwerkraft. Alle Bewegungen unterliegen den von der Naturnotwendigkeit gegebenen Gesetzen. Die Interaktion (Wechselwirkung) zwischen Materie-Teilchen bestimmt deren zeitlichen Verlauf der Bewegung vollständig. Bei lebenden Entitäten – vom Einzeller bis zu komplexen Lebewesen – stehen darüber hinaus zwei Vollzüge im Vordergrund: zum einen die Aufrechterhaltung des Lebens, das Überleben, das nicht mehr durch Naturnotwendigkeit garantiert wird. Zum anderen das Mit-Sein, die Ko-Existenz. Es bedarf daher im Kontext alles Lebendigen nicht nur notwendiger naturgesetzlicher Interaktionen/Wechselwirkungen, sondern zudem einer neuen Dimension von Beziehung, die wir – in Abgrenzung zu Interaktion – Kommunikation nennen wollen. Damit soll einerseits die Übermittlung von etwas, andererseits der Akt des MitSeins mit jemand, das Geschehen der Beziehung bzw. der Begegnung, bezeichnet werden, 29 wobei beide Elemente stets gegeben sind, nur in unterschiedlichen Gewichtungen. 29
Diese Überlegung basiert auf Agnes Hambergers Differenzierung zwischen über-
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
Im einen Kommunikationsfall rufe ich z. B. bei einer Hotline an, um eine bestimmte Auskunft zu erhalten; hier steht der Aspekt der Informationsübermittlung im Vordergrund. Bei einem anderen Kommunikationsgeschehen treffe ich mich etwa mit jemand, den ich schon lange nicht mehr gesehen habe; auch hier werden Nachrichten ausgetauscht, aber im Zentrum steht das Miteinandersein. Sibylle Krämer verweist – wie an anderer Stelle (Kap. II/2) schon erwähnt – auf diese beiden Aspekte von Kommunikation, wenn sie schreibt: »Im Diskurs der Gegenwart führt das Wort [Kommunikation] ein begriffliches Doppelleben; es tritt auf in zwei profilierten, jedoch gegenläufig zueinander stehenden Zusammenhängen, die wir hier das ›technische Übertragungsmodell‹ und das ›personale Verständigungsmodell‹ der Kommunikation nennen wollen.« 30
Während Interaktion festen Gesetzen folgt und daher in ihren Ergebnissen vorhergesagt werden kann, ist Kommunikation – aufgrund kommunizierender lebendiger Entitäten (und damit verbundener Freiheit) – nicht nur in ihren Ergebnissen unbestimmt, sie kann sogar misslingen! Anders formuliert: Im Unterschied zu naturgesetzlicher Interaktion, die keine Fehlgestalten kennt, ist Kommunikation stets mit der Möglichkeit der Realisierung von Fehlgestalten verbunden. Anders ausgedrückt: Der Mensch ist stets genötigt, menschlich zu handeln, jedoch nicht notwendigerweise human; eine Zelle bzw. ein Organ muss – um lebendig bleiben zu können –, stets biologisch–aktiv sein, d. h. Stoffwechsel, Gestaltwechsel und Informationswechsel vollziehen 31, doch dabei nicht notwendig hingeordnet sein auf das Ganze des Organismus. 32 Treffend macht der Medizinhistoriker Heinrich Schipperges diese beiden Bereiche wie folgt deutlich: »Wenn wir von ›Norm‹ oder ›Normalität‹ sprechen, drücken wir immer zugleich eine Wertung aus, die wiederum abhängig ist von Leitbildern einer mittelnder und begegnender Kommunikation; vgl. Hamberger, Agnes: Die Fähigkeit des Menschen sowohl zu übermittelnder als auch zu begegnender Kommunikation, zitiert nach Hamberger, Erich: Interpersonelle Kommunikation. Rand- oder Zentralphänomen der Kommunikationswissenschaft? in: MedienJournal, 35. Jg. (4/2011), 2012, S. 52–64, hier S. 59. 30 Krämer: Medium, Bote, Übertragung, a. a. O., S. 13. Krämer unterscheidet in diesem Zusammenhang (ebd., S. 12 f.) auch zwischen postalischem und erotischem Kommunikationskonzept. 31 Vgl. Tembrock, Günther: Biokommunikation, Berlin 1971. 32 Vgl. dazu: Philippa Foot: Die Natur des Guten (engl. Orig.: Natural Goodness, Oxford 2003), Frankfurt/Main 2004.
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Am Beispiel des Lebendigen: VITAporon
Kultur oder Gesellschaft. Nichts spiegelt daher auch den Wandel der sozialen Wirklichkeit deutlicher wider als der Krankheitsbegriff und das Selbstverständnis des Kranken.« 33
Insofern wird in der Kommunikationswissenschaft gängig zwischen gelingender und nicht-gelingender Kommunikation differenziert. Doch wann kann Kommunikation als geglückt bezeichnet werden? Man könnte sagen: Kommunikation ist z. B. dann geglückt, wenn damit Verständigung erreicht wurde. Oder wenn sie dem Ziel der Erhaltung des Lebens dient. Sie ist misslungen, wenn das nicht der Fall ist; wenn keine Verständigung erzielt bzw. das Ziel der Erhaltung des Lebens nicht erreicht wurde. Allgemein formuliert: Als gelungen / misslungen kann Kommunikation dann bzw. in dem Maße bezeichnet werden, als sie als Mittel zur Erreichung eines Zieles (Verständigung, Beute) erfolgreich/nicht erfolgreich ist. Da »Leben« nicht isoliert auf »Individuen« aufteilbar ist, kann – demzufolge – Kommunikation auch dann als gelungen verstanden werden, wenn dabei ein Individuum zu Tode kommt, zum Beispiel wenn ein Löwe eine Gazelle schlägt, bzw. als misslungene Kommunikation, wenn sie ihm entwischt. 34 Immanuel Kant sagt: »Indem wir das Gut des Wals wollen, das im Verspeisen der Tintenfische besteht, wollen wir dann damit nicht eo ipso ein Übel für den Tintenfisch? Wo bleibt das Wohl und Gut der Antilope, die der Löwe tötet? Die Fortdauer des Lebens gehört nicht zu den Gütern, die für die Tiere selbst existieren, weil kein Tier eine Vorstellung von seiner Zukunft haben kann. Nimmt man ihm die Zukunft, verliert es nichts von dem, worauf es aus ist. Dies verliert es nur, wenn man es in seiner Gegenwart quält und am artgerechten Dasein hindert.« 35
Nicht-menschliche Lebewesen sind in diesem Sinne als »VITAporons« zu verstehen, weil niemals einzelne Individuen als »abgeschlosSchipperges, Heinrich: Die Vernunft des Leibes, Graz – Wien – Köln 1984, S. 12. Insofern plädiert Spaemann für eine prinzipielle Differenzierung zwischen (Natur-) Gesetz bei der Materie und Norm beim Lebendigen und Geistigen (vgl. Spaemann: Schritte über uns hinaus. Bd. II, a. a. O. S. 82–92). 34 Umgekehrt lässt sich freilich in gleicher Weise von gelungener Kommunikation sprechen, wenn es – um bei obigem Beispiel zu bleiben – einem Artgenossen gelingt, die betreffende Gazelle mit einem Warnlaut vor dem sich nähernden Löwen zu warnen und so der Erhaltung des arteigenen Lebens zu dienen. 35 Kant, Immanuel: Kritik der praktischen Vernunft, zitiert nach Huber, Herbert: Philosophieren – wie und wozu? (= Philosophie und Ethik. Eine Hinführung, Band I), Donauwörth 2006, § 59. 33
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
sene Lebens-Systeme« betrachtet werden können. Jedes Individuum ist bestimmt durch seine Art; es kann innerhalb der Grenzen der Art, seiner Um-Welt, frei sein, niemals aber diese Grenzen überschreiten. (Ein Löwe kann sich nicht entschließen, Vegetarier zu werden.) Bei den elementaren Teilchen bezieht sich der Begriff Aporon nur auf die Einheit von Teilchen und Interaktion (siehe Kap. VII/1). Die Vereinigung mehrerer gleicher Teilchen zu einem Ganzen ist durch die Verschränkung von der Naturnotwendigkeit fest gegeben. Auch das ist bei Lebewesen grundsätzlich anders. Zwar ist die Einheit innerhalb einer Art von der Naturnotwendigkeit garantiert, aber bestimmte Individuen sind – zumindest bis zu einem gewissen Grad – frei, sich zu einer Einheit zusammen zu schließen. (Eine Herde kann in bestimmten Fällen auch verlassen werden.) Auch aus diesem Grunde bedarf es der Kommunikation, die über Naturnotwendigkeit hinausgeht und der Gestaltung von Freiheit dient. Schematisch können wir das so darstellen: Materie
Leben
Interaktion
Kommunikation
Verschränkung
Gemeinschaft
Damit verbundene erkenntnistheoretische Konsequenzen macht Overhage in seinem Aufsatz Das Problem der Art deutlich. Dort heißt es einleitend: »So verständlich und selbstverständlich es auch für jeden klingt, wenn man von Tier- und Pflanzenarten spricht – jeder kennt zahlreiche Arten aus eigener Anschauung aus der Natur oder den Botanischen und Zoologischen Gärten –, so schwierig ist es jedoch, eindeutig und scharf zu fassen und zu definieren, was nun wirklich eine Art ist und darstellt.« 36
Dies liegt darin begründet, weil Lebewesen biokommunikative Entitäten (»Vitaporons«) darstellen, deren Gestalt(wandel) sowohl durch geographische Raumfaktoren bzw. historische Zeitfaktoren (mit)bedingt ist. Mit den Worten von Overhage: »Beide Faktoren [Raum und Zeit] haben auf die Arten in der Natur Einfluß genommen und beeinflussen sie auch in der Gegenwart. Arten sind deshalb räumlich-zeitliche Phänomene oder historisch-räumliche Wirklichkeiten.
Overhage, Paul: Das Problem der Art, in: Stimmen der Zeit, Band 177, Freiburg 1966, S. 369–378, hier S. 369.
36
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Am Beispiel menschlichen Seins: PNEUMAporon
Sie erweisen sich sowohl als etwas Dynamisches, etwas das in der Zeit geworden ist und wird, und zugleich auch als etwas Statisches.« 37
Aus dem Umstand, dass sich jede Art sowohl statisch als auch dynamisch definieren lässt, ergibt sich nach Overhage nun ein zentrales erkenntnistheoretisches Problem: Keine der beiden Definitionen wird dem gesamtem Befund gerecht, beide bleiben also notwendigerweise einseitig. Andererseits erscheint jedoch auch eine Artdefinition, die beide Definitionen vereint, nicht möglich, weil die statische und die dynamische Beschreibung einander ausschließen, komplementäre Beschreibungsweisen darstellen.
3.
Am Beispiel menschlichen Seins: PNEUMAporon
Menschliches Sein unterscheidet sich vom übrigen Mit-Lebendigen, weil ihm die eigene Endlichkeit bewusst ist. Oder anders ausgedrückt: Mensch-Sein heißt, sich seiner selbst bewusst zu sein, die Frage nach
Überleben (Selbsterhaltung)
Leben (Selbsttranszendenz)
Abb. 29: Hierarchie Leben/Überleben (vgl. das HX-Schema Leben-Überleben, Kap. VII/4)
sich selbst und damit nach dem »Rest« – der nicht ich bin – stellen zu können. Damit werden alle obigen Fragen für das Individuum selbst – für das Ich – relevant und nicht bloß von äußeren (menschlichen) Beobachtern zugewiesen. Das Ziel zu Überleben wird dadurch als 37
Overhage: ebd., S. 377.
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
nicht ausreichend bewusst, die Frage nach dem Sinn des (Über)Lebens aktiv gestellt. Damit eröffnet sich eine Dialektik, die insbesondere für das menschliche Leben entscheidend ist: die Dialektik von erfülltem Leben und Überleben. Der Sinn des Überlebens liegt einerseits in der Ermöglichung eines erfüllten Lebens. Andererseits ist – unter Umständen – das Überleben dadurch gefährdet, wenn man sich um ein sinn-erfülltes Leben bemüht. Friedrich Schiller hat dieses Extrem in seinem »Reiterlied« von 1797 zum Ausdruck gebracht: Aus der Welt die Freiheit verschwunden ist, Man sieht nur Herren und Knechte, Die Falschheit herrschet, die Hinterlist, Bei dem feigen Menschengeschlechte, Der dem Tod ins Angesicht schauen kann, Der Soldat allein, ist der freie Mann.
Auch in einer friedlichen Welt wird diese Aporie deutlich: Das Erreichen des Südpols, die Erstbesteigung des Himalaya, die Mondfahrt, ja viele Extremsportarten haben immer Menschenleben gefordert. Für die Begeisterten war das Aufsspielsetzen ihres Lebens Wert, der ihrem Leben den erwünschten Sinn geben konnte. Das andere Extrem (Überleben als Selbstziel) wird von Alfred Polgar in einem Aphorismus deutlich gemacht: »Für die meisten Menschen ist das Leben wie schlechtes Wetter: Sie stellen sich unter und warten, bis es vorbei ist.« Freilich ist diese Dialektik von Kultur zu Kultur verschieden. So schreibt etwa der Chinese Yuanmo im Jahre 1920: »Vor einigen Jahren gab es außerdem noch den in England sehr berühmten Captain Scott, der mit vielen vornehmen Gelehrten das zufriedene und glückliche Leben aufgab, um in einer Welt aus Schnee und Eis die Geographie des Südpols zu erforschen. Letztlich fror und hungerte er sich zu Tode, ohne die Heimat wieder erreicht zu haben. Ist solches Verhalten mit den Augen von uns Chinesen betrachtet nicht verrückt?« 38
Yuanmo, Wen: Über die neue Kosmologie des modernen, wissenschaftlichen Revolutionärs Einstein, in: Xueyi 2 (1920). Zur Einstein-Rezeption Chinas generell siehe: Hu, Danian: China and Albert Einstein: the reception of the physicist and his theory in China 1917–1979, Cambridge Univ. Press, Cambridge/Mass. 2005. 38
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Am Beispiel menschlichen Seins: PNEUMAporon
Ein Parallelbeispiel dazu findet sich im autobiographischen Buch Achttausend drüber und drunter des Extremalpinisten und Erstbesteigers des Nanga Parbat, Hermann Buhl. Darin schildert dieser seine erste gravierende Klettererfahrung mit 14 Jahren wie folgt: »Da stehe ich nun und schaue hinüber zu den grauen Felsnadeln im Norden, im Karwendel. […] Da sind sie nun, die Felsnadeln, die Türme, die Grubreißertürme. Da rechts – der Südturm, der sogenannte Melzerturm, der ist der schwerste. […] Lohnt es sich, das Leichtere zu wagen? Nein, das Schwere muß es sein. Der Melzerturm. Gleich so, wie ich bin, in schweren Schistiefeln, mit umgehängter Regenpelerine, springe ich hinüber zum Einstieg, suche nicht lange nach Weg und Route, beginne zu klettern. In Schistiefeln und Pelerine. Komme ein gutes Stück empor. Dann kann ich nicht mehr weiter. Wie eine komische Fledermaus klebe ich in den Felsen. Fledermäuse können fliegen. Auch hinauf. Ich nur hinunter […] Es ist ein böser Augenblick. Da höre ich Stimmen. Ich erinnere mich der Kletterer, die ich früher als Punkte aus der Ferne sah. Man hat erkannt, daß ich mich hoffnungslos verstiegen habe, man bietet dem dummen Jungen Seilhilfe an. Ich wäre glücklich über die Hilfe gewesen, überglücklich. Aber ich darf sie jetzt nicht annehmen. Ich will meine Kletterlaufbahn nicht gleich als Geretteter beginnen. Stolz und patzig (und im Inneren doch recht verzweifelt) lehne ich die gebotene Hilfe ab. Hinauf kann ich nicht mehr. Also zurück. Es scheint unmöglich. Es wird aber doch möglich. Trotz der glatten Schistiefel. Hie und da werfe ich einen Blick nach unten, sehe den Weg, den ich nehmen müßte, wenn mich die Kraft verließe. Es gäbe keine Rückkehr ins Leben mehr von diesem Weg. Ich darf nicht stürzen! – Ich stürze nicht, erreiche wieder sicheren Boden.« 39
Menschen sind nicht nur durch die Dialektik von Leben und Überleben bestimmt, sie haben sich jeweils in einer selbstgeschaffenen Kultur eingerichtet, die im Laufe der Jahrhunderte zu einer unbewussten Basis für das Schaffen in Freiheit wurde und dieses eingrenzt. Es ist immer wieder erstaunlich, wenn wir uns in Erinnerung rufen, dass aus den etwa sieben Milliarden Menschen ein beliebiger Mann und eine beliebige Frau von Natur aus fortpflanzungsfähig sind, dass aber ein letztes, geistiges Verstehen oft schwer erreicht werden kann, wenn sie aus verschiedenen Kulturen stammen. Wir können daher neben der Naturnotwendigkeit, die unsere Freiheit begrenzt, von einer »Kulturnotwendigkeit« sprechen, die unsere Frei-
Buhl, Hermann: Achttausend drüber und drunter, 2. ungek. TB-Auflage, München 2008, S. 16 f.
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heit ebenso begrenzt, wenn auch nicht durch in Gesetzen fassbare Regeln. (Kulturnotwendigkeit wird im Laufe des Lebens durch die jeweilige Heimat-Kultur geprägt, sie ist nicht unverrückbar.) 40 Aus diesem Grunde wird die folgende Betrachtung ohne Adaptierungen zunächst für die abendländische Kultur gelten. In dieser, unserer Kultur ist das Individuum Mensch durch das Descartes’sche »cogito ergo sum« bestimmt. Der japanische Philosoph Keiji Nishitani aus der Kyoto-Schule schreibt darüber: »Descartes setzte Ausdehnung mit Materie gleich; und die Tatsache, dass er sie für das Wesen der Dinge hielt, hieß, dass die natürliche Welt eine tote Welt wurde, dass eine mechanistische Weltbetrachtung zum Zuge kam. Es ist wahr, dass dadurch […] der Weg zur Beherrschung der Natur durch wissenschaftliche Techniken frei wurde. Wahr ist jedoch auch, dass für den Menschen, als egozentrisches Ich, die Welt einfach zu bloßem Stoff wurde: und jenes Ich, ausgestattet mit der großen Macht der Naturbeherrschung, war von einer kalten, toten Welt umgeben. Jedes Ich wurde wie eine einsame Insel, die auf einem Meer toter Materie trieb und gezwungen war, in der Abgeschlossenheit ihrer selbst zu verharren. Das Leben verschwand aus der Natur und den natürlichen Dingen und hörte auf, das lebendige Band zu sein, das den Menschen und die Weltdinge im Grund zusammengehalten hatte.« 41
Der schon zitierte Begründer der Kyoto-Schule, Kitaro Nishida, schreibt dazu: »Da hat sich Descartes von dem unvermittelten Wahrnehmen der unmittelbar gegebenen Wahrheit bereits entfernt. Denn er hat vorausgesetzt, dass das denkende Wesen unmittelbar an die Aussage des ›ich bin‹ gekoppelt werden muss.« 42 Die Philosophin Hisaki Hashi ergänzt: »Basierend auf dem Substanzbegriff des Buddhis-
Die einzige Ausnahme davon scheint allein das Christentum zu bilden (vgl. Kap. III/6), da sich diese Religion letztlich nicht auf Kulturbedingtes stützt, sondern allein auf den – aller kulturellen Bedingtheit enthobenen – menschgewordenen Gott. Vereno schreibt dazu erhellend: »Durch die Gründung ihrer Religion in der Fleischwerdung des Wortes [Logos] wurden sie [die Christen] von allen einschränkenden Naturbindungen frei – von der Bindung an traditionelle Gesellschaftsordnungen, an volksgebundene Lehrüberlieferungen, an spezifische regionale Räume – weil für die Christen die einzige Naturbindung die an die menschliche Natur des Erlösers ist.« (Vereno: Mythisches Wissen und Offenbarung, a. a. O., S. 90; vgl. dazu auch Vereno: Menschheitsüberlieferung und Heilsgeschichte, a. a. O., S. 120 f.) 41 Nishitani: Was ist Religion?, a. a. O. 42 Nishida zitiert nach Hashi, Hisaki: Die Aktualität der Philosophie, 2. Aufl., Wien 2004, S. 17. 40
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Am Beispiel menschlichen Seins: PNEUMAporon
mus kann man auch sagen: Ich denke, deshalb kann ich nicht sagen, dass ich ein substanzielles Ich bin.« 43 Unsere Kritik am »cogito ergo sum« fußt auf dem Begriff der Kommunikation. Descartes hat seinen Überlegungen eine Momentaufnahme seines Ich zugrunde gelegt; »Ich denke« ist das Festhalten eines Augenblicks. Denken setzt aber Sprache voraus, und sprechen kann nur, wer von Bezugspersonen dazu in Liebe erzogen worden ist. Dessen können wir sicher sein, weil es durch ein – an anderer Stelle schon erwähntes – bekanntes Experiment Kaiser Friedrichs II. belegt worden ist. 44 Voraussetzung dafür, dass »ich denke«, ist also die vorherige Kommunikation mit anderen Menschen! Denken findet nicht im Vakuum des Solipsismus statt, sondern zielt auf Kommunikation. Denken im Gefängnis des Ich ist eine Perversion dessen, was den Menschen zum homo sapiens macht. Erst Kommunikation lässt das wahre menschliche Sein aufleuchten, aber dazu bedarf es mindestens zweier »Ich«. Das gilt nicht nur für die direkte Kommunikation zwischen Menschen, auch eine Aussage über ein Objekt ist erst dann sinnvoll, wenn sie einem anderen Subjekt mitgeteilt wird; sonst bleibt sie solipsistisch und hat keinen Erkenntniswert für die menschliche Gemeinschaft. Um also eine Aussage über ein Objekt ernst nehmen zu können, brauchen wir mindestens zwei Subjekte, die miteinander über dieses Objekt kommunizieren. Ein Ich allein ist nicht, erst wenn es mit einem Du kommuniziert, ist es wirklich. »Ich denke, also bin ich« ist eine Abstraktion, die dem wahren Sein des Menschen nicht gerecht werden kann. Wir ersetzen daher das »cogito ergo sum« des Descartes – wie oben schon erwähnt – durch »communico ergo sumus«. »ICH kommuniziere, also sind WIR« ist immer zusammen zu denken mit »WIR kommunizieren, also bin ICH«. Dieser Satz macht den (aufgehobenen) Widerspruch deutlich: Nicht »WIR kommunizieren, also sind WIR« darf es heißen, nicht »ICH kommuniziere, also bin ICH«, sondern »ICH kommuniziere,
Nishida, Kitaro: Gesamtausgabe Bd. I, S. 49, zitiert nach Hashi, Hisaki: Die Aktualität der Philosophie – Grundriss des Denkweges der Kyoto-Schule, Ed. Doppelpunkt, Wien 1999, S. 17. 44 Nach Rieländer, Maximilian: Sozialwaisen – Kleinkinder ohne Familie, in: Zeitschrift der »Gesellschaft für Sozialwaisen«, Münster 1982. 43
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
also sind WIR« zusammen mit »WIR kommunizieren, also bin ICH«. In der Kommunikation setzt jedes Ich sich selbst zugleich mit seinem Gegenüber, und gemeinsam werden sie zum WIR. Ein Mensch allein ist noch kein Mensch! Damit wird das abgeschlossen (jedoch widerspruchsfrei) gedachte Individuum zum PNEUMAporon, das ohne den eben besprochenen Widerspruch nicht denkbar ist. Aporon ist die widersprüchliche Einheit von Individuum und Kommunikation, ihr aufgehobener Widerspruch. Dabei ist »Kommunikation« nunmehr durch die Fähigkeit der Sprache erweitert und muss als Human-Kommunikation verstanden werden. Neu ist der Begriff »Aporon« nur im Denken, weil er nicht in unseren Denkrahmen passt. Im Leben ist er ganz geläufig; der Mensch ist weder Monade noch Atom (der Gesellschaft), auch nicht eindeutig definiertes Individuum, erst durch die Kommunikation mit anderen, erst durch die Begegnungs-, Erkenntnis- und Liebesfähigkeit sind wir als PNEUMAporons Menschen im eigentlichen Sinn. 45 Spaemann schreibt in analogem Sinn: »Das Subjekt bleibt […] bei sich selbst, und alles Außer-sich-sein ist Illusion. Es ist hier nicht meine Aufgabe, den logischen Widersinn dieses Satzes aufzuzeigen. Wenn er wahr wäre, dann wäre es nämlich unmöglich, dies zu wissen und es auszusprechen. Mir kommt es nur darauf an, darauf aufmerksam zu machen, dass dieser Satz den Mainstream des modernen Bewusstseins kennzeichnet. Das heißt [jedoch] nicht, dass die meisten Menschen so denken. Der common sense kann so nicht denken. Aber der common sense findet sich nicht mehr wieder in dem, was die offiziellen Interpreten der Wirklichkeit uns glauben machen wollen.« 46
Das obige Schema können wir nun erweitern: Materie
Leben
Mensch
Interaktion
Bio-Kommunikation
Human-Kommunikation (Sprache)
Verschränkung
Gemeinschaft
Menschliche Gemeinschaft (Liebe)
Mit den Fehlgestalten der Begegnungs-, Erkenntnis- und Liebesverweigerungsfähigkeit; vgl. dazu aus theologischer Sicht: Hoff, Gregor Maria: Aporetische Theologie, Viersen 1995. 46 Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 9. 45
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Das HX-Schema als zentrale Verstehenshilfe aporetischer Phänomene
Freilich eröffnet sich damit eine ganz neue Dimension: Kommunikation kann nicht nur misslingen, mittels der Sprache kann sie auch trennen; und Liebe kann in ihre negative Form, in Hass umschlagen und damit Gemeinschaft zerstören (vgl. Kap. VIII/4d).
4.
Das HX-Schema als zentrale Verstehenshilfe aporetischer Phänomene des Lebendigen bzw. Menschlich-Geistigen
Wie schon erwähnt ist es dem Physiker unter den Autoren schon seit Jahrzehnten ein Anliegen, die theoretischen Erkenntnisse der Quantenphysik auch für andere Erkenntnisbereiche fruchtbar zu machen. 47 Die Ersichtlichmachung des Revolutionären der Quantentheorie – die Integration des Widerspruchs/der Aporie in die moderne Wissenschaftlichkeit – geschah also nicht zuletzt in der Absicht, auf die aporetische Struktur im Kontext des Lebendigen bzw. Geistigen hinzuweisen, wo sie zudem – im Unterschied zum Materiellen – nicht bloß die Ausnahme, sondern den Regelfall darstellt. 48 Dabei wird die – an anderer Stelle schon dargelegte – Auffassung vertreten, »dass die Quantenmechanik nicht inhaltlich als Muster für andere Aspekte unserer Welt dienen kann, weil sie sich auf die Beschreibung der Bausteine der [a-biotischen] Materie bezieht. Sehr wohl aber könnte sie einen Weg weisen, um aus dem Denkrahmen der [widerspruchsfreien] Logik auszubrechen und dialektisches Denken dort einzusetzen, wo Aporien offensichtlich werden.« 49
Die aporetische Struktur wird im Kontext des Lebendigen bzw. Geistigen – die Gegenstandsbereiche erfordern dies – weiter gefasst als bei jenen aporetischen Erscheinungsweisen, wie sie uns im Quanten-
Darum bemühte sich schon Niels Bohr Anfang der 1930er Jahre, etwa als er Max Delbrück riet, sich mit den erkenntnistheoretischen Konsequenzen der Quantentheorie für die Biologie zu beschäftigen. 48 Vgl. dazu: Hamberger: Kommunikation und Komplementarität, in: Hamberger/ Luger (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O., S. 218–265. 49 Pietschmann, Herbert: Etwas ist lebendig nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, in: Hornung, Erik; Schweizer, Andreas (Hrsg.): Bilder des Unerkennbaren – Beiträge der Eranos Tagungen 2007 und 2008, Schwabe Verlag, Basel 2009, S. 37. Auch in: Herzog, Eva Maria; Bauer, Hans-Christian; Lametschwandtner, Alois (Hrsg.): Blickpunkt: Leben. Am Rande des Daseins, Norderstedt 2014, S. 69–92, hier S. 86. 47
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
bereich begegnen. 50 Dazu soll das sogenannte HX-Modell 51 herangezogen werden. Mit dessen Hilfe wird nicht nur die komplementäre Ergänzungsnotwendigkeit in zahlreichen Kontexten lebendigen bzw. geistigen menschlichen Seins aufgezeigt, sondern darüber hinaus postuliert, dass es zu den beiden positiven komplementären Aspekten jeweils eine Fehlgestalt gibt: den jeweiligen Schattenbegriff. Mit anderen Worten: Das HX-Schema kennt nicht nur das Phänomen positiver »Verschränkung« 52, sondern auch ein negatives Pendant, gleichsam eine Gestalt von »Schatten-Komplementarität«, eine Weise negativer »Verschränkung«, die – zur besseren Unterscheidung – als Verstrickung bezeichnet werden soll. (Dabei ist zu beachten, dass die Verstrickung häufig in ein Entweder-Oder ohne Widerspruch entartet.) Wir wollen das HX-Modell am Beispiel jener Aporie veranschaulichen, die wir am Beginn des vorigen Abschnitts kennen gelernt haben: Der Aporie von Leben und Überleben. Die beiden Schattenbegriffe haben wir schon gefunden, wir können also das folgende H-Schema zugrunde legen: Leben
Todesverachtung Lebensgefahr
Überleben
H
Vegetieren maschinelle Lebenserhaltung
Abb. 30: H-Schema Leben / Überleben
Der Vollständigkeit halber sei noch einmal erwähnt, dass der Physiker unter den Autoren selbst hinsichtlich der »klassischen« physikalischen Teilchenvorstellung »Antinomien der Verschränkung« (Schrödinger) ortet und dazu an anderer Stelle schrieb: »Der Begriff des ›Teilchens‹ ist eine Abstraktion [analog zum Descartes’schen cogito ergo sum], die wir zwar zur widerspruchsfreien Beschreibung brauchen, die aber in der Welt gar nicht vorkommt.« […] Nur in Wechselwirkung stehende Teilchen (Aporons) sind mathematisch und physikalisch ›vernünftig‹. […] Physikalische Teilchen tragen gewissermaßen den Widerspruch in sich, einerseits selbständige Objekte zu sein, andererseits ohne Wechselwirkung keine Existenzberechtigung zu haben. In diesem Sinne möchte ich sie Aporons nennen.« (Pietschmann: Die Atomisierung der Gesellschaft, a. a. O., S. 164 ff.) 51 Erstmals beschrieben in: Pietschmann, Herbert: Aufbruch in neue Wirklichkeiten, Stuttgart 1997, S. 25 ff.; vgl. dazu insbesondere: Pietschmann: Eris & Eirene, a. a. O., wo das Modell ausführlich erläutert wird. 52 Wie im Quantenbereich bzw. im Bereich notwendiger Interaktion. 50
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Das HX-Schema als zentrale Verstehenshilfe aporetischer Phänomene
Es gilt, Leben und Überleben so zur Harmonie (Synthese, »Verschränkung«) zu bringen, dass die beiden Schatten ausgeschlossen bleiben. Leider steht dem immer die so genannte HX-Verwirrung entgegen; dabei kämpft »Leben« gegen den Schatten von »Überleben« (also Vegetieren bis hin zu künstlicher Lebenserhaltung) und »Überleben« kämpft gegen den Schatten von »Leben« (also Todesverachtung und Lebensgefahr): Leben
Todesverachtung Lebensgefahr
Überleben
X
Vegetieren maschinelle Lebenserhaltung
Abb. 31: HX-Schema Leben / Überleben
Dieser Kampf kann beliebig lange andauern, denn beide Seiten haben Recht. Wir wollen ja weder den Schatten von »Leben«, noch den von »Überleben« aufkommen lassen. Ein Fortschritt auf dem Weg zur Synthese kann nur gelingen, wenn beide Seiten einsehen, dass sie den falschen Schatten bekämpfen. Der wahre Feind, den es zu bekämpfen gilt, ist immer der jeweils eigene Schatten. Warum ist dieses HX-Schema im Zusammenhang der Darstellung aporetischer Strukturen des Lebendigen bzw. Menschlichen nun so hilfreich? Weil es – jenseits des Entweder/Oder-Schemas – gestattet, nicht nur logisch widersprechende Aspekte als ergänzende Komplemente zu verstehen, sondern es darüber hinaus ermöglicht, mit Hilfe der Struktur einer »Schattenkomplementarität« (potenzielle) Fehlgestalten von Mensch-Sein bzw. Lebendig-Sein (relevanter) in den Blick zu nehmen, etwa die Problemgestalt von Egoität als Fehlgestalt von Ich-Sein, wie dies Zucal durch den Topos der ontologischen Entropie 53, Cattepoel anhand des Motivs des dämonischen Dialogs 54 Kierkegaard’scher Ästhetiker-Gestalten oder WuchererHuldenfeld mittels des Motivs der Ich-Einsamkeit 55 im dialogischen Denken Ferdinand Ebners aufzeigen. Eben diese »verkehrte« Weise Vgl. Zucal, Silvano: Pneuma und »communitas« bei Ferdinand Ebner, Vortrag, Innsbruck, 28. 3. 2009; Download: www.ebner-gesellschaft.org/archiv/silvano_zucapneuma_und_communitas_bei_ferdinand_ebner_vortragszusammenfassung 54 Vgl. Catepoel: Sören Kierkegaard als Kommunikationsanalytiker und Sozialkritiker, a. a. O. 55 Vgl. Wucherer-Huldenfeld, Augustinus Karl: Personales Sein und Wort. Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners, Wien – Köln – Graz 1985, S. 92 ff. 53
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
von Ich-Sein lässt sich mit Hilfe des HX-Schema als »Schattenkomplementarität« vorbildlich veranschaulichen. Dadurch kann z. B. graphisch dargestellt werden, dass »Ich-Einsamkeit« – als Selbst-Sein bei geschlossenem Bezug – einerseits mit letztlich prinzipiellem Desinteresse an allem Nicht-Ichhaften verbunden ist, gleichzeitig jedoch das Element der Bezogenheit auf das Nicht-Ichhafte uneliminierbar ist; dass hierbei das Nicht-Ichhafte nicht – wie beim offenen (Ich-Du-) Bezug mit konstruktiv-paradoxem 56 Selbst-Sein – als Bereicherung, als Mit-Sein erfahren, sondern als Abhängigkeit, ja als etwas Abstoßenswert-Nicht-zu-mir-Gehörendes realisiert wird, mit dem ich trotzdem in unheilvoller Weise untrennbar verstrickt bin. Der Sachverhalt als HX-Schema dargestellt 57: ICH
EGO
DU (konstruktiv-paradoxes Selbst-Sein im offenen Bezug)
X
Pseudo-»Du« (Objekt!) (destruktiv-paradoxes SelbstSein bei geschlossenem Bezug, Doublebind)
Abb. 32: HX-Schema Ich / Du Als konstruktiv-paradox wird dieses Selbst-Sein deshalb bezeichnet, weil es nicht widerspruchsfrei gedacht werden kann. Dies wird etwa deutlich, wenn Ebner im 1. Fragment seines Hauptwerks feststellt: »Was für eine Bewandtnis aber hat es nun mit dem eigentlichen Ich? Die Sache ist sehr einfach: dessen Existenz liegt nicht in seinem Bezogensein auf sich selbst, sondern – und das ist der Umstand, auf den alles Gewicht fällt – in seinem Verhältnis zum Du.« (Ebner: Werke, Bd. I, a. a. O., S. 84) Und noch stärker: »[E]in Ich außerhalb dieses Verhältnisses gibt es gar nicht.« (ebd., S. 84) Wahres Ich-Sein meint demnach konstruktiv-paradoxes Selbst-Sein im offenen Bezug; sowohl auf ein mitmenschliches bzw. mitweltliches Du wie auf jenes große DU, das die wahre Kommunikation zwischen Ich und Du erst ermöglicht. In analoger Weise bemerkt Pietschmann: »Ich behaupte eben: Der Mensch ist kein Individuum, der Mensch ist kein Solipsist und überhaupt nicht in der Ich-Einsamkeit, wenn er wirklich sein Menschsein verwirklichen möchte, sondern er ist ein Aporon, die widersprüchliche Einheit von Individuum und Kommunikation.« (Internet-Quelle http://www. ebner-gesellschaft.org/aktuelles/herbert-pietschmann-in-innsbruck. Vgl. dazu auch: Pietschmann: Die Atomisierung der Gesellschaft, a. a. O., Nishida: Über das Gute, a. a. O., S. 101.) 57 Vgl. die Ausführungen von Herbert Pietschmann im Rahmen seines Vortrags Die atomisierte Gesellschaft und die Ich-Einsamkeit, gehalten am 10. April 2010 in Innsbruck, im Internet zugänglich unter http://www.ebner-gesellschaft.org/aktuelles/her bert-pietschmann-in-innsbruck. Es scheint erwähnenswert, dass Reisenbichler – in 56
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Das HX-Schema als zentrale Verstehenshilfe aporetischer Phänomene
Eine ähnliche Aporie entsteht aus den beiden widersprüchlichen Zielen der Menschen nach Selbstverwirklichung und Gemeinschaftssinn. Die Schatten der beiden Seiten der Aporie sind Egoismus und Altruismus. Wir können diese Grundaporie des Menschen wieder als H darstellen: Selbstverwirklichung
Egoismus
Gemeinschaftssinn
H
Altruismus
Abb. 33: H-Schema Selbstverwirklichung / Gemeinschaftssinn
Wer in der HX-Verwirrung stecken bleibt, versinkt entweder im Versuch, das Ich ohne Du wirklich werden zu lassen (Egoismus), oder er/ sie verliert sich in der Sehnsucht nach dem Du (Altruismus). In prototypischer Manier veranschaulicht den skizzierten Zusammenhang einer destruktiv-paradoxen Verstrickung zwischen Ego und objekthaftem »Pseudo-Du« Dostojewskij anhand der pausenlos monologisierenden Hauptgestalt seines Werkes Aufzeichnungen aus einem Kellerloch. Dabei wird ein Bewusstsein vorgeführt, »das« – wie Gerigk präzise wahrnimmt – »in der Entzweiung mit sich selber verharrt, indem es diese immer wieder neu hervorbringt. Die für dieses Bewusstsein typische Äußerungsform ist […] das Paradoxon.« 58 Der namenlose Kellerlochmensch will mit nichts und niemand mehr etwas zu tun haben und kommt gerade deshalb von den anderen bzw. vom Nicht-Ichhaften nicht los. Er strebt nach vollkommener Freiheit (auch gegenüber der Vernunft) und wird eben dadurch Sklave seiner Irr-Rationalität. Er will sich prinzipiell nicht festlegen und erfährt sich gerade dadurch als determiniert. Seine »Aufzeichnungen« finden übrigens konsequenterweise auch kein Ende, was dadurch zum Ausdruck kommt, dass zum Abschluss über den endlos Reflektierenden in der dritten Person gesagt wird: »Übrigens enden
grundsätzlicher Kenntnis des formalen Pietschmann’schen HX-Schemas – im Rahmen seiner Diplomarbeit ein analoges HX (mit den positiven Polen Ich und Du bzw. den Schatten Ego und Man) vorgelegt hat (Reisenbichler: Erneute Betrachtung der Spieltheorie, a. a. O., S. 64 f.). 58 Gerigk, Horst-Jürgen: Dostojewskis »Paradoxalist«. Anmerkungen zu den »Aufzeichungen aus einem Kellerloch«, in: Hagenbüchle, Roland; Geyer, Paul (Hrsg.): Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, 2. Aufl., Würzburg 2002, S. 481–497, hier S. 483.
287 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
die ›Aufzeichnungen‹ dieses widersinnigen Menschen hier noch nicht. Er hielt es nicht aus und führte sie fort.« 59 Doch nicht immer sind Schattenstrukturen so offensichtlich wie beim »Kellerlochmenschen« Dostojewskijs. Diesen Sachverhalt macht Gebsattel deutlich, wenn er in seinem Band Not und Hilfe eine Schattengestalt von menschlichem Glück wie folgt aufzeigt: »In Reinhold Schneiders Erzählung ›Der Gast‹ ruft der Heilige einen Priester zu seiner höheren Aufgabe zurück. ›Du sollst ja der himmlischen Liebe leben, spricht er, und hast die irdische ergriffen, und hast doch nicht mehr gesucht, als ein wenig Wärme und Licht.‹ ›Aber‹, so spricht er weiter, ›dein Glück war nur Not.‹ So spricht der helfende Mensch zum Menschen im [Schatten-]Glück. Er sagt nicht zu ihm: Du Glücklicher, sondern: Mache die Augen auf und erkenne, daß Dein Glück Not ist.« 60
»Das also gibt es:« – so Gebsattel weiter, die geschilderte Episode ins Grundsätzliche hebend – »daß, was von außen sich anfühlt wie Glück, von innen gesehen Not ist oder gar Unheil.« 61 Gleiches veranschlagt der Seelenarzt auch von ähnlichen »Gütern« wie Erfolg, Geltung oder Selbstzufriedenheit. »Ja sogar von der Gesundheit – ich meine die seelisch-geistige Gesundheit – eines Menschen, läßt sich unter Umständen zeigen, dass sie eine Unheilstiefe der Seele verdeckt und also nicht Gesundheit ist bis auf den Grund« 62, so Gebsattel dazu noch einmal wörtlich. Hilfe kann nun darin bestehen, dass man den oder die scheinbar Glücklichen nicht in ihrem »Schattenglück« bestärkt, sondern im Gegenteil: ihnen die Schattenhaftigkeit ihres Glücks zu Bewusstsein bringt. 63
Dostojewskij zitiert nach Gerigk: Dostojewskis »Paradoxalist«, a. a. O., S. 483. Nietzsche erblickt in diesem Werk – wie Gerigk bemerkt (ebd., S. 489) – »eine Art Selbstverhöhnung des gnothi sauton, […] des delphischen Imperativs ›Erkenne dich selbst!‹.« 60 Gebsattel, Viktor Emil: Not und Hilfe. Prolegomena zu einer Wesenslehte der geistig-seelischen Hilfe, Kolmar 1944, S. 5. 61 Gebsattel: ebd., S. 5. 62 Gebsattel: ebd., S. 6. Vgl. dazu auch Gebsattel: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, a. a. O. 63 Vgl. dazu auch: Pietschmann, Herbert: Vom Spass zur Freude. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts, Wien 2005 bzw. im Hinblick auf das HX-Schema generell: Pietschmann: Eris und Eirene, a. a. O., insbes. S. 38–46. 59
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Vier Betrachtungsweisen der Welt
5.
Vier Betrachtungsweisen der Welt
Im Kapitel III haben wir den mechanistischen Denkrahmen dargestellt und gezeigt, dass er in der Quantenphysik überwunden wurde. Wir wollen diese Grenze des Denkrahmens als »methodologische Grenze naturwissenschaftlicher Erkenntnis« 64 bezeichnen. Sie tritt dort auf, wo das mechanistische Denken nicht mehr ausreicht, die Erscheinungen dieser Welt zu begreifen. Typisches Beispiel ist die schon vielfach besprochene Unbestimmtheitsrelation. Im mechanistischen Denken kann sie immer nur als technologische Grenze missverstanden werden, die bei der Weiterentwicklung der technischen Möglichkeiten verschoben werden kann. Bei der Unbestimmtheitsrelation ist dies jedoch nicht der Fall, sie ist grundsätzlich nicht zu umgehen. Der Begründer relativistischer Quantenphysik, Paul A. M. Dirac, sagt das ganz deutlich: »Es gibt eine Grenze für die Feinheit unserer Beobachtungskraft und die Kleinheit der begleitenden Störung – eine Grenze, welche in der Natur der Dinge liegt und die niemals durch verfeinerte Techniken überschritten werden kann.« 65 Wir können diese Grenze am besten darstellen, wenn wir die vier Forderungen des mechanistischen Denkrahmens den Grundzügen quantenphysikalischen Denkens gegenüberstellen (s. Abb. 34). Nach dem oben Ausgeführten scheint es verführerisch, überall dort, wo das mechanistische Denken nicht ausreicht, quantenphysikalisches Denken einzusetzen. Dies wird aber der Problematik nicht gerecht. Zwar finden wir z. B. im Lebendigen auch Aporien und Überschreitung der klassischen Kausalität sowie Ganzheitlichkeit, jedoch bedarf ein grundlegender Versuch, das Lebendige zu erfassen, einer differenzierteren Betrachtung. Dabei ist als Erstes zu beachten, dass Leben, soll es nicht auf das Tote zurückgeführt werden, nicht bloß quantitativ beschreibbar ist. Wenn Leben ganzheitlich erfasst werden soll (siehe z. B. den Begriff des Einzelwesens oder Individuums), dann handelt es sich doch um eine andere Art von Ganzheitlichkeit als in der Quantenphysik; lediglich hinsichtlich der Unzulänglichkeit des »Zerlegens« besteht Über-
Neben der technologischen Grenze siehe Pietschmann, Herbert: Die drei Grenzen physikalischer Erkenntnis, in: Philosophia Naturalis 12 (1978), S. 90 f. oder Pietschmann: Phänomenologie der Naturwissenschaft, a. a. O., Abschnitte 5.4.2. und 7.3. 65 Dirac, Paul A. M.: The Principles of Quantum Mechanics, Oxford University Press, Oxford 1958. 64
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten Quantenphysik
Mechanistisch
Quantitativ
Quantitativ
Ganzheitlich
Zerlegbar
Aporetisch
Widerspruchsfrei
Akausal
Kausal Materie Große Objekte
Quantenbereich A-Kausalität
Kausalität
Abb. 34: A-Kausalität / Kausalität
einstimmung. Zwar besteht auch ein lebendes Individuum aus einzelnen Organen. Bei deren Isolation (»Zerlegung« des Individuums) geht aber das Leben verloren, es tritt der Tod des Individuums ein. Dies war die zentrale Überlegung von Niels Bohr in zwei Vorträgen zum Thema Licht und Leben, entfaltet 1932 in Kopenhagen im Rahmen eines Kongresses für Lichttherapie und – in einer Wiederaufnahme der Thematik – 1962, in seinem Todesjahr, anlässlich der Einweihung des Instituts für Genetik in Köln. Schon in seinem 1932er Vortrag in Kopenhagen stellt Bohr dabei die Frage, inwiefern ein physikalisches Experiment (an toter Materie) überhaupt mit einer biologischen Untersuchung (lebendiger Entitäten) verglichen werden könne, da die Physik – im Unterschied zu den Biowissenschaften – die Notwendigkeit nicht kenne, ein Untersuchungsobjekt am Leben zu erhalten. Für unseren Zusammenhang ist besonders die nachfolgende Passage des Textes von Belang, wo Bohr auf die prinzipiellen Grenzen der Erkenntnis des Lebendigen zu sprechen kommt. Wörtlich heißt es da: 290 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Vier Betrachtungsweisen der Welt
»[Wir] würden […] zweifellos ein Tier töten, wenn wir versuchten, eine Untersuchung seiner Organe so weit durchzuführen, dass wir den Anteil der einzelnen Atome an den Lebensfunktionen angeben könnten. In jedem Versuch an lebenden Organismen muss daher eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die physikalischen Bedingungen, denen sie unterworfen sind, bestehen bleiben; und es drängt sich der Gedanke auf, dass die geringste Freiheit, die wir in dieser Hinsicht den Organismen zugestehen müssen, gerade groß genug ist, um ihnen zu ermöglichen, ihre letzten Geheimnisse gewissermaßen vor uns zu verbergen. Von diesem Gesichtspunkt aus muss die Existenz des Lebens als eine Elementartatsache aufgefasst werden, für die keine nähere Begründung gegeben werden kann und die als Ausgangspunkt für die Biologie genommen werden muss, in ähnlicher Weise, wie das Wirkungsquantum, das vom Standpunkt der klassischen mechanischen Physik aus als ein irrationales Element erscheint, zusammen mit der Existenz der Elementarpartikel die Grundlage der Atomphysik ausmacht. Die behauptete Unmöglichkeit einer physikalischen oder chemischen Erklärung eigentlicher Lebensfunktionen dürfte in diesem Sinne analog zu der Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome sein.« 66
Analog dazu bemerkt Bohr in seinem 1963 publizierten Kölner Vortrag wörtlich, »dass das Vorhandensein von Leben an sich als eine Grundtatsache in der Biologie angenommen werden müsse, im gleichen Sinne wie das Wirkungsquantum in der Atomphysik als ein Grundelement betrachtet werden muss, das nicht auf klassische physikalische Begriffe zurückgeführt werden kann.« 67
Aus einzelnen Organen kann demzufolge nicht – wie in der Quantenphysik – das Ganze (Lebende) wieder hergestellt werden. Nach dem schon zitierten Hegel-Wort »Etwas ist also lebendig, nur insofern es den Widerspruch in sich enthält, und zwar diese Kraft ist, den Widerspruch in sich zu fassen und auszuhalten« kann Leben nur aporetisch verstanden werden, sonst wird es – siehe oben – auf das Tote reduziert. Diese Aporien sind aber grundsätzlich anderer Natur als die in der Quantenphysik auftretenden! Es ist ja gerade der entscheidende Unterschied zwischen Interaktion (im Bereich der Materie) und 66 Bohr, Niels: Licht und Leben, in: Die Naturwissenschaften, 21 (1933), S. 245, zitiert nach: Fischer: Niels Bohr. a. a. O., S. 169. 67 Bohr, Niels: Licht und Leben – noch einmal, in: Die Naturwissenschaften, 50 (1963), S. 725–727, zitiert nach: Meyenn, Karl von; Stolzenburg, Klaus; Sexl, Roman U. (Hrsg.): Niels Bohr. Der Kopenhagener Geist in der Physik, Braunschweig 1985, S. 195–202.
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
Kommunikation (im Bereich des Lebendigen/Geistigen) der uns Anlass für dieses Buch werden musste. Die grundlegende Aporie der Quantenphysik ist die zwischen Teilchen und Welle (oder diskret und kontinuierlich). Vor der Quantenphysik waren Teilchen und Wellen getrennte Kapitel der Physik, die beide in vollkommener Weise mittels des mechanistischen Denkrahmens beschrieben werden konnten. Erst die Einsicht, dass Teilchen und Wellen nicht im Entweder-Oder stehen, dass erst beide zusammen eine vollständige Beschreibung im Mikrokosmos ergeben, brachte die Aporie zutage. Die Bewältigung dieser Aporie in der Quantenphysik wird »Komplementarität« genannt. Sie unterscheidet sich grundlegend von Aporien im Bereich des Lebendigen, die erst mittels eines dialektischen Prozesses zur Synthese gebracht werden wollen. 68 Dabei ist der jeweilige Schatten das zu überwindende Hindernis, wie im vorigen Abschnitt ausgeführt. Vermutlich war dieser Unterschied, der aus der Differenzierung von Interaktion und Kommunikation entspringt, der Grund, warum frühe Versuche, mittels Komplementaritäts-Ansätzen auch die Aporien des Lebendigen zu bewältigen, scheitern mussten. 69 Sowohl die Quantenphysik als auch das Lebendige/Geistige sind nicht streng kausal zu beschreiben. Während jedoch die Quantenphysik für Einzelereignisse die Kausalität vollständig opfern musste (siehe Einsteins würfelnden Gott), sind Einzelereignisse im Bereich des Lebendigen zwar nicht streng kausal, aber auch nicht völlig beliebig. Erinnern wir uns daran, dass die Quantenphysik ein tiefes Rätsel der Materie lösen konnte: Warum sind die Eigenschaften der Materie so stabil und unveränderlich? Dazu Heisenberg: »Für mich war der Ausgangspunkt die Stabilität der Materie, die ja vom Standpunkt der bisherigen Physik ein reines Wunder ist. Ich meine mit dem Wort Stabilität, dass immer wieder die gleichen Stoffe mit den gleichen Eigenschaften auftreten […]. Das muss doch bedeuten, dass auch nach vielen Veränderungen […] ein Eisenatom schließlich wieder ein Eisenatom mit genau den gleichen Eigenschaften ist. Das ist nach der klassischen Mechanik unbegreiflich, besonders dann, wenn ein Atom Ähnlichkeit mit einem Planetensystem hat.« 70
Siehe Pietschmann: Das Ganze und seine Teile, a. a. O., Kap. VI. Vgl. dazu etwa: Fischer, Ernst Peter: Das Atom der Biologen. Max Delbrück und der Ursprung der Molekulargenetik, München – Zürich 1988. 70 Heisenberg: Der Teil und das Ganze, a. a. O., S. 60. 68 69
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Vier Betrachtungsweisen der Welt
Gerade weil es keine strenge Kausalität gibt, sind individuelle Objekte (Atome, Moleküle, kleine Kristalle usw.) identische Wiederholungen derselben Form. Im Bereich des Lebendigen gilt genau das Gegenteil: Niemals werden zwei Individuen derselben Art äußerlich identisch sein. Nicht nur ganze Bäume (z. B. Kastanienbäume) sind innerhalb der von der Art gegebenen Grenzen unterschieden, auch Äste, Blätter und Kastanien sind niemals vollkommen identisch. Freilich sind die Grenzen durch die Art gegeben, aus einer Kastanie wird immer wieder ein Kastanienbaum wachsen. Die Kausalität ist daher weder mechanistisch noch aufgehoben, sie gibt vielmehr ein Muster vor, innerhalb dessen sich Veränderungen und Bewegungen entfalten können; dies ähnelt eher der Aristotelischen causa formalis als der neuzeitlichen causa efficiens. Wir werden den Begriff Transkausalität dafür verwenden. Zwischen dem mechanistischen Denken und dem Erfassen des Lebendigen entsteht eine neue Grenze, die zugleich tote Materie vom Lebendigen und Interaktion von Kommunikation scheidet. (Sie wurde schon oben »ontologische Grenze« genannt.) Die entsprechende Erweiterung der obigen Tabelle zeigt Abb. 35. Wenn wir hier von Grenzen sprechen, dann muss sofort dazugesagt werden, dass diese Grenzen vernünftigerweise nicht abgeleugnet werden können, dass ihr konkreter Ort aber nicht deutlich zu bestimmen ist. Wo und in welcher Form Quantenphysik in klassische (mechanistische) Physik übergeht, ist immer noch Gegenstand intensiver Forschung. 71 Bekanntlich hat Erwin Schrödinger, der den grundlegenden Unterschied zwischen Quantenphysik und klassischer »Wellen«-physik bis zu seinem Tode leugnete, diese Frage mit seiner berühmten »Katze« ad absurdum führen wollen (siehe Kap. V/3d). Schrödinger zeigt damit lediglich, dass quantenphysikalisches Denken auf große Objekte nicht vernünftig anwendbar ist, wobei – wie schon an anderer Stelle (Kap. V/3d) betont – die genaue Lage der Grenze nach oben noch nicht bestimmbar ist. Ganz analog ist es nicht möglich, eine genaue Grenze zwischen unbelebter Natur und dem Lebendigen anzugeben; es bleibt der Versuch, mittels mehr oder weniger willkürlicher Definitionen wissenschaftliche Einheitlichkeit herzustellen.
Arndt, Markus et al.: Wave-particle duality of C60 molecules, in: Nature 401 (1999), S. 680–682, hier S. 680.
71
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten Quantenphysik
Mechanistisch
Leben
Quantitativ
Quantitativ
Qualitativ
Ganzheitlich
Zerlegbar
Ganzheitlich
Komplementär
Widerspruchsfrei
Aporetisch
Akausal
Kausal
Transkausal
Leben Materie Große Objekte
Quantenbereich A-Kausalität
Kausalität Trans-Kausalität
Abb. 35: A-Kausalität / Kausalität / Trans-Kausalität (Leben)
Nun steht außer Zweifel, dass Materie durch Naturgesetze bestimmt ist. Eigentlich sollten wir sagen, »durch Naturnotwendigkeit«, weil Naturgesetze die vom Menschen geschaffene Formulierung von Naturnotwendigkeit sind. Negativ formuliert wird es deutlicher: Im Bereich der Materie gibt es keine Freiheit. Auch das oben besprochene Photon, das auf eine halbversilberte Glasplatte trifft, kann nicht frei entscheiden, ob es reflektiert werden oder durchgehen wird, es ist dem »objektiven Zufall« (einem Teil der Naturnotwendigkeit) unterworfen.
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Vier Betrachtungsweisen der Welt
Im Bereich des Lebens gibt es diese durchgehende Naturnotwendigkeit nicht, wir können daher mit Recht von »Freiheit« sprechen. Freilich ist damit zunächst lediglich die nicht vollständige Unterwerfung unter Naturnotwendigkeit gemeint. Das, was Menschen unter »Freiheit« verstehen, kommt beim Leben im Allgemeinen (noch) nicht zum Tragen. Wir unterscheiden uns in diesem Punkt deutlich von René Descartes, der unsere Grenze zwischen Mechanismen und Leben nicht anerkannte. Erst beim Menschen wollte er von Geist und Freiheit sprechen, selbst höhere Tiere waren für ihn nicht grundsätzlich von Mechanismen zu unterscheiden. Sein Biograph Ettore Lojacono schreibt: »Descartes selbst argumentierte, angesichts der vielfältigen, beeindruckenden Automaten aus kunstvoller Hand gebe es keine stichhaltigen Kriterien, um perfekte Automaten in Tiergestalt von wirklichen Tieren zu unterscheiden. Ein Automat in Menschengestalt jedoch, so vollkommen er auch sein möge, lasse sich klar von einem echten Menschen unterscheiden: Nur dieser verfüge über Sprachfähigkeit und Vernunft.« 72
Zusätzlich zur ontologischen Grenze zwischen toter Materie und Lebendigem müssen wir nun auch noch die Descartes’sche Grenze anfügen: »Nur der Mensch verfügt über Sprachfähigkeit und Vernunft.« Beim Menschen wird aus Freiheit die Möglichkeit der Selbstbestimmung bis hin zur destruktiven Kraft gegen die eigene Art, ja gegen sich selbst. In diesem Sinne ist der Mensch der »erste Freigelassene der Schöpfung« (Johann Gottfried Herder). Im Bewusstsein, der Naturnotwendigkeit nicht vollständig unterworfen zu sein, muss der Mensch seine Entscheidungen verantworten. Seine Freiheit ist die Bedingung der Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen! 73 Selbst die Leugnung der Freiheit, also die Verdrängung der Verantwortung, ist ein Akt der Freiheit und somit zu verantworten. Aus der Transkausalität des Lebendigen schlechthin wird beim Menschen zudem bewusste Finalität, Entscheidungen werden auf ein Ziel hin gefällt. Wir müssen also unser Schema um eine weitere Spalte ergänzen.
72 73
Lojacono: René Descartes, a. a. O., S. 60. Siehe Pietschmann: Das Ganze und seine Teile, a. a. O., Kap. VII.
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VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten Quantenphysik
Mechanistisch
Leben
Mensch
Quantitativ
Quantitativ
Qualitativ
Qualitativ
Ganzheitlich
Zerlegbar
Ganzheitlich
Ganzheitlich
Komplementär
Widerspruchsfrei
Aporetisch
Aporetisch
Akausal
Kausal
Transkausal
Transkausal/Final
Mensch Leben Materie Große Objekte
Quantenbereich A-Kausalität
Kausalität Trans-Kausalität Trans-Kausalität
Abb. 36: A-Kausalität / Kausalität / Trans-Kausalität (Leben und Mensch)
Erinnern wir noch einmal an die eingangs begonnene Zweiteilung: Interaktion
Kommunikation
Tote Natur
Leben
Materie
Geist
Quantenphysik/Mechanismen
Leben/Mensch
Während Descartes die Grenze zwischen Mechanismen und Leben leugnete, wird heute oft auch die Grenze zwischen Leben und Mensch nicht anerkannt; der mechanistische Denkrahmen wird dann generell zugrunde gelegt, obwohl er durch die Quantenphysik bereits in seine Schranken gewiesen wurde. So ist etwa in der Internetausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Jan. 2012 zu lesen: »Der 296 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Vier Betrachtungsweisen der Welt
Mensch, der ›erste Freigelassene der Schöpfung‹ ? Hier irrte Herder. Immer spannender wird die wissenschaftliche Entdeckung des Menschen als ›soziales Tier‹. Wo und wie die Mechanismen [!] der Evolution auf uns wirken, beschreibt der Biophilosoph Eckart Voland.« Die Verdrängung alles Nicht-Materiellen ist aber kein Ergebnis des Erfolges neuzeitlichen Denkens; sie ist so alt wie das systematische Denken überhaupt (siehe Kapitel III/8). Immanuel Kant hat darauf Bezug genommen: »Ob nun gleich hieraus eine Dialektik der Vernunft entspringt, da in Ansehung des Willens die ihm beigelegte Freiheit mit der Naturnotwendigkeit im Widerspruch zu stehen scheint, und bei dieser Wegescheidung die Vernunft in spekulativer Absicht den Weg der Naturnotwendigkeit viel gebahnter und brauchbarer findet als den der Freiheit: so ist doch in praktischer Absicht der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Tun und Lassen Gebrauch zu machen; daher wird es der subtilsten Philosophie ebenso unmöglich wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzuvernünfteln.« 74
Die Dialektik von Naturnotwendigkeit und Freiheit reicht aber noch nicht aus, um dem Spezifisch-Menschlichen gerecht zu werden. Der Mensch als einziges Lebewesen, das sich stets seiner Endlichkeit bewusst sein kann, das ständig darauf verwiesen wird, dass er als Aporon der Gemeinschaft bedarf, um Person sein zu können, der ohne Kommunikation mit Artgenossen nicht überlebensfähig ist, kann seine Freiheit nicht leben, ohne ihr eine eigene Ordnung zu geben, die nicht nur aus der Naturnotwendigkeit entspringt. So entsteht durch die Freiheit des Menschen neben der Natur ein von ihm selbst erzeugtes Gebilde, das wir Kultur nennen. 75 Neben dieser Bedeutung als Gebilde, als Ausdruck/Resultat menschlichen Handelns gilt es die (ursprünglichere) Bedeutung von Kultur als Akt der Bildung, der Hege und Pflege in vielfältiger Form nicht aus dem Auge zu verlieren. 76 Vor diesem Hintergrund betont Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Siehe dazu Pietschmann, Herbert: Freiheit – Naturnotwendigkeit – Ordnung, in: Voigt, Beatrice (Hrsg.): BodenLeben – Erfahrungsweg ins Innere der Erde, Verlag Voigt Beatrice, München 2013, S. 108–117. 76 Der Begriff Kultur ist im Deutschen seit dem 17. Jahrhundert bezeugt und leitet sich vom lat. Substantiv cultura mit den Verben colere, excolere her und meint ursprünglich einen Handlungs-Akt, genauer: einen Akt der Pflege, der Erziehung, der Veredelung, der Heran-Bildung; allgemein ausgedrückt: eine schöpferische Tätigkeit des Menschen, die zu einem vollkommeneren Sein bzw. Leben dienlich ist; arche74 75
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Rassem die Wichtigkeit, dass eine Kulturtheorie beide erwähnten Bedeutungsstränge zu enthalten habe. »In Analogie zum Titel des Buches von Michael Landmann, Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur kann man sagen, daß Kultur ›Bildung‹ als auch ›Gebilde‹ ist. Eine allgemeine Kulturtheorie muß beides umfassen, obwohl deutlich ist, daß die beiden Aspekte wissenschaftsgeschichtlich nacheinander erscheinen.« 77
Bolz bringt dies auf die knappe Formel: »Kultur = Wirklichkeit + Wertidee.« 78 Damit veranschaulicht er, dass »kulturbedingt« nie nur für spezifische Deutung der Wirklichkeit steht, sondern immer zugleich auch für dessen werthafte Ein-Schätzung. Ohne diese selbst auferlegten Regeln würde die Menschheit sich selbst zerfleischen – auch mit der Kultur sind der Kriege und Zerstörungen noch zu viel! Angesichts dieser Tatsache ist die Frage berechtigt, was denn der Sinn der Freiheit sei, wenn sie zu so viel Leid und Verwüstung in der Geschichte führt? Die Antwort kann nicht einfach ausfallen, aber wir wollen darauf hinweisen, dass Freiheit nicht nur Bedingung der Möglichkeit von Verantwortung ist, sondern auch Voraussetzung für Liebe; ohne Freiheit gibt es keine wahre Liebe! 79 Die Dialektik von Naturnotwendigkeit und Freiheit ist somit zu einem »Dreifeld« 80 erweitert worden.
typisch durch Hirt und Gärtner symbolisiert. Noch Thomas Hobbes (1588–1679), der englische Philosoph und Staatstheoretiker, unterscheidet bezüglich des weiten Bedeutungsfeldes von Kultur als Bildung 4 Grundarten kultureller Tätigkeit: Die Agrikultur als Bearbeitung der Erde/Natur, um sie fruchtbar(er) zu machen; die Selbstbemeisterung bzw. Pflege der eigenen Talente, Vermögen und Charismen inklusive der Erziehung der eigenen Kinder; die Freundschaftspflege als die Aufrechterhaltung zwischenmenschlicher Beziehungen, inbesondere des zweckfreien geselligen Miteinander sowie die »Verehrung eines Absoluten«, womit – im weitesten Sinn – »die Ausdrucksformen der Referenz gegenüber unsichtbaren Mächten« (Rassem: Stiftung und Leistung, a. a. O., S. 14) gemeint ist. Der Zusammenhang wird augenfällig im Begriff des Kults (Cultus), der ja mit dem der Kultur etymologisch eng verwandt ist. 77 Rassem: Stiftung und Leistung, a. a. O., S. 28. Wichtig ist dabei festzuhalten, dass erst das Verständnis von Kultur als Gebilde bzw. als Summe kultureller Manifestationen einer Gesellschaft die Vorstellung von mehreren Kulturen zulässt, während das Verständnis von Kultur als Bildungs-Akt dies nicht gewährt. 78 Bolz: Das Wissen der Religion, a. a. O., S. 14. 79 Vgl. dazu Bolz: Die ungeliebte Freiheit, a. a. O. 80 Siehe Pietschmann, Herbert: Die Wahrheit liegt nicht in der Mitte, Weitbrecht Verlag, Stuttgart 1990, S. 207.
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Vier Betrachtungsweisen der Welt
Naturnotwendigkeit
Freiheit
Ordnung Abb. 37: Dreifeld Naturnotwendigkeit / Freiheit / Ordnung
So sieht sich der Mensch in seiner Freiheit zwei unterschiedlichen Begrenzungen gegenüber: Naturnotwendigkeit, die nicht in seine Macht gegeben ist, und Ordnung, die er selbst gestalten und verantworten muss. Spätestens an dieser Stelle müssen wir zwischen Individuum und Gemeinschaft unterscheiden. Von Kultur sprechen wir im Allgemeinen erst bei größeren Gemeinschaften; aber auch jedes Individuum steht immer vor der Aufgabe, die eigene Ordnung im Dialog mit der (jeweiligen) Kultur selbst zu gestalten. 81 Die Aporie von Freiheit und Ordnung können wir sofort im HModell darstellen, und zwar aus individueller Sicht: Freiheit
Willkür
Ordnung
H
Regelung, Zwanghaftigkeit
Abb. 38: H-Schema Freiheit / Ordnung (individuelle Sicht)
und aus der Sicht einer Gemeinschaft: Freiheit
Anarchie
Ordnung
H
Tyrannei, Diktatur
Abb. 39: H-Schema Freiheit / Ordnung (Sicht einer Gemeinschaft)
mit den jeweiligen HX-Verwirrungen. Für Gemeinschaften ist es Aufgabe der Politik im weitesten Sinne, eine Synthese aufrecht zu erhalten. Im demokratischen Rechtsstaat hat sie ihre bislang höchste Entwicklung erreicht, muss aber 81
Beispiele sind die persönliche Tageseinteilung und die Straßenverkehrsordnung.
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beständig auf der Hut sein, nicht in die HX-Verwirrung zurückzufallen. Die Aporie von Freiheit und Naturnotwendigkeit ist weniger deutlich im Bewusstsein der Menschen entwickelt, meinen doch viele, es handle sich um ein Entweder-Oder, das keine Spuren einer Aporie enthält. Die Aporie tritt jedoch deutlich zutage im Gesundheitswesen, und zwar sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Wer meint, er oder sie könne sich jeglicher gesundheitlicher Betreuung enthalten, handelt dumm; wer meint, er oder sie müsse wegen jeder auftretenden Kleinigkeit einen Arzt aufsuchen, handelt feige. Freiheit (Selbstbestimmung)
Dummheit
Naturnotwendigkeit
H
Feigheit
Abb. 40: H-Schema Freiheit / Naturnotwendigkeit
Auch jede Gesellschaft steht vor der auszubalancierenden Frage, wo zum Beispiel Vorsorgeuntersuchungen nützen und wo sie in Schaden umschlagen können. Die dritte Seite des obigen Dreifeldes, die Spannung zwischen Naturnotwendigkeit und Ordnung, ist am wenigsten entwickelt. Gewöhnlich meinen wir, zwischen Natur und Kultur sei eine feste Grenze jederzeit zu finden. Aber die Kultur verändert Natur (denken wir nur ans Artensterben und die Klimaproblematik oder positiv an Landschaftsgestaltung, etwa die Bewirtschaftung von Almen), und Natur greift beständig in unsere Kultur ein (denken wir an das weite Feld von Bionik 82 oder die mögliche Zerstörung von Kultur durch Naturkatastrophen). Die Frage kann daher lauten: Wie müssen wir unsere Ordnung einrichten, um mit der Natur in »friedlicher Koexistenz« zu leben? Gegenwärtig scheint uns der Fehler zu unterlaufen, bezüglich der Beeinflussung des Klimas durch Kultur 83 exakte naturwissenschaftliche Antworten zu erhoffen. Das ist aber eine ÜberstraBionik (engl. Bionics): Ein interdisziplinäres Forschungsfeld, dass sich mit der Optimierung von Technik durch Adaptierung von Naturphänomen beschäftigt. Das älteste bekannte Beispiel ist die Idee von Leonardo da Vinci, die Gestalt des Vogelflugs auf Flugmaschinen zu übertragen. Ein bekanntes Beispiel ist der – von Kletten – abgeschaute Klett-Verschluss. Der Bionik liegt demnach die Überlegung zu Grunde, dass die belebte Natur Gestalten darbietet, von denen der Mensch lernen kann. 83 Wir meinen hier mit »Kultur« auch »Zivilisation«, ohne deren Unterschied zu leugnen. 82
300 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Vier Betrachtungsweisen der Welt
pazierung der naturwissenschaftlichen Methode, und es erscheint daher erforderlich, dass wir in unsere Kultur die Verantwortung für die Natur aufnehmen, und zwar ohne auf berechenbare Vorschläge zu warten. (Dass ein stetes Verbrennen der Ölreserven für Energie-Zwecke verantwortungslos ist, kann auch ohne Berechnung der Folgen für das Klima festgestellt werden!) Wir können also ein drittes H anschreiben: Ordnung
Vermessenheit
Naturnotwendigkeit
H
Resignation
Abb. 41: H-Schema Ordnung / Naturnotwendigkeit
Es scheint, dass wir gegenwärtig mit der HX-Verwirrung zu kämpfen haben. Es gilt letzten Endes, einen Weg zu finden, der unsere zu schaffende Ordnung mit der Naturnotwendigkeit in Einklang bringt. Auf diesem Weg gibt es zwei Einstellungen, die eine Lösung verhindern: Die Einen sehen sich der Natur verpflichtet und kämpfen gegen die Zerstörung durch Vermessenheit; angesichts des Widerstandes der Anderen fallen sie leicht in Resignation. Die Anderen sehen zuvorderst die Probleme, die sich einstellen, wenn versucht wird, Folgen unserer Handlungen für die Zukunft mittels des Denkrahmens abzuschätzen. Um nicht zu resignieren, bestehen sie auf der Fortsetzung bisheriger Gewohnheiten und sind blind gegen die daraus folgende Zerstörung durch Vermessenheit. Ordnung
Vermessenheit
Naturnotwendigkeit
X
Resignation
Abb. 42: HX-Schema Ordnung / Naturnotwendigkeit
Beide Seiten müssen einsehen, dass der Kampf zwischen Vermessenheit und Resignation tobt und daher das eigentliche Anliegen, eine Ordnung zu finden, die mit Naturnotwendigkeit in Harmonie besteht, aus dem Blickfeld entschwunden ist. Erst dann kann es substanzielle Verbesserungen geben. Dazu müssen beide Seiten verstehen, dass sie den falschen Schatten bekämpfen. Ziel ist es, eine Ordnung ohne Vermessenheit und Naturnotwendigkeit ohne Resignation zum Ausgleich zu bringen. Vermutlich wird es für das gedeih301 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
liche Überleben unserer Kultur wesentlich sein, den zugehörigen dialektischen Prozess ehestens in Angriff zu nehmen. Unsere Kultur ist gezeichnet durch die Verdrängung der Endlichkeit menschlichen Lebens. Zwar ist eines der entscheidenden Merkmale des Menschen, sich seiner Endlichkeit bewusst zu sein; der Mensch muss sich dieser Gewissheit in irgendeiner Weise stellen. Von den vielen Möglichkeiten, sich dieser Problematik anzunehmen, ist Verdrängung zwar die primitivste, in einer Wohlstandsgesellschaft aber sicher die angenehmste Weise. Sehen wir von dieser momentanen Ausnahmesituation ab, dann müssen wir auf die Frage des »Endes« genauer eingehen. Martin Heidegger unterscheidet drei Arten des Endes: »Der Regen ist zu Ende, das heißt verschwunden. Das Brot ist zu Ende, das heißt aufgebraucht, […] nicht mehr verfügbar.« Beim Menschen hingegen ist das Ende immer schon mitgedacht: »Dasein ist Sein zum Ende«, eine Seinsweise, »die das Dasein übernimmt, sobald es ist.« 84
»Sein zum Ende« muss dabei jedoch nicht unbedingt – wie bei Heidegger – bedeuten: »Sein zum (irgendwann einmal) Nicht-mehrSein«, sondern kann ebenso heißen: »Sein zum Ziel« bzw. »Sein zur Voll-Endung« 85. Damit ist mit dem menschlichen »Dasein zum Ende« also die beständige Frage verbunden, was denn der Sinn eines Daseins ist, das weiß, dass es sterben muss. Wenn der Mensch seine Endlichkeit nicht verdrängt, ist er ohne Frage nach dem Sinn nicht vollständig. So entsteht aber ein neues Dreifeld: Freiheit
Sinn
Ordnung (Ritus) Abb. 43: Dreifeld Freiheit / Sinn / Ordnung
Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen 1927, S. 245. Vgl. Revers, Josef Wilhelm: Psychologie der Langeweile, Meisenheim/Glan 1949 bzw. Hamberger, Erich: Die Achsendrehung der menschlichen Kommunikation, phil. Diss., Salzburg 1986, insbes. S. 55–80.
84 85
302 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Vier Betrachtungsweisen der Welt
Während im ersten Dreifeld die Ordnung in Gesetzen oder Regeln gefasst werden muss, wird sie hier zum Ritus, der in jeder Kultur versucht, dem Sinn eine Gemeinsamkeit zu unterlegen. 86 Nicht unwichtig scheint dabei der Gedanke, dass der Mensch dieses Drei-Feld nicht verlassen kann, sondern »höchstens« eine Fehlgestalt dieses Feldes zu kreieren vermag (vgl. HX-Verwirrung, Kap. VII/4); Ein solches »Schatten-Dreifeld« ließe sich aus folgenden Elementen konstruieren: Willkür, (absolut gesetzter) Zweck und (ideologische) Legalität (uniformes Reglement). Willkür
Zweck
Legalität Abb. 44: Dreifeld Willkür / Zweck / Legalität
Wir müssen wieder drei Aporien untersuchen und zwischen individueller und gemeinschaftlicher Problematik unterscheiden. Zunächst sehen wir uns an, wie sich die Aporie von Freiheit und Ordnung darstellt, wenn es bei der Ordnung um den Ritus geht. Einzelne Menschen sind leicht zu finden, die sich mit einer der beiden Seiten uneingeschränkt identifizieren und so in den Schatten stürzen. Einerseits finden wir »Freidenker«, die zu jedem Ritus in Konterdependenz stehen. 87 Auf der anderen Seite finden wir »Fundamentalisten«, die den Ritus 88 nicht zu hinterfragen wagen. Vereno bemerkt dazu: »In ihr [der religiösen Kultur] sind Ämter und Dienste repräsentativ, und eben darum ist vornehmlich in ihnen, nicht in individuellen Vollzügen des Einzelnen, die Autorität begründet. Insofern Ämter als solche repräsentativ sind, muß es auch deren Ausübung sein. Daraus ergibt sich die Wichtigkeit ritueller Handlungen.« (Vereno: Tradition und Symbol, a. a. O., S. 14 f.) 87 Henrik Ibsen soll im Alter von seiner Jugendzeit gesagt haben: »Wir nannten uns Freidenker und das waren wir auch, frei vom Denken!« 88 So wie wir hier unter dem Begriff »Kultur« immer Zivilisation mitdenken, sollen unter »Ritus« nicht nur die Handlungen, sondern auch die Interpretationshilfen (z. B. »Dogmen«) einer Gemeinschaft verstanden werden. Vgl. zur Thematik Dogma generell: Rahner, Karl: Was ist Häresie? In: Böhm, Anton: Häresien der Zeit. Ein Buch zur Unterscheidung der Geister, Freiburg – Basel – Wien 1961, S. 9–44. 86
303 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VII. APORON oder Der Transfer quantentheoretischer Einsichten
Freiheit (Selbstbestimmung)
Freidenker
Ritus (Ordnung)
H
»Fundamentalisten«
Abb. 45: H-Schema Freiheit / Ritus (individuelle Sicht)
Gesellschaftlich stellt sich die Aporie ähnlich dar; Freidenker predigen den Relativismus (siehe Kap. III/9), »Fundamentalisten« stellen den Absolutheitsanspruch. Freiheit (Selbstbestimmung)
Relativismus
Ritus (Ordnung)
H
Absolutheitsanspruch
Abb. 46: H-Schema Freiheit / Ordnung (Sicht der Gesellschaft)
Die zugehörige HX-Verwirrung ist unschwer in unserer Gesellschaft festzustellen, wenn auch mit ungleichen Gewichten auf den beiden Seiten. Die Aporie von Freiheit und Sinn wird deutlich im bekannten Unterschied zwischen »Freiheit wovon« und »Freiheit wozu«. Wir haben schon betont, dass der Sinn der Freiheit (unter anderem) in der Ermöglichung von Liebe liegt. Liebe kann durchaus als Synthese von Freiheit und Sinn gesehen werden, wobei die Selbstliebe immer auch mitgedacht werden muss. So können wir folgendes H ausmachen: Freiheit
Konsum(zwang)
Sinn
H
Eigen-Sinn, Pseudoreligiöse Gemeinschaft
Abb. 47: H-Schema Freiheit / Sinn
Gesellschaftlich wird die individuelle Lieblosigkeit zum Materialismus, der nur nach dem Nutzen fragt. Für eine derartige Gemeinschaft ist das mechanistische Denken ausreichend, Nutzen wird dabei nur quantitativ betrachtet. Es ist zumindest tendenziell der Zustand der westlichen Gesellschaften, wenn nicht schon weitgehend aller so genannten Industrienationen. Dabei wird die von Hegel angesprochene
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Vier Betrachtungsweisen der Welt
Dialektik von Nutzen und Segen 89 abgespannt, sodass alles unter dem Gesichtspunkt von Nutzen allein betrachtet wird. 90 Eine Gemeinschaft, die Freiheit zugunsten des Sinnes aufgibt, ist heute kaum mehr zu finden, wir müssen sie in unserer Vorstellung imaginieren. (Vielleicht sind manche pseudoreligiöse Gemeinschaften 91 nahe einem solchen Extrem.) Die letzte zu betrachtende Aporie ist die von Ritus und Sinn. Ritus dient dazu, dem Sinn des menschlichen Lebens gemeinsamen Ausdruck zu verleihen. Wird er zum Selbstzweck, geht damit seine Bestimmung verloren; das Dasein wird mechanistisch reduziert. Wird er verlassen, verliert der Lebenssinn seine Gemeinschaftlichkeit. Ritus
Leere Form
Sinn
H
Sinnprivatisierung, »Sinndividualisierung«
Abb. 48: H-Schema Ritus / Sinn
In dieser Form lässt sich die Aporie sowohl individuell als auch gemeinschaftlich interpretieren, wobei im individuellen Fall statt »Sinnprivatisierung« noch stärker »Solipsismus« stehen kann. Georg Simmel, der schon mehrfach erwähnte »soziologische Seismograph« zu Beginn des 20. Jahrhunderts, schreibt bereits 1918, »daß wir mindestens seit einer Reihe von Jahrzehnten nicht mehr unter einer irgendwie gemeinsamen Idee, ja in weitem Ausmaß überhaupt nicht mehr unter einer Idee leben. Würde man […] heute die Menschen der gebildeten Schichten fragen, unter welcher Idee sie eigentlich leben, so würden die meisten eine spezialisierte [subjektive] Antwort aus ihrem Beruf geben; aber von einer Kulturidee, die sie als ganze Menschen und die alle Sonderbetätigungen beherrschte, würde man selten hören.« 92 Siehe Pietschmann, Herbert: Dialektik von Nutzen und Segen, in: Wiener Vorlesungen im Rathaus, Bd. 48, Picus Verlag, Wien 1996, S. 43–59. 90 Vgl. dazu Reisenbichler: Erneute Betrachtung der Spieltheorie, a. a. O. 91 Man denke etwa an die Gemeinschaft »Peoples Temple« des Sektengründers Jim Jones. Am 18. November 1978 veranlasste der Gründer im Urwald von Guyana einen Massenmord bzw. angeordneten Massenselbstmord; etwa 900 Menschen fanden dabei den Tod, unter anderem auch Jim Jones selbst. 92 Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, a. a. O., S. 11; vgl. dazu auch Bolz: Das Wissen der Religion, a. a. O., insb. S. 47–51 sowie Beck, Ulrich u. a.: Eigenes Leben: Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, München 1997. 89
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
In Kap. II/2 wurde mit Bezug auf maßgebliche Autoritäten des Faches – als eines der zentralen Kennzeichen gegenwärtiger Kommunikationswissenschaft – ein Theoriedefizit konstatiert –, resultierend aus Theorienkonkurrenz. Anders ausgedrückt: Was der Kommunikationwissenschaft bislang offenkundig fehlt, ist eine – der fachspezifischen Methodik vorgeordnete – allgemeine Theorie der Kommunikation, eine »Perspektive, aus der heraus der eigentliche kommunikationswissenschaftliche Objektbereich erst Konturen gewinnt und in den man die Einsichten und Ergebnisse gleichsam ›einordnen‹ kann, damit ihr Stellenwert, vielleicht besser: ihr Problemzusammenhang erkennbar wird.« 1 Nachfolgend sollen nun einige theoretische Elemente skizziert werden, die uns geeignet scheinen, zur Erstellung einer solchen kommunikationswissenschaftlichen »Zentralperspektive« beizutragen.
1.
Die zentrale Differenzierung: Interaktion 6¼ Kommunikation
Als Grundlage einer allgemeinen Theorie der Kommunikation schlagen wir eine prinzipielle Differenzierung zwischen den Begriffen Interaktion und Kommunikation vor. Interaktion (bzw. Wechselwirkung) stehe dabei für kausale Ablaufsfolgen ohne Verhaltensvariabilität, während Kommunikation ein Geschehen meint, das stets mit Verhaltensvariabilität verbunden ist, weil es ohne »handelnde Subjekte« 2 nicht gedacht werden kann. Während Interaktion kausal voBurkart: Kommunikationswissenschaft, a. a. O., S. 413. Bzw. im Kontext des Nicht-Menschlich-Lebendigen: der Voraussetzung von »Quasi-Subjekten«; vgl. dazu die Nobelpreisrede von Barbara McClintock The Significance of Responses of the Genome to Challenge, in: Science 226 (1984), S. 792–801. Neben Subjekten benötigt jedes Verständnis von Kommunikation – wie in Kapitel II/2 skizziert – zudem als Grundelemente Objekte der Kommunikation, Mittel bzw. Medien
1 2
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Die zentrale Differenzierung: Interaktion 6¼ Kommunikation
raussagbar ist, kann Kommunikation – grundsätzlich – nicht vorausgesagt werden. Und zwar nicht, weil es an Informationen mangelt 3, sondern weil Kommunikation mit aktueller Entscheidungsfreiheit/notwendigkeit verbunden ist. Damit keine Missverständnisse entstehen: Jeder Kommunikationsakt bedarf stets interaktionaler (physiko-chemischer) Prozesse sowie naturgesetzlicher Kommunikations-Mittel (Luft, Schallwellen, Licht etc.), die gerade über keinerlei Verhaltensvariabilität verfügen (dürfen): ja, deren naturgesetzliche Grundlage als die unabdingbare Voraussetzung für verhaltensvariable Kommunikation anzusehen ist. Kurz: Kausale Interaktionen bilden demnach die unabdingbare Grundlage für transkausale Kommunikation(en). Graphisch lässt sich dies so darstellen:
K
o
m
m
u
n
i
k
a
t
i
o
n
Interaktion
Materie
Leben Mensch
Abb. 49: Kommunikation geist-analog der Kommunikation sowie (sprachliche / sprachanaloge) Mitteilungssysteme der Kommunikation. Das in der Kommunikationswissenschaft gängig als »symbolische Interaktion« bezeichnete zwischenmenschliche Beziehungsgeschehen stellt gemäß vorgelegter Begriffsdifferenzierung natürlich eine spezifische Gestalt von HumanKommunikation dar. 3 Selbst gesetzt den fiktiv konstruierten (weil de facto nicht realisierbaren) Fall, es lägen – im Hinblick auf eine gegebene Kommunikationssituation – alle erdenklichen Informationen vor.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Die Graphik soll veranschaulichen, dass Kommunikation nicht für die Summe (auch nicht mehr als die Summe) von Interaktionen steht, sondern für etwas grundsätzlich anderes! Für ein Begegnungs-/ Bedeutungsvermittlungsgeschehen, das stets die Möglichkeit zu Verhaltensvariabilität (beim Nicht-menschlich-Lebendigen) bzw. zu Handlungsfreiheit (beim Menschen) mit beinhaltet. Dadurch werden die physiko-chemischen Interaktionen nicht außer Kraft gesetzt, sondern relativiert. Die prinzipielle Differenzierung zwischen Interaktion und Kommunikation wird damit als hierarchische deutlich. Auf diesen wichtigen Umstand verweist Heitler, wenn er schreibt: »Offenbar sind im Organismus [Lebendigen, Kommunikativen] Wirksamkeiten am Werk, die die tote Materie nicht kennt und die eben den grundsätzlichen Unterschied zwischen Leben [Kommunikation] und Tod [Interaktion] ausmachen. Die Frage entsteht jetzt, ob diese lebendigen Gesetzmäßigkeiten [Regeln] die Physik außer Kraft setzen, oder ob sie neben den physikalischen Gesetzen bestehen können. Es sieht so aus, als ob die organischen Gesetzmäßigkeiten den physikalischen, ohne sie direkt zu verletzen, als übergeordnetes Prinzip irgendwie superponiert seien und die Physik gewissermaßen überspielen könnte, also die physikalischen Vorgänge irgendwie ›leiten‹ könnte.« 4
Diese zentrale Unterscheidung zwischen Kommunikation und Interaktion wird gerade anhand eines Phänomens gut ersichtlich, wo – aus vernünftigen Gründen – auf die mit dem Phänomen Kommunikation verbundene Möglichkeit zu Handlungsfreiheit bewusst verzichtet wird: beim sogenannten »Checklist-Verhalten« – als »Quasi-Interaktion« – bei Notfällen im Flugverkehr. Der Physiker unter den Autoren bemerkt dazu: »Nicht nur beim Bau, auch beim Fliegen unserer Flugzeuge muß jede einzelne Handlung einer genau vorgeschriebenen Liste folgen, einer sogenannten ›Checklist‹. Ich nenne diese Errungenschaft daher auch das ›Checklist-Verhalten‹ […]. Manchmal scheint es, ein Abgehen vom sklavischen Festhalten an einer Checklist könnte Unheil verhindern; das mag auch der Fall sein, aber wird dies einmal grundsätzlich zugelassen, dann entsteht sicherlich mehr Schaden durch unbegründetes Abweichen von einer Checklist, als vernünftiges Besinnen auf eigene Verantwortung verhindern könnte.« 5
4 5
Heitler, Walter: Naturphilosophische Streifzüge, Braunschweig 1970, S. 20. Pietschmann: Eris & Eirene, a. a. O., S. 24 f.
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Die zentrale Differenzierung: Interaktion 6¼ Kommunikation
Indem das Beispiel zeigt, dass es vernünftig ist, sich unter bestimmten Umständen nach vorgegebenen Ablaufsfolgen zu halten, also quasi »interaktional« zu kommunizieren, wird gerade dadurch deutlich, dass Kommunikation im Regelfall mit Verhaltensvariabilität verbunden ist, basierend auf individuellen situativen Einschätzungen, persönlichen Handlungsmustern und Werthaltungen. Anders ausgedrückt: dass es unsinnig ist, das interaktionale Checklist-Verhalten auf den Bereich der Alltags-Kommunikation zu übertragen. Mit diesem Beispiel wurde indirekt auch schon der »Preis« kommunikativer Verhaltensvariabilität ersichtlich: nämlich die Möglichkeit zu kommunikativem Fehl-Verhalten bzw. Fehl-Gestalten (die auf der Ebene der Interaktion nicht gegeben ist; vgl. Kap. VIII/4a). Ein Blick in die wachsende wissenschaftliche Literatur zu pathologischen Gestalten von Kommunikation 6 macht dies genauso deutlich wie die Überfülle an allgemeiner Ratgeberliteratur zu Themen wie Optimierung von Kommunikation oder Behebung von Kommunikationsdefiziten. 7 Die Möglichkeit zu Fehlgestalten von Kommunikation wird schon auf der Ebene tierischer (Bio-)Kommunikation deutlich. So stottern etwa 7 % aller Zebrafinken 8, so kommt es bei Honigbienen unterschiedlicher Herkunft zu Missverständnissen bei der Interpretation des – die Entfernung zum Futterplatz anzeigenden – Schwänzeltanzes. 9 Hier eine gewiss nicht vollständige diesbezügliche Auswahl: Sozialphobie, Mobbing/Bossing, Autismus, Cybermobbing, Erschöpfungssyndrom, Burnout, Sexsucht, Vereinsamung, Narzissmus, Hörigkeit, destruktive Abhängigkeit, (zuständliche) Langeweile, Bindungsunfähigkeit, Stalking. 7 Aus einer Vielzahl diesbezüglicher Schriften seien herausgegriffen: Schulz von Thun, Friedemann: Miteinander Reden 1–3. Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 2011; Gottschlich, Maximilian: Medizin und Mitgefühl. Die heilsame Kraft emphatischer Kommunikation, 2. Aufl., Wien 2007; Rothe, Friederike: Vernichtung durch Kommunikation – aufgezeigt am Beispiel Mobbing, in: Organisation, Supervision, Coaching, 10 (2003), S. 301–314.; Engl, Joachim; Thurmayer, Franz: Wie redest du mit mir? Fehler und Möglichkeiten in der Paarkommunikation, Freiburg 2012; Brozinsky-Schwabe, Edith: Interkulturelle Kommunikation. Missverständnisse und Verständigung, Wiesbaden 2011; Sacks, Oliver: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Reinbek bei Hamburg 1990. 8 Vgl dazu: Voss, Henning; Salgado-Commissariat, Delanthi; Helekar, Santosh: Altered Auditory BOLD Response to Conspecific Birdsong in Zebra Finches with Stuttered Syllables, in: PLoS 5 (12), (2010) bzw. Gartner, Bettina: Hier piept’s nicht richtig, in: Die Zeit, 41 (8. Oktober) (2008). 9 Vgl.: Frisch, Karl von: Tanzsprache und Orientierung der Bienen, Heidelberg 1965 (softcover-reprint 2013). 6
309 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
2.
Drei Beschreibungsebenen von Kommunikation
Auf Basis dieser zentralen Differenzierung zwischen Interaktion und Kommunikation (und der damit verbundenen Möglichkeit des Misslingens von Kommunikation) können folgende drei Beschreibungsebenen von Kommunikation auseinandergehalten werden: Kommunikation als Fundamental lebendiger/geistiger Wirklichkeit. Kommunikation als gelingendes/nicht-gelingendes Beziehungsgeschehen. Kommunikation als vorbild-/zerrbildhaftes (sachliches/unsachliches) In-Beziehung-Treten/In-Beziehung-Sein.
• • •
Schauen wir uns die einzelnen Beschreibungsebenen etwas näher an:
a)
Kommunikation als Fundamental lebendiger/geistiger Wirklichkeit
Damit ist jene Beschreibungsebene gemeint, bei der Kommunikation als unabdingbare Vor-Gegebenheit aller lebendigen/geistigen Wirklichkeit (was immer darunter der/die Einzelne verstehen mag) beschrieben werden kann. Während die materielle Wirklichkeit auf Interaktion beschränkt bleibt, tritt bei lebendiger/geistiger Wirklichkeit Kommunikation hinzu. Zentral ist hier der Umstand: Auf dieser Beschreibungsebene von Kommunikation gibt es keine Nicht-Kommunikation. Das heißt: Auf diesem Beschreibungsniveau kann nicht zwischen Kommunikation und Nicht-Kommunikation unterschieden werden; sondern nur zwischen verschiedenen Weisen/Gestalten von Kommunikation. Klassisch veranschaulicht diesen Sachverhalt das schon erwähnte Diktum: »Man kann nicht nicht kommunizieren.« 10 So eingängig dieser Beschreibungszugang hinsichtlich Kommunikation auch ist: er hat seine fundamentalen Beschreibungsgrenzen. Auf diese weist Burkart hin, wenn er bemerkt:
10
Watzlawick/Beavin/Jackson: Menschliche Kommunikation, a. a. O., S. 53.
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Drei Beschreibungsebenen von Kommunikation
»Ausgehend von der plausiblen Einsicht, daß es eine grundlegende Eigenschaft des Verhaltens sei, kein Gegenteil zu besitzen (›Man kann sich nicht nicht verhalten‹), gelangen sie [Watzlawick/Beavin/Jackson] zur Formulierung ihres bekannten Axioms: ›Man kann nicht nicht kommunizieren‹ (Watzlawick et al. 1969, 53). Diese Position soll allerdings hier nicht vertreten werden. […] Im Gegensatz dazu soll […] hier davon ausgegangen werden, daß es dem Menschen sehr wohl möglich ist, ›Kommunikation‹ (bzw. Kommunikationsversuche) willentlich aufzunehmen oder auch abzubrechen, und dies soll in der Begriffsbestimmung auch zum Ausdruck kommen« 11.
Burkart bringt damit zum Ausdruck, dass es Sinn macht, zwischen gelingender (geschehender) und nicht-gelingender (nicht-geschehender) Kommunikation zu unterscheiden. Damit ist eine zweite Beschreibungsebene von Kommunikation ersichtlich gemacht.
b)
Kommunikation als gelingendes/nicht-gelingendes Beziehungsgeschehen
Auf dieser Beschreibungsebene kann zwischen gelingender (geschehender) und nicht-gelingender (nicht-geschehender) Kommunikation unterschieden werden. Ein klassisches Beispiel dazu: Gelingende Kommunikation liegt etwa dann vor, wenn jemand während der Lehrveranstaltung nach vorne ruft: »Könnten Sie bitte das Fenster öffnen?«, der Angesprochene die Bitte vernimmt und ihr entspricht. 12 Entscheidend auf dieser Beschreibungsebene ist das prinzipielle Kennzeichen, dass hierbei nicht nur das bloße Faktum von Kommunikation, sondern auch das Gelingen bzw. das Misslingen von Kommunikation beschrieben werden kann. Die paradoxe Aussage von Norbert Bolz: »Massenkommunikation fabriziert Nicht-Kommunikation« 13
Burkart: Kommunikatonswissenschaft, a. a. O., S. 23. Ob zur Klassifizierung als »gelingend« bereits der Umstand genügt, dass die Bitte akustisch richtig verstanden wird, oder ob als gelingende Kommunikation erst jener Fall bezeichnet wird, wenn die Bitte gehört und ihr entsprochen wird, spielt hierbei keine Rolle. 13 Bolz, Norbert: Auf dem Weg zur Hyperkultur. Medienentwicklung und Medienkompetenz, in: Essener Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre, Heft 2/3 (1993) Kommunikation – Design, S. 9–15, hier S. 14. 11 12
311 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
ist auf Beschreibungsebene a (»Kommunikation als Fundamental der lebendigen/geistigen Wirklichkeit«) sinnlos bzw. unmöglich. Erst auf einer Beschreibungsebene (b) von Kommunikation, wo zwischen gelingender (geschehender) und nicht-gelingender (nicht-geschehender) Kommunikation unterschieden werden kann, zeichnet sich hierfür ein Verständnishorizont ab. In dem Maße, als Lebendiges/ Geistiges über kommunikative Kompetenz verfügt, bedeutet dies jedoch nicht nur Einräumung von Graden der Freiheit, sondern notwendigerweise stets zugleich auch die Vorgegebenheit einer Sollensdimension. Warum? Weil die Möglichkeit zur (Wahl-)Freiheit stets mit der Notwendigkeit zur Bewertung (Orientierung) einhergeht. Darauf verweist Schulz von Thun, wenn er feststellt: »Kommunikation dient […] nicht nur dem Ausdruck dessen, was ist, sondern auch der Hervorbringung dessen, was sein soll.« 14 Damit macht er auf den Umstand aufmerksam, dass hinsichtlich Kommunikation nicht nur zwischen gelingender und nicht-gelingender, sondern darüber hinaus zwischen gesollter und nicht-gesollter zu differenzieren ist, oder, um mit Hengstenberg, zu sprechen: zwischen sachlicher und unsachlicher Kommunikation. Gerade diese Unterscheidung macht es möglich, Fehlgestalten von Kommunikation (jenseits des bloßen Misslingens bzw. Nicht-Geschehens) fundierter in den Blick zu nehmen. Sachlichkeit meint dabei nach Hengstenberg »jene Haltung, die sich einem Gegenstand um seiner selbst willen zuwendet ohne Rücksicht auf einen Nutzen.« 15 Unsachlichkeit bezeichnet demgegenüber den Sachverhalt, dass der – zur Sachlichkeit an sich fähig gedachte – Mensch diese Haltung verfehlt. 16 Schulz von Thun: Miteinander reden, Bd. 1, a. a. O., S. 120 (Hervorhebung von den Autoren). 15 Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 9. Damit wird vorausgesetzt, dass der Mensch – als das zur Sachlichkeit fähige bzw. als das zur Entscheidung für oder gegen Sachlichkeit genötigte Wesen (vgl. Hengstenberg ebd., S. 41 f.) – des zweckentbundenen Interesses fähig ist; was nicht intentionslose Ungerichtetheit, sondern zweckfreie Gerichtetheit meint. 16 Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, ebd., S. 9. Wichtig in diesem Zusammenhang ist nun eine weitere von Hengstenberg vorgenommene Differenzierung: jene zwischen sachlicher und utilitärer Haltung. Utilitär (zweckbestimmt, nützlich) nennt Hengstenberg (ebd., S. 9) »jene Haltung, die sich einem Gegenstand einsichtig und planvoll zuwendet um eines Zugewinns willen, sei es der Zugewinn der eigenen oder einer fremden Person.« Sachliche und nützliche Haltung/Handlung des Menschen schließen sich dabei nicht (notwendigerweise) aus: eine sachliche Handlung kann auch (zugleich) nützlich sein; sie stehen jedoch nicht gleichrangig 14
312 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Drei Beschreibungsebenen von Kommunikation
Erst diese positiven Vor-Bilder (bzw. negativen Zerrbilder) bzw. orientativen Richtbilder von Sachlichkeit und Unsachlichkeit (als Ausdruck der Vorgegebenheit einer Sollensdimension 17) – wie bewusst oder unbewusst diese auch sein mögen – bilden die eigentliche Basis zum Verständnis von menschlicher Kommunikation. Um diese Sollensdimension von Kommunikation nun relevant beschreiben zu können, benötigen wir eine dritte Beschreibungsebene:
c)
Kommunikation als vorbildhaftes/zerrbildliches In-BeziehungTreten / In-Beziehung-Sein
Auf dieser Beschreibungsebene kann nicht nur zwischen gelingender (geschehender) und nicht-gelingender (nicht-geschehender) Kommunikation unterschieden werden, sondern zudem zwischen vorbildhafter (sachlicher) und zerrbildhafter (unsachlicher) Kommunikation. Warum ist dies wichtig? Dies ist deshalb von zentraler Bedeutung, weil vorbildliches In-Beziehung-Treten nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit gelingender Kommunikation bzw. zerrbildliches InBeziehung-Treten nicht unbedingt gleichbedeutend ist mit nicht-gelingender Kommunikation. Anders ausgedrückt: Auf dieser Beschreibungsebene (c) gibt es nicht nur die Möglichkeit gelingendes und nicht-gelingendes Kommunizieren auseinander zu halten, sondern darüber hinaus gelingende Kommunikation, die zugleich unsachliche Züge trägt, bzw. misslingende (aber) sachliche Kommunikation beschreibungstechnisch zu erfassen. Ein Beispiel für ersteren Fall wäre etwa ein Heiratsschwindler. Dieser kommuniziert gelingend, indem er mehreren Frauen gleichzeitig vorgaukelt, seine einzige Frau zu sein; gleichzeitig kommuninebeneinander, sondern in einem hierarchischen Verhältnis zueinander, bei dem der sachlichen Haltung der Primat zukommt. 17 Selbst wenn Georg Simmel feststellt: »dass es nicht Werte gibt, die wir als solche wollen, sondern dass wir umgekehrt einen Wert nennen, was wir wollen« (Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft, a. a. O., S. 70), so ist eben die Realisierung dieses eigenen Wollens zugleich das Sollens-Vorbild. Wie es nun individuelle Sollens-Vorbilder (und Nicht-Sollens-Zerrbilder) gibt, gibt es parallel dazu jeweils kultur- bzw. epochenspezifische Vorbilder (Zerrbilder). Kurz: Jede Kultur bzw. jede/jeder Einzelne definiert stets Vor-Bilder (Zerrbilder), wie es sein/nicht sein soll: hinsichtlich SelbstSein, Wir-Sein (vorbildhafte Gemeinschaft), Erkenntnis und Kommunikation.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
ziert er unsachlich, in dem er damit sämtliche Frauen, mit denen er »Parallelbeziehungen« führt, permanent belügt und sich so sein Dasein zu einer Lebenslüge perpetuiert. Ein Beispiel für nicht-gelingende sachliche Kommunikation wäre umgekehrt, wenn sich ein Mensch dem anderen völlig offenbart und der/die Angesprochene dieses »Aus-sich-heraus-Gehen« nicht adäquat wahrnimmt. 18 Nachdenken über Kommunikation ist demnach nicht nur stets mit der Frage: »Was meint gelingende/nicht-gelingende Kommunikation?«, sondern ebenso mit der Frage: »Was meint sachliche/unsachliche Kommunikation?« konfrontiert, insofern der Mensch (bzw. Lebendiges generell) nicht nur das zur Sachlichkeit/Unsachlichkeit fähige, sondern damit auch das zur Entscheidung zwischen sachlicher und unsachlicher Kommunikation genötigte Wesen darstellt.
3.
Vier komplementäre Spannungsfelder im Kontext von Kommunikation
a)
Ich-Du/Wir
Menschliche Existenz vollzieht sich stets im Spannungsfeld zwischen Individuation (ICH) und Vergemeinschaftung (DU/WIR). Schon das Phänomen des Spracherwerbs zeigt dies unzweifelhaft. In diesem Sinne hebt Rothe hervor: »Wenn vom Menschen als einem sozialen Wesen die Rede ist, dann ist damit nichts anderes gemeint, als dass er grundlegend ein immer schon
Ein diffizileres Beispiel von potenzieller zerrbildlicher Kommunikation bzw. Erkenntnis gibt Ratzinger, wenn er zur Frage des kommunikativen Teilhaftigwerdens von Offenbarung bemerkt: »Er [ein Leser heiliger Texte] kann die Schrift lesen und wissen, was in ihr steht, sogar rein gedanklich begreifen, was gemeint ist und wie ihre Aussagen zusammenhängen – dennoch ist er damit nicht [automatisch] der Offenbarung teilhaftig geworden. Offenbarung ist vielmehr erst da angekommen, wo außer den sie bezeugenden materialen Ausagen auch ihre innere Wirklichkeit selbst in der Weise des [»vorbildhaft«-kommunikativen] Glaubens[aktes] wirksam geworden ist. Insofern gehört zur Offenbarung bis zu einem gewissen Grad auch das empfangende Subjekt, ohne das sie nicht existiert. Man kann Offenbarung nicht in die Tasche stecken, wie man ein Buch mit sich tragen kann. Sie ist eine lebendige Wirklichkeit, die den lebendigen Menschen als Ort ihrer Anwesenheit verlangt.« (Ratzinger: Ein Versuch zur Frage des Traditionsbegriffs, in: Rahner/Ratzinger: Offenbarung und Überlieferung, a. a. O., S. 35)
18
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Vier komplementäre Spannungsfelder im Kontext von Kommunikation
Kommunizierender ist. Zwischenmenschliche Kommunikation zu erklären bedeutet folglich in eins auch die Klärung dessen, was die Existenz des Anderen für den Einen, was Sozietät bedeutet.« 19
Deutungen dieses Zusammenhangs sind kulturspezifisch indes höchst unterschiedlich und reichen von individualistischen, ja solipsistischen Konzeptionen auf der einen bis hin zu gesellschaftszentrierten und kollektivistischen auf der anderen Seite (Vgl. Kap. VII/ 3–5). Diese »Verschränktheit« von Ich und Du/Wir ist nun ihrerseits untrennbar verbunden mit den Verhältnissen personale (»interpersonelle«) und medial-vermittelte Kommunikation, Kommunikation und Erkenntnis sowie begegnende und vermittelnde Kommunikation. Dies deshalb, da jeder Kommunikationsakt zwischen Ich und Du/Wir stets auf der Basis der anderen genannten Verhältnisse realisiert wird. Schauen wir uns die anderen drei Relationen nun etwas näher an.
b)
Personalität und Medialität 20
Menschliche Kommunikation vollzieht sich ebenso im Spannungsverhältnis von Personalität und Medialität. Dieses untrennbare Verhältnis ist einerseits dadurch bedingt, dass jeder Kommunikationsakt des Menschen stets verschiedener Medien bedarf: »natürlicher« (Luft, Schallwellen, Licht etc.) wie »kultürlicher« (Sprache, Schrift, technische Geräte etc.), wie oben mit Hilfe von Splett schon verdeutlicht. Es gibt in diesem Sinne keine »unmittelbare« Kommunikation. Andererseits hat jede Weise medial vermittelter Humankommunikation – wie viele technische Geräte auch dazwischen liegen mögen, wie »unpersönlich« die betreffende Kommunikationsweise auch sein mag – stets notwendigerweise auch personalen (und damit intentionalen) Charakter: Jemand bezieht sich auf jemand anderen (andere) und teilt sich und/oder etwas mit. Dieser Umstand wird gut deutlich, wenn Wucherer-Huldenfeld die rhetorische Frage stellt: »Was geschieht in einem Gespräch? Wir reden gewöhnlich über dies oder jenes miteinander [= es vollzieht sich medial vermittelte Kommunikation].
19 20
Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 10. Hier in der Bedeutung sowohl als Mittel wie als Medium.
315 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Meist bleibt unbeachtet und verborgen, dass solches Reden zueinander ein Selbst-Sein im […] Bezug [mit] voraussetzt.« 21
Damit sollte deutlich geworden sein: Menschliche Kommunikation ist sowohl a-medial als auch ich- bzw. subjektlos denkunmöglich; stets finden wir sie vor im untrennbaren Verhältnis von Personalität und Medialität; allein die Gewichtung der beiden Elemente kann – je nach Kommunikationsakt – unterschiedlich ausfallen. Essenziell ist schließlich die Beachtung des Umstandes, dass ein kulturspezifisches Verständnis massenmedial vermittelter »öffentlicher« Kommunikation stets auf einem zugrunde liegenden Verständnis von personaler Kommunikation beruht. Oder, wie Burkart es formuliert, »der Massenkommunikationsprozeß nur dann angemessen erfaßt werden kann, wenn man menschliche Kommunikation grundlegend ins Auge faßt, also auch relevante Aspekte der Individualkommunikation beachtet« 22 (siehe Kap. III/10). Kommt es zu einer Verkehrung dieses hierarchischen Verhältnisses, also zum Überhandnehmen der theoretischen Befassung mit massenmedial vermittelter Kommunikation, besteht die Tendenz, dass personale (face-to-face) Kommunikation strukturanalog zu medial vermittelter (technischer) Kommunikation begriffen wird.
c)
Kommunikation und Erkenntnis
Ein drittes unauflösliches Gefüge stellt schließlich jenes von Kommunikation und Erkenntnis dar. Denn: wer kommuniziert, erkennt. Wer erkennt, kommuniziert. Jedes Kommunikationsgeschehen ist stets mit einem Erkenntnisgeschehen verbunden wie umgekehrt jeder Erkenntnisakt ohne Ausnahme mit einem Kommunikationsakt einhergeht. Dies bedeutet in weiterer Folge: Wer immer sich zum Phänomen Kommunikation (wissenschaftlich) äußert, gleich in welcher Hinsicht oder wie bewusst dies sein mag, sagt damit notwendigerweise stets Wucherer-Huldenfeld: Einführung in den Grundgedanken Ferdinand Ebners, a. a. O., S. 59. 22 Burkart: Kommunikationswissenschaft, a. a. O., S. 18; vgl. dazu auch Eisenstein, Cornelia: Meinungsbildung in der Mediengesellschaft, Opladen 1994, S. 19 und Krallmann, Dieter; Ziemann, Andreas: Grundkurs Kommunikationswissenschaft, München 2001, S. 10. 21
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Vier komplementäre Spannungsfelder im Kontext von Kommunikation
zugleich auch etwas über das Phänomen Erkenntnis und umgekehrt. Der Physiker unter den Autoren zeigt diesen Umstand auf, wenn er schreibt: »Die [Erkenntnis-]Aussage eines Subjekts über ein Objekt ist […] erst dann sinnvoll, wenn sie – im Sinne der Kommunikation – für ein anderes Subjekt gemacht wird, wenn sie also mitgeteilt wird. […] Um eine Aussage über ein Objekt vernünftig betrachten zu können, brauchen wir mindestens zwei Subjekte, die miteinander über dieses Objekt kommunizieren.« 23
Karl Jaspers, der als erster Denker der Moderne den Kommunikationsbegriff in das Zentrum (seines) philosophischen Denkens stellt 24, verweist darauf, dass der Erkenntnisprozess »sich allererst im Mitteilungsvollzug und Diskurs mit anderen (im Grenzfall mit sich selbst) bildet und ausweist, also kommunikativ konstituiert.« 25 Auch hier gilt es den Umstand nicht außer Acht zu lassen, dass – je nach Kultur und Epoche – die Bedeutungsgewichtung der beiden Elemente gravierend unterschiedlich sein kann. Wir haben dies mittels Hinweis auf die tendenziell erkenntniszentrierte abendländische Moderne im Unterschied zur kommunikationszentrierten Postmoderne an anderer Stelle (vgl. Kap. III/6) schon skizziert.
d)
Begegnung und Übermittlung
Als letztes diesbezügliches Spannungsverhältnis ist jenes zwischen Begegnung und Übermittlung zu nennen, das wir schon im Kapitel II/2 kennen gelernt haben. Wir sagten: Kommunikation ist stets zugleich das doppelaspektivische Phänomen der Vermittlung (Übertragung) von etwas und der Begegnung (mit jemand). Wer kommunikaPietschmann: Phänomologie der Naturwissenschaft, a. a. O., S. 271. Vgl. dazu an aktueller Literatur: Kiel, Albrecht: Die Sprachphilosophie von Karl Jaspers. Anthropologische Dimensionen der Kommunikation, München 2008; Fiedler, Peter: Der Kommunikationsbegriff bei Karl Jaspers, Norderstedt 2013; Rolf, Thomas; Cesana, Andreas (Hrsg.): Kulturkonflikte und Kommunikation. Cross-Cultural Conflicts and Communication, Zur Aktualität von Jaspers’ Philosophie. Rethinking Jaspers’ Philosophy Today, Würzburg 2013; Lang, David: Grenzsituationen und Kommunikation als conditio humana. Der Mensch bei Karl Jaspers, Saarbrücken 2009; Hügli, Anton; Kaegi, Dominic; Wiehl, Reiner (Hrsg.): Einsamkeit. Kommunikation. Öffentlichkeit. Int. Karl Jaspers-Kongress 2002, Basel 2004. 25 Jaspers, Karl: Von der Wahrheit. Philosophische Logik, Band 1, 3. Auflage, München 1973, S. 370. 23 24
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
tiv begegnet, vermittelt. Wer kommunikativ vermittelt, begegnet. Wie bei den anderen Verhältnissen kann jeweils eine der beiden Elemente im Vordergrund stehen. Dies ist entweder konkret situationsbezogen: wenn ich z. B. eine Amtsperson um eine Auskunft frage, steht für gewöhnlich nicht der Begegnungs-, sondern der Übermittlungsaspekt (von Information) im Vordergrund. Wenn ich mich mit jemand zu einem Rendezvous verabrede, steht umgekehrt nicht der Übermittlungsaspekt im Vordergrund, sondern der Aspekt des personalen Miteinanderseins. Von diesen situationsbedingt-individuellen gilt es kulturspezifisch 26-allgemeine Präferierungen zu unterscheiden. Wenn gegenwärtig der Terminus Kommunikation gebraucht wird, dann meist im Sinne des Übertragungsgeschehens, kaum im Sinne des personalen Mit-Seins. Dies hat – wie wir gesehen haben – vor allem kulturspezifische Gründe: Die meisten kommunikationstheoretischen Modelle der Neuzeit setzen den einzelnen Menschen als »autonomes Subjekt« voraus und tun sich infolgedessen schwer, Gemeinschaft und MitSein theoretisch zu fassen. 27 Gelingende Kommunikation wird – dem entsprechend – beinahe unisono als (im weitesten Sinne) »technisches« Gelingen von Verständigung oder Übermittlung begriffen. Dies ist insofern konsequent, als in einer Kultur wie der abendländischen (Post-)Moderne, die das autonome Subjekt voraussetzt, »die Notwendigkeit gelingender Kommunikation [im Sinne wahren personalen Mit-Seins] nicht begründet werden [kann].« 28 So ist es kein Zufall, dass im Zentrum aktueller kommunikationswissenschaftlicher Forschung weiterhin die (massen-)medial vermittelte Kommunikation steht bzw. zwischenmenschliche Kommunikation vor allem hinsichtlich des Übermittlungsaspekts in den Blick genommen wird. Dabei soll nicht unerwähnt bleiben, dass es auch vermehrt kritische Stimmen gegenüber diesem – primär den Übermittlungsaspekt betonenden – Verständnis von Kommunikation gibt. So merkt etwa Mettler von Meibom zum aktuellen gesellschaftlichen Selbst-Verständnis von Kommunikation an, »daß das gegenwärtige Projekt der Kommunikationsoptimierung nicht sozial oder human orientiert ist, sondern technisch, wirtschaftlich und instruOder epochenspezifische. Vgl. dazu: Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 4 bzw. Hamberger: Interpersonelle Kommunikation, a. a. O., S. 59 f. 28 Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 4. 26 27
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
mentell. Als gelingend oder gelungen wird Kommunikation dann angesehen, wenn sich die Grenzen von Zeit und Raum mittels Technik überwinden lassen und wenn Interessen kommunikativ besser durchgesetzt werden können. Betriebsorganisatoren und Unternehmensberater optimieren die Welt der Apparate und polieren die Mitarbeiter, um sie kommunikativ ›fit‹ für das Unternehmen und seine Kunden zu machen.« 29
4.
Zentrale hierarchische Verhältnisse im Zusammenhang der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation 30
a)
Entwicklung 6¼ Werden
Mit der grundlegenden Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation sind weitere analoge hierarchische Verhältnisse verbunden. Ein erstes bildet die »Ungleichung«: Entwicklung 6¼ Werden. Während Entwicklung für einen notwendigen (Interaktions-)Prozess ohne Verhaltensvariabilität steht, meint Werden ein (Kommunikations-)Geschehen, das sich nicht zwangsläufig vollzieht, sondern das auch unterbleiben und sich gegebenenfalls in einer Fehlgestalt (»Entwerdung«) ausprägen kann. Der Mediziner und Psychotherapeut Viktor Emil von Gebsattel schreibt dazu: »Die Entwicklung ist eine Angelegenheit, die sich automatisch nach impersonellen [Natur-]Gesetzen ereignet. Aber das Werden […] hängt darüber hinaus von uns ab; es hat die Beschaffenheit eines Aktes, der über unsere Existenz oder Nicht-Existenz entscheidet; über unser Teilhaben am Sein oder Nicht-Sein […]« 31.
Werden ist demnach mit Akten der Selbst-Überschreitung verbunden. Unterbleiben diese aus Entscheidung resultierenden, ich-überschreitenden Akte, spricht Gebsattel von »Werdens-Verweigerung«. Aus langjähriger eigener ärztlicher Erfahrung erblickt er darin die Mettler von Meibom, Barbara: Gelingende Kommunikation – Ja, aber was heißt das?, in: Maaßen, Monika; Groll, Thomas; Timmerbrinck, Hermann (Hrsg.): Mensch versteht sich nicht von selbst, Münster 1999, S. 11–22, hier S. 17. 30 Neben den genannten bzw. behandelten sollen folgende weitere im Zusammenhang der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation beachtenswerte hierarchische Verhältnisse zumindest erwähnt werden: Signal 6¼ Botschaft, Nützlichkeit 6¼ Sachlichkeit, (Gesichertes) Wissen 6¼ Erkenntnis. 31 Gebsattel: Imago hominis, a. a. O., S. 16. 29
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Hauptursache für die überwiegende Zahl aller psychischen Störungen. Wörtlich schreibt er dazu: »Ich stelle […] die These auf: Jede Konfliktneurose hat eine Auseinandersetzung der Persönlichkeit mit ihrem Werden zur Voraussetzung und ist Ausdruck einer Werdensstörung […].« 32 Diese werde hervorgerufen »durch angehaltene Entscheidung zwischen zwei Konflikttendenzen, d. h. zwischen einander widersprechenden oder einander ausschließenden personalen Konzeptionen, durch welche Konzeptionen hindurch das Ich um seine Selbstverwirklichung, um seine schöpferische Selbstgestaltung kämpft.« 33
Besondere Bedeutung für unsere Thematik erhält die These dadurch, das Gebsattel das psychische Krankheitsbild der Werdensverweigerung überdies kulturspezifisch verortet, indem er konstatiert, dass »das Auftauchen des wissenschaftlichen Interesses für die Störungen im Gebiet des Werdens, des Zeit- und Raumerlebens in deutlicher Abhängigkeit von dem metaphysischen Evolutionismus in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und in seiner Fortbildung bis in die Gegenwart hinein [steht].« 34
Rothe bemerkt analog: »Das heute in Medien, Politik, Gesellschaft und Wissenschaft herrschende Menschenbild ist ein individuumszentriertes oder ›egomanisches‹ wie Richter (2002) es nennt.« 35 Damit gerät man jedoch in das paradoxe theoretische Dilemma, den Menschen zugleich als selbstbezüglich-autonomes Subjekt und als ein auf den Anderen angewiesenes relationales Individuum begreifen zu müssen. Rothe dazu wörtlich: »Die Tradition […] der Absolutsetzung des Subjekts, die sich im Laufe der abendländischen Geistesgeschichte als die dominierende erwiesen hat, führt jedoch in eine [negative] Aporie, wenn sowohl die eigene Absolutsetzung als auch die Anerkennung durch den Anderen unverzichtbar ist. […] Das absolute Subjekt steckt unausweichlich im Dilemma zwischen seinem Bedürfnis nach Anerkennung durch den anderen und seinem Anspruch auf Absolutheit fest.« 36
Gebsattel: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, a. a. O., S. 131. Gebsattel: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, a. a. O., S. 132. Vgl. dazu auch: Spaemann, Heinrich: Orientierung am Kinde, 9. Aufl., Einsiedeln 1999, S. 16 ff. 34 Gebsattel: ebd., S. 128 f. 35 Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 4. 36 Rothe: ebd., S. 4. 32 33
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Wir haben diese Aporie im H-Modell in Kap. VII/4 dargestellt und wollen sie hier wiederholen: Selbstverwirklichung
Egoismus
Gemeinschaftssinn
H
Altruismus
Abb. 50: H-Schema Selbstverwirklichung / Gemeinschaftssinn
Diese Aporie kann in einer Synthese aufgehoben werden, wenn es gelingt, Egoismus als »Schatten« der Selbstverwirklichung und Altruismus als »Schatten« von Gemeinschaftssinn zu erkennen und beide zu überwinden. Gelingt dies nicht, dann fallen Selbstverwirklichung und Gemeinschaftssinn in ihre Schatten und es kommt zur »Verstrickung« von Egoismus und Altruismus, also zu einem Hinund Herwanken zwischen beiden, wobei die Möglichkeit des »Aufhebens« der Aporie verschwindet. Als gelungene Synthese kann Liebe im Sinne der Agape angesehen werden. In Abwandlung eines Gedankens von Robert Spaemann (vgl. Kap. VII/2) lässt sich formulieren: Wenn wir uns fragen, wo eigentlich die Entscheidung fällt über die Interpretation des Menschen als Werdendem oder als Ent-Werdendem, so scheint die Antwort davon abzuhängen, ob Menschsein primär unter der Vorstellung der Selbsterhaltung oder der Selbsttranszendenz betrachtet wird. Wenn – wie in der Neuzeit – Menschsein (wie alles Leben) als etwas gegenüber der Materie ontologisch Nachrangiges angesehen wird und infolgedessen letztlich nur selbstbezüglich bzw. selbsterhaltend verstanden werden kann, gerät der Mensch als Werdender damit zwangsläufig aus dem Blick (vgl. Kap. V/4c). Denn Werden wohnt – wie oben skizziert – stets das Moment der Selbstüberschreitung, der Selbststeigerung (zum anderen hin) inne. Das heißt in letzter Konsequenz: Der einzelne kann gemäß der Differenzierung von Gebsattel bzw. im Denkrahmen der Moderne – nur als »Ent-Werdender« begriffen werden, da hier sogar – für gewöhnlich – als unbedingt gut Erachtetes wie Wahrheit oder Liebe nicht anders denn erhaltungsdienlich-funktional verstanden werden kann. In diesem Sinne bemerkt Rothe: »[D]as […] heute dominierende individuumszentrierte Menschenbild […] ist wesentlich für die verbreitete Inkongruenz zwischenmenschlicher Kom-
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
munikation und den entsprechenden Folgen verantwortlich. Diese erweist sich in ihrem Kern als ein andauernder Kampf zwischen zwei sich absolut setzenden Subjekten, die ihre eigentliche relationale Verfasstheit leugnen. Das sich autonom setzende Individuum reduziert den anderen [bzw. vice versa] auf bestimmte Funktionen, d. h. auf seine Nützlichkeit.« 37
Kurz: »Die Absolutsetzung [des Ich] macht die Kommunikation unausweichlich inkongruent.« 38 Über diesen Umstand hinwegzutäuschen, dass jeder Versuch, selbsterhaltungsdienlich zu kommunizieren, zugleich Störung bzw. Zerstörung von Kommunikation bedeutet, stellt nach Rothe eines der wesentlichen Ziele der verschiedensten aktuellen Formen von »Kommunikationstraining« dar, »das den Anderen dazu zu bringen versucht, in bestimmter Weise zu kommunizieren [bzw. zu handeln], und das zugleich unbedingt den Eindruck erwecken will, dass es genau dies nicht tut« 39.
b)
Form 6¼ Gestalt
Die nächste »Ungleichung« Form 6¼ Gestalt macht der Physiker Walter Heitler deutlich, wenn er – vorerst – ersichtlich macht, dass die Physik das Phänomen bzw. den Begriff »Gesamtgestalt« nicht kennt; wörtlich führt er dazu aus: »Die Gesetze der Physik wirken ausnahmslos differenziell in Zeit und Raum. Aus den Gegebenheiten zu einer Zeit t0 folgt zunächst nur das Geschehen im unmittelbar folgenden Moment: t0 + dt. [Vgl. Kap. III/3]. Ebenso wirken die Gesetze nur in die unmittelbare räumliche Nachbarschaft. Daraus folgt, daß die Physik den Begriff der ›Gesamtgestalt‹ nicht kennt.« 40
In weiterer Folge zeigt er schließlich beispielhaft die prinzipielle Differenz zwischen Form und Gestalt wie folgt auf: »Halten wir uns […] etwas Lebloses und etwas Lebendiges vor Augen und vergleichen beides. Als Beispiel für etwas Lebloses können wir zum Beispiel wählen: einen beliebigen Stein, einen Sandhaufen […] oder aber einen schönen Kristall. Ganz leblos wäre auch ein vom Menschen gemachter Apparat, ein Voltmeter zum Beispiel, aber dieses hat seine Gestalt und Funk-
37 38 39 40
Rothe: Zwischenmenschliche Kommunikation, a. a. O., S. 5. Rothe: ebd., S. 235. Rothe: ebd., S. 5. Heitler: Naturphilosophische Streifzüge, a. a. O., S. 18.
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
tionsweise vom Menschen erhalten. 41 Und daneben halten wir zum Vergleich irgendeine einfache Pflanze, eine bescheidene Wiesenblume, etwa ein Gänseblümchen. Es besteht offenbar wenig Ähnlichkeit. Aber worin besteht der wesentliche Unterschied? Die Form des Steines ist ziemlich zufällig. Sie hängt davon ab, wie er seit seinem Losbrechen vom Gebirge herumgestoßen wurde. Dasselbe gilt für den Sandhaufen; nur daß die Schwerkraft dafür sorgt, daß er unten breiter ist als oben. Sonst ist die Form zufällig. Der Kristall hat eine streng mathematische und mathematisch beschreibbare Form (Rhomboeder, Würfel usw.), – ein sichtbares Zeichen des in ihm klar zum Ausdruck kommenden physikalischen Gesetzes. Es ist geradezu eine sinnlich wahrnehmbare Verwirklichung der Physik. Demgegenüber hat das Gänseblümchen eine Gestalt. […] Die Blume oder das Köpfchen ist keine einzelne Blüte, sondern besteht aus vielen Blüten. Jedes der vielen kleinen, gelben Kügelchen ist eine Blüte für sich, und jedes der kleinen, radial geschnittenen, weißen ›Blättchen‹ auch. […] Solche Gestalt hat keine Ähnlichkeit mit irgendetwas Leblosem. Die Form des Leblosen ist weitgehend zufällig oder starrer Ausdruck des physikalischen Gesetzes [wie beim Kristall].« 42
Ganz anders beim Lebendigen: Dort ist Gestalt nicht starrer Ausdruck von Naturgesetzlichkeiten oder vom Zufall bestimmt, sondern – wie der bekannte Schweizer Zoologe Adolf Portmann dies formuliert – Ausdruck von Innerlichkeit. Wörtlich schreibt er dazu: »Nachdem Wilhelm Roux 43 die Eigenschaften aufgezählt hat, die nach allgemeiner Ansicht alles Lebendige, Pflanzen wie Tiere, kennzeichnen – Stoffwechsel, Wachstum, Bewegung, Fortpflanzung, Vererbung und Entwicklung –, stellt er fest, es fehle in allen vertrauteren Definitionen etwas schwer Faßbares: Die ›Innerlichkeit‹ der Lebewesen […]. Mit Nachdruck betont er, daß alle die erwähnten Funktionen sich auszeichnen als Leistungen einer uns verborgenen Realität, einer Selbsttätigkeit – daß jeder dieser organischen Leistungen im Grunde die Vorsilbe ›Selbst‹ zukomme […].« 44 Deshalb kann es – in Abgrenzung zur Natur-Gestalt des Lebendigen – als KulturGestalt bezeichnet werden. 42 Heitler, Walter: Die Natur und das Göttliche, 4. Aufl., Zug 1977, S. 47 f. 43 Wilhelm Roux (1850–1924), dt. Anatom und Embryologe, Portmanns diesbezüglicher Impulsgeber und Anreger. Konkret bezieht sich Portmann hier auf eine Zusammenfassung Roux’ aus dem Jahre 1915, erschienen in Kultur der Gegenwart, in der er Das Wesen des Lebens zu kennzeichnen sucht. 44 Portmann, Adolf: An den Grenzen des Wissens. Vom Beitrag der Biologie zu einem neuen Weltbild, Wien – Düsseldorf 1974, S. 140. Dazu führt er folgendes bemerkenswerte Beispiel an: »Seit Jahrzehnten ist es bekannt, in immer neuen Varianten überprüft und erweitert: Es ist die Teilung eines Strudelwurms, […]. Der experimentierende Biologe teilt diesen Wurm quer, in zwei Teile. […] Jedes der beiden Teilstücke 41
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
In diesem Sinne plädiert Hans Schneider für die Relativierung des technomorphen Zugangs in den Biowissenschaften und dessen Ergänzung durch einen biomorphen Blick. Bei ersterem handle es sich um die unberechtigte Universalisierung einer Möglichkeit, Wirklichkeit zu erkennen. Wörtlich schreibt er diesbezüglich: »Mein Hauptpunkt ist […] die These, dass es keine wissenschaftstheoretischen Gründe gibt, den technomorphen Blick und die technisch-manipulative Art der Erfahrung als die einzig wissenschaftlich zulässigen Zugangsweisen auszuzeichnen. Mir scheint vielmehr, dass es lohnend wäre, eine bewusste biomorphe Sprache auf wissenschaftstheoretisch reflektierte Weise zu entwickeln, statt inoffizielle und unreflektierte Anthropomorphismen wie die Rede vom ›egoistischen Gen‹, den ›Taten‹ des Gehirns oder ›der Evolution‹ als eines Akteurs der Naturgeschichte ins Kraut schießen zu lassen.« 45
c)
Komplexität 6¼ Kontextualität
Vielfach ist die Rede von der Schwierigkeit, das Gesamtverhalten eines Phänomens nicht eindeutig beschreiben zu können, da es zu »komplex« sei. Die Verwendung der Termini komplex oder Komplexität 46 beschränkt sich dabei nicht nur auf materiale, sondern ebenso auf lebendige sowie geistige Entitäten. Diesbezüglich erscheint uns die prinzipielle Differenzierung angezeigt, ob – wie im Fall materialer formt sich zu einem Ganzen. […] An der Schnittfläche des hinteren Teilstücks formt sich eine Zellmasse von embryonalem Charakter, welche bald die Gestalt des fehlenden Kopfgebietes annimmt und ein völlig neues Gehirn sowie zwei neue Augen und andere Sinnesorgane des vorderen Pols ausbildet. Darf ich einen Augenblick dieses Geschehen schulmeisterlich in einem Satz darlegen? Die hintere Hälfte baut – sich selbst – ein neues Gehirn auf. Ich möchte, daß wir einen Augenblick das Gewicht zweier Worte bedenken, die wir so leichthin aussprechen: ›sich‹ und ›selbst‹. Das ganze Rätsel oder das tiefe Geheimnis der lebendigen Gestalt ist damit ausgesprochen, ob wir nun vom Strudelwurm berichten oder von unserem Menschensein.« (Portmann: ebd., S. 238). 45 Schneider, Hans J.: Erfahrung und Erlebnis. Ein Plädoyer für die Legitimität interaktiver Erfahrungen in den Naturwissenschaften, in: Esterbauer, Reinhold; Pernkopf, Elisabeth; Schönhart, Mario (Hrsg.): Spiel mit der Wirklichkeit. Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften, Würzburg 2004, S. 231–248, hier S. 245 f. 46 Der Begriff leitet sich her vom Lateinischen complexum mit dem Partizip Perfekt complecti, »umschlingen«, »umfassen«, »zusammenfassen«. Dabei handelt es sich um einen zusammengesetzten Begriff aus der Präposition cum, »mit«, »zusammen mit« und dem Verb plectere, »(ver)flechten«, »ineinander fügen«, »verweben«.
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Phänomene – die bedingte Beschreibungsmöglichkeit allein aus der Vielfalt und Vielzahl an Einflussfaktoren, Eigenschaften (darüber hinaus womöglich parallel ablaufender) physiko-chemischer Interaktionen resultiert, oder – wie im Falle lebendiger und geistiger Phänomene – (zudem) bedingt ist durch die transkausale Kommunikations-Struktur des Lebendigen/Geistigen. Mit der im Titel genannten Ungleichung Komplexität 6¼ Kontextualität soll auf diesen zentralen Unterschied hingewiesen werden. In Abgrenzung zu komplexen physiko-chemischen InteraktionsZusammenhängen (ohne Möglichkeit zu Verhaltensvariabilität) soll ein vielfältig verflochtener Zusammenhang miteinander verbundener Entitäten darüber hinaus als Kontext 47 bzw. Kontextualität bezeichnet werden, wenn dieser Zusammenhang von »jemand« als solcher wahrgenommen (und damit interpretiert) werden kann. 48 Während Komplexität also die Eigenschaft eines materialen Gesamt beschreibt, dessen Gesamtverhalten sich dann eindeutig beschreiben lässt, wenn vollständige Informationen über die vielfältig verbundenen Einzelkomponenten und ihre Interaktionen vorliegen (vgl. Kap. III/3), meint Kontextualität im Unterschied dazu bzw. darüber hinaus einerseits die nicht eindeutige Beschreibbarkeit (und damit Vorhersagbarkeit) eines Verhaltens/Agierens lebendiger/geistiger Entitäten auf Grund der damit einhergehenden Verhaltensvariabilität, andererseits die Fähigkeit/Notwendigkeit lebendiger/ geistiger Entitäten, Situationen/Geschehen interpretieren zu können, ja irgendwie deuten zu müssen. So ist (je)der Mensch jederzeit zum einen in der Lage, zum anderen genötigt, jenen unmittelbaren Lebens-Kontext, in dem er sich gerade befindet, vor dem Hintergrund des (Seins-)Ganzen zu deuten bzw. zu interpretieren. Menschliche Erkenntnis ist in diesem Sinne stets humankontextuelle Erkenntnis 49 (vgl. auch Kap. VII/3). Von Contextus (lat.), »enge Verknüpfung«, »Zusammenhang«; mit den Verben contexere: »eng verknüpfen« und textere: »weben«, »flechten«, »zusammenfügen«; vgl. dazu auch das lat. textus: »Gewebe«; spätlateinisch textus: »Inhalt«, »Text«. 48 Beispiele wären etwa der materielle Zusammenhang von Energiezufuhr und der Funktion technischer Geräte, der Bedeutungs-Zusammenhang von Begriffen und Aussagen im Rahmen einer Theorie oder der emotionale Zusammenhang/-halt im Rahmen einer sozialen Gruppe. So sind relevante Verständnisse menschlicher Handlungen vielfach bedingt durch situative, familiäre, gesellschaftliche, kulturgeschichtliche, kommunikative und andere Kontexte. Selbst wissenschaftliche Werke werden vielfach erst »lesbar« durch deren Einbettung in den jeweiligen Erkenntnis-Kontext. 49 Im Hinblick des Umstandes, dass der – sich selbst und damit der Frage nach dem 47
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Voll bewusst wird dies dem einzelnen freilich oft erst dann, wenn er sich für einen bestimmten Sachverhalt näher interessiert und mit der Zunahme des Interesses sowie des vermehrten Wissens darüber dessen vielfältige, ja unentwirrbar scheinende Verflochtenheit realisiert; etwa – um ein Beispiel zu geben – wenn wir an das hochkontextuelle Geistesgeschichtsereignis der Genese des 1. Weltkriegs denken. Oder wenn eine Zellbiologin darangeht, ein umfassendes »kontextuelles« Bild von einem bestimmten biowissenschaftlichen Sachverhalt zu gewinnen, sagen wir hinsichtlich des Phänomens der Signaltransduktion, der Übermittlung von Signalen und Botschaften in und zwischen lebendigen Entitäten, etwa Zellen, Geweben und Organen. Gerade anhand dieses Exempels wird eine weitere Differenzierungsnotwendigkeit deutlich; nämlich jene zwischen der »kontextuellen« Erkenntnis der Biologin von einem lebendigen Zusammenhang und der eigenen »biokontextuellen« Erkenntnis der – bleiben wir bei dem Beispiel – untersuchten lebendigen Entität. Denn auch diese (re)agiert – unter Voraussetzung von Verhaltensvariabilität – (bio-)kontextuell, das heißt je nach von ihr wahrgenommenem (und damit interpretiertem) Um-Weltkontext. 50 Gerade diesen Umstand der »Biokontextualität« zu berücksichtigen, bildet unseres Erachtens eine der erkenntnistheoretischen Hauptherausforderungen der aktuellen lebenswissenschaftlichen Forschung. In diese Richtung weist auch der folgende Hinweis Portmanns: Wer Messungen bzw. Quantifikationen im Kontext des Lebendigen durchführe, habe zu »beachten, daß in dieser Messung auch das ›Selbst‹ zum Ausdruck kommt, und daß der messende Versuch nur ein Weg zum Einblick in eine verborgene Wirklichkeit ist.« 51 Vor dieser Herausforderung steht insbesondere eine Medizin, die das Verständnis von Gesundheit auf Messwerten aufbaut.
Ganzen bewusste – Mensch stets auf »Welt« bezogen ist, können wir von »humanspezifischer Weltkontextualität« sprechen. 50 Ausgezeichnete Beispiele hierfür liefert Günther Witzany im Zusammenhang der sogenannten Bienensprache; vgl. Witzany: Natur der Sprache. Sprache der Natur, a. a. O., S. 51–60. 51 Portmann: An den Grenzen des Wissens, a. a. O., S. 140.
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
d)
Kausalität 6¼ Transkausalität
Die Differenz liegt im Umstand begründet, dass Kausalität hier für eine notwendige Ablaufsfolge (ohne Möglichkeit der Verhaltensvariabiliät) steht, während Trans-Kausalität den Sachverhalt hervorhebt, dass Lebendiges bzw. Geistiges stets als mit Freiheitspotenzial ausgestattet gedacht wird, d. h. das Schema linearer Kausalität prinziell übersteigt. 52 Durch diese Differenzierung wird jene Extremgestalt von Rationalität, die Chesterton mit dem Aphorismus »Verrückt ist der, der alles verloren hat, außer seinen Verstand« 53 pointiert geradezu als »Geisteskrankheit der Moderne« beschreibt, prinzipiell relativiert und damit in konstruktive Beziehung zu anderen Weisen menschlicher Erkenntnis gesetzt. Darauf verweist auch Friedrich Weinreb, wenn er in seinem Werk Traumleben 54 hervorhebt, dass die Moderne gekennzeichnet sei durch die Vorherrschaft des Kausalen, im Denken wie im Handeln, wodurch das Leben zu einer »zweckhaften Sachzwangsjacke« werde und für das Transkausale (Überrationale) kein Platz mehr sei. Vilem Flusser hat dieses transkausale Element ins Zentrum seiner theoretischen Reflexionen über Kommunikation gestellt. In seiner Schrift Kommunikologie (1998) hebt er menschliche Kommunikation prinzipiell von natürlichen bzw. naturgesetzlichen Vorgängen ab. Der zentrale Aspekt menschlicher Kommunikation liege darin, dass menschliches In-Beziehung-Treten – im Unterschied zu allen naturgesetzlich-kausalen Abläufen, die zwangsläufig der Entropie 55 unterworfen sind – charakterisiert sei durch negative Entropie (also durch eine Zunahme an Ordnung). Insofern trage menschliche Kommunikation übernaturgesetzliche, eben trans-kausale Züge 56, weil diese stets mit Absicht (Intentionalität) erfolge, die auf Freiheit und Ordnungsgewinn basiere. Ursache-Wirkungs-Relationen würden dabei keineswegs negiert, sondern bloß relativiert. Dazu führt Flusser das folgende prägnante Beispiel an: »Wenn ich mit Kreide schreibe,
Vgl. Hamberger: Interpersonelle Kommunikation, a. a. O., S. 61 f. Vgl. sein Buch Orthodoxie, Frankfurt/Main 2000. 54 Weinreb, Friedrich: Traumleben. Überlieferte Traumdeutung, München 1979. 55 Damit ist der Sachverhalt gemeint, dass in abgeschlossenen abiotischen Systemen Übergänge stets von geordneten zu weniger geordneten Zuständen erfolgen. 56 Vgl. Flusser, Vilem: Kommunikologie, Stuttgart 1998, S. 255. 52 53
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
unterliegt der materielle Prozess der Entropie, während der damit unterstützte ›Kommunikationsprozess‹ an Ordnung gewinnt.« 57 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz beschreibt Kommunikation ebenfalls als trans-kausales Ereignis (vgl. Kap. VI/2d). Dass dies sowohl in positiver wie in negativer Konnotation der Fall ist, zeigt die Religionsphilosophin anhand des Falls der Berliner Mauer am 9. November 1989 und des Zusammenstürzens der Twin Towers in New York am 11. September 2001, sowie in weiterer Folge ihres bemerkenswerten Artikels Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive (2007) mit Hilfe dreier französischer Philosophen der sogenannten Postmoderne: Jean-François Lyotard, Jean-Luc Marion und Jaques Derrida. »Das [Kommunikations-] Ereignis« – so Gerl-Falkovitz, vorerst Lyotards 58 Konzeption der erkenntnistheoretischen Unverfügbarkeit kommunikativen Geschehens erläuternd – »als Ereignis sei philosophisch nicht systematisierbar, es bleibe unbestimmt im Sinne des Undarstellbaren. Das zeigt eine Weigerung an, überall ›vernünftige‹ Zusammenhänge zu setzen – und Lyotard ist ein entschiedener Gegner von Habermas’ vernünftigem Diskurs.« 59
Dass Lyotard dabei nicht einem billigen Irrationalismus das Wort redet, wird deutlich, wenn wir uns etwas näher mit dem – oben erwähnten – Undarstellbaren beschäftigen, das er – im Anschluss an Kants Schrift Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen – das Sublime nennt. 60 Im (transkausalen) Kommunikations-Ereignis zeige sich dieses Erhabene/Sublime als etwas, das rationaler Ein-Ordnung grundsätzlich entzogen sei, 61 als das prinzipiell Un-Erdenkliche, Un-VorFlusser: ebd., S. 253. Bekanntlich ist Erwin Schrödinger in seinem weithin wahrgenommenen Buch What is life? The Physical Aspect of the Living Cell (Cambridge 1944; dt. 2. Aufl. 1951) zu ähnlichen Gedanken bezüglich des Lebendigen gekommen und hat im »Anti-Entropischen« das eigentlich charakteristische Element alles Lebendigen erblickt. 58 Jean-François Lyotard (1924–1998), frz. Philosoph, der mit seinem Essay La condition postmoderne, Paris 1979, dt. Das postmoderne Wissen (1982), die Geistesströmung der sogenannten Postmoderne auslöste. 59 Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara: Sehnsucht nach Mehr. Überlegungen zur »Besseren Hoffnng«, in: Steffensky, Fulbert (Hrsg.): Große Schwester Hoffnung. Über Niederlagen und Gelingen, Münster 2004, S. 7–48, hier S. 14. 60 Vgl. dazu; Lyotard, Jean-François: Leçons sur l’analytique du sublime, Paris 1991, dt. 1994. 61 In diesem Zusammenhang kann auch auf Friedrich Schillers Bemerkung an die Naturforscher verwiesen werden:»Schwatzet mir nicht so viel von Nebelflecken und Sonnen. Ist die Natur nur groß, weil sie zu zählen Euch gibt? Euer Gegenstand ist der 57
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
hersehbare, Un-Erfassliche. Lyotard dazu wörtlich: »Das Sublime ist jenes einbrechend Neue, Unvorhergesehene, jene Wirklichkeit, die sich plötzlich unseres Denkens und unserer Kategorien bemächtigt.« 62 Mit anderen Worten: Lyotard gelangt – wie oben schon kurz erwähnt – als (Gründungs-)Philosoph der Post-Moderne dort an, wo die federführenden Vertreter der Quantentheorie nach mühsamem – ein gutes Vierteljahrhundert währendem – Ringen Ende der 1920er Jahre angelangt waren: bei der prinzipiellen erkenntnistheoretischen Unanschaulichkeit quantenphysikalischer Phänomene. Oder, nochmals anders ausgedrückt: Lyotard (an)erkennt eine sowohl ursprüngliche wie letztliche (Er)Fassungslosigkeit gegenüber transkausalen Phänomenen kommunikativer Wirklichkeit. Bemerkenswerter Weise findet sich ein Hinweis auf die transkausale Struktur menschlichen Handelns bzw. Kommunizierens bereits in Adalbert Stifters Roman Witiko. Dort fragt die Titelfigur das ihm zufällig begegnende Mädchen Bertha, warum sie Rosen trage. Daraufhin entspinnt sich folgender Dialog: Bertha: »Ich trage die Rosen, weil ich will.« Witiko: »Und warum willst du denn?« Bertha: »Für den Willen gibt es keine Ursache.« Witiko: »Wenn man vernünftig ist, gibt es für den Willen immer eine Ursache.« Bertha: »Das ist nicht wahr, denn es gibt auch Eingebungen.« 63
Jean-Luc Marion rückt – wie wir gesehen haben (vgl. Kap. VI/2d) – die dialogische Struktur transkausaler Kommunikationsvollzüge in den Mittelpunkt, indem er vom Sinnereignis als dem Einbruch des erhabenste freilich im Raume; Aber, Freunde, im Raum wohnt das Erhabene nicht.« (Schiller, Friedrich: An die Astronomen, in: Schillers sämtliche Werke, Bd. 1, Leipzig 1912, S. 268). 62 Lyotard, Jean-François: Streifzüge. Gesetz, Form, Ereignis, Wien 1989, S. 81. Mit den Worten von Gerl-Falkovitz: »[I]m Erhabenen [Akt der Kommunikation] ist laut Lyotard eine ›Monstrosität‹, eine Un-Form oder Formlosigkeit [vielleicht besser: Über-Gestalthaftigkeit], die sich dem Denken formal entzieht. Das Denken kann nachträglich daran arbeiten; aber es kann nicht daran arbeiten, solange es währt. Wenn die Vernunft Form schafft – Überblick, argumentative kausale Bezüge –, dann wird sich das Erhabene so monströs gegen eine Verarbeitung sperren (monströs im Sinne von ›monstrare‹ = sich selber zeigend), dass es vom Verstand nur fassungslos wahrgenommen werden kann.« (Gerl-Falkovitz: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, a. a. O., S. 205) 63 Stifter, Adalbert: Witiko, Köln, o. J. (um 1959), S. 21.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Unerwarteten, des sowohl positiv wie negativ Verstörenden spricht. Jaques Derrida, ein weiterer Vertreter der französischen Postmoderne, macht schließlich die transkausale Struktur von Kommunikation ersichtlich, indem er das »transökonomische« Element menschlicher Sozietät thematisiert. Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bildet dabei der Mensch als soziales Wesen, als zoon politikon, wie Aristoteles ihn (auch) kennzeichnet; 64 als jemand, der unabdingbar auf den anderen verwiesen bzw. angewiesen ist. Vor diesem Hintergrund entwickelte Georg Simmel (1858– 1918) um 1900 seine Philosophie des Geldes (vgl. Kap. VI/2). Sein Ausgangspunkt ist dabei das Phänomen des Tausches; genauer: der Tausch als soziale Form, ja als die soziale Form (der Wechselwirkung zwischen Individuen) schlechthin, die den verschiedensten Inhalten offen steht. 65 Nach Simmel ist jede zwischenmenschliche Kommunikation als Tausch analysierbar. »Der Tausch« – so der Lebensphilosoph geradezu formelhaft – »ist die Sachwerdung der Wechselwirkung zwischen Menschen.« 66 Demzufolge erblickt Simmel in der kommunikativen Wechselwirkung das eigentliche metyphysische Grundprinzip allen Seins bzw. im Tausch dessen reinsten Ausdruck. In diesem Sinne schreibt Rammstedt: »Der sich im Tausch herausbildende Wert, der wirtschaftliche Wert, geht Simmel daher einer ›Weltformel‹ parallel. Und das Geld ist sein Gipfel und sein reinster Ausdruck.« 67 Simmels Philosophie des Geldes erscheint in Frankreich erst 1988 und erregt dort sofort große Aufmerksamkeit. Dabei werden auch Grenzen der Simmel’schen Konzeption deutlich gemacht. Insbesondere wird das Problem erkannt, dass im Falle der Absolutsetzung ich-immanenten Tausch-Geschehens das Wozu von Kommunikation abhanden zu kommen droht, indem die intentionalen Strebungsziele ihren motivierenden Charakter verlieren und es so zu einem »Ende der Wechselwirkung« kommt. 68 Neben seiner Bestimmung des Menschen als zoon logon echon, als Vernunftwesen (vgl. dazu Löwith: Mensch und Geschichte, in: ders.: Gesammelte Abhandlungen, a. a. O., S. 152–178.) 65 Vgl. dazu Rammstedt: Geld und Gesellschaft in der »Philosophie des Geldes«, a. a. O., bzw. Hamberger: Kommunikation und Komplementarität, a. a. O., S. 218–265; insb. S. 236 ff. 66 Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur, a. a. O., S. 662. 67 Rammstedt: Geld und Gesellschaft in der »Philosophie des Geldes«, a. a. O., S. 20. 68 Vgl. Haesler, Aldo J.: Das Ende der Wechselwirkung – Prolegomena einer Philosophie des (unsichtbaren) Geldes, in: Kintzelé/Schneider: Georg Simmels Philosophie des Geldes, a. a. O. 64
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Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Genau an dieser Stelle setzt nun Derridas Gedanke an: Um Fehlgestalten von Tausch als solche ersichtlich machen zu können, sei es unabdingbar, neben dem utilitären Geben und Nehmen die reine »zweckfreie Gabe« zu denken. »Nur weil wir die reine Gabe denken (müssen [bzw. können]) – bemerkt Gerl-Falkovitz, Derridas Ansatz kommentierend – »wird daran die Unvollkommenheit der Tausch-Kultur erkennbar, genauerhin die Kultur überhaupt, die grundsätzlich auf Tausch, nicht aber auf dem vorbehaltlosen Geben aufruht.« 69
Vor diesem Hintergrund erörtert Derrida 70 im Rückblick auf das totalitär-mörderische 20. Jahrhundert die Frage der Möglichkeit eines »gänzlichen Vergebens«. In Analogie zur Notwendigkeit der »reinen Gabe« spricht Derrida dabei »von der Notwendigkeit eines reinen pardon, von der denknotwendigen Absolution von Schuld, und zwar ausdrücklich im Blick auf eine nicht konditionierte, nicht durch Gegenleistung ausgelöste Vergebung.« 71 Auch Vergebung, wahres Verzeihen, trage demzufolge – notwendigerweise – transutilitaristische Züge, ja müsse gehen bis zur Verzeihung des Unverzeihlichen. Damit macht Derrida ein weiteres aporetisches Element von Kommunikation deutlich. Wörtlich bemerkt er dazu: »Man muß von der Tatsache ausgehen, daß es, nun ja, Unverzeihliches gibt. Ist es nicht eigentlich das Einzige, was es zu verzeihen gibt? Das einzige, was nach Verzeihung ruft? Wenn man nur bereit wäre zu verzeihen, was verzeihbar scheint, […] dann würde sich die Idee der Vergebung verflüchtigen. Wenn es etwas zu verzeihen gibt, dann wäre es das […] Schlimmste, das unverzeihliche Verbrechen oder Unrecht. Daher die Aporie, die man in ihrer trockenen und unerbittlichen, gnadenlosen Formalität folgendermaßen formulieren kann: Das Vergeben verzeiht nur das Unverzeihbare. Man kann oder sollte nur dort vergeben, es gibt nur Vergebung – wenn es sie denn gibt – wo es Unverzeihliches gibt. Was soviel bedeutet, daß das Vergeben sich als gerade Unmögliches ankündigen muß. Es kann nur möglich werden, wenn es das Un-Mögliche tut. […] Was wäre das für eine Verzeihung, die nur dem Verzeihbaren verziehe?« 72
69 Gerl-Falkovitz: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, a. a. O., S. 208. 70 Insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Werk Pardonner? von Vladimir Jankelevitch (1971, dt. 2003). 71 Gerl-Falkovitz: Säkularisierung und Religion in anthropologischer Perspektive, a. a. O., S. 209. 72 Derrida, Jaques; Wieviorka, Michel: Jahrhundert der Vergebung, in: Lettre interna-
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Dabei sollte die Frage nicht außer Acht gelassen werden, ob – vice versa – nicht auch »reines« transutilitaristisch-zweckfreies Wegnehmen/Zerstören angenommen werden muss, um der Dimension des Bösen gerecht zu werden. Hengstenberg nimmt diese Dimension in den Blick, wenn er in seinem Werk Philosophische Anthropologie schreibt: »Der Haß bringt dem Hassenden nicht den geringsten Nutzen, im Gegenteil, er schadet ihm. Der Haß ist zweckfrei, über allen utilitären Erwägungen stehend. Solange sich noch ›Gründe‹ für den Haß angeben lassen (etwa Schädigung durch den anderen), ist es nicht der letzte und tiefste Haß. Der tiefste ist der, der sich am Sein des Du um dessen selbst willen entzündet. […] Es gibt ein Sprichwort, das mit Treffsicherheit eine zynische Wahrheit ausspricht: ›Schadenfreude ist die reinste Freude‹. ›Rein‹ ist sie, weil sie rein von aller utilitären Berechnung ist. Das ist das Phänomen der ›reinen Bosheit‹ (womit nicht gesagt ist, Schadenfreude sei die größtmögliche der Bosheiten).« 73
Vor diesem Hintergrund scheint das nachfolgende Zitat von Baecker von geradezu paradigmatischer Bedeutung: »Gemessen an seiner Intention und Intuition tritt der Kommunikationsbegriff im 20. Jahrhundert die Nachfolge des Kausalitätsbegriffs des 19. Jahrhunderts an.« 74 Mit dieser Aussage will Baecker offenkundig zum Ausdruck bringen: Das Phänomen Kommunikation trägt – seiner grundsätzlichen Struktur nach – transkausale Züge.
tional 48 (2000), S. 10–18, hier S. 11 f. Der Kommunikationswissenschaftler unter den Autoren hat in seiner Dissertation den analogen Gedanken entfaltet, dass wahre (zwischenmenschliche) Kommunikation (vom Menschen aus) unmöglich ist, jedoch als Vorbild unabdingbar (vgl. Hamberger: Die Achsendrehung der menschlichen Kommunikation, a. a. O., Kap. III/3: Wesensgemäß-menschliche Kommunikation als zugleich über-menschliche Kommunikation, S. 106 f.) 73 Hengstenberg: Philosophische Anthropologie, a. a. O., S. 34 f. Vgl. zur Thematik der zweckfreien bösen Tat auch die Kurzgeschichte The Black Cat von Edgar Allen Poe. 74 Baecker, Dirk: Kommunikation, Stuttgart 2005, S. 98.
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Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
5.
Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation für die modernen Biowissenschaften
Interaktion
Biokommunikation Humankommunikation
Abb. 51: Hierarchie Humankommunikation/Biokommunikation/Interaktion
Biowissenschaft steht unter dem Dilemma, einerseits an der physikalischen Methode orientiert zu sein, andererseits das Leben zum Gegenstand zu haben, das mittels der physikalischen Methode, die sich auf Materie beschränkt, nicht erfasst werden kann. Allerdings haben wir gezeigt, dass die Quantenphysik – die sich selbstverständlich auch auf die Beschreibung der Materie beschränkt – den mechanistischen Denkrahmen überschreiten musste. Hier wollen wir den Versuch wagen, auszuloten, ob sich daraus ein Weg ergeben kann, naturwissenschaftliche Methoden so zu erweitern, dass auch über bloße Interaktion hinaus gesicherte Ergebnisse erarbeitet werden können. Betrachten wir dazu die wesentlichen Elemente naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Zentral ist dabei die Verbindung von Theorie und Experiment, wobei die Theorie Voraussagen über den Ausgang eines Experimentes machen muss, die vom Experiment entweder bestätigt oder falsifiziert werden. Verboten ist dabei jede Voraussage der Theorie, die sowohl ein bestimmtes Ergebnis (a) als auch das kontradiktorische Ergebnis (non-a) zulässt. Eine solche Aussage gilt nicht als falsifizierbare Voraussage der Theorie. 333 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Betrachten wir dazu das Doppelspalt-Experiment, das die grundlegenden Aporien der Quantenphysik deutlich macht. Zur Erinnerung: Wenn eine Welle (z. B. Licht) durch den Doppelspalt gesendet wird, erscheint dahinter auf einem Schirm ein Streifenbild (so genannte Interferenz), also abwechselnd dunkle und helle Streifen. Wenn Teilchen (z. B. Licht) durch den Doppelspalt gesendet werden, gibt es keine Interferenzstreifen, sondern das Schattenbild des Doppelspaltes (also zwei helle Streifen und Dunkelheit überall sonst). Dieser offensichtliche Widerspruch wird in der Quantenphysik aufgelöst durch die Tatsache, dass Teilchen auf diskreten Bahnen laufen, während Wellen immer ausgedehnte Phänomene sind. Also kommt es zu einer »Vorhersage der zweiten Art«: Wenn festgestellt werden kann, welcher Weg zum Schirm führt (d. h. durch welchen Spalt die Objekte gelaufen sind), dann gibt es keine Interferenz, wenn diese Feststellung prinzipiell unmöglich ist, dann gibt es Interferenz. In der Quantenmechanik ist diese – gewiss sonderbar erscheinende Tatsache – eine mittlerweile selbstverständliche Erscheinung. 75 Versuchen wir, sie zu einer allgemeinen Methode zu erweitern. 76 Wenn Experiment A entweder zum Ergebnis a oder non-a führt, ist dies nicht falsifizierbar. Erst wenn eine Korrelation mit einem anderen Experiment (oder einer Beobachtung) besteht, also Exp. A führt zu a, wenn Exp. B zu b führt Exp. A führt zu non-a, wenn Exp. B zu c führt
ist die Theorie falsifizierbar. (Das Ergebnis c braucht dabei nicht nonb zu sein, es sollte aber mit b keinen überlappenden Bereich haben.)
a)
Biokommunikation: Experimentelle Ansätze (Jörg von Hagen)
Die Biowissenschaften haben sich seit der Aufklärung der DNA– Struktur durch Watson und Crick in Wellen rasant weiterentwickelt. Auf die Ära Enzymcharakterisierung folgte Genomics, Proteomics, Metabolomics 77 bis zur derzeitigen systembiologischen Forschung. Die Epochen der unterschiedlichen oben erwähnten methodischen Z. B. Pietschmann: Quantenmechanik verstehen, a. a. O., Kap. 5.1. Siehe Pietschmann, Herbert: Science beyond science, in: Old and new questions in physics, cosmology, philosophy and theor. biology, hrsg. von Alwyn van der Merwe, Plenum Press, New York 1983, S. 753–763. 77 Untersuchung von Stoffwechselprodukten. 75 76
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Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Forschungsrichtungen wurden jeweils begleitet von der Interpretation der Daten in linear-mechanistischen Signalweiterleitungswegen, die die Basis des derzeitigen Denkrahmens der Zellbiologie hinsichtlich Signaltransduktionsforschung darstellt. Eine komplexe Untersuchung erweist sich aus folgenden Gründen in der Zellbiologie gegenwärtig als Herausforderung: In komplexen Proben geht die Information des Ortes/Organelle oftmals verloren, abgesehen von Entwicklungen der letzten Jahre mittels Immunzytodiagnostik und live cell imaging. 78 Des Weiteren stehen über die verwendenden Probenmaterialien teilweise Informationen zu Vorgeschichte und Besonderheiten nicht zur Verfügung. So sind für eine präzise Einordnung der Signalantwort in Zellen Kontexte wie z. B. Alter, Ethnologie, Historie in Bezug auf z. B. Ernährung, Stress (UV-Belastung, radioaktive Strahlung) und Medikation nicht erfasst bzw. verfügbar. Durch die Zusammenführung der verschiedenen im Wesentlichen auf Unterschieden der Makromoleküle beruhenden Ansätze in der Systembiologie wird versucht, die Daten in einem erweiterten linear-kausalen bioinformatorisch auswertbaren Schema zu betrachten. Im Rahmen des skizzierten Biokommunikationsansatzes (vgl. Kap. III/5) wird hingegen zwischen Interaktion (physiko-chemischer Ablauf ohne »Freiheitsgrade« 79 bzw. Verhaltensvariabilität) und Kommunikation (Beziehungsgeschehen mit »Freiheitsgraden«) differenziert. Dem entsprechend kommuniziert eine lebendige Entität mittels physiko-chemischer Interaktionen je nach spezifischem Kontext. Insofern kann das, was in der biowissenschaftlichen Forschung gegenwärtig als »Kontextualität« bezeichnet wird: die Testung verwendeter biologischer Proben, z. B. Zellen oder Gewebe unter definierten Bedingungen – wobei die Historie der verwendeten Materialien oftmals außer Acht gelassen wird –, lediglich mit dem Begriff »Pseudo-Kontextualität« umschrieben werden. Damit wurde eine teilweise Korrelation zur möglichen Funktion – die eine Funktion des Ortes innerhalb der Zelle darstellt – ersichtlich, wenn beispielhaft die Aktivierung von kerngängigen Transkriptionsaktivatoren (z. B. die STAT-Proteinfamilie) betrachtet wird, die konstitutiv im Zytoplasma an der Innenseite der Zellmembran vorliegen und durch eine Rezeptorsignalweiterleitung aktiviert werden, durch Ankopplung eines Phosphatrestes an definierten Aminosäuren des Proteins. Dieses führt zur Dimerisierung und anschließend zu Translokation in den Zellkern. 79 »Freiheitsgrade« (Verhaltensvariabilitäten) stellen die Möglichkeiten von Zellen/ Zellverbänden/Organen etc. dar, Signale zu interpretieren und – in bestimmtem Rahmen – frei wählbare Aktionsmöglichkeiten zu besitzen. 78
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Es sollte in Betracht gezogen werden, dass es nicht unbedingt eine singuläre Quelle für die diversen Signale geben muss, sondern eine Zelle simultan Signale von z. B. Nachbarzellen sowie neuronale Reize oder hormonelle Stimuli empfangen kann. Diese können parallel zellfernen Regionen wie Rückenmark, Gehirn oder Nachbarzelle entstammen. Im Rahmen des Biokommunikationsansatzes kann eine Interpretation erfolgen, welche die verschiedenen Signale kontextualisiert und das Verhalten einer Zelle aus dieser Gesamtbotschaft ableitet. Die Kontextualisierung erfordert – wie oben erwähnt – die Anerkennung, dass einer Zelle Freiheitsgrade (Verhaltensvariabilität) zuerkannt werden müssen. Der Biokommunikationsansatz könnte den Denkrahmen insofern erweitern, als neben der linear-mechanistischen Weitergabe von Signalen (worauf die gegenwärtige Transduktionsforschung primär fokussiert ist) die (mit Hilfe der Signale übermittelte) übergeordnete Zell-Botschaft analog zu folgendem Modell von Shannon und Weaver 80 interpretiert werden kann. Komplexität
Kontextualität Transmitter (Emergenz)
Botschaft
Signal B
Empfänger
Quelle(n)
Signal A
Signal C
Abb. 52: Signaltransduktionsmodell – Adaptiert nach Shannon und Weaver. Es findet eine Differenzierung von Signal und Botschaft statt. Quelle kann unterschiedlicher Herkunft sein. Transmitter stellen Kanäle und Rezeptoren auf Ebene der Zelloberfläche dar. Empfänger ist die Zielzelle, die parallel die Signale verarbeitet und kontextualisiert. Blau primär technisches Übertragungsmodell, gelb »personales« Verständigungsmodell. Quelle modifiziert nach Shannon und Weaver. 80 Shannon, Claude E.; Weaver, Warren: The Mathematical Theory of Communication, Univ. of Illinois Press, Urbana 1964.
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Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Um die derzeitigen Limitationen in der Aufklärung zum Verständnis von Signaltransduktion auf primär materieller Identifizierung beteiligter Moleküle erweitern zu können, erscheint es angezeigt, wenn nicht unumgänglich, dass neben der Analyse mittels reduktionistischer Verfahren 81 eine Auswertung der Ergebnisse auf einer übergeordneteren Ebene erfolgt, da das Gesamt der Ergebnisse etwas prinzipiell Differierendes darstellt als eine einfache Summation der »Informationen« bzw. Daten. 82 Emergenz steht an dieser Stelle im Vordergrund, die zwar in Physik und Chemie Beachtung findet, in den Biowissenschaften im reduktionistischen Denkrahmen derzeit jedoch weitgehend ignoriert wird. Um die Möglichkeiten der Kommunikation von Zellen (mittels physiko-chemischer Interaktionen) als einfachste Entitäten ganzheitlich zu erfassen, stellt sich die Frage: Wie kann man sich einerseits nicht zu stark reduktionistisch der Frage nähern, andererseits ausreichend tief abstrahieren, um die in Abb. 52 beschriebene Verbindung von Signal und Botschaft experimentell zu erfassen? Anders formuliert könnte man fragen: Wie kann die gebotene Dimension der zellulären Komplexizität durch die Bedeutungsebene Kontextualität erweitert werden? Hierzu sollen nachfolgend drei verschiedene experimentelle Ansätze erläutert werden, die als Einstieg dienen könnten, um den erweiterten Denkrahmen zu exemplifizieren. Zelladaption: In der Biologie werden Zellen aus Geweben vereinzelt und in Primärkulturen überführt. Dabei wird die Gewebsstruktur z. B. enzymatisch aufgelöst und die beteiligten Gewebszellen werden an die ex-vivo bzw. in-vitro Bedingungen adaptiert. Hier werden nicht alle Zelltypen gleich effektiv vermehrt, sondern es gibt robuste Zellen, die präferentiell vermehrt werden, während andere Zellen absterben
Wie z. B. der Extraktion von Proteinpopulationen aus Zellentitäten, die z. B. in zu untersuchenden Gewebeproben als Gemisch aus verschiedenen Zelltypen oder alternativ klonal expandierten Zellen in Zellkulturen bestehen. 82 Vgl. dazu Kap. VI/1c, wo es heißt: Das Ganze ist nicht bloß die Summe (auch nicht mehr als die Summe) der Teile, sondern etwas anderes. Siehe dazu auch Fischer, Ernst Peter: Die Bildung des Menschen, Was die Naturwissenschaften über uns wissen, Berlin 2006, insb. S. 71–79. 81
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
und sich den wechselnden Bedingungen nicht anpassen. Über dieses Problem hinaus stellt sich die Frage, ob die robuste Zellvermehrung eines speziellen Zelltyps eine gleichmäßige Adaption der Mehrzahl der Zellen darstellt oder ob es sich um eine klonale Expansion vereinzelter Zellen handelt. Zur Aufklärung dieser Fragestellungen eignen sich verstärkt Techniken, die derzeit eine rasante Entwicklung durchlaufen, wie z. B. das »single cell imaging«. Die Klärung der Frage, inwieweit es sich um eine klonale Expansion handelt, ist aus Probengemischen ohne die Zuordnung auf Einzelzellebene nicht möglich. Eine Aufarbeitung von Zellkollektiven ist zum einen sehr komplex, da verschiedene Zelltypen involviert sind (Komplexität) und die Kultivierungsbedingungen ebenfalls nicht eine identische Gleichbehandlung aller Zellen gewährleisten (Kontextualität). Die Komplexität resultiert aus den verschiedenen Zelltypen und der vorhandenen genetischen Variabilität vereinzelter Zellen gleichen Ursprungs. Die Kontextualität beinhaltet die verschiedenen Ausprägungen von Phänomenen durch die Historie und ist durch die Lokalisation der Ursprungszellen bedingt. Hier können z. B. im Gewebe verschiedene Gradienten in Bezug auf Nährstoffversorgung und Sauerstoffkonzentration herrschen. Anoikis – Tod durch Heimatlosigkeit Anoikis als Sonderfall der Apoptose, des gesteuerten »Selbstmords« einer Zelle, ist ebenfalls für die Analyse von Komplexizität und Kontextualität von Interesse, da dieses Geschehen nicht ohne die Beziehung einer Zelle zu ihrer Umwelt verstanden werden kann. Anoikis ist kein primär zelluläres Phänomen. Auf der Suche nach der Ursprache des Menschen durch Kaiser Friedrich II. im 13. Jahrhundert wurden Findelkinder mit allen materiellen Notwendigkeiten versorgt, aber Körperkontakt sowie das Sprechen mit den Kindern war untersagt. Dies führte – wie sich zeigte – nach kurzer Zeit zum Tode (vgl. Kap. VII/3). Zurück zum zellulären Kontext: Anoikis stellt über die Zell-Matrix-Adhäsion ein Schlüsselphänomen im Verständnis der Zellhomöostase dar. 83 Eine Unterbrechung dieser Zell–Matrix-Kommunikation
Frisch S. M., Francis, H.: Disruption of epithelial cell-matrix interactions induces apoptosis, in: J Cell Biol 124 (1994), S. 619–626.
83
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Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
hat einen direkten Einfluss auf das Überleben von Zellen. Wie eine Vielzahl der Apoptose-Prozesse ist der Verlust der Zelladhäsion, die Anheftung an Nachbarzellen oder synthetische Oberflächen (Scheinkontakt), relevant für die Zellentwicklung, Gewebshomöostase und verschiedene Erkrankungen. 84 Um einen Einblick in die Zell-ZellKommunikation und die aus der Signalunterversorgung resultierende Einleitung der Anoikis zu studieren, könnten beispielhaft Krebszellen herangezogen werden und speziell das Nicht-Vollziehen des Apoptose-Programms studiert werden. Krebszellen sind bei der Metastasierung unabhängiger von extrazellularer Matrix, modulierter Induktion bzw. von Proliferation und Überleben 85. Dies könnte im Vergleich zu nicht entarteten Zellen untersucht werden. Im Kontext der Umgehung des Todes durch Anoikis entkommt die Zelle mittels eines Mechanismus, der auf das Vorhandensein einer Nachbarzelle angewiesen ist, die Entosis 86. Dabei internalisiert 87 die Krebszelle eine lebende oder bereits tote Zelle und phagozytiert diese 88 (Abb. 53). Dieser »Kannibalismus« dient der Ausbildung von adherens junctions 89 und der Simulation von Adhäsion zur Umgehung von Anoikis und zur Nährstoffversorgung unter metabolischem Stress und Nährstoffunterversorgung. 90
Dabei stellen die Adhäsions-Moleküle wie Integrine, Cell adhesion molecule (CAM) und Cadherine wichtige Modulatoren dar (vgl. Danial, N. N.; Korsmeyer, S. J.: Cell death: critical controlpoints, in: Cell 116 (2004), S. 205–219; Gilmore, A. P.: Anoikis, in: Cell death differ. 12 (Suppl. 2) (2005), S. 1473–1477. 85 Vgl. dazu: Bissell, M. J.; Radisky, D.: Putting tumours in context, in: Nat Rev Cancer 1 (2001), S. 46–54; Eble, J. A.; Haier, J.: Integrins in cancer treatment, in: Curr Cancer Drug Targets, 6 (2006), S. 89–105; Reddig, P. J.; Juliano, R. L.: Clinging to life: cell to matrix adhesion and cell survival, in: Cancer Metastasis Rev 24 (2005), S. 425– 439; Valentijn, A. J.; Zouq, N.; Gilmore, A. P.: Anoikis, in: Biochem SocTrans 32 (2004), S. 421–425. 86 Invasion einer Zelle in das Zytoplasma einer anderen Zelle (vgl. Guadamillas, M. C. et al.: Overcoming Anoikis – pathways to anchorage independent growth in cancer, in: Journal of Cell Science 124 (2011), S. 3189–3197. 87 Aufnahme bzw. Translokation von der Zelloberfläche in das Zellinnere. 88 Guadamillas et al.: Overcoming Anoikis, a. a. O. 89 Zell-Zellverbindungen, die eine zentrale Rolle in der Anheftung von Zellen in Gewebeverbänden spielen. 90 Fais, S.: Cannibalism: a way to feed on metastatic tumors, in: Cancer Lett. 258 (2007), S. 155–164. 84
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Verlust Adhäsion E l Entlassung
Entosis Anoikis
Lysosomaler Abbau Zelltod
Überleben
Adherent Junction Integrin ECM Abb. 53: Rolle von Anoikis und Entosis. Der Verlust der Adhäsion und somit der Anheftung an die ECM führt einerseits zu Anoikis. Es kann ein paralleler Prozess der Entosis – der über adherent junctions assoziiert ist – durchlaufen werden. In diesem Prozess wird eine nicht entartete Zelle in die Krebszelle internalisiert. Die aufgenommene Zelle kann dabei entweder abgetötet werden und Phagozytose durchlaufen, oder wieder von der umgebenden Krebszelle entlassen werden und sich erneut an die ECM anheften. Dieser Vorgang dient der Krebszelle als protektiver Prozess, konträr zu Anoikis, um sich mit Hilfe nicht entarteter Zellen eine adhäsive Umgebung zu simulieren. Quelle modifiziert nach Guadamillas et al.
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Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Wundheilung Der dritte experimentelle Ansatz, mit Hilfe dessen eine Verknüpfung von Komplexität und Kontextualität aufgezeigt werden könnte, stellt die modellhafte Untersuchung der Wundheilung dar. Dazu könnten die komplexen Vorgänge untersucht werden, die im Rahmen der Wundheilung beteiligt sind. Zellverhalten und Phänotyp werden durch diverse Signale reguliert: neuronale Signale, mechanische Kräfte sowie Signalmoleküle wie Wachstumsfaktoren, Zytokine, Ionen-Gradienten und Differenzierungsfaktoren. Die extrazelluläre Matrix (ECM) umfasst ein komplexes Gemisch aus Proteinen, Kohlenhydraten, Lipiden und Signalmolekülen, mittels dessen die Gewebe- und Organmorphogenese unterstützt sowie Zell-, Gewebsstruktur und Funktion gestützt wird. 91 Um die komplexen Vorgänge detaillierter untersuchen zu können, wurden in-vivo und in-vitro Methoden entwickelt, die eine vereinfachte Wundheilung simulieren. Wundheilung verläuft in vier streng definierten, überlappenden Stadien: Hämostasis, Inflammation, Proliferation und Remodellierung. Jedes Stadium vollzieht sich in einer kontinuierlichen Abfolge an Schritten in einem kontrollierten, komplizierten und balancierten molekularen Signaltransduktionsgeschehen. Daran sind Signalwege aus Chemotaxis 92, Mitose, Gefäßneubildung, Bildung extrazellulärer Matrix und Narbenbildung beteiligt. Der vollständige Ablauf einer kompletten Wundheilung kann bis zu 18 Monate beanspruchen. Primär Bindegewebszellen, die Fibroblasten, stellen in diesem simplifizierten Modell, an dem in-vitro die Wundheilung studiert werden kann, Bildung und Organisation der extrazellulären Matrix Vgl.: Rosso, F.; Giordano, A.; Barbarisi, M.; Barbarisi, A.: From cell–ECM interactions to tissue engineering, in: J. Cell Physiol. 199(2) (2004), S. 174–180. Alberts, B.: Molecular Biology of the Cell, 4th Edition, Garland Science, New York 2002; Labat-Robert, J.; Bihari-Varga, M.; Robert, L.: Extracellular matrix, in: FEBS Lett. 268 (2) (1990), S. 386–393; Weber, K. T.; Sun, Y.; Katwa, L. C.: Local regulation of extracellular matrix structure, in: Herz. 20(2), (1995), S. 81–88; Schonherr, E.; Hausser, H. J.: Extracellular matrix and cytokines: a functional unit, in: Dev. Immunol. 7(2– 4) (2000), S. 89–101; Parameswaran, K.; Willems-Widyastuti, A.; Alagappan, V. K. et al.: Role of extracellular matrix and its regulators in human airwaysmooth muscle biology, in: Cell Biochem. Biophys. 44(1), (2006), S. 139–146; Pereira, A. L.; Veras, S. S.; Silveira, E. J. et al.: The role of matrix extracellular proteins and metalloproteinases in head and neck carcinomas: an updated review, in: Rev Bras Otorrinolaringol (Engl. Ed.), 71 (1) (2005), S. 81–86, ISSN 0034-7299. 92 Fortbewegung von Zellen bedingt durch Nährstoffgradienten. 91
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
dar. Dies geschieht in zentraler Weise über die Produktion von Collagen und Elastin. Fibroblasten sind unerlässlich in der Betrachtung, wie eine Wunde abheilt. Dieser Zelltyp startet die Synthese der ECM direkt nach Eintritt in das Wundheilungsgeschehen. Dieses Geschehen könnte experimentell genutzt werden, um die Rolle von Fibroblasten in einem vereinfachten Experiment folgendermaßen zu charakterisieren: Fibroblasten werden in-vitro kultiviert. Nach Erreichen einer bodendeckenden Zellschicht wird mittels mechanischer Abschabung eine Wunde simuliert. Anschließend wird das Wachstumsverhalten der Zellen mikroskopisch verfolgt und analysiert, analog zu Bindschadler und McGrath. 93 Um den Zusammenhang von Komplexizität und Kontextualität (Abb. 54) untersuchen zu können, werden danach Stimuli wie die Zelloberflächen-Protease verwendet, beschrieben als »fibroblast activation protein« (FAB), welches im adulten somatischen Gewebe nicht exprimiert wird. 94 Als Gegenspieler der Fibroblasten-Aktivierung ist das Hormon Relaxin beschrieben, welches in diesem experimentellen Aufbau konzentrationsabhängig die Aktivierung der Fibroblasten beeinflusst und in Kombination mit FAB zu untersuchen wäre. Relaxin reduziert dabei die Anzahl der aktivierten Fibroblasten und verringert Fibrose. 95 Als weiterer Stimulus kann die Modulation von RhoA 96 und die Interaktion über Integrine, z. B. β1, erfolgen, welches die Aktivierung der fokalen Adhäsionskinase (FAK) und RhoA unterdrückt und somit Invasion und Metastasierung beeinflusst. 97 Nach Etablierung der verschiedenen Stimuli kann im FolBindschadler, M.; McGrath, J. L.: Sheet migration by wounded monolayers as an emergent property of single-cell dynamics, in: J Cell Sci., 120 (Pt 5) (2007, Mar 1); S. 876–884. Epub. 2007, Feb 13. 94 Dies geschieht lediglich in aktivierten Fibroblasten während der Wundheilung und im Stroma von Tumoren (vgl. Wang, X. M.; Yu, D. M.; McCaughan, G. W. & Gorrell, M. D.: Fibroblast activation protein increases apoptosis, cell adhesion, and migration by the LX-2 human stellate cell line, in: Hepatology 42 (2005), S. 935–945. 95 Hier durch Wundheilung bedingte Vermehrung von Kollagenfasern mit Folge von Narbenbildung (vgl. McDonald, G. A. et al.: Relaxin increases ubiquitindependent degradation of fibronectin in vitro and ameliorates renal fibrosis in vivo, in: Am. J. Physiol. Renal Physiol. 285 (2003), F59–67; Heeg, M. H. et al.: The antifibrotic effects of relaxin in human renal fibroblasts are mediated in part by inhibition of the Smad2 pathway, in: Kidney Int. 68 (2005), S. 96–109. 96 Ras homologe Gen Familie A (RhoA) ist eine GTPase die am Aufbau und Regulation des Aktin Zytoskeletts beteiligt ist. 97 Costa, P.;, Scales, TM; Ivaska, J; Parsons, M.: Integrin-Specific Control of Focal 93
342 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
genden – neben der Komplexizität die solche verschiedene Stimuli bewirken – orthogonal durch Veränderung verschiedener übergeordneter Faktoren am Testsystem 98 der Kontext variiert werden (siehe Abb. 54).
FAB Relaxin Rho
Komplexität Nukleinsäuren Proteine Lipide Metabolite Kontextualität
O2-Stress
Medium
Alter
Alter Ethnologie Spezies Historie
Abb. 54: Orthogonalität von Signalen zur Modulation von Komplexität und Testung des Einflusses auf die Kontextualität. In den Experimenten sollen die Stimuli (FAB, Relaxin und Rho) variiert werden und der Einfluss definierter Bedingungen nach Änderung im Kontext von z. B. Alter, Zellkulturmedium und Sauerstoffstress ermittelt werden.
Dabei gilt es zu beachten, dass in den Biowissenschaften der Kontext einer unbewussten Manipulierung unterliegt. So wird bei der EtabAdhesion Kinase and RhoA Regulates Membrane Protrusion and Invasion, in: PLoS One 8 (9) (2013, Sep 9). 98 Wie z. B. Zellpassage, verschiedene Spezies oder Gewebetypen, Historie simuliert über verschiedene definierte Nährstoffvarianten (Zellkulturmedien-Variationen).
343 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
lierung von experimentellen Systemen das Kriterium der Reproduzierbarkeit in der Hinsicht verstanden, eine mögliche »biologische Variabilität« zu vermeiden oder auszuschließen. Doch stellt sich die Frage, ob diese biologische Variabilität nicht in gewisser Weise gerade jene Dimension bildet, anhand derer ersichtlich gemacht werden kann, dass es sich bei Zellen um »Quasi-Subjekte« mit Freiheitsgraden handelt. Ein wichtiger Aspekt der Etablierung des »Denkstils der Biokommunikation« besteht insofern darin, neben der erforderlichen experimentellen Reproduzierbarkeit diesen Rahmen der individuellen zellulären Signalinterpretation zu ermöglichen. Die skizzierten experimentellen Modelle stellen theoretisch einen neuen Eintritt dar, um sich einerseits der derzeitig fehlenden Verknüpfung von verschiedenen Stimuli, die auf Zellen parallel einwirken, zuwenden zu können, und andererseits, um sich der Bewertung des übergeordneten Kontextes experimentell zu nähern. Dabei soll keineswegs eine gänzlich differierende experimentelle Versuchsdurchführung implementiert, sondern ein neuer Denkansatz in Form einer veränderten Auswertung und Betrachtungsweise der vorliegenden Befunde ermöglicht werden, die – als gemessene Endpunkte – in übergeordneter Weise eine Einordnung in den zellulären oder gewebsspezifischen Kontext ermöglichen. Ferner ist es – unter der erwähnten Voraussetzung einer prinzipiellen Differenzierung zwischen Interaktion und Kommunikation – vorstellbar, Beobachtungen oder Resultate zu erheben, die derzeit nicht Teil der Erfassung der biowissenschaftlichen Fragestellung sind und über das zu generierende Verständnis von Interaktionen hinausgehen, und die so dabei helfen, das Zell-Zell-Kommunikationsgeschehen besser zu erfassen.
b)
Unterschiedliche kulturparadigmatische Deutungsmöglichkeiten der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation in den Biowissenschaften
Wie in Kap. III/5 schon ersichtlich gemacht, sind singuläre wissenschaftliche Experimente stets rückverbunden in einem Experimentalsystem, dem wiederum ein bestimmter »Denk-/Kommunikationsstil« zu Grunde liegt, der seinerseits rückverbunden ist in einer spezifischen Welt-Anschauung bzw. Kultur-Paradigma. Wir sprachen 344 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
dabei von »Dimensionen der Rückverbundenheit«. Nun wollen wir uns diesen Zusammenhang anhand der oben skizzierten grundsätzlichen Differenzierung zwischen Interaktion und Kommunikation näher anschauen. In Kap. VII/2 konnte mit Hilfe von Spaemann gezeigt werden, dass Leben vom »Kulturparadigma« der Neuzeit als ontologischer Begriff verabschiedet wurde. Dies einerseits, weil Leben »keine klare und distinkte Perzeption« 99 darstellt, andererseits, weil im Zuge der Neuzeit Materie als Grundelement der Wirklichkeit angesehen und Leben insofern als Epiphänomen erachtet wurde. Spezifische Kennzeichen des Lebendigen wie Bewegung oder Finalität werden dabei mit Hilfe der Kreation neuer mathematischer Techniken (Infinitesimalrechnung u. a.) sowie mittels Herleitung der Finalität aus der Kausalität (Stichwort: Teleonomie, Emergenz) in den »Denkrahmen der Moderne« (vgl. Kap. III/3) integriert. Damit werden – weitgehend unbewusst – kulturparadigmatische Vorentscheidungen von großer Tragweite getroffen, was Denkstil und Wahrnehmungsgewohnheit des Lebendigen betrifft. Zum einen liegt es – dem Kulturparadigma der Neuzeit entsprechend – nahe, Leben als hochkomplexes Gesamt von (notwendigen) Interaktionen (und sonst nichts), d. h. maschinenanalog, zu verstehen. Deutlich wird dieser Umstand, wenn Ulrich in seinem Buch Biomedizin. Die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs bemerkt, dass die Problematik gegenwärtiger biowissenschaftlicher Forschung darin liege, dass der Unterschied zwischen den Sätzen »Leben ist ein physiko-chemischer Prozeß und Leben ist nichts als ein physiko-chemischer Prozeß weitgehend unbeachtet bleibt.« 100 Das hat zur Folge, dass im »Denkstil« bzw. Wissenschaftsparadigma gegenwärtiger Bio-Forschung die Dimension der Kommunikation (im oben beschriebenen Sinn als transkausales Phänomen) auf der Ebene des Nicht-menschlich-Lebendigen weitgehend ausgeblendet wird. Zum anderen kann die (aus Kausalität hergeleitete) Finalität des Lebens – unter der skizzierten kulturparadigmatischen Prämisse der Moderne – nur als Finalität der Selbsterhaltung, Selbstbezüglichkeit (jedoch nicht der Selbsttranszendenz oder der Ichüberschreitung)
Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 82. Ulrich: Biomedizin. Die folgenschweren Wandlungen des Biologiebegriffs, a. a. O., S. 9. 99
100
345 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
wahrgenommen und damit interpretiert werden. Mit Spaemann gesprochen: »Erhaltungsfunktionalität ist der einzige [kulturparadigmatische] Gesichtspunkt, der den Gegenstand der Biologie [in der Neuzeit] von dem der Physik unterscheidet.« 101 Dem entsprechend wurde ein Phänomen wie jenes vor wenigen Jahren in Kenia beobachtetes, dass eine Löwin drei Mal hintereinander ein Antilopenbaby adoptierte, von den Forschern als das vermutliche Leiden an einer Vorstufe von Alzheimer erklärt. 102 Alles Wert- und Sinnhafte – sogar die scheinbar selbstlosesten Akte – kann, gemäß diesem Kulturparadigma, nur selbsterhaltungsfunktional begriffen bzw. interpretiert werden. Geradezu idealtypisch wird dies am Werk Der Kampf der Theile im Organismus. Ein Beitrag zur Vervollkommnung der mechanischen Zweckmäßigkeitslehre (1881) des bekannten Entwicklungsbiologen Wilhelm Roux (1850–1924) deutlich, der mit seiner Schrift den Darwin’schen struggle of life sogar auf die inner- bzw. intraorganismischen Beziehungsebenen überträgt und dabei vom Kampf der Molekel, Zellen, Gewebe und Organe spricht. 103 Dazu bemerkt Greshake: »[V]om neuzeitlichen Subjektbegriff her [bildet sich] die Atmosphäre einer alles ergreifenden Bemächtigungstendenz. Unter der Devise ›Selbstbestimmung‹ entsteht geradezu notwendig der Macht- und Konkurrenzkampf der vielen Einzel- und auch Kollektivsubjekte: der Klassen, gesellschaftlichen Gruppen, Rassen und Nationen, von denen sich jedes selbst als Einheitspunkt setzen will. Eben dieser Konkurrenzkampf ist Zeichen und Ausdruck dafür, ›daß die Selbstbestimmung singulärer und allgemeiner Subjekte niemals rein als solche, sondern immer nur in nicht endender Hinwegarbeitung von Fremdbestimmung durchgesetzt werden kann.‹ […] Dieser Kampf beinhaltet nicht nur die Beherrschung und Unterdrückung der umgebenden widerständigen […] Natur, sondern vor allem auch Beherrschung und gar, wenn möglich, Unterdrückung des anderen Menschen, insofern dieser sich ja gleichfalls als Einheitspunkt, d. h. als sich selbst bestimmendes Subjekt, durchsetzen und behaupten will – gegen mich.« 104 (Siehe auch Kap. VII/4)
Spaemann: Schritte über uns hinaus, Bd. II, a. a. O., S. 89. Vgl. Traufetter, Gerald: Triumph über das Morden, in: Spiegel, 15 (2002), S. 214. Vgl. dazu auch: Langenbach, Jürgen: Empathie und Hilfe in der Not: Eine Ratte lässt die andere nicht im Stich, in: Die Presse, Ausgabe vom 12. Dezember 2011, S. 25. 103 Das Werk erlebte 2006 eine Neuauflage und ist als Volltext einsehbar unter http:// www.deutschestextarchiv.de/book/view/roux_kampf_1881?p=9 104 Greshake: Der dreieine Gott, a. a. O., S. 448. 101 102
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Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
Dass wir Leben so nicht wahrnehmen müssen, leuchtet in dem Maße ein, als wir uns bewusst machen, dass die skizzierte Sichtweise der abendländischen Moderne, mit all ihren Ausprägungen in Denkstil, Experimentalsystem bis hin zum Einzelexperiment, eine kulturparadigmatisch-spezifische und keine notwendige darstellt. Eine andere kann prinzipiell jederzeit an deren Stelle treten; genauso wie das Wirklichkeitsverständnis der Moderne das jüdisch-christliche Kulturparadigma ablöste. Auf diese Weise würde sogar deutlich, dass die wissenschaftszentrierte Neuzeit – soweit bekannt – die einzige Kultur darstellt, die das Phänomen der Selbsttranszendenz nicht (mehr) im Verständnis des Lebens/Geistes einzuordnen vermag; denken wir allein an das – für Spaemann kulturprägende – Postulat von Hume, dass der Mensch bzw. das Lebendige nicht in der Lage sei, einen Schritt über sich hinaus zu tun. Unter kulturparadigmatischer Voraus-Setzung des Geistes als Grundelement der Wirklichkeit 105 ist nicht nur eine Wahrnehmungsweise möglich, die nicht genötigt ist, Kommunikation/Finalität aus Interaktion/Kausalität herzuleiten, sondern darüber hinaus in der Lage ist, die Differenzierung zwischen Finalität als Selbsterhaltung und Finalität als Selbsttranszendenz vorzunehmen. Dadurch wäre es möglich, zwischen positiven und negativen Gestalten von Selbsterhaltung bzw. Selbstwerdung zu unterscheiden, ohne alle Weisen von Selbstsein notwendigerweise selbstbehauptungsfunktional begreifen zu müssen. Unterstützend könnten hierbei sowohl das vom Physiker unter den Autoren kreierte HX-Schema (siehe Kap. VII/4) wie das vom Kommunikationswissenschafter entwickelte und nachfolgend dargestellte Kommunikations-Gradientenmodell 106 angeführt werden. (s. Abb. 55). Zu den Gradienten: Mit dem Vermögen (der Fähigkeit) zur Kommunikation auf der einen steigt die Notwendigkeit zu kommunizieren auf der anderen Seite. Mit der zunehmenden Möglichkeit zu positiven (+) Gestalten von Kommunikation nimmt die Möglichkeit zu negativen (–) Gestalten zu; kein Tier kann so grausam sein wie der Mensch. Umgekehrt kann kein Tier so selbstlos agieren wie ein Wie dies bei allen großen Überlieferungen der Menschheit der Fall ist. Vgl. dazu Hamberger, Erich: Transdisciplinarity. A Scientific Essential, in: Bradlow, Leon H. et al. (Eds.): Signal Tranduction and Communication in Cancer Cells, New York 2004, S. 487–496, hier S. 493.
105 106
347 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Mensch Lebewesen
Gewebe
KommunikationsMöglichkeits-Gradient
Mensch, weil es nicht in dem Maße mit Selbst-Bewusstsein ausgestattet ist.
Organe
Zellen
Materie physiko-chemische Interaktion
KommunikationsNotwendigkeits-Gradient
KommunikationsMöglichkeits-Gradient
KommunikationsFähigkeits-Gradient
Abb. 55: Kommunikationsgradientenmodell
Vor diesem Hintergrund würde deutlich, dass Leben – je niederkomplexer, desto offenkundiger – gerade durch die Möglichkeit zur »Selbsttranszendenz« gekennzeichnet ist und hypertrophe Selbstbehauptung (auf Kosten von anderen) eine Zerr-Gestalt von Leben darstellt. Zahlreiche biowissenschaftliche und medizinische Arbeiten lassen sich nicht nur in dieser Hinsicht lesen, sondern scheinen kaum eine andere Deutung zuzulassen. Joachim Bauer gibt dazu ein bemerkenswertes Beispiel von Kooperation im Bereich einzelliger Lebewesen in Gestalt der auf Waldböden lebenden Amöbenart Dictyostelium discoideum. Die Vertreter dieser Art können alleine leben und ernähren sich von Bakterien.Was 348 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
passiert, wenn diese Nahrungsquelle am Versiegen ist, schildert Bauer wie folgt: »Wenn Bakterien knapp werden, kann die Amöbe ein Signal aussenden, welches von anderen, in der Nähe lebenden Amöben erkannt wird, worauf sich zahlreiche Amöben langsam, aber sicher aufeinander zubewegen. Tausende, manchmal Hunderttausende der Amöben verkleben und bilden eine Art schleimige Schnecke, die sich ihrerseits einige Zentimeter weit bewegen kann. Die vormals selbstständigen Amöbenzellen innerhalb der Schnecke bilden in ihrem Inneren einen Fruchtkörper […], der mit Sporen gefüllt ist, aus denen neue Amöbenzellen hervorgehen können. Das Geniale ist nun aber, dass zunächst etwa 20 Prozent der in der Schnecke lebenden Amöbenzellen ›freiwillig‹, das heißt selbst gesteuert, absterben, um mit ihren Zellresten einen etwa zwei Millimeter nach oben gehenden Stiel zu bilden (zwei Millimeter sind aus der Perspektive einer Amöbe ein Hochhaus der Superklasse). Die lebenden Amöben innerhalb der Schnecke wandern nun auf diesen Stiel hinauf und haben dort eine optimale Chance, durch vorbeilaufende Käfer, Würmer und ähnliche Waldbewohner gestreift zu werden und so ihre Sporen auf die Reise zu schicken. Die 20 Prozent der Zellen, die zwecks Bildung des Stiels ›freiwillig‹ abgestorben sind, hatten also eine ganz besonders markante Form von Kooperation gezeigt.« 107
Das umgekehrte Bild zeigt sich, wenn Frederic Vester Krebs als »paralleles Leben« beschreibt, das sich privatistisch ausbreitet 108; oder wenn Gebsattel aus seiner jahrzehntelangen Praxiserfahrung als Psychotherapeut heraus die Aussage tätigt, dass die allermeisten psychischen Erkrankungen des Menschen Ausdruck von Werdensverweigerung seien; 109 oder: wenn Gertrud Festetics aufzeigt, wie man die offensichtlich unnormalen Erfahrungen des französischen Schriftstellers Gustave Flaubert – ohne Möglichkeit eines positiven Vorbildes – nur mehr in eine Richtung, als abnormal, zu charakterisieren vermochte. 110 Die theoretische Hilfestellung, die die Kommunikationswissenschaft aktuell für die Biowissenschaften bereitzustellen imstande ist, fußt primär auf deren know-how hinsichtlich interpersoneller Kommunikation bzw. der damit verbundenen und oben dargelegten
Bauer, Joachim: Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, aktual. TB-Ausgabe, München 2008, S. 127 f. 108 Vgl. Fester, Frederic: Krebs: Fehlgesteuertes Leben, München 2000. 109 Gebsattel: Prolegomena einer medizinischen Anthropologie, a. a. O. 110 Festetics, Gertrud: Der Fall Flaubert. Wissenschaftshistorische Analyse einer Verleumdung, Univ. Diss., Wien 2003. 107
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
prinzipiellen Differenzierung zwischen Kommunikation und Interaktion. Dieser Zusammenhang soll anhand der Skizzierung einer geistesgeschichtlichen Verlaufsfigur zu immer eingegrenzteren causae im Kontext des Gesundungs- bzw. Krankheitsverständnisses in der europäischen Moderne veranschaulicht werden, bezeichnet als »Erkenntnistrichter«. Bis ins 17. Jahrhundert dominiert auch in Europa die – aus der Vormoderne tradierte – 4-Säfte-Lehre, die sogenannte Humoralpathologie, die in einem ganzkörperlichen Säfteungleichgewicht die eigentlichen Krankheitsursachen erblickt. Mit dem 18. Jahrhundert gewinnt – u. a. durch das Aufkommen der naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode – die Organpathologie an Bedeutung; nicht zuletzt durch ein besseres Verständnis der Funktions- bzw. Fehlfunktionsweisen einzelner Organe. Sehr gut wird dies deutlich bei der von van Swieten (1700–1772), dem Leibarzt Maria Theresias, eingeführten medizinischen Praxis einer Kombination aus Kranken-Beobachtung (humoraler Aspekt) einerseits und Befundverifizierung durch Obduktion, d. h. anatomisch-experimentelle Ermittlung des Ortes der Krankheit (organpathologischer Aspekt), andererseits. 111 Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt sich mit Virchow die Zellularpathologie durchzusetzen, nachdem kurz zuvor (1838) die Existenz von Zellen nachgewiesen werden konnte. Schließlich rückt ab den 1960er Jahren – mit dem Siegeszug der Molekularbiologie – die Molekularpathologie ins Zentrum; gegenwärtig ist für viele Krankheiten ein Gen-Lokus (oder mehrere Gen-Loci) ausfindig gemacht. 112 Damit wird die grundlegende Dimension von Krankheitsursachen nicht länger – wie bislang – auf Ebenen der Kommunikation (Organismus, Organ, Zelle), sondern erstmals auf Ebene der Interaktion (Moleküle) gesehen. Im Schaubild lässt sich der Zusammenhang so darstellen:
111 Vgl. Stanger, Olaf: Die Entwicklung der modernen physikalischen Diagnostik und deren Anwendung in der Herz-Thorax-Chirurgie, in: Chirurg 72 (2001), S. 853–860. 112 Als Gegenentwürfe zu dieser zunehmenden Spezifizierung des Entstehungs-Ortes einer Krankheit tauchen – vermehrt in der 2. Hälfte des 20. Jhs. – von der Schulmedizin meist kritisch gesehene ganzheitliche Pathologien auf. Diese Ansätze finden speziell bei chronischen Krankheitsbildern auch in der sog. Schulmedizin vermehrt Toleranz, freilich ohne in deren Schema zu passen.
350 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Die Bedeutung der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation Bis 17. Jh.
Humoralpathologie
Kommunikation
Organpathologie
Kommunikation
Ab Mitte 19. Jh.
Zellularpathologie
Kommunikation
Ab Mitte 20. Jh.
Molekularpathologie
18. Jh.
Interaktion
Abb. 56: »Erkenntnistrichter«
Die Graphik veranschaulicht darüber hinaus, dass die aktuellen Lebenswissenschaften von Methoden und Techniken aus Physik und Chemie geprägt sind, die ihrerseits wiederum das biowissenschaftliche Verständnis von »Mitteilung« bzw. »Kommunikation« / Interaktion im Sinne linear-kausaler Schemata prägen. Aktuell scheint sich dieser »Erkenntnistrichter« durch die zunehmende Fokussierung auf biomathematische Methoden noch weiter »interaktional« zu verengen in Richtung einer Bio-Mathematik-Pathologie 113 (vgl. Abb. 57). Die entscheidende Herausforderung für die aktuelle Biologie und Medizin stellt unseres Erachtens die (erneute) Öffnung der skizzierten »Erkenntnisstenose« dar (vgl. Abb. 58). Eine wesentliche Hilfestellung könnte hierbei der oben dargelegte Biokommunikationsansatz bzw. dessen Etablierung in Biologie und Medizin bilden. 114
Vgl. Senn: Mathematisierung der Biologie, a. a. O. Vgl. Hamberger, Erich: Die Relevanz des dialogischen Subjektkonzepts von Ferdinand Ebner für die modernen Biowissenschaften, in: Bidese, Ermenegildo; Hörmann, Richard; Zucal, Silvano (Hrsg.): Pneumatologie als Grammatik der Subjektivität: Ferdinand Ebner, Wien – Berlin 2012, S. 215–246. 113 114
351 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation Bis 17. Jh.
Humoralpathologie
Kommunikation
Organpathologie
Kommunikation
Ab Mitte 19. Jh.
Zellularpathologie
Kommunikation
Ab Mitte 20. Jh.
Molekularpathologie
Interaktion
Bio.Math.Path.
Interaktion
18. Jh.
21. Jh.
Abb. 57: Erkenntnis-»Stenose« Bis 17. Jh.
Humoralpathologie
Kommunikation
Organpathologie
Kommunikation
Ab Mitte 19. Jh.
Zellularpathologie
Kommunikation
Ab Mitte 20. Jh.
Molekularpathologie
Interaktion
Bio.Math.Path.
Interaktion
18. Jh.
21. Jh.
Bio-Komm-Pathologie
Kommunikation
Abb. 58: Erkenntnistrichter-Erweiterung
352 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Die (quantenphysikalischen) Erkenntnismodi Komplementarität und Unbes-
6.
Die (quantenphysikalischen) Erkenntnismodi Komplementarität und Unbestimmtheitsrelation übertragen auf den Phänomenbereich Kommunikation
Inwiefern lässt sich die Konzeption der Komplementarität (von Bohr konzipiert für den interaktionalen Bereich der »Quantenwelt«) auf den Bereich Kommunikation (also des Lebendigen und Geistigen) übertragen? Führen wir uns dazu noch einmal kurz vor Augen, was Komplementarität in der Quantenphysik meint. Bohr bezeichnet (vgl. Kap. VI/1) damit »die sich gegenseitig widersprechenden, aber gleichzeitig notwendigen Bilder der physikalischen Beschreibung von Welle und Korpuskel«. Das heißt, er geht über ein dualistisches Verständnis hinaus und postuliert, dass die beiden sich widersprechenden Bilder zu einer vollständigen Beschreibung (auf gleichem Beschreibungsniveau!) unabdingbar sind. Erwin Schrödinger verweist auf diesen zentralen Umstand in seiner Antrittsvorlesung in Graz, die er seinen Vorgängern Boltzmann und Radakovic gewidmet hatte, wie folgt (vgl. Kap. VIII/6): »Das reine Wellenbild wird der Sache auch nicht gerecht, ebenso wenig wie das reine Korpuskelbild. Die Wahrheit liegt – in der Mitte? Nein. Wir wissen es nicht. Hier genüsslich herumreden ist leicht. Aber das will ich mit Rücksicht auf unsere Vorbilder (Radakovic und Boltzmann) unterlassen.« 115
Wer die Idee der Komplementarität nicht anerkennen will, wird Welle und Teilchen (weiter) ins Entweder-Oder setzen und sich für eine der beiden entscheiden (müssen). Mittlerweile haben sich – wie an anderer Stelle schon dargelegt – Quantenphysiker an die »weitere Fassung der Objektivität einer Naturerklärung« gewöhnt 116, wenn auch oft mit innerem Widerstreben. Wolfgang Pauli beschreibt die ambivalente Haltung gegenüber den Neuerungen der Quantenphysik folgendermaßen: »Inzwischen brachte Plancks Wirkungsquantum […] eine Revolution der Physik, die unter Benützung von ›Korrespondenzargumenten‹ mit der Aufstellung der Quanten- oder Wellenmechanik 1927 einen vorläufigen Abschluss fand. Die Physiker, die diese Entwicklung miterlebt haben, zeigen entweder eine regressive Sehnsucht nach dem früheren Zustand, oder sie
Zitiert nach dem unveröffentlichten Manuskript von Erwin Schrödinger. Auf die komplementäre »weitere Fassung der Subjektivität« werden wir später noch zurückkommen. 115 116
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
erwarten eine Entwicklung, die vom alten ›klassischen‹ Ideal der Naturerklärung noch weiter wegführen wird.« 117
In unseren Ausführungen schließen wir uns – wie erwähnt – den letzteren an! Doch wie stellt sich die Sachlage hinsichtlich Komplementarität nun im Kontext des Lebendigen bzw. Geistigen dar, also im Phänomenbereich Kommunikation? Die Möglichkeit einer weiteren Fassung von Komplementarität könnte positiv genützt werden, weil sie befruchtend wirken kann auf anderen Gebieten, die mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben. 118 Allerdings kann die Entwicklung in der (quantenphysikalischen) Naturerklärung nicht direkt übernommen werden, ist doch Kommunikation von Interaktion ebenso zu unterscheiden wie Transkausalität von Akausalität. Betrachten wir dazu vorerst noch einmal die Phänomene/Begriffe Welle und Teilchen. In der klassischen Physik sind sie vollständig geklärt, im Bereich des Mikrokosmos werden sie zur Aporie, da sie dort zugleich auf dasselbe Phänomen angewandt werden müssen. Wichtig ist dabei: Welle und Teilchen sind hier in der Komplementarität aufgehoben. Pauli: Aufsätze und Vorträge über Physik und Erkenntnistheorie, a. a. O., S. 117. Hier sei angefügt, dass ähnliche Gedanken schon seit langem geäußert werden. Beispielhaft sei der Psychologe Carl Rogers zitiert, der den Streit innerhalb der Verhaltenswissenschaften mit den Problemen der Quantenphysik vergleicht: »Wenn wir uns dafür entscheiden, unsere wissenschaftlichen Kenntnisse zur Befreiung der Menschheit anzuwenden, dann verlangt diese Entscheidung von uns, dass wir mit dem großen Paradoxon der Verhaltenswissenschaften offen und ehrlich leben. […] Wir werden mit der Erkenntnis leben müssen, dass es genauso nutzlos und engstirnig wäre, die Realität der Erfahrung von verantwortungsvoller, persönlicher Entscheidung zu leugnen wie die Möglichkeit einer Verhaltenswissenschaft zu verneinen. Der Widerspruch, der zwischen diesen zwei wichtigen Elementen unserer Erfahrung offensichtlich besteht, ist vielleicht von gleicher Bedeutung wie der Widerspruch zwischen der Wellentheorie und der Korpuskeltheorie des Lichts, die beide als wahr bewiesen werden können, obwohl sie einander ausschließen.« (Rogers, Carl R.: Entwicklung der Persönlichkeit, Ernst Klett Verlag, Stuttgart 1973, S. 388). In diesem Sinne wagt Leopold Ziegler bereits 1951 die kühne Bemerkung: »Will sonach die Physik der optischen Erfahrung Licht wirklich gerecht werden, dann bedarf es folgerichtig der Berufung auf ein Gesetz, welches Niels Bohr seinerzeit als das Gesetz der Komplementarität, das ist Ergänzlichkeit, bezeichnet und eingeführt hat. Von welchem Gesetz bald festzustellen war, daß es keineswegs bloß für die Theorie des Lichtes gültig sei, vielmehr im Gesamtbereich physikalischer Erfahrung und darüber hinaus sogar noch im metaphysikalisch[en] […] Bereich seine Anwendung finde. Mit einem Wort – die Regel, um den Ausdruck Gesetz hier lieber zu vermeiden, von der komplementär-polaren Verschränktheit hat geradezu kosmologisch-ontologische Allgemeingültigkeit.« (Ziegler, Leopold: Die neue Wissenschaft, München 1951, S. 118) 117 118
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Die (quantenphysikalischen) Erkenntnismodi Komplementarität und Unbes-
Anders stellt sich die Sachlage nun im Bereich des Lebendigen bzw. Geistigen dar. Soll die Idee der Komplementarität hier fruchtbar gemacht werden, erscheint eine Adaption unumgänglich. Warum? Dies deshalb, weil dort mit Aporien umzugehen ist, die nicht nur einen – den Denkrahmen der Moderne überschreitenden – Erkenntnismodus nahelegen (wie im Quantenbereich), mit dessen Hilfe Leben bzw. Menschsein relevant(er) erfasst bzw. verstanden werden kann, sondern vor allem eine permanente Aufgabe für jeden einzelnen bzw. eine Geisteskultur im allgemeinen (als »Subjekt im großen«) bilden. Mit anderen Worten: Aporien stellen im Bereich des Lebendigen bzw. Geistigen vor allem komplementäre Zielbegriffe dar, die nie in eine stabile, fortdauernde Vereinigung gebracht werden können, also statisch nie endgültig erreichbar sind, sondern ein permanentes dynamisches Geschehen darstellen, das ständiger aktiver Zuwendung bedarf. Dazu kommt, dass es in den Seinsbereichen des Lebendigen und Geistigen – im Unterschied zu jenem des Materialen (Quantenphysik) – Fehl- bzw. Schattengestalten gibt. Beide Aspekte – sowohl der des Dialektisch-Prozessualen wie jener des Schattens bzw. der Fehlgestalt – wurden mit Hilfe des HX-Schemas schon dargestellt (vgl. Kap. VII/4). Wichtig hierbei: Die Schattenbegriffe stehen zwar im Entweder-Oder, sind jedoch stets miteinander gleichsam »verstrickt« und stellen demzufolge »Schattenkomplementaritäten« dar. Dies sei an einem Beispiel demonstriert: Verantwortung
Selbstherrlichkeit
Sorgfaltspflicht
H
Kadavergehorsam
Abb. 59: H-Schema Verantwortung / Sorgfaltspflicht
Verantwortung und Sorgfaltspflicht können in einer dynamischen Synthese aufgehoben werden. Aber die beiden Schatten Selbstherrlichkeit und blinder Gehorsam werden diese Synthese ständig in Frage stellen. Sie müssen stets als Gegner bekämpft werden, um die Synthese bzw. positive Balance aufrecht zu erhalten; und zwar beide! Denn wie oben schon erwähnt sind die Schattenphänomene/-begriffe, obwohl sie im Entweder-Oder stehen, stets miteinander »verstrickt« und bilden zusammen eine »Schattenkomplementarität« bzw. eine »Schattenaporie«. 355 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Kurzum: Adaption des Erkenntnismodus Komplementarität auf den Bereich Kommunikation meint zum einen die jeweilige Ermittlung von positiv-komplementären Phänomenen (bzw. der dazugehörigen negativ-komplementären Schattenphänomene) in den Bereichen des Lebendigen bzw. Geistigen 119, zum anderen die damit verbundenen lebenspraktischen Herausforderungen; seien diese mehr individueller Natur wie etwa im Falle einer Person, die in ihrem Beruf damit konfrontiert ist, die individuelle Balance zwischen Verantwortung und Sorgfaltspflicht zu realisieren oder mehr gesamtgesellschaftlicher Art, wenn z. B. Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft diese Balance durch ihr gesetzgeberisches oder sonstwie prägendes Wirken für die Allgemeinheit entweder fördern oder (noch mehr) aus dem Gleichgewicht bringen. 120 Anders – wenn auch vergleichbar – verhält es sich mit der Unbestimmtheitsrelation, der zweiten großen Erkenntnisneuerung im Gefolge der Quantentheorie. Rufen wir uns auch hierzu ins Gedächtnis zurück, was damit zum Ausdruck gebracht wird. Dabei postuliert Heisenberg, dass im Bereich des materiell ganz Kleinen so genannte »konjugierte Paare (z. B. Ort und Impuls) gemeinsam nicht beliebig genau gemessen werden können.« So sind demnach etwa Ort und Geschwindigkeit eines Elektrons nicht simultan beliebig genau bestimmbar. Mathematisch schon lange vor der Quantenphysik bekannt war die Tatsache, dass ein räumlich eng begrenztes Lichtsignal aus sehr vielen verschiedenen Wellenlängen bestehen muss, wobei eine feste Beziehung zwischen der räumlichen Ausdehnung des Lichtsignals und der notwendigen Menge von verschiedenen Wellenlängen besteht. 121 Neu in der Quantenphysik war lediglich die – gewiss überraschende – Tatsache, dass der klassische Impuls nunmehr den Wellenlängen (eigentlich den Frequenzen, also dem Inversen der Wellenlängen) entspricht, sodass eine Relation zwischen räumlicher Ausdehnung und Impuls-Unbestimmtheit entsteht (siehe das Zitat von Dirac aus Kap. VII/5). Siehe dazu beispielhaft: Pietschmann: Eris und Eirene, a. a. O. In dieser Hinsicht stellt die abendländische Neuzeit – mit deren Bemühung um Ausmerzung alles Aporetischen im Gefolge des Siegeszuges des »Denkrahmens der Moderne« – wohl ein historisch einzigartiges Paradebeispiel für eine kulturspezifische »Disbalance« dar. 121 Es handelt sich dabei um eine der Unbestimmtheitsrelation ähnliche Beziehung zwischen Paaren von Fourier-Variablen. 119 120
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Die (quantenphysikalischen) Erkenntnismodi Komplementarität und Unbes-
Inwiefern lässt sich diese Heisenberg’sche Erkenntnis – wenn überhaupt – nun für die Bereiche des Lebendigen bzw. des Geistigen fruchtbar machen? Oder anders gefragt: Warum lassen sich Verhalten bzw. Reaktionen lebendiger bzw. geistiger Entitäten nicht in analog-präziser Weise vorhersagen wie die Bewegungen eines Pendels, also eines großen materialen Objekts? Dies ist schon allein deshalb prinzipiell nicht möglich, da Leben – um mit Spaemann zu sprechen – keine distinkte Perzeption darstellt, weil es gekennzeichnet ist durch permanenten Stoff-, Gestalt- und Informationswechsel (vgl. Kap. VII/2). Paul Overhage verweist auf diesen Zusammenhang, wenn er in seinem Text Das Problem der Art schreibt: »Sobald man eine [biologische] Art, auch eine polytypische, in ihren Merkmalen und ihrer genetisch-geographischen Isolation [also ihrer »biologischen Orts-Beobachtung«] beschreibt, wird sie zu etwas Statischem, das ihr Werden [ihre »biologische Geschwindigkeit«] unberücksichtigt lässt. Legt man dagegen den Akzent auf die Phylogenese [= GeschwindigkeitsBeobachtung], dann beginnen die morphologischen Merkmale und die ausbalancierten genetischen Zustände der Populationen an Schärfe zu verlieren oder ganz zu verschwimmen. ›[E]ine Definition, die gleichzeitig sozusagen ein Rezept zur Unterscheidung der Arten liefert, [ist] nicht möglich.‹ Oder anders ausgedrückt: Eine Art oder Population [bzw. generell: Lebendiges] kann nur solange scharf abgegrenzt werden, als sie nicht als ›Chronotyp und überhaupt nicht als historisches Wesen‹ betrachtet wird. Die Zeit muß als stillstehend, das heißt, das genetische Erbe der Art als unveränderlich, aber auch die Einflüsse der Umwelt als konstant [bzw. linear] gedacht werden [wie bei der Materie]. Ein solcher ›zeitloser Querschnitt‹ entspricht natürlich nicht der Wirklichkeit [des Lebendigen], weil es ein unveränderliches Erbgut in einer Population und eine unveränderliche Umwelt nicht gibt.« 122
Mit den erwähnten Kennzeichen des Lebendigen (Stoffwechsel, Gestaltwechsel, Informationswechsel) ist schließlich eine weitere prinzipielle Unbestimmheitsstruktur verbunden. Diese resultiert aus dem Umstand der qualitativen Individualität alles Lebendigen/Geistigen. Kommunikation vollzieht sich stets nur zwischen »qualitativ unterschiedlichen Entitäten«. Der durch Kommunikation übermittelte Inhalt kann insofern niemals identisch sein und sperrt sich somit grundsätzlich gegen (restlose) Quantifizierbarkeit.
122
Overhage Paul: Das Problem der Art, in: Stimmen der Zeit 177 (1966), S. 377.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Das bedeutet: je mehr man sich auf die Erkenntnis eines bestimmten (qualitativen) Lebewesens konzentriert (z. B. eine spezielle Person), desto weniger lässt sich die dabei gewonnene Erkenntnis verallgemeinern – und umgekehrt: je allgemeiner die betreffende Erkenntnis hinsichtlich des Lebendigen/Geistigen, desto weniger lässt sich diese auf den einzelnen/das einzelne übertragen. 123 Im Bereich der Kommunikation gibt es demnach ein entsprechendes Phänomen von Unbestimmbarkeit wie im Bereich quantenphysikalischer Interaktion; allerdings mit grundsätzlichen Unterschieden: weil es nicht quantifizierbar ist. Wir sprechen von der elementaren Erkenntnis, dass der durch Kommunikation zu übermittelnde Inhalt bei Sender und Empfänger niemals identisch ist, insbesondere, weil dieser stets mehr oder weniger unterschiedlich qualitativ kontextualisiert ist. Dazu kommt, dass der Versuch, durch präzise Definitionen Eindeutigkeit herzustellen, dazu führt, dass sich der Kreis möglicher Adressaten verringert, weil nur wenige die präzise Definition kennen. Es handelt sich um das bekannte Phänomen der Spezialisierung, das ja in einem Bonmot gut dargestellt wird: Ein Spezialist ist ein Mensch, der immer mehr von immer weniger weiß, bis er schließlich alles von nichts weiß; beim Generalisten ist es umgekehrt, er weiß immer weniger von immer mehr, bis er schließlich nichts von allem weiß. Formal erinnert das gewiss an die Unbestimmtheitsrelation: Je genauer der Ort eines Teilchens bekannt ist, umso ungenauer wird der Impuls zu bestimmen sein, bis schließlich bei exakt bestimmtem Ort der Impuls vollkommen unbestimmt wird und umgekehrt. Zum Unterschied von Interaktion kann Kommunikation (zudem) fehlschlagen; in diesem Falle kann der vom Sender ausgehende Inhalt beim Empfänger ins Gegenteil umschlagen. Es gibt keine direkte Möglichkeit, dies zu verhindern. Wie in allen dialektischen Situationen kann aber die doppelte Negation helfen. Der Empfänger kann rückfragen, ob er die kommunizierte Botschaft richtig verstanden habe. Verneint dies der Sender, können Korrekturen versucht werden. Bejaht er es, ist damit noch nicht sichergestellt, dass die Übermittlung gelungen ist, weil ja auch der Sender die Rückfrage missverstehen kann.
123
Am augenscheinlichsten zeigt sich dies vielleicht im Bereich der Medizin.
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Das Quantenphänomen der »Verschränkung«
7.
Das Quantenphänomen der »Verschränkung« 124 übertragen auf den Phänomenbereich Kommunikation
Im Kap. VI/1c haben wir das quantenphysikalische Phänomen der Verschränkung besprochen. Später (Kap. VII) haben wir daraus den Begriff »Aporon« begründet. Wenn wir nun daran gehen, das Phänomen auf den Bereich der Kommunikation zu übertragen, müssen wir uns vor allem vor Kurzschlüssen hüten. Denn wir haben immer wieder betont, dass Interaktion und Kommunikation deutlich zu unterscheiden sind. Schon im Bereich des Lebens sprechen wir daher vom VITAporon, im Bereich des Menschlichen vom PNEUMAporon oder Human-Aporon (vgl. Kap. VII/2 und 3). Erinnern wir uns: Wenn zwei identische Teilchen zusammentreffen, verschmelzen sie durch Verschränkung zu einem »Doppelteilchen«, das mit den beiden ursprünglichen Teilchen wenig gemein hat. Wenn zwei Systeme in Wechselwirkung (Interaktion) treten, hören sie sofort auf zu existieren und ein völlig neues tritt an ihre Stelle, wie Schrödinger betont hat (Kap. III/3). Also verlieren die ursprünglichen Teilchen ihre »Identität« vollkommen, wenn sie sich verschränken. Besonders deutlich wird dies am Phänomen der Bose-Einstein Kondensation. Sie betrifft Teilchen, deren Eigendrehimpuls (gemessen in Einheiten des Planck’schen Wirkungsquantums) ganzzahlig ist (null eingeschlossen). Bei Temperaturen nahe dem absoluten Nullpunkt kann sich eine sehr große Anzahl solcher Teilchen (Atome oder Moleküle) so verschränken, dass sie sich wie ein einziges Teilchen verhalten. So lesen wir etwa in einem einschlägigen Fachbuch: »Bose-Einstein Kondensation ist ein Phasenübergang, in dem eine sehr große Zahl von Teilchen in einen gemeinsamen Quantenzustand übergehen.« 125 So wie wir Interaktion und Kommunikation zu unterscheiden haben, müssen wir auch zwischen Verschränkung und Gemeinschaft
124 Im Unterschied zu Komplementarität und Unbestimmtheitsrelation handelt es sich dabei nicht um einen Erkenntnis-Modus, sondern um ein »Beziehungs«-Phänomen, das im Kontext der Erforschung des ganz Kleinen zu Tage tritt. 125 Griffin, A.; Snoke, D. W. und Stringari, S.: Bose-Einstein Condensation, Cambridge Univ. Press, Cambridge/Mass. 1995. Original: »Bose-Einstein condensation is a phase transition in which a macroscopic number of particles all go into the same quantum state.«
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
unterscheiden. Schon im Bereich der lebenden Zellen hat es keinen Sinn mehr, von Verschränkung zu sprechen oder sie auch nur in Analogie zu setzen. Denn wir haben es auch hier nicht mit einem bloßen Nebeneinander, sondern einer »Gemeinschaft«, einer »society of cells« 126 zu tun, die durch Kommunikation verbunden ist. Während physiko-chemische Interaktion keine Fehlgestalten kennt, ist Kommunikation stets nicht nur von der Möglichkeit bedroht, zu misslingen, sondern ebenso Fehlgestalten zu aktualisieren. (Vielleicht kann man Krebszellen insofern dadurch charakterisieren, dass sie die – im Sinne des Ganzen notwendige – Kommunikation mit den Nachbarzellen ablehnen? 127) Jedenfalls bleiben in einer Gemeinschaft die Teilnehmer in ihrer Individualität erhalten, wenn auch in abgewandelter Weise. Die Aporien, die den Begriff des Human-Aporon bestimmen, kommen in der Gemeinschaft zum Tragen (siehe Kap. VII/3). Das heißt: Wenn zwei Subjekte kommunizieren, hören diese dadurch gerade nicht auf, Subjekte zu sein; sonst würde ja augenblicklich die Kommunikation beendet. Selbst bei positivsten bzw. »unmittelbarsten« Gestalten von Kommunikation verschmelzen die Kommunizierenden nicht zu einem gemeinsamen »Doppelsubjekt«, sondern steigern gerade dadurch ihre jeweilige personale Subjektivität. Dieser Umstand ist sprichwörtlich geworden im bekannten Diktum »Werde, der du bist«. Im Hinduismus etwa gilt als zentrale Erfahrung des »zum Sein Erwachten« nicht – wie manchmal zu lesen – die Erfahrung der Einheit (im Sinne einer pantheistischen Verschmelzung mit allem), sondern jene des A-dvaita, der Nicht-Dualität, der Nicht-Zweiheit. Josef Sudbrack, der große Kenner östlicher wie westlicher Geistestraditionen, hebt diesen Sachverhalt hervor, wenn er unmissverständlich schreibt: »Wir europäisch Ge(ver)bildeten müssen wohl lernen, die Dokumente anderer Religionen und ihre religiöse Erfahrung lebendiger [wir können auch sagen: aporetischer] zu verstehen. Es ist einfachhin unrichtig, die […] Erfahrung der Religiosität des indischen Subkontinents auf Einheit und Sub-
126 So lautete etwa der Titel des Vortrags von Jim Trosko im Rahmen eines Krebskongresses in Palermo 2010, an dem der Kommunikationswissenschafter unter den Autoren teilnahm. 127 Vgl. dazu das Kommunikationsgradientenmodell in Kap. VIII/5b bzw. Vester, Frederic; Henschel, Gerhard: Krebs – fehlgesteuertes Leben, aktualisierte Neuausgabe, München 2000, wo die Autoren Krebs als »paralleles Leben« beschreiben.
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Das Quantenphänomen der »Verschränkung«
jekt-Objekt-Verschmelzung festzulegen, wie es durch A. Schopenhauers Verehrung des Buddhismus üblich geworden ist.« 128
Im Kapitel Verschmelzung oder Begegnung seines Buches Mystik. Sinnsuche und die Erfahrung des Absoluten beschreibt Sudbrack die Wende Martin Bubers vom monistischen »Alleinheits-Mystiker« zum dialogischen Denker wie folgt: »Vor seiner [Bubers] von ihm selbst so bezeichneten ›Bekehrung‹ vertrat er 1909 in den ›Ekstatischen Konfessionen‹ eine [monistische] Mystik-Auffassung, die […] Mystik mit der Erfahrung von All-Einheit gleichsetzte. Die dort gesammelten, reichen Zeugnisse zur Mystik machten das Buch für viele Intellektuelle wie Robert Musil zu einem Handbuch der Mystik. Doch mit seiner Bekehrung distanzierte sich Buber so scharf von diesem Entwurf, dass er die Neuauflage der ›Ekstatischen Konfessionen‹ untersagte.« 129
Aufgrund des Umstandes, dass Kommunikation die Möglichkeit des Scheiterns, des Misslingens bzw. damit verbundener Fehlgestalten kennt, sind hier (im Unterschied zur interaktionalen »Verschränkung«) Zerr-Formen von Gemeinschaft möglich, etwa in Gestalt von Abhängigkeit. Hierbei sind die Kommunizierenden nicht miteinander verbunden, sondern gegenseitig verstrickt bzw. aneinander gebunden. Hierin fallen die verschiedensten Gestalten von Sucht, speziell Beziehungs-Sucht. 130 In diesem Kontext ist das oft zitierte Wort von Sartre zu lesen: »L’enfer, c’est les autres.« Die Hölle, das sind die anderen, insofern ich mit ihnen nicht verbunden sein will, aber trotzdem an sie unentrinnbar gebunden, ja gefesselt bin. In dem Maße, als – wie in der Moderne weitestgehend üblich – vom theoretisch-widerspruchsfreien »autonomen Subjekt« ausgegangen wird, das keinen Schritt über sich hinaus zu tun vermag, ist das damit einhergehende Verständnis von zwischenmenschlichem Miteinander allein entweder 128 Sudbrack, Josef: Meditative Erfahrung – Quellgrund der Religionen?, Mainz – Stuttgart 1994, S. 101. 129 Sudbrack, Josef: Mystik. Sinnsuche und die Erfahrung des Absoluten, Darmstadt 2002, S. 19. Spätestens mit seinem Werk Ich und Du (1923) vertritt Buber eine diametral andere Grunderfahrung von Einheit: eine dialogische. Diese sieht er in ihrer Höchstform der liebenden menschlichen Begegnung verwirklicht. Dabei löse die Einungs-Erfahrung der Liebe »den personalen Eigenstand beider Personen nicht auf, sondern bestärkt ihn in seiner Tiefe.« (ebd., S. 21) Von hier aus verweist Buber auf die Erfahrung der sogenannten unio mystica, die sich quer durch alle Geisteskulturen findet und die Begegnung mit dem Seinsgrund bezeichnet. 130 Vgl. Gebsattel: Prolegomena einer anthropologischen Medizin, a. a. O., insb. S. 74–128 bzw. S. 161–212.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
im Sinne einer rein utilitaristischen Zweck-Gemeinschaft oder in der Weise verschiedener Gestalten von Abhängigkeitsverhältnissen zu verstehen. 131 Dass spezifische Kulturen von bestimmten Fehlgestalten mehr bedroht sind als von anderen, macht das nachfolgende Schema von Makato Kikuchi deutlich. 132 Der ehemalige Direktor des »Sony Research Center« in Yokohama zeichnet dabei eine bildliche Darstellung einer menschlichen Gemeinschaft. 133 Individuen werden durch Steine dargestellt, ihre Kommunikation durch Federn, die die Steine verbinden (siehe nachfolgende Abbildung).
a
b Abb. 60: Kulturenvergleich nach Kikuchi
Im linken Teil a malt Kikuchi das Bild der japanischen Gesellschaft; die Steine sind klein, die Federn stark. Dagegen sind im Bild der westlichen Gesellschaft die Steine groß und die Federn schwach. Wenn im Bild der japanischen Gesellschaft ein Stein angestoßen wird, so werden alle anderen mitschwingen müssen und bald stellt sich ein »Kon131 Ähnliches gilt auch für das neuzeitliche Verständnis des Beziehungsgeschehen im Kontext des Nicht-Menschlich-Lebendigen. Beispielhaft seien erwähnt Charles Darwins Konzept des Überlebens des »Fittesten« (London 1859), Wilhelm Roux’ Werk Der Kampf der Theile des Organismus. Ein Beitrag zur Vervollständigung der mechanischen Zweckmässigkeitslehre (Leipzig 1881) oder Richard Dawkins Bestseller Das egoistische Gen (Oxford 1976). Wenn von kooperativer Kommunikation im Tierreich die Rede ist, dann in der Regel meist nur im utilitaristischen Sinn des »Tit for Tat«; vgl. dazu: Axelrod, Robert: Die Evolution der Kooperation, Oldenbourg-München 2005; Novak, Martin: SuperCooperators: Altruism, Evolution, and Why We Need Each Other to Succeed, New York 2011; Reisenbichler: Erneute Betrachtung der Spieltheorie; a. a. O. 132 Vgl. dazu auch das HX-Schema in Kap. VIII/10. 133 Kikuchi: Creativity and ways of thinking: the Japanese style, a. a. O., S. 44.
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Interaktion, Kommunikation, das Eine und das Ganze
sens« ein, in dem alle Steine phasengleich schwingen. 134 Dagegen wird die Schwingung eines Steines im Bild der westlichen Gesellschaft wegen der Schwäche der Federn nur geringe Wirkung auf die anderen Steine ausüben, und eine kollektive Schwingung ist kaum zu erreichen. »Das ist mein Bild der individualistischen, westlichen Gesellschaft, in der sich die Leute als getrennte Wesen betrachten (die großen Steine), relativ schwach an ihre Nachbarn gekoppelt (durch die schwachen Federn)«, sagt Kikuchi. 135 Die Darstellung veranschaulicht, dass die westliche Kultur tendenziell von der Überbetonung des Individuums auf Kosten der Gemeinschaft, die japanische (bzw. allgemeiner: die ostasiatischen) Kultur(en) dagegen eher von der Überbetonung des Kollektivs bzw. der damit verbundenen Funktionalisierung des einzelnen bedroht ist (sind). Darüber hinaus wird dadurch ersichtlich, dass eine derartige »Selbstbestimmung« einer Gemeinschaft (oder Gesellschaft) voraussetzt, dass Kommunikation nicht der Naturnotwendigkeit unterliegt. Interaktionen lassen keinen Freiraum, die Folgen sind eindeutig bestimmt und vorhersehbar; Interaktionen beschränken sich auf den Bereich der Materie, Kommunikation reicht in das Gebiet des Geistes (und des Lebens), sie bedarf der Freiheit, weil sie Bedeutung zu interpretieren hat.
8.
Interaktion, Kommunikation, das Eine und das Ganze
Kommunikation kann ohne Aporien nicht relevant erfasst werden. Die wichtigste ist vermutlich jene Aporie, die uns zum Begriff des Aporon geführt hat: Kommunikation setzt Einheit voraus, die aber erst erreicht werden muss, weil sich sonst Kommunikation erübrigte. Kurz gesagt: Kommunikation sucht jene Einheit herzustellen, die schon vorausgesetzt ist, damit Kommunikation überhaupt möglich ist. 134 Original: »›Consensus‹, represented by an in-phase oscillation of the entire system, will soon be attained, and the time constant for information propagation will be short.« 135 Kikuchi: Creativity and ways of thinking, a. a. O., S. 45. Original: »This is my image of the individualistic Western societies, where people see themselves more as distinct entities (the large stones), relatively weak coupled to their neighbours (by the weak springs)«.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Leibniz ist an dieser Aporie gescheitert, seine Monaden sind »fensterlos«. Er sagt zunächst: »Die Monaden haben keine Fenster, durch die etwas hinein- oder heraustreten kann.« 136 Die Möglichkeit von Kommunikation muss er über den Umweg, alle Monaden seien Abbild der Einen (göttlichen) Monade erklären, und insofern seien sie auch miteinander verbunden. Er prägt dafür den oben schon erwähnten Begriff »prästabilierte Harmonie«; dazu Weischedel: »Gemäß der Idee der prästabilierten Harmonie ist von Anbeginn alles, was in den unendlich verschiedenen Monaden passiert, aufeinander abgestimmt. […] Wenn die inneren Gesetze der einzelnen Monaden und ihre Harmonie miteinander von Anfang an festgelegt sein sollen, dann kann das nur durch Gott als Schöpfer geschehen.« 137
Interessanterweise hat Albert Einstein bei seinen methodischen Betrachtungen, welcher Weg zu neuen Naturgesetzen führen kann, auf Leibnizens prästabilierte Harmonie zurückgegriffen. Er schreibt: »Zu diesen elementaren Gesetzen führt kein logischer Weg, sondern nur die auf Einfühlung in die Erfahrung sich stützende Intuition. […] Bei dieser Unsicherheit der Methodik könnte man denken, dass beliebig viele, an sich gleichberechtigte Systeme der theoretischen Physik möglich wären: diese Meinung ist auch prinzipiell gewiss zutreffend. Aber die Entwicklung hat gezeigt, dass von allen denkbaren Konstruktionen eine einzige jeweils sich als unbedingt überlegen über alle anderen erwies. Keiner, der sich in den Gegenstand wirklich vertieft hat, wird leugnen, dass die Welt der Wahrnehmungen das theoretische System praktisch eindeutig bestimmt, trotzdem kein logischer Weg von den Wahrnehmungen zu den Grundsätzen der Theorie führt. Dies ist es, was Leibniz so glücklich als ›prästabilierte Harmonie‹ bezeichnete. […] Die Sehnsucht nach dem Schauen jener prästabilierten Harmonie ist die Quelle der unerschöpflichen Ausdauer und Geduld […]. Der Gefühlszustand, der zu solchen Leistungen befähigt, ist dem des Religiösen oder Verliebten ähnlich; das tägliche Streben entspringt keinem Vorsatz oder Programm, sondern einem unmittelbaren Bedürfnis.« 138
Zu beachten ist dabei jedoch, dass Einstein von einer widerspruchsfreien Wirklichkeit ausgeht und daher unter »prästabilierter Harmonie« nicht jene Dimension versteht, die Leibniz zur Ermöglichung von Kommunikation fensterloser Monaden eingeführt hat. (Siehe die Ausführungen in Kap. V/4a). Leibniz: Monadologie, Lehrsatz 7. Weischedel, Wilhelm: Die philosophische Hintertreppe, 20. Auflage, dtv-Verlag, München 1991, S. 149 f. 138 Einstein: Mein Weltbild, a. a. O., S. 109. 136 137
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Interaktion, Kommunikation, das Eine und das Ganze
In unserem Begriff des Aporon ist der Widerspruch integriert. Wir erinnern uns: APORON Ich kommuniziere, also sind wir. Wir kommunizieren, also bin ich.
Individuum und Gemeinschaft setzen einander voraus wie Henne und Ei. Daher ist es auch eine Reduktion, wenn in der Logik zum Beispiel vom »Wahrheitsgehalt« einer Aussage gesprochen wird, ohne dabei mitzudenken, dass jede Aussage zwischen Menschen zu begreifen ist. Kommunikation ist ein typischer Begriff des »Zwischen«, wiewohl er sich in Ausnahmen auch auf das Zwischen in einer einzelnen Seele beziehen kann. Gotthard Günther hat darauf hingewiesen, dass die übliche Behandlung des Subjekt-Objekt Problems von der Notwendigkeit eines anderen Subjekts absieht und daher in diesem Sinne schon reduktionistisch ist: »Die klassische Logik des Aristoteles ist zweiwertig, weil sie sich mit dem einfachen Unterschied von Ich und Nicht-Ich begnügt. Sie ignoriert die nicht abzuleugnende Tatsache, dass der Begriff des Nicht-Ich zweideutig ist. Nicht-Ich ist erstens: das Du und zweitens: das Ding.« 139
Die Aussage eines Subjekts über ein Objekt ist erst dann sinnvoll, wenn sie – im Sinne der Kommunikation – für ein anderes Subjekt gemacht wird, wenn sie also mitgeteilt wird. Andernfalls bleibt sie solipsistisch und hat keinen Wert, weder für die Gemeinschaft noch für das Subjekt. Um eine Aussage über ein Objekt vernünftig betrachten zu können, brauchen wir mindestens zwei Subjekte, die miteinander über dieses Objekt kommunizieren. Im Alltagsverständnis können Erkenntnis und Kommunikation getrennt werden; dies entspricht der leider üblichen Organisation unserer Bildungseinrichtungen, in denen Fachleute die Erkenntnis erarbeiten, um sie dann weiterzugeben. Nach dieser Ansicht spiegelt die Erkenntnis eine unabhängig gegebene Realität mehr oder weniger treu wider.
139 Günther, Gotthard: Idee und Grundriss einer nicht-aristotelischen Logik, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1978, S. 66.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Wenn die Kommunikation zwischen den beiden Subjekten im Vordergrund steht, ist das Ziel, Konsens zu erreichen; dieser ist dann »objektivierend«, stiftet erst das Objekt. In dieser Sicht steht zwar das Erkenntnisgeschehen im Zentrum, aber das Ergebnis kann nur beschränkt auf die jeweilige Gruppe als »objektiv« bezeichnet werden. In einer dialektischen Betrachtungsweise sind alle drei Pole des Spannungsfeldes gleich bedeutend. Die beiden Subjekte kommunizieren über ein Objekt mit dem Ziel, einen Konsens zu erarbeiten, der nicht im Widerspruch mit dem Gegebenen steht (was meist nicht aus der Kommunikation allein, sondern erst aus den daraus folgenden Handlungen erschlossen werden kann). Eine ständige Überprüfung des Ausgehandelten am Gegebenen ist dabei erforderlich. Ernstnehmen dieser Sichtweise müsste auch eine andere Form der Organisation unserer Bildungseinrichtungen nach sich ziehen, welche die alte Formel der »Einheit von Forschung und Lehre« durch eine neue Synthese ersetzen könnte. Im Kapitel über die Verschränkung (VI/1c) sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass das Ganze nicht mehr, sondern etwas anderes ist als die Summe seiner Teile (in Kontexten des Lebendigen bzw. Geistigen ist es vielleicht besser, nicht von Teilen, sondern von »Sub-Ganzen« – als Mitglieder eines lebendigen Ganzen – zu sprechen). Erst dadurch wird Kommunikation überhaupt möglich; jene Einheit, die schon vorausgesetzt ist, damit Kommunikation möglich ist, kommt nicht zu der Summe der (kommunizierenden) Teile (Subganzen) quasi mechanistisch hinzu, sonst wäre Kommunikation ein Drittes, das die Kommunizierenden nicht wahrlich berührt oder gar verändern kann. Kommunikation ist von den Kommunizierenden nicht zu trennen, erst dadurch können sie erfasst und bewegt werden. Dennoch gibt es die Möglichkeit von Missverständnissen, also des Scheiterns der Kommunikation. Dies geschieht dann, wenn sich ein Aporon – anstelle der Selbstwerdung in der Kommunität – entweder aus der Gemeinschaft löst oder sich zu sehr an diese klammert; d. h. in forcierter Weise entweder autonome Individualität oder konforme Kollektivität anstrebt; freilich ist dies stets eine Gefahr, weil die Vorstellung, (autonomes) Individuum oder/und »funktionales Rädchen« zu sein, für das Aporon stets eine Versuchung darstellt, d. h. das »Werde, der du bist« zu ersetzen durch ein »Sei, was du willst«. Das Ganze, das etwas anderes ist als die Summe seiner Teile (des Subganzen), ist also noch immer nicht Garantie für das Gelingen von 366 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Interaktion, Kommunikation, das Eine und das Ganze
Kommunikation. Wir haben ja auch gesagt, im Akt der Kommunikation wird versucht, jene Einheit herzustellen, die schon vorausgesetzt ist, damit Kommunikation möglich ist. Ziel von Kommunikation ist – wie wir zu zeigen versuchten – nicht nur Austausch und Mitteilung, sondern vor allem bzw. letztlich Einheit, Gemeinsamkeit, wahres Mit-Sein. Dieses Telos kann aber zunächst nur erreicht werden durch die individuelle Rückbindung in bzw. die Teil-Habe an einem (gemeinsamen) Ganzen, weil Leben (und damit Kommunikation) immer im Einzelnen erscheint. Diese Einzelnen sind – als Aporons – zwar nolens volens aufeinander angewiesen, sie streben vielleicht sogar meist nach Gemeinschaft, suchen also eine Einheit zu verwirklichen, müssen dabei aber notwendigerweise scheitern, solange sie primär selbst (über-)leben wollen, d. h. nach Selbsterhaltung streben und einer Gemeinschaft nur funktional-zweckhaften Charakter (für sich) zuweisen. Denn Überleben ist immer an ein einzelnes Leben gebunden. Einheit bleibt ein – zwar nie ganz erreichbarer, so doch permanent anstrebbarer – Horizont, wenn er über den »Umweg« der Selbsttranszendenz, d. h. durch ich-überschreitende Teil-Gabe an dem gemeinsamen Ganzen (und damit Teil-Habe am Einen, Vereinenden), verwirklicht werden kann. Platon beschreibt dies mittels des Begriffs der ›Teilhabe‹ (Methexis): »Dass das Geteilte [Unterschiedene] in all seinen Teilen [Sub-Ganzen] am Einen teilhaben kann, dem steht nichts im Wege, und dass es auf diese Weise [der Teilhabe] ein Ganzes und vollständig eines sein kann. […] Vollkommen ohne [abgeschiedene] Teile [Sub-Ganze] ist doch notwendig das wahrhaft Eine seiner richtigen Bestimmung nach.« 140
Der schon zitierte Giovanni Reale interpretiert dies so: »Das Eine im ursprünglichen Sinn ist absolut unteilbar [ganz] bzw. absolut einfach [unentzweit].Was aus Teilen [Sub-Ganzen] besteht, kann Einheit besitzen, aber nur aufgrund der Teilhabe (Methexis) am Einen. Das Ganze fällt weder mit dem Einen noch mit dem Sein zusammen, sondern stellt in gewissem Sinn den Horizont dar, in den beide fallen.« 141
Wir können versuchen, diese Dialektik wieder in ein H-Schema zu fassen: 142
140 141 142
Platon: Sophistes 242D-245D. Reale: Zu einer neuen Interpretation Platons, a. a. O., S. 176. Siehe dazu Pietschmann: Das Ganze und seine Teile, a. a. O., Kap. VIII.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Das (unentzweit) Eine
Das (unterschiedslosmonistische) Eine
Das (gemeinsame) Ganze
H
Das (pseudogemeinsame) Totale
Abb. 61: H-Schema Das Eine / Das Ganze
Eine auf Einheit und ein gemeinsames Ganzes abzielende menschliche Kommunikation ist demnach mit der aporetischen Herausforderung verbunden, einerseits ich-überschreitend zu handeln, um durch Teilhabe zu einer Einheit zu gelangen, gleichzeitig jedoch Ich zu werden, um persönlich Anteil geben zu können im Hinblick auf ein gemeinsames Ganzes. Die zugehörige HX-Verwirrung spiegelt sehr anschaulich die Probleme zwischenmenschlicher Kommunikation. Machen wir uns dies am einfachsten Fall der Gemeinschaft von zwei Aporons deutlich: Wird dabei primär nach dem (gemeinsamen) Ganzen gestrebt und das Eine (Vereinende) vernachlässigt, droht der Fall in den »Schatten« des pseudogemeinsamen Totalen. Umgekehrt steht ein primäres Streben nach Vereinigung unter Minderbeachtung des gemeinsamen Ganzen in der Gefahr des Fallens in den »Schatten« des (unterschiedslos) Einen, d. h. des Wunsches nach Verschmelzung, Ich-Auflösung im Monistisch-All-Einen. Wie das (pseudogemeinsame) Totale als Ersatz für das (als unerreichbar erachtete) Eine dient, bildet umgekehrt das Streben nach Auflösung im All-Einen ein Surrogat für die fehlende Ich-Überschreitung in ein gemeinsames Ganzes. Das (unentzweit) Eine
Das (unterschiedslosmonistische) Eine
Das (gemeinsame) Ganze
X
Das (pseudogemeinsame) Totale
Abb. 62: HX-Schema Das Eine 143 / Das Ganze
Die Herausforderung besteht demnach darin, trotz negativer persönlicher Erfahrungen und Enttäuschungen sowohl das unentzweit Eine
143 Unter Voraussetzung des Geistprimats lässt sich »das Eine« schwerlich anders denn kommunikativ und unentzweit denken, während unter Voraussetzung der Materie als Grundelement der Wirklichkeit vice versa von monistischen sowie interaktionalen Zügen »des Einen« auszugehen ist.
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Unterschiedliche kulturparadigmatische Deutungsmöglichkeiten
wie das gemeinsame Ganze nicht aus dem Auge zu verlieren. Wenn dennoch eine Synthese angestrebt wird, sprechen wir von Liebe, die eine Gemeinschaft auch dann noch aufrechterhält, wenn es zu Missverständnissen kommt.
9.
Unterschiedliche kulturparadigmatische Deutungsmöglichkeiten der Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation
In Kap. II/2 wurde – mit Bezug auf Rückriem – die prinzipielle Unterscheidung zwischen Mittel als einem (austauschbaren) Zweckverwirklichungsinstrument und Medium als einer unverzichtbaren Ermöglichungsbedingung, einer conditio sine qua non, getroffen. Beispielhaft zeigt sich dies am Phänomen der menschlichen Sprache. Diese stellt nie bloß ein Kommunikations-Mittel dar, das gegebenenfalls auch durch ein anderes ersetzt (oder auf das gar gänzlich verzichtet) werden könnte, sondern bildet darüber hinaus stets ein unentbehrliches Kommunikations-Medium, in dem sich Menschsein notwendigerweise vollzieht. »Außerhalb« des Mediums Sprache ist menschliche Existenz nicht denkmöglich. (Das bedeutet natürlich nicht, dass sprachunfähige Behinderte keine Menschen sind! Nach unserem Verständnis leben auch sie im Medium der Sprache.) Basierend auf dieser Differenzierung wurde in Kap. III/10 dargelegt, dass dieses allgemein-anthropologische KommunikationsMedium Sprache seinerseits jeweils eingebettet ist in einen Kontext von kulturspezifisch präferierten Leit-Medien, die das betreffende Kommunikations- und Erkenntnismilieu einer Geistestradition prägen und auf diese Weise den »kulturmedialen Raum« der Welt-Anschauung bzw. Welt-Aneignung vorbestimmen. An dieser Stelle soll nun in einem weiteren Gedankenschritt darangegangen werden, ersichtlich zu machen, dass auch die jeweiligen Kultur-Leit-Medien ihrerseits noch einmal rückgebunden bzw. eingebettet sind; eingebettet in einer Dimension, die Theunissen als »Zwischen« bezeichnet. Damit ist jenes »fundamentale« Medium gemeint, das – nach unterschiedlicher kulturspezifischer Ansicht – allem Seienden zugrunde liegt; wir können es insofern »Seins-Medium« nennen. Im erweiterten Schema stellt sich der Sachverhalt so dar:
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
KommunikationsMedium
Kommunikations-Mittel Sprache Subjekt 1
Subjekt 2 Sprache
Kulturelles Leit-Medium Seins-Medium
Abb. 63: Seins-Medium
Machen wir uns diesen Zusammenhang anhand eines Beispiels deutlich. Die abendländische Moderne ist – wie zu zeigen versucht wurde – gekennzeichnet durch die Annahme, dass Materie das Grundelement der Wirklichkeit bildet. Dem entsprechend trägt das Seins-Medium/Zwischen in diesem Fall – um es in der vorgeschlagenen Terminologie zu formulieren – interaktionale Züge. Das bedeutet: Der Grund allen Seins gilt gemäß dieser kulturspezifischen Annahme als nicht kommunikabel. Die konsequente Folge davon ist dabei nicht in erster Linie im Umstand zu sehen, dass der Mensch in diesem Fall genötigt ist, sich als »Zigeuner am Rande des Weltalls« zu begreifen, der in einem lebensfeindlichen und stummen Kosmos sein Dasein zu fristen hat, wie dies der Biochemiker Jaques Monod Mitte des 20. Jahrhunderts beklagte, sondern die eigentliche Konsequenz besteht darin, dass sich der Mensch – bei Grundlegung der Materie als Seins-Medium – vernünftigerweise schwerlich länger als Kommunizierender, Wollender, Schuldig-Werdender und Liebender verstehen kann, sondern sich vielmehr als Ansammlung hochkomplexer interaktionaler Abläufe – und sonst nichts! – begreifen muss. Demnach reduziert sich – wie Schmidinger bemerkt – »das [menschliche] Indiviuum auf ein Einzelsubjekt als Spielplatz unendlicher Kombinationsmöglichkeiten von Systemfaktoren. Der einzelne
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Unterschiedliche kulturparadigmatische Deutungsmöglichkeiten
Mensch wird in dieser Perspektive zu einer isolierten Schaltstelle, in der sich anonyme [Interaktions-]Strukturen beliebig variieren […]. Von Identität kann jetzt höchstens noch im numerischen Sinne gesprochen werden.« 144
Dass dies eine wahrhaft schizophrene Züge tragende »Double-bindKonstellation« darstellt, macht Tarnas deutlich, wenn er schreibt: »Die Situation der Moderne ist ein ungewöhnlich umfassender und grundlegender Double-bind, der einfach deswegen nicht sofort ins Auge fällt, weil er so universell ist. […] Wir scheinen zwei verschiedene [sich widersprechende] Botschaften über unsere existenzielle Situation zu empfangen – auf der einen Seite heißt es: widme all deine Kraft der Suche nach Sinn und spiritueller Erfüllung, auf der anderen Seite heißt es: erkenne, daß das Universum, dessen Substanz wir uns verdanken [= Materie als Seins-Medium], dieser Suche völlig gleichgültig gegenübersteht […].« 145
Vor diesem Hintergrund erscheint die wachsende Zahl derer, die inzwischen dem Menschen den freien Willen abzusprechen geneigt sind, plausibel. Schmidinger weist darauf hin, dass diese Tendenz nicht erst jüngeren Datums ist, sondern »sich bereits seit Schopenhauer und dem späten Schelling im europäischen Denken Tendenzen und geistige Strömungen breitmachen, die ›Freiheit‹ und Selbstbestimmung durch anonyme Mächte und Instanzen eröffnet sein lassen, die vor ihnen kommen und – allen entgegengesetzten Beteuerungen zum Trotz – über sie verfügen.« 146
Anders sieht es aus, wenn als grundlegendes »Zwischen« nicht Materie, sondern Geist im Sinne eines »denkenden und wollenden Jetzt« (Robert Spaemann) angenommen wird. Unter dieser kulturspezifischen Voraussetzung werden dem »Seins-Medium« kommunikative Züge zuerkannt, die, was Struktur und Grad der Ansprechbarkeit ausmacht, differieren (vgl. Kap. III/6). Es versteht sich von selbst, dass je nach unterschiedlicher kulturparadigmatischer Deutung des »Seins-Mediums« die Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation völlig anders ausfällt. In genau diesem Sinne sieht Joseph Ratzinger die letztlichen Alternativen zur Schmidinger, Heinrich: Der Mensch ist Person, Innsbruck 1994, S. 20. Tarnas, Richard: Idee und Leidenschaft. Die Wege westlichen Denkens (amerik. Orig.: The Passion of the Western Mind, New York 1991), 2. Aufl., München 2001, S. 526 f. Vgl. zu dieser Thematik auch: Deleuze, Gilles: Schizophrenie und Gesellschaft. Texte und Gespräche 1975–1995, Frankfurt/Main 2005. 146 Schmidinger: Der Mensch ist Person, a. a. O., S. 18. 144 145
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Deutung der Welt der Erscheinungen in der Wahl zwischen einem streng mechanistischen und einem personalen Weltbild. 147
10. Kommunikationswissenschaft als transdisziplinäre und transkulturelle »Brückenwissenschaft« Am Beginn des Bandes wurde dargelegt, dass die Kommunikationswissenschaft auch ca. 100 Jahre nach Gründung des ersten Instituts für Zeitungskunde 1916 in Leipzig gegenwärtig – noch immer – nach einem gemeinsamen Fachverständnis sucht. Es besteht aktuell zwar ein weitgehender impliziter Konsens hinsichtlich der empirisch-analytischen Ausrichtung des Faches, nachdem sich diese erkenntnistheoretische Richtung im Zuge der »empirisch-sozialwissenschaftlichen Wende« (Löblich) an unterschiedlichen kommunikationswissenschaftlichen Standorten durchgesetzt hat (vgl. Kap. II/2); doch daraus resultierte gerade kein explizites disziplinspezifisches Fachverständnis. Nach Löblich ist vielmehr eine aktuelle Tendenz zu bemerken, dass, nachdem manchen Autoren die normativ orientierte »geisteswissenschaftliche Publizistik und Zeitungswissenschaft wie ein ›enges Korsett‹ vorgekommen [ist], […] [das] Ergebnis der [empirisch-sozialwissenschaftlichen] Wende […] wieder aus einem Korsett, vor allem in methodologischer Hinsicht [bestand].« 148 Wenn schließlich die Autorin darüber hinaus bemerkt: »Nach der Umorientierung waren naturwissenschaftliche analytisch-quantitative Verfahren fraglos das [kommunikationswissenschaftliche Erkenntnis-]Leitbild geworden, historische und andere geisteswissenschaftliche Ansätze wurden an den Rand gedrängt« 149,
so lässt sich nun – nach unserem Denkweg durch die Geistes- und Wissenschaftsgeschichte – das methodologisch »enge Korsett« der 147 Wörtlich führt er dazu näher aus: »Wenn die Welt [letztlich] nur ein System mechanischer [materialer] Abläufe ist, kann man auch nur mit Druck und Gegendruck in ihr aktiv und reaktiv werden. Wenn dagegen der Grund der Welt Geist ist, d. h. Schauen und Lieben, dann ist der Mensch als Geist, d. h. ebenfalls als Wesen des Schauens, Hörens und Liebens auf diesen Grund rückbezogen, und im Dialog beider verläuft die eigentliche Achse der Welt.« (Ratzinger: Dogma und Verkündigung, a. a. O., S. 121) 148 Löblich: Die empirisch-sozialwissenschaftliche Wende in der Publizistik- und Zeitungswissenschaft, a. a. O., S. 311. 149 Löblich: ebd., S. 311.
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Kommunikationswissenschaft als »Brückenwissenschaft«
empirisch-analytisch orientierten Kommunikationswissenschaft mit dem gleichsetzen, was in Kap. III/3 als »Denkrahmen der Moderne« beschrieben wurde. Indem schließlich durch die Quantentheorie offenkundig wurde (vgl. Kap. V/1), dass dieser Denkrahmen nicht einmal ausreichend ist, um Materie vollständig zu beschreiben, erweisen sich dessen prinzipielle Grenzen erst recht bei der Beschreibung des Lebendigen bzw. Humanen. Gemäß dem klassischen Erkenntnisgrundsatz, dass der Gegenstand die Methode(n) bestimmt (und nicht umgekehrt), gilt es unseres Erachtens – gerade methodologisch – der aporetischen Struktur des Phänomens Kommunikation Rechnung zu tragen (vgl. Kap. VIII/6 & 7) und von da aus zu versuchen, die Kommunikationswissenschaft im »Wissenschafts-Orchester« zu verorten. Am Ende des Buches angekommen, lässt sich zumindest die Suchrichtung angeben. Nach dem Ausgeführten könnte die Kernaufgabe einer Kommunikationswissenschaft der Zukunft in ihrer Rolle als Integrationsdisziplin 150 im Hinblick auf die fächerübergreifende Vielfalt von (ihrer Struktur nach aporetischen) Kommunikationsphänomenen des Lebendigen und Human-Geistigen bestehen. Integration dabei nicht nur verstanden als Brücke zwischen Disziplinen, sondern auch zwischen unterschiedlichen kulturspezifischen kommunikationswissenschaftlichen Zugängen. Hier tauchen Herausforderungen auf, die man durch eine – am Gegenstandsbereich Materie bzw. Denkrahmen der Moderne orientierte – (Natur-)Wissenschaft prinzipiell nicht in den Blick bekommt. Ein Beispiel möge genügen, um dies pars pro toto zu veranschaulichen: Stefanie Averbeck-Lietz macht darauf aufmerksam, dass die renommierte französische Kommunikationswissenschafterin AnneMarie Laulan die fehlende weltweite Grenzüberschreitung von theoretischem Wissen in ihrem Fach beklagt, insbesondere das Fehlen einer gemeinsamen Entwicklung von transkulturellen Forschungsansätzen und Theorien auf einer internationalen Ebene. 151
150 Vgl. dazu: Karmasin, Matthias; Rath, Matthias; Thomaß, Barbara (Hrsg.): Kommunikationswissenschaft als Integrationsdisziplin, Wiesbaden 2014; Hamberger/Luger (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O. 151 Vgl. Averbeck-Lietz, Stefanie: Kommunikationstheorien in Frankreich. Der epistemiologische Diskurs der Sciences de l’information et de la communication (SIC) 1975–2005, Berlin 2010, S. 13 f.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
Zentrale Fragestellungen des Faches wären dabei: Inwiefern differiert das Verständnis von Kommunikation je nach Geisteskultur? Was kennzeichnet menschliche Kommunikation im Unterschied zu Bio-Kommunikation (beim Nicht-menschlich-Lebendigen) sowie insbesondere in Abgrenzung gegenüber (physiko-chemischer) Interaktion? Vor allem: Wie ist Kommunikation überhaupt möglich? In letztgenannter Frage erblicken Krallmann und Ziemann die Schlüsselfrage des Faches. Wörtlich schreiben sie dazu: »Die zentrale, sie fundierende wie auch vorwärtstreibende, Problemstellung der Kommunikationswissenschaft lautet: Wie ist Kommunikation möglich? […] Wenn wir einleitend dargelegt hatten, dass aller Forschung ein Rätsel, eine Frage, ein Problem vorausgeht und sich dadurch Wissenschaften (be-)gründen, dann kann der Kommunikationswissenschaft eine disziplinäre Identität eben genau durch die genannte exklusive Problemstellung zugeschrieben werden. Mit diesem allgemeinen Problemfokus und allen spezielleren, damit verbundenen Fragen unterscheidet sich die Kommunikationswissenschaft explizit von anderen, sich ebenfalls um die Erforschung menschlichen Handelns und Verhaltens bemühenden Wissenschaften […]« 152.
All die anderen universitären Disziplinen, die sich auch – aus ihren fachspezifischen Blickwinkeln und Erkenntnisinteressen – mit dem Phänomen Kommunikation beschäftigen (dies sind die allermeisten), könnten auf diese Weise auf das von der Kommunikationswissenschaft bereitgestellte allgemeine bzw. transkulturelle Wissen hinsichtlich Kommunikation zurückgreifen sowie ihrerseits eigene fachspezifische Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft übermitteln, die so als disziplinenverbindende transdisziplinäre sowie transkulturelle Brückenwissenschaft fungieren könnte.Vor diesem Hintergrund ist der nachfolgende Versuch zu sehen, das HX-Schema auf Kulturen zu übertragen: Unsagbare SAGBARKEIT
Sagbare UNSAGBARKEIT
Wort-Offenbarungskulturen
Totale SAGBARKEIT Abendländische Moderne (Nicht-Offenbarungskultur)
Nicht-Wortoffenbarungskulturen
X
Totale UNSAGBARKEIT Globale Post-Moderne (Nicht-Offenbarungskultur)
Abb. 64: HX-Schema Sagbarkeit / Unsagbarkeit 152
Krallmann/Ziemann: Grundkurs Kommunikationswissenschaft, a. a. O., S. 17.
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Kommunikationswissenschaft als »Brückenwissenschaft«
Mit diesem »Kulturen-HX« 153 soll – ganz im Sinne von Niels Bohr 154 – die Komplementarität zwischen Ost und West als wechselseitige Ergänzung und Korrektiv von sagbarer Unsagbarkeit des Ostens bzw. unsagbarer Sagbarkeit des Westens deutlich werden. 155 Es dient einerseits der Veranschaulichung der positiv-komplementären Ergänzung der Kulturen von »Ost« und »West« 156, andererseits der Ersichtlichmachung jener negativen »Schatten-Kulturen«, wie sie die Vorherrschaft des Utilitarismus bzw. Konsumismus im säkularen Westen hervorgebracht hat: der beiden verstrickten kulturspezifischen Fehlgestalten totaler Sagbarkeit (abendländische Moderne) sowie totaler Unsagbarkeit (ins Globale ausgreifende Post-Moderne 157). Sichtbares Resultat dieser Entwickung ist eine zunehmende Sprachlosigkeit Europas bzw. des Westens im »Werte-Dialog der Kulturen«. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag (2011) wies Papst Benedikt XVI. darauf hin, dass Europa »gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt [werde]«, wenn es – wie Alexander Kissler ergänzt – »in seiner eigenen Kultur nur das als Norm akzeptiere, was funktioniert, was sich rechnet und berechnen lässt. Diese Auffassung von der Welt als Datenpool und technischem Großprojekt sei andernorts völlig unglaubwür153 Siehe auch: Hamberger, Erich: Die aktuelle Bedeutung von Ferdinand Ebner für die komparative Philosophie in einer transkulturell werdenden Welt (wird erscheinen). 154 Der Vater der Quantentheorie schreibt dazu schon Anfang der 1930er Jahre, ohne den Gedanken näher zu erläutern: »Ähnlich wie man das Wort komplementär gebraucht, um das Verhältnis zwischen Erfahrungen zu charakterisieren, die mit Hilfe verschiedener Versuchsanordnungen gewonnen werden können und deren Veranschaulichung nur mittels verschiedenartiger Vorstellungen möglich ist, können wir sagen, daß verschiedene [menschliche] Kulturen komplementär zueinander sind.« (Zitiert nach Bohr, Niels: Erkenntnistheoretische Fragen der Physik und die menschlichen Kulturen, in: ders.: Atomphysik und menschliche Erkenntnis. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1930 bis 1961, Braunschweig 1985, S. 29) 155 Auf Grund der geglaubten Selbst-Offenbarung des Seinsgrundes in den WortOffenbarungskulturen. Vgl. dazu die sogenannte »negative Theologie« christlicher Tradition; etwa die »negative Kreuzestheologie« von Erich Przywara in dessen Zentralwerk Analogia Entis (München 1932) sowie Stolina, Ralf: Niemand hat Gott je gesehen: Traktat über negative Theologie, Berlin 2000, insb. S. 49–66; Hoff: Chalkedon im Paradigma Negativer Theologie, a. a. O., Sudbrack, Joseph: Trunken vom helllichten Dunkel des Absoluten. Dionysius der Areopagite und die Poesie der Gotteserfahrung, 2. Aufl., Einsiedeln 2006. 156 Dabei steht »Ost« für Nicht-Wortoffenbarungskulturen bzw. »West« für WortOffenbarungskulturen. 157 Insbesondere durch den Siegeszug der modernen Technik.
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VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
dig. Überall sonst gehöre die geistige, spirituelle Dimension des Menschen fest zu dessen Wirklichkeit.« 158
Abgesehen von den allzu menschlichen Schwierigkeiten im Zusammenhang fächerübergreifender Forschung steht dieser Vision vor allem eine erkenntnistheoretische Hürde im Weg: der Umstand, dass – echte – Transdisziplinarität bislang kaum auszumachen ist. Damit wollen wir uns im vorletzten Abschnitt auseinandersetzen.
11. Auf dem Weg zu einem neuen Verständnis von fächerübergreifender Forschung und Lehre, von Universität Wir behaupten zunächst, dass es echte Zusammenarbeit unterschiedlicher Fächer – also Transdisziplinarität – heute noch nicht gibt (Einzelfälle ausgenommen). 159 Was derzeit unter dem Begriff Transdisziplinarität 160 subsummiert wird, kann »unechte« Transdisziplinarität genannt werden. Es gibt davon zwei Arten: Zum einen wird von Transdisziplinarität gesprochen, wenn eine Wissenschaft als Hilfswissenschaft einer anderen zuspielt. Wir bestreiten nicht, dass dies sehr fruchtbar sein kann! Ein bekanntes Beispiel ist die physikalische Altersbestimmung für die Geschichtswissenschaft. Dabei sind die beiden Disziplinen hierarchisch geordnet, wobei Ergebnisse der untergeordneten Disziplin leicht in die übergeordnete eingebaut werden können, ohne dass dabei eine echte Verständigung über Spezialbegriffe einer Disziplin gefordert wäre. Zum zweiten gibt es viele so genannte »transdisziplinäre Veranstaltungen«, wobei mehrere Disziplinen zu einem gemeinsamen
158 Benedikt XVI. zitiert nach Kissler (2012): »Theologenpapst« Joseph Ratzinger; Internetquelle: http://www.focus.de/politik/ausland/papst/tid-25549/joseph-ratzinger2005-gewaehlt-sieben-jahre-benedikt-sieben-punkte-des-pontifikats-4-draengt-diereligion-nicht-aus-der-oeffentlichkeit_aid_739967.html) 159 Vgl. zur erkenntnistheoretischen Herausforderung fächerübergreifender Forschung allgemein: Bernkopf, Elisabeth; Esterbauer, Reinhold; Ruckenbauer, HansWalter (Hrsg.): WortWechsel. Sprachprobleme in den Wissenschaften interdisziplinär auf den Begriff gebracht, Würzburg 2007; Hamberger/Luger (Hrsg.): Transdisziplinäre Kommunikation, a. a. O., Vilsmaier: ÜberRäumlichkeit, a. a. O. 160 Vgl. zur Differenzierung zwischen Transdisziplinarität, Interdisziplinärität und Multidisziplinarität aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht: Bonfadelli, Heinz; Jarren, Ottfried; Siegert, Gabriele (Hrsg): Einführung in die Publizistikwissenschaft, 3. vollständig überarbeitete Aufl., Stuttgart 2010, insb. S. 3–18.
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Neues Verständnis von fächerübergreifender Forschung und Lehre
Thema sprechen, ohne miteinander zu kommunizieren. Die Bedeutung solcher Symposien soll ebenfalls nicht geschmälert werden, es sei nur betont, dass ohne echte (fächerübergreifende) Kommunikation nicht von Transdisziplinarität gesprochen werden sollte. Obwohl offenbar eine gewisse Sehnsucht nach Zusammenschau verschiedener Disziplinen besteht, weil davon auch eine gegenseitige Befruchtung oder eine Korrektur von Einseitigkeit erwartet wird, gelingt es bislang offenkundig nicht, diese »unechten« Ansätze zu einer echten Transdisziplinarität weiter zu entwickeln. Dies liegt zweifellos auch am mechanistischen Denkrahmen. Das erste Axiom der Aristotelischen Logik verlangt mit Recht die genaue Definition aller in einer Disziplin verwendeten Begriffe. Nun ist aber die Spezialisierung unserer Wissenschaften so weit fortgeschritten, dass der Umfang von Begriffen sehr klein geworden ist. Derselbe Begriff kann daher in verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Bedeutung haben, sodass es überhaupt keine Überlappung mehr gibt. Eine Verständigung über die Grenzen der Disziplinen hinweg ist dann im klassischen Sinn einfach nicht mehr möglich! Wir wollen uns dies am Begriff Energie genauer ansehen. Dazu sei zunächst zusammengetragen, was in verschiedenen Disziplinen unter »Energie« verstanden werden kann (Vollständigkeit wird dabei nicht angestrebt!): Göttliche Energie
Aura
E=m2
Elektrizität kinetische Energie
Liebe
Licht
Wärme
Energetische Heilung (Chi) Kommunikation
Rotationsenergie Magnetismus
Libido Abb. 65: Bedeutungsvielfalt Energie-Begriff
Nur der kursiv geschriebene Teil dieser Tabelle wird in der Physik als »Energie« verstanden. Energie ist nur, was sich in der Einheit »Masse mal Geschwindigkeits-Quadrat«, also Erg oder Joule, messen lässt! (Manche Physiker überkommt ein Schaudern, wenn von »EnergieVerbrauch« gesprochen wird, weil die Energie eine Erhaltungsgröße ist und daher nur umgewandelt, nicht aber »verbraucht« werden kann.) Dabei gibt es den Begriff »Energie« in der Physik erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts; er wurde von Lord Kelvin (William Thomson) in Zusammenhang mit dem Erhaltungssatz erstmals ver377 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
wendet. J. Robert Mayer 161, James P. Joule und selbst Hermann von Helmholtz gebrauchten noch den Begriff »Kraft« für die Erhaltungsgröße. In der Alltagssprache wurde der Begriff Energie freilich schon lange benutzt. Aristoteles schrieb: »Unter energeia (Wirksamkeit!) versteht man, dass die Sache existiere, nicht in dem Sinne, wie man sagt, sie sei dem Vermögen nach, sondern der wirklichen Tätigkeit nach. Daher ist der Name energeia von Werk (ergon) abgeleitet und zielt auf Vollendung.« 162
Ein anderes Beispiel: Robert Schumann überschrieb einen Satz seines Klaviertrios d-moll Op.63 mit den Worten »Mit Energie und Leidenschaft«. Wir könnten leicht ganz Ähnliches für Begriffe wie Information, Kommunikation, Substanz, Gewicht, Chaos, Strahlung oder gar Schwingung zeigen. Ein und derselbe Begriff kann also in verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Bedeutung haben. Da aber seriöse Wissenschaftlichkeit verlangt, nur mit streng definierten Begriffen zu arbeiten, laufen wir damit in eine Aporie. Transdisziplinarität setzt zwei einander widersprechende Haltungen voraus: Kommunikation über Grenzen erfordert Mut zur »Unsauberkeit« und gleichzeitig strenge Gewissenhaftigkeit gegenüber der eigenen Disziplin. Also ist Transdisziplinarität im Rahmen des mechanistischen Denkens unmöglich! Es ist wichtig, sich die Aporie immer vor Augen zu behalten, weil sonst jeder Ansatz von Transdisziplinarität schnell ins oben beschriebene Unechte abgleitet oder sich mit bloßer Oberflächlichkeit begnügt. Gefordert sind also zugleich: • •
Mut zur »Unsauberkeit« zwecks Kommunikation mit anderen Disziplinen. strenge Gewissenhaftigkeit gegenüber der eigenen Disziplin.
161 Der Schiffsarzt Julius Robert Mayer aus Heilbronn erkannte schon 1842 als Erster das vielleicht wichtigste Naturgesetz: Den Satz von der Erhaltung der Energie. Mayer wurde zunächst von den Naturwissenschaftlern nicht ernst genommen. Er litt bis hin zu gesundheitlichen Störungen an dieser Missachtung. Als der Energiesatz allmählich anerkannt wurde und seine Priorität nicht mehr zu verdrängen war, wurde er 1867 – gewissermaßen als Trost – in den Adelsstand erhoben. 162 Aristoteles: Metaphysik 1048a30, 1050a22.
378 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Neues Verständnis von fächerübergreifender Forschung und Lehre
Es handelt sich dabei um eine Nebenaporie der Grundaporie jeder Wissenschaft: Sie muss zugleich offen und kritisch sein! Wir können die Aporie wieder in unserem H-Schema darstellen; Offenheit ohne jegliches Kritikbewusstsein ist Leichtgläubigkeit, Kritikbewusstsein ohne jegliche Offenheit ist Borniertheit (mit Scheuklappen behaftet). Also stellt sich das H-Schema folgendermaßen dar: offen
leichtgläubig
kritisch
H
borniert
Abb. 66: H-Schema offen / kritisch
In der zugehörigen HX-Verwirrung kämpft die Seite, die für Offenheit eintritt, gegen Borniertheit, und die Seite, die für Kritikbewusstsein eintritt, gegen Leichtgläubigkeit: offen
leichtgläubig
kritisch
X
borniert
Abb. 67: HX-Schema offen / kritisch
Dieser Kampf kann beliebig lange dauern, denn beide Seiten haben Recht! Die Wissenschaft darf weder leichtgläubig noch borniert sein. Erst wenn beide Seiten erkennen, dass sie den falschen Schatten bekämpfen, kann der dialektische Prozess fortschreiten und sich einer Synthese nähern. Beim Bemühen um Bewältigung der Aporie der Transdisziplinarität hilft die Betrachtung der Dialektik der Differenz. Im Gegensatz zum mechanistischen Denken kann in der Dialektik ein Problem nicht isoliert behandelt werden, mehrere Aporien sind oft untrennbar miteinander verknüpft. Wenn wir die beiden Seiten der Aporie der Transdisziplinarität zusammenbringen wollen, müssen wir die Begriffe in den verschiedenen Disziplinen unterscheiden, ohne zu trennen. In unserem Denkrahmen gibt es leider einen fatalen Automatismus: Wenn wir einen Unterschied feststellen, ist dies zunächst einmal ein Gewinn. Aber dann trennen wir sofort, bewerten, grenzen aus, verdrängen, werten ab und vernichten. Damit geht aber auch der Unterschied verloren! Nun haben wir wiederum eine Dialektik, denn unterscheiden ohne zu trennen genügt nicht. Wir müssen zugleich 379 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
vereinen ohne zu egalisieren. Denn wenn wir nicht trennen, wollen wir zwar die verschiedenen Seiten zusammenhalten, aber wir dürfen dabei nicht egalisieren. Diese Maximen müssen also immer paarweise verstanden werden: »unterscheide, ohne zu trennen« und »vereine, ohne zu egalisieren«. unterscheiden
trennen
vereinen
H
egalisieren
Abb. 68: H-Schema unterscheiden / vereinen
Wie immer kommt es zur HX-Verwirrung; die Gruppe (oder die Neigung in uns), die eher fürs Unterscheiden ist, fürchtet sich vorm Egalisieren und stürzt in die Trennung, und die Gruppe, die eher für das Vereinen ist, fürchtet sich vorm Trennen und stürzt ins Egalisieren. Und wieder gibt es zwei Parteien, die kämpfen. unterscheiden
trennen
vereinen
X
egalisieren
Abb. 69: HX-Schema unterscheiden / vereinen
Die Dialektik von Unterscheiden und Vereinen bezieht sich auf die Tätigkeit, das anzustrebende Ziel ist die Harmonie (oder Synthese) von Einheit und Vielfalt. In unserem Falle ist es die Vielfalt der Disziplinen (und ihrer jeweiligen Begriffsbildungen), die durch Transdisziplinarität zur Einheit geführt werden soll, ohne dabei die Vielfalt zu zerstören. Das zugehörige H-Modell ist leicht zu erraten: Vielfalt
Beliebigkeit
Einheit
H
Uniformität
Abb. 70: H-Schema Vielfalt / Einheit
Im Zustand der HX-Verwirrung führt der Kampf gegen die Beliebigkeit schnell zur Dominanz eines Faches (Stichwort: Leitwissenschaft!) und damit in die unechte Transdisziplinarität. Der Kampf gegen die Uniformität birgt die Gefahr, in Oberflächlichkeit abzurut380 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Neues Verständnis von fächerübergreifender Forschung und Lehre
schen, weil Begriffe unscharf belassen werden. Bekannt ist der schon zitierte Spruch vom Spezialisten, der von immer weniger immer mehr weiß, bis er schließlich von Nichts alles weiß; beim Generalisten sei es gerade umgekehrt, er weiß von immer mehr immer weniger, bis er schließlich von Allem nichts mehr weiß. Dieser Scherz mit wahrem Hintergrund beschreibt die Grundaporie der Transdisziplinarität; wir können sie wieder durch unser H-Modell deutlich machen: Spezialist
Unfähigkeit zur fächergreifenden Kommunikation
Generalist
H
kein echtes Wissen
Abb. 71: H-Schema Spezialist / Generalist
Die zugehörige HX-Verwirrung haben wir gerade besprochen. Wir müssen uns sowohl gegen die Dominanz der Begriffe einer bestimmten Disziplin wehren, als auch uns vor Oberflächlichkeit hüten. Damit dies gelingt, scheinen drei Voraussetzungen unerlässlich: • • •
Gegenseitiges Vertrauen: Teilnehmer müssen einander menschlich nahe (befreundet) sein! Unsaubere Verwendung von Begriffen muss immer vorläufig sein! Ergebnisse müssen immer im Konsens gestaltet werden!
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einem transdisziplinären Projekt müssen daher zumindest bereit sein, in sich die Grundaporie der Transdisziplinarität zu verwirklichen, d. h. Interesse zeigen an anderen Disziplinen und in irgendeiner Disziplin Spezialisten sein. Wir können dies »T-Eigenschaft« nennen: Der Querbalken deutet die Verbindung zu anderen Disziplinen an, der senkrechte Pfeiler soll die Spezialisierung beschreiben. Nur wenn beides gleich gewichtet ist, kommt es zu einem tragfähigen »T«. Wer zu wenig Interesse an den anderen Disziplinen hat, wird allzu oft der Versuchung erliegen, seine eigenen Begriffe anderen aufzudrängen; wer kein Fundament in einer eigenen Disziplin hat, kann allzu leicht in Oberflächlichkeit verfallen. Es ist nicht schwer, scheinbare Ergebnisse über Grenzen der Disziplinen hinweg zu erarbeiten, wenn die Begriffe schwammig bleiben 381 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
VIII. Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation
und oberflächliche Analogien als genügend empfunden werden. Für echte Transdisziplinarität gibt es aber keine Alternative zu dem, was Hegel die »Anstrengung des Begriffes« genannt hat.
12. Ausblick Wir haben mittels der Ersichtlichmachung der Überschreitung des klassischen wissenschaftlichen Erkenntnisrahmens sowohl durch die Phänomene der »Quantenwelt« einerseits und dem Phänomen »Kommunikation« andererseits zu zeigen versucht, dass der »Drehund Angelpunkt der modernen Krise […] in der Erkenntnistheorie [liegt]« 163. Genauer: dass die Primärsetzung der wissenschaftlichen Methode, gepaart mit der Primärsetzung der Materie als Grundelement der Wirklichkeit, zu einem – wie Tarnas sich ausdrückt – »postkopernikanischen Double-bind« geführt hat; das heißt zu einer Selbstfesselung menschlichen Erkenntnisvermögens gerade mit Hilfe dieses Erkenntnisvermögens. Diese »Schatten-Paradoxie« zu erkennen, ist unseres Erachtens der erste Schritt auf dem Weg der EntFesselung. Ein zweiter könnte darin bestehen, den postkopernikanischen Double-bind als kulturspezifisches »mindset« verstehen zu lernen, d. h. als prinzipiell überwindbar. Frucht dieser Einsichten könnte schließlich die Erkenntnis sein, dass »das Problem des menschlichen Wissens von der Welt […] zuerst im menschlichen Geist und nicht in der Welt als solcher zu verorten ist [,] daß der menschliche Geist mehr Karten in der Hand hält, als er bisher ausgespielt hat.« 164 Kurz: Mit dem vorliegenden Werk sollte – insbesondere mit Hilfe der zentralen Differenzierung Interaktion 6¼ Kommunikation – ersichtlich gemacht werden, dass, um den Phänomenen Leben bzw. Mensch gerecht zu werden, die damit verbundene Dimension der Innerlichkeit nicht weiter vernachlässigt bzw. in ihrer Eigenart gänzlich ausgeblendet werden darf. Dass der Themenbereich der inneren Handlungsführung beim Menschen sowie der Verhaltensgestalt (als Ausdruck von Innerlichkeit) beim Nicht-Menschlich-Lebendigen gegenwärtig nur eine untergeordnete Rolle spielt, hat – wie wir zu zei163 164
Tarnas: Idee und Leidenschaft, a. a. O., S. 529. Tarnas: ebd.
382 https://doi.org/10.5771/9783495808016 .
Ausblick
gen versuchten – seine Ursache im vorherrschenden »Denkrahmen der Moderne«, von dem gegenwärtig nicht nur Wissenschaftlichkeit weitestgehend geprägt ist. 165 Auf dieser Verstehensbasis wird versucht, den Zusammenhang zwischen innerem und äußerem Aspekt interaktional bzw. technisch in den Griff zu bekommen, wobei die Meinung vorherrscht, die Eigenart des inneren Aspekts vernachlässigen zu können. Dem steht entgegen, dass – wie wir zu zeigen versuchten – Kommunikation bzw. damit verbundene Ausdrucksgestalten keine rein interaktionalen Automatismen oder Mechanismen darstellen. Kommunikation erfordert viel mehr, um noch einmal Tenbruck zu Wort kommen zu lassen, »ständige [Selbst-]Steuerung, also Überwachung von Außen- und Innendaten, die in der inneren Handlungsführung zusammengefügt werden müssen. Diese fortbestehende Un[ge]sichertheit ist für die subjektive Einstellung im Handeln [bzw. Verhalten] charakteristischer als die im Vergleich zur natürlichen Verhaltensunsicherheit gewonnene Verhaltenssicherheit. [Zudem] besteht zwischen den Problemen der inneren und äußeren Handlungsführung ein fundamentaler Unterschied. Dort geht es um Aufgaben, die sich grundsätzlich im [interaktionalen] Schema zweckhaftinstrumentellen Handlens konstruieren lassen; hier [im Kontext von Kommunikation] hingegen ist eine solche Objektivierung nicht möglich.« 166
Dies bedeutet: Es geht um die Ersichtlichmachung der Nichtreduzierbarkeit von Kommunikation auf Interaktion; oder anders ausgedrückt: um die Rückgewinnung der Dimension der Innerlichkeit. Bei diesem Vorhaben ist es jedoch entscheidend, dass wir – um mit Ziegler zu sprechen – diesen »Rückerwerb voreilig preisgegebener Innenwelten wissenschaftlich betreiben müssen. 167 […] [A]lso nicht von der Dichtung her, noch von einer der anderen Künste. Im gleichen aber auch nicht [erkenntnistheoretisch] von religiösen Betrachtungsweisen, von kultischen Handlungen und sakramentalen Begehungen her.« 168 Vgl. Tenbruck, Friedrich H.: Die kulturellen Grundlagen der Geselllschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, S. 28 (vgl. Hamberger: Kommunikation und Komplementarität, a. a. O., S. 227). 166 Tenbruck: ebd., S. 43. 167 Unter Berücksichtigung der Differenzierung zwischen richtig/falsch (Mathematik), gesichtertem/nicht gesichertem Wissen (Wissenschaft) wahrer/unwahrer Erkenntnis (Philosophie/Theologie/Lebenspraxis) (vgl. Kap. III/7). 168 Ziegler: Die neue Wissenschaft, a. a. O., S. 94. 165
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Die in diesem Buch verwendeten Graphiken entstanden nach Vorlagen von Max Stary.
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