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German Pages 264 Year 2014
Markus Dederich, Martin W. Schnell (Hg.) Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin
Markus Dederich, Martin W. Schnell (Hg.)
Anerkennung und Gerechtigkeit in Heilpädagogik, Pflegewissenschaft und Medizin Auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik
Das in diesem Buch dokumentierte Projekt wurde freundlicherweise von der B. Braun Stiftung unterstützt.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: jarts / photocase.com Lektorat & Satz: Markus Dederich, Tina Mattenklodt & Nadine Dziabel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1549-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Anerkennung und Gerechtigkeit im Kontext von Bildungs-, Heil- und Pflegeberufen Markus Dederich/Martin W. Schnell | 7 Anerkennung und Gerechtigkeit im Zeichen einer Ethik als Schutzbereich Martin W. Schnell | 23 Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit als Kernbegriffe Diakonischer Ethik Ulrich H. J. Körtner | 47 Anerkennung und Leiblichkeit. Zwei konstitutive Elemente einer mehrdimensionalen Gerechtigkeitskonzeption in der Pflege Heiner Friesacher | 77 Behinderung, Identitätspolitik und Anerkennung. Eine alteritätstheoretische Reflexion Markus Dederich | 107 „Ob Du in Frage kommst?“ Zur praktischen Bedeutung und epistemischen Relevanz konstitutiver Offenheit Mechthild Hetzel | 129 Ein unzeitgemäßer Humanismus als das Erste der Bildung. Der Anspruch des Anderen Ursula Stinkes | 143 Bildungsgerechtigkeit im schulbezogenen sonder-, integrations- und inklusionspädagogischen Diskurs Christian Lindmeier | 159
Im Angesicht des dementen Anderen. Axel Honneths Fürsorgebegriff und seine Bedeutung für die „Kontaktarbeit“ in der Altenpflege Hans-Uwe Rösner | 187 Das Andere der Anerkennung als konstitutives Moment der Psychiatrischen Pflege Harald Haynert | 207 Care-Praxis und Gerechtigkeit. Der konkrete Andere in Medizin und Pflege Helen Kohlen | 217 Das Andere des Anderen? Einige Anmerkungen zum Problem der Anerkennung André Karger | 233 Inklusionssysteme. Vorbereitende Überlegungen zu einer Ethik der Amicalität Peter Fuchs | 241 Autorinnen und Autoren | 257
Anerkennung und Gerechtigkeit im Kontext von Bildungs-, Heil- und Pflegeberufen M ARKUS D EDERICH /M ARTIN W. S CHNELL
Z UM H INTERGRUND
DER
T HEMATIK
Es gibt eine lange Tradition, Individuen oder Gruppen, die als anders, abweichend oder defizitär gekennzeichnet werden, durch kulturelle, gesellschaftliche, ökonomische, politische und andere Mechanismen zu benachteiligen oder auszuschließen. Ein solcher Ausschluss wurde in den vergangenen Jahrzehnten auch im Namen von Ethik legitimiert. Hierbei spielten so unterschiedliche Argumentationsfiguren wie etwa Menschenbilder, ökonomische Erwägungen (z.B. die Rationierung oder gänzliche Vorenthaltung von Leistungen) oder die Zuschreibung von Leiden und Lebensunwert eine zentrale Rolle. Ein Fokus dieser Debatten war und ist die Frage nach dem moralischen Status menschlicher Individuen. Werden sie als Personen anerkennt, genießen sie grundlegende Schutz- und Anspruchsrechte. Werden sie jedoch nicht als Personen anerkannt, genießen sie diese Rechte nicht. Hierzu gehören gemäß der Kriterien Peter Singers (1994) und anderer Ethiker frühgeborene Kinder, Neugeborene mit und ohne Behinderungen, Menschen im Koma, dementiell erkrankte Personen und andere. Jedoch vollzieht sich Ausschluss nicht nur sehr grundlegend im Bereich der sog. Biomedizin, sondern auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen, etwa in Institutionen, die mit Bildung, medizinischer Versorgung und Pflege befasst sind. Aus Sicht der Heil- und Pflegeberufe sowie der Heil- und Sonderpädagogik, deren Klientel u.a. chronisch kranke, pflegebedürftige und behinderte Menschen sind, erweisen sich solche ausschließenden Ent-
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wicklungen in der Gesellschaft und die sie flankierenden bzw. legitimierenden Ethiken als hochproblematisch. Diese Problemstellung hat mehrere Implikationen, die wir an dieser Stelle kurz aufklären wollen. Die Herausforderung: Bioethik als exklusive Ethik Die von Peter Singer (1994) und seinem Umfeld (vgl. z.B. Hoerster 1995; Mc Mahan 2002) vertretene Bioethik ist bekanntlich eine exklusive, d.h. ausschließende Ethik. Sie fragt nach ‚Wert‘ und ‚Unwert‘ von Leben. Dabei gilt der Mensch zunächst als ein ethisches Neutrum, das weder ‚wertvoll‘ noch ‚wertlos‘ ist. Ob ein Mensch als Person ein Recht auf Achtung und Würde hat, ist von einer eigenschaftsorientierten Prüfung abhängig. Der Anspruch auf Würdeschutz muss somit erworben und nachgewiesen werden. Die einfache Überlegung, die dieser Prüfung inne wohnt, lautet bekanntlich: Wenn ein Mensch (oder Tier) moralkonstitutive Eigenschaften (Rationalität, Selbstbewusstsein usw.) aufweist, ist er (oder es) eine Person und damit wertvoll und Träger von Rechten, die er (oder es) ansonsten nicht hätte. Die Logik dieser Denkweise, die vor Jahren schon von der Philosophie als äußerst problematisch und unhaltbar klassifiziert wurde (vgl. Matheis 1992), führt aus Sicht der Wissenschaften der Heilberufe zu der problematischen Konsequenz, dass Menschen aus dem Schutzbereich von Achtung und Würde ausgeschlossen werden. Bei diesen handelt es sich in der Hauptsache um die Klienten der Heilberufe (Menschen mit Behinderung, chronischen Krankheiten, Pflegebedürftigkeit). Die bioethische Ausschließung verlangt von einer Ethik offenbar nicht nur die zynische Konsequenz, einen möglichen Verweis von Individuen aus einem Schutzbereich von Achtung und Würde im Namen der Ethik resigniert hinzunehmen, sondern sogar legitimieren zu müssen. Mit Nietzsche wäre an dieser Stelle anzumerken, dass Ethik offenbar auch unethisch sein kann. Kritik der ‚Exklusion‘ Eine Kritik an Exklusivität darf gleichwohl nicht naiv verfahren und aus moralischer Empörung Exklusionen anklagen, ohne Alternativen zu diskutieren. In diesen Zusammenhang gehört auch die Frage, ob Exklusionen
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nicht eine transzendentale Funktion haben könnten, also unverzichtbar sind. Dies erfordert jedoch vorab die Klärung der Frage: Welche Exklusionen? Sind alle Exklusionen per se ethisch verdächtig? Dieser Problematik ist in den letzten Jahren kaum jemand so gründlich nachgegangen wie Giorgio Agamben mit seinem Projekt Homo Sacer. Demnach konstituiert sich eine Gesellschaft, indem sie Individuen von Teilhabe ausschließt und dadurch zu einem Un-Etwas macht, zu „nacktem Leben“. Agambens prägnante These lautet: „Dem nackten Leben kommt in der abendländischen Politik das einzigartige Privileg zu, das zu sein, auf dessen Ausschließung sich das Gemeinwesen der Menschen gründet“ (Agamben 2002: 17). Bekanntlich diskutiert Agamben dazu zahlreiche Beispiele aus den Bereichen Feindesrecht und -politik sowie aus dem Kontext der Medizin (Hirntod, Koma) (ebd.: 169 ff.). Die entscheidende Schlussfolgerung aus der Einsicht, die aus Agambens Projekt im Hinblick auf die Thematik des vorliegenden Buches resultiert, besagt, dass die ein Gemeinwesen konstituierende Exklusion nicht auch bedeutet, dass eine Ethik exklusiv sein muss. Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen Agambens Analysen und der Bioethik. Gegenbewegung: Ethik als nichtexklusiver Schutzbereich Nach Agamben darf sich keine Ethik anmaßen, „einen Teil des Menschlichen auszuschließen, so unangenehm und schwer es auch sein mag, ihn anzuschauen“ (Agamben 2003: 55). Bemühungen um eine nichtexklusive Ethik als Schutzbereich verstehen sich als Gegenbewegungen zur Bioethik, die sich in gewisser Weise nicht nur, aber unter anderem auch auf Agamben berufen können. Damit Konzepte einer nichtexklusiven Ethik – wie immer sie auch ausfallen mögen – einigermaßen plausibel erscheinen, genügt es offenbar nicht, dass sie nur eine andere (man könnte angesichts der liberalen Orientierung vieler Bioethiker paradoxer Weise sagen: eine liberalere, nämlich hete rogenitätsfreundlichere) Meinung oder Werthaltung als die Bioethik zur ethischen Lage von Patienten und Menschen mit Behinderungen vertreten. Derartige Konzepte müssen vielmehr auch die Logik des Ethischen reflektieren. Ist sie dieselbe wie die formale Logik und damit auch eine zweiwertige Logik? Eine solche Logik würde dem Fragemuster folgen, ob ein Mensch mit Behinderungen Würde hat – eine Frage, die nur mit Ja oder
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Nein zu beantworten wäre. Das ist aus unserer Sicht jedoch nicht die Frage, die gestellt werden muss, wenn man an einer Ethik, aber auch einer „Pädagogik ohne Ausgrenzung“ (Feuser 1994) interessiert ist. Im Unterschied zur Auffassung, dass auch eine Ethik grundsätzlich und in jeder Hinsicht der formalen Logik gehorchen muss, nehmen alternative Versuche an, dass die Identifizierung von jemandem als etwas oder als nicht-etwas nicht der entscheidende Einstieg in die Ethik ist. Nach diesen Versuchen kommt es vielmehr darauf an, Ethik von einer „Überschreitung aller Hinsichtnahmen oder aller identifizierenden Blicke“ (Gamm 2000: 246) her zu denken. Ethik als nichtexklusiver Schutzbereich ‚Ethik als nichtexklusiver Schutzbereich‘ ist zum einen der Name einer vom Land NRW geförderten interdisziplinären Forschungsarbeitsgemeinschaft, die sich mit solidarischem Blick auf Klienten der Heilberufe (Menschen mit Behinderungen, Krankheit, Pflegebedürftigkeit) von 1997 bis 2007 sowohl mit grundlagentheoretischen als auch mit praktischen Fragen der Ethik befasst hat. Zum anderen steht ‚Ethik als nichtexklusiver Schutzbereich‘ für ein Reflexions- und Begründungsprogramm, das sich als kritischer Widerpart zur exklusiven Bioethik begreift und sich dem Versuch einer neuen Logik des Ethischen (keine Fortsetzung der formalen Logik mit anderen Mitteln) verpflichtet fühlt. Demnach soll niemand aus dem ethischen Schutzbereich von Achtung und Würde ausgeschlossen werden (Schnell 2008; Dederich 2000, 2001).
D IE F RAGESTELLUNG Vorliegender Band befasst sich mit der Frage, ob und wie eine nicht ausschließende Ethik der Bildungs- und Heilberufe möglich ist. Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dabei Anerkennung und Gerechtigkeit. Den Zugang über Anerkennung und Gerechtigkeit haben wir aus folgendem Grund gewählt. In den Reaktionen der Heil- und Sonderpädagogik, der Pflegewissenschaften und der Medizin auf die bestehenden Herausforderungen spielen sowohl anerkennungs- als auch gerechtigkeitsethische Theorien eine wichtige Rolle. Nach unserer Einschätzung jedoch ist deren Re-
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zeption häufig durch unerkannte Probleme und folgenreiche Implikationen belastet, die selten expliziert und reflektiert werden. Diese betreffen u.a. das nicht hinreichend bedachte Problem der Singularität oder Alterität des Anderen – also dem, was alle Hinsichtnahmen überschreitet und sich identifizierenden Blicken entzieht. Insofern geht es uns mit diesem Projekt darum, etablierte Zugänge zur Anerkennung und Gerechtigkeit zu problematisieren und ethische Alternativen für die Medizin, Pflege und Heil- und Sonderpädagogik auszuloten. Vor diesem Hintergrund hat im Januar 2010 eine vom Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen der Universität Witten/Herdecke und dem Lehrstuhl für Theorie der Rehabilitation und Pädagogik bei Behinderung der Technischen Universität Dortmund organisierte Tagung zu der Frage stattgefunden: „Können Anerkennung und Gerechtigkeit zu einer nichtexklusiven Ethik der Bildungs- und Heilberufe beitragen?“ Mit dieser Frage tritt die Debatte um eine nichtexklusive Ethik nicht nur in eine weitere, sondern vor allem in eine neue Runde ein. Sie macht es zunächst erforderlich, die zentralen Begriffe Exklusion, Anerkennung und Gerechtigkeit zu klären. Bei genauerer Betrachtung der Begriffe zeigt sich schnell, dass in der Regel mehrere Aspekte oder gar Verständnisweisen voneinander unterschieden werden können. Vier Begriffe der Exklusion Der philosophische Begriff der Exklusion beschreibt den Ausschluss von Alternativen in der Sinnbildung. Zwei bekannte Beispiele: Der Abendstern und nicht der Morgenstern. Wilhelm als Kaiser der Deutschen und nicht als Vater seiner Kinder (vgl. Frege 1892; Husserl 1984). Der soziologische Begriff (so, wie ihn Luhmann in seinem Spätwerk aus systemtheoretischer Perspektive konzipiert) thematisiert Ausschluss im Sinne der Chancenlosigkeit einer Person, an den Leistungen von Teilsystemen, die diese für ihre Adressaten bereitstellen, teilzuhaben (vgl. Luhmann 1997). Der diskurstheoretische Begriff kennzeichnet den Ausschluss von Personen aus der Gesellschaft durch das Verbot des Handelns und Sprechens. Ein Beispiel hierfür ist die Konstitution des ‚Wahnsinns‘ durch die Humanwissenschaften und die Entstehung begrenzter Ordnungen (vgl. Foucault 1977; Waldenfels 1987).
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Der ethische Begriff befasst sich schließlich mit einem Ausschluss von Menschen/Personen von der Sinn-, Systembildung oder aus der Gesellschaft (Teilhabe), der keine Alternativen der Artikulation zulässt und zum Verlust von Achtung und Würde führt. Nicht jede Exklusion ist ethisch relevant. Sie wird es vermutlich erst dann, wenn folgende Aspekte vorliegen: • wenn eine Verletzung von Menschen bzw. Personen vorliegt • bei Missachtung und Verletzung von Würde • wenn Menschen dadurch geschädigt werden, dass ausgeschlossene Mög-
lichkeiten nicht angemessen kompensiert oder auf andere Weise bzw. an anderer Stelle realisiert werden können. Dimensionen der Anerkennung In analytischer Hinsicht stellt sich die Frage, ob Anerkennung eine zweioder eine dreistellige Relation ist. Wenn jemand von jemandem (an)erkennt wird, ist diese Relation zweistellig. Wenn sich jedoch zeigt, dass Anerkennung immer in einer spezifischen Hinsicht erfolgt, ist die Relation dreistellig: Ich erkenne jemanden als jemanden oder etwas an (vgl. Bedorf 2009). Eine grundlegende Frage im Diskurs über den Begriff und die Ethik der Anerkennung bezieht sich auf das Verhältnis von erkennen und anerkennen. Es geht hier mit anderen Worten um die epistemologische Dimension der Anerkennung. Nimmt der Akt der Anerkennung nur zur Kenntnis, ‚dass‘ und ‚was‘ jemand ist? Oder bewirkt die Anerkennung, dass jemand als ‚etwas‘ gilt? Anders gefragt: Ist Anerkennung ein Erkennen oder eine werthaltige Stiftung (vgl. Honneth 2003, Bedorf 2009)? In historischer Hinsicht kann festgehalten werden, dass die auf das 18. Jahrhundert zurückgehende Debatte um Anerkennung aktuell auf dem Stand ist, Gleichbehandlung und Andersbehandlung nicht als Alternativen zu begreifen. Hier wird der Einfluss von Multikulturalismus, Feminismus, Disability Studies und anderen Bewegungen deutlich, die Normalitäten aufgrund ihrer marginalisierenden oder ausgrenzenden Effekte aufgestört und umgewertet haben. Doch was bedeutet Gleich- und Andersbehandlung?
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Zwei Perspektiven der Gleich- und Andersbehandlung Hegel und seine Nachfolger orientierten ihr Denken am Schema „Allgemeines und Besonderes“. Folgt man diesem Schema, ist jede Person beiden Polen zurechenbar, er repräsentiert Allgemeines und Besonderes zugleich. Dabei kommt es auf die jeweilige Hinsicht an. Ein Beispiel: Du bist ein Mensch (gleich anderen Menschen) und mein guter Freund aus Italien (anders als andere Menschen). In diesen Hinsichten kann ich dich zugleich anerkennen – also Mensch, Italiener, Mann, Freund usw. Dieser Schematismus wird von Levinas und seinen Nachfolgern hinterfragt und überwunden. Ausgehend von einem Diesseits von Allgemeinem und Besonderem (vgl. Levinas 1992: 238; Schnell 2001: 206 ff.) gilt, dass der Andere in seiner Andersheit ein radikal Fremder ist, der als Singularität das Schema von Allgemeinem und Besonderem sprengt und der mich in dieser Weise ethisch angeht, d.h. mich in eine Verantwortung ruft, der ich mich schlechterdings nicht entziehen kann. Stellen wir nun beide Positionen gegenüber, so zeigt sich, dass sie in der Frage, was Gleich- und Andersbehandlung bedeuten solle, aufeinander verweisen. Die Rückfrage von Levinas an die Adresse von Hegel könnte lauten: Bedeutet die Anerkennung der Besonderheit (als relative Verschiedenheit) des Anderen, dass seine Singularität bzw. Fremdheit ethisch unbedeutsam wird? Die Rückfrage von Hegel an die Adresse von Levinas könnte demgegenüber lauten: Werden die empirischen Eigenschaften des Anderen, die seine Besonderheit ausmachen (Italiener, Freund usw.), unbedeutsam, wenn sich Andersheit auf eine radikale Singularität bzw. Fremdheit bezieht? Aus der Kritik am hegelianischen Schematismus und seinen Konsequenzen für die Anerkennung ergibt sich die Frage, ob es eine „nachhegelianische Auslegung der Anerkennungsszene“ (Butler 2003: 54) geben könnte. Eine solche Auslegung zu versuchen und zu erproben, ist eine der Aufgaben, denen dieser Band gewidmet ist.
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Dimensionen der Gerechtigkeit Der Begriff der Gerechtigkeit schillert zwischen der Kennzeichnung der Beziehung zum Anderen (Ich-Du) und der Kenntlichmachung eines Ordnungsgesichtspunktes des Dritten (vgl. Waldenfels 2006: 130 ff.). An dieser Stelle gilt zunächst die zweite Bedeutung. Die Sache der Gerechtigkeit bezieht sich insofern auf die Teilhabe an Grundgütern, die eine Gesellschaft zu verteilen hat, etwa Sicherheit, Wohlfahrt, Bürgerrechten usw. Gerecht kann sowohl eine gleiche als auch eine ungleiche Verteilung von Gütern sein. Dies hängt davon ab, welche Kriterien herangezogen werden, um Gleich- oder Ungleichverteilung zu legitimieren. Zu diesen Kriterien gehören die zu verteilenden Güter selbst (z.B.: handelt es sich um ‚Grundgüter‘?), die Bedürftigkeit oder die Leistung. Um eine ungerechte Bevorteilung der einen Person auf Kosten der anderen zu vermeiden, gilt seit Aristoteles im Diskurs der Gerechtigkeit, dass der Andere als anderes Selbst, also als alter ego angesehen wird. Die Gleichgeltung lässt ein ‚Wir‘ entstehen. Die einander Gleichen legen als Gleiche sprach- und handlungsfähig fest, welche Güter ihnen gerechterweise als Ungleiche zustehen. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass Personen als Gleiche gelten, ohne dass sie gleich sind. Mann und Frau gelten vor dem Gesetz als gleich und gleichberechtigt, obwohl sie (in verschiedenen Hinsichten) nicht gleich sind. Gleichheit entsteht somit durch ein Gleichsetzen derer, die einander nicht gleich sind. Dieser Mechanismus spielt auch in Bezug auf die Unparteilichkeit bei der Bestimmung von gerechter Verteilung eine wichtige Rolle. Der durch Feminismus, Multikulturalismus und Disability Studies vermittelte Stand der Debatte um Gerechtigkeit fragt danach, welche ethische Relevanz Andersheit als das hat, worin die Personen einander nicht gleich sind und was sich einer Gleichsetzung entzieht. Kann es eine Selbstüberschreitung der Gerechtigkeit geben, eine Gerechtigkeit, die „über die Gerechtigkeit hinausgeht – und insofern älter als sie selbst ist und als die durch sie bedingte Gleichheit – in meiner Verantwortung für den Anderen, in meiner Ungleichheit […]“ (Levinas 1992: 344)? Aus der vorangehenden Problemskizze ergeben sich zusammengefasst eine Reihe von Fragen, denen die Beiträge dieses Bandes nachgehen: Wenn eine Ethik der Heilberufe (Medizin, Pflege, Heilpädagogik) zeigen soll,
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dass nicht nur ‚gesunde‘ und ‚normale‘ Menschen, sondern auch Menschen mit Krankheiten und Behinderungen als Selbstzwecke in den Schutzbereich des Ethischen fallen, wie weit muss dann eine mögliche Anerkennung von Andersheit reichen? Kann sich Andersheit in relativer Verschiedenheit erschöpfen oder bedeutet sie gar radikale Fremdheit? Was heißt ‚Anerkennung‘ dann jeweils? Würde sich Gleichheit in der Bestimmung von Gerechtigkeit nur auf die Sprach- und Handlungsfähigkeit von Personen beziehen, wäre diese Gleichheit nicht zwangsläufig exklusiv, da sie z.B. schwerstkranke oder schwerstbehinderte Personen ausschließen könnte? In welcher Weise können Andersheit und Gleichheit (Gleichachtung) zusammen realisiert werden?
Z UM AUFBAU
DES
B UCHS
Die Bearbeitung der Leitfrage nach einer nichtexklusiven Ethik und ihrer Unterfragen wird in der vorliegenden Publikation auf verschiedenen Ebenen nachgegangen. Hiermit bezwecken wir zum einen, die Frage- bzw. Problemstellung moralphilosophisch zu fundieren (d.h. einen Beitrag zur philosophischen Ethik zu leisten), zum anderen aber auch, praktische Implikationen und Konsequenzen unseres Konzepts einer nichtexklusiven Ethik möglichst nah an den Disziplinen und konkreten Praxisfeldern zu durchdenken, um nicht folgenlos im Bereich der Abstraktion stehen zu bleiben. Alle nachfolgenden Beiträge bearbeiten mit je eigener Akzentuierung verschiedene Ebenen der zur Diskussion stehenden Problematik. Sie reflektieren das Problemfeld Exklusion/Nichtexklusivität, beleuchten unterschiedliche Aspekte der Begriffe Anerkennung und Gerechtigkeit oder sind dem Versuch gewidmet, einen Bezug zu Praxisfeldern der Heil- und Bildungsberufe herzustellen. In diesem Sinne widmen sich die Beiträge 1 bis 3 eher der konzeptionellen Grundlegung einer nichtexklusiven Ethik. Die Arbeit an bestimmten Begriffen (Anerkennung, Offenheit, Bildung, Teilhabegerechtigkeit, Fürsorge, Selbst, Freundschaft) steht dann im Mittelpunkt der Beiträge 4 bis 7 und 10 bis 12. Der Durchführung von Nichtexklusivität am Beispiel der Felder Demenzversorgung und Psychiatrie gelten die Beiträge 8 und 9.
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Im Hinblick auf die Vulnerabilität kranker, pflegebedürftiger und behinderter Menschen überlässt Martin W. Schnell die Herstellung von Nichtexklusivität nicht den Wechselfällen der Anerkennung, da diese, wenn sie mit einer bestimmten Normalität verbunden ist, gerade die Klienten der Heilberufe vernachlässigt. Anerkennung ist eine dreistellige Relation, die das stiftet, was jemand ist. Die Geltung der durch Anerkennung dem Anderen zuerkannten Eigenschaften wird durch die Perspektive der Gerechtigkeit kontrolliert. Beide Modi, der der Anerkennung und der der Gerechtigkeit, beruhen auf dem Anderen der Anerkennung: meine Beziehung zum anderen Menschen, auf den ich einzugehen habe. Sie ist die Beziehung zu Jemandem und nicht zu etwas. Diese Beziehung bedeutet die Zumutung, auf den Anderen eingehen zu müssen und ihn nicht als ethikfreies Leben aus dem Schutzbereich des Ethischen ausschließen zu können. Ulrich Körtner geht in seinem erprobenden Text von der These aus, dass eine diakonische Ethik eine nichtexklusive Ethik ist, da sie sich an der inklusiven Haltung Jesu orientiert, die Umgang mit Ausgeschlossenen wie Sündern und Zöllnern, Aussätzigen, Kranken und Ehebrechern und anderen praktiziert. Sie hat gleichwohl in der Frage ihrer Geltung, der möglichen Akzeptanz religiöser Werte, eine Grenze. Zudem impliziert die Frage der christlichen Prägung der diakonischen Ethik das Problem der Identität und damit der Abgrenzung von Anderen. Der Umgang mit Inklusion zieht schließlich einen Umgang mit Exklusion nach sich. Beide Modi sind, so Körtner, als Fragen von unbedingter Barmherzigkeit und kalkulierender Gerechtigkeit zu diskutieren. Die These, dass einerseits der Anerkennungsbegriff zu einem erweiterten Begriff von Gerechtigkeit führt und sich von ihm zum anderen eine normativ gehaltvolle Grundlage einer Pflegephilosophie herleiten lässt, bildet den Ausgangspunkt der Ausführungen von Heiner Friesacher. Anerkennung wird in Anlehnung an die Sozialphilosophie Honneths zugleich als kritische Gesellschaftstheorie und ethisches Programm begriffen, das emanzipatorische Anliegen der Pflege maßgeblich unterstützt. Friesacher skizziert die Möglichkeit der Verknüpfung einer derart konzipierten Anerkennungsethik mit einer kritischen Leibphilosophie – die als Gegenposition zum biomedizinischen Paradigma begriffen wird – mit dem Ziel, einen nicht-verdinglichten und nicht-verdinglichenden Zugang zum Anderen aufzuzeigen. Demnach sind Anerkennung und Leiblichkeit konstitutiv für eine erweiterte Gerechtigkeitskonzeption in der Pflege.
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Markus Dederich beschäftigt sich mit dem Zusammenhang von Identität und Anerkennung, der vor allem in sozialen und politischen Bewegungen eine große Rolle spielt. Anerkennungsethiken sind etwa im Kontext von Behinderung deshalb besonders attraktiv, weil sie als sozialethische Begründung für die Forderung nach umfassender Inklusion verstanden werden können. Jedoch erweist sich das Anerkennen – so die Kernthesen des Beitrags – als zwiespältig, weil es, wie sich in alteritätstheoretischer Perspektive zeigt, immer auch ein Moment von Verkennung enthält. Dem Anderen eignet immer etwas Unbestimmbares und Unverfügbares, das jedoch, indem er oder sie als etwas Bestimmtes anerkannt wird, zum Verschwinden gebracht wird. Dieser Befund wird mit Blick auf die Identitätspolitik und Fragen der Bioethik diskutiert. Mechthild Hetzel untersucht das Problem der Nichtexklusivität ausgehend von einer konstitutiven Offenheit. Demnach sind Anerkennung und Gerechtigkeit nicht exklusiv, wenn sie nicht prädikativ und identifizierend zur Geltung gebracht werden und den Anderen somit nicht auf ein Besonderes im Allgemeinen reduzieren. Wird der Andere jedoch zum Anspruch, zur unaufhörlichen Aufgabe jenseits seiner Eigenschaften (Krankheit, Behinderung), dann sind Anerkennung und Gerechtigkeit auf eine nicht exklusive Ethik verwiesen. Eine subjektkritische Reflexion des Bildungsbegriffs, die sich zentraler Motive der Ethik von Emmanuel Levinas bedient, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Ursula Stinkes. Vor diesem Hintergrund wird beispielsweise die Geistigbehindertenpädagogik dahingehend kritisiert, dass sie in ihrem Bildungsdenken Abhängigkeit, Fremdheit und Passivität entweder gar nicht oder nur als negativ getönte Problemtitel thematisiert. Dem wird eine alteritätstheoretische Fassung des Bildungsbegriffs gegenüber gestellt, nach der der Mensch grundsätzlich auf Andere bezogen ist. Es ist diese Bezogenheit, die ihn in eine unhintergehbare Verantwortung stellt und zum Subjekt macht. Dabei wird Verantwortung als Medium begriffen, in dem sich pädagogisches Handeln und Bildungsprozesse vollziehen. Die hiermit verbundene Dezentrierung des Subjektes bleibt nicht ohne Folgen für Fragen der Anerkennung und Gerechtigkeit. Von natürlichen Begabungsunterschieden ausgehend skizziert der Beitrag „Bildungsgerechtigkeit im schulbezogenen sonder-, integrations- und inklusionspädagogischen Diskurs“ von Christian Lindmeier ein Konzept der Teilhabegerechtigkeit, das auf der Grundlage des ‚capability approach‘
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von Martha Nussbaum und Amartya Sen Bildungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit miteinander in Beziehung setzt. Mit Blick auf inklusive Bildung wird der Frage nachgegangen, wie sich diese beiden Konzeptionen auf die Politik der OECD und der UNESCO auswirken. Lindmeier kommt zu dem Fazit, dass das allgemeine Bildungssystem und die allgemeine Schule nur als gerecht eingestuft werden können, wenn sie durch die Schaffung entsprechender politischer Rahmenbedingungen in die Lage versetzt werden, gesellschaftliche Exklusion und soziale Missachtung jeglicher Art zu vermeiden. Der Beitrag „Im Angesicht des dementen Anderen“ von Uwe Rösner geht der Frage nach, inwieweit sich die Anerkennungstheorie von Axel Honneth als Referenzrahmen für helfende Berufe eignet. Rösners These lautet, dass Honneths Anerkennungsbegriff die normativen Grundlagen einer nichtexklusiven Care-Ethik bereitstellt. Dies wird insbesondere an einem der drei von Honneth herausgearbeiteten Anerkennungsverhältnisse, der Fürsorge, festgemacht, die in einer existential-phänomenologischen Lesart einen Brückenschlag zur Ethik von Emmanuel Levinas ermöglichen soll. Harald Haynert untersucht in seinem Beitrag die Frage, ob Anerkennung eine mögliche Nichtexklusivität im Bereich der psychiatrischen Pflege zu realisieren vermag. Die Psychiatrie stellt für die Ethik bekanntlich eine sehr große Hürde dar, weil es zu ihrer Normalität gehört, Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe abzuschneiden. Haynert skizziert zu diesem Zweck die Idee einer Beziehungsethik, die ihre Vorbilder nicht der kognitivistischen Moral entnimmt, sondern dem Beispiel der wertschätzenden pflegerischen Begegnung mit an Demenz erkrankten Menschen folgt. Helen Kohlen geht es in ihrem Beitrag darum, die Rolle von Gerechtigkeitsfragen für eine fürsorgliche Praxis (Care) in der Pflege und Medizin herauszuarbeiten. Damit werden zwei ethische Ansätze in Verbindung gebracht, die häufig als sich gegenseitig ausschließend verstanden werden. Die Überlegungen knüpfen an zwei qualitative Studien an, die deutlich machen, dass konkretes pflegerisches Handeln oft vom sozialen Status der Patienten anhängig ist und durch starke Asymmetrien geprägt ist. Kohlens Kernthese lautet, dass Ethikkonzeptionen, die Verletzlichkeit, Bedürftigkeit, Abhängigkeit und individuelle Erfahrungshintergründe berücksichtigen, problematische Leerstellen geläufiger universalistischer Konzeptionen überwinden.
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Ausgehend vom ubiquitären Problem der Gewalt, das eng mit spezifischen Formen der Fremdwahrnehmung verbunden ist, erprobt André Karger aus psychoanalytischer Perspektive erweiterte Zugänge zum Problem der Anerkennung, das ihm eher ein praktisches als ein theoretisches zu sein scheint. Als wichtige Quelle von Nichtanerkennung und Gewalt wird der Mechanismus der projektiven Identifikation herausgestellt. Bezüglich des Problems der Anerkennung und Gerechtigkeit wird keine theoretische Schlussfolgerung gezogen, sondern eine praktische Konsequenz. Demnach kommt es auf eine ethische Haltung der beharrlichen Selbsterkundung der eigenen Gewaltverfasstheit, eigener Abhängigkeiten und Fremdheitserfahrungen an. Eine Ethik der Heilberufe muss von einer radikalen, kontinuierlichen und reflexiven Selbstarchäologie ihren Ausgang nehmen. Den Schlusspunkt bildet Peter Fuchs. Leitend ist für ihn die Frage, ob und wie das soziologische Schema Inklusion/Exklusion mit Gerechtigkeit und Anerkennung in Verbindung zu bringen ist. Unter der Überschrift „Inklusionssysteme“ skizziert er Überlegungen zu einer Ethik der Freundschaft. Ausgehend von der Beobachtung, dass Inklusion und Exklusion durch räumliche Vorstellungen aufgeladene Begriffe sind, untersucht er die Frage nach einem möglichen Zusammenhang zwischen Ethik und Inklusion/Exklusion nach Abzug der räumlichen Metaphorik. Kern einer Inklusionsethik, die vor allem für gesellschaftliche Inklusionssysteme bedeutsam ist, ist das ‚Gelten-Lassen‘ von Verschiedenheit durch Relevanzmarkierung. Mit anderen Worten: Verschiedenheit, wie sie etwa durch Menschen mit Behinderungen verkörpert wird, wird als werthaltig anerkennt und verpflichtet auf Inklusion. Zugleich wird die Markierung von Verschiedenheit als nicht relevant (d.h. deren Exklusion) ausgeschlossen. Eine Inklusionsethik arbeitet nach Fuchs mit solchen Relevanzmarkierungen. Die in diesem Band versammelten Beiträge vermitteln insgesamt Einblicke in die Bemühungen, die auf dem Weg zu einer nichtexklusiven Ethik unternommen werden. Sie erheben nicht den Anspruch, alle Probleme im Kontext von ethischer Exklusion, Anerkennung und Gerechtigkeit lösen und alle Fragen beantworten zu können. Jedoch eröffnen sie andere und bisher kaum wahrgenommene Zugänge, die dazu herausfordern, die angesprochenen komplexen Sachverhalte und Probleme neu zu bedenken.
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L ITERATUR Agamben, Giorgio (2002): Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt a.M. Agamben, Giorgio (2003): Was von Auschwitz übrig bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Homo Sacer III. Frankfurt a.M. Bedorf, Thomas (2009): Verkennende Anerkennung. Frankfurt a.M. Butler, Judith (2003): Kritik der ethischen Gewalt. Frankfurt a.M. Dederich, Markus (2000): Behinderung. Medizin. Ethik. Bad Heilbrunn. Dederich, Markus (2001): Menschen mit Behinderung zwischen Ausschluss und Anerkennung. Bad Heilbrunn. Feuser, Georg (1994): Pädagogik ohne Ausgrenzung, In: Daub, Ute/Wunder, Michael (Hg.): Des Lebens Wert. Zur Diskussion über Euthanasie und Menschenwürde. Freiburg im Breisgau. Foucault, Michel (1977): Ordnung des Diskurses, Frankfurt/Berlin/Wien. Frege, Gottlob (1892): Über Sinn und Bedeutung. In: Ders. (1994): Funktion, Begriff, Bedeutung. Göttingen. Gamm, Gerd (2000): Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten. Frankfurt a.M. Hoerster, Norbert (1995): Neugeborene und das Recht auf Leben. Frankfurt a.M. Honneth, Axel (2003): Unsichtbarkeit. Stationen einer Theorie der Intersubjektivität. Frankfurt a.M. Husserl, Edmund (1984): Logische Untersuchungen. Zweiter Band. 1. Teil. Den Haag. Levinas, Emmanuel (1992): Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht. Freiburg/München. Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a.M. Matheis, Alfons (1992): Ethik und Euthanasie. Diskursethische Kritik von Peter Singers Konzept Praktischer Ethik. In: Apel, Karl-Otto/Kettner, Matthias (Hg.): Zur Anwendung der Diskursethik in Politik, Recht und Wissenschaft. Frankfurt a.M. McMahan, Jeff (2002): The Ethics of Killing. Problems at the Margins of Life. New York Schnell, Martin W. (2001): Zugänge zur Gerechtigkeit. München. Schnell, Martin W. (2008): Ethik als Schutzbereich. Bern. Singer, Peter (1994): Praktische Ethik. Stuttgart.
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Waldenfels, Bernhard (1987): Ordnung im Zwielicht. Frankfurt a.M. Waldenfels, Bernhard (2006): Schattenrisse der Moral. Frankfurt a.M. (Das in diesem Buch dokumentierte Projekt wurde freundlicherweise von der B. Braun Stiftung unterstützt.)
Anerkennung und Gerechtigkeit im Zeichen einer Ethik als Schutzbereich M ARTIN W. S CHNELL
Philosophie wird das Unsagbare bedeuten, indem sie das Sagbare klar darstellt. LUDWIG WITTGENSTEIN
Im 18. Jahrhundert ist das Problem einer ungerechtfertigten Ungleichheit präsent. Aus der Sicht von Rousseau besteht die Leistung der französischen Revolution darin, den Gedanken, dass Ungleiche als gleich gelten und auch so behandelt werden sollen, maßgeblich befördert zu haben. Der Diskurs über Anerkennung und Gerechtigkeit ist eine Ausführung dieses Gedankens. Hundert Jahre später ist dieser Diskurs an Grenzen gestoßen. Friedrich Nietzsche betrachtet ihn als eine große Gleichmacherei. Das Differenzen erzeugende Leben würde künstlich auf ein durchschnittliches Normalmaß reduziert und damit beschnitten. Aus heutiger Sicht kann sich ein Diskurs über Anerkennung und Gerechtigkeit keine Differenzblindheit, wie es heißt, mehr leisten. Gleichbehandlung und Andersbehandlung sind keine Alternativen (vgl. Taylor 1993; Walzer 1997). Auf dem Höhepunkt der entsprechenden Debatte hieß es gar: „Anderssein, ein Menschenrecht“ (Hoffmann/Kramer 1995). Kurz: Jeder solle gleich den Anderen und als anders als die Anderen behandelt werden! Dieser Gedanke wird in seiner Durchführung häufig, so von Axel Honneth, als das Miteinander von abstrakter Rechtsperson und Einzigartigkeit verstanden. Jeder solle als beides gelten. Diese Auffassung entspricht nun
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zweifellos der Schematisierung von Allgemeinem und Besonderem, wie sie von G.W.F. Hegel bereits vorgenommen worden ist. Aus Sicht einer an Emmanuel Levinas’ Denken geschulten Sichtweise von ethischer Alterität kann diese Schematisierung ihrerseits als differenzblind betrachtet werden, da radikale ethische Alterität ‚diesseits von Besonderem und Allgemeinem‘ angesiedelt ist (vgl. Schnell 2001: 194f). Eine solch ethisch relevante Andersheit kann im Ausgang von Levinas als das Andere der Anerkennung oder der Gerechtigkeit (Levinas verwendet beide Begriffe häufig im selben Atemzug) bezeichnet werden (vgl. Schnell 2004a: 83ff). In aller Kürze lässt sich das Denken von Levinas als eine Ethik der Begegnung kennzeichnen. Der Andere ist für mich ethisch bedeutsam noch bevor ich ihn beurteile oder klassifiziere, noch bevor ich äußern kann, ob ich den Anderen leiden kann oder nicht leiden kann (vgl. Schnell 1999). Ethisch bedeutsam heißt: Wir haben es hier mit einem Vorrang einer Passivität zu tun, die allerdings keinen Gegensatz zur Aktivität meines Handelns darstellt. Das Subjekt als Ich ist vielmehr von einer Passivität affiziert, die eine „Vor-Ursprünglichkeit“ ausmacht, die „älter ist als jene Passivität, die sich mit ihrer Trägheit der Aktivität entgegensetzt“ (Levinas 1989: 78). Durch diese Affektion geht der Andere mich an. Ob ich will oder nicht, ich bin dazu verurteilt, auf den Anderen eingehen zu müssen. Levinas unterscheidet zwischen der Faktizität des Dass des auf-den-Anderen-eingehenMüssens und einem Was, welches den Inhalt dessen meint, der dem Anderen zugeteilt wird. „In der Andersheit des Anderen liegt nicht bloß dessen relative Verschiedenheit, sondern darüber hinaus die ethische, auf den Begriff der Nicht-In-Differenz gebrachte Bedeutung seiner Existenz. Kraft dieser Nicht-In-Differenz ist der Andere gerade in seiner Differenz nicht auch ‚gleichgültig‘. In der Nicht-In-Differenz liegt vielmehr gerade das, was bewirkt, dass er uns auf unhintergehbare Weise ‚etwas angeht‘, wie Levinas sagt.“ (Liebsch 2000: 413) Das Denken von Differenz wird durch diese Nicht-In-Differenz erheblich radikalisiert und von der Bahn des Besonderen im Allgemeinen abgelenkt, so dass der Zusammenhang von ethischer und politischer Differenz, im Gegensatz zu Hegel, anscheinend von einer „tragischen und auf immer verletzend unversöhnbaren Weise“ (Derrida 2000: 47) zeugt.
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Im Licht dieser verflochtenen und nicht mehr klassisch dialektischen Sichtweise und ihrer Beziehung zu einer Ethik der Heilberufe gilt es nun den klassischen Diskurs von Anerkennung und Gerechtigkeit anzuschauen.
ANERKENNUNG
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Anerkennung ist eine soziale Ordnungskraft moderner Prägung. Modern, da sie weder wie die Antike auf die Ordnung in den Dingen baut noch wie die Neuzeit einem bloß künstlichen Vertrag vertraut, sondern einen sittlichen Zusammenhang erst konstituiert. Der Sache nach besteht Anerkennung darin, dass eine Person/Gruppe gegenüber einer anderen Person/Gruppe eine positiv wertschätzende Einstellung einnimmt. Die damit einhergehende Ordnungsbildung beinhaltet zumeist, dass Anerkennung als eine wechselseitige Leistung begriffen wird. Während die Anerkennung eine Ordnungsbildung von einer Intersubjektivität aus zustande bringt, bezieht sich Gerechtigkeit zunächst auf die anonyme Grundstruktur einer Gesellschaft und verweist von dort aus auf Bereiche von Intersubjektivität. Der Sache nach gehören Anerkennung und Gerechtigkeit insofern zusammen, da Intersubjektivitäten in einem Kontext von Institutionen und damit von Gesellschaften stattfinden und sich umgekehrt Institutionen immer auch auf personale Handlungsbereiche beziehen. Diese Verwiesenheit beider Bereiche kennzeichnet, so eine Einsicht Hegels, moderne (bürgerliche) Gesellschaften. Die Philosophie streitet darum, in welcher Weise Anerkennung und Gerechtigkeit aufeinander zu beziehen sind. Reicht Anerkennung aus, um etwa ökonomische Bedingungen von Ungerechtigkeit ausgleichen zu können? Oder impliziert Verteilungsgerechtigkeit ihrerseits die Anerkennung? Bei diesen Fragen geht es um einen möglichen Vorrang, den Anerkennung oder Gerechtigkeit jeweils vor dem anderen Begriff einnehmen könnten. Umverteilung oder Anerkennung? – so der Titel einer Kontroverse zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth (vgl. Fraser/Honneth 2003).
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E THIK
DER
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UND DIE
V ULNERABILITÄT
Wenn aus Sicht einer Ethik der Heilberufe die Problematik von Anerkennung und Gerechtigkeit betrachtet werden soll, dann bedeutet das nicht, dass sich die heilberufliche Perspektive weiterhin in Debatten der Philosophie hineinmogeln und dort anbiedern soll, wie dieses häufig geschieht. Vielmehr haben die Heilberufe eine eigene Perspektive in die Debatten hineinzutragen. Heilberuf ist ein hinreichend unpräziser Sammelbegriff, der Professionen wie die Medizin, die Pflege, Therapien und Behindertenpädagogik unter sich versammeln soll. Diese Professionen befassen sich mit der Behandlung, Pflege, Unterstützung und Begleitung von kranken, pflegebedürftigen und/oder behinderten Menschen. Die Bezeichnung der genannten Professionen als Heilberufe ist deshalb unpräzise, weil etwa Krankheit und Behinderung, obwohl sie miteinander zusammenhängen können, nicht dasselbe sind und deshalb auch sozialgesetzlich unterschiedlich verankert werden. All diesen Professionen ist aber bei aller Unterschiedlichkeit gemein, mit vulnerablen Personen und Gruppen zu tun zu haben. Diese Gemeinsamkeit soll der Begriff des Heilberufes betonen. Die Verletzlichkeit von Natur und Tier, auf die Jean-Marc Ferry in Les Puissances de l’expérience grundsätzlich hinweist, werde ich an dieser Stelle nicht näher betrachten. Vulnerabel sind Menschen, die nicht im vollen Sinne einwilligungsfähige moralische Personen sind, weil sie krank, pflegebedürftig oder behindert sind. Die Betonung von Vulnerabilität und die Verteidigung vulnerabler Personen und Gruppen ist die eigene Perspektive, die die Heilberufe in die ethisch-philosophischen Debatten einbringen (vgl. Schnell/Heinritz 2007: Kap. 4). Mit der Anwaltschaft für vulnerable Personen und Gruppen ist keine Exotik gemeint, die den kranken Menschen dem gesunden vorzieht so wie man in früheren Zeiten den Wilden dem Zivilisierten oder das Kind dem Erwachsenen vorgezogen hat. Es geht vielmehr darum, im Lichte der Vulnerabilität ethische Gemeinsamkeiten aller Menschen, der gesunden und der kranken, zu betonen, so dass der Schutzbereich des Ethischen mindestens alle Menschen einschließt (vgl. Schnell 2008a). In welcher Hinsicht auch Tiere, ethisch gesehen, nur Menschen sind, lasse ich, wie gesagt, an dieser Stelle offen. Kurz gesagt: Menschenwürde und Lebensrecht dürfen nicht ausschließlich an die Frage gebunden sein, ob ein Mensch krank oder
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gesund ist! Oder noch anders: Es geht nicht um eine Ethik für Sorgenkinder, sondern um eine Ethik des Menschen! Im Lichte dieser Maßgabe betritt die Ethik der Heilberufe den Raum der Debatte um Anerkennung und Gerechtigkeit.
K URZER S INN DER LANGEN R EDE ÜBER ANERKENNUNG Die reich kommentierte Geschichte der Anerkennung ist an anderer Stelle zusammengefasst (vgl. Gander 2004; Asmuth 2007; Schäfer/Thompson 2009; Schmidt am Busch/Zurn 2009), weshalb wir uns hier auf die Erwähnung weniger Punkte beschränken können. Im Werk von Kant ist die Anerkennung kategorial noch nicht zu finden, aber in sachlichen Andeutungen. Als Elemente, die für eine Anerkennung in Frage kommen würden, treten Personen auf, nämlich die eigene und die des anderen. Eine Achtung der Person und damit des Nebenmenschen ist hier durchaus vorgesehen, gleichwohl ist diese Beziehung immer wieder vermittelt durch den Bezug zum moralischen Gesetz. „Alle Achtung für eine Person ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz“ (Kant 1982: 28/BA 16). Aus unterschiedlichen Richtungen kommend, gehen Deleuze, Derrida und Lyotard in ihren Kommentaren diesen verwickelten Beziehungen nach. Bei Fichte wird das Wort Anerkennung nun systematisch verwendet und zwar im Rahmen der Frage, wie mir ein Bewusstsein von anderen Individuen und wie mir ein vernünftiges Verhältnis zu ihnen möglich ist. Dieses Verhältnis erhält durch das Recht eine gemäße Ordnung. Innerhalb ihrer kommt es im Hinblick auf das Eigentum, dessen Bestand das Recht garantieren soll, zu einer „wechselseitigen Anerkennung“ (Fichte 1979: 129) zwischen den Individuen. Die Geschichte der Anerkennung, für die Kant und Fichte wichtige Vorreiter sind, erreicht bekanntlich ihren ersten Höhepunkt in der praktischen Philosophie des deutschen Idealismus und damit durch Hegel und in der Gründung der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. Siep 1992: 172ff). Die Thematik der Anerkennung wird im Zusammenhang mit der Entfaltung des Selbstbewusstseins vor dem Hintergrund der Dialektik von Individual- und Gattungsgeschichte diskutiert. Das Bewusstsein, das seiner selbst bewusst werden will, kann dieses nicht allein aus eigener Kraft und Initiative, viel-
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mehr benötigt es die Gegenwart eines anderen. Die Begegnung beider Bewusstseine ist anfänglich alles andere als kooperativ, da beide notwendig(!) die Situation eines sich anbahnenden Kampfes auf Leben und Tod zu durchleben haben. Freilich wird dieser Kampf nicht ausgefochten, da es schrittweise zur Anerkennung des Anderen durch mich und meiner selbst durch den Anderen und damit zu unserem Überleben kommt, so dass eine Grundlage für die Errichtung einer Gesellschaft und eines vernünftigen Staates gegeben ist. Die Anerkennung hat im Werk Hegels einen Höhepunkt wegen des Sinns, den Hegel ihr verleiht. Damit sind vor allem zwei Bestimmungen gemeint: • Anerkennung sei reziprok, • Anerkennung erfordere, dass der Mensch als Mensch und als Individuum
anerkannt werde (vgl. Schnell 2004a). Mit den Worten Hegels gesagt: Wenn das Bewusstsein sich selbst im anderen als sich selbst anschaut und findet und nicht nur als Italiener oder Engländer oder Mexikaner etc., sondern auch als Mensch angesehen werde, sei Sittlichkeit realisiert.
ANALYTIK DER ANERKENNUNG Das Phänomen der Anerkennung erschöpft sich nicht in historischen Anmerkungen. Es wäre nicht derart aktuell, wie es das scheinbar ist, wenn ihm nicht auch ein systematisch-analytischer Gehalt innewohnen würde, dem wir uns nun nähern wollen. Was ist Anerkennung? Wer erkennt wen oder was an, wenn er jemanden oder etwas anerkennt? Kann man Anerkennung auch verweigern oder unterlassen? Ist Anerkennung eine Handlung wie Fußballspielen oder Schnitzelessen? Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel. Fritz erkennt Alma als gute Sängerin an. Anerkennung besagt hier, dass durch Fritz’ Geste der Alma eine Eigenschaft als zugehörig gilt. Ohne Fritz’ wertschätzende Anerkennung wäre es nicht so. Eine an sich gute Sängerin, die niemand als gut bezeichnen würde und die auch niemand hört, ist nicht wirklich vorstellbar. Oder mit Platon gesagt: Ein Zimmer-
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mann, der „alle Werkzeuge in Bereitschaft hätte und auch Holz genug, aber nicht zimmerte“, würde nicht als für die Polis von „Nutzen“ gelten können (Euthydemos: 280c). Daraus ergibt sich: • Anerkennung ist eine dreistellige Relation (vgl. Bedorf 2009). • Ich erkenne Dich als Person an (vgl. Horster 2009). • Durch die Anerkennung wird etwas gestiftet, das ohne sie nicht
wäre. • Anerkennung ist keine Bestätigung eines Seins, denn andernfalls wäre
die Recognition nicht anders als „eine kognitive Einstellung zu begreifen, die darin bestünde, […] schon Gegebene(s) zu erkennen.“ (Larmore 1998: 462) • Anerkennung stiftet etwas und lebt daher von einem Gestaltungsspielraum, der auf einen Zusammenhang von Ethik und Ästhetik verweist, wie ihn Lyotard im Zusammenhang zwischen dem Absoluten und der Undarstellbarkeit dargestellt hat (vgl. Lyotard 2006).
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Der Gestaltungsspielraum erlaubt und ermöglicht, dass Anerkennung nicht nur eine bestätigende Rezeption schon unabhängig von ihr bestehender Merkmale ist. Der Gestaltungsspielraum ist der Ort einer Macht. Diese Macht schafft die so kostbare Wertschätzung, also das Produkt, das offenbar nur Anerkennung zu schaffen vermag (vgl. Caillé 2009). Sich selbst zu lieben reicht somit nicht. Erst die Stiftung der Liebenswürdigkeit durch einen Anderen lässt eine Person erstrahlen. Hinter das Ausrufezeichen der Wertschätzung muss zumindest um der Wahrheit willen auch ein Fragezeichen gesetzt werden. Ist gesichert, dass im Spielraum der Anerkennung immer nur brav und artig Wertschätzung produziert wird? Könnten es nicht auch Gewalt und Minderschätzung sein?
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UND ETHISCH RELEVANTER
AUSSCHLUSS
Aus Sicht der Wissenschaften der Heilberufe und ihrer jeweiligen Ethik wird der bisherigen Erörterung ein weiteres Argument hinzugefügt. Da es jene Wissenschaften und Praktiken mit der Behandlung, Pflege, Versor-
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gung und Unterstützung von kranken, pflegebedürftigen oder behinderten Personen zu tun haben, bringen sie den Status der Vulnerabilität in den Diskurs ein. Die Ethik der Heilberufe versucht, Anerkennung auch angesichts der Vulnerabilität von Personen zu denken. Sie weist damit auf einen besonderen Umstand hin, der bislang noch nicht beachtet worden ist: die Normalität der Person. In den Theorien der Anerkennung wird seit Kant davon ausgegangen, dass die Personen, die einander anerkennen, eine bestimmte Normalität auszeichnet. Sie sind autonome moralische und gesunde Personen. Nur sie sind zur Anerkennung, zumal zur reziproken, fähig. Die Ethik der Heilberufe gibt nun zu bedenken, dass es auch Patienten gibt, also leidende und lebende Menschen, die im Koma oder mit einer Demenz leben. Da diese vulnerablen Personen zur Aufrechterhaltung einer wechselseitigen Anerkennung, verstanden als aktiver und verstehbarer Vollzug von Intersubjektivität, möglicherweise nicht in der Lage sind, drohen sie aus dem wertschätzenden Schutzbereich, der durch Anerkennung gestiftet werden soll, herauszufallen (vgl. Schnell 2008a: 42f). Anerkennung darf, so das Argument der Heilberufe, jedoch nicht exklusiv sein! Begriff und Sache des Ausschlusses (Exklusion) sind hier ethisch zu verstehen. Nicht jede Exklusion ist ethisch relevant! Wenn es sich um ein bloßes Auslassen von Möglichkeiten in der Sinn- oder Funktionsbildung handelt, liegt eine ethische Relevanz nicht per se vor, zumal wenn die ausgelassenen Möglichkeiten nachgeholt werden könnten. Komme ich heute nicht, dann eben morgen! Eine Exklusion ist von ethischer Relevanz, wenn Menschen/Personen von der Sinn-, Systembildung oder aus der Gesellschaft (Teilhabe) ausgeschlossen sind und wenn sie dadurch: • • • •
verletzt werden, alternativer Artikulationsmöglichkeiten beraubt werden, hinsichtlich Achtung und Würde beschädigt werden, als nacktes und ethikfreies Leben behandelt werden.
Die vulnerablen Personen der Heil- und Sozialberufe werden häufig in diesem Sinne ausgeschlossen (vgl. Schnell 2008b). Daraus entsteht eine Herausforderung für die Ethik der Heilberufe. Von sich aus führen die Heilberufe im Ausgang von Victor von Weizsäcker die Unterscheidung zwischen jemand und etwas ein (vgl. Weizsä-
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cker 1926). Ein Patient ist jemand und leidet an etwas. Er ist jemand als Person und etwas als Eigenschaft. Im Lichte des Diskurses der Anerkennung betrachtet, kann man auch hier von einer dreistelligen Relation sprechen: Der Arzt erkennt mich als krank an! Dass es sich dabei um eine Form der Anerkennung handelt, ist bei Weizsäcker in der Tat vorgesehen. „Ich nenne den krank, der mich als Arzt anruft und in dem ich als Arzt die Not anerkenne.“ (Weizsäcker 1926: 13) Anerkennung stiftet hier das etwas, das Kranksein. Die Anerkennung stiftet aber nicht den jemand, der als krank gilt, sondern nur das Kranksein, das es ohne die Anerkennung nicht gäbe. Die ärztliche Krankschreibung ist in der Tat eine höchst performative Tätigkeit. Sie erklärt jemanden für krank, indem sie es tut. Das Jemand der Person erscheint dabei mit der Anerkennung als das Andere der Anerkennung.
D AS ANDERE
DER
ANERKENNUNG
Das Andere der Anerkennung ist meine Beziehung zum anderen Menschen, auf den ich einzugehen habe (vgl. Schnell 2004a). Sie ist die Beziehung zu Jemanden und nicht zu etwas. Die Beziehung beruht auf einer Passivität. Der Hilferuf ist, wie Weizsäcker sagt, der Anfang der sprechenden Medizin. Ich höre jemanden, der etwas hat. Es ist mir aufgegeben zu verstehen, was er hat und ihn der Möglichkeit nach als krank anzuerkennen. Damit gehe ich verantwortlich auf den Anderen ein. Die ethische Beziehung zu jemandem überkreuzt sich hier mit der Hermeneutik des Verstehens von etwas (vgl. Schnell 2004b: 329ff). Sie überkreuzt sich, verschmilzt aber nicht mit ihr! Klaus Dörner, der den Arzt als „Arzt vom Anderen her“ thematisiert, spricht deshalb von einer „Nichtverstehbarkeit“ (Dörner 2002: 151) des Anderen in der Verstehbarkeit seiner Krankheit.
P ASSIVITÄT Die Annahme, dass die Beziehung zu jemandem ihren Anfang in einer Passivität habe und dass diese Passivität von der aktiven Tätigkeit des Anerkennens von etwas unterschieden werden könne, hat ihren Grund im Diskurs der Anerkennung selbst.
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Es ist bekanntlich das Verdienst von Paul Ricoeur, die verschiedenen Wege der Anerkennung aufgezeichnet zu haben. Ein Blick auf die Karte offenbart mindestens drei Hauptstraßen, die insgesamt erfahren lassen, was Anerkennung ins Spiel bringt. Ricoeur unterscheidet zwischen einem Erkennen als Akt, einem Wiedererkennen und einer Bitte um Anerkennung. Entscheidend ist dabei, dass sich diese drei Möglichkeiten in der Dreipunktskala „aktiv“, „handeln/leiden“ und „passiv“ anordnen. Die ethisch-wertschätzende Perspektive ist dabei im Skalierungsbereich der Passivität zu finden. „Mit dem Umschlag vom Aktiv ins Passiv und der zunehmenden Dominanz des Problems der wechselseitigen Anerkennung löst sich die reconnaissance immer mehr von der Kognition als bloßer (Er-)Kenntnis.“ (Ricoeur 2006: 40) Es ist deutlich, dass das in Rede stehende Phänomen der wertschätzenden Einstellung gegenüber Anderen die Skala vom Aktiv zum Passiv ausnutzen muss, um seine Gestalt entfalten zu können. In diesem Sinne gehe ich davon aus, dass der aktiven Tätigkeit des Anerkennens bereits eine passive Affektion durch den Anderen vorausgegangen ist, die nicht selbst gewollt, aber dennoch an mich ergangen ist.
W ARUM ANERKENNUNG ? Die Annahme, dass es eine Beziehung zum Anderen gäbe, die quasi einen ‚Auftrag‘ an mich ergehen lässt, auf den Anderen einzugehen, impliziert, dass ich dem Anderen gegenüber (im mehrfachen Sinne) verschuldet bin und deshalb auf ihn bezogen sei. Wie lässt sich diese These oder Behauptung begründen oder belegen? Georg Simmel spricht von einer unabzahlbaren Dankbarkeit gegenüber dem Anderen ohne konkrete Verschuldung im ökonomischen Sinne. Dankbarkeit sei gerade mehr als eine tilgbare Schuld. Sie ist somit auch eine Schuld, aber nicht nur. Ist diese Form von Dankbarkeit eine Begründung für meine ethisch relevante Bezogenheit auf den Anderen? Wenn diese oder eine ähnlich gelagerte Annahme unplausibel sein sollte, bliebe als Alternative nur der Ausgang von Geschöpfen, die anderen gegenüber zu nichts verpflichtet wären. Aber warum sollten solche Geschöpfe sich anerkennen lassen wollen und damit in Abhängigkeit geraten?
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Die Betrachtung der Problematik der Anerkennung aus Sicht der Heilberufe geschieht, wie erwähnt, vor dem Hintergrund einer anderen Problematik, nämlich der der Exklusion. Anerkennung ist im Sinne der Heilberufe so zu interpretieren und zu verstehen, dass Menschen aufgrund ihrer Vulnerabilität nicht von ethischer Wertschätzung ausgeschlossen werden, weil sie einem von der Ethik (meist unreflektiert vorausgesetzten) Ideal von Normalität und Gesundheit nicht entsprechen (vgl. Schnell 2008a). Diese Betrachtungsweise führt zu folgenden Ansichten: Anerkennung ist eine dreistellige Relation: Ich erkenne jemanden als etwas an. Von der aktiven Tätigkeit des Anerkennens von etwas ist die passive Beziehung zu jemandem als das Andere der Anerkennung zu unterscheiden. „Es gibt keinen gleitenden Übergang von ‚etwas‘ zu ‚jemandem‘. Nur weil wir mit Menschen immer und von Anfang an nicht als mit etwas, sondern als mit jemandem umgehen, entwickeln die meisten von ihnen die Eigenschaften, die diesem Umgang im nachhinein rechtfertigen.“ (Spaemann 1996: 258) Der Arzt erkennt Fritz als krank an. Anerkannt wird das Etwas, also die Eigenschaften, die jemandem zuerkannt werden. Jemand im Lichte von Etwas! Jemand selbst ist aber kein Gegenstand der Anerkennung, weil er kein Etwas ist. Wenn nach jemandem gefragt wird, bezieht sich die Antwort auf das Etwas. „Fritz ist leider krank. Er hat Husten und eine Temperatur von 38 Grad.“ Jemand zu sein bedeutet, ungreifbar zu sein und damit das Andere der Anerkennung. Ungreifbarkeit (Spaemann) oder auch „Unbeschreibbarkeit“ (Larmore 1998: 461) bedeuten, dass man immer nur Jemanden-als-.... identifizieren kann. Dieser Jemand ohne die Verweisungsstruktur des ‚als‘, also schlicht Jemand ist uns somit nicht zur Identifizierung und zur Beschreibung gegeben. Mit Husserl könnte man sagen: Dieser Jemand selbst ist eigentlich derjenige, den niemand als wirklich je gesehen hat! Die Heilberufe weisen auf die Vulnerabilität der Person und auf die Gefahr ethischer Exklusion hin. Weil Anerkennung als Tätigkeit keine Verfügung über Jemanden und über die Tatsache, dass ich zu ihm in einer ethisch relevanten Beziehung
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stehe ist, kann Anerkennung auch nicht exklusiv sein und jemanden aus dem Schutzbereich des Ethischen, also der Zumutung, angesichts seiner sich überhaupt ethisch verhalten zu müssen, ausschließen. Die Anerkennung stiftet nicht den jemand, der als krank gilt, sondern nur das Kranksein, das es ohne die Anerkennung nicht gäbe.
1. E RGEBNIS Ich stehe zum Anderen in einer ethisch relevanten Beziehung. Der Andere ist jemand, der als etwas anzuerkennen ist. Mit der Anerkennung antworte ich auf ihn, gehe ich auf ihn ein. Die Weise des Eingehens auf den Anderen kann zwar den Schutzbereich des Ethischen, also die Zumutung sich angesichts des Anderen nicht neutral verhalten zu können, sondern ethisch verhalten zu müssen, nicht annullieren, dennoch kann Anerkennung verletzen und Schaden zufügen. „Ich erkenne Fritz als Simulanten an.“ Das Andere der Anerkennung, also das Faktum der ethisch relevanten Beziehung zum Anderen, die NichtIndifferenz, wie Levinas sagen würde, verweist auf eine zu leistende Anerkennung, die, weil sie zu leisten ist und dabei Spielräume hat, nicht per se wertschätzend sein muss. Anerkennung bedarf kritischer Beurteilung!
ANERKENNUNG UND G ERECHTIGKEIT : U NGERECHTIGKEIT ALS NICHT AKZEPTABLE A NERKENNUNG Die Anerkennung von etwas steht nicht nur zur Ethik des Jemand in Beziehung, sondern auch zum Diskurs gesellschaftlicher Gerechtigkeit. Die Anerkennung des Krankseins enthält auch eine Behauptung. „Fritz ist krank“. Durch den Charakter der Behauptung wird die Anerkennung zum Geltungsphänomen. Es ist nämlich den Regeln der ärztlichen Kunst zufolge wahr oder falsch oder unentschieden, ob jemand auf der Grundlage des sich-krank-Fühlens als ‚krank‘ bezeichnet werden kann und soll. Eine falsche Diagnose ist im Sinne der Idee des Schutzbereiches ein Problem, sofern sie zum Ausschluss einer Person von anzuerkennender Bedürftigkeit führt.
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Bedürftigkeit bedeutet, dass jemandem aufgrund von etwas (einer diagnostizierten Krankheit) ein Gut der Gesundheitsversorgung (Medikament, Hilfestellung, Prävention etc.) zuzuteilen ist. Die Zuteilung eines Gutes ist ethisch akzeptabel, wenn sie gerecht ist (vgl. Schnell 2004c: 229ff). Ungerechtigkeit kann als nicht akzeptable Anerkennung und damit als nicht akzeptable Zuteilung oder Nichtzuteilung von Leistung verstanden werden.
D REI K ONZEPTE
EINER
G ERECHTIGKEIT
In dieser Perspektive geht es darum, Anerkennung im Blickwinkel der Gerechtigkeit zu betrachten und damit das anerkannte Etwas als zuzuteilende Leistung. In der Hauptsache können im Hinblick auf gegenwärtige Gesellschaften drei Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit voneinander unterschieden werden. Ich beschränke mich auf eine schematische Darstellung dieser Konzepte, die ich anderswo näher untersucht habe (vgl. Schnell 2001).
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Tabelle 1: Drei Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit Alle 3 Modelle sind demokratisch
Konservativ (Nozick)
Liberal/ sozialdemokr. (Rawls)
Republikanisch/ kommunitarist. (Walzer)
Maxime
Leistung muss sich für den Leistungserbringer lohnen!
Angst vor Krankheit und sozialem Abstieg!
Wir sind eine Gemeinschaft und helfen den Schwächsten zuerst!
Konzept
Jeder hat Eigentum an sich selbst und den legal erworbenen Gütern (Lohn, Erbschaft, …)
Nicht alle Güter können gleich verteilt werden. Gleich: symbolische Güter (Rechte), ungleich: mat. Güter (Geld)
Wir teilen zum Nutzen der Gemeinschaft
Erwartung
Staat schützt das Eigentum
Ungleichverteilung materialer Güter muss zum Nutzen aller sein
Individualismus und Egoismus werden Grenzen gesetzt
Gerechtigkeit
Eigentum, Umverteilung ist Raub, Sozialstaat ist privat
Sozialstaat mit solidargemeinsch. Grundversorgung für alle
Sozialisierung der Wohlfahrt
G ERECHTIGKEIT , V ULNERABILITÄT , ANERKENNUNG Alle drei Konzepte sind mit der Demokratie vereinbar, aber nicht auch mit der Idee der Anerkennung und Gerechtigkeit im Rahmen einer Ethik als Schutzbereich. Das konservative Modell Robert Nozicks steht dem Prinzip eines Sozialstaates distanziert gegenüber. Wohlfahrt ist eine Frage des persongebundenen, mitfühlenden Kapitalismus, ohne Rechtsanspruch. Zunächst und grundlegend ist eine Person als Eigentümer anzuerkennen. Jeder ist Eigentümer, auch der Bettler. Er besitzt immerhin sich selbst. Aber davon allein kann er nicht leben. Der Schutz des Eigentums ist der zentrale Wert und Leistungen um des Anderen willen sind nur selbstlose Gaben, die auch un-
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terlassen werden könnten. Somit droht ein entsprechendes System der Sorge exklusiv zu werden, also diejenigen auszuschließen, die als vulnerable Personen Subjekte der Heil- und Sozialberufe sind (vgl. Schnell 1996). Das liberale und das republikanische Modell der Gerechtigkeit stehen dem Gedanken der Nichtexklusivität näher als das konservative. Das Modell von John Rawls befürwortet eine sozialstaatliche Regelung der Versorgung von vulnerablen Personen. Die Solidargemeinschaft ist für eine Grundversorgung zuständig, Zusatzbedürfnisse sind durch private Absicherungen, die ungleich ausfallen, je nach Vermögen der Akteure, zu versorgen. Die unparteiliche Bemessung der Gerechtigkeit erfolgt im sog. Urzustand, in dem Akteure hinter einem Schleier der Unwissenheit als Vertragspartner agieren. Sie erkennen sich in dieser fiktiven Situation quasi als Vertragspartner an. Die Anerkennung bezieht sich auf die Eigenschaft des Anderen, Vertragpartner sein zu können. Anerkannt wird der Andere somit als zweckrational Handelnder. Andere und weitere Eigenschaften sind als mögliche Gegenstände von Anerkennung nicht vorgesehen. Weder Moral noch Behinderung oder Krankheit (vgl. Pogge 1994: 65ff). Somit können nur die Auswirkungen von Eigenschaften gerechtigkeitsrelevant kompensiert werden. Die von Rawls geleistete Grundlegung entwickelt Norman Daniels in Richtung einer Gerechtigkeitstheorie der Gesundheitsversorgung. Die entscheidende Entwicklung besteht darin, dass die Frage gerechter Gesundheitsversorgung von Daniels nicht nur als Problem moralischer Rechtfertigung aufgefasst wird – wie es sich für einen Schüler von Rawls gehören würde –, sondern als ein breiter angelegtes Projekt. Daniels rückt damit von Rawls ab und integriert neue Ansätze wie jene von Amartya Sen und Martha Nussbaum (Daniels 2009: 46ff; 64ff). Gerechte Gesundheitsversorgung entspringt Daniels zufolge aus drei Quellen. Demnach ist Gesundheit (1) von besonderem moralischen Interesse für eine Gesellschaft, da sie Grundlage für die Entfaltung von individuellen Möglichkeiten ist. Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung sind (2) ungerecht, wenn sie aus gesellschaftlicher Verteilungsungerechtigkeit resultieren. Schließlich gilt es (3) den Bedürfnissen nach Gütern der Gesundheitsversorgung auch dann angemessen zu begegnen, wenn eine Gesellschaft nicht alle Bedürfnisse bedarfsgerecht versorgen kann (ebd.: 140). Diese drei Überlegungen stützen sich gegenseitig und bilden eine Grundlage für eine gesundheitswissenschaftliche
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Ethik (ebd.: 157), deren Nagelprobe gleichwohl in der ‚Rechtfertigung‘ von Rationierung besteht (vgl. Schnell 2008c). Das Modell von Michael Walzer befürwortet einen Wohlfahrtstaat gemäß sozial anerkannter Bedürftigkeit (Walzer 1992: 134; 145). Die menschliche Gesellschaft ist eine Distributionsgemeinschaft, die Güter im Licht gemeinsam festgelegter Bedeutungen verteilt. Gerecht bzw. ungerecht sind Güterverteilungen gemäß bzw. wider diese Bedeutungen. Dabei gilt die Idee einer komplexen Gleichheit: Jemand kann von einem Gut x mehr oder weniger als andere erhalten, ohne dass er deshalb von einem Gut y auch mehr oder weniger zugeteilt bekommt. Wer mächtiger als andere ist, muss deshalb nicht auch reicher sein. Personen treten hier im Lichte verschiedener Eigenschaften auf (vgl. Schnell 2001: 58ff).
G ERECHTIGKEIT ALS DES ANERKANNTEN
KRITISCHE
Ü BERPRÜFUNG
Für Walzer ist auch Anerkennung ein gemäß gesellschaftlicher Bedeutung zu verteilendes Gut. Walzer betont gar, dass „die Anerkennung ein knappes Gut ist.“ (Walzer 1992: 363) Anerkennung ist somit eine Leistung, die im Lichte der Gerechtigkeit betrachtet werden kann. Die Anerkennung einer Person durch eine andere bezieht sich auf deren „Eigenschaften, Fähigkeiten und Talente“, die durch die Anerkennung eine „Wertschätzung erfahren.“ (ebd.: 365) Anerkennung ist der Fall eines Gebens an die Adresse eines Anderen, die quasi ein Ergebnis auf Seiten des Anerkannten haben kann: „Wertschätzung, nicht Selbstschätzung.“ (ebd.: 388) Eine gerechte Anerkennung von jemandem als „krank“ bemisst sich an der Bedeutung, die die politische Distributionsgemeinschaft diesem Gut gegeben hat. Demnach wird „Kranksein“ jemandem als ethisch relevante Eigenschaft zugesprochen, wenn die Symptome a, b, c vorliegen. Eigenschaften sind dann ethisch relevant, wenn sie Andere und Dritte zu einem Verhalten verpflichten. Die Feststellung der Symptome a, b, c verpflichtet niemanden zu einem Verhalten (etwa der Hilfeleistung). Erst ihre Subsumtion unter den Begriff der Krankheit und sodann die Anerkennung einer Person als „krank“ verpflichtet Andere und Dritte zu einem Verhalten, nämlich zur Gabe von weiteren Gütern in Form von Leistungen der Gesundheitsversorgung (Behandlung, Medikamente, Prävention etc.). Die als
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gerecht ausgezeichnete Anerkennung bewirkt, dass der Person das Ihrige gegeben wird. Der Schutzbereich des Ethischen wird wohnlich!
2. E RGEBNIS Der Diskurs der Gerechtigkeit ist eine kritische Korrektur bzw. Überprüfung der in der Anerkennung von etwas behaupteten Geltung. Stimmt es, dass Fritz als krank anzuerkennen ist?
Z USAMMENFASSUNG Die Beziehung zum Anderen lässt sich in drei gleichzeitigen Hinsichten beschreiben. Ich stehe in einer ethisch bedeutsamen Beziehung zum Anderen, der Jemand ist (1). Auf den Anderen gehe ich durch Anerkennung seiner als Etwas ein (2). Die in der Anerkennung mitvollzogene Geltungsbehauptung wird durch den Gerechtigkeitsdiskurs überprüft, innerhalb dessen der Andere als Fall einer Regel auftritt (3). Tabelle 2: Die Beziehung zum Anderen Der Andere …
Konsequenz
Dimension
3) ist besonderer Fall einer Regel
Prüfung: Gültigkeit des Anerkannten
Gerechtigkeit
2) ist als etwas anzuerkennen
Aktivität: Anerkennung des Jemand als etwas als Antwort auf die Verantwortlichkeit
Anerkennung
1) ist Jemand
Faktizität: Ich bin verantwortlich (NichtIndifferenz)
Andere der Anerkennung
Vor dem Hintergrund der Tradition, in der der Kampf um und gegen das hegelianische Schema von Allgemeinem und Besonderen gegenwärtig ist, stellt sich die Frage, welchen Beitrag Anerkennung und Gerechtigkeit zu einer nichtexklusiven Ethik als Achtungs- und Schutzbereich leisten kön-
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nen. Diese Ethik ist im Geiste einer philosophischen Ethik der Heilberufe konzipiert, die den Menschen nicht nur als autonome Vernunftperson, sondern auch als vulnerable Person versteht. Vulnerable Personen und Gruppen sollen im Zentrum der Konzeption des Schutzbereiches stehen. Anerkennung und Gerechtigkeit sollen dieses Anliegen unterstützen. Anerkennung ist eine dreistellige Relation. „Ich erkenne jemanden als etwas an.“ Von der Anerkennung als Aktivität, die sich auf ‚etwas‘ bezieht, ist das Andere der Anerkennung, das sich an ‚jemanden‘ richtet, zu unterscheiden. Beides ereignet sich in der dreistelligen Relation gleichzeitig. Das Andere der Anerkennung: In der Begegnung mit dem Anderen bin ich unvermeidlich und unwillkürlich in eine Nicht-Indifferenz gestellt. Der Andere geht mich etwas an. Zwischen uns bahnt sich ein Schutzbereich an: Ich kann ihn nicht ethikfrei behandeln. Er ist kein Neutrum. Während das Andere der Anerkennung von einer Passivität zeugt, ist das Anerkennen als eine gestaltende Tätigkeit zu verstehen. Sie ist dann erfüllt, wenn ich jemanden als etwas behandle. Der Arzt erkennt Fritz als Kranken an (Weizsäcker). Das Anerkennen ist kein bloßes Erkennen von Eigenschaften. Es hat und nutzt einen Gestaltungsspielraum und ist in gewissem Sinne eine Stiftung dessen, was es anerkennt. Fritz ist nicht krank im Sinne einer schlichten Tatsache, er wird vielmehr für krank erklärt und deshalb krank geschrieben. Gestaltungsspielraum besagt hier, dass es auch anders sein könnte. Fritz wird vom Arzt als Simulant behandelt oder die Feststellung der Symptome führt zu keiner völlig eindeutigen Subsumtion. Das Resultat einer Behandlung von jemandem als etwas kann dessen Missfallen oder Protest sein. Eine Anerkennung von jemandem als etwas, die hingegen gelungen ist, beinhaltet Selbstschätzung oder gar Selbstachtung des Anderen. Das ist aber nicht alles! Der Patient, dem der Arzt in Deutschland auf Wunsch aktive Sterbhilfe verspricht, kann sich als Person anerkannt und respektiert fühlen, da ihm ein vermutlich langes Siechtum erspart bleibt. Trotz dieser Anerkennung ist die Sache selbst aber problematisch und bedarf der Überprüfung! Der Gesichtspunkt der Gerechtigkeit ermöglicht eine kritische Überprüfung des Anerkannten. Gerechtigkeit impliziert insofern Gleichbehandlung, da sie eine ungerechte Bevorzugung oder Benachteiligung ausschließt. Ungerechtigkeit kann als für die politische Distributionsgemeinschaft nicht akzeptable Anerkennung und damit als nicht akzeptable Zuteilung von Leistung verstanden werden. Gerechtigkeit bedeutet hingegen, dass dem
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Anerkannten das seinige, das ihm zusteht, zukommt. Der Anerkannte kann sich ob seines Anerkanntseins wert geschätzt fühlen, der Anerkennende kann sich loben, wenn er die Prüfung durch die Gerechtigkeit bestanden hat. An dieser Stelle ist ein Ort, wenn es überhaupt einen solchen geben sollte, um von einer mit dem „Anerkennungsprozess verbundenen Versöhnungsmacht“ (Ricoeur 2006: 324) zu sprechen. Im Sektor der Heilberufe spricht man seit Victor von Weizsäcker vom sog. guten Arzt und in der Nachfolge von guter Pflege, um diese Macht zu bezeichnen.
E THIK
ALS EMPIRISCHES
P HÄNOMEN
Gerechtigkeit als kritische Prüfung des Anerkannten beschränkt sich nicht auf den Bereich von ad hoc Urteilen, denn es bedarf, um die Geltung einer Distribution beurteilen zu können, nicht selten eines Prozesses der Überprüfung, der wiederum Zeit erfordert. In der Gesundheitsversorgung geht es schließlich nicht nur um Krankschreibungen, die als Urteile aufgefasst und nach ihrer Geltung befragt werden können, sondern auch um institutionelle Prozesse und um anonyme Strukturen, innerhalb derer ein verflachender Alltag (Max Weber) Ungerechtigkeit schleichend herbeizuführen vermag. In diesen Fällen muss sich die kritische Prüfung mit einer kritischen Evaluation verbinden, die als Erforschung stattfindet. „Ethik als empirisches Phänomen“ (Schnell 2005) ist, wie anderswo dargestellt, der auf Verfahren empirischer Forschung beruhende Teil der Ethik als Schutzbereich, welcher eine Ausmessung heilberuflich relevanter Bereiche durchführt (vgl. Schnell 2008a: 16).
AUSMESSUNGEN Ausmessungen gehen von dem Faktum der Nicht-Indifferenz aus, das darin besteht, dass ich für jemanden verantwortlich bin und untersuchen, wie Anerkennung, die auf diese Verantwortlichkeit antwortet und wie Gerechtigkeit, die eine Prüfung der Anerkennung unternimmt, einen Schutzbereich konkret haben entstehen lassen. Entsprechende Untersuchungen beziehen sich wiederum auf entsprechende Räume wie das Krankenhaus (vgl. Schnell/Mitzkat 2006), die Psychiatrie (vgl. Haynert/Schnell 2009), das Al-
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tenheim (vgl. Josat et al. 2006), das Lebensende in der Palliativversorgung (vgl. Schnell et al. 2009) und auf den Umgang mit vulnerablen Personen (vgl. Hayder et al. 2009). Ausmessungen belegen im Ergebnis nicht selten die Geltung eines Satzes von Thomas Hobbes: Das Leben mancher Menschen ist einsam, armselig, ekelhaft und kurz.
P OSTSCRIPTUM : K RIEG
ODER I DEALISMUS ?
Die Gerechtigkeit bemisst sich an der ethischen Integrität der politischen Gemeinschaft, distributionsrelevante Bedeutungen für Güter festzulegen. Sofern die politische Gemeinschaft in dieser Integrität gestört oder korrumpiert wäre, blieben nur zwei Alternativen. Entweder müsste mit Derrida von einer Unversöhnlichkeit gesprochen werden. In diesem Fall wäre der Kampf um Anerkennung dem Krieg nicht mehr fern. Oder man müsste mit Hegel auf eine Weltgeschichte setzen, die auch ein Weltgericht ist. In diesem Fall würden Begriff und Sache der Anerkennung wieder ganz von der idealistischen Tradition her verstanden.
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Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit als Kernbegriffe Diakonischer Ethik U LRICH H.J. K ÖRTNER
1. D IAKONISCHE E THIK – EINE NICHTEXKLUSIVE
E THIK ?
Als Diakonie bezeichnet man das soziale Handeln der Kirche. Während der Begriff Diakonie vor allem im evangelischen Bereich beheimatet ist, spricht man in der katholischen Kirche von Caritas. Seit geraumer Zeit wird über Aufgaben und Grundlagen einer diakonischen Ethik diskutiert.1 In den vergangenen Jahrzehnten sind verschiedene Bereichsethiken wie Medizinethik, Wirtschaftsethik, Umweltethik, Wissenschaftsethik oder Technikethik entstanden. Auch die diakonische Ethik lässt sich als eine solche Bereichsethik verstehen. Wie die allgemeine ethische Entwicklung reagiert diakonische Ethik auf den gestiegenen ethischen Reflexionsbedarf einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft. Der moderne Pluralismus und die Individualisierungsschübe der Moderne führen zu einer Pluralisierung auch der moralischen Überzeugungen. Der Philosoph Otfried Höffe bezeichnet die Moral als „Preis der Moderne“ (Höffe 2005). Man sollte besser von der Ethik, welche die selbstreflexive Theorie der Moral ist, als Preis der Moderne sprechen. Der Charakter der Ethik unterliegt dabei einem Wandel
1
Vgl. einführend Ammermann 2005: 122-140.
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von der Prinzipienethik zur Verfahrensethik. Aufgabe der Ethik in einer moralisch pluralistischen Gesellschaft ist es nicht, eine bestimmte Moral durchzusetzen, zum Beispiel auf dem Feld der Politik, sondern Verfahren zur Bearbeitung moralischer Konflikte bereitzustellen und zu einer diskursiven Entscheidungsfindung beizutragen. Ethik gewinnt damit grundlegend eine beratende Funktion. So gewiss jede Ethik normative Anteile hat, tritt doch die deskriptiv-hermeneutische Aufgabe der Ethik heutzutage in den Vordergrund. Diese Entwicklung kennzeichnet auch die Aufgabenstellung einer diakonischen Ethik. Der steigende ethische Reflexionsbedarf diakonischer Arbeit ist auf doppelte Weise durch die Pluralisierungsprozesse in modernen Gesellschaften herausgefordert. Zum einen dient diakonische Ethik der Identitätsvergewisserung und Profilbildung von Diakonie auf dem Markt der unterschiedlichen sozialen Dienstleister. Zum anderen reagiert sie auf Pluralisierungsprozesse, die innerhalb der Diakonie selbst stattfinden. Diese betreffen sowohl die Mitarbeiter als auch die Klienten diakonischer Arbeit. Weder die Mitarbeiterschaft in diakonischen Einrichtungen noch deren Klientel ist weltanschaulich oder religiös und moralisch so homogen wie in den Anfängen der modernen Diakonie im 19. Jahrhundert oder auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Diakonische Ethik steht vor der Herausforderung, Vielfalt und Verbindlichkeit eines christlichen Ethos im Gegenüber zu anderen Ethosformen zu vertreten und zu profilieren. Zwar bemühen sich diakonische Einrichtungen, Unternehmungen und Werke nach wie vor um ein klares und von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern akzeptiertes christliches Profil, indem sie entsprechende Leitbilder formulieren.2 Umfragen zeigen allerdings, dass sich die christliche Motivation der Mitarbeitenden nur noch zwischen 19 und 56 Prozent bewegt (vgl. Haas 2004: 234). Nur noch ein Teil der Beschäftigen gibt an, dass selbst so weiche Formulierungen wie: „Können Sie sich mit der Vorstellung einer christlichen Nächstenliebe identifizieren?“ für ihren beruflichen Alltag wichtig sind (ebd.). In Anbetracht der geschilderten Problemlagen stellt sich die Frage, ob oder inwiefern man diakonische Ethik als eine nichtexklusive Ethik bezeichnen kann. Dazu ist zunächst zu klären, was überhaupt unter einer nichtexklusiven Ethik zu verstehen ist. Martin W. Schnell erhebt die Forde-
2
Exemplarisch: Kirchenamt der EKD (1998).
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rung nach Ethik als einem nichtexklusiven Schutzbereich, der insbesondere Menschen mit Pflegebedarf, kranke und behinderte Menschen stärker als andere Typen von Ethik berücksichtigt und beim gelebten Leben dieser Menschen ihren Ausgangspunkt nimmt (vgl. Schnell 2008, 2002). „Nichtexklusiv“ bedeutet nach Schnell, „dass eine Ethik niemanden von der Gewährung von Achtung, Schutz und Würde ausschließt“ (Schnell 2008: 15). Exklusive Ethiken sind demgegenüber solche, die Menschen aufgrund von bestimmten Merkmalen oder fehlender Eigenschaften wie Bewusstsein oder aktueller Fähigkeit zur Selbstbestimmung aus dem Kreis der moralisch relevanten Subjekte ausschließt. Schnell rechnet dazu die utilitaristische Ethik von Peter Singer, aber auch die Konzeptionen von Tom L. Beauchamp oder Richard M. Hare. Im Sinne Schnells lässt sich diakonische Ethik insofern als nichtexklusive Ethik charakterisieren, als sie dem universalen Gebot der Nächstenliebe verpflichtet ist, wie es im Alten Testament (Lev 19,18) formuliert und in der Jesustradition des Neuen Testaments bekräftigt wird (Mk 12,28-34; Mt 22,34-40; Lk 10,25-37). Jesus radikalisiert die Nächstenliebe in der Bergpredigt sogar bis zur Feindesliebe (Mt 5,43-48; Lk 6,27). Die Botschaft Jesu begründet die Option für die Armen, die ihrerseits alttestamentliche Wurzeln hat, und der auferstandene Christus wird in den notleidenden Menschen erkannt (Mt 25,31-46). Das Gebot der Nächstenliebe steht allerdings in Spannung zum modernen Liebesbegriff einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft. Während diese die Anerkennung eines Einzelnen auf individuelle Liebeswahl gründet, fordert das Gebot der Nächstenliebe eine uneingeschränkte Anerkennung individueller Bedürfnisse entsprechend konkret wahrgenommener Notlagen (vgl. Behrens 2002: 27, 33). Nichtexklusiv ist diakonische Ethik im Blick auf die möglichen Adressaten christlich motivierten Handelns. Anders steht es freilich mit ihrer Begründung. Eine biblisch begründete Ethik mag einen universalen Geltungsanspruch erheben. Ihre Plausibilität beschränkt sich jedoch zunächst auf diejenigen, die an Christus bzw. an Gott im christlichen Sinne glauben. Mögen sich christliche Gehalte streckenweise auch in eine nichtreligiöse Ethik übersetzen lassen oder mit materialethischen Normen anderer religiöser oder philosophischer Traditionen konvergieren, so haben doch ihre spezifisch biblischen oder religiösen Begründungen für Nichtchristen keine unmittelbare Überzeugungskraft. Man mag mit Peter Dabrock davon sprechen, dass eine christliche Ethik auf Transpartikularisierung ihrer Prinzi-
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pien und Normen ausgerichtet ist (vgl. Dabrock 2001, 2004), weil sie der Überzeugung ist, dass der Heilswille Gottes allen Menschen gilt (I Tim 2,4). Insofern jedoch christliche Ethik darin gründet, dass allein in Christus das Heil des Menschen begründet ist, muss man hinsichtlich ihrer Letztbegründung wohl sogar von einer exklusivistischen Ethik sprechen. Die Begründungsfragen einer christlichen und damit auch einer diakonischen Ethik berühren das Problem einer Theologie der Religionen, wobei exklusivistische, inklusivistische und pluralistische Theorien sowie Mischformen derselben vertreten werden. Auf den Stand der Diskussion dazu kann hier aber nicht näher eingegangen werden.3 Weiters wäre zu diskutieren, ob eine Ethik, gleich, ob religiös oder nicht, welche zwischen Menschen – mögen auch alle inkludiert sein –, Tieren und Pflanzen Abstufungen hinsichtlich ihrer moralischen Berücksichtigungswürdigkeit vornimmt, als nichtexklusive Ethik bezeichnet werden darf. Albert Schweitzer hat dies verneint und mit seiner Ethik der Ehrfurcht vor dem Leben eine universale Ethik propagiert, welche grundsätzlich alles Leben als schützens- und erhaltenswert einstuft, vom Menschen bis zur Mikrobe (vgl. Schweitzer 1981). Schweitzers Ethik leidet freilich an ernsten Begründungsproblemen, die daran zweifeln lassen, ob eine nichtexklusive Ethik mit einem derart entgrenzten Adressatenkreis, der zwischen der Tötung eines Menschen und der Vernichtung von Krankheitserregern keinen grundsätzlichen Unterschied sieht, widerspruchsfrei plausibel, geschweige denn praktisch zu befolgen ist. Die jüdische und die christliche Tradition achten zwar die gesamte Welt als Schöpfung Gottes, nehmen aber Abstufungen hinsichtlich der moralischen Berücksichtigungswürdigkeit der außermenschlichen Natur vor, wie wir sie auch in anderen Ethiktraditionen kennen. Allerdings lässt sich fragen, ob eine im radikalen Sinne nichtexklusive Ethik überhaupt ein plausibles Konzept sein könnte. Zutreffend stellt HansUlrich Dallmann fest:
3
Vgl. dazu Danz/Körtner 2005.
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„Menschen können weder nicht nicht-inkludieren noch nicht nicht-exkludieren. Folglich kann nicht das Faktum von Exklusion und Inklusion Gegenstand der ethischen Reflexion sein, sondern die daraus resultierende Frage nach dem angemessenen Umgang damit.“ (Dallmann 2002: 589)4
Das gilt für diakonische Ethik ebenso wie für jede andere Ethik (vgl. auch Dallmann 2006). Hinsichtlich der Adressaten und Produzenten diakonischer Ethik entscheidet sich ein angemessener Umgang mit Inklusion und Exklusion eben auch daran, wie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter diakonischer Einrichtungen mit ihren unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen in ethische Reflexionsprozesse eingebunden werden. Eine vor allem von Begründungsfragen beherrschte diakonische Ethik ist keine wirkungsvolle Antwort auf die Individualisierungsprozesse, die in der Mitarbeiterschaft stattfinden. Diakonische Paradigmen und Leitbilder „werden fast ausschließlich auf leitender oder auf lehrender Ebene vertreten, selten werden sie von den Mitarbeitern an der Basis des Hilfehandelns für ihr berufliches Selbstverständnis übernommen“ (Weber 2001: 10). Wenn diakonisches Denken den Kontakt zum diakonischen Handeln verliert, ist auch eine diakonische Ethik bestenfalls ein Krisensymptom, aber keine Lösungsstrategie. Das gilt auch im Hinblick auf die Adressaten diakonischen Handelns. Zwischen dem in einem Leitbild beschriebenen Ethos einer diakonischen Einrichtung und demjenigen der in ihnen betreuten Menschen kann es zu Konflikten kommen. Diakonisches Handeln, welches im Sinne des vielbeschworenen christlichen Menschenbildes nicht nur die Würde, sondern auch die Freiheit und das Selbstbestimmungsrecht der Menschen ernstnimmt, muss der Individualität von Lebensstilen und Lebensentwürfen, von weltanschaulichen und moralischen Überzeugungen respektvoll begegnen. Auch das christliche Ethos selbst tritt nicht als homogene Größe in Erscheinung, sondern in der geschichtlichen Vielfalt konfessioneller und individueller Interpretationen (vgl. dazu Körtner 2004: 94-115). So besteht eine grundlegende Aufgabe diakonischer Ethik darin, den christlichen Dienstgedanken, der im Handeln und Leben Jesu sein Urbild und Vorbild
4
Zu Inklusion und Exklusion in systemtheoretischen Zusammenhängen siehe N. Luhmann 1995: 237-264; Stichweh 2005. Zu begrifflichen Unschärfen der Luhmannschen Terminologie vgl. Merten 2001.
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findet, mit der Autonomie im Sinne eines christlichen Freiheitsverständnisses zusammenzudenken (vgl. Weber 2001: 92, der den Freiheitsbegriff im Anschluss an Hannah Arendt neu zu bestimmen versucht). Verhindern lässt sich die Entfremdung zwischen ethischer Theoriebildung und diakonischer Praxis nur, wenn diakonische Ethik konsequent als Bereichsethik – und das heißt auch als ‚topische‘ Ethik – konzipiert wird (vgl. Körtner 2007: 14f., 55f., 72f.).5 Topoi, ‚Örter‘, lateinisch loci sind in der antiken Rhetorik, vor allem bei Aristoteles und Cicero, allgemeinste Kategorien, in denen ein Redner plausible Argumente aufsucht (vgl. Zachhuber 2005: 475f.). Wir sprechen auch heute noch von ‚Gemeinplätzen‘ (lateinisch loci communes). Das Ziel der Topik ist die situative Angemessenheit von Argumentationsstrategien. Eben darum geht es auch beim Begriff der Bereichsethik. Das bereichsethische Denken unterscheidet sich vom Begriff der angewandten Ethik, der den Eindruck erweckt, als ginge es in der konkreten Praxis lediglich um die Anwendung oder Umsetzung allgemein anerkannter und theoretisch begründeter Prinzipien. In der Diakonie hieße dies also, dass ethische Prinzipien, die aus ‚dem‘ christlichen Menschenbild abgeleitet werden, in den diakonischen Alltag zu übersetzen wären. Der Begriff der Bereichsethik geht stattdessen davon aus, dass uns unterschiedliche Praxisfelder mit ganz verschiedenen Arten von Problemen konfrontieren, die unterschiedliche Arten der ethischen Reflexion erforderlich machen. „Ethik entsteht“, wie der evangelische Theologe Reiner Anselm schreibt, „nicht in der dünnen Luft der Theorie, sondern ihr Ort ist die stickige Atmosphäre konkreter Konflikte. Sie ist gebunden an konkrete Orte der Entscheidung. Dies im Gegensatz zu allen Versuchen, die Kontextabhängigkeit der Ethik zu negieren, in den verschiedenen Handlungsfeldern helfenden Handelns deutlich zu machen, könnte ein wichtiger Beitrag der Selbstreflexion diakonischen Handelns für die gegenwärtige Ethik sein.“ (Anselm 2004: 173) Aufgabe diakonischer Ethik ist es, konkret nach Bereichen oder Orten des Ethischen (Klaus Tanner) zu fragen, deren Topographie es sorgfältig zu analysieren gilt. Nimmt man den Grundgedanken topischer Ethik ernst, so muss auch noch innerhalb einer Konzeption diakonischer Ethik zwischen
5
Siehe auch Haas 2006: 462ff. (im Anschluss an den Schweizer Ökonomen Hans Ulrich). Zur Bedeutung der Topik für die Ethik siehe auch Soosten 2002: 83100.
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den unterschiedlichen Handlungsfeldern und Orten diakonischen Handelns unterschieden werden. Die Gliederung orientiert sich dabei nicht wie die klassische Einteilung diakonischer Arbeit an den Personengruppen, die auf Hilfe angewiesen sind – also Jugendhilfe, Behindertenhilfe, Altenhilfe, Krankenhilfe usw. – sondern systemisch oder organisationstheoretisch an den institutionellen Orten, Strukturen oder Geschäftsfeldern, innerhalb derer Hilfe geleistet wird und Menschen interagieren (vgl. dazu auch Nassehi 2004: 177-186). Ein topisches oder bereichsethisches Verständnis diakonischer Ethik vollzieht außerdem die Abkehr von der traditionellen Anstaltsdiakonie hin zu einem kooperativen Hilfeverständnis, das die Selbstbestimmung und die Ressourcen der Betroffenen wertschätzt und aktiviert (vgl. Bartmann 2006: 371f.). Diakonische Ethik hat auch die grundlegenden Veränderungen der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu reflektieren, innerhalb derer diakonisches Handeln stattfindet. Dazu zählen nicht nur die Finanzierungsprobleme des Sozialstaats und der Versicherungssysteme sowie der Wandel vom Sozialstaat zum Sozialmarkt, der die Diakonie nötigt, sich im öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesen neu zu positionieren und auch neue Finanzierungsmodelle zu entwickeln, sondern auch die Stärkung des zivilgesellschaftlichen Elements. Dabei geht es nicht nur um die wieder zu stärkende Rolle von ehrenamtlicher Tätigkeit in der Diakonie. Die Bipolarität von Kirche und Staat wird grundsätzlich durch die Triade von Kirche, Staat und (Zivil-)Gesellschaft abgelöst (vgl. Huber 1998: 267ff.).6 Wie die zunehmende Emanzipation der großen diakonischen Unternehmungen systemtheoretisch als kirchlicher Ausdifferenzierungsprozess verstehbar wird, so müssen Kirche und Diakonie je für sich und auch gemeinsam ihr Verhältnis zum Staat wie zur Zivilgesellschaft klären. Auch dies ist eine Aufgabe diakonischer Ethik. Und auch in dieser Hinsicht wird man nicht einfach von einer nichtexklusiven Ethik sprechen können, sondern die Aufgabe darin sehen, im Blick auf die systemischen Überlagerungen, Interaktionen und möglichen Konflikte konkret zu fragen, welcher konkrete Umgang mit Inklusion und Exklusion ethisch zu rechtfertigen ist.
6
Siehe auch Körtner 2002: 79-103.
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2. I NKLUSIVES E THOS :
BIBLISCHE I MPULSE
Diakonische Ethik orientiert sich grundlegend an der Praxis Jesu, die man als Inklusion von Ausgegrenzten charakterisieren kann. Geradezu stereotyp verweisen diakonische und kirchliche Dokumente auf Jesu Umgang mit Sündern und Zöllnern, Aussätzigen, Kranken und Ehebrechern. Die neutestamentlichen Evangelien berichten, dass die Praxis Jesu immer wieder zu Konflikten mit Repräsentanten des zeitgenössischen Judentums führt. Der Jude Jesus stellt die alttestamentliche strikte Trennung zwischen Rein und Unrein in Frage (Mk 7,1-23; Mt 15,1-20). Er wendet sich Aussätzigen zu, die außerhalb der Ortschaften in eigens gekennzeichneten Bereichen leben mussten, und heilt sie (Mk 1,40-45; Mt 8,24; Lk 5,12-16; 17,11-19). Ebenso heilt er einen Besessenen, der aus der Dorfgemeinschaft ausgeschlossen ist (Mk 5,1-20; Mt. 8,28-34; Lk 8,26-39). Er beruft einen Zöllner, der als Kollaborateur der römischen Besatzungsmacht geächtet war, in seinen Jüngerkreis (Mk 2,13-17; Mt 9,9-13; Lk 5,27-32) und verkehrt auch sonst mit Zöllnern (Lk 5,27-32)7. Er lässt sich von einer als Sünderin titulierten Frau die Füße salben, was sein Gastgeber, ein Pharisäer, für einen Skandal hält (Lk 7,36-50). Er bricht mit familiären Konventionen und erklärt, seine Mutter und seine Brüder seien alle, die auf Gottes Wort hören und seinen Willen befolgen (Mk 3,31-35; Mt 12,46-50; Lk 8,19-21). In einem Gleichnis schildert Jesus das Reich Gottes als ein Festmahl, zu dem die Armen und Elenden von den Hecken und Zäunen eingeladen werden, nachdem die vornehmen Gäste, die ursprünglich eingeladen waren, dem Gastgeber eine Absage erteilt haben (Mt 22,1-10; Lk 14,15-24). Die Version des Gleichnisses im Matthäusevangelium erzählt, der königliche Gastgeber habe alle herbeiholen lassen, die seine Knechte finden konnten, „Böse und Gute“ (Mt 22,10), so wie Gott nach Jesu Aussage in der Bergpredigt auch über Bösen und Guten seine Sonne aufgehen und es über Gerechten und Ungerechten regnen lässt (Mt 5,45). In diesen Aussprüchen wird keineswegs die Unterscheidung zwischen Gut und Böse aufgehoben, wohl aber die Grenze zwischen Guten und Bösen. Allerdings endet die Fassung im Matthäusevangelium damit, dass einer der Geladenen, der nicht im Festgewand erschienen ist, hinausgeworfen wird. Das ist ein Hinweise darauf, dass das Problem von Inklusion und Exklusion auch in der Jesusüber-
7
Vgl. auch das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner in Lk 18,9-14.
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lieferung virulent bleibt. Lukas gibt dem Gleichnis in der Rahmenerzählung eine ethische Wendung: Wie der Gastgeber im Gleichnis sollen auch die Hörer oder Leser handeln. Man soll nicht seine Freunde, Verwandten oder reiche Nachbarn zu sich einladen, sondern Arme, Krüppel, Lahme und Blinde, „weil sie es dir nicht vergelten können; denn es wird dir vergolten werden bei der Auferstehung der Gerechten“ (Lk 14,13f.). Schließlich durchbricht Jesus auch religiöse Grenzen. Er heilt die Tochter einer syrophönizische Frau, deren Bitte er zunächst schroff zurückweist, weil sie keine Jüdin ist, lässt sich dann aber von dieser umstimmen (Mk 7,24-30; Mt 15,21-28). Inbegriff der im Alten Testament und von Jesus gebotenen Nächstenliebe ist der barmherzige Samariter aus Jesu Gleichnis in Lk 10,30-37. Dieser als Vorbild hingestellte Mann, der einen unter die Räuber gefallenen Menschen rettet und versorgen lässt, ist kein Jude – und schon gar kein Christ, sondern ein aus jüdischer Sicht häretischer Samaritaner. War vorhin davon die Rede, dass eine diakonische Ethik letztlich an ein exklusives Bekenntnis zur Heilsbedeutsamkeit Christi rückgebunden ist, so kommt diese christologische Begründung des christlichen Ethos im Gleichnis vom barmherzigen Samariter interessanterweise – zumindest explizit – nicht zum Tragen. Als inklusiv wird auch Jesu Einstellung zu fremden Wundertätern dargestellt. Als seine Jünger von einem fremden Dämonenaustreiber berichten, der im Namen Jesu böse Geister austreibt, jedoch nicht zum Jüngerkreis Jesu gehört, erklärt dieser: „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns“ (Mk 9,40; Lk 9,50). Freilich darf man nicht außer Acht lassen, dass es ausdrücklich heißt, der fremde Exorzist rufe den Namen Jesu an. Die Inklusion des fremden Dämonenaustreibers gründet also durchaus in einer Exklusion, die sich bei Matthäus und Lukas an anderer Stelle in der Umkehrung des Jesuswortes zeigt: „Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich, und wer nicht mit mir sammelt, der zerstreut“ (Mt 12,30; Lk 11,23). Das inklusive Ethos der Jesusüberlieferung kommt auch im großen Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25 zum Ausdruck. Ob jemand den Willen Gottes befolgt oder zu Christus gehört, erweist sich dadurch, dass jemand Hungrigen zu essen gibt, Durstigen zu Trinken, Fremde aufnimmt, Nackte bekleidet, Kranke und Gefangene besucht. Wer Christus dienen will, soll sich den Geringsten, den Armen und Ausgeschlossenen zu wenden. Was man einem der Geringsten getan hat, das hat man im Gleichnis dem König, d.h. im wirklichen Leben Christus getan (Mt 25,40). Aus Mt 25 hat die christliche Tradition die sieben Werke der Barmherzigkeit abgeleitet (vgl.
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Freiberger et al. 2003), wobei die Liste der Werke aus Mt 25 noch um die Bestattung der Toten ergänzt worden ist.8 In Mt 25 und der daran anschließenden Tradition der Werke der Barmherzigkeit besteht ein Wechselverhältnis zwischen exklusivem Christusglauben und inklusivem Ethos: Wer Christus dienen will, ist einem Ethos der Inklusion verpflichtet, das sich gerade denen zuwendet, die marginalisiert, verletzlich, schwach und schutzbedürftig sind. Die Aufforderung, Fremde zu beherbergen, begegnet uns freilich schon im Alten Testament. Den Fremden, d.h. den Nichtisraeliten, gilt die besondere Fürsorge des Gottes Israels, ebenso wie den Witwen und Waisen, wie Tora und Propheten immer wieder einschärfen. Das Alte Testament enthält zahlreiche Fürsorgeregelungen gegenüber sozial schwachen Gliedern der altisraelitischen Gesellschaft. Allerdings ist zu beachten, dass die Fremden nicht deshalb besonders zu achten sind, weil sie fremd, sondern sofern sie sozial schwach und schutzbedürftig sind. Das alttestamentliche Fremdenrecht bedeutet z.B. nicht, dass den Fremden eine eigene religiöse Identität zugestanden würde (vgl. richtig Dallmann 2002: 530). Hier zeigt sich der Jahweglaube exklusiv und auch unnachgiebig gegenüber anderen religiösen Kulten. Das Alte Testament kennt sogar sehr strikte Formen von Inklusion und Exklusion, wie allen voran das erste Gebot des Dekalogs zeigt, dass die ausschließliche Jahweverehrung fordert. Auch spielt die Unterscheidung zwischen rein und unrein kultisch und ethisch eine tragende Rolle. Die Kategorie des Fremden oder der Fremdheit prägt auch für das Selbstverständnis des ältesten Christentums. Viele Texte des Neuen Testaments sind aus der Perspektive einer marginalisierten Gruppe geschrieben. Paulus charakterisiert zum Beispiel die von ihm gegründete Christengemeinde als eine Gemeinschaft von Menschen mit geringem Ansehen. „Seht doch nur eure Berufung an, ihr Brüder: Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige, nicht viele Leute von vornehmer Geburt, sondern was vor der Welt töricht ist, hat Gott erwählt, damit er die Weisen zuschanden mache, und was vor der Welt schwach ist, hat Gott erwählt, damit er das Starke zuschanden mache, und was vor der Welt niedriggeboren und was verachtet ist, hat Gott erwählt, das,
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Diese Erweiterung geht auf den Kirchenvater Laktanz zurück, der sich auf Tob 1,17 berufen hat. Das Jesuswort Mt 8,22, man solle die Toten ihre Toten begraben lassen, wurde nicht als Widerspruch empfunden.
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was nichts gilt, damit er das, was gilt, zunichte mache, auf daß sich kein Fleisch vor Gott rühme.“ (I Kor 1,26-29)
Der Hebräerbrief betont, dass Jesus außerhalb der Stadt Jerusalem gekreuzigt und somit aus der Gesellschaft und religiösen Gemeinschaft ausgestoßen wurde. Wie er, so haben auch die Christen keinen bleibenden Ort in dieser Welt, Christusnachfolge bedeutet, selbst zum Ausgestoßenen zu werden: „So laßt uns nun vor das Lager hinausgehen und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ (Hebr 13,13f.) Die bleibende Fremdheit der Christen in der Welt bringt Paulus auf die Formel des „Haben als hätte man nicht“ (I Kor 7,29-31). Die radikalen Konsequenzen der in der Jesusüberlieferung zu beobachtenden Entgrenzungs- und Inklusionsstrategien zieht Paulus in seiner Lehre von der Rechtfertigung des Sünders, die im folgenden Abschnitt genauer untersucht wird. Die Rechtfertigungslehre führt zu einer völligen Neubewertung der alttestamentlichen Tora, mit der Konsequenz, dass in den christlichen Gemeinden die Beschneidungspraxis abgeschafft und die Trennung zwischen Juden und Nichtjuden aufgehoben wird. Das zeigt sich konkret am Konflikt zwischen Paulus und Petrus in Antiochia, als Petrus plötzlich nicht mehr mit nichtjüdischen Christen, welche die jüdischen Speisevorschriften nicht einhalten, keine Tischgemeinschaft mehr pflegen will (Gal 2,11-21). Paulus schreibt im Galaterbrief, dass die Unterscheidung zwischen Juden und Griechen, Sklaven und Freien, Mann und Frau für die Zugehörigkeit zu Christus und seiner Gemeinde keine Rolle mehr spielen (Gal 3,28). Der deuteropaulinische Epheserbrief beschreibt die Einheit der Gemeinde aus Juden und Griechen als Existenz eines neuen Menschen, nämlich eines aus Juden und Nichtjuden bestehenden Leibes, der infolge der Aufhebung des alttestamentlichen Gesetzes mit seinen Geboten und Satzungen besteht (Eph 2,15f.). Es wäre jedoch ein Missverständnis anzunehmen, dass für den Christusglauben Grenzziehungen überhaupt ihre Geltung verloren hätten. Ohne Grenzziehungen könnte es gar keine christliche Identität, weder der einzelnen Glaubenden noch der Kirche geben. „Will man an der Sozialität der Kirche festhalten, sind Grenzbestimmungen unumgänglich. Denn soziale Gruppen sind ohne Grenzziehungen nicht einmal denkbar.“ (Dallmann 2002: 533) Allerdings zeigt sich, dass die unumgänglichen Inklusions- und
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Exklusionsmechanismen im Neuen Testament nicht über ethnische, sondern über religiöse Semantiken laufen.
3. D ER K AMPF UM ANERKENNUNG UND R ECHTFERTIGUNG DES G OTTLOSEN
DIE
Das – in einem differenzierten Sinne – nichtinklusive Ethos der Jesusüberlieferung und des christlichen Glaubens reagieren auf ihre Weise auf den Kampf um Anerkennung, der sich in der biblischen Überlieferung auf Schritt und Tritt festmachen lässt.9 Am gründlichsten ist dieser Zusammenhang wohl in der Theologie des Paulus und seiner Lehre von der Rechtfertigung des Sünders bzw. des Gottlosen allein aus Gnade durch den Glauben durchdacht worden. Das Phänomen der Sünde und das Streben nach Anerkennung gehören schon nach alttestamentlicher Auffassung zusammen. Als Kain sich von Gott gegenüber seinem Abel zurückgesetzt fühlt, erschlägt er diesen (Gen 4,1-16). Die Schlange verheißt Adam und Eva im Paradies, sie würden sein wie Gott, wenn sie sich über das göttliche Verbot hinwegsetzen und vom Baum der Erkenntnis essen würden (vgl. Gen 3,34f.). Man kann die Sünde geradezu als das Streben des Menschen definieren, wie Gott sein zu wollen, also nicht etwa nur Anerkennung durch Gott zu erfahren, sondern sich selbst an die Stelle Gottes zu setzen. Paulus bestimmt den sündigen Menschen radikal als Feind Gottes (Röm 5,10). Die paulinische Rechtfertigungslehre aber besagt, dass Gott die Feindschaft des Menschen überwindet und ihn um Christi willen trotz seiner Sünde bedingungslos annimmt und somit anerkennt. Die bedingungslose Anerkennung durch Gott hebt nach paulinischem Verständnis nicht etwa jede Verantwortlichkeit des Menschen auf, sondern begründet sie allererst. Theologisch betrachtet liegt der Rechenschaftspflicht des ethischen Subjekts nämlich die Rechtfertigung, d.h. aber die Gerechtsprechung des Sünders durch den gnädigen Gott voraus. Die Rechtfertigung des Sünders bedeutet aber auch, dass dieser sich auf neue Weise als Geschöpf Gottes versteht. Das Ziel der Rechtfertigung ist ein neues Verständnis der menschlichen Geschöpflichkeit. Indem das gestörte Verhältnis zu Gott wiederhergestellt wird, gewinnt der Mensch auch ein neues
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Zum Terminus ‚Kampf um Anerkennung‘ vgl. Honneth 1992.
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Verhältnis zur Natur, die ihm nun als Schöpfung aufgeht. Darin besteht der schöpfungstheologische Sinn der Aussage des Paulus in II Kor 5,17: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung.“ Die rechtfertigungstheologische Konsequenz aus diesem Sachverhalt hat vor allem Martin Luther in seiner Erklärung zum ersten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses gezogen.10 Der Glaube an den Schöpfer wird in diesem Text als Bekenntnis zur eigenen Geschöpflichkeit formuliert, das Handeln des Schöpfers an seinem Geschöpf als Weise seiner bedingungslosen, unverdienten Gnade, d.h. als Zeichen der Rechtfertigung des Sünders. Das philosophische Argument, wonach personale Anerkennung bzw. Achtung der Grund von Moral ist, hat seine theologische Pointe darin, dass aller zwischenmenschlichen Anerkennung das Anerkanntsein der Person – und zwar auch derjenigen, welche eigentlich das Recht auf Anerkennung schuldhaft verwirkt hat – durch Gott vorausliegt. Hieraus folgt, dass die Würde der Person und ihre Freiheit unbedingt zu achten sind. Wenn das Daseinsrecht des Einzelnen theologisch verstanden in der Rechtfertigung des Gottlosen gründet, kann es zwischenmenschlich nicht an moralische Bedingungen geknüpft werden. Vielmehr ist umgekehrt alle Moral an seiner Achtung zu bemessen. Die Anerkennung des Sünders ist nun aber nicht ein bloßes Postulat, sondern eine im Glauben erfahrbare Wirklichkeit, eindrücklich in den Paulusbriefen dargelegt, auf die sich spätere Formulierungen der Rechtfertigungslehre berufen haben. Es verhält sich nicht so, wie etwa Trutz Rendtorff in seinem Entwurf einer ‚ethischen Theologie‘ unterstellt, dass die theologische Rechtfertigungslehre in besonderer Weise die der moralischen Verantwortung korrespondierende Realität von Schuld in der Weise thematisiert, dass die notwendige Anerkenntnis von Schuld „die Antizipation der Vergebung von Schuld“ ist (Rendtorff 1990: 83). Es ist in der Schuldanerkenntnis die Vergebung der Schuld nicht bereits impliziert, sondern diese muss real vermittelt werden. Das geschieht im Zuspruch des Evangeliums. In der Kommunikation des Evangeliums wird die Rechenschaft fordernde Instanz zugleich als diejenige erfahren, welche die Schuld vergibt. Der die Ethik transzendierende Zuspruch der Sündenvergebung wirkt wiederum auf die Ethik zurück, insofern nämlich die Anerkenntnis der Schuldhaftigkeit und Widersprüchlichkeit menschlicher Existenz zur
10 M. Luther, Kleiner Katechismus (1529), : BSLK 1998: 510f.
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Absage an jeden ethischen Rigorismus führt.11 Als an der Rechtfertigungslehre gewonnener Begriff transzendiert der Begriff der Verantwortung freilich deren ethischen Sinn. Er bezieht sich nicht allein auf die Zurechenbarkeit von Handlungen, sondern meint zugleich ein Sich-Überantworten im Sinne der Hingabe an Gott. Solches Sich-Überantworten führt nicht zur Selbstlosigkeit, wohl aber zur Selbstvergessenheit, in der der Mensch von seiner permanenten Selbstsorge und Selbstbezüglichkeit befreit wird. Ein grundlegendes Problem heutiger Sozialethik besteht darin, dass die herkömmliche Annahme, nach welcher die Person das organisierende Zentrum alles menschlichen Handelns ist, durch die Vergesellschaftung menschlichen Handelns in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft zunehmend außer Kraft gesetzt wird.12 Droht an diesem Sachverhalt jedes Konzept von Ethik als Theorie einer personal zentrierten Lebensführung zu scheitern, so lässt sich gegenläufig eine Tendenz zur Wiederkehr des totgesagten Subjekts als sozialem Konstrukt beobachten (vgl. Beck 1990: 56ff.). Die am Arbeitsmarkt geforderte hohe räumliche, zeitliche und funktionale Mobilität verleiht dem Individualismus eine neue ökonomische Basis. Dies bedeutet freilich auch, dass die persönliche Biographie eines Menschen immer mehr „das Doppelgesicht einer institutionenabhängigen Individuallage“ annimmt (Beck 1990: 60). Die Frage ist nun aber, ob sich Personalität nur institutionenabhängig oder auch institutionentranszendent wiedergewinnen lässt. Nur dann lässt sich Moral begründen. Die Möglichkeit einer institutionentranszendenten Wiedergewinnung des ethischen Subjektes ist nun das Thema der Theologie, genauer gesagt der paulinischen Lehre von der Rechtfertigung des Gottlosen allein aus Gnade. Sie handelt von der Wiedergewinnung endlicher Freiheit und damit der moralfähigen Subjektivität. Ihre Pointe besteht nicht etwa darin, eine vorgängige Struktur von Subjektivität religiös zu interpretieren, sondern darin, dass die konkret angesprochene Person im Rechtfertigungsgeschehen als einem Sprachgeschehen neu konstituiert wird: „Ist jemand in Christus, so ist er ein neues Geschöpf“ (II Kor 5,17). Grundsätzlich kann das mögliche Subjekt von Verantwortung nur sein, wer sich zur Verantwortung geru-
11 So mit Recht Rendtorff (1982: 125ff.) 12 Vgl. Reese-Schäfer (1992: 119): „Auch die Person ist heute zerlegt und kommt als Ganzes höchstens noch im Theater vor.“ Zur sich hieraus ergebenden theologischen Problematik siehe auch Fischer (1995: 504f).
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fen weiß. Genau dies aber geschieht im Geschehen der Rechtfertigung des Sünders, weil mit dem Freispruch von der Sünde gerade nicht die Entlastung von Verantwortung, sondern gerade der Ruf zu bewusster Verantwortungsübernahme verbunden ist. Die christliche Rechtfertigungslehre verweist damit auf eine Möglichkeit, wie das ethische Einzelsubjekt von Verantwortung, welches durch die fortschreitende Vergesellschaftung unseres Handelns zu entschwinden droht, neu konstituiert werden kann. Die praktischen Konsequenzen für eine diakonische Ethik und einer Ethik des Gesundheitswesens seien zumindest in ihren Grundzügen beschrieben: Die paulinische Rechtfertigungslehre zielt auf das grundlegende Existenzrecht des Menschen, indem sie zwischen Person und Werk, zwischen Sünder und Sünde zu unterscheiden lehrt. Jede Anthropologie sucht letztlich immer auch nach Gründen, die das Dasein des Menschen rechtfertigen. Wenn ein Mensch sich selbst bzw. das Daseinsrecht nicht rechtfertigen kann, z. B. weil er noch gar nicht geboren ist, weil er geistig schwer behindert oder verwirrt ist, weil er im Koma liegt und dauerhaft das Bewusstsein verloren hat, wer oder was rechtfertigt dann sein Recht auf Leben? Die Antwort, die hierauf die paulinische und die reformatorische Tradition des Christentums geben, lautet: Gott rechtfertigt das Leben eines jeden Menschen. Der Mensch ist der von Gott gerechtfertigte Mensch und eben deshalb braucht er sich selbst und sein Dasein nicht zu rechtfertigen. In welcher Weise auch der Schöpfungsglaube und die Bestimmung des Menschen als Geschöpf Gottes von der Rechtfertigung her ihre Akzentuierung erfahren, lässt sich schön an Martin Luthers Erklärung zum dritten Artikel des Apostolischen Glaubensbekenntnisses zeigen. Er führt aus: „Ich glaube, daß mich Gott geschaffen hat samt allen Kreaturen, mir Leib und Seele, Augen und Ohren und alle Glieder, Vernunft und alle Sinne gegeben hat und noch erhält, dazu Kleider und Schuhe, Essen und trinken, Haus und Hof, Weib und Kind, Acker, Vieh und alle Güter, mit aller Notdurft und Nahrung dieses Leibes und Lebens reichlich und täglich versorgt, wider alle Gefahr beschirmt und vor allem Übel behütet und bewahrt, und das alles aus lauter väterlicher Güte und Barmherzigkeit ohn all mein Verdienst und Würdigkeit, des alles ich ihm zu danken und zu loben
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und dafür zu dienen und gehorsam zu sein schuldig bin; das ist gewißlich wahr.“ (M. 13
Luther, Kleiner Katechismus, in: BSLK 1998: 510f.)
Das physische Dasein und seine Erhaltung, aber nicht nur das bloße Überleben, sondern auch die Fülle des Lebens kommt dem Menschen grundlos zu. Das geschöpfliche Leben ist die irdische Konkretion der Rechtfertigung des Sünders. Das Empfangen kommt vor dem Tun, die Verheißung bzw. der Zuspruch (promissio) vor dem Gebot, der Glaube vor den Werken. Zugleich verweist die innere, an der Rechtfertigungslehre gewonnene Struktur von Luthers Erklärung zum Credo auf die Christologie. Das Bild, welches sich Gott vom gerechtfertigten Sünder macht, ist das Bild Christi, das er in jedem von uns sieht. Darum hängt auch das Lebensrecht eines Menschen gerade nicht von bestimmten intellektuellen Fähigkeiten oder seiner körperlichen Verfassung ab. Dies folgt aus dem Zusammenhang, der zwischen Rechtfertigungslehre und Christologie besteht. Die christliche Anthropologie nimmt nicht an einer allgemeinen Idee des Menschen und seiner Idealgestalt, sondern am leidenden und gekreuzigten Christus Maß, der „keine Gestalt“ hatte, „die uns gefallen hätte“ (Jes 53,2). Von hier aus ist auch die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die im Rahmen der christlichen Schöpfungslehre ausgesagt wird, näher zu bestimmen. Dass die Würde des Menschen unantastbar ist, gilt nicht nur für die so genannten Gesunden, sondern auch für Behinderte, Kranke, Unheilbare und Sterbende. Welches Maß an Solidarität eine Gesellschaft den Schwächsten ihrer Mitglieder entgegenbringt, ist das entscheidende Maß für ihre Menschlichkeit. Wem es gegeben ist, Gott Gott sein zu lassen, der ist auch frei, seine Mitmenschen sein zu lassen. Den Anderen sein lassen aber heißt, ihm sein Existenzrecht weder mit Worten noch mit Taten streitig zu machen. Es bedeutet sodann, dem Mitmenschen das Seine zukommen zu lassen, nämlich das, was er nötig hat. Die paulinische Rechtfertigungslehre und das in ihr implizierte Freiheitsverständnis lenken jedoch den Blick darauf, „das ethische Grundproblem weniger im Engagement als in der Distanznahme zum anderen zu sehen, der aus dem Zugriff des Subjekts befreit werden muß“ (Mostert 1977: 119). Den Mitmenschen sein lassen können, hängt wiederum „unmittelbar mit der Fähigkeit zusammen, Gottes Sein im eigenen
13 Schreibweise modernisiert.
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Geschöpfsein, in der eigenen Endlichkeit zu verifizieren und sich hier jeglichen Progreß in einen Welthorizont zu versagen“ (Mostert 1977: 119). So bestünde denn der Beitrag des Christentums zur anthropologischen und gesellschaftspolitischen Diskussion der Gegenwart darin, auf eine andere Möglichkeit der Kontingenzbewältigung hinzuweisen, die vom Zwang des selbstproduzierten bzw. von anderen verfügten Schicksals zu befreien. Es ist dies ein Ethos des Sein-Lassens, das sich darauf gründet, dass sich der Mensch nicht selbst verdankt und in die Welt bringt. Für den Kontext von Diakonie und sozialer Arbeit bedeutet dies, dass der Kampf um Anerkennung und Inklusion nicht mit dem Ziel einer unterschiedslosen ‚Vollintegration‘ des Anderen verwechselt werden darf. Verstanden als Vollintegration wäre Integration ein paternalistisches Sozialkonzept, das mit der Einschränkung von Freiheitsgraden verbunden wäre (vgl. Dabrock 2006: 135f., 142f.).14
4. B ARMHERZIGKEIT
UND
G ERECHTIGKEIT
Nun besteht im Neuen Testament ein enger theologischer Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und bedingungsloser Anerkennung des Sünders, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit. Barmherzigkeit gehört auch zu den grundlegenden Motiven diakonischen Handelns in der christlichen Tradition. Der Ausbau des modernen Sozialstaates, an dem Diakonie und Caritas aktiv beteiligt sind, wird oft als Fortschritt von der Barmherzigkeit zur Gerechtigkeit gedeutet. Diakonisches und sozialstaatliches Hilfehandeln ist demnach kein Gnadenakt, sondern ein Rechtsanspruch, wobei man in kirchlichen und theologischen Kontexten die biblische Tradition einer umfassenden Gerechtigkeit betont, wie sie schon für das Alte Testament und insbesondere die prophetische Tradition Israels kennzeichnend ist. Seit mehr als einem Jahrzehnt findet freilich ein Umbau des Sozialstaats einschließlich des Gesundheitswesens statt, der sich formelhaft als Paradigmenwechsel von der Barmherzigkeit zum Sozialmarkt bezeichnen lässt, bei dem der Staat sich zunehmend auf seine Gewährleistungsverantwortung zurückzieht und die Leistungsverantwortung einer Vielzahl von Anbietern überlässt (vgl. Jähnichen 2008). Die freien Wohlfahrtsverbände bekommen
14 Siehe auch Wansing 2005.
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privatwirtschaftliche Konkurrenz, auch im Bereich von Medizin und Pflege. In dieser Situation wird in Diakonie und Kirche nicht nur die Frage gestellt, ob die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt, sondern auch eine Rückbesinnung auf die biblische Tugend der Barmherzigkeit gefordert. Tatsächlich gehört Barmherzigkeit zu den grundlegenden Tugenden – heute würde man wohl sagen ‚Werten‘ – christlicher Diakonie. Diakonisches Handeln orientiert sich biblisch an Jesu Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25-37) ebenso wie am Gleichnis vom Weltgericht in Mt 25 und weiß sich zu den sieben Werken der Barmherzigkeit berufen, wie sie in der christlichen Tradition genannt werden: Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen, Gefangene besuchen, Tote bestatten. Der Katechismus der Katholischen Kirche unterscheidet zwischen geistlichen und leiblichen Werken der Barmherzigkeit und rechnet unter die erstgenannten: belehren, raten, trösten, ermutigen, vergeben und geduldig ertragen (vgl. Katechismus der Katholischen Kirche (KKK) 1993: Nr. 2447). Wir könnten ganz allgemein von Seelsorge sprechen, die auch nach evangelischem Verständnis zum diakonischen Auftrag der Kirche gehört. Problematisch ist allerdings die „teilweise naive Aufwertung der Barmherzigkeitsperspektive“ (Maaser 2008: 249), mit welcher diakonische Unternehmen und Träger auf die neuen Ökonomisierungszwänge und die ihnen aufgedrängte Alternative von Sozialwohlstrategie oder Wettbewerbsstrategie reagieren. Sie begünstigt nämlich „auf lange Sicht eine sozialpolitische Selbstentkernung der kirchlichen Diakonie“ und entfernt sich „weit von den Programmatiken kirchlicher Stellungnahmen“ (ebd.), die differenziert auf das Spannungsverhältnis zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit eingehen, das uns noch beschäftigen wird.15 Im Übrigen verstehen sich nicht nur andere Wohlfahrtsverbände, sondern auch privatwirtschaftliche Unternehmen heutzutage durchaus als Wertegemeinschaften.16 Ein vorschneller Rekurs auf die sogenannte Werteorientierung diakonischen Handelns einschließlich der Barmherzigkeitsrhetorik stellt also auch in dieser Hinsicht eine Verkürzung dar, zumal die praktische Zuwendung zu den Be-
15 Zum Stand der Debatte siehe auch Kuhn/Schröder 2009. 16 Zum Konzept der Wertegemeinschaft in der gegenwärtigen Ökonomik siehe G. Schanz 2006.
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dürftigen und eine Ethik des Helfens kein spezifisch kirchliches Proprium sind (vgl. Maaser 2008: 252).17 Dass der Begriff der Barmherzigkeit oder des Erbarmens auch in der modernen Diakonie neben denjenigen der auf Gegenseitigkeit beruhenden Solidarität und der Gerechtigkeit seinen festen Platz im modernen Sozialstaat und im öffentlichen Gesundheitswesen behalten muss, ist nicht unumstritten. Das Recht auf medizinische Versorgung und Pflege gehört heute zu den grundlegenden Menschenrechten. Auch auf Hilfe in sozialen Nöten besteht im modernen Sozialstaat ein einklagbares Recht. Medizin und Pflege sowie die verschiedenen Formen der Sozialhilfe werden auch in diakonischen Einrichtungen als zu vergütende Dienstleistungen verstanden, nicht als Akte der Barmherzigkeit. Wenn einer Kultur des Erbarmens das Wort geredet wird, kann dies leicht als Rückfall hinter die Errungenschaften des modernen Sozialstaates missverstanden werden, durch den die Adressaten diakonischer Hilfe von Rechtssubjekten zu Betreuungsobjekten degradiert werden. Wie nach einem viel zitierten Diktum des Verfassungsrechtlers ErnstWolfgang Böckenförde der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann (vgl. Böckenförde 1991: 112), so hängen auch unser ökonomisches System und der Sozialstaat von Rahmenbedingungen ab, die jenseits des ökonomischen Kosten-NutzenKalküls liegen. Eine Kultur des Helfens, die diesen Namen verdient, ist immer auch eine Kultur der Barmherzigkeit bzw. des Erbarmens, wie sie die Kirchen zu Recht einfordern.18 Der Begriff des Erbarmens oder der Barmherzigkeit bleibt in kirchlichen Dokumenten allerdings oftmals unbestimmt. Die EKD-Denkschrift „Gerechte Teilhabe“ von 2006 gibt z.B. nur die vage Auskunft, eine Kultur der Barmherzigkeit wurzele im Gebot der Nächstenliebe. Barmherzigkeit wolle und könne den organisierten Sozialstaat nicht ersetzen, sei aber „für spezielle Notfälle und eine ganzheitliche Hilfestellung auch deshalb unverzichtbar, weil sie sich auch auf die emotionalen und seelischen Aspekte der menschlichen Existenz richtet“ (Kirchenamt der EKD 2006: Nr. 76). Warum aber „gerade der Sozialstaat“
17 Zur Ethik des Helfens siehe ausführlich Körtner 2007: 25ff. 18 Siehe v.a. Rat der EKD/Katholische Deutsche Bischofskonferenz 1997: Nr. 13. Vgl. dazu auch Welker 1986, 1996.
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letztlich von einer „breit verankerten“ Kultur der Barmherzigkeit lebt (Kirchenamt der EKD 2006: 15), ist damit nicht genau erklärt. An dieser Stelle verdient die Enzyklika von Papst Benedikt XVI. „Deus Caritas est“ Erwähnung. Was er über das Wesen der Caritas schreibt, lässt sich in ökumenischer Gesinnung auch von der evangelischen Diakonie sagen: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. [...] Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es Einsamkeit geben. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinne gelebter Nächstenliebe nötig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung. [...] Die Behauptung, gerechte Strukturen würden die Liebestätigkeit überflüssig machen, verbirgt tatsächlich ein materialistisches Menschenbild: den Aberglauben, der Mensch lebe ‚nur vom Brot‘ (Mt 4,4; vgl. Dtn 8,3) – eine Überzeugung, die den Menschen erniedrigt und gerade das spezifisch Menschliche verkennt.“ (Benedikt XVI. 2006: 53f.)
Wenn über den Zusammenhang von Ökonomie, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit in Diakonie und Gesundheitswesen nachgedacht wird, darf zum Beispiel die Bedeutung des Spendenwesens nicht außer Acht gelassen werden, das ja keineswegs nur in zivilgesellschaftlichen Initiativen, sondern auch in der modernen unternehmerischen Diakonie eine wichtige Rolle spielt. Auch sonst ist das Spenden- und Stiftungswesen im sozialen Bereich und im Gesundheitswesen ein wichtiger Bestandteil. Die freiwillige Unterstützung durch einzelne Bürger oder Unternehmungen reicht von Spenden für Einzelprojekte bis zur Unterstützung von national und international in Entwicklungs- und Katastrophenhilfe, Umweltschutz und Gesundheitswesen tätigen Organisationen. Hier ist nun wirklich von Barmherzigkeit zu sprechen, weil es sich eben nicht um finanzielle Leistungen handelt, die der Staat von seinen Bürgern einfordern kann, deren freiwilliges Engagement er aber zum Beispiel durch die steuerliche Absetzbarkeit von Spenden und das Stiftungsrecht fördert. Gerade das Spendenwesen zeigt nun aber auch, wie problematisch eine abstrakte Gegenüberstellung von unternehmerischer und zivilgesellschaftlicher Diakonie wäre. Längst ist das Spendenwesen oder Fundraising zu ei-
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nem hart umkämpften Markt geworden, an dem ganze Branchen mitverdienen, von der Werbebranche bis zur professionellen Spendenakquise durch eigene Agenturen. Um schwarze Schafe auszusondern, wurden eigene Spendengütesiegel geschaffen, und für die rechtmäßige Verwendung von Spenden gibt es gesetzlich vorgeschriebene Kontrollmechanismen. Eine ökonomische Theorie des Spendenwesens in diakonisch-ethischer Perspektive wäre ein eigenes Thema. Es geht dabei nicht nur um die Frage, wie verantwortungsvoll mit Spendenmitteln zu wirtschaften ist, sondern grundlegend um eine Besinnung auf die Logik der Gabe gegenüber der Logik des Tausches. Das Thema der Gabe ist letztlich ein hoch theologisches, gründet doch nach christlicher Überzeugung alles Leben in der zuvorkommenden Gnade und Gabe Gottes, wie sich auch an der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden zeigt. Wir müssen es bei diesen wenigen Hinweisen belassen. Speziell im Gesundheitswesen gibt es noch einen weiteren Spendenbereich, der zumindest kurz erwähnt sei, nämlich den Bereich der Gewebeund Organspende. Hierbei ist zwischen Totenspenden und Lebendspenden zu unterscheiden. Auch hier müssen wir es bei einigen generellen Hinweisen belassen. Organspenden werden auch von den Kirchen grundsätzlich für wünschenswert gehalten. Die Überlassung von Organen darf aber nur freiwillig erfolgen. Die Vorstellung einer Sozialpflichtigkeit des menschlichen Körpers widerspricht nicht nur dem Prinzip der Menschenwürde, sondern auch heutigen Kodifizierungen von Menschenrechten auf dem Gebiet der Biomedizin wie z.B. der Biomedizinkonvention des Europarates. Diese wie auch andere Regelwerke bestimmten außerdem, dass der menschliche Körper und seine Teile nicht kommerzialisiert werden dürfen.19
19 Siehe Artikel 22 der Oviedo-Konvention (auch: Menschenrechtskonvention zur Biomedizin): „Der menschliche Körper und Teile davon dürfen als solche nicht zur Erzielung eines Gewinns verwendet werden.“ Allerdings wird seit einiger Zeit international darüber diskutiert, ob finanzielle Anreize für Lebendspenden von Organen grundsätzlich unethisch sind oder nicht. Vgl. dazu Taupitz 2007. Auch auf diese Debatte wie auf weitere ökonomische Aspekte der Transplantationsmedizin können wir hier nicht näher eingehen. Halten wir jedoch fest, dass Organ- und Gewebespenden eine Form der Barmherzigkeit im Gesundheitswesen sind, ohne welche ein ganzer Bereich der modernen Medizin nicht bestehen könnte.
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Eine Kultur des Erbarmens beschränkt sich freilich nicht nur gemäß dem Subsidiaritätsprinzip auf das individuelle Verhalten und die Förderung zivilgesellschaftlicher caritativer oder diakonischer Initiativen. Sie fordert vielmehr auch den Staat selbst und seine Behörden dazu auf, über gesetzlich geregelte Rechtsansprüche hinaus in konkreten Einzelfällen, etwa gegenüber Asylsuchenden, Migranten und sozial Bedürftigen, Barmherzigkeit zu zeigen und unter den eigenen Mitarbeitern wie in der Gesellschaft ein Klima der Mitmenschlichkeit zu fördern. Eine Kultur des Erbarmens wird unzureichend bestimmt, wenn man sie lediglich als Korrektur negativer Auswüchse der Marktwirtschaft begreift. Die Dimension des Sozialen ist keine humane Zutat der sogenannten sozialen Marktwirtschaft, sondern ein grundlegendes Element derselben, das nicht zur Disposition gestellt werden darf. „Die unabstellbare Spannung zwischen Barmherzigkeit und Recht wird jenseits der jeweils kontextuell-historischen Gerechtigkeitsforderung zu einem unabdingbaren fruchtbaren Spannungsmoment diakonischer Zuwendung zur Welt. Sie löst immer wieder den Diskurs über die inhaltliche Gestalt des Rechts für die Armen aus, ohne praktische Hilfeleistungen überflüssig zu machen.“ (Maaser 2008: 253).
3. I NKLUSION UND E XKLUSION ALS EINE F RAGE B ARMHERZIGKEIT UND G ERECHTIGKEIT
VON
Die unabstellbare Spannung zwischen Barmherzigkeit und Gerechtigkeit entzündet sich allgemein gesprochen an den Problemen von Inklusion und Exklusion (vgl. Farzin 2006). Im Gesundheitswesen wird dies z.B. in der Diskussion um marginalisierte Patienten und Patientengruppen konkret. Der Begriff der Marginalisierung ist freilich nicht nur eine soziologische Beschreibungskategorie, sondern auch ein politischer Kampfbegriff. Das gilt es zu beachten, wenn über tatsächliche oder vermeintliche Marginalisierung im Gesundheitswesen gesprochen wird (vgl. Körtner 2008). Der Begriff hat eine dreifache Bedeutung: Erstens sind Patientengruppen gemeint, die von unserem Gesundheitssystem, sei es in der Therapie, sei es in der Forschung, gegenüber der Mehrheit der Patienten vernachlässigt werden. Man denke zum Beispiel an Patienten mit einer besonders seltenen und daher kaum erforschten Krankheit. Zweitens geht es darum, dass bestimmte
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Menschen aufgrund ihrer Erkrankung gesellschaftlich marginalisiert und stigmatisiert werden. Aids oder psychische Erkrankungen führen noch immer zur Stigmatisierung und damit auch zur Marginalisierung von betroffenen Patienten. Drittens ist schließlich auch davon zu reden, dass der Medizinbetrieb den Menschen als Patienten in gewisser Hinsicht grundsätzlich marginalisiert. Das ist eine soziologische Erkenntnis, die sich vor allem der funktionalen Systemtheorie verdankt. Die Marginalisierung von Patienten zu überwinden, ist ebenso eine medizinethische, eine medizinrechtliche wie eine gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe. Medizinethisch betrachtet besteht die beständige Herausforderung, nicht nur den Patienten als Subjekt ernst zu nehmen und seine Autonomie zu stärken, sondern überhaupt die Rollen des Arztes und des Patienten kritisch zu reflektieren. Selbstverständlich kann der medizinische Betrieb nicht funktionieren, wenn Arzt und Patient nicht die für sie vorgesehen Rolle spielen. Zu einem ethisch reflektierten Arzt-PatientenVerhältnis gehört es aber, dass weder der Patient noch der Arzt auf ihre jeweilige Rolle reduziert, sondern immer auch als Mensch, als ‚ganze Person‘ gesehen und geachtet werden. Die ‚Betriebstörungen‘, die im medizinischen Alltag dann auftreten, wenn sich die Person – als das Kontingente und nicht in das System Integrierbare – zu Wort melden, dürfen nicht einfach ausgeblendet werden, sondern müssen in einer humanen Medizin ihren Platz haben. Im Sinne der gruppendynamischen Methode der themenzentrierten Interaktion möchte ich sagen: Störungen haben Vorrang. Damit der Patient nicht auf die Rolle des Leidenden, des Opfers und des Objekts reduziert wird, muss er freilich auch befähigt werden, seine Selbstbestimmung auszuüben und sich als Subjekt seiner Krankheit und seiner Therapie zu verhalten. Autonomie gilt zwar seit Kant als grundlegende Bestimmung unseres Menschenbildes, sie ist aber in der Realität eine fragile Eigenschaft. So stellt sich im medizinischen Alltag die Frage, wie die Autonomie von Patienten aktiv gefördert oder, wo sie beeinträchtigt ist, gestärkt und wiedererlangt werden kann. Dazu bedarf es nicht nur einer entsprechenden Kommunikation zwischen Arzt und Patient, zwischen Patient und Pflegenden, sondern auch des Rechtes, das heißt der Stärkung und Weiterentwicklung allgemeiner und spezieller Patientenrechte. Die gesundheits- und sozialpolitische Aufgabe besteht darin, für Gerechtigkeit im Gesundheitswesen zu sorgen. Der Theorie nach haben alle Menschen den gleichen Anspruch auf Zugang zum Gesundheitssystem und
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auf die bestmögliche medizinische Versorgung. Tatsächlich aber gibt es soziale Ungleichheiten. Die Zwei- oder Mehrklassenmedizin, vor der immer wieder gewarnt wird, ist im Grunde längst schon eine Realität. Auf den Zusammenhang zwischen niedrigem Einkommen, geringer Bildung und erhöhtem Krankheitsrisiko ist ebenso hinzuweisen wie auf die prekäre Gesundheitssituation von Migranten. Erinnert sei auch daran, dass es nicht nur in den immer wieder als Negativbeispiel angeführten USA, sondern auch in Deutschland oder Österreich Menschen ohne Krankenversicherung gibt. Gerechtigkeit im Gesundheitswesen lässt sich nicht auf Verteilungsgerechtigkeit oder auf die Alternative zwischen dieser und der Tauschgerechtigkeit reduzieren. Wenn heute zu recht mehr Eigenverantwortung im Gesundheitswesen gefordert wird, bei der Prävention ebenso wie bei der Therapie und ihrer Finanzierung, so bleibt diese Forderung abstrakt und unsozial, wenn nicht zugleich von der Teilhabe- oder Befähigungsgerechtigkeit gesprochen wird. Damit Menschen aus sozial schwachen Schichten Eigenverantwortung für ihre Gesundheit übernehmen können, müssen sie dazu allererst befähigt werden. Um die dafür notwendige Bildung und das entsprechende Einkommen zu erlangen, bedarf es einer aktiven und aktivierenden Sozialpolitik. Ohne eine solche bleibt die politische Maßgabe eines Umbaus und einer Verschlankung des Sozialstaats ebenso zynisch wie die Forderung nach Kostendämpfung im Gesundheitswesen auf dem Rücken der Patienten, welche soziale Ungleichheiten verstärkt. In der Diskussion über Teilhabegerechtigkeit lassen sich zwei grundlegend verschiedene Konzepte unterscheiden (vgl. dazu Forst 2004, 2005; Schnell 2001). Das erste schließt an die neuere Sozialstaatsdebatte und einige philosophische Theorien an, die im Sinne einer Güterlehre und empfängerzentriert argumentieren. Aufgabe des Staates ist es demnach, Grundrisiken des Lebens abzudecken und durch eine Politik der Umverteilung und spezifischen Förderung Möglichkeiten der Teilhabe und Teilnahme an gesellschaftlichen Gütern wie Bildung und Arbeit zu schaffen. Dieses Modell von Teilhabegerechtigkeit orientiert sich an menschlichen Grundbedürfnissen und garantiert bestenfalls eine Grundsicherung, spart aber die Frage nach einer prinzipiellen Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit aus. Das zweite Modell von Teilhabegerechtigkeit beruft sich demgegenüber auf John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit. Der Sozialstaat hat demnach
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die Aufgabe, institutionelle Schritte hin zur Verwirklichung fundamentaler Gerechtigkeit zu machen. Was Rawls vorschwebt, ist also nicht nur eine Grundversorgung aller Bevölkerungsschichten, sondern auch eine Stärkung der politischen Teilhabemöglichkeiten derer, die über die geringsten Einkommensmöglichkeiten verfügen, sowie strukturelle Verbesserungen der Institutionen von Bildung und Ausbildung, der Verteilung von Arbeit und der Mitbestimmungsmöglichkeiten bei zentralen ökonomischen Entscheidungen (vgl. Rawls 2003: 217f.). Es ist nun aber gerade die Stigmatisierung und soziale Marginalisierung aufgrund von Krankheit eine Ursache dafür, dass bestimmte Personengruppen de facto aus dem politischen System ausgeschlossen oder zumindest an seinen Rand gedrängt werden. Im Alltag ist die Teilhabe dieser Menschen an politischen und ökonomischen Entscheidungsprozessen erheblich eingeschränkt oder praktisch gar nicht gegeben. Insofern ist soziale Marginalisierung aufgrund von Krankheit eine demokratiepolitische Herausforderung. Im Sinne von Rawls ist zu sagen, dass es für eine Ethik des Gesundheitswesens nicht nur darum geht, allen Menschen eine medizinische Mindestversorgung zu garantieren. Vielmehr sind alle bestehenden gesellschaftlichen Institutionen, also auch das Gesundheitswesen, gleichermaßen rechtfertigungsoffen wie rechtfertigungsbedürftig. So führt uns das Nachdenken über marginalisierte Patienten zu der Grundsatzfrage, ob die soziale Grundstruktur unseres Gesundheitssystems (noch) hinreichend gerechtfertigt ist. Die funktionale Systemtheorie Niklas Luhmanns legt ihr besonderes Augenmerk auf die Frage, wer oder was von einem sozialen System ausgeschlossen oder eingeschlossen ist. Marginalisierte Patienten lenken unseren Blick genau auf die Problematik von Ausschluss und Einschluss nicht nur im Gesundheitswesen, sondern überhaupt in unserer Gesellschaft. Wer der Marginalisierung von Patienten wirkungsvoll entgegentreten will, wird um eine Grundsatzdebatte über soziale Gerechtigkeit nicht herumkommen. Aus christlicher Sicht ist hinzuzufügen, dass die Teilhabe an der Gesundheitsversorgung weder allein eine Frage der Verteilungs-, der Tausch- oder der Teilhabegerechtigkeit ist – die EKD spricht auch von „Befähigungsgerechtigkeit“ (Kirchenamt der EKD 2006: 43ff. (Nr. 61ff.) –, sondern auch eine der Barmherzigkeit ist. Das der Sozialgesetzgebung und der Pflichtversicherung zugrunde liegende Solidaritätsprinzip ist vom Ethos der Barmherzigkeit historisch und systematisch zwar zu unterscheiden. Allerdings wäre die Entstehung eines Gesundheitswesens im Abendland his-
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torisch ohne den Einfluss des Christentums nicht denkbar gewesen. In der Debatte um die Reform des Gesundheitswesens und seiner künftigen Finanzierung steht darum nicht nur eine Neubestimmung des Solidaritätsprinzips und seiner Reichweite im Verhältnis zur individuellen Autonomie bzw. zur Subsidiarität zur Diskussion. Auf der Tagesordnung steht vielmehr eben auch eine Kultur des Erbarmens, wie sie im vorigen Abschnitt skizziert wurde. Die Aufgabe einer Verhältnisbestimmung von Solidarität und Barmherzigkeit führt uns zur Frage nach der Anthropologie. Medizinökonomische Gerechtigkeitstheorien setzen stets ein Menschenbild und ein Grundverständnis von Krankheit und Gesundheit voraus, das keineswegs kulturneutral, sondern soziokulturell werthaltig ist. „Ein Kampf um die Form der Wohlfahrt ist auch ein Kampf um mögliche Lebensformen.“ (Frey 1999: 34) In diesem Kampf bleibt Barmherzigkeit neben Anerkennung, Rechtfertigung und Gerechtigkeit eine unaufgebbare Kategorie diakonischer Ethik.
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Anerkennung und Leiblichkeit Zwei konstitutive Elemente einer mehrdimensionalen Gerechtigkeitskonzeption in der Pflege H EINER F RIESACHER
E INLEITUNG Pflege ist eine Praxis des Lebens und die Pflegewissenschaft als Re flektionsinstanz eine Form der Lebens- oder Humanwissenschaften. Was allerdings Leben und Mensch sein sind, entzieht sich der wissenschaftlichen und philosophischen Festlegung; der Mensch ist letztendlich unbestimmbar. Jeder Versuch, von Seiten der sogenannten ,Disziplinen des Lebens‘ dieses evolutionsbiologisch oder aber kulturalistisch zu deuten und zu definieren, kommt einer Verengung und Vereinseitigung gleich. Der Mensch geht weder in den Grenzen seiner Objektivierung und Vergegenständlichung auf, wie das in naturalistischen Konzepten behauptet wird, noch in den diskursiven Konstruktionen der Sozial- und Kulturwissenschaften (vgl. Fischer 2005; Gamm 2005). Mit der zunehmenden Technisierung und Ökonomisierung im Gesundheitswesen im Allgemeinen und in der modernen Biomedizin im Besonderen sind anthropologische Deutungen nicht frei von normativen Implikationen. Die zentrale Frage lautet nicht, was ist der Mensch, sondern wie ist menschliches Leben unter den Bedingungen der Moderne überhaupt möglich (vgl. Böhme 2008, 2008a). Damit bekommt die Ethik eine kritische Funktion (s.u.). Die ethischen Herausforderungen sind vielfältig und im Rahmen traditioneller Ethiken nur unzureichend zu lösen. So geht die klas-
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sische Sozialphilosophie von den gleichen „quasi natürliche(n) anthropologischen Annahmen“ aus und überlässt die „Natur des Menschen“ der (naturwissenschaftlich geprägten) Biomedizin (Manzei 2005: 58; vgl. Böhme 2008). Die gängigen Ansätze der Bereichsethiken innerhalb der Medizinethik als auch in der Pflegeethik sind äußerst affirmativ und verfestigen eher den Status Quo. Ohne kritische Funktion wird die Ethik zum „Büttel der Ökonomie“ (Kersting 2000: 67) und droht zum „Schmiermittel der Kommerzialisierung“ (Kühn 2007: 64) zu verkommen. Es kommt zu einer „spannungsvollen Diskrepanz zwischen ,Sonntags-Ethos‘ und unausgesprochen vorhandenem, aber letztlich ,vor Ort‘ entscheidendem ,AlltagsEthos‘“ (Wettreck 2001: 131). Im Folgenden geht es zunächst um die Idee der Gerechtigkeit als emanzipatorischer Prozess. In einem mehrdimensionalen Verständnis von Gerechtigkeit haben sowohl Fragen des guten Lebens als auch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit ihren festen Platz. Unterschlagen wird vielfach, dass Fragen der Gerechtigkeit auch immer Fragen von Macht und der Vermeidung von Willkürherrschaft beinhalten. Mit dem Begriff der Anerkennung lässt sich ein erweiterter Begriff der Gerechtigkeit und eine normativ gehaltvolle Grundlage einer Pflegephilosophie herleiten. Als ethisches Programm und kritische Gesellschaftstheorie bietet dieser Ansatz eine wichtige Grundlage für emanzipatorische Anliegen der Pflege. In der Verknüpfung mit einer kritischen Leibphilosophie werden die Möglichkeiten eines nichtverdinglichten Zugangs zum Anderen aufgezeigt; Leiblichkeit wird dabei als Gegen- und Widerstandsdiskurs zum biomedizinischen und szientifischen Paradigma konzipiert. Gerechtigkeit in der Pflegearbeit zeigt sich in der Verknüpfung verschiedener Dimensionen unter den Bedingungen scheinbar verfestigter Strukturen. In der Schlussbetrachtung wird deshalb auch auf die Notwendigkeit einer institutionellen Perspektive hingewiesen.
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1.1 Grundlegende Überlegungen Fragen der Gerechtigkeit gehören zu den Kernthemen der philosophischen (vgl. Forst 2009; Krebs 2002; Tugendhat 1993; Rawls 1979; zur allgemeinen Übersicht: Holtleithner 2009) und theologischen Diskussionen (Hahn 2007; Huber 1999). In den pflegeethischen Diskursen wird Gerechtigkeit vor allem unter Fragen einer gerechten Verteilung von Ressourcen verhandelt (vgl. Greiner 2010, 2009; Remmers 2009; Borchers/Tolle 2009). Gerechtigkeit ist primär relevant, wenn es um die Beziehungen zwischen Menschen geht, um Probleme des Zusammenlebens, des Ausgleichs von Interessen- und Bedürfniskonflikten. Ein zentraler Grundsatz lautet dabei seit Platon: „gerecht ist eine Handlung, wenn sie jedem das gibt, was er verdient“ (Tugendhat 1993: 367). Seit Rawls „Theory of justice“ 1971 erschien (Rawls 1979) wird Gerechtigkeit vor allem in der Schaffung gleicher Lebenschancen für alle Menschen gesehen. Was das im Konkreten dann bedeutet, ist allerdings umstritten. Gerechtigkeit bezeichnet in der griechischen Tradition eine der vier Kardinaltugenden, neben der Weisheit, der Tapferkeit und der Mäßigung. Im biblischen Denken ist Gerechtigkeit ein gemeinschaftsbezogener Begriff, bei dem Wechselseitigkeit eine große Rolle spielt. Dieser biblische Begriff hat zusammen mit der griechischen Auffassung auch in seiner säkularisierten Form seit der Aufklärung das Verständnis moderner Demokratie mitbestimmt (vgl. Hahn 2007: 122-124). Die moderne liberale Vorstellung von Gerechtigkeit basiert auf dem Neutralitätsprinzip, das heißt, die Rechtfertigung der grundlegenden Prinzipien basiert nicht auf einer bestimmten Konzeption des guten Lebens. Dieses ist deshalb wichtig, weil moderne Gesellschaften durch pluralistische Lebensauffassungen und -stile geprägt sind. Maßstäbe des guten Lebens sind somit in letzter Instanz immer nur individuell von jedem selbst zu bestimmen. Gleichwohl sind Menschen eingebettet in eine Gemeinschaft. Die kommunitaristische Kritik (vgl. MacIntyre 1987; Taylor 1993) bemängelt an liberalen Theorien insgesamt, dass diese die Eingebundenheit in die Gemeinschaft nicht genügend berücksichtige. Aus der Sicht des Kommunitarismus erwächst die Gerechtigkeit aus der gemeinsamen Praxis und den
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geteilten Vorstellungen des guten Lebens. Diese gelebte Praxis generiert sich aus den Traditionen und aus der Geschichte. Freiheit und Gemeinschaftlichkeit scheinen im Widerspruch zu stehen, der Verlust des einen wie des anderen macht aber ein befriedigendes Leben unmöglich. Vergemeinschaftungsprozesse sind für den Aufbau von Sozialkapital unverzichtbar und ermöglichen erst eine integrations- und funktionsfähige Gesellschaft. Dem steht aber eine individuelle Lebensführung nicht im Wege, sie ist sogar mit dem Aufbau von Sozial- und Vertrauensbeziehungen positiv korreliert (vgl. Rosa et al. 2010: 107). Allerdings ist der Gemeinschaftsbegriff selbst nicht einheitlich bestimmt. In einer immer flexibleren und beschleunigten Moderne kommt es zu immer kurzlebigeren, oberflächlicheren und flüchtigen „Instant-Gemeinschaften“. Diesen eher „ästhetischen Gemeinschaften“ stehen die „ethischen Gemeinschaften“ gegenüber, in denen es um Verantwortlichkeit und Verpflichtung für und gegenüber anderen geht (Baumann 2009: 87-90). 1.2 Gerechtigkeit und Hilfehandeln Eine besondere Herausforderung stellen dabei Situationen des Hilfehandelns dar, in denen neben eine Unparteilichkeit und Neutralität die Fürsorge für den konkreten Anderen tritt. In einer Ethik der Alterität hat der Religionsphilosoph Levinas (1992, 1987, 1983) die Ethik als erste Philosophie beschrieben, die der Ontologie vorausgeht und ein bedingungsloses Eingehen auf die Bedürftigkeit des Anderen in den Mittelpunkt rückt. Diese Ethik vom Anderen her beruht auf der Akzeptanz radikaler Andersheit, die den Anderen nicht an die eigenen Vorstellungen angleichen will, sondern ihn wahrnimmt und ihm begegnet (vgl. auch Kapuscinski 2008; Kapsch 2007). Zum Anderen führt nach Levinas die Spur. Diese ist weniger als Zeichen zu deuten sondern als eine Bewegung und als Störung einer Ordnung (Levinas 1983: 231; vgl. Staudigl 2009). Dieser Spur gilt es zu folgen, auch im Bewusstsein der Uneinholbarkeit des Anderen. Der Weg zum Anderen ist das Begehren, ein unendliches oder metaphysisches Begehren, welches weder vordergründige Bedürfnisbefriedigung noch Liebesbeziehung ist. Nach Staudigl (2009: 86ff.) entsteht das Begehren „in einem Subjekt, das seine Bedürfnisse befriedigt und damit seine Innerlichkeit konstituiert hat. Es entsteht jenseits dessen, was es sich im Genuss selbst geben kann“ (vgl. Levinas 1983: 201, 219). Mit der Einführung des Begriffs des
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Dritten, der für die Vielheit der Anderen steht, betritt Levinas das Feld der bewussten und reflektierten Gerechtigkeit. Verantwortung muss jetzt objektiviert und rückgebunden werden an Institutionen, doch bei Levinas verbleibt auch diese als aus der Nähe gedachte Verantwortung, denn auch der Dritte bleibt Anderer und Nächster. Gerechtigkeit entsteht aus der Nähe. „Die Gerechtigkeit, die Gesellschaft, der Staat und seine Institutionen – die verschiedenen Weisen des Sich-Austauschens und der Arbeit, von der Nähe her verstanden – bedeuten jeweils, dass nichts sich der Kontrolle der Verantwortung des Einen für den Anderen entziehen kann. Es ist wichtig, all diese Gebilde von der Nähe aufzufinden, wo doch das Sein, die Totalität, der Staat, die Politik, die Technik, die Arbeit immer wieder nahe daran sind, ihr Gravitationszentrum in sich selbst zu haben, (nur) für sich selbst zu wiegen – und zu zählen.“ (Levinas 1992: 347)
Mit der nicht unumstrittenen Erweiterung seiner Philosophie um den Dritten (vgl. Habbel 1994) kann Levinasʼ Ansatz als Beitrag zum Gerechtigkeitsdiskurs angesehen werden. Dabei ergeben sich allerdings einige Schwierigkeiten. Abgesehen von der bei Levinas nicht gelösten Problematik, wie eine Begründung für legitime Ansprüche und für welche Hilfeleistungen aussehen könnte, bleibt auch die Frage offen, wie weit die Verpflichtungen welcher Personen reichen (vgl. Rosa et al. 2010: 131ff.; Remmers 2010). Ein eher theorieimmanentes Problem bei Levinas ist der Begriff des „Menschlichen“, der als zu eng, das „Unmenschliche“ ausschließend, angesehen wird. Diese Dimension, „eben jene radikale, ,unmenschliche‘ Andersheit: die Andersheit eines menschlichen Wesens, das auf Unmenschlichkeit reduziert ist“, fehle bei Levinas, so Žižek (2005: 50). Die immanente Unzulänglichkeit der Darstellung der Begegnung mit dem Gesicht des Anderen wird dem Dritten, der immer schon als paradoxes Hintergrundgesicht da ist, nicht gerecht. „Im Unterschied zur Liebe [oder auch Fürsorge, H.F.] fängt Gerechtigkeit da an, wo wir uns der gesichtslosen Vielen erinnern, die bei dieser Privilegierung der Eins [dem Nächsten, H.F.] im Schatten geblieben sind [...]. Die Gerechtigkeit, nicht die Liebe, muß blind sein, sie muß die privilegierte Eins, die wir ,wirklich verstehen‘, vernachlässigen. Das bedeutet, daß der Dritte nicht sekundär ist: Er ist immer schon da, und die vordringliche ethische Verpflichtung gilt diesem Dritten, der in der Be-
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ziehung von Angesicht zu Angesicht nicht da ist, sie gilt dem einen im Schatten, vergleichbar dem abwesenden Kind eines Liebespaars.“ (Žižek 2005: 97)
Die Beschränktheit der ethischen Verantwortung gegenüber dem Gesicht (Antlitz) des Anderen macht die Bezugnahme auf den Dritten und damit auf die Sphäre der Regeln notwendig. Dieses ist eine positive Bedingung der Ethik, die Žižek (2005: 99) zu einer „radikal anti-lévinasschen Schlußfolgerung“ führt: „Der wahre ethische Schritt ist der über das Gesicht des anderen hinaus, der Schritt der Aufgabe des Haltes, den das Gesicht gewährt: die Entscheidung gegen das Gesicht, für den Dritten. Diese Kälte ist Gerechtigkeit in elementarster Form“. Auch der Begriff des Bedürfnisses bleibt bei Levinas eher einer subjektiven und motivationalen Ebene verhaftet, ohne die politischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu reflektieren (s.u.). 1.3 Plurale Gerechtigkeit Ganz grundsätzlich betrachtet zielt die moderne Idee der Gerechtigkeit zunächst auf die Emanzipation benachteiligter Menschen, oder positiv formuliert, auf die Herbeiführung vernünftiger Zustände. Ganz im Sinne von kritischer Theorie dient dieses in die Zukunft gerichtet als Ziel und als normative Folie zugleich. Gerechtigkeit erschöpft sich dabei nicht in egalitaristischen Gleichheitskonzeptionen; sie ist für die Pflege pluralistisch zu konzipieren. Elementare Standards der Gerechtigkeit sind nicht-relationaler Art. Dazu gehört die Garantie menschenwürdiger Lebensbedingungen wie Zugang zu Nahrung, Unterkunft, medizinische und pflegerische Grundversorgung, Teilhabe an der Gesellschaft, Raum für persönliche Nahbeziehungen. Diese grundlegenden Bedürfnisse sind natürlich kulturspezifisch zu konkretisieren, aber wenn jemand an Krankheit, Hunger, Vereinsamung oder Schmerzen leidet, ist ihm oder ihr zu helfen, nicht weil es anderen besser geht, sondern weil diese Zustände an sich belastend sind (Krebs 2002: 120). Die Gleichheitsrelation kommt quasi als Nebenprodukt zum Tragen, wenn im Namen der Gerechtigkeit allen Hilfsbedürftigen geholfen werden soll. Aber Menschenwürde ist ein absoluter Begriff, und auch in Mangelsituationen wird die Verteilung (im Allgemeinen jedenfalls) nach Dringlichkeitskriterien vorgenommen, die Bedürftigeren haben Vorrang (zur ethisch umstrittenen Ausnahmesituation der Anwendung der Triage vgl. Borchers/
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Tolle 2009). Allerdings – und hier kommen relationale Bezüge ins Spiel – sind Fragen jenseits lebenswichtiger Güter immer auch Fragen danach, wer Bedürfnisse wie interpretiert, „wem es gelingt, maßgebende dichte Definitionen menschlicher Bedürfnisse zu etablieren“ und „Wo in der Gesellschaft, in welchen Institutionen, werden die maßgebenden Bedürfnisinterpretationen entwickelt?“ (Fraser 1994: 253). Bedürfnisse sind nicht mehr nur in jenem Feld des Häuslichen und Privaten zu verorten, sondern sie sind Teil des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Feldes. Fraser beschreibt dabei drei Hauptdiskursformen über Bedürfnisse in der spätkapitalistischen Gesellschaft, von denen der Expertendiskurs der für unsere Thematik zentrale ist. Dieser Diskurs besteht aus einer Reihe von „Umschreibungs-Operationen, von Verfahren zur Übersetzung politisierter Bedürfnisse in verwaltbare Bedürfnisse [...]. Das Bedürfnis wird in den Begriffen einer offensichtlich allgemeinen Lage, in die im Prinzip jeder kommen kann, genauer bezeichnet, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Invalidität, Tod oder Trennung eines Ehepartners“ oder auch Pflegebedürftigkeit (Fraser 1994: 269, kursiv H.F.). Mit Hilfe des juristisch-administrativ-therapeutischen Staatsapparats (JAT) werden politische Fragen, welche die Interpretation von Bedürfnissen betreffen, in gesetzliche, administrative und therapeutische Angelegenheiten übersetzt (Fraser 1994: 269, 237). Dieser Logik folgt zum Beispiel die Einstufungspraxis im Rahmen der Prüfung der Pflegebedürftigkeit im Pflegeversicherungsgesetz (SGB XI), wie ich an anderer Stelle aufgezeigt habe (vgl. Friesacher 2008: 192ff.). Der Politik der Bedürfnisinterpretation folgt das Management der Bedürfnisbefriedigung. Dabei sind die Frauen die dreifach Hauptbetroffenen in ihrer Eigenschaft als unbezahlte Pflegepersonen in den privaten Haushalten, als bezahlte Pflegende in ihrer Rolle als eher „verhinderte Profession“ (vgl. Wettreck 2001: 13-164) und als größte Gruppe der hochaltrigen und Langzeitpflegebedürftigen. Eine kritische Pflegewissenschaft kann als Ankerpunkt für ihre normativen Zielsetzungen an die Unrechtserfahrungen der zu Pflegenden wie auch an die Erfahrungen der Berufsgruppe der professionell Pflegenden, vor allem als überwiegendes Arbeitsfeld von Frauen, anknüpfen. Damit umgeht eine kritische Pflegewissenschaft die Gefahr, lediglich an schon etablierte Diskurse und in der Öffentlichkeit wahrgenommene Leidenserfahrungen von Gruppen und Bewegungen anzuschließen, die die „Schwelle massenmedialer Wahrnehmung bereits überschritten haben“ (Honneth
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2003: 137). Der größte Teil der alltäglichen Unrechtserfahrungen ist jenseits der Wahrnehmungsschwelle der politischen Öffentlichkeit anzutreffen. Im Bereich der Pflege sind das zum Beispiel die Erfahrungen, die mit Pflegebedürftigkeit in den Familien verknüpft sind, wie Überforderung und Nichtanerkennung der Arbeit von pflegenden Angehörigen, soziale Isolation, häusliche Gewalt, Feminisierung der Armut, die Mobilisierung von Hilfeleistungen und die Auseinandersetzung mit staatlichen Behörden im Rahmen des juristisch-administrativ-therapeutischen Komplexes, die zum Teil zu heftigen Formen der Gegenwehr führen und als soziale Kämpfe bezeichnet werden können (Honneth 2003: 141; vgl. Fraser 1994: 237ff.), aber auch die Erfahrungen von beruflich Pflegenden als gesellschaftlich nicht anerkannter Beruf und als Tätigkeitsfeld, dem die Möglichkeit zur Professionalisierung weitgehend abgesprochen wird. Reduzieren wir Fragen der Gerechtigkeit lediglich auf eine Dimension, bleiben zentrale Aspekte verdeckt, z.B. wie die zu verteilenden Güter in die Welt kommen, wer sie produziert und wie sie verteilt werden. Die Frage der Gerechtigkeit ist somit immer auch eine Frage der Macht (Forst 2009: 207). Um das oft benutzte Bild der Mutter zu bemühen, die einen Kuchen unter ihren Kindern gerecht verteilen soll (vgl. Krebs 2002: 99; Tugendhat 1993: 373ff.), stellt sich unter einer machtanalytischen und emanzipatorischen Perspektive die Frage, woher die Mutter und der Kuchen eigentlich kommen. Dieses wird allerdings bei den meisten Ansätzen nicht thematisiert. Es geht also grundsätzlich bei Fragen der Gerechtigkeit um die Klärung der Vermeidung von willkürlicher Herrschaft, also auch um gerechte Verhältnisse zwischen den Menschen. Dabei setzen wir die Gleichheit hinsichtlich der Ansprüche voraus, nicht in Bezug auf Fähigkeiten. Ohne diese kontrafaktische Setzung, auch gegenüber Menschen im Koma, bei Schwerstbehinderten oder Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz, droht die Gefahr einer erstickenden und übertriebenen Fürsorge (vgl. Benhabib 1995: 283ff.). Eine Theorie der essentiellen Bestandteile des menschlichen Lebens (Basic Human Functional Capabilities), wie sie Nussbaum (1999) im Anschluss an Aristoteles formuliert hat, verfehlt die „Pointe der politischen und sozialen Gerechtigkeit [...] Würde eine Wohlfahrtsdiktatur dafür sorgen, dass der Großteil der basic capabilities gewährleistet wäre, wäre das Leben dort zwar nach bestimmten Maßstäben besser als in einer sozialen Demokratie mit Ressourcenknappheit, aber es wäre nicht gerechter. Die
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Gerechtigkeit ist kein Kriterium für allgemeine Güterniveaus oder, negativ gesprochen, Mängelbehebungsversuche, sondern für ganz bestimmte: für diejenigen, die Willkürherrschaft und entsprechende soziale Asymmetrien ausräumen“ (Forst 2009: 215). Eine Theorie, die diesem Anspruch gerecht wird, d.h. die die sozialen Ungerechtigkeiten und soziale Pathologien in verschiedenen Dimensionen in den Blick nimmt, ist die von Axel Honneth konzipierte Theorie der Anerkennung.
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DER
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2.1 Historische und systematische Überlegungen Der Begriff der Anerkennung lässt sich längst nicht so eindeutig fassen wie der wesentlich klarer konturierte Begriff der Achtung, der im moralphilosophischen Diskurs seit Kant eine klare und weitgehend konsistente Bedeutungszuschreibung erfährt (Honneth 2000). Der Begriff der Anerkennung findet sich sowohl im feministischen Diskurs um eine Care-Ethik (vgl. Conradi 2010, 2001; Gilligan 1988), als auch in kommunitaristischen Ansätzen einer interkulturellen Theorie (vgl. Taylor 1993) und auch in der Diskursethik von Habermas (1983) und in weiteren, je spezifischen Weiterentwicklungen oder auch Abgrenzungen zu den aufgezeigten Ansätzen (vgl. Bedorf 2010; Forst et al. 2009; Rosa 2009, 2005; Caillé 2008; Ricoeur 2006; Cavell 2002; Margalit 1999) und umfasst zum Teil sehr verschiedene moralische und sozialphilosophische Perspektiven. Die Anerkennungstheorie kann heute als durchaus „bewährtes und ausgereiftes philosophisches Forschungsparadigma“ angesehen werden (Zurn 2009: 7). Historisch lassen sich einige Vorläufer der Anerkennungstheorie entdecken, so in der klassisch griechischen Freundschaftsvorstellung, in den Gefühlstheorien der Aufklärung und insbesondere in den für Honneth (zumindest in seinen früheren Abhandlungen zur Anerkennung) so wichtigen Werken des deutschen Idealismus von Fichte und Hegel. Besonders Hegels Analyse intersubjektiver Anerkennung und deren konstitutive Bedeutung für das Zusammenleben in der menschlichen Gemeinschaft ist ein zentraler Anknüpfungspunkt nicht nur für Honneth, sondern auch für den amerikanischen und britischen Pragmatismus in Fragen der sozialpsychologischen Belege
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für intersubjektivistische Theorien der Wahrnehmung, der Erkenntnis und Handlungen. Aber auch die französische Phänomenologie hat sich, wenn auch aus einer anderen Richtung kommend, produktiv mit Hegels Ansatz beschäftigt und vor allem die Denkfigur von Herr und Knecht für die Rolle der intersubjektiven Anerkennung fruchtbar gemacht. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nutzen dann psychologische, vor allem entwicklungspsychologische und psychoanalytische Denkansätze den Anerkennungsbegriff zur Verdeutlichung der zentralen Bedeutung der Frühformen von intersubjektiver Anerkennung für die Herausbildung von Identität. In der Philosophie und Sozialphilosophie sind es vor allem die Phänomenologie in Frankreich, die analytische Tradition und die gesellschaftskritischen und feministischen Ansätze, die die Intersubjektivität und Anerkennung zu einem zentralen Kern ihrer Theoriebildung gemacht haben (Zurn 2009: 8f.; vgl. Bedorf 2010). 2.2 Honneths Theorie und Ethik der Anerkennung Honneths Verdienst ist es sicherlich, die verschiedenen Theoriestränge und -traditionen zu bündeln und in einer Anerkennungstheorie zu vereinen, die die Einseitigkeiten vieler anderer Ansätze überwindet. Das zeigt sich auch an der breiten Rezeption seiner Theorie (vgl. Schmidt am Busch/Zurn 2009; Forst et al. 2009; Schäffter 2009) und in den Bezügen zu so unterschiedlichen Theoriesträngen wie Millers (2008) empirisch gegründeter Theorie sozialer Gerechtigkeit (vgl. Honneth 2008) und die an Marcel Mauss anknüpfenden Theorien der Gabe von Hénaff (2009) und Caillé (2008; Adloff/Papilloud 2008). Als zentrales Leitmotiv der sozialen Kritik bei Honneth ist eine Kritik der Anerkennungsverhältnisse in kleineren oder größeren Gemeinschaften und Gesellschaften anzusehen (Boltanski/Honneth 2009; Honneth 2005, 2003, 2003a; vgl. Forst 2009; Forst et al. 2009; Zurn 2009). Mit dem Anspruch der Kritik stellt sich Honneth in die Traditionslinie der Frankfurter Schule. Dabei müssen zwei Kritikformen unterschieden werden: die Kritik sozialer Ungerechtigkeiten, die sich auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Personen bezieht und immer auch relational zu bestimmen ist und die Kritik sozialer Pathologien, die mit der Idee des guten Lebens zusammenhängt und nicht-relationaler Art ist. Horkheimer (1992) entwarf die kritische Theorie ausdrücklich als Gegenprogramm zur traditionellen Theorie
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und verfolgte mit der Idee der Emanzipation eine Gesellschafts- und Gegenwartskritik. Das eher funktionalistische Programm von Horkheimer versteht die existierende Gesellschaft als totalen Verblendungszusammenhang, während die stärker normativistische Variante der ,Grenzgänger‘ wie Fromm und Benjamin eher von Brüchen und Diskontinuitäten sprechen und die Akteure nicht einfach vollkommen beherrscht werden, sondern vielfältige nicht integrierbare Erfahrungen machen. An diese Sichtweise knüpft Honneth an und versucht somit, einen normativen und sozialtheoretischen Ansatz auszubuchstabieren (Boltanski/Honneth 2009: 91ff.). Honneth sieht die Aufgabe einer Sozialphilosophie in der Diagnose, Analyse und Überwindung sozialer Pathologien. Diese zeigen sich heute in der Moderne in vielfältigen Formen der Missachtung und Demütigung. Die Begriffe Entfremdung und Beschleunigung oder, wie Honneth in Anknüpfung an Lukács darlegt, Verdinglichung als radikale Anerkennungsvergessenheit, sind als Schlüsselkategorien der Sozialkritik und auch Pflegekritik zu etablieren (Rosa 2009; Seel 2009; Honneth 2005). Ein Fokus liegt somit auf dem in der Moderne permanent bedrohten, nicht entstellten Leben. Honneth (2003a: 148ff.) unterscheidet drei Dimensionen interpersonaler Anerkennung, die zusammengenommen erst Selbstverwirklichung und soziale Integration ermöglichen. Diesen Formen der Anerkennung sind jeweils drei unterschiedliche Sphären zuzurechnen. In Nahbeziehungen ist das Prinzip der Liebe und Fürsorge leitend. Paradigmatisch lässt sich das an der Beziehung zwischen Mutter und Kind explizieren. Bedürfnisse nach Liebe, emotionaler Zuwendung und körperlicher Nähe sind grundlegend für die Entwicklung von Selbstvertrauen. Die Missachtung dieser ursprünglichen Anerkennung in Formen der Misshandlung und Gewaltanwendung bedrohen die physische Integrität. Neben diesem am Bedarfs- bzw. Bedürfnisprinzip orientierten Grundsatz der Gerechtigkeitstheorie realisiert sich in der Sphäre der Rechtsverhältnisse der Gleichheitsgrundsatz. Anerkennung wird jedem Subjekt in Form der kognitiven Achtung entgegengebracht und beruht auf der moralischen Zurechnungsfähigkeit des Anderen. Dieses ist auf der Ebene der Selbstbeziehung grundlegend für die Entwicklung der Selbstachtung. Verletzungen dieser Form der Anerkennung, zum Beispiel durch Einschränkungen der Autonomie und Verletzungen der Privatsphäre, führen zur Bedrohung der sozialen Integrität. Die dritte Sphäre der Anerkennung betrifft die soziale Wertschätzung. In der Anerkennungsform der Solidarität wird die Selbstschätzung als prak-
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tische Selbstbeziehung als Teil eines geteilten Wertekonsenses realisiert. Bedroht wird die Anerkennung des sozialen Wertes einer Person zum Beispiel durch Entwürdigung und Stigmatisierung mit der Folge der Verletzungen der Würde. Die Wertschätzung ist heute nicht mehr identisch mit der ständischen Ehre in traditionellen Gesellschaften, sondern ist in modernen Gesellschaften durch an (Arbeits-)Leistung, und damit ist entlohnte Erwerbsarbeit gemeint, gekoppelt. Das Verdienstprinzip dient als Legitimation der durch den freien Markt produzierten Ungleichheiten. Honneth ist wohl bewusst, dass die Arbeitsleistungen weder gerecht entlohnt noch die private Familienarbeit in Form von Kindererziehung und Pflege der Angehörigen überhaupt eine monetäre und damit gesellschaftliche Anerkennung finden. Verteilungskonflikte sind für Honneth somit als Anerkennungskämpfe zu interpretieren (vgl. Honneth 2003). Mit der Studie über Verdinglichung (Honneth 2005) zeichnet sich eine ontologische Wende in der Theorie ab. Anknüpfend an Lukács wird die Verdinglichung als eine im Ganzen verfehlte Praxis der bloß instrumentellen Verfügung über Dinge und Menschen angesehen. Dabei geht es nicht um intentionale Handlungen einzelner Akteure, sondern um pathologische soziale Gegebenheiten der Gesellschaft insgesamt. Das führt Honneth zu einem Verdinglichungsbegriff, bei dem „der Mangel der verdinglichenden Haltung an einem Ideal von Praxis gemessen [wird], das durch Eigenschaften der aktiven Teilnahme und existentiellen Involviertheit charakterisiert ist“ (Honneth 2005: 29). Was bei Heidegger mit dem Begriff der ,Sorge‘ und bei Dewey mit ,praktisches Engagement‘ beschrieben wird, reformuliert Honneth in Begriffen seiner Anerkennungstheorie. Die Frage, was denn eigentlich anerkannt wird, lässt sich somit als Dreistelligkeit der Anerkennungsbeziehung (x erkennt y als z an) darstellen: Das Anerkennen der Adressaten (Patienten, Bewohner, Pflegende, Angehörige) als Subjekte ihrer Lebenspraxis. Das macht zugleich auf die Unmöglichkeit einer abschließenden und zu fixierenden Identität aufmerksam, es bleibt ein offener und vorläufiger, immer wieder neu zu interpretierender Prozess der Anerkennung (vgl. Bedorf 2010: 118ff., hier 126). Die Ontologisierung des Anerkennungsbegriffes halte ich für eine fruchtbare Erweiterung der Theorie. Eine Ökonomisierungs- und Kapitalismuskritik ist deshalb für die Pflegewissenschaft so zentral, da auch neuere Untersuchungen (Rosa 2009, 2005) auf die einseitige Rationalitätskonzeption in kapitalistischen Gesellschaften hinweisen – mit der Folge eines
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Typus von Praxis, in der die Subjekte ihrer Resonanzerfahrung und Responsivität verlustig gehen (vgl. Honneth 2007: 45ff.). Beziehungen werden so nur noch in distanzierter Haltung und mit zweckrationalen Handlungszielen in eine ökonomische Form gebracht. Die Folge ist eine misslingende Form des Weltverhältnisses und eine Entfremdung in subjektiven, objektiven und sozialen Dimensionen. Dieser verdinglichten Rationalität begegnet Honneth mit der These des Primats einer Anteil nehmenden Anerkennung gegenüber allen distanzierten Erkenntnisweisen. Auch wenn die starke These eines sowohl genetischen als auch kategorialen Vorrangs der Anerkennung vor dem Erkennen eher abzuschwächen ist (vgl. Bedorf 2010: 127ff.; Seel 2009: 157ff.; Ferrara 2009: 40ff.), so erweist sich doch das Aufzeigen eines Ideals von Praxis mit den Eigenschaften einer aktiven Teilnahme und existentiellen Involviertheit als äußerst fruchtbar. Verstehen und Erkennen gehen mit einer Haltung der Anerkennung einher, wobei Anerkennung in ihrer basalen Form die Grundlage einer nichtinstrumentellen Aufmerksamkeit darstellt. Diese Wahrnehmungsfähigkeit und Aufmerksamkeit betrifft alle Weltbezüge, die gegenüber sich selbst, gegenüber anderen und gegenüber der Umgebung. Gerät diese vorgängige Anerkennung in Vergessenheit, wird daraus ein verdinglichender Weltbezug: „In dem Maße, in dem wir in unseren Erkenntnisvollzügen das Gespür dafür verlieren, daß sie sich der Einnahme einer anerkennenden Haltung verdanken, entwickeln wir die Tendenz, andere Menschen bloß wie empfindungslose Objekte wahrzunehmen. Hier von bloßen Objekten oder gar von ,Dingen‘ zu sprechen soll bedeuten, daß wir mit der Amnesie die Fähigkeit verlieren, die Verhaltensäußerungen anderer Personen direkt als Aufforderungen zu einer eigenen Reaktion zu verstehen; zwar sind wir kognitiv gewiß noch in der Lage, das ganze Spektrum menschlicher Expressionen wahrzunehmen, aber uns fehlt gewissermaßen das Verbundenheitsgefühl, das erforderlich wäre, um von dem Wahrgenommenen auch affiziert zu sein. Insofern entspricht jenem Vergessen vorgängiger Anerkennung, das ich als den Kern aller Vorgänge der Verdinglichung begreifen möchte, auf der anderen Seite tatsächlich auch das Ergebnis einer perzeptiven Verdinglichung der Welt: Die soziale Umwelt erscheint, nahezu wie in der Wahrnehmungswelt des Autisten, als eine Totalität bloß beobachtbarer Objekte, denen jede psychische Regung oder Empfindung fehlt.“ (Honneth 2005: 69-70)
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Der Verlust der Aufmerksamkeit und existentiellen Involviertheit wird in der Pflege durch Strategien der Technisierung und Ökonomisierung forciert (vgl. Friesacher 2010, 2009, 2008; Manzei 2009). In seiner voluminösen und bahnbrechenden Studie beschreibt Hülsken-Giesler (2008: 283ff.) diese Vorgänge als „äußere und innere Maschinisierung der Pflege“ (365, 373) mit den Folgen des „Erfahrungsverlusts“ (390) der „sozialen Kälte“ (392), der „Mutation des Subjekts“ (394) und der „Operationalisierung pflegerischen Handelns“ (397). Aus der Perspektive Honneths kann diese Entwicklung als Verdinglichung und Anerkennungsvergessenheit gedeutet werden. Korrektive und Auswege ergeben sich durch eine Kritik der Anerkennungsverhältnisse. Dieses setzt einen nichtinstrumentellen Zugang zum Anderen voraus. Dabei spielt der Leib als nicht-entfremdeter Modus unserer Natur, die wir selbst sind, eine zentrale Rolle.
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ALS NICHT VERDINGLICHTER ZU MIR UND ANDEREN
Z UGANG
3.1 Leib – Körper – Leibkörper Als zentraler Bezugspunkt erscheint der in der philosophischen Anthropologie und Phänomenologie konzipierte Begriff des menschlichen Leibes/ Körpers oder Leibkörpers (Friesacher 2008: 319ff.; vgl. Böhnke 2010; Böhme 2008, 2003; Weidert 2007; Uzarewicz/Uzarewicz 2005; Jäger 2004). Mit diesem Doppelbegriff kann das, was objektiv gegeben ist (der Körper) zugleich aus der Perspektive der Selbsterfahrung (der Leib) bestimmt werden. Dabei ist von zwei Blickweisen des Leibes auszugehen. Die Körperperspektive ist eine Außenperspektive und legt einen distanzierenden Zugang nahe. In dieser naturalistischen Einstellung betrachte ich mich und die Anderen als ein Ding; es geht dabei um etwas. Körper erscheint nur noch als kontrolliertes, professionell gemanagtes Körperding, das ich habe. Der sinnlich erfahrbare und spürbare Leib ist dagegen Medium subjektiven Erlebens. Diese personalistische Einstellung ist eine Form des ,In-der-Welt-Seins‘, die durch die intersubjektiven Beziehungen zu Anderen und der Teilhabe an einer bestimmten Lebenspraxis gekennzeichnet ist. Das individuelle Selbst entsteht in einem Netzwerk geregelter Anerkennungsverhältnisse unter Aufrechterhaltung der physischen Integrität. Der
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Leib ist das Medium der Verkörperung der personalen Existenz; es geht in der personalistischen Einstellung also um jemandem, im Gegensatz zu etwas in der naturalistischen Einstellung. Diese Unterscheidung betrifft nicht Entitäten sondern Sichtweisen; die Doppelheit des Leibes zeigt sich als fungierender Leib und Medium und eben auch als Körperding. Primär bleibt aber immer der Modus des Leibseins, da wir die leibliche Erfahrung immer nur von innen erleben und den Leib nicht von außen betrachten können, da wir immer schon Leib sind. Auch in der Betrachtung als Körper ist immer eine leibliche Dimension vorhanden. Der Begriff des Leibkörpers drückt diese Doppelheit und die Vorrangstellung der personalistischen gegenüber der naturalistischen Einstellung aus (Friesacher 2008: 320ff.; Waldenfels 2000: 248ff.; vgl. Habermas 2005: 89, 100). Nach Schmitz (1965) ist der Leib das, was im leiblichen Spüren gegeben ist. Leiblichkeit wird also durch die Erfahrungen der Selbstgegebenheit charakterisiert. Anders als bei Waldenfels (2000), bei dem die Einheit des Leibkörpers lediglich als Sichtweise und Betrachtung aufgezeigt wird und somit primär als kognitives Problem behandelt wird, ist für Schmitz und an diesen anschließend und weiterführend auch Böhme (2003, 2008, 2008a) Leibsein zu allererst eine Praxis. Leiblichkeit ist primär durch Praxis zu erschließen und nicht als kognitiver Akt. Dieses ist in der Moderne umso schwieriger, als uns der Zugang nicht selbstverständlich gegeben ist, im Gegenteil: Unter Bedingungen der technischen Zivilisation, das heißt für die Pflege unter verdinglichten, entfremdeten und beschleunigten institutionellen Regelungen, gerät Leibsein in Vergessenheit und wird zu einer echten Aufgabe (s.u.). Die Instrumentalisierung des Körpers zwingt den Leib in die Unauffälligkeit, er wird verdrängt. So lässt sich das menschliche Herz natürlich als eine Pumpe und als Motor explizieren, dem die Koronararterien die nötige Energie zuliefern, die Herzklappen die Ventile darstellen und die vom Sinusknoten ausgehende elektrische Erregungsleitung für den notwendigen Strom sorgt, damit der ,Motor im Takt‘ bleibt. Doch die Art und Weise, wie ich dieses Herz spüre, wie ich Herz bin, ist durchaus eine andere und eine der objektivistischen Zugangsweise vorausgehende. Diese subjektive Herzerfahrung spiegelt sich in leiderfüllten Erfahrungsberichten Betroffener ebenso wie in vielfältigen kulturellen symbolischen Äußerungen wieder (vgl. Keil 1991: 214ff.; Claussen 2000). In einem bemerkenswerten Erfahrungsbericht („Der Eindringling“) schildert Nancy (2000), wie das eigene, erkrankte Herz zu einem Fremdling geworden ist. Diese Nichtidentifikation mit dem
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eigenen Herzen, die Leugnung der leiblichen Basis der eigenen Existenz wird Nancy schmerzlich bewusst, als er das neue Herz empfängt. Dieses neue Herz löst einen Prozess der Selbstentfremdung aus. Erst nach der Transplantation wird ihm bewusst, dass die eigene Identität eine leibliche Basis hat. 3.2 Leibsein als kritischer Diskurs Die Technisierung des Leibes stellt das Selbstverhältnis und die Naturgegebenheit des Menschen grundsätzlich in Frage, indem die Grenze zwischen Künstlichem und Natürlichem verschiebbar wird. Damit steht Leibsein als Existenzform scheinbar zur Disposition. Leibsein wird so zu einer moralischen Frage und zu einem Diskurs des Widerstands. Kritische Theorie hat hier die Aufgabe, aufzuzeigen was mit den Menschen geschieht und wie dem drohenden Verlust der Leiblichkeit zu begegnen sei (Böhme 2003: 34, 2008). Wie schon bei Honneth in der ontologischen Wende (s.o.) lässt sich auch bei Schmitz eine affektive Betroffenheit, die er als subjektive Tatsache bezeichnet, finden (Schmitz 1990). Anknüpfend an Kierkegaards Begriff der Subjektivität und der Existenzbegriffe bezeichnen diese bestimmte Seinsweisen (z.B. der Ausdruck ernst in der Form: ,mir ist es ernst mit der Pflegewissenschaft‘). Diese adverbiale Form kennzeichnet ein Denken und Handeln, welches engagiert ist, wo ich mich als Person einbringe. Subjektivität meint hier das Involviertsein. Subjektive Tatsachen leiblichen Spürens sind abhängig von dem eigenen Selbstverhältnis. Dieses ist aber geprägt von gesellschaftlichen und historischen Rahmenbedingungen. Das wird von der Phänomenologie weitgehend vernachlässigt (vgl. Böhme 1993: 48). Eine kritische Leibphänomenologie entsteht erst aus der Spannung zwischen diesen beiden Zugangs- und Deutungsweisen (Leib und Körper). Eine als kritisch zu bezeichnende Anthropologie als Leibphänomenologie zielt nicht auf allgemeingültige Wesensbestimmungen; sie „fragt nach den Selbstthematisierungen der Menschen in spezifischen, historischkonkreten Lebenszusammenhängen. Kritische Anthropologie beschreibt diese Selbstdeutungen jedoch nicht nur, sondern verweist auch auf Brüche und Differenzen in der Umsetzung dominanter Diskurse. Kritisch ist dieses Vorgehen insofern, als damit Machtverhältnisse und Interessen thematisiert und Marginalisierungen und
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Ausgrenzungen aufgezeigt werden können.“ (Manzei 2003: 215, Hervorhebungen im Original, H.F.)
Im Zentrum einer kritischen Konzeption steht damit nicht die Entgegensetzung eines unverfügbaren Substanzkerns der inneren Natur des Menschen gegenüber der Technisierung sondern die Existenzweise und Unausdeutbarkeit des Menschen gegen die biotechnologische Deutungsmacht. Mit der Anknüpfung an die Dialektik der Aufklärung, deren Grundmotiv des „Eingedenkens der Natur im Subjekt“ (Horkheimer/Adorno 1986: 47) die Beherrschung der inneren und äußeren Natur als zentrales Moment der Aufklärung zeigt, steht ein auch heute noch aktuelles Kritikverfahren zur Verfügung, welches das Sichtbarmachen des Nicht-Verfügbaren als Selbstreflexion auf die Naturgebundenheit des Menschen ermöglicht (vgl. Friesacher 2008: 327ff.; Böhme 2008: 136ff.). Das Selbstbewusstsein und das Selbst-Sein des Menschen durch Vernunft heißt zunächst einmal Bemächtigung der Natur. Diese Verfügung drückt sich aus in einer instrumentellen Rationalität, verwirklicht durch naturwissenschaftlich-technisches Denken. Die Natur wird zum Anderen der Vernunft und der Gesellschaft, zur ausbeutbaren Ressource für einen sich entwickelnden globalen Kapitalismus. Die Befreiung von und Beherrschung der äußeren Natur führt auf der anderen Seite zum Zwang, die eigene, innere Natur zu beherrschen und diese zum Objekt zu machen. Die eigenen leiblichen Bedürfnisse müssen zum Zwecke der Anpassung an die kapitalistischen Produktionserfordernisse unterdrückt und reglementiert werden. Den negativen Auswirkungen wird in der Dialektik der Aufklärung ein positiver Begriff der Aufklärung gegenübergestellt: die Selbstbesinnung des Denkens soll aus der Verstrickung der Herrschaft herausführen. „In diesem Sinne erinnert das Eingedenken der Natur im Subjekt die Gesellschaft als Subjekt der Naturbeherrschung an die Natur als ihr auch Anderes, als zwar gestaltbare, aber dennoch eigensinnige Bedingung ihrer Möglichkeit – auf der sozialen wie auf der individuellen Ebene“ (Manzei 2003a: 204, Hervorhebungen im Original, H.F.). Dem hier entwickelten Naturbegriff haftet eine Subjektivität und Lebendigkeit an, die die Leiblichkeit des Menschen betrifft. Als Sinnbild für die Naturgebundenheit des Menschen kann die Denkfigur des Eingedenkens der Natur im Subjekt ein kritisches Korrektiv zu allzu fortschritts- und technikgläubigen, naturalistisch-futuristischen Konzeptionen abgeben.
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Mit der Fundierung des Subjekts in betroffener Selbstgegebenheit erschließt sich nach Böhme (2008: 142ff.) die Leiblichkeit als Quelle des Selbst. Ausgehend von Freuds Arbeiten zur frühkindlichen Entwicklung zeigt Böhme auf, dass die Ich-Konstitution sich ontogenetisch in ersten negativen Erfahrungen von Schmerzen und Krankheit vollzieht. „Der Schmerz wird als Anderes, Fremdes, Böses erfahren, das mich angeht, das mir widerfährt“ (143). Der Schmerz ist ein Anderes und gehört doch zu mir. Mit der Lokalisation des Schmerzes und der Vergegenständlichung des Schmerzes kann die leibliche Widerfahrnis als Sachverhalt des Körpers verobjektiviert und an Experten delegiert werden. In diesem Denkansatz wird der Forderung des Eingedenkens der Natur im Subjekt durchaus entsprochen, „als das Subjekt sich aus dem Grund der eigenen Natur losreißt und gleichwohl an ihn zurückgebunden bleibt. Natur sind wir, insofern wir uns selbst gegeben sind [...] Das Eingedenken der Natur im Subjekt führt so zu einem Selbstbewusstsein, das nicht nur auf Reflexion und Anerkennung sich gründet, sondern auch und viel mehr noch auf Betroffene Selbstgegebenheit.“ (Böhme 2008: 143, 149)
Der Mensch ist, so kann man im Anschluss an Böhme konstatieren, sowohl leidendes als auch handelndes Wesen. Eine kritische Reflexion der Existenzweisen menschlichen Lebens lässt sich phänomenologisch-anthropologisch angehen. Dazu bedarf es allerdings jenes Doppelbegriffes des Leibkörpers, der im Rahmen einer normativen kritischen Theorie das Gegebene in der Perspektive vernünftiger Zustände rekonstruieren kann.
4. G ERECHTIGKEIT
IN DER
P FLEGE
Eine Integration der eigenen Natur (als Leib) in die Ethikkonzeption der Pflege ist eine unabdingbare Notwendigkeit, zumal die pflegerische Arbeit typischerweise durch zumindest zeitweise Bedrohung und Beschädigung, Einschränkung und Degeneration der leiblichen und körperlichen Integrität und Vitalität gekennzeichnet ist. Für die Betroffenen bedeutet das eine existentielle Krise und Bedrohung, die Basis ihrer bisherigen Wirklichkeitskonstruktion gerät ins Wanken. Die Reaktion der Gesellschaft ist in der Regel
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die Delegation der mit Krankheit, Verletzung, Behinderung, Alter, Sterben und Tod verbundenen existentiellen Erschütterungen an die ,Profis‘ in den dafür vorgesehenen Institutionen. Das Existentielle und die damit verbundenen leiblichen Erfahrungen finden aber kaum einen Platz im Diskurs moderner Medizin und Pflege. Sie werden dualistisch aufgespalten in ,Körper‘ und ,Psyche‘ und fachlich verteilt an die zuständigen Disziplinen Medizin und Psychologie, die die leiblichen Erfahrungen einerseits in aufgeklärte objektivierbare Körperlichkeit und andererseits in rationalisierte Emotionen handhabbar und dem etablierten wissenschaftlichen Diskurs zugänglich machen (vgl. Wettreck 2001: 86, 88). Pflege als Hilfehandeln findet zu großen Teil als medizinisierte Pflege statt, der Grad der Medizinisierung hängt dabei ab von der Nähe zu akutmedizinischen Interventionsmöglichkeiten und den ärztlichen Handlungsbögen. Auf einer Intensivstation im Krankenhaus ist das Handlungsfeld der Pflege ungleich größer medizintechnologisch vorbestimmt als in einem Altenpflegeheim oder in der häuslichen Pflege. Gleichwohl lässt sich der oftmals ,verschüttete‘ Kern der Pflegearbeit in allen Handlungsfeldern als eine eigene – neben Medizin und Psychologie – therapeutische Antwort auf Krankheit, Behinderung, Alter, Sterben und Tod verstehen, die über eine leibkörperliche Interaktion den ,Spuren des Anderen‘ nachgeht und sich sorgend, heilend, Anteil nehmend, für-sprechend und solidarisch realisiert (Böhnke 2010: 144; Friesacher 2008: 198; Wettreck 2001: 260). Die institutionalisierten Arrangements der Pflegearbeit sind eingebettet in ein ,Rahmenprogramm‘, dessen Ziele weniger lebensweltlichen Bedürfnissen als systemischen Imperativen folgen. Die Pflegenden befinden sich dabei in einer ambivalenten Situation: auf der einen Seite in der Rolle als Advokaten des zu Pflegenden, andererseits sind sie als soziale Handlungsträger Teil des Systems der Gesundheitsversorgung. Auf der institutionellen Ebene ist dieser Zwiespalt zugunsten systemischer Handlungsorientierung vorentschieden. Dabei ist es hilfreich, vom Institutionenbegriff her die Analyse sozialer Pathologien zu fokussieren. Die strikte und auch problematische Gegenüberstellung von System und Lebenswelt weicht so einer Sichtweise, die von einem Kontinuum von mehr oder weniger verfestigten institutionellen Arrangements ausgeht. Damit lassen sich komplexe soziale Vorgänge unter Anknüpfung an handlungstheoretische Grundlagen analysieren (Jaeggi 2009: 544).
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Im Rahmen einer zunehmenden Ökonomisierung wird der Patient zum Nutzer umcodiert und ist Teil einer zunehmenden ,Kybernetisierung‘ des gesamten Versorgungsprozesses, sichtbar in Konzepten einer Prozessoptimierung mittels Steuerungsinstrumenten wie Disease-Management-Programmen (DMP), Behandlungspfaden und dem Pflegeprozess (Friesacher 2010: 60ff.; Friesacher im Druck; Manzei 2009). Wie unter scheinbar immer knapper werdenden Ressourcen eine angemessene Versorgung stattfinden soll, ist dabei eine Frage der Verteilung. Dabei geht es in der Pflege weniger um materielle Güter wie in der Medizin, sondern um eine gerechte Verteilung von Zeit, Zuwendung und Ansprache. Damit bekommen Fragen der Gerechtigkeit in der Pflege einen zentralen Stellenwert, denn Güterethiken sind hier mit Begründungsproblemen konfrontiert, die sich im Rahmen z.B. einer Care-Ethik nicht hinreichend lösen lassen. So fehlen normative Maßstäbe einer zielgerichteten Handlungskontrolle, die für die „Steuerung und auch Begrenzung asymmetrischer Verpflichtungen gegenüber Hilfebedürftigen“ eine wichtige Funktion einnimmt und vor „moralischer Überdehnung“ schützt. Gleichwohl gehören Fragen eines guten und gelingenden Lebens zu den elementaren Bestandteilen einer Pflegeethik (Remmers 2010: 60, vgl. 2000; Greiner 2009). Eine moderne Gerechtigkeitskonzeption für die Pflege steht somit vor schwierigen Aufgaben: Pflegende tragen sowohl Verantwortung für die ihnen anvertrauten, in ihrer Autonomie und Souveränität zeitweise beeinträchtigten Menschen, sie nehmen also eine advokatorische Funktion in konkreten und individuellen Situationen ein, gleichzeitig müssen Sie sich Fragen einer gerechten Verteilung dieser Güter stellen und Verantwortung gegenüber allgemeinen anderen übernehmen und begründen, und beides in ausdifferenzierten institutionellen und organisatorischen, funktionalen Erfolgskriterien verpflichteten Subsystemen der Gesellschaft. Es bedarf also einer mehrdimensionalen und zugleich auch kritischen, emanzipatorischen Interessen verpflichteten Pflegeethik. Diese wäre als partiale kritische Theorie zu konzipieren, die Antworten gibt auf die moralisch relevanten Krisenphänomene in spezifischen Bereichen unserer Gesellschaft. Mit der Theorie der Anerkennung nach Honneth ließe sich eine solche kritische und zugleich mehrdimensionale Ethikkonzeption herleiten. Sein umfassender Gerechtigkeitsbegriff setzt an unterschiedlichen Sozialformen und verschiedenen Arten der Selbstbeziehung an. Dabei bemisst sich das
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Wohl einer Gesellschaft an dem „Grad ihrer Fähigkeit, Bedingungen der wechselseitigen Anerkennung sicherzustellen, unter denen die persönliche Identitätsbildung und damit die individuelle Selbstverwirklichung in hinreichend guter Weise vonstatten gehen kann“ (Honneth 2003: 206). In Verbindung mit einer „Ethik leiblicher Existenz“ (Böhme 2008, vgl. 2003) und einer kritischen Leibphänomenologie (Manzei 2005, 2003), mit der die Natur und das Pathische als konstitutiv für eine Ethik im Bereich der Pflege ausgewiesen werden, lässt sich eine angemessene Bereichsethik denken. Beispiele für weitere bereichsspezifische Ethiken wären die ,Lebensethiken‘ wie Bio-, Gesundheits- und Medizinethik, die damit assoziierte Technikethik und eine sich als kritische Sozialwissenschaft verstehende Wirtschafts- und Unternehmensethik. Eine kritische, mehrdimensionale Gerechtigkeitsethik steht in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zur traditionellen Ethik wie eine kritische Theorie zu traditionellen Theorieansätzen (vgl. Kettner 2003; Maak/Ulrich 2007; Friesacher 2009).
5. S CHLUSSBETRACHTUNG Anerkennung und Leiblichkeit sind konstitutiv für eine erweiterte Gerechtigkeitskonzeption in der Pflege. Die Realisierung unter den bestehenden Bedingungen in der pflegerischen Praxis bedarf allerdings der Veränderung institutioneller und organisatorischer Rahmenbedingungen, ansonsten verbleiben die Konzepte auf einer affirmativen Ebene. Die eher funktional und systemtheoretisch ausgerichtete Organisationstheorie ebenso wie interpretative Ansätze sind am Status Quo sozialer Ordnung und nicht an seiner Kritik und Möglichkeiten der Veränderung ausgerichtet. Dazu bedarf es kritischer Theorien der Organisation, die in Deutschland eher unter dem Stichwort „Unternehmensethik“, „kritische Wirtschaftsethik“ und im Rahmen sozialphilosophischer Analysen der Institutionen verhandelt werden (vgl. Jaeggi 2009; Maak/Ullrich 2007; Scherer 2006; Gröbl-Steinbach 2003). Diese Diskurse zeigen Anschlussstellen zu den Theorien von Habermas und Honneth und sind auch für eine noch ausstehende Organisations- und Institutionentheorie der Pflege fruchtbar zu machen. Jaeggi (2009: 541543) sieht die „Pathologie der Institution“ in der Verdeckung des Gemachtseins. Daraus folgert sie:
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„Eine gute Institution darf nicht so verfasst sein, dass sie den Umstand ihres ,Gemachtseins‘, den Umstand also, dass sie das Resultat menschlicher Praxis ist, das heißt Resultat kollektiver Instituierung und Akzeptanz ist, verdeckt [...] Eine gute Institution ist dann eine, in der die Individuen ihre Interessen realisieren und mit der sie sich identifizieren können. Eine unlebendige Institution bleibt äußerlicher Zwang. Sie ist gekennzeichnet durch Rigidität, die sich unter anderem darin zeigt, dass Widerständiges und dem institutionellen Ablauf nicht Entsprechendes nicht mehr in den Gesichtskreis der Institution treten kann.“
Eine Gerechtigkeitskonzeption der Pflege kann sich nicht allein auf den Mikro-ethischen Bereich pflegerischen Handelns fokussieren, sonst droht sie zu einer ,Sonntags-Ethik‘ zu verkommen.
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Behinderung, Identitätspolitik und Anerkennung Eine alteritätstheoretische Reflexion M ARKUS D EDERICH
Seit einigen Jahren ist das Thema Anerkennung als ethische und politischphilosophische Argumentationsfigur sowohl in der Behindertenpädagogik als auch in den Disability Studies angekommen. Für den Kontext von Behinderung ist Anerkennung nach Ansicht vieler Autoren deshalb von großer Bedeutung, weil sie als „Modus von Integration“ (Kaletta 2008: 15) verstanden werden kann – sie scheint eine ideale sozialethische Argumentationsfigur für die Begründung einer ethischen und politischen Pflicht zu gleicher Achtung und zur konsequenten Verwirklichung von umfassenden Partizipationschancen behinderter Menschen zu sein. In der Behindertenpädagogik beruht die überwiegende Zahl solcher Begründungsversuche auf der Übernahme der Anerkennungstheorie von Axel Honneth (exemplarisch: Horster 2009). Zu den wenigen Versuchen, über dessen sozialethischen Entwurf hinauszukommen bzw. Anerkennung kritisch in den Blick zu nehmen, zählen die Beiträge von Dederich (2001: 197 ff.) und Rösner (2002). In diesem Beitrag wird es darum gehen, eine spezifische Problematik zu beleuchten, die vor allem für die Disability Studies von großer Bedeutung ist, nämlich den Zusammenhang von Identität und Anerkennung. Dieser Zusammenhang wird nachfolgend in einer alteritätstheoretischen Perspektive kritisch diskutiert und mündet in Anschluss an Bedorf (2010) in die These, dass jeder Prozess der Anerkennung zugleich ein Moment der Ver-
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kennung enthält. Durch einen solchen Blick auf die Anerkennungsethik wird deren Bedeutung nicht grundsätzlich in Frage gestellt, erscheint aber in einem deutlich zwiespältigeren Licht.
ANERKENNUNG , I DENTITÄT , D IFFERENZ Sowohl auf begrifflich-semantischer wie auf theoretisch-konzeptioneller Ebene kann Anerkennung sehr unterschiedlich gefasst werden. Semantisch gesehen umfasst ‚Anerkennen‘ Bedeutungen wie Erkennen, etwas für wahr halten, Zustimmen, Eingestehen, Akzeptieren, Gelten lassen, Respektieren, Willkommenheißen, Lieben und anderes mehr. Auf theoretisch-konzeptioneller Ebene kann Anerkennung einerseits als Haltung von Menschengruppen oder Institutionen konzipiert werden, andererseits als spezifischer Handlungstyp. Manchmal wird Anerkennung in einem eher epistemischen Sinne verwendet, der vor allem ‚Erkennen‘ oder ‚Identifizieren‘ meint, während eine andere Variante einen eher evaluativen Zugang wählt und Anerkennung als einen Akt der Zustimmung und Wertschätzung deutet, durch den einer anderen Person ein positiver Wert zugesprochen wird. In manchen Theorien wird Anerkennung aus Sicht des Individuums entwickelt, in anderen aus Sicht spezifischer Gruppen. Solchen Theorien, die Anerkennung als eine der Voraussetzungen für gelingende Identitätsarbeit begreifen, stehen Auffassungen gegenüber, die Anerkennung eher als Ziel konzipieren (vgl. Werschkull 2007: 43). Häufig wird Anerkennung auch als menschliches Grundbedürfnis eingestuft (vgl. Kaletta 2008: 30). Anerkennung erscheint dann als zentraler Faktor für das Ge- oder Misslingen des Aufbaus einer positiven Selbstbeziehung des Subjektes. Jedoch tritt das Bedürfnis nach Anerkennung historisch in unterschiedlichen Formen auf und kann auf verschiedene Weisen befriedigt oder zurückgewiesen werden (vgl. Werschkull 2007: 44). Trotz dieser Differenzen kann festgehalten werden, dass Anerkennung in der Regel als wichtiger Faktor oder als wichtige Ressource für den Prozess der Subjektgenese, vor allem den Aufbau einer positiven Selbstbeziehung und einer unbeschädigten Identität, aber auch für die moralische, rechtliche und politische Inklusion von Individuen oder Gruppen in die Gesellschaft konzipiert wird. Deshalb ist Anerkennung für Menschen mit Behinderungen sowie andere marginalisierte und ausgegrenzte Individuen und Gruppen von Bedeutung: Sie verspricht die Über-
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windung von beschädigter Identität durch negative, herabwürdigende Attribuierung (etwa durch das, was Heitmeyer [2005] ‚gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ nennt), sowie durch soziale und rechtliche Ausgrenzung. In diesem Licht gesehen scheinen Anerkennung und die Überwindung von Ausschluss wechselseitig aufeinander zu verweisen. Ein zentraler Topos in den Debatten über Anerkennung ist Identität. Deren große Bedeutung zeigt sich etwa in den bekannten Arbeiten von Charles Taylor (1993) und Axel Honneth (2003). Taylor und Honneth gehen davon aus, dass Abwertung, Stigmatisierung und die Nicht-Zurkenntnisnahme von Gruppen ethisch deshalb problematisch sind, weil die Mitglieder der Gruppe hierdurch in verschiedenen Hinsichten geschädigt werden können. In diesem Sinne wird die in der Regel von Gruppen vorgebrachte Forderung nach sozialer, politischer, kultureller oder rechtlicher Anerkennung häufig so begründet, dass sie eine notwendige Bedingung dafür ist, dass eine spezifische Identität nicht beschädigt wird oder umgekehrt sich unbeschadet entwickeln kann. Demgegenüber spielt das Konzept der Identität in anderen Ansätzen eine eher strategische Rolle. Die Frage, ob eine solche Identität tatsächlich existiert, ist gegenüber den legitimen Ansprüchen von sozialen Gruppen eher nachrangig. Solange Strategien dazu führen, dass die Ansprüche erfüllt werden, hat sich die Strategie als richtig erwiesen. Nun wirft das Auftauchen von Kollektiven, die eine distinkte Gruppenidentität für sich beanspruchen, für die politische Theorie, die Sozialphilosophie und die Sozialethik die Frage auf, inwieweit in entsprechende normative Theorien die Figur der ‚Differenz‘ eingebaut werden kann. Diese Figur ist – wie übrigens auch die des Individuums und der Selbstbestimmung – ein spezifisch neuzeitliches Phänomen. Erst mit der Entstehung der neuzeitlichen Subjektivität wird Differenz zu einer sozial-politisch und ethisch maßgeblichen Kategorie. In einem besonderen Maße wird sie dort wichtig, wo Kulturen, Gesellschaften oder politische Systeme als homogenisierend und daher der Tendenz nach differenz-feindlich wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund geht es in vielen politischen Kämpfen darum, dass sich spezifische Gruppen oder Kulturen, die ihre Eigenart und ihren spezifischen Wert über besondere differente Merkmale definiert sehen, für ihre eigene Anerkennung einsetzen. Daher sind es häufig bislang ausgegrenzte bzw. sich als unterdrückt oder missachtet erlebende Individuen, die sich zusammentun und für sich eine achtungswürdige kollektive
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Identität in Anspruch nehmen. Einen solchen ‚Kampf um Anerkennung‘ haben im vergangenen Jahrhundert neben zahlreichen anderen Gruppen vor allem Frauen, Afroamerikaner und Homosexuelle ausgetragen. Vergleichsweise spät meldeten sich auch Menschen mit Behinderungen zu Wort. Solche Gruppen definieren sich in der Regel über distinkte Merkmale, die das Spezifische der Gruppe markieren und damit auf der Basis einer Unterscheidung von ‚Wir‘ und ‚Sie‘ operieren. Diese Distinktionen enthalten immer auch ein Moment der Exklusivität. Ein Beispiel hierfür ist die Bezeichnung ‚Krüppelbewegung‘, mit der die gesellschaftliche Negativattribuierung von Behinderung vor allem durch körperbehinderte Personen aufgegriffen, politisiert und als ‚Marker‘ für eine spezifische Identität eingesetzt wurde. Die Selbstbezeichnung als ‚Krüppel‘ war ein Beitrag dazu, Menschen mit spezifischen Missachtungs- und Ausgrenzungserfahrungen zu einer Gruppe zusammenzufassen und im politischen Raum die Forderung nach Anerkennung zu erheben (vgl. Köbsell 2009). Dieses Beispiel macht aber auch deutlich, dass kollektive Identitäten durch ‚Stiftungsereignisse‘ entstehen, oder, konstruktivistisch formuliert, hervorgebracht werden. Unabhängig von der Frage, ob es solche Identitäten in einem essentialistischen oder ontologischen Sinne gibt, kann festgehalten werden, dass ihr Auftauchen im Kontext gesellschaftlicher oder politischer Auseinandersetzungen erfolgt und mit politisch-strategischen Zielen, vor allem der Überwindung von Missachtung und Ausgrenzung verknüpft ist. Jedoch wirft der Topos der (kollektiven) Identität eine Reihe wichtiger Fragen auf, die nachfolgend beleuchtet werden sollen.
I DENTITÄTSPOLITIK
IN DEN
D ISABILITY S TUDIES
Im Allgemeinen erhebt Identitätspolitik nicht einfach nur einen Anspruch auf Inklusion oder Respekt, sondern auch auf spezifische Verbesserungen, z.B. auf Chancengleichheit, soziale Gerechtigkeit, Selbstbestimmung oder Verbesserung der politischen Partizipationschancen. Identitätsgruppen organisieren sich um den Anspruch, dass sie auf Grund bestimmter Eigenschaften, die sie als Gruppe besonders kennzeichnen, Gegenstand sozialer Ungerechtigkeit oder Opfer fehlender Anerkennung sind.
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Identitätspolitiken werfen, so Scully (2008) in einem Kapitel mit dem Titel „Political Recognition and Misrecognition“, zwei wichtige Fragen auf. Das ist erstens die Frage nach der Richtigkeit der behaupteten Unrechtserfahrung sowie der daraus abgeleiteten Ansprüche. Zu dieser Problematik merken Ikäheimo und Laitinen (2007) an, dass nicht alle in den politischen Arenen artikulierte Ansprüche auf Anerkennung kritiklos hinzunehmen sind. Einerseits sind Gefühle von Missachtung unverzichtbare Indikatoren für die Identifizierung von verweigerter oder unzureichender Anerkennung; andererseits sind Gefühle alleine nicht hinreichend bei der Klärung, ob eine Erfahrung tatsächlich eine anerkennungsrelevante Missachtungserfahrung ist. Die Bestimmung der Legitimität einer behaupteten Missachtung erweist sich allein schon deshalb als schwierig, weil Akteure, Adressaten und Beobachter von (potentiell missachtenden) Handlungen diese höchst unterschiedlich deuten und bewerten können. Deshalb muss eine kritische Theorie der Anerkennung den genauen Gehalt von Gefühlen der Missachtung und daraus abgeleiteten Ansprüchen auf Anerkennung benennen und gewichten können. Das normative Gewicht solcher Ansprüche muss, so die beiden Autoren, in kollektiven Diskursen diskutiert und festgelegt werden. „This certainly requires that the subjects of these feelings, experiences, and demands are seriously respected as communication partners, but it does not mean that their viewpoint alone decides the truth of the matter in each case.“ (Ikäheimo/Laitinen 2007, 56) Diese diskursethische Strategie, so sei hier angemerkt, kann aber überhaupt nur dann aufgehen, wenn sich alle Diskursteilnehmer auf einen verbindlichen gemeinsamen Wertehorizont sowie den evaluativen Gehalt von Gefühlen oder Erfahrungen einigen können. Im Falle von Dissens – oder bereits im Vorfeld: wenn die Anerkennung beanspruchenden Individuen oder Gruppen nicht als Diskurspartner respektiert werden – geht die Strategie nicht auf. Zweitens stellt sich die Frage nach der Gültigkeit der beanspruchten Gruppenidentität – zugespitzt gefragt: ‚gibt‘ es eine solche Gruppenidentität überhaupt? Es ist insbesondere die Problematik der Identität, die in verschiedenen Theorien sehr unterschiedlich behandelt wird und eine Reihe von kritischen Nachfragen auf sich zieht. Auf diese werde ich mich nachfolgend konzentrieren. Mit Blick auf die Frage einer kollektiven Identität von Menschen mit Behinderungen ist es bei genauerem Hinsehen keineswegs klar, welche Merkmale oder Eigenschaften allen Angehörigen dieser sehr heterogenen
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Gruppe gemeinsam sein sollen. Was haben beispielsweise Menschen mit Cerebralparese, Down-Syndrom, Lernschwierigkeiten, (s)elektivem Mutismus und Gehörlosigkeit gemeinsam, was sie zugleich von anderen Gruppen (bzw. der Gruppe der ‚Nicht-Behinderten‘) unterscheidet? Allgemein formuliert: Was genau ist die differentia specifica, durch die sich diese Gruppe einerseits von anderen Gruppen unterscheidet und andererseits in ihrer Eigenart charakterisieren lässt? Diese Frage lässt sich unterschiedlich beantworten. Eine Möglichkeit, Gruppenidentitäten zu definieren, besteht darin, medizinisch beschreibbare phänotypische Abweichungen – etwa anhand bestimmter Typen von Schädigung – herauszuarbeiten, etwa Körperoder Sinnesbehinderungen. Die Gruppenidentität würde sich in diesem Fall also um abweichende Körper herum organisieren. Da es aber Schädigungen in unterschiedlichen Ausprägungs- und Schweregraden gibt, nicht alle Schädigungen am Phänotyp festgemacht werden können (z.B. Lernschwierigkeiten) und überdies die Grenzen zwischen Normalität und Abweichung fließend sind, ist dies ein eher unscharfes Kriterium. Eine zweite in der Literatur erwogene Möglichkeit setzt nicht bei der physischen Schädigung an, sondern bei der Unterdrückungserfahrung. Dieses Kriterium spielt in den britischen Disability Studies eine wichtige Rolle. Dort wird Behinderung als Form der sozialen Unterdrückung verstanden (vgl. Thomas 2004: 33). Jedoch ist keineswegs klar, ob Unterdrückung oder Diskriminierung tatsächlich universelle und invariante Erfahrungen aller Menschen mit Behinderungen sind. Unter anderem müsste in diesem Zusammenhang auch geklärt werden, ob die Erfahrungen behinderter Menschen, beispielsweise benachteiligt, separiert, ausgeschlossen, bemitleidet, unsicher beargwöhnt oder missachtet zu werden (um nur einige Beispiele zu nennen) alle im Begriff der Unterdrückung angemessen zusammengefasst werden können. Bei genauem Hinsehen erweist es sich als schwierig, das reichhaltige und heterogene Erfahrungsspektrum behinderter Menschen unter dem Globaltitel der Unterdrückung zu subsumieren. Bereits diese wenigen Überlegungen machen deutlich, dass eine kollektive Identität behinderter Menschen offensichtlich nur um den Preis gefunden werden kann, höchst unterschiedliche Schädigungen bzw. Beeinträchtigungen (Möglichkeit 1) oder Erfahrungen (Möglichkeit 2) zu verdinglichen und zu homogenisieren (vgl. Scully 2008: 139). Bei genauem Hinsehen erweisen sich beide Versuche, ein Identitätsmodell zu konstruieren, als
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reduktionistisch. Auf eine weitreichende ethische Konsequenz eines solchen Reduktionismus werde ich weiter unten eingehen. Zunächst jedoch soll auf weitere Einwände hingewiesen werden, die die Behauptung einer kollektiven Identität behinderter Menschen auf sich zieht. Der erste Einwand stammt von Davis (2001) und stellt heraus, dass ‚Behinderung‘ im Gegensatz zu anderen Identitätskategorien wie ‚Geschlecht‘, ‚Rasse‘ oder ‚ethnische Zugehörigkeit‘ erheblich instabiler und ‚poröser‘ ist. Zum einen kann potentiell jeder behindert werden, zum anderen können manche als ‚Behinderung‘ angesehenen Beeinträchtigungen oder Schädigungen geheilt werden – ,Behinderung‘ erweist sich demnach als weniger abgegrenzt und eindeutig als andere Identitätskategorien. Mit Davis lässt sich zweitens einwenden, dass ‚Behinderung‘ ein viel weniger profilierte und anerkannte Identität ist als andere Identitäten. So berichtet Davis: „Indeed […], disability is often struck from the list of required alterities because it is seen as degrading or watering down the integrity of identity.“ (Davis 2001: 537) Weil ‚Behinderung‘ ein negativ aufgeladener Begriff ist, droht sie die Idee einer positiven Identität zu beschädigen. Dieser Einwand ließe sich nur dann entkräften, wenn es gelänge, den Terminus positiv zu besetzen, wie es etwa mit der Formel ‚disability pride‘ versucht wurde. Der dritte Einwand wird von Scully (2008) diskutiert. Er greift den Vorwurf des Reduktionismus auf: Die Eigenart, Qualität oder gar der Wert des Lebens eines Menschen wird an einem spezifischen Merkmal festgemacht. Scully weist auf eine ironische Nähe solcher Identitätskonstruktionen zur Praxis des selektiven Schwangerschaftsabbruchs hin. In beiden Fällen wird ein Aspekt oder eine Eigenschaft als repräsentativ, zentral oder entscheidend für das gesamte Leben gesehen. Wie der Wert eines Kindes mit Down-Syndrom von seiner Trisomie 21 her bestimmt wird, wird die Gruppenidentität von einem spezifischen Merkmal her bestimmt, sei es der phänotypischen Abweichung, sei es der Unterdrückungserfahrung. Der vierte, ebenfalls von Scully diskutierte Einwand besagt, dass die Definition oder Konstruktion einer kollektiven Identität behinderter Menschen einen normativen Druck auf die betreffenden Personen entfalten kann. Wenn Behinderung an einfachen allgemeinen Merkmalen festgemacht werden kann, dann können diese Merkmale auch zur Unterscheidung von ‚richtigem‘ von ‚falschem‘ Behindertsein herangezogen werden. Die Zugehörigkeit zu der Gruppe der Behinderten muss dann unter Androhung
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des Verlustes der materiellen, psychischen und sozialen Vorteile, zu dieser Gruppe zu gehören, erst einmal (und gegebenenfalls immer wieder aufs Neue) nachgewiesen werden. Dem fünften Einwand zufolge kann eine kollektive Identität für die Individuen selbst negative Auswirkungen haben, etwa, indem sie zur Ausprägung einer Opfermentalität führt. Einzelne Gruppenmitglieder könnten mit anderen Worten durch die Verinnerlichung einer Opferhaltung als konstituierendes Element ihrer Identität beschädigt werden (vgl. Scully 2008: 142 f.). Ein letzter Einwand schließlich betrifft die Frage, ob ‚Behinderung‘ überhaupt eine identitätsrelevante Kategorie darstellt. Nach Sherry ist die Behinderung für manche Person der am wenigsten bedeutsame Aspekt ihrer Identität, während andere betonen, dass sie zentral für ihr Leben und ihre Persönlichkeit ist (vgl. Sherry 2006: 906). Angesichts all dieser Einwände stellt sich die Frage, ob die Rede von einer kollektiven Identität behinderter Menschen als tragfähiges und nützliches Konzept anzusehen ist. Scully (2008) bejaht diese Frage trotz aller Einwände. Jedoch dürfen Identitäten aus ihrer Sicht nicht essentialistisch gefasst werden. Vielmehr handelt es sich um Konstrukte mit politischstrategischer Funktion. Laut Scully zeigt die Geschichte der Behindertenbewegung, dass sich ein solches Konzept als nützlich erwiesen hat, weil es zu substanziellen Verbesserungen des Lebens behinderter Menschen beigetragen hat: „Collective political self-identification has been a major factor (though not the only one) in bringing about change for the better in the social and economic status of disabled people over the last century.“ (Scully 2008: 144) Diese strategische Ausrichtung hat zwei Stoßrichtungen: Einerseits geht es darum, in den politischen Arenen als Akteure anerkannt zu werden, andererseits aber auch um den Prozess der Selbstdefinition, durch den sich die Betroffenen aus der Umklammerung negativer und stigmatisierender Fremddefinition befreien wollen. In diesem Sinne verstanden ist Identität nicht etwas Zugeschriebenes, sondern etwas, das erarbeitet werden kann und für positive Entwicklungen im eigenen Leben steht. Gegenüber der vorab genannten Gefahr, eine Opfermentalität zu entwickeln, wird umgekehrt die Chance des individuellen Empowerments betont: Die Identifikation mit einer Gruppe, die gesellschaftliche und politische Veränderungen herbeiführt, kann nach Scully die Individuen stärken.
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Eine etwas anders gelagerte Frage in diesem Zusammenhang lautet, ob politische Identität die Quelle der Politik ist oder ihr Effekt. Während die eine Perspektive davon ausgeht, dass bestimmte Erfahrungen und aus ihnen abgeleitete Ansprüche aus einer Identität folgen, sagen die anderen – so vor allem poststrukturalistische Theoretiker in Anschluss an Foucault – dass Identitäten ein Effekt politischer Machteinwirkung sind. Anders formuliert steht in Frage, ob ein Anspruch auf Anerkennung überhaupt erst dann erhoben werden kann, wenn bereits eine Identität besteht, oder ob diese Identität erst durch den Prozess der Anerkennung gestiftet wird. Diese Frage ist deshalb von Belang, weil keineswegs klar ist, ob die vorausgesetzte und die gestiftete Identität identisch sind. In dieser Debatte nimmt Scully eine vermittelnde Stellung ein, indem sie ein dialektisches Verhältnis annimmt: Kulturelle und politische Identitäten werden demnach einerseits durch den Kampf um Anerkennung verfestigt, ohne jedoch durch ihn hervorgebracht zu werden. Identität und Handlung sind rekursiv aufeinander bezogen. Obwohl Scully einer phänomenologisch orientierten Theorie verkörperter Identität nahe steht, münzt sie die Frage nach dem ontologischen Status der Identität eher pragmatischstrategisch um. Faktisch, so Scully, ist die Frage nach der Existenz oder Nicht-Existenz einer kollektiven Identität irreführend. Denn die Erfahrung von Menschen sowie empirische Befunde zeigen, dass kollektive Identitäten tatsächlich Folgen zeitigen – und, sofern die Folgen erwünscht sind, nützlich sind: „The emergence of ‚disability‘ as an organizing concept and of ‚disabled people‘ as a political grouping so closely parallels improvements in disabled people’s social and economic status that it is impossible to deny a relationship, albeit not entirely straightforward, between the two […]. There is also some evidence that the growing profile of disability activism has changed the forms of identification that disabled people use.“ (Scully 2008: 150)
D IE T HEORIE
VERKENNENDER
ANERKENNUNG
Im nächsten Schritt meiner Überlegungen möchte ich ein fundamentaleres Problem der Idee der Identität diskutieren. Wie bereits angedeutet wurde, kreist eines der Schlüsselprobleme der Anerkennungstheorie um die Frage,
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ob und wie Anerkennung alteritätstheoretisch gedacht werden kann. Dieses Problem stellt sich dann, wenn Differenz nicht innerhalb des Schematismus von Allgemeinem und Besonderem gedacht und somit (wie in den im vorangehenden Abschnitt nachgezeichneten Debatten) an exklusiven empirischen Kriterien festgemacht wird, sondern radikal gefasst wird. Differenz radikal zu verstehen erweist sich schon auf sprachlicher Ebene als kaum lösbares Problem: Jeder Versuch, den Anderen als Anderen kategorial zu erfassen, überführt diesen in ein begrifflich-kognitives, soziales oder ästhetisches Ordnungsgefüge. Demgegenüber verweisen Begriffe wie ‚Differenz‘, ‚Andersheit‘, ‚Alterität‘ oder ‚Nicht-Identität‘ auf etwas, was nicht positiv durch Begriffe oder im Lichte psychologischer, anthropologischer oder sonstiger kriteriengenerierender Theorien einholbar ist. Sie zeigen etwas Unbestimmtes und Unverfügbares an, das dennoch „nicht nichts“ (Gamm 2000) ist und so – indirekt und nicht positivierbar – ebenso für die Ethik wie für die Bildungs- und Heilberufe bedeutsam ist. Nun findet Anerkennung grundsätzlich in sozialen Räumen statt. Prozesse des Anerkennens sind in Strukturen und Ordnungsgefüge verwickelt, „die die Form dessen, was anerkannt werden soll, vorab bestimmen“ (Bedorf 2010: 95). Solche Strukturen und Ordnungsgefüge haben immer auch regelnde oder regulierende Funktionen. Ohne sie sind funktionierende soziale Beziehungen ebenso unmöglich wie arbeitsfähige gesellschaftliche Institutionen und Organisationen. Sie geben vor, nach welchen Mustern, Regeln, Schemata, Erwartungen, Werten, Rollenerwartungen usw. Menschen miteinander interagieren und kommunizieren, wie Probleme erkannt, benannt und bearbeitet werden, wie Normalität aufgefasst wird und was in einem normativen Sinne als richtig oder falsch gilt (vgl. hierzu Waldenfels 1987). Ein wichtiger Effekt solcher Strukturen und Ordnungsgefüge ist, dass sie die beteiligten Personen auf bestimmte Hinsichten hin festlegen. Wer in welcher Hinsicht oder als was anerkannt wird, ist daher auch von solchen Ordnungsgefügen abhängig. Hieraus aber folgt, dass Anerkennungsbeziehungen nie in ‚Reinform’, jenseits gesellschaftlicher Ordnungen und Strukturen, zu haben sind. Untersucht man Anerkennung von den Strukturen oder Ordnungsgefügen her, innerhalb derer sie stattfindet, erweist sie sich im Sinne Foucaults (2005) als Subjektivierungsform und insofern als Machtmechanismus. Dies aber heißt, dass Anerkennung einen produktiven Charakter hat – sie ist ein Beitrag dazu, Individuen auf eine bestimmte
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Weise hervorzubringen: als entrechtete, missachtete, angesehene, wertgeschätzte usw. Dabei sind es konkrete empirische Merkmale wie beispielsweise Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Schönheit, Hautfarbe, ethnische, soziale oder religiöse Zugehörigkeit, sexuelle Orientierung usw., die als Kriterien dafür fungieren, ob und in welcher Hinsicht jemand anerkannt wird oder nicht. An diesem Punkt wird nun auch ein anderes Problem sichtbar: Wenn in Strukturen und Ordnungsgefüge eingebettete Prozesse der Anerkennung diejenigen, die anerkannt werden, auf der Grundlage gesellschaftlich bestimmter empirischer Kriterien als in spezifischer Hinsicht Anerkannte/Nichtanerkannte hervorbringt, so bringt dieser Vorgang des Anerkennens Differenz im Sinne radikaler Alterität zum Verschwinden. Aus dieser Problemskizze ergibt sich, dass ein anspruchsvoller und zeitgemäßer Anerkennungsbegriff sowohl das Problem machtgestützter Identifizierung und Subjektivierung als auch eine radikal gedachte Differenz in sich vereinigen können muss. Einen solchen Versuch unternimmt Bedorf (2010) in seinem Buch „Verkennende Anerkennung“. Im Mittelpunkt der Studie steht einerseits die Frage nach dem Verhältnis von Erkennen und Anerkennen, andererseits geht es um die Frage, wie Anerkennung differenz- bzw. alteritätstheoretisch gedacht werden kann. Hierzu wird zunächst die Struktur von Anerkennungsprozessen herausgearbeitet. Nach Bedorf ist diese Struktur in ihrem Kern durch eine ambivalente Spannung zwischen Identifizierung und Identität gekennzeichnet. Sie besteht darin, dass jemand als etwas bzw. als jemand anerkannt wird. Wenn etwas als etwas anerkannt wird, findet eine Verdoppelung statt: an einem Pol dieses Spannungsverhältnisses befindet sich die auf ihre Identität berufend und Anerkennung einfordernde Person, am anderen Pol steht die Hinsicht, in der sie identifiziert und anerkannt wird. Durch dieses Spannungsverhältnis tut sich einerseits ein Spalt auf – weil aber Identität und Identifizierung zwei Seiten einer Medaille sind, wird das so Getrennte andererseits durch die Anerkennung zusammengebunden. Hierbei ist folgendes entscheidend: „Als was etwas oder jemand anerkannt wird, versteht sich nicht von selbst, sondern steht vielmehr in der Anerkennung auf dem Spiel. Dabei wird deutlich, dass die zweistellige Relation x erkennt y an das Verhältnis nur unzureichend beschreibt. Vielmehr handelt es sich um eine dreistellige Relation, in der x y als z anerkennt. Nur so kann der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die anzuerkennende
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Identität nicht mit der Identität des Anerkannten zusammenfällt.“ (S.121 ff.; vgl. auch Ikäheimo/Laitinen 2007: 35 ff.)
Wie das genau zu verstehen ist, wurde zu Beginn dieses Abschnitts bereits angedeutet: Wenn Anerkennung bedeutet, jemanden als jemanden anzuerkennen, so geschieht dies immer vor einem bestimmten Horizont, in einem bestimmten Kontext oder Rahmen spezifischer Strukturen oder Ordnungen. Die durch jemand anderen anerkannte Person wird daher nicht als sie selbst anerkannt, „sondern nur im Horizont eines Mediums, nämlich der Hinsicht, in der es anerkannt wird. Anerkannt werden kann man oder ein Kollektiv für vieles, die Frage ist nur, als was oder wofür. Die Antwort auf diese Frage entscheidet über die Identität, die das Anerkannte annimmt“ (Bedorf 2010: 124). Nun folgt die entscheidende differenztheoretische Pointe. Auf der Grundlage einer Phänomenologie des Fremden (vgl. Waldenfels 1990: 1999), des Konzepts der responsiven Rationalität (vgl. Waldenfels 1994) sowie der Ethik von Levinas (vgl. Levinas 1992) lassen sich Intersubjektivität und Anerkennung als responsiv deuten. Zur Erläuterung greift Bedorf auf das bekannte Beispiel von Emmanuel Levinas zurück, in dem dieser behauptet, es sei das Antlitz des Anderen, dass den Anspruch erhebt: Du sollst mich nicht töten. Entscheidend für Levinas’ Ethik ist die doppelte Annahme, dass das Antlitz des Anderen einen unausweichlichen Anspruch an mich richtet, zugleich aber meinen Wissenshorizont und meine Zugriffsmöglichkeiten stets überschreitet. In dieser Hinsicht versteht Levinas die Andersheit des Anderen als unendlich. Das Unendliche ist dasjenige, was in dem Prozess der Identifizierung des Anderen als etwas Bestimmtes gerade nicht aufgeht. Es ist dasjenige, was am Anderen fremd (im Sinn von unverfügbar) ist und bleibt. Insofern kann behauptet werden: Jemanden in einer gewissen Hinsicht als etwas zu identifizieren und anzuerkennen bedeutet immer zugleich auch, ihn in seiner Andersheit zu verfehlen und ihn dadurch zu verkennen. Damit tut sich im Zentrum der Anerkennung selbst eine hochgradige Spannung auf. Einerseits ist es in der sozialen Interaktion und Kommunikation unumgänglich, den Anderen in spezifischer Weise zu identifizieren: als Professor, Student, Ehemann, Bittsteller, Sträfling usw. Zugleich kommt mit der radikal gedachten Andersheit, der nicht einholbaren Alterität des Anderen ein Moment ins Spiel, das nicht in den Prozess der Identifizierung
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integriert werden kann. „Radikal anders – unendlich – ist der Andere genau in dem Sinne, dass sein Erscheinen als solches das Dass seines Auftretens mit dem Wie der Rollen und Milieus nicht in eins zu setzen ist“ (Bedorf 2010: 138). Es ist genau dieser Überschuss an Andersheit, „der in den Rollen, Identitäten und Masken, die dem anderen unweigerlich zugeschrieben werden, nie ganz aufgeht, das Subjekt in die Position eines Angesprochenen (‚Akkusativ-Subjekt‘) und damit eines Antwortenden versetzt.“ (Ebd., S. 140) Mit dem Ansprechen und Antworten kommt ein weiteres grundlegendes Merkmal einer alteritätstheoretischen Fassung von Anerkennung ins Spiel, nämlich ein Moment radikaler Asymmetrie. Das Auftauchen des Anderen, geht, wie bereits angedeutet wurde, mit einem unausweichlichen Anspruch einher. Dass ich mich gegenüber einem Anderen verhalten muss, hat seinen Ursprung also nicht in mir selbst als einem autonomen Subjekt, von dem alle Initiative ausgeht – vielmehr stoße ich auf etwas Vorgängiges, was außerhalb meiner Macht liegt und sich mir entzieht. Da die Antwort dem Auftreten des Anderen nachgeordnet ist, kann ich nicht nicht antworten. Sehr wohl aber liegt es an mir, wie ich mich auf den Anderen beziehe, also ob ich mich zu- oder abwendend, gleichgültig oder mitfühlend, menschlich oder unmenschlich verhalte. Dies liegt in meiner Freiheit und in meiner Verantwortung. Damit wird aber auch deutlich, dass die Unausweichlichkeit des Anspruchs des Anderen, mit der ich in jeder Fremderfahrung konfrontiert werde, einerseits jeder ausdrücklichen Anerkennung vorausgeht. Deshalb muss Anerkennung als responsives Geschehen verstanden werden. Andererseits macht es das zu verantwortende responsive Verhalten unumgänglich, den Anderen als etwas Bestimmtes zu identifizieren, sonst wäre eine konkrete Antwort schlechterdings nicht möglich. Somit erweisen sich Responsivität, Asymmetrie und Identifizierung als grundlegende Strukturmerkmale der Anerkennung. „Anerkannt wird der oder die Andere als jemand, als sterblich, als Vernunftwesen, Person oder Subjekt, in der spezifischen Rolle eines Familienmitglieds, eines Bürgers, eines Berufsvertreters, eines Amtsinhabers, oder auch eines Habenichts, eines Staatenlosen, und all dies in wechselnder kultureller Färbung.“ (Waldenfels 2006: 76)
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In der Antwort schlägt also die Begegnung mit dem Anderen in seiner unendlichen Andersheit um in seine kontext- und kriterienabhängige Identifizierung als einen in spezifischer Weise Anderen. Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass die Frage nach dem Verhältnis von Erkennen und Anerkennen ein zentrales Thema der Debatte ist. Nach dem hier skizzierten Verständnis sind beide zwar analytisch unterscheidbar, faktisch aber im Prozess der Anerkennung untrennbar. Durch jeden Akt der Anerkennung wird der Andere zu einem identifizierten Anderen und dadurch auf eine bestimmte sozial, situativ und kontextuell bedingte Identität festgelegt. Die anerkennende Antwort auf den vorgängigen Anspruch ist somit davon abhängig, als was oder als wer der Andere erkannt wird. Die unvermeidliche Hinsicht produziert somit eine Deutungsperspektive, die die Richtung oder die Art des Anerkennens bestimmt. Damit erweisen sich auch Erkennen und Anerkennen als gleich ursprünglich: Der Andere ist nur insoweit als ein je spezifischer Anderer anerkennbar, als er als dieser oder jener Andere erkannt wird. Genau hierin steckt nach Bedorf auch der Aspekt der Verkennung, der jedem Akt der Anerkennung innewohnt: Weil jede Anerkennung den Anderen immer nur aspekthaft und in einer spezifischen Hinsicht in ein Anerkennungsmedium integrieren kann, verkennt sie ihn zugleich notwendigerweise als Anderen. „Die Anerkennung des Anderen ist stets nur Anerkennung des sozialen Anderen und in diesem Sinne eine Verkennung seiner absoluten Andersheit.“ (Bedorf 2010: 212)
E XKURS : V ERANTWORTUNG UND G ERECHTIGKEIT In Anschluss an Levinas lässt sich zeigen, dass die elementar-ethische Intersubjektivität, die durch das asymmetrische Aufeinandertreffen von Ich und Anderen mit seinen unausweichlichen Ansprüchen ein Moment der Verbindlichkeit enthält, ein Moment des Mich-Meinens, der NichtIndifferenz. Nun gibt es nicht nur den einen Anderen, sondern viele Andere, und zwar von Anfang an. In „Totalität und Unendlichkeit“ (1992) weist Levinas darauf hin, dass mich in den Augen der Anderen immer schon der Dritte ansieht (vgl. S. 307 f.). In der sozialen Welt der symbolischen Ordnungen, Normen, Werten und Standards tritt der Andere niemals alleine auf, sondern stets mit anderen Anderen. Da von all diesen Anderen An-
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sprüche ergehen, wird es im sozialen Raum unvermeidlich, an sich unvergleichliche Ansprüche miteinander zu vergleichen und abzuwägen. Genau hierfür steht die Figur des Dritten. Die vielen und in der Regel auch unterschiedlichen Ansprüche stehen in Konkurrenz miteinander, was deren Vergleich, Abwägen und Hierarchisieren unvermeidlich macht. Dies ist der Moment der Gerechtigkeit (vgl. ebd., S. 342 ff.). Dass Anerkennung im sozialen Raum erfolgt, hat also nicht nur die Konsequenz, dass der singuläre Andere als ein spezifischer und sozialer Anderer identifiziert und dadurch immer auch verkannt wird. Es impliziert auch, dass den unendlichen Ansprüchen des Anderen nicht in ihrer Totalität genüge getan werden kann. Im Zeichen des Dritten müssen diese Ansprüche vielmehr gerechtigkeitsethisch bewertet und abgewogen werden. Die Quelle der ethischen Verbindlichkeit im sozialen Feld ist jedoch nicht ein Set von gesetzten Normen und Regeln, sondern „das ethische Moment der Erfahrung des Anderen“ (Bedorf 2010: 210). Wie Levinas betont, ist der soziale Dritte von Anfang an in der Begegnung mit dem einen Anderen – Levinas selbst spricht häufig auch vom ‚Nächsten’ – gegenwärtig. Zugleich gilt: „Meine Beziehung mit dem Anderen, dem Nächsten, gibt meinen Beziehungen mit allen Anderen ihren Sinn.“ (Levinas 1992: 346) Gerechtigkeit, Gesellschaft, Staat und Institutionen sind daher „von der Nähe her aufzufinden“ (S. 347). Erst die Zurückbindung des sozialen Feldes mit seinen als gleich anzusehenden Akteuren, den ‚Dritten‘, an die asymmetrische Dyade mit ihren vom Anderen ausgehenden Ansprüchen erschließt eine Quelle der ethischen Verbindlichkeit. In diesem Sinne heißt es bei Levinas: „Die Gerechtigkeit bleibt nur Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Fernen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen.“ (S. 247)
V ERKENNUNG UND ACHTSAMKEIT Wie vorab deutlich wurde, ist die soziale Welt durch eine Konkurrenz der Ansprüche gekennzeichnet. Während die dyadische Beziehung mit dem Anderen die Quelle der ethischen Verbindlichkeit ist, kann die Anerkennung des Anderen nur auf der Ebene des Dritten erfolgen. Auf dieser Ebene wird das alteritätstheoretisch Unvergleichbare vergleichbar gemacht. Dies
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ist, wie vorab gezeigt wurde, einerseits gerechtigkeitsethisch unumgänglich, enthält aber andererseits auch den Moment der Verkennung. Diese Überlegungen sind auch für die Identitätspolitik relevant. Da Anerkennung immer nur heißen kann, jemanden in einer spezifischen Hinsicht anzuerkennen, bringt Anerkennung eine Identität ins Spiel, der sich der Andere als absolut Anderer stets entzieht. Indem ich dem Anderen, von dem ein unausweichlicher Anspruch an mich ergeht, antworte, weise ich ihm eine spezifische soziale Identität zu, die ihren Platz im Rahmen einer sozialen symbolischen und machtdurchsetzten Ordnung hat. Durch die Anerkennung wird dem Anderen eine Identität zugeschrieben, in der eine spezifische soziale Hinsicht manifest wird. Diese durch die Anerkennung sozial zugewiesene Identität ist jedoch nur aspekthaft, vorläufig, inkohärent und letztlich kontingent. Wenn auch Bedorf zufolge jeder Akt des Anerkennens unausweichlich eine Verkennung (nämlich der radikalen Andersheit) ist, so stellt sich die Frage, ob diese Verkennung in harte, fixe, starre Zuschreibungen münden muss, oder ob sie alteritätsethisch abgefedert werden kann. In Anschluss an Adorno (1997) möchte ich hierzu einige wenige Hinweise anfügen. Adorno, der im Sinne einer Alteritätstheorie vom Nichtidentischen spricht, verteidigt mit seiner Philosophie einen Blick auf den Menschen, der diesen der Identifikation, der Festlegung auf ein So-und-nicht-anders, entzieht. Das Individuum weist gegenüber dem Schematismus von Allgemeinem und Besonderem einen Überschuss auf und ist daher nicht identisch mit dem, was es als soziale Person bestimmt. „In der Person erscheint dies Unterscheidende notwendig als das Nichtidentische.“ (Adorno 1997: 273) Auch wenn dieses Nichtidentische nicht kategorial fixierbar ist, so scheint es doch im Antlitz und in der leiblichen Präsenz des Anderen auf. Es ist genau die Nichtwahrnehmung und Nichtachtung dieses Nichtidentischen, das zu Verdinglichung und Entfremdung führt. „Ungebrochen allmenschliche Parolen taugen dazu, erneut dem Subjekt gleichzumachen, was nicht seinesgleichen ist.“ (S. 191) Die begriffliche Identifikation, die Fixierung eines Individuums oder einer Gruppe auf identitätskonstitutive Merkmale ließe sich also durch den Verzicht auf einen vereinnahmenden Gestus vermeiden: „Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, dass es in der gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des Heterogenen wie des Eigenen.“ (S. 192) Das bedeutet: Die Überwindung des identi-
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fizierenden Denkens erfordert eine Freigabe des Anderen, und das heißt die Kultivierung eines Blicks, die sich seiner Andersheit annähert, ohne diese zu vereinnahmen. In einem Kommentar hierzu spricht Seel (2004) von einem teilweise entfunktionalisierten Erkennen des Anderen (vgl. S. 60). Ohne Zweifel ist der Blick auf den Anderen begrifflich geprägt: „Er nimmt sein Gegenüber also als etwas wahr, das diese und jene Beschaffenheit zeigt. Nur ist es kein von prädikativen Zuschreibungen beherrschter Blick. Er legt das Gegenüber nicht auf diese oder jene Akte seiner Erfassung fest. Dies setzt einen Gebrauch von Begriffen voraus, der die Gegenstände des Erkennens nicht überwältigt, sondern zu ihnen in ein Verhältnis der Anerkennung tritt, in dem Erkennendes und Erkanntes füreinander da sind, ohne voneinander dominiert zu werden.“ (S. 59)
In Anschluss an Gamm (2000) ist Anerkennung, sofern sie eine verkennende Fixierung von Identitäten vermeiden möchte, „ein gleichsam flottierendes, frei bewegliches, extrem fragiles Medium […], das schon beim Versuch, es in die eigene Reichweite oder Gewalt zu bringen, augenblicklich zerstört wird“ (S. 214). Der Überschuss der Nichtidentität (bzw. Andersheit/Unendlichkeit) bedeutet insofern eine Nichtexklusivität, als er den in der Anerkennung auf eine bestimmte Hinsicht festgelegten Anderen zwar fixiert, aber nicht in eine Identität einsperrt.
S CHLUSSBEMERKUNG Im Raum des Politischen ist Anerkennung eine „Praktik des als-ob“ (vgl. Bedorf 2010: 219). Politisch werden kontingente Identitäten dadurch, dass ihre Anerkennung im gesellschaftlichen und politischen Raum öffentlich eingefordert wird. Hier spielt unweigerlich ein Moment des Strategischen eine Rolle. Identitäten werden im politischen Raum behauptet, gesetzt und inszeniert. Ohne diese politische Darstellung und Inszenierung gibt es die Identitäten in gewisser Weise nicht. So gesehen werden in Konfliktsituationen Identitäten aufgerufen und Subjektpositionen geformt, „die es Subjekten erlauben (vorläufig) auf bestimmte Weise zu sprechen“ (ebd.). Diese Position wird auch ‚strategischer Essentialismus‘ genannt. Ein solcher strategischer Essentialismus erlaubt es, Identitäten eine gewisse Kohärenz und Einheitlichkeit zuzusprechen. Zugleich werden diese Identitäten als Kon-
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struktion oder Projektion ausgewiesen, die keine ontologische Totalitätsund Authentizitätsansprüche erheben. Der strategische Essentialismus kann daher auch als Versuch verstanden werden, Kontingenzen, Brüche, Dissonanzen und uneinholbare Differenz in das Konzept der Identität aufzunehmen, ohne dieses seiner politischen Stoßkraft zu berauben. Vor den skizzierten theoretischen Hintergründen bewegt sich eine auf Anerkennung abzielende Identitätspolitik auf einem schmalen und prekären Grat. Für den Prozess der Anerkennung ist die zumindest zeitweise Festlegung auf eine klar umschriebene Identität, d.h. die Anerkennung als etwas oder jemand bestimmtes, offensichtlich unvermeidbar. Sobald jedoch das strategische Moment entfällt, droht sich die kontingente und vorläufige Identität zu verfestigen. Aus der Betrachtung als-ob wird eine Zuschreibung mit ontologischem Gewicht. Derart fixierte Identitäten drohen Individuen oder Gruppen auf eine bestimmte Hinsicht festzulegen, d.h. zu verdinglichen. Der Prozess des Sozialen wird pathologisch, wenn er den fortlaufenden Prozess des Anerkennens unterbricht und Identitäten auf eine bestimmte Hinsicht einfriert. Es ist genau dieser schmale Grad, auf dem sich die Identitätspolitik behinderter Menschen bewegt. Trotz aller kritischen Einwände skizziert Scully (2008) im Schlusskapitel Ihres Buchs die Bedeutung einer kollektiven Identität für Menschen mit Behinderungen und ihre Anerkennung. Letztlich geht es ihr darum zu zeigen, dass es für die Bioethik (sie steht im Fokus der Überlegungen Scullys) unumgänglich ist, spezifische Erfahrungen behinderter Menschen, die sich zu subjektiven Identitätskonstruktionen verdichten, zur Kenntnis zu nehmen und zu respektieren. Bei aller Kritik an Identitätskonstruktionen sind verkörperte Erfahrungen von Schädigungen für Scully ein entscheidendes Merkmal der Identität behinderter Menschen, so unterschiedlich diese Erfahrungen auch sein mögen. Die Entscheidung, diesen Erfahrungen angemessene Aufmerksamkeit zu widmen, ist in sich selbst ein ethischer Akt. Das Ethische dieses Aktes besteht in der Entscheidung, die biographische Narration einer Person mit Behinderung ernst zu nehmen und zu respektieren. Das schließt, wie Scully betont, keineswegs aus, hierzu eine kritische Haltung einzunehmen. Identität ist in dieser Perspektive das Resultat von Verkörperung und Narrationen. Beide sind sozial eingebettet und rufen Reaktionen und Antworten hervor. Identität ist, wie Scully in Anlehnung an phänomenologi-
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sche und feministische Quellen herausstellt, ein in verschiedene Kontexte eingebetteter Prozess. Demgemäß ist eine gelingende identitätsrelevante Kommunikation Voraussetzung dafür, eine klare stabile Identität zu entwickeln. Aus diesem Zugang ergibt sich nach Scully eine Verpflichtung für Ethiker/Bioethiker, den zugleich empirischen und subjektiven Fakten des Lebens von Menschen mit Behinderung mit einer epistemischen Offenheit zu begegnen, sie als Betroffenenperspektive ernst zu nehmen und in ihren Theorien und Urteilen angemessen zu würdigen. „If some form of a collective disability identity makes a significant difference to the lives of some disabled people, a bioethics that takes disability seriously needs to take note of it, as part of its empirical work of grasping actual moral understandings, and also to identify ways of bringing the opinions of disabled people into bioethical discourse.“ (Scully 2008: 151)
Angesichts der Heterogenität der verschiedenen Behinderungen und der keineswegs einheitlichen Erfahrungen behinderter Menschen liegt es dabei nahe, über den Ansatz von Scully hinauszugehen und von einer Identitätspolitik behinderter Menschen zu einer Queer-Politik überzugehen, die gerade nicht an spezifische Identitäten gebunden ist. Nach Scully (2008) geht es nicht darum, die konkrete Existenz einer Person mit Behinderung anhand vorgegebener Maßstäbe oder Kriterien oder auch Normalitätserwartungen zu beurteilen, sondern die individuellen Erfahrungen und die mit ihnen verknüpften subjektiven Wahrheiten von Menschen zu würdigen. Ein solcher Zugang zu Menschen mit Behinderungen kann uns für das öffnen, was Scully „the presence of varied embodiment“ (S.175) nennt. Auch eine solche Annäherung an Menschen mit Behinderung kann die Verkennung im Sinne Bedorfs (2010) nicht umgehen. Jedoch eröffnet sie die Möglichkeit zu einem zumindest teilweise entfunktionalisierten Erkennen des Anderen, wie es von Seel (2004) in Anlehnung an Adorno in Aussicht gestellt wird. Wenn die Bioethik ein solches Wissen – in dem Erkennen und Anerkennen unlösbar miteinander verschränkt sind – in sich aufnähme, hätte sie ein Instrument an der Hand, das helfen würde, die impliziten Annahmen über Normalität aufzudecken, vor deren Hintergrund viele Moralphilosophen und Bioethiker ihre normativen Überlegungen über Schädigungen und andere Formen menschlicher Abweichung entwickeln. Scully (2008) jeden-
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falls ist der Überzeugung, dass eine „disability bioethics“ einen wichtigen Beitrag dazu leisten kann, die Philosophie für die Praktiken und die mit ihnen verbundenen Gefahren der Fremd- und Selbstrepräsentation zu sensibilisieren. Die Einsicht in die Gefahr systematischer Fehlrepräsentation und Verkennung durch die Konstruktion von Identitäten hat Rückwirkungen auf die Erkenntnisweisen, auf denen philosophisches Denken überhaupt beruht. Für die Bioethik käme es darauf an mitzureflektieren, wie ethische Problemformulierungen, Analysen und Erkenntnisprozesse sowie normative Setzungen durch Praktiken der Identifizierung und Repräsentation beeinflusst werden. Dies könnte die Suche nach Wegen voranbringen, den Fallen der Verdinglichung und Verkennung – und sei es der Verkennung durch Anerkennung – zu entkommen.
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„Ob Du in Frage kommst?“ Zur praktischen Bedeutung und epistemischen Relevanz konstitutiver Offenheit M ECHTHILD H ETZEL
Die aporetische Erfahrung ist für eine Praxis der Gerechtigkeit unverzichtbar. HORN/SCARNO
Gerechtigkeit und Anerkennen gelten als Schlüsselbegriffe zeitgenössischer Ethik. Mit John Rawls Theorie der Gerechtigkeit (1971) setzt eine Renaissance praktischer Philosophie ein. Sein erklärtes Anliegen ist es, im Ausgang von Kants Sittengesetz, der Menschheit in meiner Person als dem allgemein gültigen Kern menschlicher Gerechtigkeit, den klassischen Utilitarismus zu überschreiten. An den Ausbau des „kategorischen Imperativs“ (Kant) in Hegels Anerkennungsethik1 schließen Charles Taylor, Ludwig Siep und Axel Honneth an.2 Von hierher liegt es nahe, Anerkennen und Gerechtigkeit zueinander ins Verhältnis zu setzen. An dieser Stelle gilt mein Interesse, ob und wenn ja, inwiefern Gerechtigkeit und Anerkennen, Kon-
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Zu dieser Lesart vgl. Ritsert 1997: 108f.
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Die Diskussion wird angestoßen durch Ludwig Siep Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie (1979), weitergeführt durch Charles Taylor Multiculturalism and the Politics of Recognition (1992), Axel Honneth Kampf um Anerkennung (1992) sowie schließlich Paul Ricœurs Studie zur Reconnaissance (2006).
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zepte praktischer Philosophie, zu einer ‚nichtexklusiven Ethik der Bildungs- und Heilberufe‘ beizutragen vermögen. Die Antwort auf die Frage, wie sie im Titel dieses Sammelbandes akzentuiert ist, hängt wesentlich davon ab, wie Gerechtigkeit und Anerkennen gefasst werden. Nicht exklusiv wäre ihr Beitrag, so meine These, wenn sie nicht prädikativ und identifizierend zur Geltung kommen: sofern Gerechtigkeit sich nicht darin erübrigt, der Einzelnen das ihr Gemäße als Exemplar einer Gruppe zu bemessen und wenn Anerkennen sich nicht darauf reduzierte, den Anderen als jemanden (über Eigenschaften und Fähigkeiten) Bestimmten anzuerkennen. – Wird die Andere demgegenüber zum Anspruch, zur unaufhörlichen Aufgabe, werden Gerechtigkeit und Anerkennen auf eine nicht exklusive Ethik verwiesen sein. Der fortwährende Anspruch, einander gerecht zu werden oder anzuerkennen, hielte Gerechtigkeit und Anerkennen konstitutiv offen. Anders gewendet stünde Offenheit dafür, dass Konzepte von Gerechtigkeit und Anerkennen sich nicht, in Verlängerung sozialer Marginalisierung, zu einem Kalkül schließen. Die stets aufs Neue vorgebrachte Frage, „wer bist Du?“, lässt nicht zu, sich auf ‚letzte Gründe‘ zu berufen oder Gerechtigkeit und Anerkennen in ‚objektiven Kriterien‘ zu gründen. Die Andere, die gemeinhin als (schwerst) Behinderte gilt, anerkennen hieße, das prädikative ‚als‘ im Akt des Anerkennens partiell auszusetzen. Sie nicht ‚als Behinderte‘ anzuerkennen, wäre dem Anliegen ihr gerecht zu werden verpflichtet. Im Folgenden werde ich aufzuzeigen suchen, dass (die) Offenheit – im Sinne einer Aussetzung des prädizierenden ‚als‘ – Gerechtigkeit und Anerkennen erst zu schlechthin ethischen Begriffen macht. Ich gehe dabei in drei Schritten vor: Zunächst beziehe ich mich auf Theorien der Gerechtigkeit und ihre Aporien. Ein zweiter Abschnitt fragt nach einem Anerkennen jenseits prädizierender Identifikation. Abschließend thematisiere ich Konsequenzen für ein Verständnis des Ethischen.
1) G ERECHTIGKEIT
ALS
P ROGRAMM
Im Mittelpunkt zeitgenössischer Theorien von Gerechtigkeit stehen Überlegungen, die sie im Spannungsfeld zwischen dem Rechten und dem Guten, das heißt formal oder inhaltlich zu bestimmen suchen. Auf dieser Folie wird Behinderung gesellschaftlich in den normativen Horizont sozialer
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Gleichheit gestellt und Exklusion3 negativ als Herstellen von Ungleichheit gewertet. An dieser Stelle setzen, auch von Seiten der Disziplin und Profession (Behindertenpädagogik, Sozialverbände, Selbsthilfeorganisationen usw.), Forderungen nach Gleichstellung ein. Das Anliegen, im theoretischen Rekurs – etwa auf ein Ideal von Verteilungsgerechtigkeit – für ‚behinderte Menschen‘ Partei zu ergreifen, bringt dabei die Zugehörigkeit zu einer ‚Gruppe der Behinderten‘ hervor und reproduziert ihre soziale Marginalisierung auf epistemischer Ebene. Dies gilt für Anwendungsethiken gleichermaßen, die sich im Namen der Gerechtigkeit als Advokat und Fürsprecher der Betroffenen verstehen. Einem verbreiteten Verständnis nach gilt ‚Gerechtigkeit‘ als Programm, das (zum Zweck der Problemlösung) ermöglichen können soll, Konfliktfälle als solche zu identifizieren. Gerechtigkeit entspricht hier einem Kalkül, das knappe Güter und Chancen so zu verteilen in Aussicht stellt, dass jedem das ihm Gemäße zukommt und alle soweit möglich gleich behandelt werden. Eine so verstandene Gerechtigkeit gründet in einem positiven Wissen um die Bedürfnisse derjenigen, denen Güter zugeteilt, wie um die Maßstäbe, nach denen sie verteilt werden sollen. Gerechtigkeit kommt hier einem sozialtechnischen Instrument gleich. Im Verlust der normativen Dimension steht ‚Gerechtigkeit als Programm‘ konstitutiv in der Gefahr, die Begleitumstände (hier: soziale Exklusionen) zu perpetuieren: Szenarien der Verteilungsgerechtigkeit suchen gewöhnlich zu veranschaulichen, wie ein knappes Gut unter Angehörigen verschiedener Gruppen gerecht zu verteilen sei. So soll etwa (a) der Zugang zum öffentlichen Personennahverkehr unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten nicht allen Menschen gleich leicht (oder schwer) gemacht werden. Sofern etwa Rollstuhlfahrende weit stärker auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen seien als andere, sollten sie für deren Nutzung weniger zahlen. – Spenderorgane, in geringer Anzahl vorhanden, stünden (b) unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten insbesondere Menschen zu, für die eine Transplantation gegenüber anderen Betroffenen (ledigen, älteren, mehrfach erkrankten) eine höhere Lebensqualität bedeuten würde. Unabhängig davon, ob ein Gerechtigkeitskalkül Menschen, die als behindert gelten, eher privilegierte oder benachteiligte: Gemeinsam ist beiden
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Dass Behinderung als Ausnahme von der Regel hervorgebracht wird, wird (auch) durch eine Diagnose der sozialen Lage bestätigt; vgl. Hetzel 2007: 33-77.
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Fällen die Interdependenz zwischen der begrifflichen Kategorisierung von Menschen im Zuge der Entscheidungsfindung und sozial wirksamen Mechanismen der Exklusion. Eine im starken Sinne ‚ethisch‘ (in Abgrenzung zu sozialtechnisch) verstandene Gerechtigkeit wird darauf reflektieren. Sie fordert, den spezifischen Ansprüchen von Menschen gerecht zu werden und zugleich in den Blick zu nehmen, dass sich in der Kategorisierung der Anderen (als Behinderte, Alleinerziehende, geringfügig Beschäftigte usw.) Ungerechtigkeit manifestiert. Dieser Reflexionsprozess öffnet die Konzeptualisierung von Gerechtigkeit in einer Weise, wie Jacques Derrida das in drei Aporien andeutet. Für Derrida hebt sich Gerechtigkeit dadurch ab, dass sie sich mit einer dreifachen Offenheit konfrontiert sieht. Die erste Offenheit nennt er „Epoché der Regel“ (Derrida 1991: 46): Stets folgt gerechtes Handeln einerseits einer Regel, richtet sich aus „an einem Gesetz“ (ebd.), andererseits aber gilt es „frei“ zu sein, sich dieser Regel gegenüber zu verhalten, ihre Geltung zu problematisieren. Ein Handeln, das zugleich um seine Abhängigkeit von einer Regel weiß, wie darum, „ohne Regel auskommen“ (47) zu müssen.4 Dass Gerechtigkeit endlos zwischen dem Befolgen der Regel und der Freiheit, sie (nicht) anzuerkennen, oszilliert, führt für Derrida dazu, dass man „niemals in der Gegenwart sagen kann: eine Entscheidung oder irgend jemand sind gerecht“ (48). – Die zweite Aporie der Gerechtigkeit ergibt sich für ihn durch das, was er „Heimsuchung durch das Unentscheidbare“ (49) nennt. Gerechtigkeit verlangt immer eine Entscheidung für (und damit zugleich gegen) bestimmte Handlungsoptionen. Entschieden werden kann aber letztlich nur das Unentscheidbare, das also, was nicht ‚immer schon‘ feststeht. Wäre die gerechte Entscheidung bereits in der Entscheidungssituation präfiguriert, wäre sie keine Entscheidung, sondern eine Operation. Gerechte Entscheidungen gehen mit Widerständen, Spannungen, ungerechten Nebenfolgen einher; keine gerechte Entscheidung kann für sich in Anschlag bringen, in einem starken Sinne gerecht zu sein. – Als dritte Aporie nennt Derrida die der „Dringlichkeit“ (53): Gerechte Entscheidungen erfolgen stets in Ansehung eines Nichtwissens, im mindestens eines noch nicht genug Wissens. Um gerecht zu entscheiden, wäre unendlich viel Zeit vonnöten: die gegeneinander abzuwägenden Ansprüche in ihrer jeweiligen Berechtigung, wie die Situation, in die hinein
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Vgl. in der Terminologie der Diskursethik: ein gerechtes Handeln wäre zugleich „konventionell“ und „postkonventionell“ (Apel 1988).
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interveniert wird, zu verstehen. Ein gerechtes Handeln setzt ein Wissen voraus, das abhängt von Zeit, die nicht vorhanden ist: Die gerechte Entscheidung drängt. Eine Öffnung von Gerechtigkeit, wie sie sich in Derridas Werk abzeichnet, konterkariert die Auffassung, Gerechtigkeit als Kalkül der Zuweisung von sozialen Orten, Gütern und Chancen zu begreifen. Eine ihrer Aporien ‚bewusste‘ Gerechtigkeit wehrt insbesondere einer Aufspaltung in diejenigen, die Gerechtigkeit üben und denen, für oder auf die sie ausgeübt wird, zwischen den Verteilern und denjenigen, unter denen verteilt wird. Den Anspruch, behinderten Menschen gerecht zu werden, begleitet, dass sich Subjekte dieser Gerechtigkeit ihren Adressaten gegenüber abheben. Mit den im Anschluss an Derrida skizzierten Verschiebungen5 am Begriff ‚Gerechtigkeit‘ ist ein Perspektivwechsel verbunden, in dessen Konsequenz die Betroffenen in unterschiedlichen Feldern und Institutionen die Verwirklichung politischer Teilhabe einfordern – eine Teilhabe vor jeder Zuweisung von Identitätszugehörigkeit, wie auch immer.
2) W AS
KANN
‚ANERKENNEN ‘ BEDEUTEN ?
Nicht allein der Begriff Gerechtigkeit, mit Beginn der 1980er Jahre wird ebenso ‚Anerkennung‘ zu einem Schlüsselbegriff ethischer Theoriebildung. Autoren wie Taylor, Habermas und Honneth knüpfen die Anerkennungswürdigkeit von Personen (der Tendenz nach) an Kriterien und damit an ein objektive Gültigkeit beanspruchendes Maß. In Ethiken der Bildungs- und Heilberufe finden Anerkennungstheorien u. a. in der Weise Eingang, dass es darauf ankomme, ihre Klientel als Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Fertigkeiten anzuerkennen. Indessen ist die abstrakte Forderung danach, Behinderte als Menschen anzuerkennen, in sich paradox, sofern sie zunächst eine Differenz zwischen Menschen voraussetzte, die nachträglich unterlaufen werden soll.6
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Dies betrifft Verschiebungen, die teilweise auch von Rawls her, der Gerechtigkeit ebenfalls an ein Nichtwissen bindet, entwickelt werden können; zum Verhältnis Derrida und Rawls vgl. Hitz 2005.
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Hier wird zugleich anschaulich, dass die Grenze zwischen praktischer Bedeutung und epistemischer Relevanz nicht absolut gezogen werden kann.
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In Abgrenzung zu Habermas und Honneth weisen etwa Judith Butler (2003) und Alexander García Düttmann (1997) darauf hin, dass ich den Anderen erst dann im strengen Sinne ‚anerkenne‘, gelingt es mir, von spezifischen Eigenschaften und Leistungen abzusehen und eine (uneinholbare) Andersheit gelten zu lassen. Anerkennen so verstanden belässt den Anderen in einer „Unausdeutbarkeit“ (Gerhard Gamm). Gegen diese Akzentuierung ließe sich einwenden, dass sie mit einer – der identifizierenden Geste prädikativen Anerkennens komplementären – Gefahr einer (schlechten) Gleichgültigkeit einhergehe. Ausgehend etwa von Emmanuel Levinas ist demgegenüber darauf zu insistieren, dass mich ‚Alterität‘, die Andersheit des Anderen nur in concreto verpflichten kann. Anerkennen verweist wie Gerechtigkeit letztlich auf einen aporetischen Anspruch und kann insofern ebenso wenig operationalisiert wie in ein gegen alle Widersprüche abgedichtetes Verfahren überführt werden. Die gesellschaftliche Diagnose, dass schwerstbehinderte Schüler/innen „im Prinzip unerwünscht“ sind (Fröhlich 1993) und noch nach der Aussonderung der Ausgesonderten „übrig“ bleiben, da ihre Schulpflicht „selbst noch“ für Sonderschulen in Frage gestellt sei, wird zum Beweggrund, der Logik von Regel und Ausnahme – der sich noch die Motivation verpflichtet weiß, (auch) Behinderte als Menschen anzuerkennen – zu widerstreiten. Der Widerstreit kleidet sich in eine Unbestimmtheit, die kategorisch gebietet: Ob Du in Frage kommst? Der Frage „wer bist Du“ lässt sich nicht in derselben prädikativen Ordnung nachgehen, in der sie gestellt ist. Eben das heißt, Menschen nicht als Behinderte (auch nicht zum ganz Anderen) zu hypostasieren. In der sich fortwährend erneuernden Ungewissheit, ob Du in Frage kommst, öffnet sich das Anerkennen vom identifizierenden Zugriff auf eine Nicht-Indifferenz, die mich die je verstörenden Züge des Anderen wahrzunehmen wie zugleich einzuklammern veranlasst. Eine Anerkennensethik in diesem Sinne wird die fortwährende Unentschiedenheit, ob Du in Frage kommst, in einer philosophischen Sprache reformulieren und vertiefen, welche die konstitutive Offenheit nicht zu überwinden sucht, sondern positiviert; Ansätze zu einer solchen Sprache sind bereits vorhanden.7 Der spezifisch ethische Gehalt dessen ließe sich abschließend wie folgt para-
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Nicht-Indifferenz hat viele Gesichter: Hinzutretendes (Theodor W. Adorno), Gast (Hans-Dieter Bahr), Antlitz (Emmanuel Levinas); vgl. Hetzel 2007: 161262.
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phrasieren: Kommen für das ‚Menschliche‘ (vgl. Hetzel 2007: 178-187), in dem ich mich bewege, die in Frage, die gemeinhin als schwerstbehindert identifiziert werden, treten sie mir nicht länger ‚als Schwerstbehinderte‘ entgegen. Ob Du in Frage kommst? Wer mit jemandem lacht, für die wird es irrelevant gewesen sein, ob eine (und wenn ja, welche) im Rollstuhl sitzt oder nicht.
3) E THIK
ALS REFLEXIVE I NSTANZ
Offenheit als konstitutives Moment von Gerechtigkeit und Anerkennen auszuweisen hat nicht nur eine hohe praktische Relevanz, sondern tangiert auch das Verständnis von Ethik. Ausgehend von dem bisher Skizzierten begreife ich Ethik als reflexive Instanz, die insofern nicht von außen an die menschliche Praxis herangetragen werden kann, als sie sich bereits im alltäglichen Handeln, in unterschiedlichen Feldern und Institutionen, in Anspruch und Ungenügen, geltend macht. Ethik wäre von hierher als Reflexionsweise von Praxis selbst zu fassen: als Instanz des Einspruchs, die Institutionen und Praxen provoziert; Irritation gegen eine selbstgenügsame Schließung. Meine hier wie an anderer Stelle vorgetragenen Überlegungen sind dem Bemühen um argumentative Maßstäbe verpflichtet, die es ermöglichen, in Bezug auf Marginalisierung und Diffamierung kritisch zu werden. Die Kritik an Marginalisierungsprozessen, die heutige Gesellschaften auch und gerade dort kennzeichnen, wo sie undurchsichtig bleiben, steht für mich im Vordergrund. Die Denkfigur von Vorder- und Hintergrund verwende ich hier durchaus absichtsvoll. Mit ihr soll angedeutet werden, dass das Verständnis des Ethischen, welches meinen Beitrag leitet, bisher nicht schon vollständig explizit wurde. – Wäre es möglich, das Ethische zu objektivieren? Oder bliebe dies aus Gründen, welche in der Verfasstheit des Ethischen selbst liegen, prinzipiell ausgeschlossen? Wie sollte sich ethische Reflexion ‚unvermittelt‘, auf direkte Weise mitteilen können? Würde indessen womöglich nur indirekt (in der Darstellung von Behinderung als sozialem Problem und seinen ethischen Konzeptualisierungen) etwas thematisch werden? Die inhaltliche Zuspitzung auf eine Kritik an Marginalisierungsdiskursen geht nicht in eins damit, dass es sich hier um einen Konfliktfall handelt,
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der ausgehend von Gerechtigkeit (oder Anerkennung) als normativer Programmatik analysiert und womöglich gelöst werden könnte. Insofern eine Ethik in Ansehung konstitutiver Offenheit nicht anzugeben sucht, wie ein angemessener Umgang mit behinderten Menschen zu organisieren sei (sondern die anvisierte Lösung selbst als Problem anzeigt), unterscheidet sich meine Vorgehensweise von Ansätzen ethischer Entscheidungsberatung in sittlich-politischem Diskurs, die versuchen, Entscheidungskriterien entweder top down aus ethischen Prinzipien zu deduzieren (Angewandte Ethiken) oder sich bottom up den jeweiligen Bereichsrationalitäten anzupassen (Bereichsethiken). Die Dimension des Ethischen macht sich gerade dort geltend, wo von dem Anspruch abgesehen wird, soziale Probleme am Leitfaden von invarianten Normen steuern zu können. Was bedeutete es, wenn sich in concreto diskursiv ausgetragener Konflikte – etwa bei der Frage der Legitimität des Stammzellenimports – erweist, dass ein Einvernehmen aller Beteiligten nicht möglich sein wird? Eine Situation, in der es keine nicht-ambivalente oder keine für alle Beteiligten und Betroffenen akzeptable Lösung geben kann, eröffnet erst die Dimension des Ethischen: Es wird von einem „Widerstreit“ (Jean-François Lyotard) oder „Unvernehmen“ (Jacques Rancière) aufgerufen; einem Dissens, der sich nicht auf einen Konsens hin überschreiten lässt. Im Unterschied dazu partizipiert die in der Diskursethik prominente Rede vom Konsens an einem Ideal der Steuerung des Sozialen. Taucht das Ethische womöglich genau dort auf, wo nicht bereits die konzise ausgemachten Interessen der bezeichneten Akteure in einem klar umrissenen Konflikt stehen, mittels streng definierter Regeln gegeneinander verrechnet werden können und Handeln nach Maßgabe dieses Verfahrens als gerecht oder ungerecht identifiziert wird? Eröffnet sich die ethische Dimension möglicherweise allein in Situationen, die sich dem kalkulierenden Zugriff entziehen? Werde ich ethisch womöglich allein dann handeln, wenn ich einem Gebot folge, „das als Gebot vergessen werden muss, und kann nicht nur ein solch vergessenes Gebot wirklich unbedingt sein“ (Žižek 2001: 8)? – Sofern die Dimension des Ethischen im Sinne einer Provokation bereits der Praxis inhärent ist, so besagt dies, dass das Ethische der Praxis nicht (als Wert oder Norm) vor- oder übergeordnet ist, sondern praktische Kontexte gleichsam von innen immer wieder neu daran hindert, in Routinen zu erstarren. Dem entspricht ein nicht-essentialistisches Verständnis des Ethischen, das mit der Skepsis gegenüber einer Identifizierung
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jedes Eigen(tlich)en korrespondiert und sie positiv auszeichnet. Die Aufgabe von Ethik könnte insofern vielleicht weniger darin bestehen, Sollensforderungen zu erlassen, als darin, jener der Praxis inhärenten Dimension des Ethischen die Treue zu halten. So gesehen verbindet sich Ethik eng mit einem Konzept von Gesellschaftskritik. Ethik verfügt aus dieser Perspektive nicht über ein vorab gültiges Wissen davon, wie in je konkreten Situationen zu handeln sei, lässt sie sich doch von denjenigen Sprechweisen und Handlungsformen provozieren, die einer exklusiven Verrechnung von Individuen entgegenstehen. Die doppelte Bedeutung einer „Provokation des Ethischen“ (Hetzel 2007: 5ff), die einerseits das im Wortsinn implizierte Heraus- und Hervorrufen des Ethischen umfasst, andererseits in einem übertragenen Sinne Ethik selbst als Herausforderung und Störung alltäglicher Routinen begreift, ist für mein Verständnis des Ethischen maßgeblich. In der doppelten Bedeutung eröffnet sich eine interessante Perspektive für die Klärung des Status’ von Ethik, je nach dem, ob das Ethische als Subjekt oder Objekt der Provokation gelesen wird. – Wird Provokation wörtlich als Herausrufen verstanden, wäre der Genitiv der Sentenz „Provokation des Ethischen“ im Sinne eines Genitivus obiectivus aufzulösen. Dies hätte weitreichende Konsequenzen für das Verhältnis von Ethik (verstanden als Disziplin oder Profession mit eigenen Codes und reflexiven Routinen) und Ethischem (als nie vollständig diskursivierbarer Eigensinn des Ethischen). Ein Ethisches, auf das sich Ethik als Reflexionsform beziehen könnte, läge dann nicht einfach vor. Das Ethische wäre nicht a priori (vor aller Erfahrung) gegeben, sondern würde vielmehr in ethischer Reflexion konkreter Situationen erst von ihr und durch sie performativ ins Leben gerufen. Es ließe sich nur im Vollzug der Reflexion auf Situationen menschlichen In-der-Welt-Seins hervorrufen. Es konstituierte sich im Bezug auf eine soziale Welt, ohne je vollständig von ihr abgelöst werden zu können. Das Ethische würde an konkrete Situationen zurückgebunden, in denen es in die Welt tritt, ohne restlos auf die Koordinaten dieser Situation rückgeführt werden zu können. – Ein Denken der Provokation des Ethischen, wie ich es hier thematisiere, bricht mit transzendentalen Begründungen des Ethischen, das (nachträglich) auf ein Anwendungsfeld bezogen würde. Mit anderen Worten sucht eine Ethik angesichts konstitutiver Offenheit nicht, Bedingungen der Möglichkeit für die Ausbildung von sozialer Wertschätzung und Solidarität freizulegen. Es geht ihr nicht darum, die normative Grundlage einer Ethik der Anerken-
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nung des anderen Menschen zu bestimmen oder die unvordenkliche Andersheit des Anderen zum moralischen Prinzip zu erheben, wie jüngst für Menschen z. B. mit einer schweren geistigen Behinderung vorgeschlagen (Rösner 2002: 398). Nicht als hypostasierbarer oder substantieller Grund – sozusagen als fundamentum inconcussum praktischer Vernunft – soll das Ethische veranschlagt werden. Vielmehr findet sich das Ethische weder vorab in den Handlungsmotiven des Subjekts der Reflexion (Kant), noch ist es vollständig im Sozialen verwirklicht (Hegel). Gegenüber beiden Seiten behält es einen irreduziblen Eigensinn, der nur im Vollzug seines Provozierens handgreiflich wird. In diesem Eigensinn liegt zugleich sein Provokatives, Verstörendes, Irritierendes. Das Ethische ließe sich im Sinne einer Zumutung verstehen (Genitivus subiectivus); es provoziert, fordert heraus, reizt zum Widerspruch, zur Entscheidung, zum Handeln usf. – Damit sind zwei Hinsichten benannt: auszugehen vom Herausrufen des Ethischen wie umgekehrt Ethik als Herausforderung zu verstehen. Beide Hinsichten stehen in enger Verwandtschaft zur Exteriorität des Ethischen im Sinne von Emmanuel Levinas. Worauf meine Überlegungen zulaufen, wäre ein Verständnis von Ethik, die alles andere wäre, als ein Setzen von Gründen. Als Reflexionsform, die das Ethische provoziert, wäre Ethik vielmehr ein EntSetzen: ein Einspruch, dem eine andere Evidenz zukommt als ‚guten Gründen‘ in Verfahren ethischer Argumentation. Herausrufen des Ethischen. – Das Ethische ist nicht als gewisser Bestand von Werten und Regeln gegeben; es wird erst herausgerufen. Welche Überlegungen zum Verhältnis von Selbem und Anderem schließen sich daran an? Als Antwort entspringt Verantwortung einem Bezug zu einer Anderen. In diesem Sinne ist der andere Mensch bereits für Husserl – entgegen anderslautender Deutungen – „konstitutiv der an sich erste Mensch“ (Röttgers 2002: 132); ein Gedanke, den Levinas ins Zentrum seiner Philosophie stellen wird. Ethik hat es von hier her weniger mit einem Verlautbaren als mit einem Vernehmen zu tun. Diese Umkehrbewegung findet darin ihren Ausdruck, dass „im Wunsch nach dem Wunsch des Anderen“ jener sich „schon als der Ansprechende vernehmen“ (Bahr 1994: 22f) ließe. Was folgt daraus für den Status des Selben? Ethische Kontexte werden nie mit dem Selbst oder dem Ich ihren Anfang nehmen. Mich selbst bringt erst die Adressierung durch die Andere hervor. Im Zuge eines Anerkennens wird (ein) Ich weniger dadurch konstituiert, dass andere Mich bestätigen, als
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vielmehr durch die Konfrontation mit einem Gebot des Anerkennens, welches sich an die Andere gebunden sieht und Mich angesichts ihrer Andersheit als Subjekt einer Verantwortung anspricht. Noch bevor ‚Ich‘ das Subjekt von Erkennen und Handeln sein werde, hat Mich die Andere in Verantwortung gerufen, provoziert. Anerkennen wäre folglich nicht konstativ zu verstehen (etwa in dem Sinne, einander wechselseitig Leistungen und Kompetenzen zu bestätigen), sondern als performativer Akt: Muss ich, wenn ich dich anspreche, nicht bereits angesprochen worden, in die Adressierung eingetreten sein? Werde ich nicht immer schon ‚hineingeworfen‘ sein in das ‚Geflecht der Sprache‘8, die von anderen kommt und in der ich dann meinen Weg finde? Diese Vorgängigkeit des Anderen beschreibt Levinas als „transzendente Diachronie“ im Sinne einer neuen Zeitlichkeit, als eine „vor-ursprüngliche Vergangenheit in der Gegenwart“ (Levinas 1992: 38). Dieses Verhältnis von Selbst und Anderem, das nicht erneut ein ontologisches und hierarchisches wäre, eröffnet der ethischen Reflexion eine aussichtsreiche Perspektive. Ethik als Herausforderung. – In ethischer Hinsicht findet sich das Selbst ausgesetzt. Jede Geste der Aneignung des Anderen wird durch das Ethische unterbrochen, das zugleich das Selbe auf die Andersheit hin in Bewegung versetzt. Mich nicht von der Pflicht der Anderen gegenüber entbinden zu können, gibt Butler zu bedenken, geht damit einher, dem Leben, im Sinne der Selbstreproduktion, ein Ende zu setzen (vgl. Butler 2003: 79). Das Ethische bricht mit dem Primat der Selbsterhaltung und wäre insofern mit dem Tod des, auf seine Identitätssorge reduzierten, Subjekts verbunden. Wäre aber dieser Tod nicht vielmehr das Ende eines Subjekts, das eigentlich nie möglich gewesen ist? Wäre dieses souveräne, sich selbst erhaltende Subjekt, von dem die abendländische Philosophie und Wissenschaft seit Descartes träumen, nicht eine Phantasie; etwas, das bloß vermeintlich zu haben wäre? Dem Verlust des souverän handelnden Ich im Ethischen sprachlich Ausdruck geben zu wollen, stößt auf eine Schwierigkeit. Der Primat eines Subjekts, das sich erkennend und handelnd zu einer Welt von Objekten
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Vgl. Butlers Beitrag und anschließende Diskussion: ‚Gegen ethische Gewalt‘, Vortrag am 12. November 2002, Adorno-Vorlesung ‚Kritik der ethischen Gewalt‘, 11.-13.11.2002, IFS, Johann Wolfgang Goethe Univ., Frankfurt a. M.; im Original deutsch.
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verhält, denen gegenüber es autonom bleibt und die es sich aneignet, hat sich bis in die Grammatik der (indoeuropäischen) Sprache niedergeschlagen. Der Bezug zur Anderen unterläuft die Geste der Aneignung und den Anspruch, in der Anderen aufzugehen wie die Andere im Selben aufgehen zu lassen. Das Ethische, sofern es auf die Instanz eines fundierenden Subjekts verzichten muss, findet in der Grammatik eines kohärenten Sprechens seine Grenze (vgl. Butler 2003: 87). Im Bezug zur Alterität bricht jegliches „solipsistische Denkgehäuse“ (Köveker 2000: 104) auf. Das ethische Selbst ist ein ausgesetztes; es ist ins Außen gerufen und in eine ekstatische Bewegung versetzt. Was bedeutet das für den Status des Anderen? In gewisser Hinsicht bleibt der Anspruch der Alterität ‚un-erhört‘, so maßlos wie unentsprochen. Mit dem Ethischen, wie ich es hier verstehen möchte, geht ein Denken der Subjektivität einher, die von der Andersheit daran gehindert wird, sich in ihrer „Seelenruhe“ (Dufourmantelle 2001: 112) abzuschließen. Das Ethische kommt dem eigenen Leben nicht zur Hilfe, sondern stört es (vgl. Stegmaier 2002: 15). Verantwortung erscheint hier als die „Verpflichtung zu antworten“ (Derrida 2000: 71), die besteht, noch bevor ich werde wissen können, worauf oder wem ich zu antworten habe. „Subjektivität ist das Einstehen für den Anderen.“ (Gelhard 2005: 135) Eine Anforderung, der nachzukommen und doch letztlich nicht beizukommen ist. Dem Anspruch der Alterität, die sich an mich adressiert, wird nicht entsprochen; ihn einzulösen wird mir selbst nie vollständig möglich sein. Und doch und gerade darum bleibt die Provokation bestehen.
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Ein unzeitgemäßer Humanismus als das Erste der Bildung Der Anspruch des Anderen U RSULA S TINKES
E XKLUSION DES ANDEREN IN (AUFWERTUNG DES S ELBST )
DER
B ILDUNG
Bildung ist ein ‚Allbegriff‘ (vgl. Tenorth 1997): jeder benutzt ihn, aber es wird immer weniger deutlich, was darunter zu verstehen ist. Dies mag auch ein Grund sein, weshalb vielfach eine ‚Krise‘ der Bildung diagnostiziert wird. Im Kern geht es bei dieser ‚Krise‘ um Unzufriedenheiten – so wird etwa das Resümee aus internationalen oder nationalen Vergleichen als eine Art ‚Deklassierung‘ der bundesdeutschen Bildungsbemühungen wahrgenommen. Man könnte den Eindruck gewinnen, es würde durch diese Beunruhigung eine Reformbetriebsamkeit ausgelöst. Allenthalben wird von Kompetenzkrisen gesprochen, denen man mit der Einführung von Bildungsstandards ebenso beikommen möchte wie mit inhaltlichen Veränderungen der Schule, damit die Schüler für den nachschulischen Bildungskampf besser gerüstet sind. Für Schülerinnen in soziokulturell und sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen geht es deutlich eher darum, überhaupt gerüstet zu werden für ein Leben, das ein Standhalten und Widerstehen abverlangt, denn wie sonst kann den Lebensperspektiven eines Lebens am Existenzminimum sowie absehbar keiner Aussicht auf Arbeit begegnet werden? Bildung ist aktuell nicht nur Sündenbock, sondern schnell auch ‚Heilmittel‘ oder Beschwörungsformel, weil sie nicht nur Aus-
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löser für eine Misere zu sein scheint, sondern immer noch in der Lage ist zu versprechen, die Zukunft des Einzelnen sei prinzipiell offen, gestaltbar und veränderbar: Der Einzelne könne selbstbestimmt sein Leben gestalten, besäße die notwendige Autonomie, sich in seinem Leben auch selbst zu verwirklichen und wäre von Beginn an inkludiert. Bildung wird heute zum Synonym für so unterschiedliche Dinge wie Kompetenz, Anerkennung, Herzensbildung oder aber Selbständigkeit, Verantwortungsbereitschaft usw. Der Eindruck verfestigt sich, dass sich ein illusorisch anmutendes Vertrauen in die ‚innere Gutheit‘ oder in ein Humanisierungsversprechen in das Nachdenken über Bildung einschleicht, das irgendwie vergisst, dass Bildungsfragen ja Machtfragen sind. Eine Überbetonung der Bildungsfragen als Machtfragen kann jedoch die Einsicht auslösen, dass Bildung bloß Ideologie sei und ohnehin soziale Ungleichheit reproduziere, weshalb alles so bleiben solle, wie es ist. Dies hieße beispielsweise, dass eine Schultypendifferenzierung und Selektion der Schüler völlig unanzweifelbar ist. Das eine wie das andere ist problematisch, weil es nach meiner Meinung an einem strukturellen Nachdenken über das Subjekt der Bildung fehlt. Betrachtet man den Bildungsdiskurs der Geistigbehindertenpädagogik, so ergeht es dieser ganz ähnlich, weil sie sich seit dem Bestehen der Irrlehre der Bildungsunfähigkeit an einem allgemeinpädagogischen Bildungsbegriff regelrecht ‚abarbeitet‘: der Bildungsbegriff wurde vertieft, dialogisch erweitert, kognitivistisch-funktional ausgelegt und schließlich gänzlich in Frage gestellt durch Einführung des Begriffs ‚Entwicklungsförderung‘ (vgl. Ackermann 1990; Stinkes 1999). Man erkennt leicht die Not, in der die Geistigbehindertenpädagogik seit der Irrlehre der ‚Bildungsunfähigkeit‘ von Menschen mit geistiger Behinderung gestanden hat. Bis heute bleibt Bildung ein nur randständig beachtetes Thema. Allerdings ist durch die Diskussion um ‚Kompetenz‘ erneut eine Möglichkeit entstanden, sich diesem Diskurs zu entziehen, indem Bildung und Kompetenz für das Gleiche gehalten wird (vgl. Klieme 2004; kritisch dazu: Stinkes 2008). Die Not der Geistigbehindertenpädagogik besteht aus meiner Sicht darin, sich einerseits gegen eine historisch bedingte, theoretische und praktische Abwertung des Menschen mit geistiger Behinderung vehement und mit aller Kraft absetzen zu wollen und dies tut sie, indem sie von der individuumorientierten Sichtweise vom behinderten Menschen abrückt. Aber leider gerät sie bei dieser Absetzungsbewegung andererseits in das geradezu entgegengesetzte Fahrwasser: Denn in ihrem Bestreben, von einer individuellen, quasi kontextlo-
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sen behinderten Welt abzurücken, schlägt sie sich auf die Seite einer idealen Vorstellung vom Menschen und seinem Leben in Sozialität. Sie bezieht sich auf die ICF-Version der WHO hinsichtlich des Verständnisses vom Subjekt, aber dieser Bezug hat keine Folgen für das Verständnis ‚des Subjekts‘: Sie hat kein konkretes, passives, soziales Subjekt vor Augen, sondern ein ideales, selbstbestimmtes, autonomes, kompetentes und starkes Subjekt. Dieses lebt zwar in Verhältnissen, aber diese Verhältnishaftigkeit bleibt bezogen auf eine Art ‚Umfeld-Sozialität‘. Natürlich ist die Aufwertung des Subjekts historisch verständlich durch die Permanenz der gesellschaftlich und sozial hergestellten Abhängigkeit behinderter Menschen. Die Aufwertung des Selbst als conditio humana aber korrespondiert mit einer Abwertung des Anderen. Denn der Andere taucht auf als Aspekt einer Vielheit oder als autonome, selbstbestimmte Besonderheit/Verschiedenheit. Die Argumentationslinie ist: Verschieden sind wir alle und weil wir dies sind, hat der Andere in seiner Verschiedenheit – also daher, im Sinne von abgeleitet – einen Anspruch auf Anerkennung, Respekt, Achtung. Das sichert vielleicht Kooperation, Koexistenz, Inklusion und Integration, aber der kritische Punkt ist der, dass der Anspruch des Anderen damit keinen unausweichlichen, sondern nur einen nachträglichen Charakter hat (i. S. von abgeleitet). Dies führt zu Problemen in den Diskursen um das Subjekt, um Bildung und um Anerkennung. Um dies darzustellen, möchte ich nur knapp und beispielhaft auf Aspekte aufmerksam machen, welche in der aktuellen Diskussion herausgestellt werden (vgl. beispielhaft: Klauß 2006; Theunissen 2003; Theunissen 2005): 1. Obzwar die Geistigbehindertenpädagogik Bezug nimmt auf die ICFVersion der WHO, welche im Wesentlichen Behinderung als ein relatives Phänomen versteht, bleibt in den aktuellen Konzepten von Bildung ein deutlich humanistisch-idealistisches Verständnis vom Subjekt virulent (ideal gedachtes Individuum). 2. Das, was der Mensch konkret ist, wird zugunsten dessen, was er sein könnte, abgewertet: Es ist der Gedanke der Möglichkeit, einer von allen beschränkenden Hindernissen befreiten dauerhaften Entwicklung des Menschen zu Selbständigkeit, Selbsttätigkeit, Selbstgestaltung und Selbstbestimmung (vgl. Klauß 2006; Theunissen 2003).
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3. Dies hat einerseits zur Folge, dass Sozialität nur immer als ‚abkünftige Sozialität‘ in den Blick gerät, weil die Aufwertung des Selbst erkauft wird durch die gleichzeitige Abwertung des Anderen: a) die Freiheit des Menschen findet am Anderen ihre Grenzen b) die Anerkennung des Anderen hat keinen unausweichlichen, sondern einen nachträglichen (abgeleiteten) Charakter (vgl. Klauß 2006; Theunissen 2003, 2005). Konfrontiert man diese grob skizzierten Argumentationslinien mit den neuhumanistischen Grundgedanken von W. V. Humboldt, so ergeben sich erstaunliche Parallelen hinsichtlich des Verständnisses vom Subjekt: • Der Mensch lässt sich nur aus einer Kraft begreifen, welche alles begrün-
det (Energie) (vgl. Humboldt III: 116). • Aus ihr habe der Mensch seine innere Selbständigkeit (vgl. Humboldt I:
390). • Diese innewohnende Kraft oder Energie stellen das eigentliche Ich dar,
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den Charakter des Menschen (vgl. Humboldt II: 89), gleichwohl nicht genau bestimmt ist, was das ist (vgl. Humboldt I: 111). Diese ermöglicht grenzenlose Entfaltung und Steigerung durch Aneignung von Welt (Wechselwirkung): die Grundstruktur von Bildung. Bildung verstanden als permanente Steigerungsmöglichkeit macht das ideale Selbst aus, gerade weil es keine Grenze der Vervollkommnung, der Steigerung kennt (vgl. Humboldt I: 390). Dieses ideale Selbst (unbegrenzte Höherentwicklung, Steigerungsmöglichkeit) präsentiert zugleich die ganze Menschheit (vgl. Humboldt II: 38). Der Einzelne kann das Ideal der Vollkommenheit in seiner Individualität darstellen. Es ist das Produkt von Selbstgestaltung, genauer Selbstkenntnis und permanenter Selbstbearbeitung des einzelnen Individuums (vgl. Humboldt II: 38).
Vorsichtig bilanzierend kann angefragt werden, ob diese doppelte Sicht auf Bildung, nämlich als individuelle und zugleich als ideale, als ein Projekt gedacht wurde und wird, das Menschen zu Subjekten ihrer selbst bilden will? Das Subjekt wird als zugrunde liegend, unbestimmt und auf sich gestellt gedacht. Es bringt sich selbst durch Selbstgestaltung und Selbstbe-
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stimmung hervor. Dass bei diesem – sicher ebenfalls historisch erklärbaren – Anliegen die Andersheit des Anderen verloren gehen könnte, bleibt bislang eher unproblematisiert, denn das ganze Außen ist diesem Ich zugetan, da alles Nicht-Ich nur nach Maßgabe des Ich aufgenommen wird: Aneignung (vgl. speziell hierzu: Klauß 2006). Die deutliche Orientierung an einer sich immer feiner differenzierenden Denkentwicklung, an der die Geistigbehindertenpädagogen der ersten Stunde im Nachdenken über Bildung gescheitert sind, also die Orientierung an einem ‚Ich-denke‘, diese Orientierung ist heute durch ein allumfassendes ‚Ich-kann‘ im Sinne der Kompetenz ausgewechselt, ohne dass auffällt, wie sehr die Wirklichkeit auch in dieser Denkfigur ausgebeutet wird (und wie sehr Beobachtung und Beachtung verwechselt werden).
V OM ANDEREN HER – E INBEZUG DES ANDEREN B ILDUNG DURCH ABWERTUNG DES S ELBST
IN DIE
Das eigentliche Problem besteht jedoch darin, dass das skizzierte Verständnis vom Subjekt der Bildung Abhängigkeit, Fremdheit und Passivität im Sinne einer conditio humana, gar nicht, bzw. nur negativ konnotiert oder aber als zu überwindenden Status denken kann. Diese These möchte ich hier näher entfalten, denn sie ist für den weiteren Fortgang der Argumentation bedeutsam: Erst eine konkret leibliche Perspektive ermöglicht es, Passivität, Anderenzentrierung und Bedürftigkeit wie Heteronomie des Menschen in das Nachdenken über den Menschen aufzunehmen. Sie ebnet den Weg für eine Beziehung zum Anderen als einem Anderen nicht als Erkennen, sondern als ein ethisches Verhältnis und dies bedeutet: An-erkenntnis statt Erkenntnis. Um eine Blickwendung zu vollziehen, sei der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas bemüht1. Seine Arbeiten kreisen um die Problematik der radikalen Andersheit, geleitet von der Idee, dass das Verhältnis zum Anderen ein Grundgeschehen markiert, von dem her sich alles Denken allererst
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Die Ausführungen von Dederich (Dederich 2001, 2004) und Schnell (Schnell 2001, 2008) problematisieren Anerkennung auf der (grundlegenden) Basis der Leiblichkeit und vor dem Hintergrund von Fragen der Medizin, Behinderung und Pflege.
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formulieren kann. Er suchte und fand Antworten, die einen ‚unzeitgemäßen Humanismus des anderen Menschen‘ (vgl. Levinas 1989) darlegen. Aber dieser Humanismus ist weit entfernt vom klassischen Humanismus bzw. Neuhumanismus, der auf die Vorstellung eines autonomen und idealen Subjekts vertraute, in dem der Mensch seine Würde ansetzte. Es geht Levinas um eine Re-Formulierung der Menschlichkeit des Menschen, d.h. der Wiederentdeckung der Verantwortung. Denn der Mensch habe nicht aufgehört, für den anderen Menschen zu zählen. Es ist eine Radikalisierung der De-Zentrierung des Subjekts in dem Sinn, dass das Subjekt sich nicht in sich einschließen kann. Levinas setzt daher alles daran zu zeigen, dass die Voraussetzung des Subjekts nicht dem Subjekt gehört. Das ist ein Skandal, eine Verspottung jener Geste der ‚Auto‘- und ‚Selbst‘-verliebten Reflexionsgeschichte (vgl. Meyer-Drawe 1990) des modernen Menschen: Etwas liege vor der Sphäre dessen, was das ‚Ich‘ zu beanspruchen vermeint. Wichtig ist im Kontext dieser Sichtweise: Die Passivität vor aller Passivität hat ihren Bezugspunkt im Anderen und hört nicht auf, kann nicht überwunden werden. Und genau an dieser Stelle bereits ist alle Idee einer unbegrenzt steigerbaren Möglichkeit der Bildung abgebrochen: Für Levinas, d.h. für einen ethischen Blick (sic!), gibt es ein ‚Nicht-andersKönnen‘, ein Stopp jeder Möglichkeiten, jeden Könnens. Er fragt: „Gibt es im Menschen eine andere Herrschaft als […] dieses Können des Könnens, des Ergreifens des Möglichen?“ (Levinas 1995: 54) Die Antwort lautet für ihn: Ja, das gibt es, weil uns in der Begegnung, im Angesicht des Anderen, in seiner Nähe, etwas widerfährt, das Levinas (1992) als ‚an-archische Passivität‘ bezeichnet. Es widerfährt diesem ‚Ich‘ etwas, das in keinster Weise seiner Initiative geschuldet ist. Die Singularität der Begegnung mit dem Anderen, die Nähe zum Anderen wird betont, aber (!) es ist kein ‚singuläres Ich‘ gemeint, sondern eine Beziehung im Plural, weil im Angesicht des Anderen der Anspruch des Dritten bereits seinen Platz hat. „[…] der Begriff des Ich vermag mir nur insofern zu entsprechen, als er die Bedeutung der Verantwortung haben kann, die mich als Unersetzbaren vorlädt, d.h. insofern nur, als ich dem Begriff entgehe“ (Levinas 1992: 281). Die Nähe zum Anderen geschieht für ihn nicht durch einen Reflexions- und Aneignungsakt, sondern als radikale Infragestellung meiner selbst: „Ich finde mich Angesichts des Anderen vor, er ist weder eine kulturelle Bedeutung noch eine einfache Gegebenheit. Er ist auf ursprüngliche Weise Sinn“ (Levinas 1989: 5): „kath’auto“. Und diese Infragestellung (Passivität) bein-
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haltet eine asymmetrische Verpflichtung, die unmittelbar ist, jeder Reflexion vorausgeht: Ich bin verantwortlich vor dem Anderen (me voici = sieh, hier bin ich). Der Andere kann diese Verantwortung nicht einklagen, ebenso wenig wie ich sie von ihm einklagen kann, denn es handelt sich hierbei nicht um ein Verhältnis – anders als bei Buber und Rosenzweig – der Reziprozität, des gegenseitigen Nehmens und Gebens etc., sondern um eine ethische Asymmetrie, ein Gefälle. Der Andere ist mehr als ich bin bzw. je sein kann. Diese Blickwendung setzt sich von der Vorstellung einer reziproken, gegenseitigen Anerkennung aber auch von Akten der asymmetrischen Anerkennung ab, die Menschen zukommen, wenn sie beeinträchtigt, behindert, erkrankt, mittellos etc. sind. Daher hat der Mensch, insofern wir bezogen sind auf den Anderen hin, den Sinn, zu antworten2, denn Leben und Tod des anderen Menschen sind der eigenen Sorge übertragen, womit gemeint ist, dass das Verbrauchen des eigenen Lebens als die Übernahme einer Verantwortung verstanden wird (vgl. Waldenfels 1994, 1998). Der Grund liegt darin, dass der Andere mir immer schon eingezeichnet und auferlegt ist als eine Infragestellung jeder Stelle, jedes ‚für-mich‘. Umgekehrt ist der Andere derjenige, der keine Stelle hat: heimat- und mittellos, verlassen, ohne Ort. Es wird also vom ‚Subjekt‘ Rechenschaft verlangt selbst für das, was weder begangen noch verschuldet wurde, es wird verlangt etwas zu tragen, von dem es nicht weiß, ob es für es möglich ist, und genau dies – Pointe des Gesagten – macht zuerst das Ich aus: die conditio. Für die Behindertenpädagogik ist dieser Gedanke zentral, denn die Zugehörigkeit zum Menschsein ist nicht durch ein Reflexionsvermögen oder irgendeine wie auch immer geartete allgemeine Bildungsgemeinschaft verbürgt, sondern allein durch die durch Leiblichkeit initiierte Angewiesenheit und Öffnung auf den Anderen hin und dies meint: ‚Antwort geben‘. Nimmt man die Erfahrung des Menschen als anderen ernst, so zeigt sich, dass die Faktizität einer zwischenmenschlichen Nähe, dieses unmittelbare Aufeinanderverwiesensein, jeder Vermutung über eine einseitige subjektive Leistung
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Eine der zeitlich frühesten Arbeiten, die sich mit den Gedanken der ‚elementaren Beziehung mit Schwerstbehinderten‘ auseinandergesetzt haben, ist die Arbeit von B. Fornefeld (vgl. Fornefeld 1989). Hier taucht bereits der Aspekt einer Bezugnahme auf den Anderen als Antwort auf.
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vorausgeht. Wenn dem so ist, so stehen die Menschen in gewisser Weise in der Schuld der Anderen, ist jeder Mensch dafür verantwortlich, dass es andere gibt und muss jeder Mensch wissen, dass er jede seiner Lebensäußerungen letzten Endes anderen verdankt. Als Fazit kann man festhalten: Der inter-subjektive Raum3 wird vom Anderen bewohnt aufgrund einer existenziellen leiblichen Verletzlichkeit, einer Ungeschütztheit, die die Angewiesenheit auf den Anderen begründet (vgl. Levinas 1992: 145). Diesen inter-subjektiven Raum als Raum des Anderen kann man nicht ‚schaffen‘, und trotzdem trägt der Einzelne dafür Verantwortung: Der Sinn des Daseins liegt für Levinas in der Öffnung zum Anderen hin. Andererseits kann dieser Sinn nur durch den Anderen eröffnet werden: Was ich bin, was ich sage und tue, wie ich mich verhalte, das verstehe ich erst durch den Anderen. Im Grunde geschieht in der Begegnung mit dem Anderen eine Überschreitung meiner Person. Diese Überschreitung (Transzendenz) ist eine Möglichkeit und Verpflichtung zugleich. Ich werde vom Anderen angerufen- oder ergriffen durch die Ansprüche, die er an mich stellt. Meine Antworten sind unvermeidlich, ich schulde sie dem Anderen, ohne dass er sie einklagen könnte. Problematisch in diesem sympathischen, weil Andersheit radikal fassenden und Subjektivität dennoch denkenden Konzept bleiben folgende Aspekte: Levinas denkt eine unendliche Verantwortung, aber es gibt das Faktum der Selbstsorge. Sich um sich selbst sorgen bedeutet nicht per se Egoismus und damit Missachtung anderer. Vielleicht ist hier Andersheit unter Umständen ‚zu groß‘ konzipiert: Das passive, verletzbare und angesichts des Anderen ohnmächtige Ich wird in der Totalisierung der Verantwortung als Geiselschaft im Grunde subtil als allmächtig gegenüber dem Anderen erklärt. Damit wird Andersheit selbst eine Form der Totalität. Anders: der aufgeblähten Selbstnotwendigkeit, Selbstsorge, Selbstbezüglichkeit wird zwar die Not des Anderen entgegengesetzt. Aber damit könnte der Humanismus des anderen Menschen seiner Tendenz nach schon eine Übersteigerung des Anderen bedeuten. Das könnte als implizierte Selbstmissachtung ausgedeutet werden.
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Ich spreche hier von einem inter-subjektiven Raum im Sinne von Merleau-Ponty (vgl. Merleau-Ponty 1966)
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D ER D RITTE
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ANGESICHT
DES
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ANDEREN
So berechtigt die Einwände gegen ein Denken vom Anderen her sein mögen, so sind sie vor Überschätzungen nur durch die Figur des Dritten sicher. Dies soll kurz dargelegt werden: Mit Levinas ist Verantwortung ein anderer Name für das Subjekt. Antworten und Verantwortung haben keinen Beginn in mir oder in jemand oder etwas – sie bestehen unabhängig von meiner oder eines Anderen Zustimmung oder Verweigerung, vorgängig zu diesen. Die Verantwortung steht nicht zur Wahl noch zur Frage, sie besteht, bevor sie zum Problem werden kann. Verantwortung kann zum Problem werden, weil sie niemals allein als ein exklusives Verhältnis der Unmittelbarkeit zwischen mir und dem Anderen besteht. Verantwortung verweist mich über den Anderen hinaus an den Dritten. Levinas vertritt die Auffassung, im Antlitz des Anderen gingen bereits die Anderen das Ich an. Im Antlitz des Anderen würde sich die Not aller kundtun. Der Andere ist in dieser Hinsicht einer unter vielen. Aber was seine Verantwortung angeht, ist er einzig. Die Nähe des Anderen ist damit immer auch die Nähe zu einem Dritten. Es ist eine Beziehung, die mich nicht unberührt lassen kann, denn der Dritte ist auch ein Anderer, dem ich verantwortlich bin. Die Berücksichtigung des Dritten bringt für Levinas keinesfalls eine Relativierung der Verantwortung mit sich. Beiden gegenüber bleibt sie in ihrer Maßlosigkeit bestehen. Aber dennoch, dieser Dritte bringt das Reich der Gerechtigkeit mit sich, denn nun muss man abwägen, muss Unvergleichliches vergleichen: Was habe ich gerechterweise für diesen Menschen zu tun, dieses Kind, was für das andere Kind, den anderen Menschen? Wer braucht meine Zuwendung, meine therapeutische Intervention, meine Ressource mehr? Mit diesen Fragen wird der Andere zum beurteilbaren, in seinem Lebenskontext erfassten, Anderen. Er ist Mitglied einer Gesellschaft geworden (vgl. Strasser 1978). Das Ich taucht in diesen Fällen in ein System symmetrischer Beziehungen: Es gibt also auch eine Gerechtigkeit, d.h. das Ich hat ein Recht auf symmetrische Anerkennung durch den anderen. Das Maß der Zuwendung bemisst sich an der Gerechtigkeit, d.h. ich setze mein Wissen ein, diagnostische Kenntnisse, pädagogische Kompetenz, pflegerische und medizinische Kompetenzen. Halten wir fest: Neben der zwischenmenschlichen Ebene der unendlichen Verantwortung tritt Gerechtigkeit. Die asymmetrische Beziehung
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windet sich gleichsam in die Beziehung zum Dritten hinein. Die ethische Beziehung zum Anderen bleibt bestehen, aber in ihr ‚anwesend‘ ist bereits Gerechtigkeit. Gerechtigkeit und ethische Beziehung bestehen für Levinas als ein Verhältnis des Ineinander und der Differenz. Die Verantwortung des Einzelnen gegenüber dem Anderen widerspricht nicht der Sorge um Gerechtigkeit und die Gerechtigkeit als vergleichendes Abwägen von Sorge widerspricht nicht der Verantwortung. Die aus der Sorge um Gerechtigkeit entstehende Ordnung löst keineswegs die Anarchie der Verantwortung ab, sie baut sie um sie herum auf, sie braucht sie als ihre Mitte, sie lebt aus ihr (vgl. Schnell 2001, 2008; Bernasconi 1998). Die Ordnung der Gerechtigkeit übersetzt die An-archie der Verantwortung der asymmetrischen Beziehung in Sozialität des gesellschaftlichen Zusammenlebens aller. Aber all dies bleibt unterfangen vom Anspruch, eher für den Anderen zu sein.
P ROBLEMSKIZZE B ILDUNG Es versteht sich von selbst, dass hier kein veränderter Bildungsbegriff vorgeschlagen wird (vgl. Meyer-Drawe 1998, 2007). Zentrale Aspekte wie Macht und Bildung, Bildung als Formation des Selbst – auch ideen- und sozialgeschichtliche Aspekte wurden hier ausgeblendet. Angesprochen wurde von mir unter ethischem Aspekt eine asymmetrische Verantwortung und symmetrische Anerkennung der Andersheit des Anderen. Letzteres ist eine motivkräftige Sehnsucht, eine Dauerakzentuierung, Primärorientierung – trotzdem (jedenfalls für die Geistigbehindertenpädagogik) hat selbst die Idee, dass jeder Mensch grundsätzlich der Anerkennung des Anderen bedarf, auch nicht nur zu einem kleinen Schritt dazu geführt von der aktuell dominanten illusionären Idealisierung individueller Kraft, Stärke, Kompetenz und zentrischer Selbstbezogenheit innerhalb von Erziehung und Bildung abzurücken. Im Gegenteil: Gesellschaftliche Leitbilder hoher Individualisierung und hoher Idealität nehmen eher zu, so dass wechselseitige Angewiesenheit und soziale Bedingtheit immer deutlicher als Schmälerung der Existenz des (behinderten) Menschen verstanden werden und nicht als Zeichen menschlicher Würde. Das hat den fatalen Effekt, dass Sozialität als homogenes Kollektiv durch Teilhabe an einem übergeordneten Ganzen verstanden wird. Das verwundert umso mehr, als der
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Anerkennungsdiskurs das Ineinander von Subjektivität und Sozialität breit entfaltet. Aber vielleicht liegt dies auch daran, dass Anerkennung häufig verkürzt missverstanden wird und man rasch bei der Hand ist, das Problem als erledigt zu begreifen. So wird Anerkennung in der Geistigbehindertenpädagogik beispielsweise als ‚Kommunikation auf Augenhöhe‘ gedeutet, d.h. eine Gleichwertigkeit der Beteiligten wird unterstellt, wobei der Erzieher so tut, als sei das Kind grundsätzlich schon kompetent. Oder aber die Erzieherrolle changiert zwischen pädagogischer Autorität und bloßem Assistenten/Lernbegleiter oder Selbstbestimmung wird verstanden als Selbstausdruck, der erst am Anderen seine Grenze findet. – In allen Modellen wird unter der Hand von der Einheit des Subjekts bei gleichzeitiger Unterschlagung der Asymmetrien pädagogischer Verhältnisse ausgegangen. Vielleicht wurde deutlich, dass eine alteritätstheoretische Diskussion des Bildungsbegriffs eine grundsätzliche Bezogenheit auf Andere, sei es als Bedingtheit, als Angewiesenheit oder Verantwortlichkeit aufzeigen kann, die weder zeitlich überwindbar noch prinzipiell aufhebbar ist. Denn ich bin nicht erst jemand, der sich dann an- oder aberkennend auf andere bezieht, sondern – mit Levinas – ich bin vom Anderen her, für den ich zugleich Bedingung bin. Damit ist auch gesagt, dass Verantwortung tragen und haben kein Mittel ist, über das man verfügen kann, sondern es ist ein durchgängiges Medium, in dem sich pädagogisches Handeln vollzieht. Sie ist Grundlage für eine symmetrische wie asymmetrische Anerkennung. Entscheidend aber ist, dass Selbstsorge und Anderenbezogenheit so miteinander verknüpft sind, dass sowohl die Selbstbehauptung als auch der Selbstentzug konstitutive Momente von Bildung sind. Denn es ist nicht nur die Bedürfnisbefriedigung des Selbst entscheidend, sondern auch der Wunsch, „ […] selbst anzuerkennen und zu lieben – halt die Lust daran, aus sich herauszutreten, sich an andere und anderes zu verlieren und ein anderer zu werden und nicht bloß zu einem Mittel der Selbstwerdung und Selbststabilisierung zu degradieren – ganz gemäß der Überzeugung, es ginge dem Seienden in seinem Sein allein um sein eigenes Sein.“ (Vgl. Ricken 1999: 138) • Aus dem Gesagten möchte ich folgern, dass Erstens eine weiterführende
Problematisierung des Begriffs ‚Bildung‘ unter dem Titel der Subjektivation und Anerkennung dringend notwendig wird. Den Ausgangspunkt für diese Diskussion bildet das konkrete, das leidende, sterb-
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liche, verwundbare und auch vernünftige Subjekt, d.h. das Subjekt als verhältnishaftes Verhältnis. • Damit gilt es Zweitens, das im klassischen, idealistisch-neuhumanistischen Bildungsverständnis grundgelegte Verständnis vom Subjekt und seinem Verhältnis zur Welt, das noch immer in der Geistigbehindertenpädagogik virulent ist, hinsichtlich einer ‚Ethik als unzeitgemäßem Humanismus‘ zu reflektieren, um Fragen der Angewiesenheit und der Anerkennung bildungstheoretisch durchbuchstabieren zu können. • Damit einher geht Drittens die kritische Reflexion einer stets in der Geistigbehindertenpädagogik aufs Neue wiederholten Überakzentuierung von individueller Kompetenz, Akteurschaft, Selbstbestimmung und Autonomie. Die Orientierung an diesen Idealbildern führt nicht zum erwünschten Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, sondern provoziert aufgrund des illusionären Charakters permanenten Selbstmangel und Selbstabwertung, denn in dieser Perspektive genügt man nie. Schwerer wiegt, dass Selbst- und Miteinandersein sich voneinander lösen können und Bedingtheit und Angewiesenheit in der Folge nur noch als Unfreiheit (Fremdbestimmung) gebrandmarkt werden. Aber mit Horkheimer gilt: „Wer nicht aus sich herausgehen, sich nicht an ein Anderes ganz und gar verlieren und arbeitend doch darin sich erhalten kann, ist nicht gebildet“ (Horkheimer 1985: 415; zit. nach Ricken 1999: 34). • Es geht Viertens darum, in der Bezogenheit auf und Bedingtheit durch andere Subjektivität auch alteritätstheoretisch zu interpretieren im Sinne einer Verwiesenheit auf Andere, die immer auch entzogen sind und fremd bleiben, ebenso wie die prinzipielle Unvollständigkeit, Unausdeutbarkeit des Selbst. Selbstfremdheit, Selbstentzogenheit hält mit Anerkennung Einzug und lässt Subjektivität nur gebrochen denken. Eine solche Sicht erlaubt die Ablehnung einer Fassung von Bildung als Allheilmittel gegen Selbstverlust und Anderenzentrierung. Den Verlust der Illusion oder regulativen Idee einer Bildung als Selbstentfaltung, Selbstgestaltung und -bestimmung gilt es nicht zu beklagen, denn mit dem regulativen Charakter einer Idee der Selbstbestimmung oder der Autonomie zu operieren, vergisst, dass dies ganz und gar keine Beruhigung darstellt: Auch der regulative Charakter von Ideen hat eine regulierende Funktion. Der Punkt ist meiner Meinung nach der, dass die Geistigbehindertenpädagogik durch die Orientierung der Bildung am Ideal der Selbstbe-
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stimmung und Autonomie einen permanenten Selbstmangel produziert, d.h. Versagung, Mangel, Entzogenheit werden als vorübergehend, als prozessual aufhebbar gedacht, so dass unter der Hand immer eine identitätstheoretische Fiktion mitschwingt: Prinzipiell ist es möglich, dass der Mensch sich selbst bestimmen, sich und seine Welt gestalten kann. Die Idee der Steigerung hält den Menschen buchstäblich in Bewegung: er hört im Grunde nie auf, noch mal anzufangen, gerade weil nie erreicht wird, was als Ideal vorgedacht wurde, nämlich Selbstbestimmung und Autonomie. Es ist mit Ricken (vgl. Ricken 1999) eine paradox inszenierte Selbstabwertung, d.h. nicht noch nicht zu sein, sondern prinzipiell nicht sein zu können, der und die man sich selbst zu sein wünscht: „ […] selbständig und nicht abhängig, bewusst wie reflektiert und nicht von Affekten getrieben, mit sich eins und nicht in sich zerstritten, allgemein welterfahren und nicht provinziell, gesellig und nicht angewiesen oder gar verfallen.“ (Ricken 1999: 341) In diesem Szenario ist kaum Platz für den Anderen, denn beständig ist man dabei, seinen eigenen Platz zu finden. Vor diesem Hintergrund eines dauerhaften Selbstmangels aber ist dann explizit geforderte Selbstbezüglichkeit bzw. zentrierung nichts anderes als eine Form, sich gegen andere als irritierende und dezentrierende Andere zu immunisieren – dies hat Benjamin (vgl. 1990) in der Tat zu Recht als Unfähigkeit beschrieben, zum Anderen vorzudringen wie vom Anderen erreicht zu werden. Bildung, die von einer hier nur bruchstückhaft skizzierten Ethik als ihr Erstes ausgeht, hätte eine Chance, zurückgebunden zu werden an Erfahrung, und damit wäre jede subjektzentrierte Deutung in Frage gestellt. Eine Entsubjektivierung wäre damit angezeigt, die ein erfahrenes, sinnlichleibliches, sterbliches und auch vernünftiges Subjekt meint, dass sich zu seinen (widersprüchlichen) Verhältnissen lernen muss zu verhalten und seinen Grund findet im Anderen und eben dies ist es, was seine Menschlichkeit verbürgt. Ob es aber gelingt, das Erste der Bildung von einem radikalen Humanismus her zu denken, hängt davon ab, ob wir uns verabschieden können von einer dominant an der Stärkung von Selbstbezüglichkeit ausgerichteten Bildungsvorstellung. Bedingung dafür aber scheint, Andersheit nicht als Entfremdung des Ich, sondern als eigene wie andere radikale Fremdheit und Entzogenheit anzunehmen und miteinander gestalten lernen zu können.
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158 | URSULA STINKES
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Bildungsgerechtigkeit im schulbezogenen sonder-, integrations- und inklusionspädagogischen Diskurs C HRISTIAN L INDMEIER
1. E INLEITUNG Mehr Gerechtigkeit in die Schule und in das Bildungswesen zu bringen und damit die Rechte auf Bildung, auf Entfaltung der Persönlichkeit, auf demokratische Teilhabe realisierbar zu machen, war einer der Hauptimpulse der Bildungsreform der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Auch in der ,PISA-gesteuerten‘ bildungspolitischen Debatte über die Bildungs- und Schulreform in der ersten Dekade des 21. Jahrhundert spielt dieser Impuls eine entscheidende Rolle, wie man an der gegenwärtigen Hochkonjunktur des Schlagworts Bildungsgerechtigkeit ablesen kann (vgl. u.a. Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft 2007; Heinrich-Böll-Stiftung 2008; Deutscher Lehrerverband 2009). Allerdings gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen von (Bildungs-) Gerechtigkeit:1 Ein Diskussionsstrang, der die bundesdeutsche Debatte bis heute maßgeblich prägt, versteht Bildungsgerechtigkeit als Chancengleich-
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Gerechtigkeit ist die zentrale Leitidee der politischen Philosophie, denn jede normative politische Theorie „fragt nach der Gerechtigkeit des Arrangements des gemeinschaftlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens“ (Gosepath 2004: 29). Deshalb stehen auch in diesem Beitrag politisch-philosophische Betrachtungen zur aktuellen Bildungspolitik im Mittelpunkt.
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heit; fraglich ist allerdings, ob Chancengleichheit als formale Chancengleichheit (jeder bekommt Zugang zum Bildungssystem und die gleichen Ressourcen) oder als faire Chancengleichheit im Anschluss an Rawls (soziale Benachteiligungen werden durch zusätzliche Ressourcen kompensiert) verstanden werden soll. Beide Spielarten der Chancengleichheit gehen von den Ausgangsbedingungen aus, deren unterschiedliche Nutzung das Verdienst jedes Einzelnen ist, weswegen sie auch als meritokratische Ansätze bezeichnet werden. Bisherige Bestrebungen, auch ‚natürliche‘, ‚begabungsbezogene‘ oder behinderungsbedingte Nachteile zu kompensieren, werden weniger unter dem Begriff der Chancengleichheit als dem Begriff der Bedarfsgerechtigkeit (wohlfahrtsstaatliches Fürsorgeprinzip) gefasst und haben noch kaum Anschluss an die Diskussion um Bildungsgerechtigkeit gewonnen. Dieses Prinzip, für das der Begriff der sozialen Gerechtigkeit leitend ist, kann hier aus Platzgründen nicht näher dargestellt werden, obwohl der Umstand, dass Kinder mit Behinderung in die Diskussion um Chancengleichheit nie einbezogen waren, die Akzeptanz des Sonderschulsystems zumindest teilweise erklären kann. Die Entwicklung des Konzepts der Chancengleichheit, insbesondere die inzwischen als „Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit“ (Giesinger 2007) gehandelte faire Chancengleichheit, wird im ersten Teil dieses Beitrags vorgestellt. Außerdem gehe ich kurz darauf ein, inwiefern sich die fürsorgeethische sonderpädagogische Position und die anerkennungsethische integrationspädagogische Position von diesem distributiven Konzept abheben. Im zweiten Teil wird die Kritik an diesem ,Standardverständnis von Bildungsgerechtigkeit‘ in den Blick genommen. Hauptkritikpunkt ist die bereits erwähnte Ausblendung der natürlichen Begabungsunterschiede. In Anbetracht dessen plädieren neuerdings mehrere Erziehungswissenschaftler für ein Konzept der Teilhabegerechtigkeit, das sich an einer ,Schwellen-Konzeption‘ von Bildungsgerechtigkeit und sozialer Gerechtigkeit orientiert und auf dem Fähigkeiten-Ansatz (,capability approach‘) von Martha Nussbaum und Amartya Sen basiert. Der dritte Teil stellt Beispiele der Umsetzung des Ansatzes der fairen Chancengleichheit (OECD) und der Teilhabegerechtigkeit (UNESCO) in international gültigen bildungspolitischen Konzepten vor und setzt sie zur inklusiven Pädagogik in Beziehung.
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2. B ILDUNGSGERECHTIGKEIT C HANCENGLEICHHEIT
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ALS
Obwohl der Begriff der Bildungsgerechtigkeit das in die Kritik geratene Leitmotiv der Chancengleichheit ablösen soll, das die Schul- und Bildungsreform der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts prägte, verweisen die meisten aktuellen Begriffsdeutungen auf das ,klassische‘ Prinzip der formalen Chancengleichheit (vgl. Otto/Schrödter 2008: Bildungsgerechtigkeit soll dadurch hergestellt werden, dass alle die formal gleiche Chance (Zugangsgerechtigkeit) erhalten, ihren Potenzialen und ihrer Anstrengungsbereitschaft entsprechende Bildungsresultate zu erzielen. Der Kerngedanke der formalen Chancengleichheit lautet deshalb: „Soziale Positionen werden oft durch einen Wettbewerb vergeben, und die Regeln solcher Wettbewerbe müssen nicht nur jedem erlauben teilzunehmen, sondern müssen auch die Befähigung für die zu besetzende Stelle zum alleinigen Vergabekriterium haben. Das Verdienst allein soll über die Vergabe von Stellen und Positionen entscheiden, nichts anderes.“ (Gosepath 2004: 438)
Der Hauptkritikpunkt an diesem ,klassischen‘ Prinzip der Chancengleichheit bezieht sich spätestens seit den 1960er Jahren darauf, dass trotz der Gewährung des formal gleichen Zugangs zu Bildungseinrichtungen faktisch soziale Mechanismen der Reproduktion von sozialer Ungleichheit wirksam sind, die zur Exklusion von Angehörigen ,niedriger‘ sozialer Schichten führen. Um sozial ungleiche Startbedingungen zu kompensieren, wurde von Rawls (1979) das Prinzip der fairen Chancengleichheit eingeführt, das die formale Chancengleichheit ganz bewusst und auf der Grundlage bestimmter Anspruchskriterien durch kompensatorische Maßnahmen verletzt (z.B. zusätzlicher Sprachunterricht für Kinder mit Migrationshintergrund). Solche Maßnahmen der „positiven“ oder „kompensatorischen“ Diskriminierung „können vorübergehend gerechtfertigt sein, sofern sie die Wirkung von noch nachwirkendem Unrecht auszugleichen versprechen“ (Gosepath 2004: 438). Faire Chancengleichheit verlangt neben rechtlichen Rahmenbedingungen umfassende sozial- und bildungspolitische Maßnahmen, die darauf hinwirken müssen, bestehende Formen sozialer Benachteiligung und Diskriminierung abzubauen. Außerdem müssen diese Maßnahmen die materi-
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ellen Bedingungen schaffen, damit alle bei gleichen ‚Begabungen‘ und Motivationen unabhängig von den zwischen ihnen bestehenden sozialen Ungleichheiten gleiche Chancen haben. Für das Prinzip der fairen Chancengleichheit ist also kennzeichnend: „Ungleiche Anteile an den sozialen Positionen und Ämtern sind dann fair, wenn sie erarbeitet sind und nach Qualifikation zufließen. Unfair sind die Bevorzugungen und Benachteiligungen aufgrund willkürlicher und unverdienter Unterschiede der sozialen Umstände.“ (Gosepath 2004, 440) Nach Ludwig von Friedeburg (1994) wurde die kompensatorische Bildungspolitik und ihre Emphase für Chancengleichheit in den 1960er und 1970er Jahren hauptsächlich durch die Sorge begründet, dass gesamtgesellschaftlich wertvolle Begabungen unterentwickelt und ungenutzt bleiben, wenn etwa die sprichwörtliche „katholische Arbeitertochter von Lande“ (vgl. Peisert 1967) auf Grund ihrer Herkunft nur die Volksschule besuchen konnte. Neben dieser bildungsökonomischen Begründung gab es eine demokratietheoretische Begründung, die durch die Gesamtschulreform als einer umfassenden Schulstrukturreform auf die Demokratisierung der Gesellschaft hinzuwirken versuchte (vgl. Lönz 2003). Chancengleichheit steht in diesem Kontext „für das Aufbrechen von ständischen Zuordnungen des Schulbildungszugangs, impliziert aber zugleich die Vorstellung, dass es dann eine Sache der einzelnen Schülerin (und ihrer biologischen und psychischen Dispositionen) ist, was sie ,daraus macht‘, d. h. welche Abschlüsse sie erlangt. Der progressiv-emanzipatorische Impetus des Begriffs der Chancengleichheit geht hier Hand in Hand mit einem naturalistisch-atomistischen Verständnis von Bildung.“ (Stojanow 2007: 33)
Diese Verkürzung der Chancengleichheit kritisiert Nunner-Winkler bereits 1971: „Chancengleichheit verwirklichen heißt, jedem Individuum die Chance geben, daß seine genetische verankerte Potenzialität sich durch geeignete Umweltherausforderungen aktualisieren kann. Aktualisierte Leistungsfähigkeit (unter Voraussetzung entsprechender Leistungsbereitschaft) ist dann Basis für Ausbildungserfolg, damit für Berufserfolg, Einkommenschancen und Sozialprestige. So wird die genetische Anlage, ein angeborenes, unveränderliches – sieht man von bewusster Zuchtwahl bei Menschen ab – biologisches Datum zur einzig legitim erachteten Basis für Sta-
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tuserwerb. Die modernen industriellen Gesellschaften sind auf dem besten Wege zur Meritokratie.“ (Nummer-Winkler 1971: 122)2
Für diejenigen, die aus genetischen bzw. anlagebedingten Gründen als weniger ,begabt‘ gelten, ist Chancengleichheit von vorneherein kein wesentliches Thema. Die erste Schul- und Bildungsreform der Bundesrepublik Deutschland lief deshalb völlig an den Kindern und Jugendlichen vorbei, denen von der Bildungspolitik seit 1972 ,Sonderschulbedürftigkeit‘ aufgrund von Behinderung(en) attestiert wurde. Ihre Beschulung in Sonderschulen als formelle Ungleichbehandlung beim Zugang zum allgemeinen Schul- und Bildungssystem wurde allgemein akzeptiert, weil die sog. ‚Minderbegabung’ sonderschulbedürftiger Kinder und Jugendlicher nicht als zu kompensierendes Gerechtigkeitsproblem angesehen wurde. Der Aufbau eines Parallelsystems ohne anerkannte Bildungsabschlüsse an Stelle erhöhter Anstrengungen mit dem Ziel der angemessenen Ausstattung des Regelsystems wurde daher nicht als Diskriminierung wahrgenommen. Auch die stagnierenden Lernzuwachsraten von Förderschülern im Schwerpunkt Lernen ab der 5. Klasse und das Fehlen von Untersuchungen zum Lernerfolg in den meisten anderen Förderschwerpunkten wurde nicht als problematisch wahrgenommen, da der meritokratische Ansatz davon aus-
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Mit der von Michael Young (1958) proklamierten „meritokratischen Gesellschaft“ wird die normative Forderung nach einem neuen Allokationsmodus des Zugangs zu sozialen Positionen in modernen Gesellschaften verbunden: „Statt einer sozialen Platzierung von Individuen basierend auf askriptiven Merkmalen der geburtsmäßigen Herkunft (wie Klasse, Rasse, Ethnie etc.), sei eine meritokratische Selektion erforderlich, in der ‚erworbene‘ Merkmale wie Bildungskarrieren, Schulnoten, Bildungsabschlüsse und Qualifikationen den Zugang zu (insbesondere höheren) sozialen Positionen bestimmen“ (Solga 2008: 22). Da die Bildungsunterschiede als ‚Begabungsunterschiede’ definiert werden, erscheint der soziale Status als kausales Resultat von biologischen Intelligenzund Begabungsunterschieden. „Soziale Ungleichheiten werden so letztlich als ,Natur‘ ontologisiert bzw. als ,natürliche Unterschiede‘ festgeschrieben“ (ebd., 24). In der Folge werden „die strukturellen Komponenten von Bildungsunterschieden ausgeblendet, d.h. die institutionellen Barrieren im Bildungssystem [...], die eine erfolgreiche Teilnahme an organisierten (Aus-)Bildungsprozessen behindern [...]“ (ebd., 25f).
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geht, dass es nach der Aufnahme ins Bildungssystem das Verdienst des Einzelnen im Sinne seiner Anstrengungsbereitschaft und Begabung ist, der für Bildungserfolg sorgt. Im Umkehrschluss wurde angenommen, wenn der Bildungserfolg fehle, müsse – angesichts der gut ausgestatteten Schulen – mangelnde Begabung und/oder Anstrengungsbereitschaft ursächlich sein. In Sonderschulen beschulte Kinder und Jugendliche erhalten – nach dem sozialpolitischen Vorbild der Eingliederungshilfe im Bundessozialhilfegesetz – zusätzliche Ressourcen als Ausgleich behinderungsbedingter Nachteile. Dies geschieht jedoch nicht mit dem Ziel der Herstellung von Chancengleichheit, denn dann müsste eine Beschulung im Regelsystem oder zumindest ein Interesse am Erreichen anerkannter Abschlüsse in stärkerem Ausmaß vorhanden sein. Die Ressourcen für diese Gruppe sind Ausdruck der wohlfahrtsstaatlichen Bedarfsgerechtigkeit, die spätestens seit den 1960er Jahren innerhalb der sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik Deutschland für eine kompensatorische Umverteilung von Ressourcen zugunsten von Mitbürgern mit Behinderung sorgt. Diese fürsorgeethische Ungleichverteilung von Ressourcen zugunsten von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ermöglichte das sog. deutsche „Sonderschulwunder“ (vgl. Speck 1991: 607) der 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts ebenso wie den Auf- und Ausbau außerschulischer beruflicher und sozialer Rehabilitationseinrichtungen wie Werkstätten und Wohnheimen für behinderte Menschen. Gegen die bildungstheoretische und -organisatorische Ungleichbehandlung behinderter Kinder und Jugendlicher wenden sich trotz der verteilungspolitischen Besserstellung dieses Personenkreises seit den 1980er Jahren die Integrative Pädagogik (vgl. zuerst Eberwein 1988) und in der Folge die Pädagogik der Vielfalt bzw. Heterogenität (vgl. zuerst Prengel 1990).3 Anerkennungsethische Versuche, den Begriff der Gerechtigkeit im Schul-
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Die gerechtigkeitstheoretische Position der Integrationspädagogik und der Pädagogik der Vielfalt erhielt auch Anregungen und Zuspruch von Vertretern der allgemeinen Pädagogik bzw. Didaktik, die in ihren kritischen Bilanzierungen der Schul- und Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre zu ähnlichen Auffassungen gelangten (vgl. z. B. Flitner 1985; Schlömerkemper 1989; Klafki 1994). Neuere erziehungswissenschaftliche Arbeiten entwickeln sie zum Konzept der sog. ,Anerkennungsgerechtigkeit‘ weiter (vgl. Stojanov 2007; Heinrich 2010).
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und Bildungswesen mit neuem Inhalt zu füllen und eine Pädagogik der Vielfalt zu entwerfen, werden mit dem Leitmotiv eines gerechten Umgangs mit Gleichheit und Differenz begründet (vgl. Schwerdt 2005). Die Bezugstheorie bildet die posthegelianische Anerkennungstheorie Axel Honneths (1992), die drei Dimensionen sozialer Anerkennung als Bedingungen gelingender Identitätsbildung herausstellt: Liebe, rechtliche Gleichbehandlung und soziale Wertschätzung. Nach Honneths Auffassung ist die gesellschaftliche Grundstruktur daraufhin zu überprüfen, ob sie ihren Mitgliedern in unterschiedlichen „Sphären der Gerechtigkeit“ (Walzer 1992) ein gutes Leben ermöglicht, indem sie ihren jeweiligen Anerkennungsansprüchen angemessen entspricht. Nach Gosepath (2004) stellen weder Fürsorge noch Anerkennung echte Alternativen zur Perspektive der Gerechtigkeit dar. „Vielmehr [...] müssen sie diese immer schon voraussetzen, wenn sie umfassend und plausibel sein wollen. Gleichzeitig kann eine adäquate und umfassende Gerechtigkeitstheorie die berechtigten Aspekte von Fürsorge und Anerkennung als zu berücksichtigende Momente bei der Beurteilung und Herstellung von Gerechtigkeit in sich integrieren. Gerechtigkeit ist also sowohl Maßstab jeder berechtigten Forderung nach Fürsorge und Anerkennung, als auch umfassender Rahmen, der anderen moralisch relevanten Werten oder Aspekten wie Fürsorge, Anerkennung und persönlichen Beziehungen ihren moralischen Stellenwert zuordnet.“ (2004: 107)
3. B ILDUNGSGERECHTIGKEIT T EILHABEGERECHTIGKEIT
ALS
Nach Gosepath (2004) „übersieht“ die Idee der fairen Chancengleichheit „einen weiteren wesentlichen Bereich, in dem das menschliche Schicksal durch Faktoren beeinflusst wird, für die die betreffende Person nichts kann, die also ‚unverdient‘ sind“ (440). Wenn es zutrifft, dass soziale Umstände unverdient sind und die daraus resultierenden Ungleichheiten deshalb unfair, dann muss dasselbe auch für die ,natürlichen Begabungen‘ gelten. Akzeptiert man, dass auch ,natürliche Begabungen‘ eine moralische willkürliche Beeinflussung der Güterverteilung sind, dann wird allerdings dem gängigen Konzept von Verdienst die Grundlage entzogen. Es wird dann nämlich deutlich, „dass das, was als eigene Leistung angesehen wird, keines-
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wegs vollständig auf Eigenem beruht, sondern auf Ausstattungen, mit denen man sich zufällig vorfindet“ (Gosepath 2004: 440). In der ökonomischen Sphäre lauten die Schlussfolgerungen aus dieser Einsicht, dass Individuen die Folgen sozialer Umstände (z.B. Arbeitslosigkeit) und natürlicher Ausstattung (z.B. körperliche Behinderung) nicht zu tragen brauchen. Damit sich gleiche Chancen auf ein gelingendes Leben ergeben können, müssen somit die Folgen dieser Umstände kollektiv kompensiert und umverteilt werden. Dieselbe Konsequenz lässt sich jedoch nach Gosepath nicht in Bezug auf soziale Positionen und Ämter ziehen, denn es wäre unklug und hätte indirekt Folgen für die Gesamtgerechtigkeit des gesamten Gesellschaftssystems, diese an weniger befähigte oder motivierte Personen zu vergeben. Das von Gosepath gegen das Prinzip der fairen Chancengleichheit ins Feld geführte Argument spielt auch in der internationalen Debatte über Bildungsgerechtigkeit eine zentrale Rolle. Dies lässt sich an der Kritik an dem sog. ,Standardverständnis von Bildungschancengleichheit bzw. -gerechtigkeit‘ ablesen, welches besagt, „dass Ungleichheiten im Bildungserfolg, welche durch soziale Einflüsse entstehen, illegitim sind, während natürliche Ungleichheiten kein moralisches Problem darstellen. Das Ideal wird verfehlt, wenn Personen mit ähnlichen Potenzialen auf Grund unterschiedlicher familiärer Bedingungen völlig ungleiche Bildungsresultate erbringen. Dann nämlich kann angenommen werden, dass diejenigen, die schlechter abscheiden, eine illegitime Behinderung durch nachteilige familiäre Verhältnisse erfahren haben. Daraus resultierende Ungleichheiten sollen gemäß dem Standardverständnis neutralisiert werden.“ (Giesinger 2007: 373)
Der erste und wichtigste Einwand gegen dieses Verständnis von Bildungsgerechtigkeit ergibt sich nach Giesinger aus der Frage, warum soziale, nicht aber natürliche Ungleichheit neutralisiert werden soll.4 Nach Jencks (1988) – neben Bourdieu und Passeron (1971) einer der schärfsten Kritiker der
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Drei weitere Einwände beziehen sich auf die Familienstrukturen bzw. -kulturen und die primäre Erziehungsverantwortung der Eltern, die bei der Forderung nach fairer Chancengleichheit zu wenig Berücksichtigung finden. Auf diese ,anti-egalitären‘ Argumente kann hier allerdings aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden.
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Schul- und Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre (vgl. Jencks 1973) – trägt die Gesellschaft für die Neutralisierung genetisch verursachter Schwächen ebenso die Verantwortung wie für die Neutralisierung sozialer Benachteiligungen. Der Umstand, dass die Gesellschaft diese nicht verursacht habe, impliziert nämlich keineswegs, „dass sie nicht verpflichtet ist, besondere Mittel für ihre Behebung bereitzustellen“ (Giesinger 2007: 373). Wie Giesinger berichtet, vergleicht Jencks (vgl. 1988: 523f.) den Fall eines Mädchens mit einer genetisch bedingten Leseschwäche mit dem Fall eines Mädchens, das entsprechende Schwierigkeiten hat, weil es aus einem chaotischen Zuhause stammt. Demnach ist es eine unsinnige Vorstellung, „dass die Benachteiligung des erstgenannten moralisch hingenommen werden soll, während im zweiten Fall bestehende ,Ungleichheiten‘ ,neutralisiert‘ werden müssen“ (Giesinger 2007: 373). Eine zweite Antwort auf die Frage, wie natürliche Ungleichheit neutralisiert werden soll, bezieht sich auf das Argument, „dass die genetische Ausstattung zum Kern der Persönlichkeit eines Menschen gehört und deshalb kein Anlass für eine Neutralisierung ihrer negativen Auswirkungen besteht“ (ebd., 373f.). Dieses Argument wird gelegentlich auch von Vertretern der ,Pädagogik der Vielfalt‘ in Zusammenhang mit der Wertschätzung von Verschiedenheit (,welcoming diversity‘) vorgebracht. Brighouse (vgl. 2000: 130), der in seine Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit auch Fragen des Umgangs mit Behinderung einbezieht, widerspricht dieser Position nach Giesingers Auffassung zu Recht, indem er anmerkt, dass „die Persönlichkeit mindestens so stark von den Bedingungen des Aufwachsens bestimmt wird wie von der natürlichen Ausstattung“ (Giesinger 2007: 373). Giesinger plädiert vor dem Hintergrund dieser kritischen Einwände für eine alternative Auffassung von Bildungsgerechtigkeit, die er als ,Schwellen-Konzeption‘ der Bildungsgerechtigkeit bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine Konzeption, die in der Bildungsphilosophie Ende der 1980er Jahre erstmals von Amy Gutmann (1987) und Kenneth Howe (1989) vorgetragen, und in der Folge von Randall Curren (1994), aber auch John White (1994) und Andrew Mason (2004) weiter vertreten wurde (vgl. hierzu auch Stojanov 2007, 2008). „Gutmann und mit ihr Howe schlagen eine Schwelle demokratischer Partizipation vor: Bildungs-Ungleichheiten, so Gutmann (1987, S. 136), sind nur legitim, wenn alle Kinder befähigt werden, am demokratischen Prozess teilzunehmen. Curren
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spricht hingegen von einer Schwelle sozialer Inklusion, und das bedeutet primär, dass jedes Kind dazu befähigt werden soll, gemäß den Gesetzen der eigenen Gesellschaft zu leben. White und Mason verwenden den Begriff der Schwelle (threshold) nicht, sondern geben Ziele an, welche alle Schüler erreichen sollen: beide betonen, jedem Kind solle durch Bildung ein autonomes Leben ermöglicht werden.“ (Giesinger 2007: 377)
In Übereinstimmung mit White sieht Giesinger den Begriff des Wohlergehens als für das autonome Leben vorrangig an. Das Bildungssystem soll jedes Kind zu einem „autonomous well-being“ in der Gesellschaft befähigen, „und das heißt zu autonomer Lebensgestaltung unter Teilnahme am sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Leben der Gesellschaft“ (ebd.). Der Grundgedanke der Schwellen-Konzeption von Bildungsgerechtigkeit besteht also darin, dass Gerechtigkeit in Bezug auf Bildung hergestellt ist, wenn jedes Kind ein Bildungsniveau erreicht, das ihm ein autonomes Leben in Wohlergehen ermöglicht. Da es sich hierbei um ein formales Argument handelt, stellt sich die Frage, welche Fähigkeiten Kinder und Jugendliche erlangen müssen, um in diesem Sinne an der Leben der Gesellschaft teilhaben zu können. An dieser Stelle kommt der ‚capability approach‘ (Fähigkeiten-Ansatz) von Martha C. Nussbaum (2006) und Amartya K. Sen (2000) ins Spiel, denn dieser propagiert das vordringliche gesellschaftliche und politische Ziel, dass alle Menschen eine ,Schwelle‘ überwinden, unterhalb derer ein menschenwürdiges Leben nicht realisierbar ist. Der Fähigkeiten-Ansatz formuliert damit Minimalbedingungen von sozialer Gerechtigkeit, die eine Gesellschaft allen ihren Mitgliedern garantieren muss, wenn sie eine gerechte Gesellschaft sein will. Da mit den (Grund-) Fähigkeiten unbedingte politische Ziele zum Ausdruck gebracht werden, unterscheidet sich der Ansatz trotz seines Eintretens für eine liberale und pluralistische Gesellschaft von utilitaristischen und liberalistischen Theorien unterschiedlicher Spielart. Die aktuellste Fassung der Liste der Fähigkeiten, die seit den 1980er Jahren ständig weiterentwickelt wird, findet sich in Nussbaums Buch ,Frontiers of Justice‘, das mit dem Untertitel ‚Disability, Nationality, Species Membership‘ (2006) auf die inhärente Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit und Behinderung verweist. Nussbaums Fassung des ‚capabilitiy approach‘ wird außerdem als grundlegender
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Ansatz zur Formulierung ,transnationaler Menschenrechte‘ diskutiert (vgl. Nussbaum 2008).5 Aktuell umfasst Nussbaums ,Liste der Fähigkeiten‘ zehn ,capabilities‘, die als prinzipielle Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben verstanden werden können. Nach Nussbaum sind sie nicht als ‚Gegenprogramm‘ zur Rawls ,Theorie der Gerechtigkeit‘ gedacht, sondern als Möglichkeit, dessen abstrakter Idee von Würde eine konkretes Profil und Inhalt zu geben (2008: 81ff.): „Leben. Fähig zu sein, bis zum Ende eines menschlichen Lebens von normaler Dauer zu leben; nicht vorzeitig zu sterben oder bevor das eigene Leben dermaßen reduziert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. Körperliche Gesundheit. Fähig zu sein, bei guter Gesundheit zu sein, die reproduktive Gesundheit eingeschlossen; adäquat ernährt zu sein; über eine adäquate Behausung verfügen. Körperliche Integrität. Fähig zu sein, sich frei von Ort zu Ort zu bewegen; sicher zu sein vor gewalttätigen, auch sexuellen Übergriffen sowie vor häuslicher Gewalt; Gelegenheiten zu sexueller Befriedigung und zur Wahl in Angelegenheiten der Reproduktion zu haben. Sinne, Fantasie und Denken. Fähig zum Gebrauch der Sinne zu sein, Vorstellungen zu entwickeln, zu denken und vernünftig zu urteilen – und all dies in ,wahrhaft menschlicher‘ Weise zu tun, geprägt und kultiviert von einer adäquaten Bildung, die Lese- und Schreibfähigkeit und eine mathematische und wissenschaftliche Grundbildung einschließt, aber sich keineswegs darauf beschränkt. Fähig zu sein, von den eigenen Kräften der Fantasie und des Denkens im Zusammenhang mit Erfahrung und Erzeugung von Werken und Ereignissen eigener Wahl Gebrauch zu machen, religiösen, literarischen, musikalischen usw. Fähig zu sein, von seinem eigenen Verstand auf Weisen Gebrauch zu machen, die hinsichtlich politsicher und künstlerischer Rede von den Garantien der Meinungsäußerungsfreiheit beschützt werden,
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Die Verbindung zwischen ,capability approach‘ und Menschenrechtsthematik rührt unter anderem daher, dass Nussbaum und Sen im Rahmen ihrer Tätigkeit für die Vereinten Nationen in den Jahren 1986 bis 1993 Konzepte zur Messung der Lebensqualität in den Entwicklungsländern erarbeiten mussten. Ein Ergebnis dieser Tätigkeit ist der von Nussbaum und Sen herausgegebene Sammelband ,The Quality of Life‘ (1993), in dem der ,capability approach‘ erstmals systematisch entfaltet wird.
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und Freiheit der Religionsausübung. Fähig zu sein, lustvolle Erfahrungen zu machen und nutzlose Schmerzen zu vermeiden. Gefühle. Fähig zur Anhänglichkeit gegenüber Dingen und Menschen jenseits der eigenen Person zu sein; jene zu lieben, die uns lieben und sich um uns sorgen, über ihre Abwesenheit traurig zu sein; allgemein, zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und gerechtfertigten Ärger zu verspüren. In der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Furcht und Ängste verunstaltet zu werden. (Die Förderung dieser Fähigkeit bedeutet die Unterstützung von Formen menschlicher Assoziation, deren Wichtigkeit für ihre Entwicklung nachweisbar ist.) Praktische Vernunft. Fähigkeit, sich einen Begriff vom Guten zu bilden und sich in kritischer Reflexion mit der Planung des eigenen Lebens zu befassen. (Dies zieht den Schutz der Gewissensfreiheit und der freien Religionsausübung nach sich.). Zugehörigkeit. A. Fähig zu sein, mit anderen und auf andere zu zu leben, Sorge um andere Menschen zu erkennen und zu zeigen und sich in diversen Formen sozialer Interaktion zu engagieren; fähig zu sein, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen. (Diese Fähigkeit zu schützen bedeutet, Institutionen zu schützen, die solche Formen der Zusammengehörigkeit bilden und pflegen, aber auch den Schutz der Vereinigungsund Meinungsfreiheit.) B. Über die sozialen Grundlagen der Selbstachtung und des Nicht-Erniedrigtseins zu verfügen; fähig zu sein, als ein mit Würde begabtes Wesen behandelt zu werden, das den gleichen Wert hat wie andere. Dies führt zu Vorschriften über Nichtdiskriminierung hinsichtlich Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnizität, Kastenzugehörigkeit, Religion und nationaler Herkunft. Andere Spezies. Fähig zu sein, fürsorglich gegenüber und in Beziehung zu Tieren, Pflanzen und der Welt der Natur zu leben. Spiel. Fähig zu sein zu lachen, zu spielen, sich an Freizeitaktivitäten zu erfreuen. Kontrolle über die eigene Umwelt. A. Politisch. Fähig zu sein, wirksam an politischen Entscheidungen beteiligt zu sein, die über das eigene Leben bestimmen; das Recht auf politische Teilhabe zu haben, Schutz der Rede- und Vereinigungsfreiheit. B. Materiell. Fähig zu sein, über Vermögen zu verfügen (Immobilien wie mobile Güter) und Eigentumsrechte auf der Grundlage der Gleichheit mit anderen zu haben; das Recht zu haben, auf der Grundlage der Gleichheit mit anderen Beschäftigung zu suchen; frei von ungerechtfertigter Durchsuchung und Beschlagnahme zu sein. Bei der Arbeit fähig zu sein, als menschliches Wesen zu arbeiten, praktische Vernunft
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auszuüben und sich in sinnvolle Beziehungen gegenseitiger Anerkennung mit anderen Arbeitern einzulassen.“
Nach Steckmann (2008) erweitert der ,capability approach‘ den Blick insbesondere für diejenigen Bereiche pädagogischen Handelns, die mit Personen zu tun haben, bei denen die Selbstbestimmungsfähigkeit nicht oder nur eingeschränkt erreichbar ist. Nach den Ausführungen in Nussbaums jüngstem Buch aus dem Jahr 2006 ist hier insbesondere an Menschen mit geistiger Behinderung oder mit Demenzerkrankungen zu denken: „Auch wenn die betreffenden Personen nicht oder nicht mehr über die natürliche Ausstattung verfügen, das mit der Befähigungsliste beschriebenen Entwicklungsniveau eines guten menschlichen Lebens zu erreichen, sollte Nussbaum zufolge daraus nicht der Schluss gezogen werden, dass für diesen Adressatenkreis eine andere, ihrer Situation angeglichene Liste zur Grundlage gemacht werden sollte. Obschon die Orientierung an der ‚species norm‘ den defizitären Charakter der Möglichkeiten der genannten Personengruppen kenntlich werden lässt, besteht doch kein Grund, den Versuch zu unterlassen, diese Personen so nah wie möglich an die Entwicklungsziele der menschlichen Lebensform heranzuführen. Nussbaum hält es ausdrücklich für einen Nachteil, auf einen einheitlichen für alle Personen anzustrebenden Entwicklungsstandard zu verzichten, weil durch eine Departmentalisierung des Standards die Tür geöffnet würde für eine systematische Schlechterstellung dieser ohnehin schon benachteiligten Personengruppen.“ (Ebd.)6
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Diesbezüglich schaffen allerdings erst die neueren Arbeiten Nussbaums (vgl. 2003, 2006) hinreichend Klarheit, während Behinderung in früheren Zeiten durchaus ein ,blinder Fleck‘ in Nussbaums Capability Approach gewesen sein mag (vgl. Müller 2004). Nussbaum hat nach eigenen Angaben vor allem durch das Buch ,Love’s Labour‘ (1999) der Philosophin und Feministin Eva Feder Kittay, die selbst eine schwer geistig und mehrfach behinderte Tochter hat, entscheidende Anregungen zur Erweiterung ihres Ansatzes erhalten: „In den meisten Fällen können wir sinnvoll über die Bedürfnisse von geistig behinderten Kindern und Erwachsenen nachdenken, indem wir eine Spezifizierung einer allgemeinen Fähigkeit vornehmen, die zu ihren Bedürfnissen passt. In den Vereinigten Staaten geht ein Gesetz aus dem Jahre 1997, das Gesetz ,Individuals With Disabilities Education Act‘, davon aus, dass jedes Kind mit einer Behinderung zu einer ,passenden Bildung‘ berechtigt ist, in der ,am wenigsten einschränken-
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Der ,capability approach‘ kann also zu einer ,Schwellen-Konzeption‘ der Bildungsgerechtigkeit als Teilhabegerechtigkeit beitragen, die auch für die pädagogischen Problemstellungen der Pädagogik bei Behinderungen und Benachteiligungen relevant ist. Dies lässt sich auch an Hand des Konzeptes der Verwirklichungschancen des indischen Ökonomen und Nobelpreisträger Amartya K. Sen aufzeigen. Seit der Deutsche Bundestag im Jahr 2005 Amartya K. Sens Konzept der Verwirklichungschancen (capabilities) (vgl. Sen 2000)7 zur konzeptionellen Grundlage der deutschen Armuts- und
den Umwelt, die möglich ist‘. Was dies im Einzelnen heißt wird von der Schule, dem Kind und seinen Eltern auf einer eigens dafür einberufenen Konferenz bestimmt. Dies mündet in einen ‚individualisierten Bildungsplan‘ ein, den man wählt, um die besonderen Fähigkeiten von Geist und Denken dieses Kindes zu entwickeln. Dies scheint in Wirklichkeit ein Fähigkeiten-Ansatz zu sein oder, um es in anderen Worten zu fassen, eine menschliche Entwicklungsperspektive (Human Development Perspective). Es kann sich mitunter als nötig erweisen, das Fähigkeiten-Ziel mit Bezug auf einen gegebenen besonderen Typus von Behinderung zu spezifizieren. Denn bei vielen Kindern mit Mongolismus ist es vernünftig zu erwarten, dass sie an der politischen Gesellschaft partizipieren können und lernen, ihre politischen Überzeugungen auszudrücken. Im Gegensatz dazu wird es für Kittays Tochter, die nie sprechen wird und deren kognitive Fähigkeiten auf einem ,niedrigen‘ Niveau bleiben werden, nötig sein, die politischen Fähigkeiten durch eine angemessene Vormundschaft zu vermitteln. Im Allgemeinen sollte es jedoch das Ziel sein, allen Bürgen alle Fähigkeiten zu eröffnen, auf einem irgendwie angemessenen Niveau und in irgendeiner Form“ (2003: 198). Selbst wenn diese Äußerungen noch nicht ausgereift sind und viele Fragen offen lassen, ist es bemerkenswert, dass Nussbaum ihre Auffassung nach der Kritik am Ausschluss (schwer) behinderter Menschen modifiziert und weiterentwickelt hat. 7
Der Begriff der ,capabilities‘ wird in der deutschen Übersetzung unzutreffend mit ‚Verwirklichungschancen‘ übersetzt, was möglicherweise durch die Dominanz des Konzepts der Chancengleichheit zu erklären ist und die Rezeption etwas verwirrend macht, da die Begriffe ,capabilities‘, und ,Verwirklichungschancen‘, zugleich aber auch ‚capability approach‘ und ‚Fähigkeiten-Ansatz‘ benutzt werden, außerdem ‚Befähigung‘. Im Einklang mit Sens Konzept definiert der Bericht Verwirklichungschancen als „die Möglichkeiten oder umfassenden Fähigkeiten (,capabilities‘) von Menschen, ein Leben führen zu können,
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Reichtumsberichterstattung erklärt hat (vgl. Arndt et al. 2006), beginnt sich auch die deutsche Erziehungswissenschaft mit dem ‚Fähigkeiten-Ansatz‘ zu beschäftigen (vgl. Otto/Schrödter 2008; Otto/Ziegler 2008). Unter dem Titel ,Befähigungsgerechtigkeit statt Bildungsgerechtigkeit‘ werfen Otto und Schrödter die Frage nach dem Verhältnis von Gerechtigkeit und sozialer Effizienz auf. Bildungsgerechtigkeit ist ihrer Auffassung nach umfassender als Chancengleichheit, da die Effizienz des Bildungssystems nicht nur daran bemessen werden kann, inwiefern Bildungsausgaben zu einer Entlastung des Gesamtsystems führen, sondern auch daran, inwiefern es den am schlechtesten gestellten Menschen gleiche Bildungschancen eröffnet, also Verwirklichungschancen schafft. Wird Bildungsgerechtigkeit nicht mehr lediglich als Gleichheit der Startbedingungen, sondern als Gleichheit der Verwirklichungschancen verstanden, dann ist sie nach Auffassung der beiden Erziehungswissenschaftler als Befähigungsgerechtigkeit zu konzipieren. Der Fähigkeiten-Ansatz stellt somit einen umfassenden normativen Referenzrahmen zur Evaluation sozialer Arrangements und individuellen Wohlergehens zur Verfügung, der mit dem Anspruch angetreten ist, bisherigen Referenzrahmen gerechtigkeitstheoretisch überlegen zu sein. Amartya K. Sen unterscheidet diesbezüglich zwischen vier Aspekten der Beurteilung von Befähigungsgerechtigkeit: „der Freiheit, zielgerichtet zu handeln (auch: Autonomie, agency freedom), der Freiheit, Wohlergehen anzustreben (wellbeeing freedom), dem Erreichen von gesteckten Zielen (agency achievement) und Erreichen von Wohlergehen (wellbeing achievement)“ (Otto/Schrödter 2008: 69). Wohlergehen und zielgerichtetes Handeln sind zwei Aspekte von Lebenspraxis, die nicht aufeinander reduziert werden können: „Im Begriff des zielgerichteten Handelns ist der Mensch thematisch, der handelnd in die Welt eingreift, wertend Stellung nimmt und sich begründet Handlungsziele setzt, die er verwirklichen will. Wir können daher auch von ,Autonomie‘ sprechen. Mit dem Begriff des Wohlergehens geht es um den Menschen, dem etwas in der Welt widerfährt, der von ihr profitiert oder unter ihr leidet [...]. ,Wohlergehen‘ ist dabei
für das sie sich mit guten Gründen entscheiden können, und das die Grundlagen der Selbstachtung nicht in Frage stellt“ (Bundesregierung 2005: 9; zit. n. Arndt et al. 2006: 6).
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nicht als egoistische Orientierung misszuverstehen. Das Wohlergehen kann sich durchaus aus der Hinwendung zu Dingen oder anderen Menschen ergeben. So kann es mir Wohl ergehen, wenn ich meinen Mitmenschen helfe oder mich für eine gute Sache einsetze. Solche Tätigkeiten tragen dann indirekt zu meinem Wohlergehen bei […].“ (Otto/Schrödter 2008: 70)
Sen plädiert also für eine umfassende Konzeption von Wohlergehen, die dem Umstand Rechnung trägt, dass Menschen die Freiheit wertschätzen, zwischen (nicht-trivialen) Handlungsalternativen entscheiden zu können. Hiervon sind Konzeptionen von Wohlergehen im Sinne von individuellem ,Wohlbefinden‘ als unmittelbarer Wunscherfüllung zu unterscheiden. „Handlungsfreiheit ist also zum einen notwendige (aber nicht hinreichende) Bedingung, um Wohlergehen zu erreichen. Ohne die Freiheit zu zielgerichtetem Handeln kann ich nicht die Dinge tun, die mein Wohlergehen fördern. Zum anderen ist – für einen umfassenden Begriff von Wohlergehen – Handlungsfreiheit zugleich Selbstzweck. Handlungsfreiheit hat einen instrumentellen Wert und ist zugleich Selbstzweck für menschliches Wohlergehen.“ (Ebd., 71f.)
Diese Unterscheidung zwischen allgemeinen, umfassenden Zielen der Lebenspraxis (Handlungsfreiheit) einerseits und den auf das Wohlergehen bezogenen Zielen (Wohlfahrtspotenzial) andererseits ist für die Frage nach der Chancengleichheit entscheidend: Mit dem Konzept der Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit lässt sich argumentieren, dass Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf die Gewährleistung eines minimalen Niveaus des ,Wohlergehens‘ beanspruchen können, nicht jedoch ein Recht auf Verwirklichung von Zielen, die über das Wohlergehen hinausgehen. Der Ansatz der Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit beantwortet also die bedeutsame Frage, anhand welcher Maßstäbe soziale Ungleichheiten zu bemessen und zu bekämpfen sind. Ich möchte daher, diesen Teil abschließend, mehrere Vorteile einer Schwellenkonzeption von Bildung, wie sie der Fähigkeiten-Ansatz darstellt, zusammenfassen: Die Schwellenkonzeption in Anlehnung an den Fähigkeiten-Ansatz enthält sowohl input-orientierte als auch output- bzw. ergebnisorientierte Elemente, denn sie berücksichtigt unterschiedliche Formen der Benachteiligung ebenso wie die Ergebnisse des Bildungsprozesses in Form von Fähigkeiten.
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Damit enthält der Ansatz eine Aussage zum Verhältnis von Gleichheit und Gerechtigkeit: Möglichst alle Kinder sollen die vorgegebene Schwelle überschreiten; da dieses Ziel vorrangig ist, sollen dafür denjenigen Kindern, die zusätzliche Ressourcen benötigen, diese Ressourcen gewährt werden. Keinem Kind oder Jugendlichen soll jedoch eine über diese Schwelle hinausgehende Entfaltung seiner oder ihrer Fähigkeiten verwehrt werden. Ungleichheiten oberhalb der Schwelle gelten nicht als ungerecht (vgl. Giesinger 2007). Es ist nicht relevant, ob Schwierigkeiten, ohne zusätzliche Ressourcen die Schwelle zu überschreiten, sozial oder biologisch begründet sind. Behinderte und sozial benachteiligte Kinder können gleich behandelt werden, und auch unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich der Bedeutung von Anlage und Umwelt für den Bildungsprozess verlieren an Bedeutung. Die Identifizierung von Fähigkeiten, mit deren Hilfe ein Leben im Wohlergehen möglich ist, trägt dazu bei, Bildungsgerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit in Zusammenhang miteinander zu setzen, ohne sie gleichzusetzen.8 Bildungsökonomische Motive (Bildung als volkswirtschaftliches Ziel) werden im Interesse des Wohlergehens des Einzelnen korrigiert, indem das Bildungsziel das Erreichen eines Fähigkeitsniveaus vorsieht, das jedem Menschen ein Leben im Wohlergehen ermöglicht. Ein Problem, das die Schwellenkonzeption mit allen ergebnisorientierten Gerechtigkeitskonzeptionen teilt, betrifft die Praxis der in der Aufzählung an sich als Vorteil bewerteten Ergebnisorientierung. Als gerecht wird in diesem Ansatz nicht eine Chance auf die Erreichung des festgelegten Bildungsniveaus, sondern das tatsächliche Erreichen dieses Niveaus im Sinne von Bildungsgleichheit angesehen, das Erreichen der Schwelle kann aber nicht garantiert werden. Dies zu garantieren würde verkennen, dass Bildung ebenso wie soziale Dienstleistungen als ‚Ko-Produktion‘ angese-
8
In allen bekannten Gerechtigkeitsbegriffen verbindet sich eine normative Grundidee – in der Regel die der Gleichheit – mit einem charakteristischen Aufgabenbereich (vgl. Höffe 1996). Höffe spricht deshalb von dem Muster „Ethik plus lebensweltliche Aufgabe“ (ebd.: 233). ,Bildungsgerechtigkeit‘ kann aus dieser Perspektive als ein charakteristischer lebensweltlicher Aufgabenbereich aufgefasst werden, der mit spezifischen Fragen sozialer Ungleichheit zu tun hat. Insofern geht es bei der Wahrung oder Herstellung von ,Bildungsgerechtigkeit‘ um soziale Gerechtigkeit.
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hen werden muss, an der die Schülerinnen und Schüler beträchtlichen Anteil haben. Sie würden von jeglicher Verantwortung für den eigenen Bildungserfolg ebenso entbunden, wie ihre Leistung nicht mehr ihr Verdienst wäre. Dies müsste, wie auch Giesinger (2007: 379) unter Berufung auf Burbules (1990: 221) anmerkt, als Mangel an Respekt vor der entstehenden Autonomie der Schüler gesehen werden. Burbules schlägt deshalb vor, dass eine Konzeption der Bildungsgerechtigkeit ,outcome-sensitive‘, nicht aber ,outcome-based‘ sein soll. Eine Schwellenkonzeption der Bildungsgerechtigkeit verspricht also weder Chancen auf Bildung noch gibt sie Garantien auf Bildungsresultate: „Die Schwelle stellt vielmehr eine Zielvorstellung dar, die auch mit paternalistischen Mitteln angestrebt werden soll, beispielsweise der Verpflichtung der Schüler zum Schulbesuch“ (Giesinger 2007: 379), aber nicht garantiert werden kann. Nach Auffassung Giesingers ist die Schwellenkonzeption aber auch geeignet, das sog. ,bottomless pit problem‘ zumindest zu entschärfen; eine Auffassung, die m. E. nur teilweise nachvollziehbar ist: Jedes Modell ungleicher Ressourcenzuweisung hat die Frage zu lösen, wie viele Ressourcen zur Kompensation von Nachteilen angemessen sind. Die Entscheidung darüber könnte durch vergleichende Untersuchungen begründet werden, die aber ethisch nicht zu verantworten sind. In der Regel wird sie wenig fundiert auf der Grundlage naturwüchsiger Entwicklung des Schulsystems getroffen, indem Klassenteilungszahlen für verschiedene Schultypen und Kriterien für die Bewilligung von Förderunterricht und Schulassistenten festgelegt werden. Im Rahmen der Schwellenkonzeption können für Kinder, deren Fähigkeiten bzw. deren Ausgangsniveau zu Schulbeginn erwarten lässt, dass sie die Schwelle überschreiten werden, die erforderlichen Ressourcen bedarfsgerecht zugewiesen werden. Für Kinder, die die Schwelle wahrscheinlich nicht erreichen werden, stellen sich zwei Fragen: Zum einen ist grundsätzlich fraglich, ob prospektiv beurteilt werden kann und darf, wie ein Kind sich weiter entwickelt, ob es also legitim ist anzunehmen, dass es bestimmte Fähigkeiten in der Zukunft nicht erreichen wird. Wenn ein solches Urteil erfolgt, ist fraglich, wie viele Ressourcen diesen Kindern zur Verfügung gestellt werden dürfen, ohne neue Ungerechtigkeit zu produzieren. Mason (2004: 380, vgl. auch Brighouse 2000: 133) schlägt vor, die Bedürfnisse der lernschwachen Kinder nicht in jedem Fall höher zu gewichten als die Bedürfnisse der durchschnittlich und hochbegabten, sondern die Bedürfnisse aller Gruppen gegeneinander auszubalancieren. Für
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die Bildungssituation schwer behinderter Schüler ist eine solche Aussage allerdings zu vage. Deshalb müssen an dieser Stelle fürsorge- und anerkennungsethische Motive zum Tragen kommen, die das grundsätzliche Recht auf soziale Zugehörigkeit und auf freie Entfaltung der Persönlichkeit in Verschiedenheit untermauern. Unabhängig davon sollte aber auch bei diesem Personenkreis das Ausbalancieren des Bedarfs an zusätzlichen Ressourcen stärker als bisher in Abstimmung mit verbindlichen Bildungsstandards erfolgen.
4. I NKLUSIVE B ILDUNG UND B ILDUNGSGERECHTIGKEIT Inwiefern insbesondere die Konzepte der Verteilungsgerechtigkeit und Teilhabegerechtigkeit international den Diskurs über die Rechtfertigung inklusionspädagogischen Handelns beeinflussen, lässt sich an der Politik der OECD und der UNESCO ablesen. Wie zu erwarten, tendiert die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eher zur Konzeption der (Verteilungs-)Gerechtigkeit als Fairness und die Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft, Kultur und Kommunikation (UNESCO) eher zur Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit. Faire Chancengleichheit und special educational needs – die Position der OECD Der Bildungsausschuss der OECD und die OECD-Direktion für Bildungswesen haben sich 2003 in der Reihe Bildungspolitische Analyse (vgl. OECD 2003) mit der Chancengleichheit (equity) und Integration (inclusion)9 von Kindern und Jugendlichen mit besonderem Lernunterstüt-
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Der im englischen Original verwendete Begriff ,equity‘ wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung mit ,Chancengleichheit‘ übersetzt, der Begriff ‚inclusion‘ mit ,Integration‘. Beide Übersetzungen werden der internationalen Diskussion nicht gerecht. So wird ,equity‘ im angelsächsischen Raum u. a. deshalb von ,equalitiy‘ unterschieden, weil damit zum Ausdruck gebracht werden soll, dass es bei Bildungsgleichheit (equity) nicht nur um Chancengleichheit
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zungsbedarf (special education needs) beschäftigt, denn die OECD-Länder haben sich verpflichtet sicherzustellen, „dass ihre Bildungssysteme gleichwertige Ergebnisse für alle Schüler anstreben, wodurch sich die Notwendigkeit ergibt, Gruppen mit ganz unterschiedlichem Bedarf gerecht zu werden“ (OECD 2003: 5). Dem Bildungsbedarf aller Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden, ist nach Auffassung der OECD Teil der Entwicklung hin zu Chancengleichheit in einer alle umfassenden Gesellschaft, in der die Rechte des einzelnen Kindes – in Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention (KRK) – anerkannt und geschützt werden. Diese Auffassung bildet die Grundlage für Strategien der individuellen Bildungsplanung für behinderte Kinder, die auf der Menschenrechtsgesetzgebung und auf dem Konzept der Verwirklichungschancen von Sen (1992) basieren. Die OECD benennt vier grundlegende Konzepte der Chancengleichheit, die im Bereich der Bildungspolitik und -praxis angewandt werden können: „Gleichberechtigter Zugang oder Chancengleichheit beim Zugang: Haben alle Einzelpersonen (oder Personengruppen) die gleiche Chance, eine bestimmte Stufe im Bildungssystem zu erreichen? Chancengleichheit mit Blick auf das Lernumfeld bzw. die zur Verfügung stehenden Mittel: Haben alle Einzelpersonen gleichwertige Lernbedingungen? [...] Chancengleichheit bei der Erzielung von Lernerfolgen (oder Ergebnissen): Beherrschen alle Schüler im gleichen Ausmaß die Kenntnisse und Fähigkeiten, die als Ziele des Bildungssystems vorgesehen sind? Insbesondere stellt sich die Frage, ob Kinder mit unterschiedlichem Hintergrund über den Zeitraum ihrer Schulbildung oder Ausbildung hinweg gleichwertige Bildungsergebnisse erzielen. Erhalten alle Kinder dieselben Möglichkeiten, bei Verlassen des Bildungssystems dieselbe Qualifikation zu erreichen und wird ihnen dies ungeachtet der Umstände ihrer Herkunft ermöglicht? [...] Chancengleichheit bei der Nutzung der Bildungsergebnisse: Haben Einzelne oder Gruppen von Personen nach Verlassen des Bildungssystems dieselben Chancen, die
im Sinne von Zugangsgleichheit, sondern auch um Ressourcen- und Ergebnisgleichheit geht (vgl. Otto/Schrödter 2008). Wie problematisch es ist, ,inclusion‘ mit ,Integration‘ zu übersetzen, wird in letzter Zeit immer wieder im Zusammenhang mit der Übersetzung der ,Convention on the Rights of Persons with Disabilities‘ (2006) thematisiert.
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von ihnen erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in einem Beschäftigungsverhältnis und in ihrem Leben in der Gemeinschaft einzusetzen?“ (OECD 2003: 7f.)
Mit Blick auf die ersten beiden Konzepte weist die OECD darauf hin, dass bereits Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit argumentierte, soziale Institutionen sollen sich bei der Zuweisung von Mitteln stärker an den Bedürfnissen der Benachteiligten ausrichten, um die von der Gesellschaft verfolgten Ziele der Bildungsgleichheit zu erreichen. Diese Zuweisung kann aber nicht grenzenlos sein, da sonst wieder das Problem des ,bottomless pit‘ entstehen würde. Es wäre eindeutig ungerecht, alle Ressourcen eines Bildungssystems behinderten Schülern zu Lasten der übrigen Schüler zur Verfügung zu stellen. Ebenso ungerecht wäre es, Schülern beispielsweise Zugang zu Gebärdensprache oder unterstützter Kommunikation zu verweigern, da diese erst Lernmöglichkeiten und soziale Inklusion ermöglichen. Während diese Beispiele relativ eindeutig sind, ist es allerdings grundsätzlich noch offen, „wie der Anteil der verfügbaren Ressourcen, der speziell für behinderte Schüler zur Verfügung gestellt werden sollte, festzulegen ist“ (OECD 2003: 8). Auch in Bezug auf die Lernresultate und die Nutzung der Bildungsergebnisse stellen Schüler mit Behinderungen nach Auffassung der OECD eine Herausforderung dar, denn es ist fraglich, „in welchem Maß Unterschiede bei den Lernerfolgen akzeptabel sind“ (ebd.). Die OECD empfiehlt hier die Messung von individuellen Lernzuwachsraten, da sie erkennen lassen, ob auch unterhalb bestimmter Durchschnitts- oder Idealnormen ein angemessener Lernzuwachs stattfindet. Zusätzliche Ressourcen für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf (special educational needs) müssen demnach einerseits einem Rechtfertigungsverfahren unterzogen werden; der Mangel an natürlichen Potenzialen muss aber andererseits durch eine optimale individuelle Förderung unter Einsatz von zusätzlichen Ressourcen ausgeglichen werden. Inklusive Bildung als Menschenrecht – die Position der UNESCO Mit der Publikation ‚Inklusion: Leitlinien für die Bildungspolitik‘ (engl. ‚Policy Guidelines on Inclusion in Education‘) (vgl. Deutsche UNESCOKommission 2009) veröffentlichte die UNESCO bereits zum zweiten Mal
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innerhalb weniger Jahre (vgl. UNESCO 2005) Empfehlungen zur Umsetzung inklusiver Bildung. Beide Empfehlungen berufen sich auf das Programm ,Bildung für Alle‘ (Education for All, EFA) als größtem Programm der UNESCO im Bereich Bildung, das 1990 auf der Weltbildungskonferenz in Jomtien/Thailand anlässlich der alarmierend großen Zahl von Menschen, die von Grundbildung ausgeschlossen sind, beschlossen und 2000 auf dem Weltbildungsforum in Dakar bekräftigt wurde. Um dabei die Belange behinderter Menschen als besonders ,vulnerabler‘ und von Marginalisierung bedrohter Gruppe nicht aus den Augen zu verlieren, wurde 2001 die UNESCO-Initiative ,Das Recht auf Bildung für Menschen mit Behinderung: Für Inklusion‘ gegründet. Diese gab im Jahr 2005 ,Guidelines for Inclusion: Ensuring Access to Education for All‘ heraus; die die (Mitglieds-)Länder dabei unterstützen sollten, nationale Bildungspläne stärker an der Leitidee der Inklusion auszurichten. Weitere internationale Unterstützung fand das Konzept der inklusiven Bildung in Art. 24 des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen.10 Mit den ,Policy Guidelines on Inclusion in Education‘ (2009) wird ein erweitertes Konzept von Inklusion vorgestellt und besondere Aufmerksamkeit auf jene Bereiche gelenkt, die wichtig sind, um inklusive Bildung und die Entwicklung politischer Strategien zu fördern. Nach Auffassung der UNESCO sehen sich die Industrie- und Entwicklungsländer dabei einer Herausforderung gegenüber, in der Bildungsqualität und Bildungsgerechtigkeit bei der Exklusionsvermeidung eine zentrale Rolle spielen:
10 Das Konzept der inklusiven Bildung bezog sich zunächst auf Kinder mit Behinderungen, weil sich diese Kinder weltweit immer noch eklatanter Exklusion im Bildungsbereich ausgesetzt sehen (ein Drittel aller Kinder, die keine Schule besuchen, sind behinderte Kinder) (vgl. UNESCO 2005). Als weitere von Exklusion bedrohte Kinder gerieten in der Folge arbeitende Kinder, Kinder indigener Gruppen, Kinder aus ländlichen Populationen und linguistischen Minderheiten, nomadische Kinder und solche, welche von HIV/Aids betroffen sind, in den Blick. Die UNESCO geht außerdem davon aus, dass in all diesen Fällen auch das Geschlecht eine wesentliche Rolle spielt. Darüber hinaus weist sie darauf hin, dass mindestens 774 Millionen Erwachsene noch immer nicht über grundlegende Lese- und Rechtschreibkompetenzen verfügen.
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„Wie kann hochwertige und gerechte Bildung für alle Lernenden erreicht werden? Exklusion kann sehr früh im Leben beginnen. Ein ganzheitliches, lebenslanges Konzept ist daher unbedingt erforderlich. Dabei gilt es auch, die Bedeutung von Programmen zur frühkindlichen Förderung anzuerkennen, um das Wohlergehen von Kindern zu verbessern, sie auf die Grundschule vorzubereiten und ihnen bessere Erfolgschancen in der Schule zu bieten. Wenn Kinder nicht die Möglichkeit erhalten, ihre Potenziale durch Bildung zu entwickeln, besteht für Familien sowie für folgende Generationen das Risiko, mittellos zu bleiben oder in eine chronische Armut hinein zu geraten. Die Verbindung von Inklusion mit weiterführenden Entwicklungszielen trägt also dazu bei, Bildungssysteme weiterzuentwickeln und zu reformieren, Armut zu mindern und die Millennium-Entwicklungsziele zu erreichen.“ (Deutsche UNESCO-Kommission 2009: 7)
Die UNESCO geht davon aus, dass ein inklusives Schul- und Bildungssystem nur geschaffen werden kann, wenn Regelschulen besser darin werden, alle Kindern und Jugendlichen ihres Einzugsgebietes zu unterrichten. Aus der Sicht der Adressaten lässt sich Inklusion deshalb als ein Prozess auffassen, bei dem auf die verschiedenen Bedürfnisse von allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen durch die verstärkte Partizipation an Lernprozessen, Kultur und Gemeinwesen, sowie durch die Reduzierung und Abschaffung von Exklusion in der Bildung eingegangen wird. Hierzu gehören neben dem ,welcoming diversity‘ auch Veränderungen in den Inhalten, Ansätzen, Strukturen und Strategien des ,Regelschulsystems‘. Für die Einrichtung solcher inklusiver Schulen gibt es nach Auffassung der UNESCO mehrere Begründungen: „Zunächst besteht eine pädagogische Begründung: Da inklusive Schulen alle Kinder gemeinsam unterrichten, müssen sie Mittel und Wege finden, beim Unterrichten auf individuelle Unterschiede einzugehen. Davon profitieren alle Kinder. Zweitens gibt es eine soziale Begründung: Inklusive Schulen können Einstellungen zu Vielfalt verändern, wenn alle Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Sie bilden damit die Basis für eine gerechte und diskriminierungsfreie Gesellschaft. Drittens gibt es eine ökonomische Begründung: Es ist weniger kostenintensiv Schulen einzuführen und zu erhalten, die alle Kinder gemeinsam unterrichten, als ein komplexes System unterschiedlicher Schultypen zu errichten, die jeweils auf verschiedene Gruppen spezialisiert sind.“ (UNESCO 2009: 9)
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Um das Menschenrecht auf Bildung in der beschriebenen Form umsetzen zu können, bringt die ,EFA-Bewegung‘ die Konzepte der inklusiven Bildung und der qualitativ hochwertigen Bildung immer mehr miteinander in Verbindung. Dabei sind die Bezüge zum ,capability approach‘ unübersehbar, denn seit der Welterklärung ,Bildung für Alle‘ (1990) plädiert die UNESCO für ein bedürfnisbasiertes Konzept der Qualität von Grundbildung. (Grundbildungs-)Bedürfnisse schließen nach diesem Konzept „sowohl grundlegende Lernmittel als auch grundlegende Inhalte (ein), die von allen Menschen benötigt werden, um zu überleben, ihre vollen Kapazitäten zu entwickeln, in Würde zu leben und zu arbeiten, voll an Entwicklung teilzuhaben, ihre Lebensqualität zu verbessern, informierte Entscheidungen zu treffen und fortwährend zu lernen“ (UNESCO 2009: 10). Die UNESCO weist zudem darauf hin, dass Bildungsqualität für alle Länder ein zentrales Anliegen ist, weil nationale und internationale Leistungsstandserhebungen weltweit schwache und uneinheitliche Leistungslevel offenbaren. Darüber hinaus bestehe das Risiko, „dass Lernstandserhebungen nur jene Ergebnisse oder Aspekte des Lernens beschreiben, die relativ einfach zu messen sind und dabei Aspekte ignorieren, die wichtiger, aber schwierig zu messen sind. So werden Fähigkeiten im Rechnen, Lesen und Schreiben häufig erhoben, für soziale Fähigkeiten oder die gesellschaftlichen Auswirkungen von Bildung gilt dies nicht.“ (Ebd., 10f.)
Inklusion beinhaltet für die UNESCO außerdem eine Optimierung der Ressourcenverwendung, „um eine bessere Kosten-Nutzen-Relation zwischen Investitionen und Ergebnissen zu erreichen“ (ebd.: 11). Obwohl die UNESCO bildungsökonomische Überlegungen nicht ausblendet, geht es ihr bei der Herstellung von umfassender Bildungsgerechtigkeit vorrangig um die Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit, die die ,Anerkennungsgerechtigkeit‘ insofern mit einschließt, als sie die Vielfalt aller Lernenden unterstützt und willkommen heißt. Das erste und wichtigste Ziel inklusiver Bildung ist es deshalb, Exklusion zu beseitigen, die durch negative Einstellungen und mangelnde Berücksichtigung von Vielfalt in ökonomischen Voraussetzungen, sozialer Zugehörigkeit, Ethnizität, Sprache, Religion, Geschlecht, sexueller Orientierung und Fähigkeiten entsteht. Da sich Bildung in formalen und non-formalen Kontexten, in Familien und Gemeinden vollzieht, ist inklusive Bildung kein randständiges Thema,
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„sondern zentral, um qualititativ hochwertige Bildung für alle Lernenden zu erreichen und um eine inklusivere Gesellschaft zu entwickeln. Inklusive Bildung ist wesentlich, um soziale Gerechtigkeit zu erreichen und sie ist ein konstituierendes Element lebenslangen Lernens“ (UNESCO 2009: 4). Mit anderen Worten: Das allgemeine Bildungssystem und die allgemeine Schule sind nur dann als gerecht einzustufen, wenn sie zunehmend in die Lage versetzt werden bzw. sich in den Prozess begeben, gesellschaftliche Exklusion und soziale Missachtung jeglicher Art zu vermeiden.
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Im Angesicht des dementen Anderen Axel Honneths Fürsorgebegriff und seine Bedeutung für die „Kontaktarbeit“ in der Altenpflege H ANS -U WE R ÖSNER
Gerechtigkeit ist eine zentrale Zielvorstellung moralischen und politischen Handelns in modernen Gesellschaften. Für alle Regelungsbereiche, Institutionen, Instrumente und Verfahrensweisen der Politik gilt, dass sie dem Anspruch nach gerecht sein müssen, um gerechtfertigt werden zu können. Was aber ist Gerechtigkeit? Wenn von ihr die Rede ist, so wird zumeist davon ausgegangen, dass eine legitime Gesellschaftsordnung im Prinzip der individuellen Autonomie verankert sein muss. Die Schaffung gerechter Sozialverhältnisse soll heute vor allem dem Zweck dienen, allen Menschen eine Form von Selbstbestimmung zu ermöglichen, die sie möglichst unabhängig von ihren Interaktionspartnern sein lässt. Die persönliche Freiheit des Einzelnen wird daran gemessen, inwieweit er seine selbst gewählten Ziele im Leben ungestört entfalten kann. Es wird das unabhängige und autonome Subjekt vorausgesetzt, bei dem die Aspekte der Verletzlichkeit und Abhängigkeit von sozialen Beziehungen ausgeblendet bleiben. In den letzten Jahren ist an dieser normativen Sichtweise aus guten Gründen Kritik entwickelt worden. Von neoaristotelischer, feministischer und poststrukturalistischer Seite aus wird eine radikalere Inklusionsperspektive für Menschen mit unterschiedlichen Vermögen und Fähigkeiten gefordert. Auch wird die Tatsache der sozialen Abhängigkeit und der Angewiesenheit auf Fürsorge (Kittay 2004; Dederich 2004; Rösner 2009) stärker in den Vordergrund gerückt. In der Tradition Hegels, in den Diskus-
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sionen über Multikulturalismus und in der theoretischen Selbstverständigung des Feminismus hat insbesondere der Begriff ,Anerkennung‘ an Bedeutung gewonnen (Honneth 1992; Taylor 1993; Düttmann 1997, Benjamin 2002; Cavell 2002; Ricoeur 2006; Butler 2007; Bedorf 2010). Mit ihm wird die Vorstellung verbunden, dass soziale Gerechtigkeit nicht allein durch eine gleichmäßige Gewährung von individuellen Grundfreiheiten erreicht werden kann, sondern Bedingungen der Partizipation sicherzustellen sind, unter denen sich die persönliche Identitätsbildung vollzieht. Im Folgenden werde ich Axel Honneths Anerkennungstheorie grob skizzieren (I.). Insbesondere will ich der Frage nachgehen, inwieweit sie sich als Referenzrahmen für helfende Berufe eignet. Nach meiner Überzeugung stellt Honneths Anerkennungsbegriff die normativen Grundlagen einer nichtexklusiven Care-Ethik bereit. Seine psychoanalytischen Untersuchungen zur affektiven Bindung zwischen Kleinkind und Bezugsperson enthalten bereits einen Begriff von Fürsorge (II.), den ich am Beispiel der von Garry Prouty ausgehenden ,Kontaktarbeit‘ in der Betreuung und Pflege von Menschen mit Altersdemenz veranschaulichen werde (III.). Im Anschluss daran lautet meine These, dass Honneth dem Care-Gedanken jedoch erst mit seiner neuerlichen existenzial-phänomenologischen Analyse der Anerkennung als ,Besorgtheit‘ einen zentralen Stellenwert zu verleihen vermag (IV.). Am Ende werde ich auf die sich daraus ergebende Gemeinsamkeiten hinweisen, die Honneth mit Levinas verbinden (V.).
I. ANERKENNUNG UND G ERECHTIGKEIT Für Honneth kann ein Begriff der Gerechtigkeit nur in Verbindung mit einer Gesellschaftsanalyse entwickelt werden, die rekonstruktiv und kritisch zugleich verfährt: Die „gegebenen Institutionen und Praktiken werden auf ihre normativen Leistungen hin in der Reihenfolge analysiert und dargestellt, in der sie für die soziale Verkörperung und Verwirklichung der gesellschaftlich legitimierten Werte von Bedeutung sind“ (2008: 21). Auf diesem Weg lassen sich diese Praktiken und „Institutionen der bereits existierenden Sittlichkeit […] im Lichte der jeweils verkörperten Werte“ (ebd.: 26) kritisieren, so dass deutlich wird, inwieweit sie diese nicht umfassend oder vollständig genug repräsentieren.
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Honneths Anerkennungstheorie wendet sich den unterschiedlichen sozialen Sphären der Anerkennung zu. Er geht davon aus, dass ein unverkürzter Begriff der Gerechtigkeit im Rahmen hoch entwickelter Gesellschaften an drei Anerkennungssphären und entsprechenden Selbstbeziehungen ansetzen muss: Neben dem Bereich des Rechts sind das insbesondere die affektiven Intimbeziehungen der Liebe und Freundschaft und die Arbeitssphäre mit ihrem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Innerhalb dieser unterschiedlichen Sphären sollen die Bedürfnisorientierung, der Gleichheitsgrundsatz und das Verdienstprinzip Geltung erlangen. Zusammengenommen legen sie fest, was unter den gegenwärtigen Bedingungen soziale Gerechtigkeit heißen kann. Das Moralprinzip der Fürsorge erhält insbesondere im Rahmen der Liebe Geltung, als es „unter glücklichen Umständen am Beginn des kindlichen Entwicklungsprozesses steht“ und damit genetisch „[…] der Begegnung mit allen anderen Gesichtspunkten der Moral voraus[geht]“ (Honneth 2000: 169). Die normativen Prinzipien der Liebe, des Rechts und der Leistung werden zugleich als „Ausdruck von moralischen Forderungen verstanden“, die sie in Hinblick auf die gerechte Gestaltung von Lebensverhältnissen beinhalten. Diese Forderungen „sind umfangreicher oder anspruchsvoller als das, was von ihnen jeweils aktuell schon in der sozialen Wirklichkeit realisiert worden ist“ (2003f.: 296). Der „Geltungsüberhang dieser Anerkennungsprinzipien gegenüber der Faktizität ihrer sozialen Auslegung“ erlaubt das „Einklagen von bislang unberücksichtigt gebliebenen Differenzen oder Tatbeständen“ (2003e: 220f.). Mit den Begriffen Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl unterscheidet Honneth drei von diesen Sphären der Anerkennung abhängige Ebenen einer positiven Selbstbeziehung: 1. Das Selbstvertrauen stellt eine individuelle Selbstbeziehung dar, die not-
wendig ist, um persönliche Identität und Autonomie zu entwickeln. 2. Die Selbstachtung geht mit der Fähigkeit einher, autonom aus vernünfti-
ger Einsicht zu handeln. 3. Bei der Selbstschätzung geht es, über die Selbstachtung als Rechtssubjekt hinaus, um ein gefühlsmäßiges Vertrauen, Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die als gesellschaftlich wertvoll angesehen werden.
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Werden dem Einzelnen diese für die Identitätsbildung notwendigen Voraussetzungen verweigert, so kommt es zu sozialen Konflikten. Diese basieren nicht auf utilitaristischen Interessen, sondern auf dem moralischen Antrieb, bislang unberücksichtigt gebliebene Bedürfnisse vorzubringen, rechtliche Anerkennung einzufordern oder unterschätzte Tätigkeiten und Fähigkeiten zur Geltung zu bringen. Die Fortschritte innerhalb einer jeweiligen Anerkennungsordnung lassen sich daran messen, ob die damit einhergehenden Konflikte den Spielraum individueller Selbstverwirklichung erweitern und den Prozess der sozialen Inklusion befördern: „Entweder werden neue Persönlichkeitsanteile der wechselseitigen Anerkennung erschlossen, so dass das Maß an sozial bestätigter Individualität steigt, oder ein Mehr an Personen wird in die bereits existierenden Anerkennungsverhältnisse einbezogen, so dass der Kreis der sich wechselseitig anerkennenden Subjekte anwächst.“ (Honneth 2003e: 220)
Anerkennung ist für Honneth mehr als nur ein Mittel, um die Inklusion in verständigungsorientierte Diskurse zu gewährleisten: „[B]evor Prozesse der kommunikativen Verständigung überhaupt begonnen werden können, müssen sich die beteiligten Subjekte bereits in einer bestimmten Weise anerkannt haben, da sie ohne das Einverständnis ihrer Abhängigkeit vom Andern an dessen Urteil gar nicht interessiert sein könnten.“ (Honneth 2004a: 104)
Die Anerkennung individueller Bedürfnisse vollzieht sich für ihn auch auf der nicht sprachlichen Ebene körperlicher Gesten oder mimischer Ausdrücke: „[D]ie Tatsache, dass die Integrität menschlichen Personseins wesentlich von der Erfahrung emotionaler Fürsorge und Liebe abhängig ist, ließ in mir Zweifel entstehen, ob die Teilnahme an Diskursen wirklich zur vollen Erfüllung der moralischen Erwartungen beitragen kann, die durch das ‚Streben’ nach sozialer Anerkennung geweckt werden.“ (Ebd.: 102)
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II. F ÜRSORGE
ALS
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Inwieweit lässt sich eine Anerkennungstheorie für den Bereich helfender Beziehungen fruchtbar machen? Welche Besonderheiten erhalten hier moralische Geltung? Mit diesen Fragen hat sich Honneth in seinem vieldiskutierten Schlüsseltext Das Andere der Gerechtigkeit (2000) beschäftigt. Mit den Namen Jacques Derrida und Emmanuel Levinas verbindet er eine ernstzunehmende ethische Herausforderung gegenüber den Gerechtigkeitstheorien, die sich am Prinzip der Gleichbehandlung orientieren. Insbesondere bei Levinas sei mit der intersubjektiven Begegnung „strukturell die Erfahrung einer moralischen Verantwortung verknüpft, die die unendliche Aufgabe enthält, der Besonderheit der anderen Person durch immerwährende Fürsorge gerecht zu werden“ (ebd.: 162). Honneth sieht sich dadurch zu der Forderung veranlasst, der „fürsorgende[n] Gerechtigkeit […] im Phänomenbereich des Moralischen wieder den Platz zurückzuerstatten, der ihr in der auf Kant zurückgehenden Tradition der Moralphilosophie allzu häufig versagt geblieben ist“ (ebd.: 169f.). Den Schlüssel zur Erforschung der Fürsorgebeziehung sucht Honneth gleichwohl nicht bei Levinas, sondern in den „Ausgangsprämissen einer anerkennungstheoretisch verstandenen Psychoanalyse“ (2003d: 145) und den Erkenntnissen der neueren empirischen Säuglingsforschung. In beiden Disziplinen konnte gezeigt werden, welche große Bedeutung emotionale Interaktionen für die frühkindliche Entwicklung haben. So konnten Beobachtungen von René A. Spitz (1976) beweisen, „dass der Entzug mütterlicher Zuwendung auch dann zu schweren Störungen im Verhalten des Säuglings führte, wenn ansonsten die Befriedigung all seiner körperlichen Bedürfnisse sichergestellt ist“ (Honneth 1992: 155). Weiterhin ergaben Untersuchungen von John Bowlby (1975), „dass der menschliche Säugling schon in seinen ersten Lebensmonaten eine aktive Bereitschaft zur Herstellung interpersoneller Nähe entwickelt, welche die Basis für alle späteren Formen von emotionaler Bindung abgibt“ (ebd.: 156). Schließlich konnte Daniel Stern (1979) den Nachweis erbringen, „dass sich die Interaktion zwischen Mutter und Kind als ein hochkomplexer Prozess vollzieht, in dem beide Beteiligten sich wechselseitig in die Fähigkeit zum gemeinsamen Erleben von Gefühlen und Empfindungen einüben“ (Honneth 1992: ebd.). In der Psychoanalyse Donald W. Winnicotts (1984, 1989) wird den Ergebnissen der Säuglingsforschung Rechnung getragen: Der Säugling ist in
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einer ersten Phase der „absoluten Abhängigkeit“ (Honneth 1992: 160) nicht nur von der Befriedigung seiner Bedürfnisse durch die Bezugsperson abhängig, sondern auch das Erleben seiner selbst und der Welt ist mit ihr verschmolzen. Die Beziehung von Selbst und Umwelt wird noch als ununterscheidbare Einheit erlebt. Durch die „Gewährung leiblichen Kontaktbehagens“ (ebd.) von Seiten der Mutter kommt es allmählich zu einer „abgestuften Ent-Anpassung“ (Winnicott 1984: 112). Der Säugling entwickelt die „Fähigkeit zur kognitiven Differenzierung von eigenem Ich und Umwelt“ und beginnt mit sechs Monaten, „akustische und optische Signale als Hinweise auf zukünftige Bedürfnisbefriedigungen zu verstehen, so dass er die kurzfristige Abwesenheit der Mutter allmählich zu ertragen vermag“ (Honneth 1992: 161). Die Mutter wird nun als etwas in der Welt erlebt, das sich der „Kontrolle der eigenen Omnipotenz“ (ebd.) entzieht. Die frühen Akte der Erlangung von Selbständigkeit, so Winnicott, gehen mit einer affektiven Vergegenwärtigung der Unabhängigkeit einher, die für das Kleinkind eine Überforderung darstellt. Es verlässt das Stadium des Erlebens symbiotischer Gemeinsamkeit dadurch, dass es lernt, seine noch symbiotisch gespeiste Anhänglichkeit mit der Erfahrung von Selbständigkeit in Einklang zu bringen. Zu einer frühen Form der Balance zwischen Selbständigkeit und Symbiose kommt es, indem das Kind im spielerischen Umgang mit affektiv hoch besetzten Gegenständen die schmerzhaft erlebte Kluft zwischen innerer und äußerer Realität symbolisch überbrückt. Als „Übergangsobjekte“ ermöglichen sie es ihm, „seine ursprünglichen Allmachtsphantasien über das Trennungserlebnis hinaus weiterleben zu lassen und zugleich kreativ an der Realität zu erproben“ (ebd.: 165). Mit Winnicotts Objekttheorie geht Honneth davon aus, „dass dem Kind durch den Zwang zur Anerkennung einer unabhängigen Interaktionswelt eine schwer kompensierbare Verletzung zugefügt wird, die zeitlebens als Tendenz zur Wiederherstellung symbiotischer Einheiten wirksam bleibt“ (2001b: 244): Die zeitweiligen Erlebnisse der Fusion haben im Kleinkind „ein psychisches Erwartungsschema der leiblich-seelischen Geborgenheit wachgerufen […], das durch den wachsenden Realitätssinn alsbald zunehmend enttäuscht wird, so dass Angst und Schmerz, Wut und Trauer in spannungsvoller Einheit die nahe liegenden Reaktionen sind“ (Honneth 2001a: 801). Diese Reaktionsmuster wirken lebenslang fort, „indem sie das Subjekt stets wieder gegen die Erfahrung der Unverfügbarkeit des Anderen aufbegehren lassen“ (2003a: 314).
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Winnicotts Annahme, dass es einen „Zustand symbiotischen Einseins“ (Honneth 1992: 159) gibt, sieht Honneth durch die experimentellen Untersuchungen Daniel Sterns (1992) inzwischen in Frage gestellt. Stern konnte nachweisen, dass es „schon für die ersten Lebensmonate die Herausbildung eines elementaren Selbstgefühls beim Säugling“ (Honneth 2001a: 794) gibt. Was er erlebt, ist lediglich ein „zeitweise als ungeschieden erlebtes Liebesobjekt“ und kann nicht als „Zustand phantasierter Omnipotenz“ begriffen werden (ebd.: 800). Dennoch hält er daran fest, dass es zeitlebens eine „tiefsitzende Tendenz zur Negation von Intersubjektivität“ (2003a: 313) gibt: Der „kommunikativ verfasste Emanzipationsprozess der Subjekte“ (2003d: 154) bleibt insofern gebrochen, „als das lebenslange Fortwirken eines frühkindlichen Symbioseempfindens zur Triebfeder eines antisozialen „Revoltierens gegen etablierte Anerkennungsverhältnisse“ (2003a: 315) wird. Bis hierher lässt sich sagen: Honneth glaubt, in Winnicotts Objektbeziehungstheorie ein verallgemeinerbares Muster der Persönlichkeitsentwicklung gefunden zu haben. Die Besonderheit dieser Entwicklung besteht für ihn darin, dass sie auf einer emotional getönten Fürsorge beruht. Sie endet im Erfolgsfall mit einem reifen Subjekt, „das sein Potential an innerer Dialogfähigkeit, an kommunikativer Verflüssigung seiner Selbstbeziehung dadurch zur Entfaltung zu bringen vermag, dass es möglichst viele Stimmen der unterschiedlichsten Interaktionsbeziehungen in seinem eigenen Inneren Gehör verschafft“ (2003d: 160). Honneth kann mit Winnicotts Objekttheorie auch die Frage beantworten, wie „das Abweichende, das Widerständige im einzelnen Subjekt kategorisch angemessen gefasst werden soll, wenn dieses seine Identität und Persönlichkeitsstruktur vollständig einem Prozess der sozialen Anerkennung verdankt“ (2001a: 797). Allerdings vermag er damit aber nur einen Kampf um Anerkennung zu begründen. Er kann diesen aber nicht „mit den moralischen Erfahrungen in Verbindung“ bringen, „die wir meinen, wenn wir von Empfindungen mangelnder oder vorenthaltener Anerkennung sprechen“ (2003a: 315).
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III. ANERKENNUNG
IN DER
K ONTAKTARBEIT
In meinen weiteren Überlegungen werde ich prüfen, inwieweit Honneth hier bereits in der Lage ist, wichtige normative Gesichtspunkte für eine nichtexklusive Ethik der Bildungs- und Heilberufe einzubringen: Mit der Objekttheorie Winnicotts hat er auf die zentrale Bedeutung früher und lebenslang prägender Formen affektiver Intersubjektivität zwischen primären Bezugspersonen und Kindern aufmerksam gemacht. Seine psychoanalytisch ansetzende Erklärung interpersonaler Anerkennung, so meine weitere Überlegung, erweitert den bisherigen normativen Begründungsrahmen der Arbeit mit Menschen, die aufgrund komplexer Behinderungen oder Krankheiten gemeinhin als ,schwer kontaktgestört‘ und ,nicht therapiefähig‘ gelten: Personen mit schwerer geistiger Behinderung, psychischer Krankheit oder Altersdemenz (vgl. Dederich/Grüber 2007; Fornefeld 2008). Am Beispiel der von Garry Proutys ,Prä-Therapie‘ (1994, 1998) ausgehenden ,Kontaktarbeit‘ (Pfeifer-Schaupp 2009b) möchte ich das veranschaulichen. Proutys prä-therapeutischer Ansatz gilt heute als eine der wichtigsten Weiterentwicklungen der klientenzentrierten (später personzentrierten) Psychotherapie von Carl R. Rogers. Er ist vielfach erprobt und in einigen Ländern Europas weiterentwickelt worden. Der Begriff ,Prä-Therapie‘ sollte darauf verweisen, dass es Menschen gibt, bei denen die Fähigkeit zu jenem ,psychologischen Kontakt‘ fehlt, den Rogers als die wichtigste Voraussetzung für seine personzentrierte Psychotherapie ansieht. Inzwischen liegen auch aus dem Bereich der Altenpflege Erfahrungen vor (Morton 2002; Pörtner 2007; Pfeifer-Schaupp 2009a). Sie belegen, dass der prä-therapeutische Ansatz – neben der Validationstherapie (Feil 1992), der erlebnisorientierten Pflege und Mäeutik (Schindler 2003) und dem personzentrierten Ansatz von Tom Kitwood (2008) – auch im Pflegealltag in Form von ,Kontaktarbeit‘ eingesetzt werden kann. Prouty unterscheidet in seiner ,Kontakt‘-Theorie drei Bereiche: die Kontaktfunktionen der Klienten, die Kontaktreflexionen des Therapeuten und das Kontaktverhalten, das messbar ist. Die ,Kontaktfunktionen‘ wiederum bestehen normalerweise auf drei Ebenen: dem Kontakt zur Realität, dem Kontakt zu sich selbst und dem Kontakt zu anderen. Prouty geht davon aus, dass die damit verbundenen Fähigkeiten bei Menschen mit geistiger Behinderung, psychischer Erkrankung oder Demenz in der Regel beeinträchtigt sind. Ziel der Arbeit ist es folglich, Brücken zu bauen, um ihnen
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eine realistische Beziehung zur äußeren Welt (Menschen, Orte, Dinge und Ereignisse), eine affektive Beziehung zu sich selbst (Stimmungen, Gefühle und Emotionen) und eine kommunikative Beziehung zu anderen Menschen (Symbolisierung von Welt und Affekt gegenüber Anderen) zu eröffnen. Das Erleben des Patienten wird mittels ,Kontaktreflexionen‘ aufgegriffen, um Zugang zu seinen so genannten ,prä-expressiven‘ Erfahrungen zu finden. Sie „ermöglichen Kontakt zwischen der Therapeutin und dem Klienten, wenn dieser nicht in der Lage ist, Kontakt zur Realität, zu sich selbst und zu anderen aufzunehmen“ (Prouty 1998: 33): „1. Situationsreflexionen: Mit ganz einfachen Hinweisen auf Dinge im unmittelbaren Umfeld wird die momentane Situation angesprochen: ‚Wir sitzen am Tisch‘, ‚Die Lampe brennt‘, ‚Es ist heiß heute‘, ‚Das Zimmer ist groß‘, ‚Wir sind beide sehr still‘, ‚Sie spielen mit dem Bleistift‘. Situationsreflexionen dienen dem Kontakt zur Realität – hier im Sinne der momentanen unmittelbaren Umgebung. 2. Körperreflexionen: Das Ansprechen der Körperhaltung regt den Kontakt zum eigenen Körper an: zum Beispiel ‚Sie sind ganz steif‘, ‚Sie haben den Kopf auf die Arme gelegt‘, ‚Sie wippen mit dem Fuß‘ etc. Bei Menschen, die auf verbale Kommunikation nicht reagieren, kann es hilfreich sein, die gleiche Körperhaltung einzunehmen wie sie. […] Körperreflexionen fördern den Kontakt zu sich selbst auf der körperlichen Ebene. 3. Gesichtsreflexion: Das Ansprechen des Gesichtsausdrucks – zum Beispiel: ‚Sie haben Tränen in den Augen‘, ‚Sie sehen heute fröhlich aus‘, ‚Sie runzeln die Stirn‘, ‚Sie lächeln‘ – bringt Menschen in Kontakt mit ihren Gefühlen und vermittelt ihnen die Erfahrung, dass und wie andere ihre Gefühle wahrnehmen und an ihnen teilnehmen können. Gesichtsreflexionen fördern den Kontakt zu sich selbst auf der Gefühlsebene. 4. Wort-für-Wort-Reflexionen: Das wortwörtliche Wiederholen ist besonders sinnvoll bei Menschen, […] die vielleicht nur ganz leise, unzusammenhängende oder nicht verständliche Wortfetzen oder Laute von sich geben. Wenn dazwischen einzelne Worte oder Satzteile verständlich sind, können diese wiederholt werden, oder aber man wiederholt Laute oder Worte, die zwar nicht verständlich sind, aber spürbar Gefühle beinhalten. […] Wort-für-Wort-Reflexionen fördern den Kontakt zu anderen. 5. Das Prinzip des Wiederaufgreifens: Reflexionen, bei denen ein Kontakt gelungen ist, werden erneut aufgegriffen, um die Verbindung wiederherzustellen und den entstandenen Kontakt neu anzuregen. Wiederaufgreifende Reflexionen dienen der Ver-
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ankerung des Kontaktes und der Festigung der Kontaktfunktionen.“ (Pörtner 2007: 36f.)
Die Kontaktreflexionen sind nicht als mechanisch anwendbare Techniken zu verstehen, sondern als situativ einsetzbare methodische Hilfsmittel, um auf einfühlende Weise die drei Ebenen der Kontaktfunktion aufzubauen und zu festigen. Die Pflegeperson konzentriert sich dabei auf das konkrete, wahrnehmbare Erleben und intensiviert die inneren Gefühle des Klienten durch Reflexionsarbeit so weit, dass es zu einer Verbindung mit den drei genannten Kontaktebenen kommen kann. Im Bereich des ,Kontaktverhaltens‘ lässt sich nun erkennen, welche Veränderungen die Anregung der Kontaktfunktionen durch Kontaktreflexionen bewirkt haben. Angestrebt ist die Entwicklung von einem präexpressiven zu einem expressiven Selbst. Prouty verbindet mit ,präexpressivem Selbst‘ ein „metapsychologisches Konzept, das eine Neigung bezeichnet, Erleben zum Ausdruck zu bringen, das erst noch integriert werden muss. Diese Neigung kann als ein Aspekt der Selbstbestimmungstendenz […] betrachtet werden“ (Prouty 1998: 39f.). In der Realität lässt sich die Grenze zwischen prä-expressiven und expressiven Funktionen jedoch nicht immer deutlich erkennen, weshalb Dion van Werde diesen mehrdeutigen Bereich, in dem sich die beiden Zustände überschneiden, mit „Funktionen in der Grauzone“ (Van Werde 1998: 199) umschreibt. Van Werde macht mit Recht auch auf die besondere Bedeutung aufmerksam, die der Gestaltung institutioneller Rahmenbedingungen und der näheren Umgebung zukommt, damit die einzelnen Kontaktfunktionen gefördert werden können. Honneths Fürsorgebegriff stellt ein alternatives normatives Angebot an die ,Kontaktarbeit‘ dar, die sich bisher noch an den Prämissen der humanistischen Psychologie von Carl R. Rogers (1983) orientiert, der im psychotherapeutischen Prozess eine Haltung fordert, mit der drei Bedingungen erfüllt sein müssen: Wertschätzung oder nicht wertendes Akzeptieren, Empathie oder einfühlendes Verstehen und Kongruenz oder Echtheit. Die Begegnung mit dem Anderen ist auch für Rogers an die „leibhaftige Existenz konkreter Anderer“ (Honneth 1992: 153f.) gebunden, denen man Gefühle besonderer Wertschätzung entgegenbringt. Anerkennung hat hier „den Charakter affektiver Zustimmung und Ermutigung“ (ebd.: 153). Die Besonder-
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heit des Anderen wird anerkannt, insofern er den Status einer Person erhält, deren Wohlergehen einen Wert darstellt. In den Persönlichkeitstheorien von Rogers und Honneth ist das Subjekt mit einem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung verbunden, die sich nur erreichen lässt, wenn Anerkennung bzw. Wertschätzung durch signifikante Bezugspersonen erfahren werden. Wird dieses Bedürfnis nach Entfaltung des eigenen Selbst durch Wertschätzung befriedigt, so kann das jeweilige Selbstkonzept des Einzelnen auf ihr aufbauen. Ebenso begreifen beide die individuelle Psyche „als einen Organismus […], dessen Entwicklung sich in Form eines ständigen Austauschs mit seiner Umwelt vollzieht“ (Honneth 2003d: 155). Das ,Selbstkonzept‘ (Rogers 1985) verändert sich mit dem Heranwachsen, als den Bewertungen, die das Kind von außen aufnimmt, zunehmend mehr Bedeutung zukommt. Allerdings sind die Bezugspersonen des Kindes bei Rogers vorrangig nur von Bedeutung, als sie ein auf Wachstum und Selbstaktualisierung ausgerichtetes leibgebundenes Geschehen fördernd begleiten. Hier stellt sich die Frage, ob er damit dem intrapsychischen Geschehen des Menschen heute noch ausreichend Rechnung tragen kann. Mit Honneth ist eine kommunikationstheoretische Revision der Psychologie Rogers’ möglich, in der nicht mehr die Stärkung organismischer Entwicklung als Ziel vorherrscht, sondern die „Bereicherung des Ich durch kommunikative Verflüssigung des Innenlebens“ (Honneth 2003d: 145). Auf der Grundlage der Objektbeziehungstheorie beschreibt er die Entstehung der individuellen Psyche des Kindes auf komplexere Weise als einen Vorgang der Internalisierung von Interaktionsbeziehungen. Im Wechsel von affektiven Bindungen und Ablösungsängsten nimmt das Kind die Verhaltensweisen eines immer größer werdenden Kreises von Bezugspersonen in sich auf: „Die intrapsychischen Instanzen, die das Produkt eines gelingenden Verinnerlichungsvorgangs sind, schaffen gewissermaßen den inneren Kommunikationsraum, der nötig ist, um sich von dem stets wachsenden Kreis von Kommunikationspartnern unterscheiden zu können und zu einer autonomen Lebensgestaltung zu gelangen.“ (Ebd.: 148)
Allerdings können die Anhänger der Persönlichkeitstheorie Rogers’ hier mit Recht den Einwand erheben, dass sich Honneth mit seiner Bezugnahme
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auf Winnicotts Psychoanalyse in Selbstwidersprüchen verfängt, verfehlt er doch damit die von ihm selbst und Rogers geteilte Überzeugung eines moralischen Bestrebens nach Anerkennung.
IV. E LEMENTARE S TRUKTUREN
DER
ANERKENNUNG
Wie wir gesehen haben, erhält Honneth von der Psychoanalyse keine zufrieden stellende Antwort auf die Frage, welche moralischen Beweggründe es sind, die Menschen zu einem Kampf um Anerkennung motivieren. Diesem Dilemma begegnet er nun mit einer existential-phänomenologischen Analyse der Anerkennung. Mit John Deweys ,praktischem Engagement‘, Martin Heideggers ,Sorge‘ und Georg Lukács’ ,Anteilnahme‘ teilt er den Grundgedanken, dass dem Erkennen von Objekten ein existentielles Interesse an der Welt vorausgeht, das sich aus der Erfahrung ihrer Werthaftigkeit speist. Für deren Umschreibungen praktischer Besorgtheit setzt Honneth kühn den Begriff der Anerkennung ein: „[D]amit soll hier vorläufig nur der Umstand hervorgehoben werden, dass wir uns in unserem Handeln vorgängig nicht in der affektiv neutralisierten Haltung des Erkennens auf die Welt beziehen, sondern in der existentiell durchfärbten, befürwortenden Einstellung des Bekümmerns: Wir räumen den Gegebenheiten der uns umgebenden Welt zunächst stets einen Eigenwert ein, der uns um unser Verhältnis mit ihnen besorgt sein lässt.“ (2005: 41f.)
Unserem objektivierenden Weltverhältnis liegt folglich „eine Schicht der existentiellen Anteilnahme“ zugrunde, die „Züge einer existentiellen Besorgnis“ (ebd.: 46) trägt. Auf der anderen Seite münden Honneths Überlegungen zum Thema „Verdinglichung“ „in einen rabiaten Übersetzungsvorschlag“ (Seel 2009: 158). Er erhebt nicht nur seinen Leitbegriff in „intersubjektiver, subjektiver und objektiver Hinsicht […] zu einer anthropologischen, ethischen und epistemologischen Grundkategorie“ (ebd.: 157), sondern deutet ihn negativ: Verdinglichung ist ,Anerkennungsvergessenheit‘, durch die „in unserem Wissen um andere Menschen und im Erkennen von ihnen das Bewusstsein verloren geht, in welchem Maß sich beides ihrer vorgängigen Anteilnahme und Anerkennung verdankt“ (Honneth 2005: 68). Mit ,Anerkennungs-
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vergessenheit‘ verbindet Honneth nicht nur die Beziehung der Menschen untereinander; vielmehr besteht sie auch darin, dass das Subjekt vergisst, dass sich der primäre Zugang zu sich selbst und zu der Welt von natürlichen und künstlichen Objekten auf einer befürwortenden, anerkennenden Haltung beruht. Der Verlust einer befürwortenden Einstellung gegenüber sich selbst, anderen Personen und Dingen erfolgt über die Einrichtung gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen, durch die es zu emotional neutralisierten Orientierungen und Einstellungen kommt. Honneths Vorstellung einer existenzialen Struktur der Anerkennung lässt sich nun mit der einer Fürsorge im Sinne von „Besorgtheit“ bzw. „Anteilnahme“ (ebd.: 34f.) gleichsetzen, die wir gegenüber uns selbst, Menschen und Dingen einnehmen. In einer früheren Kritik an Hans-Georg Gadamers (1986) Fürsorgebegriff deutete sich diese Wende bereits an (Honneth 2003c): Für Gadamer besteht die Besonderheit interpersonaler Beziehung darin, dass wir es mit einem Anderen als Gegenüber zu tun haben, der selbst handelnde Person ist. Er unterscheidet drei epistemischmoralische Stufen der Intersubjektivität: Wir können den Anderen in „reine[r] Selbstbezüglichkeit“ (Gadamer 1986: 365) auf festgelegte Eigenschaften reduzieren, die für die Verfolgung eigener Zwecke die wesentlichen Ansatzpunkte bilden, so dass er als Gegenüber aller Überraschungswerte beraubt wird. Wir können in einer „Weise der Ichbezogenheit“ (ebd.) glauben, ihn zu verstehen und seinen Forderungen und Ansprüchen vorgreifend begegnen. Wir können aber auch um die „Andersheit des Anderen“ (ebd.: 366) wissen und dadurch mit einer Haltung der Offenheit versuchen, ihn „als Du wirklich zu erfahren, d.h. seinen Anspruch nicht zu überhören“ (ebd.: 367). Gadamer ordnet die professionelle helfende Beziehung prinzipiell auf der zweiten Stufe im Sinne eines fürsorglichen Paternalismus ein: Eine „Dialektik der Fürsorge“ (ebd.: 366) führt dazu, „sich selber aus der Beziehung zum anderen herauszureflektieren und dadurch von ihm unerreichbar zu werden“ (ebd.): „Indem man den anderen versteht, ihn zu kennen beansprucht, nimmt man ihm jede Legitimation seiner eigenen Ansprüche. […] Der Anspruch, den anderen vorgreifend zu verstehen, erfüllt die Funktion, sich den Anspruch des anderen in Wahrheit vom Leibe zu halten“ (ebd.). Die Pflegeperson kommt nach Gadamer gar nicht umhin, in ihr Gegenüber Bedürfnisse oder Ansprüche hineinzuprojizieren, von denen sie annimmt, ein besseres, unbefangenes Wissen zu haben. Im Verstehen des anderen
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Menschen reklamiert sie eine überlegene Sichtweise und leugnet damit eine vorgängige Bindung an ihn und dementsprechend eine Art von Vorurteilslosigkeit im Umgang mit ihr. Axel Honneth (2003c: 62ff.) wendet mit Recht kritisch ein, dass Gadamer das fürsorgeabhängige Subjekt ausschließlich im Modus des Verfallens an die Uneigentlichkeit des „Man“ bestimmt, indem er sich an Heideggers problematischem Verständnis von „Mitsein“ orientiert, das am Maßstab der „Entschlossenheit zu sich selbst“ ausgerichtet ist. Von einer „autoritativen Form der Fürsorge“ (Gadamer) lässt sich aber erst dann sprechen, wenn die Pflegeperson auf der kognitiven Ebene von der anerkennenden Bindung abstrahiert, die sie vorgängig bereits mit dem hilfebedürftigen Anderen unterhält. In diesem Fall käme sie dem Anspruch des Anderen bereits zuvor und würde sich in ihrem Verhalten zu ihm einer Anerkennungsvergessenheit schuldig machen. Von diesem Fehler kommt die helfende Person aber in dem Augenblick frei, wo sie sich vor allem Erkennen in affektiver Verbundenheit mit ihrem Gegenüber weiß, so dass sie sich in wertschätzender Weise dem Anderen gegenüber zu öffnen vermag. Honneth bezieht sich auf Michael Tomasellos (2003) evolutionäre Anthropologie, um erneut seine These zu untermauern, dass die emotionale Identifikation mit Anderen im genetischen Sinn die notwendige Voraussetzung darstellt, um jene Perspektivübernahme zu ermöglichen, die zur Entwicklung symbolischen Denkens führt. Darüber hinaus führt er Peter Hobsons (1993) empirische Vergleiche mit autistischen Kindern an, um zu veranschaulichen, dass es affektiv bedingte Barrieren geben kann, „ein Verbundenheitsgefühl mit seinen primären Bezugspersonen zu entwickeln“ (Honneth 2005: 49): „Weil das autistische Kind ‚gefühlsmäßig nicht ansprechbar ist, bleibt es in seiner Perspektive auf die Welt gefangen und lernt keine andere kennen. Es sieht, oder genauer ausgedrückt, es fühlt nicht, dass in Gesichtsausdrücken, Bewegungen und kommunikativen Gesten Einstellungen zum Ausdruck kommen. Es ist blind für den expressiv-mentalen Gehalt solcher Äußerungen oder, wie man auch sagt, für ihre Bedeutung‘.“ (Ebd. 50f.)
Lernprozesse des Kindes erfolgen in einer „Art von existentieller, ja affektiver Anteilnahme am Anderen, die es überhaupt erst ermöglicht, dessen Perspektive auf die Welt als bedeutsam zu erfahren“ (ebd., 51).
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In einem weiteren Schritt führt Honneth die neue Idee ein, „dass unsere kognitiven Weltbeziehungen […] in einem begrifflichen Sinn an Einstellungen oder Anerkennung gebunden sind“ (Honneth 2005: 54). Mit Stanley Cavell (2002) kritisiert er die Vorstellung, wir könnten „von den mentalen Zuständen anderer Personen, dem so genannten ‚Fremdpsychischen‘, ein direktes, unmittelbares Wissen besitzen“ (Honneth 2005: 54). Sprachliches Verstehen, so Honneth, ist „an die nicht-epistemische Voraussetzung der Anerkennung des Anderen gebunden“ (ebd.: 59). Honneth schlägt daher vor, „den kommunikativ Handelnden nicht als ein epistemisches, sondern als ein existentiell involviertes Subjekt (zu) denken, das von den Empfindungszuständen der anderen Person nicht neutral Kenntnis nimmt, sondern davon in seinem eigenen Selbstverständnis affiziert ist“ (ebd.: 56). Den Vorgang intersubjektiver Anerkennung bestimmt Honneth nun dadurch, dass er ihn gegenüber dem bloßen Erkennen von Personen abgrenzt: „Die Entgegensetzung von ‚Erkennen‘ und ‚Anerkennen‘ stellt, so bin ich heute überzeugt, den Schlüssel für ein angemessenes Verständnis dessen dar, was sich im Akt der Anerkennung vollzieht.“ (2003b: 8f.). Anerkennung geht über den kognitiven Akt der individuellen Identifikation hinaus, insofern wir damit „den expressiven Akt bezeichnen, durch den jener Erkenntnis die positive Bedeutung einer Befürwortung verliehen wird“ (ebd.: 15). Im Vergleich zum Erkennen besitzt sie folglich einen performativen Charakter. Sie ist mit entsprechenden Handlungen, Gesten oder Mimiken verbunden, die zum Ausdruck bringen, dass wir den Anderen befürwortend zur Kenntnis nehmen: Im „liebevollen Lächeln artikuliert sich die motivationale Bereitschaft zu Handlungen der Fürsorge, während im respektvollen Grüßen eher die negative Bereitschaft zum Ausdruck gelangt, auf alle bloß strategischen Handlungen Verzicht zu leisten“ (ebd.).
V. AUSBLICK Auf der Grundlage seiner existenzial-phänomenologischen Analyse einer „anerkennenden Primärerfahrung“ (2005: 102) hat Honneth den Nachweis erbracht, dass es moralische Erfahrungen verletzter Anerkennung sind, die die Menschen zu einem Kampf um Anerkennung bewegen. Von einer psychoanalytischen Genealogie der Interaktion in der Eltern-Kind-Beziehung ist er zur begrifflichen Klärung einer primären Anerkennung übergegangen,
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„die ein Moment der unwillkürlichen Öffnung, Hingabe oder Liebe enthält“ (ebd.: 51). Honneth geht davon aus, dass „dieser ‚existenzielle‘ Modus der Anerkennung allen anderen, gehaltvolleren Formen der Anerkennung zugrunde liegt“ (ebd.: 60, Fußn. 19). Der Andere wird durch eine grundlegende Haltung der Besorgtheit mit der „moralischen Autorität“ ausgestattet, „insoweit über die eigene Person zu verfügen, als man sich selber zur Ausführung oder Unterlassung bestimmter Klassen von Handlungen verpflichtet weiß“ (2003b: 22): „Was Cavell als ‚acknowledgement‘ bezeichnet, Heidegger als ‚Sorge‘ oder ‚Fürsorge‘ und Dewey als ‚Involviertheit‘, liegt unterhalb der Schwelle, auf der die wechselseitige Anerkennung bereits die Bejahung spezifischer Eigenschaften des jeweiligen Gegenübers impliziert.“ (Honneth 2005: 60) Auf der Grundlage dieser Existenzialstruktur der menschlichen Lebensform können nicht nur diskriminierende Formen des Unsichtbarmachens (Honneth 2003b), der ideologischen Anerkennung (Honneth 2004b) oder der ,Verdinglichung‘ (Honneth 2005) untersucht werden; darüber hinaus lassen sich auch die vielfältigen Vorgänge der Missachtung und Demütigung gegenüber Personen beschreiben, die aufgrund ihrer komplexen Behinderungen und Krankheiten nicht selbst dazu in der Lage sind, für ihre Anerkennung einzutreten. Es erinnert sehr an Levinas, wenn Honneth schreibt, mit „Anteilnahme“ (ebd.: 59) sei die „existentielle, bis ins Affektive hineinwirkende Tatsache verbunden, „dass wir den Wert des Anderen in der Einstellung der Anerkennung bejahen müssen, selbst wenn wir ihn im Augenblick verfluchen oder hassen“ (ebd.: 59f.). Auch bei Levinas wird die Dimension des Ethischen eröffnet, wenn ein Anderer sich auf irgendeine Art und Weise an mich richtet. In der direkten Begegnung vollzieht sich eine Erfahrung, die grundverschieden ist von der äußeren Perspektive eines Sprechens oder Denkens über einen anderen Menschen: Wenn ich über einen Menschen (mit Demenz) spreche, höre, ihn sehe oder fühle, bin ich derjenige, der mehr oder weniger kompetent vergleicht und kategorisiert. Seine Andersheit ist aufgehoben worden. Nur innerhalb der Begegnung zeigt sich, was den Anderen als solchen einzigartig macht, nämlich sein Ansehen oder Ansprechen, das sich nicht verdinglichen lässt. Abschließend stellt sich daher die Frage, warum Honneth nach wie vor Levinas nur insoweit Bedeutung einräumt, als sich mit dessen Hilfe die normative Geltung des Prinzips der Gleichbehandlung in Fällen „extremer Bedürftigkeit oder Not“ (Honneth 2000: 170) außer Kraft setzen lässt.
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Das Andere der Anerkennung als konstitutives Moment der Psychiatrischen Pflege H ARALD H AYNERT
Die Geschichte der Psychiatrie ist zweifelsohne – aber nicht ausschließlich – eine Geschichte der Entwürdigung, des Ausschlusses und der sozialen Kontrolle psychisch kranker Menschen. Sie kann aber auch als eine Geschichte des Kampfes um Anerkennung von psychischer Krankheit und die Bedürfnisse der Betroffenen gelesen werden. Davon zeugt auch die kulturgeschichtliche Entwicklung der institutionellen Psychiatrie. Lag ihre Funktion am Anfang zunächst in der Ausgrenzung (Foucault 2001), später dann in der Integration pathologischer Abweichung (Castel 1983), um Normalität und Überwachung zu gewährleisten, so ist sie nunmehr zu einem gesellschaftlichen Projekt geworden (Finzen 1996), um psychisch kranken Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Pflegenden wird dabei eine zentrale Aufgabe zugeschrieben: Sie sollen die Betroffenen nicht nur im Umgang mit der Krankheit unterstützen, indem sie den Betroffenen eine auf bedingungslose Wertschätzung basierende Einstellung entgegenbringen (Gray 2002: 74). Sie sollen darüber hinaus auch die Betroffenen zur Teilhabe an der Gesellschaft befähigen, indem sie nicht nur krankheitsbezogen arbeiten, sondern auch über die Grenzen der Institutionen hinweg tätig werden und z.B. Kontakte zur Gemeinde herstellen (Bertram/Stickley 2005: 390). Dies entspricht auch dem Wunsch der Betroffenen selbst, die nicht aufgrund der Diagnose einer psychischen Krankheit stigmatisiert werden (Barbato 2004: 114), sondern die notwendi-
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ge medizinisch-pflegerische Hilfe erhalten wollen, um nach Möglichkeit gesund zu werden und ein normales Leben führen zu können (Thornicroft et al. 2002: 3). Unklar bleibt dabei jedoch, wie Pflegende dies unter ethischen Gesichtspunkten realisieren sollen.
ANERKENNUNG UND P FLEGE PSYCHISCH KRANKER M ENSCHEN Auf der Suche nach einem normativen Bezugsrahmen im pflegerischen Umgang mit dem psychisch kranken pflegebedürftigen Menschen stellt sich die Frage, wie die Beziehung zum pflegebedürftigen Menschen moralisch gestiftet wird? Die Sozialphilosophie bietet als Antwort auf diese Frage den interpersonalistischen Anerkennungsbegriff. Er hat als ein möglicher Begriff zur Rekonstruktion sozialer Zusammenhänge in jüngster Zeit an Bedeutung gewonnen und verdeutlicht einen Modus, durch den sich Sozialität, d.h. soziale Bindungen, soziale Felder und sozialisierte Subjekte herausbilden.
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„Anerkennung ist eine soziale Ordnungskraft moderner Prägung, die unter den Bedingungen von Freiheit und Gleichheit zum Tragen kommen soll und die durch Inklusion und Exklusion wirkt.“ (Schnell 2004: 77) Sie bewirkt, dass etwas mit etwas Anderem an Stand gewinnt und bestimmt, was das Andere ist und wie an ihm und mit ihm gehandelt werden soll. Modern ist der Anerkennungsbegriff deswegen, weil ihm die Auffassung zu Grunde liegt, dass die moderne Gesellschaftsordnung nicht mehr im Kosmos oder in einem Vertrag begründet liegt, sondern als und durch Anerkennung zwischen freien Subjekten gestiftet wird. Mit dem Anerkennungsbegriff ist die Idee einer integren Lebensform verbunden (Filsinger 2003: 21). Die Integrität und das Selbstwertgefühl einer Person sind an die Erfahrung intersubjektiver Anerkennung gebunden (Schütz 2000: 189). Sie stellt die zentrale Bedingung für ein gesundes Selbstkonzept dar. Positive Anerkennung in Form von Zuwendung, Lob
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und Bestätigung sind eine das Selbstwertgefühl steigernde Bewertung des anderen Menschen. Negative Anerkennung in Form von Ausschluss, Entwürdigung oder Missachtung schädigt die Integrität einer Person. Anerkennung, als ethische Aufgabe und Leistung verstanden, wird immer dann zur Herausforderung, wenn zwischen sozialen Akteuren kein gemeinsamer unfraglicher Kontext vorausgesetzt werden kann, aber die Integrität einer Person dennoch gewährleistet werden soll. Die Anerkennung psychisch kranker pflegebedürftiger Menschen durch Pflegende in der Psychiatrie stellt eine solche Herausforderung dar. Normalität und Andersheit sind in der Psychiatrie als Probleme allgegenwärtig (Gray 2002), die Pflegebeziehung ist von asymmetrischer Natur (Peplau 1997: 61). Es bleibt die Frage, wie Pflegende psychisch kranke Menschen anerkennen können und sollen?
D IE P FLEGE PSYCHISCH KRANKER M ENSCHEN L ICHTE DER ANERKENNUNG
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Pflege ist ein interaktiver, kommunikativer und berührender Beruf und eine Tätigkeit. In der Pflege in der Psychiatrie tätig zu sein bedeutet, sich auf eine Beziehung mit dem psychisch kranken pflegebedürftigen Menschen und seinen Angehörigen einzulassen, mit ihnen zu reden, zu berühren und berührt zu werden (Haynert/Schnell 2009: 381), da die „Psychiatrie die Begegnung zweier Menschen ist, dem psychisch Kranken und dem psychiatrisch Tätigen, in ihren jeweiligen Landschaften“ (Dörner/Plog 1984: 12). Das Besondere dieser Beziehung ist die Tatsache, dass sie nicht zufällig und überraschend geschieht, wie zum Beispiel eine Begegnung im Bus oder eine zufällige Bekanntschaft in einer Bar. Diese beiden Begegnungen könnte man vielleicht eher als Kontakte bezeichnen, sie können von nur kurzer Dauer sein, werden nicht bewusst herbeigeführt und verpflichten zu nichts. Anders die Pflegebeziehung, bei der sich ein um Hilfe und um Pflege bittender Mensch und eine Pflegeperson von Angesicht zu Angesicht begegnen, und in der Hilfe und Pflege erwartet wird. Mit der Bitte um Hilfe wird man in die Verantwortung eingesetzt, sich zu kümmern und man kann sich diesem Ersuchen nicht entziehen, weil das Eingehen auf das Hilfeersuchen die eigentliche Aufgabe der Pflege ist. Dieses Grundphänomen bildet den Begegnungsaspekt der Pflege.
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Psychisch kranke Menschen zu pflegen bedeutet darüber hinaus auch, einen Humanismus des psychisch kranken Menschen gelten zu lassen und seine Menschenwürde und sein Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung zu achten. Die Psychiatrie ist nämlich der Ort in unserer Gesellschaft, „wo der Mensch besonders menschlich ist; d.h., wo die Widersprüchlichkeit des Menschen oft nicht auflösbar, die Spannung auszuleben ist“ (Dörner/Plog 1984: 9). Lachen und Weinen, Freude und Trauer, Leben und Tod sind existentielle Erfahrungen des psychisch kranken Menschen, die sich im Widerstreit in ihm vereinigen und seine Leiden auslösen. Es sind menschliche Grunderfahrungen die der psychisch kranke Mensch erlebt, die genauso gut jeden anderen Menschen treffen können. Eine Grundwahrheit der menschlichen Existenz lautet deshalb, „Irren ist menschlich“ (ebd.). Es ist aber auch heute immer noch eine gängige Praxis, das, was wir nicht verstehen, was uns Angst macht oder was von der gesellschaftlichen Norm abweicht, als verrückt, irre oder wahnsinnig zu bezeichnen und deshalb auszugrenzen. Demgegenüber geht ein Humanismus des psychisch kranken Menschen mit einer positiven Deutung der Andersheit des psychisch kranken Menschen einher. Psychisch krank zu sein ist eine Art und Weise, mit uns zusammen in der Welt zu sein. Genauso wie man fröhlich, heiter, gesund oder traurig sein kann, kann man auch depressiv, manisch oder schizophren in der Welt sein. Um die Andersheit psychisch kranker Menschen positiv zur Geltung zu bringen muss ein Gedankenwechsel vollzogen werden. Es geht nicht mehr nur darum, vom Anderen Anerkennung zu erhalten, sondern darum ihm das eigene Sein anzubieten. Anerkennung bedeutet, eine asymmetrische Normalität zu gestalten, die nicht an die strenge Vorgabe der Reziprozität gebunden ist, um so die Integrität der Person wieder herzustellen bzw. zu erhalten. Für die Pflegepraxis bedeutet dies, betroffene Personen zu befähigen, eine neue Normalität, gegebenenfalls mit Krankheit oder einzelnen Symptomen, leben zu können. Anhand eines Fallbeispiels (Tagebucheintrag meiner ersten Begegnung mit einer dementen Person, 01.07.1994) soll verdeutlicht werden, wie Pflegende beide Aspekte im Berufsalltag realisieren können und wie, wenn sie es tun, Anerkennung zum konstitutiven Moment der Psychiatrischen Pflege wird.
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F ALLBEISPIEL : D ER B US , DER B US . I CH MUSS ZUM B US ... Meine erste Begegnung mit einem psychisch kranken pflegebedürftigen Menschen in der Psychiatrie werde ich nie vergessen. Am 02. August 1994 kurz nach 08:00 Uhr betrat ich zum ersten Mal eine geschlossene gerontopsychiatrische Aufnahmestation. Ohne Praxisanleiterin und Schlüssel, erstere sollte mich eigentlich um 08:00 Uhr an der Pforte abholen und mir letztere aushändigen, ging ich zu der mir zugewiesenen Station. Ich hatte kaum das Treppenhaus betreten, als massiver Lärm von der Station nach draußen drang. Der Tumult aus lauten Schreien, die ich allerdings nicht verstehen konnte, sowie das Geräusch von umherrückenden Möbelstücken und Faustschlägen gegen die Stationstür machten mir Angst. Ich bekam Angst und überlegte, ob ich lieber wieder gehen soll. Plötzlich fielen mir alle Horrorgeschichten ein, die mir Freunde über psychisch kranke Menschen erzählt haben. Sie seien gewalttätig, laut, einfach anders als wir. Erst nachdem ich eine kurze Weile an der Rauchglastür gelauscht hatte nahm ich meinen Mut zusammen und klingelte doch an der Tür. Ein lautes: „Geht jetzt nicht, die Tür muss zu bleiben“ war die einzige Antwort, die ich bekam. Erst nach einer kurzen Weile wurde die Tür einen spaltbreit aufgemacht und gefragt wer ich sei. Meine Antwort kaum abwartend wurde ich schnell reingezogen und die Tür ebenso schnell wieder hinter mir geschlossen. Jetzt war ich drin, es gab kein Entrinnen mehr. „Zu spät, Du kommst nicht mehr raus, Du hast ja noch gar keinen Schlüssel“ war alles, was ich zu diesem Zeitpunkt denken konnte. Auf dem Stationsflur tobte das Leben. Eine alte Frau, ich schätzte sie damals auf 70 Jahre, lief laut rufend über den Stationsflur. Direkt hinter ihr, einen Zipfel ihres Nachthemdes greifend, lief eine Schwester. Die alte Frau rief immer nur: „Ich muss den Bus kriegen, der Bus, der Bus...“ Die Schwester wiederum schrie ihr hinterher: „Frau S., hier fährt kein Bus ab, Sie sind im Krankenhaus. Begreifen Sie das endlich!“ Das erboste die alte Frau nur noch mehr, sie versuchte sich loszureißen und schrie nur noch lauter: „Der Bus, ich muss doch zum Bus...“ Die Schwester, die mir die Tür geöffnet hatte, ließ mich einfach stehen und eilte ihrer Kollegin zu Hilfe, indem sie sich der alten Frau in den Weg gestellt hat. Es entbrannte ein Handgemenge zwischen den zwei Schwestern und der alten Frau, die sich durch Kratzen und Treten befreien und weiterlaufen wollte. Sie rief unaufhörlich: „Ich muss doch zum Bus!“
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Die zwei Schwestern hatten sie mittlerweile wie in einem Schraubstock zwischen sich eingeklemmt. Da wurde plötzlich ein Schlüssel im Zylinder der Stationstür umgedreht und die Praxisanleiterin stand im Türrahmen und fragte, was denn hier los sei. Ihre Frage war aber nicht an die beiden Schwestern gerichtet, sondern an die alte Frau, die auch sogleich den Kopf gehoben und geantwortet hat: „Es ist schon 08:00 Uhr, ich muss zum Bus, ich muss zum Bus.“ Nachdem Schwester H. mich mit einem kurzen Blick gemustert und mir gesagt hatte, ich solle mich doch auf einen Stuhl vor dem Schwesternzimmer setzen, wies sie ihre Kolleginnen an, die alte Frau loszulassen. Diese schüttelte prompt die zwei Schwestern ab, lief zu Schwester H., griff ihre Hand und zog sie mit sich den Flur entlang, wobei sie nur rief: „Wir müssen zum Bus, zum Bus...“ Zu meinem Erstaunen ließ Schwester H. all dies mit sich machen. Darüber hinaus hat sie sogar gar nicht versucht, der alten Frau ihre Wahrnehmung auszureden. Im Gegenteil sogar, ich habe sie Fragen stellen hören, wie: „Welche Linie müssen wir denn nehmen?“, „Wo wollen wir denn hin?“ oder „Wann kommt denn der nächste Bus?“ Überraschenderweise beruhigte sich die alte Frau in Gegenwart von Schwester H. sehr schnell und lief nicht mehr so getrieben über den Flur. Sie hat sich sogar mit ihr neben mich auf einen Stuhl gesetzt und ihre Fragen beantwortet. Die alte Frau sagte, sie wollte zur Haltestelle der Linie 311. Dorthin bringe sie gegen 08:00 Uhr doch immer ihren Mann. Des Weiteren erläuterte sie alle Abfahrtszeiten der Linie 311 sowie die der anderen Linien, die diese Haltestelle anfuhren, so dass Schwester H. mit ihr eine Alternativroute für ihren ja nunmehr verspätet zur Arbeit kommenden Mann aussuchen konnte. Ich war überrascht darüber, wie schnell die zunächst bedrohlich wirkende Situation durch einige wenige Fragen und eine bedingungslose Wertschätzung von Schwester H. bereinigt werden konnte.
F ALLANALYSE Die verwirrte alte Frau aus dem Fallbeispiel „ist eine Gefangene ihrer Wahrheit“ (Wilhelm 1998: 275). Sie leidet an einer Demenz und ist zeitlich und örtlich desorientiert. Sie glaubt wirklich, den Bus erreichen zu müssen, befürchtet Konsequenzen, wenn sie es nicht schafft, und setzt deshalb alle verbliebenen Kräfte ein, um ihr Ziel zu erreichen. „Sie reagiert, wie jeder andere normale Mensch in einer solchen Situation reagieren würde“ (ebd.:
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276). Deshalb versteht sie es auch nicht, dass man sie zurückhalten will, ihr unterstellt, ihre Wahrnehmung sei falsch, denn sie „selbst sieht sich wohl kaum als verwirrter Mensch in einer logischen Umwelt, sondern als – allenfalls verzweifelnder – Mensch in einer absolut unvertrauten und keineswegs sinnvollen Umwelt“ (Wilhelm 1998: 278). Dies wird aus der Reaktion von Frau S. auf das Verhalten der ersten Schwester deutlich, die weder die pflegebegründende Diagnose von Frau S. beachtet und geeignete Pflegeinterventionen einleitet, noch ihre Erfahrungen ernst nimmt und versucht, den biografisch-lebensweltlichen Hintergrund der Worte von Frau S. zu verstehen. Ihr einziges Anliegen ist es, so schnell wie möglich normale Verhältnisse zu schaffen. Hier ist ein Krankenhaus! Frau S. ist krank! Frau S. solle dies akzeptieren und sich auch dementsprechend verhalten! Dass Frau S. sich längst entsprechend ihrer Krankheit verhält und dass sie neben einem Menschen, der an einer Demenz leidet, auch eine Person ist, deren Erfahrungen ernst genommen zu werden verdienen, übersieht sie vollends. Der Begegnungsaspekt der Würde wird von der ersten Schwester also verfehlt. In diesem Sinne kann eigentlich gar nicht von einer pflegerischen Begegnung gesprochen werden. Die Qualität der Begegnung verdient eigentlich eher die Bezeichnung „Vergegnung“ (vgl. Baumann 1995: 229), ein Ausdruck, mit dem eine Begegnungsform bezeichnet wird, die Inhumanität freisetzt, und in der ein gewaltsames Moment den Anderen nicht zur Geltung kommen lässt. Eine vollkommen andere Begegnungsqualität schafft hingegen Schwester H., die die Pflegeintervention „Validation“ anwendet. Die Validation wurde von der amerikanischen Sozialarbeiterin und Gerontologin Naomi Feil 1963 als Kommunikationsform mit und wertschätzende Grundhaltung gegenüber altersverwirrten Menschen entwickelt und bis 1980 fortlaufend modifiziert. Die Validation geht von der Annahme aus, dass sehr viele alte Menschen am Ende ihres Lebens in eine Aufarbeitungsphase kommen (Feil 2000: 33), in der „sie ihre Vergangenheit wieder erleben, um ihre Würde wiederherzustellen“ (ebd.: 25). Die von den alten Menschen ausgeführten Aktivitäten werden aber von Außenstehenden nicht verstanden und deshalb als Verwirrtheit falsch gedeutet (ebd.), was im Pflegealltag zu Problemen führen kann. Die Validation kann dabei helfen, die Würde alter Menschen trotz des als abweichend erlebten Verhaltens durch die Anderen zu erhalten, sowie das Selbstwertgefühl wieder herzustellen und Vertrauen und Sicherheit zu schaffen. Der Schlüssel dazu liegt in einer würdevollen Begeg-
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nung mit dem Menschen mit Demenz (Validation: von lat. Validus = stark, kräftig; engl. Valid = gültig), in der Antizipation der Gefühle der Betroffenen sowie im „Für-Gültig-Erklären“ ihrer Erfahrung und ihrer subjektiven Wirklichkeit. Damit folgt Feil Wilhelm (1998: 277), der konstatiert, dass für demenziell veränderte Menschen die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven, die eine Interaktion erst möglich macht, ihre Geltung verliert. In der Pflegebeziehung kann es deshalb nicht darum gehen, verwirrte alte Menschen wieder in die bestehende Normalität zu integrieren. Vielmehr ist es Aufgabe Pflegender, ihnen trotz ihrer Krankheit und Pflegebedürftigkeit ein Leben in Würde zu ermöglichen. Dies kann erreicht werden, indem gemeinsam mit ihnen und für sie neue eine asymmetrische Normalität gestaltet wird, die eben nicht dem strengen Primat der Reziprozität unterworfen ist. Schwester H. gelingt es mittels der Validation eine Begegnung in Würde zu gestalten, die die alte Frau in ihrer Andersheit zur Geltung kommen lässt und ihr in der Pflegebeziehung ihr Selbst-Sein ermöglicht. Sie nimmt ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen ernst und sieht in ihr sowohl einen Menschen mit der Erkrankung Demenz als auch eine Person mit eigener Biografie, die das aktuelle Erleben beeinflusst. In diesem Sinne kann wirklich davon gesprochen werden, dass der Begegnungsaspekt der Würde erfüllt worden ist. Die Analyse des pflegerischen Umgangs mit an Demenz erkrankten Menschen zeigt, dass die Pflegebeziehung mit dem psychisch kranken pflegebedürftigen Menschen „grundsätzlich auf einer gleichwertigen wechselseitigen Anerkennung als Subjekt“ (Böhle/Brater/Maurus 1997: 21) basiert, die sich an der Idee der Personenwürde orientiert (Diehl 2000). Pflegehandeln ist „Subjektivierendes“ und „situatives Handeln“ (ebd.: 18), dass die antizipierende Anerkennung der Andersheit des Anderen vor der konkreten Begegnung mit ihm voraussetzt. In diesem Sinne stellt realisierte Anerkennung ein konstitutives Moment der Psychiatrischen Pflege dar.
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P SYCHIATRISCHEN P FLEGE
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Care-Praxis und Gerechtigkeit Der konkrete Andere in Medizin und Pflege H ELEN K OHLEN
If I do not speak for the less privileged [...], am I abandoning my political responsibility to speak out against oppression […]? If I should not speak for others, should I restrict myself to following others’ lead uncritically? Is my greatest contribution to move over and get out of the way? And if so, what is the best way to do this – to keep silent or to deconstruct the discourse? LINDA ALCOFF
E INLEITUNG Fragen der Gerechtigkeit im Bezugsrahmen einer konkreten sozialen Praxis, etwa der Medizin und Pflege, finden nur schwer ihren Platz in vorrangig diskutierten Moraltheorien. Die Tradition von Immanuel Kant bis John Rawls definiert Moralität durch einen Universalismus, der zur Folge hat, dass der Andere lediglich als ein „verallgemeinerter Anderer“ (Benhabib 1989: 454) in den Blick genommen werden kann. Auch die Bioethik hat von Beginn an Fragen einer formal verstandenen Gerechtigkeit und Autonomie den Vorrang eingeräumt vor Fragen konkreter Fürsorge oder sozialer Gleichheit. Um konkrete Praktiken zu analysieren, erweisen sich allerdings
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Theorieansätze zu Care (Fürsorge), die Ungleichheit, Macht und Konflikt thematisieren, als hilfreich. Ihre Begrifflichkeit erlaubt es Praktiken sichtbar zu machen, sie in ihren Zusammenhängen zu beschreiben und ihre Auslassungen zu erkennen. Dies können Feldstudien zur klinischen Ethik sein (Halverson et al. 2009a, b; Kohlen 2009). Die Analyse der teilnehmenden Beobachtungen und Interviews macht den Blick auf Fragen nach Gerechtigkeit und verantwortlicher Care-Praxis unumgänglich. Die empirischen Ergebnisse verweisen auf einen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und dem Status von Patienten sowie ihren Angehörigen und dem Grad an Achtsamkeit, der ihnen in Pflege und Medizin entgegengebracht wird. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, anhand empirischer Befunde zu zeigen, welche Rolle Gerechtigkeitsfragen für eine fürsorgliche Praxis (Care) von Pflege und Medizin spielen, wie sie sich im Einzelnen darstellen und durch welche theoretischen Ansätze sie am ehesten erfasst werden können. Hierzu stelle ich die Ergebnisse von zwei Feldstudien vor: Die in norwegischen Universitätskliniken durchgeführte Forschungsarbeit von Kristin Halverson et al. (2009a, b) sowie meine eigene empirische Untersuchung zu klinischen Ethikkomitees in den USA und in Deutschland (2009). Beide Arbeiten fanden im Zeitraum von 2004 bis 2007 statt. Im zweiten Teil geht es um eine Zusammenschau der theoretischen Ansätze von Margaret Urban Walker (1998, 2003), Seyla Benhabib (1995), Joan Tronto (1994) und Elisabeth Conradi (2001, 2003) die am ehesten den Gerechtigkeitsfragen der Care-Praxis gerecht werden können.
Z UR S ITUIERUNG DES P ROBLEMS Im Fokus zeitgenössischer einflussreicher universalistischer Moraltheorien stehen Fragen der Gerechtigkeit. Martha Nussbaum (2006) kritisiert in ihrem Werk „Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership“ die Vernachlässigung von Problemen sozialer Gerechtigkeit in aktuell diskutierten Theorien. Vorrangig sieht sie zukünftig die Beschäftigung mit der Frage eines gerechten Handelns gegenüber Menschen mit physischen und mentalen Beeinträchtigungen (Nussbaum 2006: 2-3).
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„The failure to deal with the needs of citizens with impairments and disabilities is a serious flaw in modern theories that conceive of basic political principles as the result of a contract for mutual advantage. This flaw goes deep, affecting their adequacy as accounts of human justice more generally.“ (Nussbaum 2006: 98)
Der Bezugsrahmen universalistischer Moraltheorien ist meist die öffentliche Sphäre einer Gesellschaft, verstanden als politisch-soziales Handlungsgefüge mit gleichen, autonom agierenden Moralsubjekten. Die konkreten kulturellen und sozialen Erfahrungswelten einzelner Menschen und Gruppen geraten dabei aus dem Blick; Gerechtigkeitsfragen, die ihre private Sphäre betreffen, werden überwiegend ausgeblendet. Neben diesem eher abstrakten gesellschaftlichen Bezug wird Gerechtigkeit auch auf Institutionen bezogen. So thematisiert John Rawls Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen (Rawls 1979). Wenngleich ich Gerechtigkeit als einen bedeutsamen gesellschaftlichen und institutionellen Wert nicht in Frage stelle und grundsätzlich teile, dass Ungerechtigkeit ein zu vermeidendes Übel ist, so meine ich, dass der Bezugspunkt Gerechtigkeit insbesondere dann nicht genügen kann, wenn es um die Sphäre der Beziehungen geht und um Konflikte, deren Wesen sich nur schwer von einem Verstehen konkreter moralischer und sozialer Praxis erfassen lässt. Dies gilt auch für das berufliche Praxisfeld von Pflege und Medizin. Pflege und Medizin, verstanden als eine soziale Praxis, sind gekennzeichnet durch ein Handeln in asymmetrischen Beziehungen. Asymmetrische Beziehungen stellen für Moraltheorien, vor allem für universalistische Ansätze, die Gleichheit postulieren, ein nicht unerhebliches Problem dar. Sheila Benhabib verweist, wie auch andere feministische Theoretikerinnen, auf die blinden Flecken universalistischer Moraltheorien. Sie betont: „Das autonome Selbst ist nicht das körperlose Selbst. Die universalistische Moraltheorie muss die tiefen, prägenden Erfahrungen in der Entwicklung des Menschen wahrnehmen und anerkennen: dazu gehören die Erfahrung von (Care) Fürsorge und Gerechtigkeit“ (Benhabib 1995: 207). Zu den Anliegen von Care-Theorien gehört, dass sie dem Besonderen, dem je individuellen Menschen sowie dem jeweiligen Kontext Gewicht geben wollen gegenüber allgemein-formalen, scheinbar universal anwendbaren Prinzipien. Das Problem der Care-Theorien ist häufig, dass das Besondere lediglich in allgemeiner Form angesprochen wird und selten empirisch gestützt ist. Aus diesem Grund können diese Theorien eher nebulös wirken.
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Care-Ethiken können dann überzeugen, wenn sie sich auf konkrete Praktiken beziehen, oder anders formuliert: Fehlt die Sprache der Fürsorge, werden diese Praktiken und ihre Gerechtigkeitsfragen unsichtbar.
F ELDSTUDIENERGEBNISSE
ZUR KLINISCHEN
E THIK
Im Folgenden beziehe ich mich auf Feldstudien zur klinischen Ethik in Norwegen und Deutschland. Zwischen 2004 und 2007 wurden sie in jeweils drei Kliniken mit den Methoden der teilnehmenden Beobachtung und Interviews durchgeführt. Während in der norwegischen Studie (Halverson et al. 2009a, b) die Frage nach einer Prioritätensetzung in der Patientenversorgung der Pflege und Intensivmedizin im Zentrum stand, beschäftigte sich die dreijährige Untersuchung in Deutschland (Kohlen 2009) mit der Frage, welche Themen in klinischen Ethikkomitees wie diskutiert werden und welche als ethisch (nicht) relevant gelten. Strukturelle Mängel und soziale Problemlagen In den Erzählungen der Ärzte und Pflegenden wie auch in den Gesprächen der klinischen Ethikkomitees geht es um sterbende, sehr schwer erkrankte und chronisch Kranke sowie alte und verwirrte Menschen, die auf Hilfen angewiesen sind. Sie haben unterschiedliche soziale Hintergründe und sind alle unterschiedlich eng, oder gar nicht, in eine Paarbeziehung, in eine Familie und einem Freundes- und Bekanntenkreis eingebunden. Ihre sozialen Problemlagen, etwa Probleme von Armut und Einsamkeit, werden in den Interviews deutlich. Diese Probleme kommen auch in den Fallgeschichten vor, über die in den untersuchten Ethikkomitees beraten wird; allerdings werden hier soziale Fragen kaum als ethisches Themen anerkannt. Die Interviews mit Ärzten und Pflegenden sowie die teilnehmenden Beobachtungen zeigen, dass Zeit-, Raum- und Personalmängel Konflikte mit Patienten in sozialen Problemlagen bedingen. Sie werden in den Interviews direkt als Probleme benannt und in Gesprächen von Teilnehmenden klinischer Ethikkomitees als ein Bestandteil ethischer Konflikte diskutiert.
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Familien- und Statuszugehörigkeit Bei einem Mangel an Ressourcen, insbesondere bei Zeitmangel, sahen sich Ärzte und Pflegende gezwungen, einzelnen Patienten weniger Aufmerksamkeit und Achtsamkeit zu schenken als anderen. Daraus folgt, dass Patienten über ihre Krankheit und ihren Zustand informiert wurden und kaum in Entscheidungsprozesse einbezogen wurden. Von dieser Vernachlässigung waren vor allem einsame Menschen betroffen, wohingegen Patienten, die eine Familie hatten, im Vorteil waren, genügend beachtet und einbezogen zu werden. Eine Pflegende bemerkt: „There are some patients who are awfully lonely [...]. They have nobody. You can say whatever you like, but no matter what: when families are present and visible, and clear the road for their loved ones [...], they are listened to [...], they are heard more than the ones who don’t have anyone to care for them.“ (Interviewte in Halverson et al. 2009a: 484)
Die durchgeführten Interviews mit dem klinischen Personal zeigen, dass solche Patienten bevorzugt wurden, deren Familien sich zu Wort meldeten. „I’ve thought about it, and if you’re ill, it is indeed a good idea to have resourceful families who don’t give up and who speak out for you“ (Interviewter in Halverson et al. 2009a: 484), bemerkt ein Anästhesist. Schließlich betonten die interviewten Ärzte, dass die Aussagen der Familienmitglieder über das Wertgefüge und die Präferenzen des Patienten wesentlich für den Entscheidungsprozess seien. Alle Pflegenden, die interviewt wurden, machen darauf aufmerksam, ob und inwieweit Patienten prioritär versorgt werden, sei nicht allein von der medizinischen Diagnose abhängig, sondern auch von ihrem sozialen Status sowie ihrer gesellschaftlichen Position. Patienten und ihren Familien mit hohem sozialen Status wurde vorrangig Achtsamkeit geschenkt. Zudem wurde dafür gesorgt, dass sie in Entscheidungsfindungsprozesse der Therapie einbezogen werden. Die interviewten Kliniker erklärten, dass es leichter sei eine Intensivtherapie zu begrenzen, wenn sich die Familienmitglieder passiv verhielten, wohingegen die Behandlung tendenziell fortgeführt wird, insofern die Familie stark involviert sei. Halverson beobachtete, dass bei Patienten, die selbst Ärzte waren, nie ein Fortgang der Therapie in Frage gestellt wurde; auch wenn die
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Prognose wesentlich schlechter war als bei einem Patienten im Nachbarzimmer mit identischer Diagnose (Halverson et al. 2009a). Insgesamt könne man in der pflegerischen und medizinischen Versorgung von einer Patienten-Statushierarchie sprechen; eine sehr niedrige Position hätten diejenigen, an deren Krankheit sie ihren eigenen Anteil hätten (Halverson et al. 2009b: 15). Sie plädiert für einen offenen Dialog und Transparenz hinsichtlich der Prioritätensetzung im klinischen Bereich. Auch die Analyse von Gesprächen in klinischen Ethikkomitees verweist auf die Problematik einer mangelnden Achtsamkeit und Verantwortlichkeit gegenüber einsamen Patienten, die keine Familie oder Freunde haben. Es kommt in den Fallgeschichten vor, dass niemand den Patienten oder die Patientin überhaupt kennt (Kohlen 2009: 195-206). Somit können Gespräche über therapeutische Möglichkeiten und Grenzen nicht durch die Perspektiven von Angehörigen, Freunden und Bekannten ergänzt und bereichert werden. Es stellt sich in den Komiteegesprächen heraus, dass das Personal kaum Kenntnisse über die Patienten hat, sofern diese keine Familienangehörigen als Fürsprecher haben. Da es keine Bezugspersonen gibt, taucht die Frage, wie eine Unterstützung zur Genesung oder eine Sterbebegleitung im häuslichen Milieu aussehen könnte, erst gar nicht auf. In einer Fallgeschichte (202) geht es beispielsweise um einen schwer krebskranken Patienten ohne Aussicht auf Heilung. Er hat weder Familie noch Freunde, die in den Entscheidungsprozess einbezogen werden könnten. Die Komiteemitglieder überlegen, ob nicht ein Hospiz der richtige Platz für ihn sei. Ein Teilnehmer (Seelsorge) einer Komiteesitzung fragt: „Where do we have to put the patient?“ Daraufhin bemerkt eine Pflegende, dass die Meinung des Patienten hierzu unklar sei und dass es überhaupt eine Reihe von Unklarheiten gäbe (ebd.). Nachdem das Gespräch eine Weile in Gang ist, konstatieren schließlich die Komiteemitglieder: „Nobody really knows the patient, ... more persons should be taken into the boat“ (ebd.). Am Ende der ‚Fallbesprechung‘ meint der Arzt, dass er nun mit dem Patienten sprechen wolle. Schließlich folgert er in Bezug auf die soziale Isolation des Patienten: „But we cannot solve society’s problems!“ (203). Das grundsätzliche Problem sozialer Isolation wird als ein gesellschaftliches identifiziert und die Akteure im Krankenhaus („we“) sehen sich nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen. Inwieweit sie dennoch verantwortlich gegenüber dem sozial isolierten Patienten sind, bleibt in der ethischen Diskussion offen.
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In den Komiteesitzungen der beiden anderen untersuchten Krankenhäuser (Kohlen 2009: 195-206, 227-229) geht es ebenfalls um Fragen am Lebensende von Patienten und das Problem der sozialen Isolation. Stets geht es um die Schwierigkeiten, die Patienten in pflegerische und medizinische Entscheidungsprozesse einzubinden. Fragen einer Therapieverlängerung werden nicht oder kaum gestellt. Ein Arzt folgert aus dem Problem der sozialen Isolation eines Patienten: „I had the impression that he is rather fatalistic [...] someone who is socially isolated and has neither relatives nor friends“ (200). Vulnerabiltät Unabhängig von ihrer Krankheit wurde Personen mit höchster Vulnerabilität eine auffallend geringere Priorität pflegerischer und medizinischer Versorgung eingeräumt als allen anderen: „The most vulnerable of the patients, those who were alone, were given lower priority“ (Halverson et al. 2009a: 486). Geht es um besonders vulnerable Patienten, das heißt Patienten in sozialen Problemlagen, etwa sozialer Isolation, verschärft sich die Situation durch Alter und Krankheit. Dies zeigt die folgende Fallgeschichte einer dementen alten Dame. Mangelnde Achtsamkeit und das Fehlen fürsorglich kompetenter Pflegepraktiken können dann dramatische Folgen haben. In einem Komitee berichtet der Stationsarzt einer geriatrischen Abteilung von einer alten schwerhörigen Dame (Jahrgang 1928) ohne Angehörige (Kohlen 2009: 195). Zudem merkt er an, dass sie keine Telefonnummer habe. Das Personal habe sich nicht mit der Suche nach ihren eventuellen Kontaktpersonen beschäftigen können, da die Arbeitsbelastungen auf der Station zu hoch seien. Er erklärt, dass die Dame Diabetes habe, schwer dement sei und nun aus dem Haus unauffindbar verschwunden sei. Mit ihrem Rollator habe sie sich eigenständig auf den Weg gemacht, bekleidet mit einem Nachthemd. Wie sich dann in der Diskussion der Komiteeteilnehmer herausstellt, handelt es sich um eine stille alte Dame, die vorwiegend nur auf direkte Ansprache reagierte. In jedem Dialog mit dem Klinikpersonal hatte sie den Wunsch geäußert, nach Hause zu wollen. Auf die Frage, ob sie Angehörige habe, hätte sie nicht reagiert. Im Bericht des Arztes und während der Fallanalyse des Komitees fallen folgende Auslassungen auf: Die Pflegenden als verantwortliche Akteure im Umgang mit der dementen alten Dame kommen nicht vor und es werden keine Fragen nach einem kompetenten pflege-
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rischen Handeln bei Demenz gestellt. Auch eine pflegerische Leitung der Abteilung oder Station tritt nicht in Erscheinung. Fragen zu ihrer organisatorischen und personellen Verantwortung werden nicht gestellt. Obwohl es die Aufgabe der Pflegenden wäre, die Patientin und ihre Bedürfnisse zu vertreten, ist es der Arzt, der über das Geschehen im Ethikkomitee in Form einer Fallgeschichte berichtet. Fragen von Achtsamkeit und Zuwendung kommen nicht zum Tragen. Zusammenfassung: Status, Achtsamkeit und Vulnerabilität In den Studienergebnissen werden Gerechtigkeitsfragen medizinischer und pflegerischer Care-Praxis in Bezug auf Status, Achtsamkeit und Vulnerabilität sichtbar. Je höher der Sozialstatus von Patienten und ihren Angehörigen, desto höher die Achtsamkeit und die Teilhabe an Behandlungsabläufen. Zudem legen die empirischen Befunde eine Abstufung an Ungleichbehandlung offen. Folgende Zusammenhänge werden deutlich: Wenn Patienten Familien haben, die beharrlich Achtsamkeit einfordern und vorrangig Zeit und Personal in Anspruch nehmen, dann impliziert dies eine Vernachlässigung von zurückhaltenden Angehörigen sowie eine Missachtung ihres Rechts auf Information und aktive Einbindung in therapeutische Entscheidungen. Dies ist folgenreich für die Patienten, die, wie die Untersuchung zeigt, insbesondere auf ein ‚Sich-zu-Wort-melden‘ ihrer Angehörigen angewiesen sind. Entsprechend sind die Patienten besonders benachteiligt, Achtsamkeit zu erfahren, denen gar keine Familie oder Freunde als Fürsprecher zur Verfügung stehen. Schließlich sind es die von höchster Vulnerabilität gekennzeichneten Patienten, denen am wenigsten Achtsamkeit zukommt. Doch unter einer Gerechtigkeitsperspektive, die kompetente und verantwortliche Care-Praxis im Krankenhaus zum Ausgangspunkt nimmt, müsste ihnen besondere Achtsamkeit geschenkt werden.
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Z UR E NTWICKLUNG EINES
THEORETISCHEN
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Ein Denkrahmen und eine Sprache, welche die geschilderten Beispiele besser erfassen können als andere theoretische Ansätze, bieten die folgenden Politikwissenschaftlerinnen und Philosophinnen. Während Joan Tronto in ihrem Werk „Moral Boundaries – A Political Argument for an Ethics of Care“ (1994) eine Sprache findet, die Praxis Care in ihrer Differenziertheit und ihren ethischen Dimensionen zu erfassen, ist es die Stärke von Elisabeth Conradi, dass sie in ihrer Arbeit „Take care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit“ (2001) die Besonderheit asymmetrischer Beziehungen thematisiert und auf die Notwendigkeit hinweist, die Dimensionen Macht, Ungleichheit und Konflikt nicht außer Acht zu lassen. Seyla Benhabib entfaltet in ihrer Arbeit „Selbst im Kontext“ (1995) die Idee vom „konkreten Anderen“ im Gegensatz zum Standpunkt des „verallgemeinerten Anderen“. Für Margaret Urban Walker ist Moralphilosophie grundsätzlich nicht von soziologischen Gegebenheiten trennbar. Vor allem in ihrem Werk „Moral Understandings“ (1998) argumentiert sie, dass soziale Praktiken in einer unmittelbaren Beziehung zu moralischen Praktiken stehen. Ihr Anliegen ist es, nicht die Frage aus dem Blick zu verlieren, wer für was und wen in einer konkreten Situation verantwortlich ist. Im Folgenden werden die wesentlichen Elemente der genannten Ansätze vorgestellt. Moralische und soziale Praktiken Die amerikanische Philosophin Margaret Urban Walker (1998) hegt wie andere feministische Kritikerinnen Zweifel am moralischen Theoretisieren jenseits konkreter Lebenszusammenhänge, historischer Bezüge sowie der Bedürfnisse von einzelnen Individuen in besonderen Situationen. Einen Denkrahmen, der kulturelle und soziale Erfahrungswelten einzelner Menschen und Gruppen außer Acht lässt, bezeichnet Walker als ein theoretischjuridisches Modell. Ihr Anliegen ist es allerdings nicht, ein neues theoretisches Modell zu kreieren. Stattdessen beschreibt sie ihre Überlegungen als „an exercise in transparency (that is) meant to test our thoughts about what we do and whom we take to be judges“ (Walker 2003: 182). Und Walker erklärt: „Testing the moral authority of our practices means discovering how they actually go, what they actually mean, and what it is actually like
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to live with them. [...] It means examining the power-bound social arrangements [...]“ (Walker 2001:10). Walker plädiert dafür, die moralischen Autoritäten unserer Praktiken zu hinterfragen. Dabei soll aufgedeckt werden, in welche Richtung sie sich bewegen, was sie tatsächlich bedeuten und was es heißt, mit ihnen zu leben. Dabei gelte es auch, die an Macht und Herrschaft gebundenen sozialen Arrangements zu untersuchen und den eigenen moralischen Standpunkt deutlich zu machen. Für Walker (1998, 2003) ist moralisches Wissen nicht von sozialem Wissen trennbar und moralische Praktiken nicht von sozialen Praktiken. Moralisches Wissen und moralische Praxis vermischen sich mit sozialen Praktiken und sind in einen Zusammenhang mit sozialen Rollen und Positionen zu bringen: „Moral practices are not extricable from other social ones, and moral identities are enmeshed with social roles and positions. Moral understandings are effected through social arrangements, while all important social arrangements include moral practices as working parts. Just as there is no evidence of a distinct cognitive capacity dedicated to moral knowledge, there is also not any abstractable core of moral knowledge that completely transcends historically and culturally situated forms of society in which human beings learn how to live and judge.“ (2003: 176)
Walkers Ansatz versteht unter Moral etwas, das wir gemeinsam tun und von dem wir ein gemeinsames Verständnis haben, um Verantwortlichkeiten zu definieren. Moralische Praxis als Verantwortungspraxis beinhaltet für Walker Fragen danach, wer sie für was trägt, akzeptiert, delegiert, scheut, darüber neu verhandelt oder ablehnt (1998: 10). Was soziale Praktiken für einzelne Gruppen bedeuten und wie Verantwortlichkeiten zugeschrieben werden, hängt für Walker von unseren eigenen Leistungen, aber auch von Klasse, Alter, Geschlecht und Ethnizität ab. Es sind die sozialen Kräfte, die es erlauben, dass einige Menschen Verantwortung für Dinge übernehmen, die Spaß machen und zu Anerkennung führen, während anderen Menschen diejenigen verantwortlichen Praktiken auferlegt werden, die sie von den guten Dingen im Leben abhalten.
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ASYMMETRISCHE B EZIEHUNGEN DER ‚ KONKRETE ANDERE ‘
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UND
Pflege und Medizin als soziale Praxis sind gekennzeichnet durch ein Handeln in asymmetrischen Beziehungen. Zwischen denjenigen, die Hilfe anbieten und denjenigen, die auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind bzw. diese empfangen, besteht ein Ungleichgewicht an Kompetenz bzw. Wissen und Macht. Sie unterscheiden sich aufgrund ihrer Biographien und sozialen Hintergründe, ihres Alters, ihrer Krankheit und deren Folgen, einschließlich der des Sterbens. Gerechtigkeitsfragen stellen sich folglich für Menschen anders dar, die auf Unterstützung für ihre körperliche Verfasstheit angewiesen sind; sie sind an Gestaltungs- und Verantwortungsfragen von Care-Aufgaben gebunden. Ungleichheit und asymmetrische Beziehungen stellen vor allem für universalistische Moraltheorien, die Gleichheit postulieren, ein bisher nicht oder kaum zu überwindendes Problem dar. Feministische Theoretikerinnen kritisierten dies als einen blinden Fleck. Wie eingangs in diesem Beitrag zitiert, wirft beispielsweise Seyla Benhabib universalistischen Ansätzen vor, dass sie nicht nur von unabhängigen und bindungslosen, sondern gar von entkörperten Moralsubjekten ausgingen. Während sie zwar die Würde und den Wert des Menschen als moralisches Subjekt betonten, würden sie dabei den Menschen als ein „konkretes körperhaftes Wesen mit Bedürfnissen und Verletzlichkeiten, Gefühlen und Wünschen“ (1995: 207) übersehen. Sie beschreibt zwei Auffassungen der Beziehung zwischen dem Selbst und dem Anderen, die in der zeitgenössischen Moraltheorie als unvereinbar gelten würden. Den ersten nennt sie den „verallgemeinerten Anderen“. Vom Standpunkt des „verallgemeinerten Anderen“ aus kämen jedem Menschen die gleichen Rechte und Pflichten zu. Der Standpunkt des „konkreten Anderen“1 hingegen berechtige dazu, von anderen Verhaltensweisen zu er-
1
Eine „moralische Verantwortung für den konkreten Anderen“ ist für Axel Honneth eine Perspektive, die nicht in Übereinstimmung mit, „sondern in Spannung zur Idee der Gleichbehandlung steht“ (Honneth 1994: 197). Ein Sensorium für das, was Gleichbehandlung in einem unbeschränkten Sinn heißen kann, so Honneth, sei überhaupt nur dann zu entwickeln, „wenn an der eigenen Person einmal die Erfahrung einer unbegrenzten Fürsorge, einer Ungerechtigkeit, gemacht worden ist“ (Honneth 1994: 220). Eine Verpflichtung zur Fürsorge und Wohltä-
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warten, durch die andere sich als konkrete, individuelle Wesen mit bestimmten Bedürfnissen, Talenten und Fähigkeiten erkannt und bestätigt fühlen (Benhabib 1995: 161ff.) Vom Standpunkt des „konkreten Anderen“ schließt sie emotionale Verbundenheit ein. Ihr Ausgangspunkt von einem „konkreten Anderen“ als ein körperhaftes, bedürftiges und verletzliches Wesen kann medizinischem und pflegerischem Handeln in asymmetrischen Beziehungen besser gerecht werden. Anerkennung von Bedürftigkeit und Achtsamkeit Joan Tronto (1994) versucht ein vom Geschlecht unabhängiges Modell der engagierten Sorge zu entwickeln. Auch wenn die folgenden Phasen und ethischen Dimensionen in der Praxis miteinander verwoben sind, so hilft Trontos Differenzierung, Caring als einen gehaltvollen und umfassenden Prozess zu verstehen. Zunächst geht es darum anzuerkennen, dass Menschen bedürftig sein können und zu bemerken, wenn eine Bedürftigkeit existiert (Caring about), die nach einer entsprechenden Aktivität verlangt. Sie bemerkt: „It involves noting the existence of a need and making an assessment that this need should be met“ (Tronto 1994: 106). Die Anerkennung und Bewertung von Bedürfnissen betrachtet Tronto als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Anteilnahme bedeutet in diesem Zusammenhang, sich in die Perspektive einer anderen Person oder einer Gruppe zu versetzen und für die identifizierten Bedürfnisse die Verantwortung zu übernehmen sowie darüber nachzudenken, wie eine Unterstützung konkret aussehen kann. Dafür ist die Wahrnehmung der eigenen Handlungsmächtigkeit erforderlich. Gegebenenfalls bedarf es organisatorischer Unternehmungen sowie kollektiver Handlungsweisen. In einem dritten Schritt vollzieht sich das eigentliche Versorgen (care giving). Dies beinhaltet körperliche Aktivi-
tigkeit könne nur dort bestehen, wo sich eine Person in einem Zustand so extremer Bedürftigkeit oder Not befindet, dass „der moralische Grundsatz der Gleichbehandlung auf sie nicht mehr in einem ausgewogenen Maße anzuwenden ist; so verdienen menschliche Wesen, die zur Teilnahme an praktischen Diskursen physisch oder psychisch nicht in der Lage sind, zumindest die aufopfernde Fürsorge derjenigen, die ihnen durch emotionale Bindung nahe stehen“ (Honneth 1994: 220). Fürsorgeverantwortung schreibt Honneth folglich den emotionalen Nahbeziehungen zu, die er voraussetzt.
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täten und das In-Kontakt-Treten mit dem zu versorgenden Menschen. Schließlich folgt eine Antwort auf das Versorgen (care receiving), die zeigt, ob die Versorgung adäquat geschehen ist. Tronto verbindet diese Phasen mit ethischen Dimensionen. Sie spricht von (a) Achtsamkeit, (b) Verantwortlichkeit, (c) Kompetenz und (d) Resonanz. Durch Achtsamkeit werde erkannt, dass ein Bedürfnis vorliegt, das Aufmerksamkeit verlangt und Ignoranz als ein moralisches Übel nicht zulasse. Verantwortlichkeit als zweite ethische Dimension unterscheidet sich bei Tronto von einer Erfüllung von Pflichten. Es gelte, die Hintergründe und die Entstehung von Konflikten bei einer Verantwortungsübernahme zu klären und Verantwortungsfragen auch in politische Debatten mit hineinzutragen. Auch eine Kritik an hierarchischen Vorstellungen von Klasse, Geschlecht und kulturell-ethischer Zugehörigkeit dürften nicht ignoriert werden. Laut Tronto bilden auch Fragen der Kompetenz eine ethische Dimension in der Ausgestaltung von Care. Stehen zur Versorgung fachliche Ressourcen nicht zur Verfügung, oder besteht eine eigene Unzulänglichkeit, so sei dafür zu sorgen, dass eine andere fachkundige Person die Versorgung übernimmt. Die Resonanz hat für Tronto eine ethische Dimension, weil Care eine Praxis ist, die Fragen nach einer möglichen Verletzlichkeit beinhaltet. Engagierte Sorge ist stets mit Bedingungen der Ungleichheit befasst und die vorhandene Abhängigkeit ist vor Missbrauch zu schützen. Elisabeth Conradi (2001) führt die Idee, Care als eine Praxis-Ethik der engagierten Sorge zu konzeptionalisieren fort. Care, verstanden als eine interaktive menschliche Praxis, umfasst für Conradi den Aspekt der Bezogenheit ebenso wie sorgende Aktivitäten. Im Verlaufe von Care-Interaktionen entsteht zwischen den daran beteiligten Menschen eine Beziehung. Achtsamkeit spielt in der Beziehung für Conradi eine tragende Rolle: „Achtsamkeit entsteht in Care-Interaktionen. Das Schenken von Achtsamkeit ist nicht dadurch motiviert, dass unterstellt wird, Care-Verhältnisse seien reziprok oder die entsprechende Interaktion sei umkehrbar“ (Conradi 2001: 57). Zudem weist Conradi auf einen achtsamen Umgang mit möglichen Dynamiken von Macht hin. Da in Pflege und Medizin asymmetrische Beziehungen eher die Regel als die Ausnahme sind, ist folglich ein stetiger achtsamer Umgang mit Machtdynamiken erforderlich. Gerade in CareInteraktionen kann es im Sinne Conradis nicht darum gehen, von gleichen autonomen Individuen auszugehen. Es geht darum, Menschen in ihrer Un-
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terschiedlichkeit eines Verständnisses von Autonomie zu achten und nicht Autonomie vorauszusetzen (Conradi 2001: 7).
S CHLUSSBETRACHTUNG Die Auseinandersetzung mit empirischen Ergebnissen zur klinischen Ethik macht deutlich, dass eine Ethikkonzeption, die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit des Menschen, seine Abhängigkeit von sozialen Beziehungen sowie seine unterschiedlichen Fähigkeiten und Erfahrungen berücksichtigt, in der Lage ist, Auslassungen traditioneller universalistischer Konzeptionen in der biomedizinischen Ethik zu überwinden. Die Analyse der Feldstudien zeigt, dass das Festhalten an Gerechtigkeit in Form eines abstrakten Prinzips nicht genügen kann, wenn es um Konflikte geht, deren Wesen sich nur schwer von einem Verstehen konkreter moralischer und sozialer Praxis erfassen lässt. Anerkennung von Bedürftigkeit und Asymmetrie sowie Achtsamkeit im Umgang mit dem ‚konkreten Anderen‘ zeigten sich als zentrale Dimensionen einer verantwortungsvollen pflegerischen und medizinischen Praxis. Es sind vor allem solche Care-Konzepte, die zur Entwicklung eines theoretischen Rahmens beitragen können, die Macht, Ungleichheit, Konflikt und Verantwortungsfragen nicht außer Acht lassen.
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Das Andere des Anderen? Einige Anmerkungen zum Problem der Anerkennung A NDRÉ K ARGER
Anerkennung und Gerechtigkeit sind Begriffe von Gewicht. Man könnte sagen, ihr Gewicht ist so schwer, dass an ihnen mein Nachdenken lange nicht zustande kam, sich kein weiterer Raum des Denkens eröffnet hat. Das liegt wohl zum einen daran, dass die moralische Obligation, die sich mit diesen Begriffen verbindet, erheblich auf mir lastete. Wer wollte öffentlich bestreiten, dass Anerkennung und Gerechtigkeit nicht für menschliche Gesellschaften, das Humane, von zentraler regulativer Bedeutung sind und sich mit ihnen die Hoffnung auf ein anderes, besseres Leben verknüpft. Zum anderen liegt das Gewicht der Begriffe auch daran, dass sich so viele Philosophen und Denker an ihnen abgearbeitet und wir ja mitnichten ein diesbezügliches Theoriedefizit haben. Das Problem der Anerkennung des Anderen liegt bekanntermaßen nicht auf der Ebene der Theorie, sondern der Praxis. Es ist vielmehr die fehlende Kraft des Normativen und der Theorie, die wir erfahren müssen, wenn wir in unserer Lebenspraxis mit der ständigen Erfahrung der Beschädigung, des Ausschlusses, der Nichtung des Anderen konfrontiert sind (vgl. Karger 2008). Von dieser Erfahrung – man könnte auch sagen, der Erfahrung ständiger im gesellschaftlichen Fortschritt zumal eskalierender Gewalt – geht eine starke negative Kraft aus, ein Pessimismus bezüglich jedes intellektuellen, zumal moralisch-ethischen Gewalteinspruchs, die nicht unerheblich ist. Daraus folgt, dass es mir leichter fällt, über die Ursachen von Gewalt nachzudenken, als über die Möglichkeit deren Verhinderung. Ich bin der Meinung, dass ein Aufschub – keine Verhinderung – der Gewalt nur in der
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permanenten praktischen Selbstarchäologie der gewaltsamen Verfasstheit der eigenen Subjektivität gelingen kann. Sie gestatten mir von daher bitte, dass ich im Folgenden weiter als ein Psychoanalytiker über die Genealogie von Gewalt spreche und zwar weniger in theoretischer, als in praktischer Rücksicht. Ich halte den Prozess der projektiven Identifikation, der in psychoanalytischen Behandlungen eine zentrale klinische Bedeutung für das Verständnis der Übertragung hat – man könnte auch anders sagen: ein Modell für Übertragungs-/Gegenübertragungsprozesse ist –, für eine wichtige Möglichkeit, erweiterte Zugänge zum Problem der Anerkennung zu gewinnen.
Z UR G ENEALOGIE
VON
G EWALT
Was nun kann die Psychoanalyse zur Genealogie von Gewalt beitragen? Nun, es gibt viele Topoi innerhalb der Psychoanalyse, die Gewalt thematisieren. Allen gemeinsam ist die Inkommensurabilität einer Differenzerfahrung, ob diese nun im Ödipuskomplex an der Differenz von Alter und Geschlecht und der damit korrespondierenden Kastrationsdrohung, in der Narzissmustheorie an der Differenz des Anderen (sic: Alterität!) oder in der Todestriebtheorie an der Differenz des Todes verortet wird. Immer ist es eine Differenz, an der sich das Subjekt, sich entwickelnd, abarbeitet und konstituiert. Allgemeiner formulierend möchte ich folgende These aufstellen: Gewalt entsteht in der Auseinandersetzung mit Differenz, oder genauer: Gewalt entsteht an den Grenzen der Bewegung zwischen Identität und Differenz. Differenz ist immer doppelt bestimmt: positiv als Möglichkeit, als etwas, was ich noch nicht bin; negativ als Unmöglichkeit, als etwas, was ich nie sein werde. Differenz ist ein wichtige Voraussetzung bzw. Bedingung von Entwicklung, die sie in gleicherweise radikal begrenzt. Freud schreibt in einem frühen Text, dem Entwurf einer Psychologie (1895) über das Verstehen des Fremden:
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„Nehmen wir an, das Objekt, welches die Wahrnehmung liefert, sei dem Subjekt ähnlich, ein Nebenmensch. Das theoretische Interesse erklärt sich dann dadurch, dass ein solches Objekt gleichzeitig das erste Befriedigungsobjekt, im ferneren das erste feindliche Objekt ist, wie die einzig helfende Macht. Am Nebenmenschen lernt der Mensch darum erkennen. Dann werden die Wahrnehmungskomplexe, die von diesem Menschen ausgehen, zum Teil neu und unvergleichbar sein, seine Züge etwa auf visuellem Gebiet; andere visuelle Wahrnehmungen, zum Beispiel: die seiner Handbewegungen, aber werden im Subjekt über die Erinnerung eigener, ganz ähnlicher visueller Eindrücke vom eigenen Körper fallen, mit denen die Erinnerung von selbst erlebten Bewegungen in Assoziation stehen. Noch andere Wahrnehmungen des Objekts, zum Beispiel wenn es schreit, werden Erinnerungen an eigenes Schreien und damit an eigene Schmerzerlebnisse wecken. Und so sondert sich der Komplex des Nebenmenschen in zwei Bestandteile, von denen der eine durch konstantes Gefüge imponiert, als Ding zusammenbleibt, während der andere durch Erinnerungsarbeit verstanden, das heißt auf Nachrichten vom eigenen Körper zurückgeführt werden kann.“ (Freud 1895: 426)
In dieser Bemerkung finden sich einige Bedingungen der Möglichkeit des Fremdverstehens. a.) Ähnlichkeitsbeziehung: Die Voraussetzung der Beziehung zum Objekt ist seine Ähnlichkeit mit dem Subjekt. b.) Begehren: Die Beziehung zum Objekt ist eingebunden in die Struktur des Begehrens. Freud spricht hier „vom ersten Befriedigungsobjekt“. c.) Affektive Ambivalenz: Die Beziehung zum Objekt ist durch eine affektive Ambivalenz von Hass (feindliches Objekt) und Liebe (einzig helfende Macht) geprägt. d.) Identifikation: Der Grundmodus des Fremdverstehens ist die Identifikation, in dem visuelle Eindrücke des Objekts mit eigenen physiologischen Zuständen verbunden werden. Die Identifikation setzt immer ein Objekt voraus und hat etwas mit Selbstveränderung durch Hereinnahme des Objekts in den eigenen psychischen Raum zutun. Paradoxerweise wird so das Fremdverstehen zum Selbsterkennen, in dem das Objekt dazu verhilft, eigene unverstandene psychische Elemente (im Sinne von Bions beta-Elementen) zu repräsentieren. Es findet eine Art Umwandlungsprozess statt, in dem das Fremde sein Fremdsein verliert und
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so zum Eigenen wird. Identifikation als Grundlage des Fremdverstehens ist mitnichten also das Verstehen des Fremden, da dieses Fremde nur verstanden werden kann, in dem es assimiliert und zum Eigenen wird. Die Frage ist erlaubt: Wo ist also das Fremde geblieben? Freud schreibt hierzu in der zitierten Passage, dass offenbar noch etwas anderes passiert. Am Anderen, dem „Komplex des Nebenmenschen“, verbleibt ein unassimilierbarer Rest, der durch „ein konstantes Gefüge imponiert, als Ding zusammenbleibt“ (Freud 1895: 426). Was hat es also mit diesem Ding im Nebenmenschen auf sich und welche Kraft geht von ihm aus? Es treibt als bedrohliche Differenzanmahnung die Identifikation an, ist Grundlage des Begehrens, stellt aber zugleich auch seine Grenze dar. Die Identifikation mit dem Anderen ist an die Bedingung geknüpft, dass sich ein Teil des Objekts dieser Vereinnahmung gerade wiedersetzt und psychisch nicht repräsentiert werden kann. Warum ist das notwendig? Welche Bedrohung geht von der Identifikation aus? In der Abhandlung das Unheimliche (1919) fragt Freud danach, was geschieht, wenn sich Beziehung in reiner Identifikation aufzulösen droht. Was geschieht, wenn wir im anderen nur uns selber sehen, wenn kein fremdes Ding aus der vollkommenen Spiegelung herausführt? Es entsteht, so Freud, das Gefühl des Unheimlichen. Anhand des Doppelgängermotivs führt Freud uns in die Angst vor dem Gleichen, vor der Identität ein. Daniel Strassberg merkt hierzu zu Recht an: „Es ist heute zum psychologischen Topos geworden, die dem Menschen eigentümliche Angst vor dem Fremden zur Erklärung von Rassismus, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit heranzuziehen. Darüber wird vergessen, dass es einen Horror vor dem Gleichartigen gibt, der der Angst vor dem Fremden zumindest ebenbürtig ist.“ (Strassberg 2004: 25)
Denn im Falle der rasenden Identifikation, wenn der Ding-Widerstand zu schwinden beginnt, kommt es in der reinen Spiegelung mit sich zum Kurzschluss des Begehrens in den Tod hinein: ganz so, wie Narziss in sein eigenes Spiegelbild – die Spiegelung auf der Wasseroberfläche – tödlich mit sich fusionierend – erstickende Selbstumhüllung im Wasser – ab- und hineinstürzt. Was treibt aber die Identifikation an? Warum muss in der Identifikation alles andere gleichgemacht und angeeignet werden? Mit dem Doppelgän-
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germotiv sind wir schon bei dem dafür einschlägigen Thema gelandet: dem Narzissmus. Die Identifikation hat zum Ziel, den traumatischen Riss, der durch das Subjekt läuft, zu schließen; das narzisstische Dilemma des Humanen, nicht selbst sein eigener Ursprung zu sein, todesbedroht, in der gleichmachenden Aneignung von allem Anderen zu tilgen. Identifikation ist ein Abwehrvorgang, der als gewaltsamer Übergriff versucht, den Anderen total zu bemächtigen, im Extrem ihn auszulöschen. Ein wichtiger Teil von Freuds Überlegungen zur Identifikation kreisen um das Problem der Wiederholung im Sinne der Wiederaneignung, buchstäblich: Wiederholung eines verlorenen, dem Subjekt vorauslaufenden, es bestimmenden Objekts. Bekanntlich wird die narzisstische Identifikation in Trauer und Melancholie (1917) als Abwehrvorgang – daran müssen Sie sich gewöhnen: in der Psychoanalyse sind alle psychischen Vorgänge Abwehrvorgänge eines initialen Traumas – verstanden, in dem das durch den Tod, durch erfahrene Trennung verlorene Objekt, weiterbesteht, in dem es durch Identifikation in den seelischen Raum des Subjekts hereingeholt wird. In der Melancholie findet eine Ersetzung des verlorenen Objekts im Selbst statt, indem das Selbst zum Objekt wird. Der Preis dieser Objektgleichsam wie Selbstbewahrung ist allerdings, dass der ‚lange Schatten des Objekts’ das Subjekt dergestalt zu verdunkeln droht, dass das Selbst zu einem Untoten wird: feststeckt im quid-pro-quo von nicht-mehr-lebendig und noch-nicht-tot – so ja auch die spezifische klinische Erfahrung in der Melancholie (die Aussetzung der Zeit und damit des Todes, als langsames Selbststerben).
P ROJEKTIVE I DENTIFIKATION Mit der Identifikation, der gewaltsamen Fusion mit den Anderen, wäre alles gleich schon an seinem Ende, dem Tod, angekommen. Wir kommen also nicht umhin, der Identifikation einen Antagonisten an die Seite zu stellen, die Identifikation mit dem Vorgang der Projektion zusammen zu denken, als psychischer Prozess der Konstitution und des Austrags des SelbstAnderen-Verhältnisses. Der Begriff der projektiven Identifikation bezeichnet in der Psychoanalyse einen dreiphasigen Prozess, der mit einem bestimmten Typus der narzisstischen Objektbeziehung einhergeht. Zuerst von Melanie Klein in den
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1940er Jahren beschrieben, werden bei der projektiven Identifikation negative, unerwünschte Anteile des Selbst zunächst abgespalten und dann auf den Anderen projiziert (vgl. Klein 1946, Hinshelwood 1991). Bei der Projektion werden die negativen Selbstanteile nicht nur an den Anderen herangetragen, sondern in diesem, in seinem Inneren, deponiert. Dort werden diese Anteile ggf. metabolisiert und schließlich wieder in einer Identifikation zurück in das Selbst genommen. Trotz aller Spaltung und Projektion der verworfenen Selbstanteile in den Anderen, bleiben diese dem Selbst anhängig. Dabei verfolgt die projektive Identifikation eine doppelte Bewegung: Selbstveränderung durch Abspaltung, Projektion und Außenverlagerung und Objektveränderung, in dem das Objekt zu diesem abgespaltenen Selbst wird, mit dem das Selbst dann wiederum identifiziert ist. Warum aber müssen unerwünschte Anteile des Selbst abgespalten werden? Es ist die Inkommensurabilität der Differenz, des Anderen, die das je schon am Grunde gespaltene Selbst, den Riss in seiner Seinsverfasstheit, ausmacht. Die Projektion, die Projektionsgewalt, bleibt unverständlich, wenn ihr nicht die Selbstaufspaltung – gefolgt von der Deplazierung des wertlosen Spaltungsanteils in den Anderen –, diese schwere Not vorausginge. „Allein damit, mit diesem Selbstsplitting ist doch noch nicht die Selbst-AnderenKontamination am Grunde alles dessen erwiesen? Doch das ist sie wohl – weshalb denn sollte ich mich in zwei konträre Teile zerreißen, und dabei dann den schlechten projektiv von mir abhalten, wenn ich, ich selbst bereits, integer, wäre? Wenn ich nicht, selbst-los noch, wie am Tropf, mit dem Anderen bis zu unserer Indifferenz zusammenhinge? Weshalb diese überautonome Radikalität, meinen inneren Unrat ausscheiden und in den anderen hineinkippen zu müssen, wenn dieser andere nicht schon im Vorhinein zu diesem, meinem, Verdorbenen deplaziert worden wäre? Die Selbstaufspaltung ist apriori das Selbst-Anderen-Splitting in mir selbst, zum – rettend verderbenden – Zweck meiner – alle Anderen notwendig tötenden – allererstSelbstherstellung, danach, reproduktiv, Selbstwahrung.“ (Heinz 2009: 16)
Projektive Identifikation als aufschiebende Todesveräußerung, bei fundamental gewalthafter Seinsverfasstheit: Was bedeutet das für das Problem der Anerkennung und Gerechtigkeit? Das was bleibt – und hieraus lässt sich sehr wohl eine ethische Haltung gewinnen – ist die beharrliche Selbsterkundung der eigenen Gewaltverfasstheit bzw. der vielfältigen Abhängig-
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keiten und Fremdheiten in mir selbst, denen ich beständig ausgesetzt bin und beständig andere aussetze. Eine Ethik für Heilberufe kann allererst nur in einer radikalen, beständigen, reflexiven Selbstarchäologie gewonnen werden.
L ITERATUR Freud, Sigmund (1895): Entwurf einer Psychologie. Gesammelte Werke, Nachtragsband. Freud, Sigmund (1917): Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Bd. X. Freud, Sigmund (1919): Das Unheimliche. Gesammelte Werke, Bd. XII. Heinz, Rudolf (2009): Einschlägige Kasuistik zum Anlass genommen, die ‚projektive Identifikation‘ zu problematisieren. In: Violentiae. Beiträge zur Pathognostik der Gewalt. Düsseldorf, S.14-38. Hinshelwood, Robert D. (1991): Wörterbuch der Kleinianischen Psychoanalyse. Stuttgart. Karger, André (2008): Ethik und Psychotherapie? In: Franz, Matthas/ Frommer, Jörg (Hg.): Medizin und Beziehung. Göttingen, S.74-83. Klein, Melanie (1946): Bemerkungen über einige schizoide Mechanismen. In: Dies.: Melanie Klein: Gesammelte Schriften. Bd. 3. Stuttgart, S. 141. Strassberg, Daniel (2004): Vom Schrecken des Objekts. Skizze einer psychoanalytischen Theorie des Bösen. In: Karger, André/Weismüller, Christoph (Hg.) Gewalt und Globalisierung. Düsseldorf, S. 19-31.
Inklusionssysteme Vorbereitende Überlegungen zu einer Ethik der Amicalität P ETER F UCHS
Dieser Vergleich von Mensch und Tier weist nur hin auf die Communication als universale Bedingung des Menschseins. Sie ist so sehr sein allumfassendes Wesen, dass, was auch der Mensch ist und was für ihn ist, in irgendeinem Sinne in der Communication steht: Das Umgreifende, als das wir sind, ist in jeder Gestalt Communication; das Umgreifende, das das Sein selbst ist, ist für uns nur, wie es in der Mitteilbarkeit Sprache wird oder ansprechbar ist. KARL JASPERS
Die Herausforderung, die darin liegt, so etwas wie Gerechtigkeit und Anerkennung in Zusammenhang zu bringen mit dem soziologischen Schema Inklusion/Exklusion (vgl. Luhmann 1995: 237-264; Stichweh 1988: 261-293; Fuchs/Buhrow/Krüger 1994: 239-263; Fuchs/Schneider 1995: 203-224; Lehmann 2002), speist sich in meinem Fall aus einer einfachen Frage, nämlich: Was hat dieses Schema mit Gerechtigkeit und Anerkennung zu tun? Wie kann man darauf kommen, dass Inklusion und Exklusion tatsächlich ihrer lateinischen Bedeutung entsprechen, also räumlich assoziierte Begriffe sind, wenn doch ein kurzer Blick auf die Allgemeine Theorie der
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Sinnsysteme 1 zeigt, dass soziale Systeme niemals Menschen beinhalten, auch nicht Teile von ihnen oder gar irgendetwas Psychisches. Es geht um wahrnehmungsfreie Systeme, deren elementare Einheit Kommunikation ist, durch die kein Raum erzeugt wird, in den man Menschen hineinziehen bzw. aus dem man Menschen herausziehen könnte. Die folgenden Überlegungen widmen sich der Frage, wie sich unter Abzug der Raummetaphorik noch von einem Zusammenhang zwischen Ethik und dem Inklusions/Exklusions-Schema reden lässt.
I Der Grundgedanke ist also zunächst, dass Inklusion und Exklusion missverstanden werden, wenn man sie räumlich begreift als Einschluss oder Ausschluss von Leuten in oder aus sozialen Systemen. Kein Mensch kann dieser Theorie nach in sozialen Systemen beheimatet sein. Menschen sind immer Umwelt sozialer Systeme et vice versa. Wenn man so will, bedeutet dies eine Absolut-Exklusion, die keine Grade des irgendwie noch Darin-Seins vorsieht. Diese theoretische Disposition zwingt dazu, Inklusion/Exklusion als Ausdruck für ein sozial fungierendes Schema aufzufassen, also an die Operativität sozialer Systeme zu binden. Inklusion und Exklusion würden dann kommunikativ bewirtschaftet als ein In-Betracht/ Nicht-inBetrachtkommen von Menschen für soziale Systeme. Übersetzt auf die Operation der Kommunikation geht es bei Inklusion um das Markieren von Menschen als relevant für Kommunikation durch Kommunikation, also auch um das Regulieren von „Aussichten auf soziale Relevanz“ (vgl. Luhmann 1984: 563f.). Exklusion bezeichnet mithin den Fall des Relevanz-Entzuges – durch Kommunikation. Und dass Inklusion/ Exklusion als Schema begriffen werden kann, heißt, dass Inklusion immer auch Exklusion als ihren Schatten mitführt und umgekehrt: keine Inklusion ohne Exklusion, keine Exklusion ohne Inklusion. Dieser Mechanismus findet sich ubiquitär, weil er unmittelbar zusammenhängt mit der evolutionären Errungenschaft der Kommunikation. Er ist nicht gleichsam von Natur aus moralisch oder gar ethisch supercodiert.
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Ich habe mich entschlossen, die Systemtheorie, die ich betreibe, so zu nennen. Sie hatte bislang keinen wirklichen Namen.
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Solche Codierungen mögen unter den Bedingungen einer ethisch und moralisch aufgeregten Gesellschaft vorkommen, aber sind faktisch marginal, insofern jede Kommunikation den Mechanismus betätigt, ob Ethik, ob Moral im Spiel ist oder nicht. Man könnte sogar sagen, dass die ethisch/moralische Inanspruchnahme des Schemas von Inklusion und Exklusion Exklusionsprozesse verschärft, insofern die Zentralunterscheidung der Moral Achtung/Missachtung, bezogen auf Leute, eben auch Missachtungen verteilt, die immer mit jenem Relevanz-Entzug einhergehen. Etwas böser formuliert: Moralismus ist immer ein ‚Exklusionismus‘. Das bedeutet nun nicht, dass von Inklusion/Exklusion kein Weg zu ethischen Welteinschätzungen führt, sondern nur, dass der Weg nicht über Raumvorstellungen läuft, nicht über Ideen des Enthaltenseins, des Dazugehörens, des Teilnehmens (Partizipation), und auch nicht über Ideen des Ausschlusses, der Exkommunikation oder der Verbannung. Wenn man hier weiterkommen will, wird eine Rückbesinnung auf die Theoriekontexte erforderlich, innerhalb derer die Differenz Inklusion/Exklusion Konturen annimmt. Einer dieser Kontexte ist das Theoriestück der Adressabilität (vgl. Fuchs 1997: 57-79; Fuchs 1999a: 273-297). Prinzipiell ist mit ihm gemeint, dass Sozialsysteme, die sich weder in ihrer zeitlichen Synthese beobachten lassen noch sich selbst auf der Ebene ihrer Operativität beobachten können, mit Luhmanns Worten gesagt, als Handlungssysteme ‚ausflaggen‘ (vgl. Luhmann 1984: 226f.). Sie projizieren ‚Abstützpunkte‘ durch Zurechnung von Äußerungen auf Mitteilungshandeln und damit auf Mitteilungshandelnde. Sie bringen sich in die Form der ‚Ansichtigkeit‘ oder anders formuliert: Sie sind nur als Simplifikate erkennbar – als geordnete Sequenz von Mitteilungen. Im Zuge jener Projektion werden soziale Strukturen ausgefällt, die wir soziale Adressen nennen. Bislang sind zweierlei Adressen dieser Art bekannt: Rolle und Person. Die Rolle ist eine stark schematisierte, auf schnelle Orientierung ausgelegte Adresse. Es geht um Positionen wie Polizist, Lehrerin, Mann, Frau, Vater, Tochter etc. Die Adresse der Person berücksichtigt dagegen individuell attribuierbare Verhaltenseinschränkungen (vgl. Fuchs 2003). Sie individualisiert nicht die Leute, aber die Weise, wie sie adressiert werden. Beide Typen befinden sozial darüber, ob überhaupt und wenn, wie, Leute als relevante Umwelt sozialer Systeme in Betracht kommen. Über soziale Adressierung werden Relevanzmarkierungen bzw. Relevanz-Ent-
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züge reguliert. Aus diesem Grund ist das Schema Inklusion/Exklusion an die Adressentheorie gekoppelt. Wenn man mitsieht, dass ‚Teilhabe‘ an Kommunikation conditio sine qua non menschlicher Existenz ist, wird deutlich, dass Adressabilität ein Begriff ist, der sich auch auf die existentielle Betreffbarkeit von Menschen bezieht. Nicht-Adressiertheit entspräche einem ‚sozialen Tod‘, einer Art Totalexklusion, die wohl nur selten vorkommt bzw. eigens sozial hergestellt werden muss2 und nie wirklich total ist, da jede Exklusion auch – und seien es minimale – Inklusionen zeitigt (vgl. Fuchs 1997: 413-437). Selbst totale Institutionen im Sinne Goffmans sind: Stätten einer eigentümlichen Inklusion. Die existentielle Dimension, die der Begriff der Adressabilität mitführt, wird besonders deutlich an der sozialen Adresse der Person. Anders als die Rolle ist ‚Person‘ ein Konvolut von individualisierten, mithin: ent-schematisierten Verhaltenszurechnungen. Dieses Konvolut ist gleichsam in die Eigennamen von Menschen eingehakt. Es schreibt einem Menschen bestimmte Eigenschaften, ein bestimmtes Sein, ein bestimmtes Können, eine bestimmte Geschichte zu. Die soziale Adresse der Person entsteht wesentlich in sozialen Nahkontexten. Ihr existentieller (damit auch ethik-relevanter) Rang zeigt sich darin, dass es mit der Adressierung der Person immer auch um das geht, was Menschen für Menschen unter Einschluss ihrer Körper bedeuten. Der theoretische Ort für diese reziproke Bedeutsamkeit ist das Theoriestück der zwischenmenschlichen Interpenetration (Luhmann 1984: 302ff.).
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Herodot berichtet, dass Pharao Psammetich (664-610), um die „natürliche“ Sprache festzustellen, zwei Kinder sprachlos aufziehen ließ. Das erste geäußerte Wort war bekos, was als das phrygische Wort für „Brot“ erkannt wurde. Ein ähnliches Experiment ließ Friedrich II von Hohenstaufen (1300) durchführen, aber die Kinder starben. Ihm schloss sich James IV von Schottland (1473-1513) an; hier sprachen die Kinder Hebräisch. Alle bezeugten Fälle von „wilden“ Kindern – wie Kaspar Hauser – waren sprachlos. Aus unserer Sicht ging es dabei nicht um Sprachlosigkeit, sondern um den Effekt einer Nichtadressierung durch Kommunikation. Die mittelalterliche Schichtordnung ließ es zu, dass spezifisch stigmatisierte Menschen aus der Stratifikation herausfielen. Dann blieb nur noch das Leben auf den Straßen, den Wäldern, in der vagabondage – eine Art Restinklusion.
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Interpenetration ist ein Begriff, der sich darauf bezieht, wie soziale Systeme psychischen, wie psychische Systeme sozialen Systemen ‚vorkonstitutierte‘ Eigenkomplexität zur Verfügung stellen. Zwischenmenschliche Interpenetration dagegen nimmt, wenn man so will, den Fall ernst, dass das, was man das Eigenverhalten eines Menschen nennen könnte, für andere Menschen ebenfalls relevant wird. Der für Luhmann seltsame Ausdruck ‚zwischenmenschlich‘ verweist darauf, dass es Verhältnisse gibt, die wir üblicherweise ‚Beziehungen‘ nennen, in denen nicht mehr Kommunikation allein die ausschlaggebende Rolle spielt, Verhältnisse, die soziologisch gleichwohl von Bedeutung sind, insofern das, was als zwischenmenschliche Interpenetration zustande kommen kann, sozial konditioniert ist. Die gewissermaßen prototypischen Sozialsysteme, die ohne diese Form der Interpenetration gar nicht gedacht werden können, sind: Intimsysteme bzw. deren funktionale Äquivalente. Es liegt auf der Hand, dass in solchen Systemen Personalisierung unter verschärften Bedingungen stattfindet: eben durch den Einbezug der Körper und das Mitkennen vieler Eigentümlichkeiten von Menschen, die jenseits von Intimsystemen typisch nicht thematisiert oder überhaupt bemerkt werden. Intimsysteme sind ferner dadurch gekennzeichnet, dass sie unter Modernitätsbedingungen eine reziproke Komplettbetreuung von Menschen im Modus der Höchstrelevanz (eben: Liebe) darstellen – kombiniert mit allen Problemen, die die Kommunikation von Höchstrelevanz mit sich bringt (vgl. Fuchs 1999b). Intim-systemische Inklusion ist Inklusion unter der Voraussetzung, dass Menschen nicht mehr nur als relevant für Kommunikation markiert werden, sondern als höchstrelevant (vgl. Tyrell 1987: 570-599).
II Bevor wir dieser Spur im Blick auf eine Ethik der Anerkennung folgen können, ist zu klären, wie es überhaupt dazu kam, dass die Frage nach Gleichheit, Gerechtigkeit, Anerkennung sozial virulent wurde. Sie stellte sich nicht auf dem Hintergrund einer philosophisch und/oder theologisch instruierten ‚Besser-Werdung‘ der Menschheit, sondern vielmehr im Kontext einer fundamentalen Umstellung der primären Differenzierung der Gesellschaft – von einem hierarchisch geordneten Schichtensystem, das für
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das europäische Mittelalter bezeichnend war, zur funktionalen Differenzierung. Für die mittelalterliche Stratifikation gilt, grosso modo formuliert: dass Inklusion/Exklusion über das Prinzip des Eingeboren-Seins in Schichten reguliert wurde. Die Schicht, der man auf diese Weise zugewiesen war, entschied über Lebens- und Kommunikationschancen. Schichtgrenzen waren kaum überschreitbar, Sonderfälle zugestanden, wie etwa die Karrieremöglichkeiten innerhalb der Kirche. Entscheidend ist, dass nahezu alle Lebensführungsbewandtnisse schichtintern geregelt waren. Stratifikation ist demgemäß gekennzeichnet durch scharfe Inklusions- und Exklusionskriterien. Genau dies ändert sich mit dem etliche Jahrhunderte in Anspruch nehmenden Übergang zur funktionalen Differenzierung, die die Schicht- und Ständeordnung auflöst und an ihrer Stelle Funktionssysteme etabliert, die um Funktionen gravitieren, die zuvor schichtförmig bedient worden waren. Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst, Religion, Erziehung, Politik etc. entstehen als autonome, ihre Funktion jeweils universalisierende Systeme, die nicht mehr in das Verhältnis einer Hierarchie getrieben werden können, sondern heterarch operieren. Die Gesellschaft hat keinen ‚Ort‘ mehr, von dem aus es Beobachtungen ihrer Ganzheit, ihrer Repräsentativität, ihres ‚cor et punctus‘ geben könnte. Das Prinzip der Legitimität bzw. überhaupt die Bedingung der Möglichkeit funktionaler Differenzierung kann dann nur sein, dass Menschen die Chance zur Inklusion durch alle Funktionssysteme in gleicher Weise haben. Jeder und jede (!) muss partizipieren können an Geld, an Recht, an Wahrheit, an ‚Schönheit‘, an Glauben, an Erziehung, an kollektiv bindenden Entscheidungen, und genau dieses ‚muss‘ fungiert evolutionär als Ungleichheitsdetektor. Exklusionen werden, wie man vielleicht sagen kann, nicht nur entdeckt, sondern mehr und mehr unerträglich. Diese Unerträglichkeit wird schließlich zum Attraktor ethisch-moralischer Skandalisierung von Ungleichheiten, ein Vorgang, der sich bis heute fortgesetzt (vgl. Fuchs 1996: 959-964) und beispielsweise dazu geführt hat, dass ein Theoriebegriff wie das Schema Inklusion/Exklusion, das nichts mit Ethik und Moral zu tun hat, plötzlich selbst ethisch und moralisch in Anspruch genommen wird. Der Präferenzwert ist dann ‚Inklusion‘, der Negativwert ‚Exklusion‘. Erst von da aus kann man ja von einer nichtexklusiven Ethik sprechen bzw. von nicht-
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exklusiven Schutzbereichen, so als sei die Inklusion in ‚Zonen‘ der Nichtexklusivität nicht zugleich: Exklusion aus Nicht-Schutzbereichen. Wenn man die räumliche Metaphorik, die auch mit dem Ausdruck ‚Schutzbereich‘ überdeutlich angespielt wird, vermeiden will, könnte es helfen, an dieser Stelle den Systembegriff zu nutzen, also zu prüfen, was man gewinnt oder verliert, wenn man nicht mehr an Bereiche denkt, in die jemand eingeschlossen, aus denen jemand ausgeschlossen werden kann, sondern an die spezifische Operativität von Sozialsystemen, die dezidiert auf Komplettinklusion angelegt sind. Wir können solche Systeme in aller Vorläufigkeit und zur Vereinfachung der Diskussion Inklusionssysteme nennen und konzentrieren uns dabei nicht auf Organisationen, sondern auf intermittierende Interaktionssysteme unter der Bedingung zwischenmenschlicher Interpenetration. ‚Intermittierend‘ soll bedeuten, dass Inklusionssysteme des Typs, den wir vor Augen haben, sich nicht unentwegt und gleichsam lückenfrei reproduzieren. Es geht, ein wenig merkwürdig ausgedrückt, um Systeme, die ‚Wiederaufnahmen‘ leisten können über Unterbrechungen hinweg, Wiederaufnahmen, die so etwas wie Strukturbildung, wie Gedächtnis voraussetzen. Interaktion ist an Präsenz, an wechselseitige Wahrnehmbarkeit geknüpft, und sie wird hier gewählt, insofern sie die wesentliche Ebene zwischenmenschlicher Interpenetration darstellt. Und dieser Typ der Interpenetration ist für unsere Überlegungen wichtig, insofern er mit Liebe, Freundschaft, aber auch mit Moral zu tun hat. Darauf wird zurückzukommen sein.
III Der Systembegriff ist aus meiner Perspektive kein Raumbegriff, er bezeichnet nicht Orte, sondern bedeutet zunächst nur: Reproduktion einer System/Umwelt-Differenz. Sinnsysteme sind die Reproduktion dieser Differenz, nichts weiter, in einer Operativität, die wir im Blick auf soziale Systeme Kommunikation nennen. Die Heuristik, die sich von dieser These her aufspannt, fragt also nach der Spezifik der Kommunikation im Blick auf das, was wir Inklusionssystem genannt haben. Es wäre nur ein System, wenn es ihm gelingt, in das allgemeine Medium der Kommunikation Grenzen einzuzeichnen, durch die es sich von seiner Umwelt unterscheidet.
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Dies können bei nicht-topologisierbaren Systemen nur Sinngrenzen sein, die nicht als Linien darstellbar sind, sondern sich auf die Änderung der Fortsetzbarkeitsbedingungen von Kommunikation beziehen. „Grenzen markieren [...] keinen Abbruch von Zusammenhängen. Man kann auch nicht generell behaupten, dass die internen Interdependenzen höher sind als die System/Umwelt-Interdependenzen. Aber der Grenzbegriff besagt, dass grenzüberschreitende Prozesse (zum Beispiel des Energie- oder Informationsaustausches) beim Überschreiten der Grenze unter andere Bedingungen der Fortsetzbarkeit (zum Beispiel andere Bedingungen der Verwertbarkeit oder andere Bedingungen des Konsenses) gestellt werden. Dies bedeutet zugleich, dass die Kontingenzen des Prozessverlaufs, die Offenheiten für andere Möglichkeiten, variieren je nachdem, ob er für das System im System oder in seiner Umwelt abläuft. Nur soweit dies der Fall ist, bestehen Grenzen, bestehen Systeme.“ (Luhmann 1984: 35f.)
Insoweit wir Inklusionssysteme an Interaktion binden, lässt sich daran erinnern, dass Interaktionssysteme ihre Grenze reproduzieren durch Disposition über An- und Abwesenheit.3 Dies gilt auch für Inklusionssysteme, aber in modifizierter Form, wenn von schwerst geistig Behinderten, von Alzheimerklienten im späten Stadium, von massiv bewusstseinsgetrübten Leuten etc. die Rede ist (Fuchs 2010a). Die körperliche Anwesenheit ist unter solchen Umständen nicht identisch mit psychischer Präsenz, die Infrastruktur reziproker Wahrnehmung erheblich gestört, Kommunikation nur sehr eingeschränkt oder gar nicht möglich, wenn nur einseitig gesprochen werden kann, wenn es also nicht zu einer mutualistischen bzw. dialogischen Konstitution der Interaktion kommt (vgl. Luhmann 2008: 137). Das bedeutet prima facie, dass Inklusionssysteme auf der Ebene der Interaktion Grenzunschärfen verkraften müssen. Die Sinngrenze, die sich durch die Disposition über Anwesenheit/Abwesenheit definiert, wird problematisch, wenn es darum geht, physisch anwesende, aber psychisch nicht anwesensfähige Leute als anwesend zu bezeichnen, sie also als relevante Umwelt für aktuelle Kommunikation zu markieren, und das heißt: sie zu inkludieren. Die Kommunikation selbst hat damit kein Problem, sie findet
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Interaktionssysteme „schließen alles ein, was als anwesend behandelt werden kann, und können gegebenenfalls unter Anwesenden darüber entscheiden, was als anwesend zu behandeln ist und was nicht.“ (Luhmann 1984: 560)
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einfach nicht oder nur rudimentär statt. Sozialsysteme sind schließlich keine wahrnehmenden bzw. sinnförmig erlebenden Systeme. Unter Druck geraten (gleichsam stellvertretend) psychische Systeme, hier also Assistenten, Betreuerinnen, Pflegekräfte, Familienangehörige, die es nicht mehr mit responsible beings zu tun haben (vgl. Cassirer 1990: 22). Dieser Druck resultiert aus dem einfachen Umstand, dass Kommunikation erwünscht ist (denn nur sie ermöglicht Inklusion), aber in gewisser Weise nur einseitig ‚simuliert‘ werden kann: als das Aufrechterhalten eines ‚Als-ob‘, eines Redens, das den Adressaten nicht oder kaum erreicht.4 Üblicherweise wird Kommunikation abgebrochen, wenn sie zu scheitern droht. Im hier diskutierten Fall muss sie (aus professionellen Gründen) fortgesetzt werden, obwohl sie gar nicht beginnen konnte. Darin liegt eine hohe Unwahrscheinlichkeit, die sich zusätzlich verschärft dadurch, dass es bei Inklusionssystemen dieses Typs immer auch um die Komplettbetreuung von Menschen geht – unter Einschluss ihrer psychischen und körperlichen Befindlichkeiten. Von dieser These her wird ein Vergleich mit Intimsystemen möglich. Moderne Intimsysteme können schließlich als Lösung des Problems gedeutet werden, wie unter der Bedingung funktionaler Differenzierung und der mit ihr verbundenen multiplen Inklusion durch die Funktionssysteme noch so etwas wie ein Typus der Kommunikation eingerichtet werden kann, der Menschen nicht nur in dieser oder jener Hinsicht sozial als relevant markiert, sondern in allen Hinsichten (unter Einschluss des Körpers) als hoch bedeutsam behandelt, gleichsam unbekümmert darum, ob psychische Systeme dieser reziprok geltenden ‚Formvorschrift‘ dauerhaft entsprechen können oder nicht. Das symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium, das die Motivation steigert, sich auf dermaßen komplexe Verhältnisse einzulassen, ist Liebe. Sie ist, wie man sagen könnte, vom Kopf bis zu den Füßen auf Totalinklusion eingestellt und in genau dieser Einstellung vergleichbar mit den Inklusionssystemen, die hier unser Thema sind.
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Natürlich kann man, wie es auch geschieht, von anderen Kanälen der Kommunikation sprechen, vor allem von Kanälen, die den Körper ausnutzen, aber man hat dann einen anderen Kommunikationsbegriff, der es erlaubt, zu sagen, dass jemand mit jemandem kommuniziert, eine Vorstellung, die soziale Systeme wieder ausstattet mit ‚Kommunikation tuenden Körpern‘.
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Solche Systeme sind wie Intimsysteme prima vista eingebettet in die Zone zwischenmenschlicher Interpenetration. Sie sind funktional bezogen auf die Ermöglichung der Komplettbetreuung, unterscheiden sich aber von Intimsystemen durch die Einseitigkeit der Betreuungsrichtung, durch den Ausschluss sexualisierter Körperkontakte, durch laufenden Betreuerwechsel etc., vor allem aber dadurch, dass das Medium der Liebe weitgehend ausfällt – jedenfalls in professionalisierten Inklusionssystemen. Es gibt fraglos Pathosformeln und Leitbilder, die jenes Medium anspielen, aber ebenso fraglos ist, dass Gehaltszahlungen die zentralen Motivationsverstärker sind, die das Aus- und Durchhalten von Inklusionssystemen sichern und die einseitige Komplettbetreuung unter der Bedingung der Hochbedeutsamkeit von Klienten und Klientinnen ermöglichen sollen. Der Verweis auf Gehaltszahlungen klingt zynisch, zeigt aber ein weiteres Problem mit der Semantik der Liebe an, nämlich, dass sie Bezahlbarkeit (Käuflichkeit) ausschließt.
IV Die weiteren Überlegungen sind spekulativ. Ihnen liegt die oben diskutierte Frage zugrunde, was Inklusion und Exklusion bedeuten, wenn sie nicht räumlich gedacht werden. Die Antwort darauf war: Dieses Schema bezieht sich auf die kommunikative Markierung von Menschen als relevant/irrelevant für Kommunikation, wobei diese Unterscheidung nicht strikt binär genommen werden muss, sondern eher als Dimension, eher als ein Mehr-oder-Weniger. Inklusionssysteme können Inklusion nur leisten durch Kommunikation, haben es aber mit einer Umwelt zu tun, in der das, was Menschen als relevante Umwelt von Kommunikation beitragen, im Wesentlichen unilateral beigetragen wird. Hier könnte man abbrechen, denn dies würde ja bedeuten, dass Kommunikation in Inklusionssystemen nicht inkludiert, sondern Inklusion tatsächlich nur simuliert. Aber wenn man so etwas wie ‚uneigentliche‘ Kommunikation unterstellt, wird übersehen, dass im Rahmen dieser Theorie nicht Menschen kommunizieren, sondern nur: Kommunikation kommuniziert. Diese figura etymologica (wie: Kampf kämpfen, Spiel spielen etc.) ist eine sehr dichte Formel für eine Zeittechnik, in der als Kommunikation nur gilt, woran mit weiterer Kommunikation angeschlossen wird. Eine Kommuni-
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kation ist keine Kommunikation. Eine Äußerung wird nie eine gewesen sein, wenn sie nicht als Äußerung aufgenommen wurde. Der Unterschied zwischen ‚Betreuern‘ und Klienten findet sich dann nicht mehr in ungleicher Kommunikationsfähigkeit, sonder nur in verschiedenen Graden der Möglichkeit, Sinn zu rezipieren, Sinn zu deuten, sinnförmig zu reagieren. Kommunikation ist, worauf selten geachtet wird, selbst keine Sinnlese-Maschine. Sie arrangiert Sinn zeittechnisch, sie ist dieses Arrangieren, aber: Sie ‚erlebt‘ ihn nicht. Für sie hat Sinn keinerlei Phänomenalität. Dies bedeutet, dass Inklusionssysteme nicht an einseitiger Kommunikation scheitern müssen, solange Äußerungen an Äußerungen anschließen, oder genauer: solange Ereignisse als Differenz von Mitteilung und Information durch Anschlüsse bzw. Nachträge behandelbar sind, die als Anschluss sozial verstehen, unabhängig davon, was psychisch je und je verstanden bzw. nicht verstanden wird. Es geht auf dieser Diskussionsebene nicht um richtiges oder falsches Verstehen, sondern nur um die kommunikative Autopoiesis, die jedes Ereignis zu ihrer Fortsetzung nutzen kann, solange jene Differenz (Mitteilung/Information) applizierbar ist. Die Selbstreferenz der Kommunikation ist dann bezeichnet durch die Selektion der Mitteilung, nicht durch die Selektion von Information (Fremdreferenz). Man kann vermuten, dass Inklusionssysteme hoch selbstreferentiell operieren, weil sie auch das, was alltäglich typisch nicht als Mitteilung beobachtbar ist, als Mitteilung aufnehmen, wie minimiert die Möglichkeit der Bearbeitung von Fremdreferenz (Fremdreferentialität) auch immer sein mag (Fuchs 1993). Eine Konsequenz ist, dass wir uns Inklusionssysteme unter der Bedingung der Interaktion als ‚ausgelenkt‘ auf die Beobachtung der Mitteilungsselektivität vorstellen können. Damit ist zwingend auf der Ebene struktureller Kopplung vorausgesetzt, dass die Betreuer und Betreuerinnen eine hoch sensible Attentionalität entwickelt (bzw. erlernt) haben im Blick auf die deutende Beobachtung (oder Hinbeobachtung) von Verhalten als quasi-beabsichtigte Mitteilung, die über irgendetwas ‚Vitales‘ informiert, sei es über eine der Nöte des Lebens, über passierende Glückseligkeiten, sei es über die Sehnsucht nach Zuneigung, Wärme, Geborgenheit. An genau dieser Stelle kommt Ethik massiv ins Spiel.
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V Wir ersparen uns hier die Frage nach dem, was Ethik als Reflexionstheorie von Moralen soziologisch bedeutet (vgl. Fuchs 2010b). Der Gedanke ist nur, dass Inklusionssysteme für psychische Systeme extrem belastend sind. Sensible Attentionalität, diese Daueraufmerksamkeit hinsichtlich des Lesens von Verhalten als Mitteilungen von Informationen, ist eminent strapaziös. Genau aus diesem Grunde sind Inklusionssysteme wie Intimsysteme herkömmlicher Bauart routine-empfindlich. Es geht einerseits darum, die Klienten und Klientinnen intimsystem-analog im Modus der Hochrelevanz zu behandeln. Nur diese Relevanzmarkierung wäre kommunikative Inklusion. Andererseits ist es ein psychisch gewaltiger Aufwand, dieser Anforderung zu genügen, auch hier ähnlich wie in Intimsystemen, in denen das ‚Dauerlieben‘ kaum zu leisten ist. Man kann sich nach dem ‚Wozu?‘ dieses Aufwandes fragen. Eine erste Antwort ist, dass Adressabilität die fundamentale Notwendigkeit für Menschen bezeichnet, relevant für Kommunikation zu sein und in dieser Hinsicht gleichsam als satisfaktionsfähig akzeptiert zu werden. Im spekulativen Duktus, den ich mir hier gönne, kann formuliert werden, dass Adressabilität das Menschenrecht schlechthin ist. Man kann im Blick auf die hier anvisierte Klientel einwenden, dass nur eine extrem eingeschränkte Adressabilität inszeniert werden kann. Aber die These ist, dass es um eine Einschränkung geht, die das Adressieren von Menschen durch Kommunikation in einem wesentlichen Punkt dennoch vollzieht. Wir übersetzen an dieser Stelle die Ethik der Anerkennung durch einen Ausdruck, der minimalistisch klingt, aber weiterführen könnte auf der basalen Ebene, die hier angesteuert ist. Der Ausdruck ist Signatur (Fuchs 2003). Er meint im Kern, dass das, was Beteiligung an Kommunikation immer mitleistet, wie ausgedünnt sie auch laufen mag, als eine Gegenzeichnung begriffen werden kann, durch die jemand signiert wird als in Betracht kommend für Kommunikation und sogar, formuliert im Kontext zwischenmenschlicher Interpenetration: als ein Jemand, der überhaupt in Betracht kommt. Dazu passt, dass Hegels berühmter Begriff der Anerkennung eingeordnet ist in ein komplexes Theorem zwischenmenschlicher Bindungen (Hegel 1986: 150ff.). Theoretisch gesehen wird in der Synthese der Kommunikation immer die Möglichkeit der Annahme bzw. Ablehnung mitgeteilten Sinnes eröffnet. In
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jedem mitgeteilten Sinn, ob er akzeptiert wird oder nicht, ist darüber hinaus die Frage impliziert, ob derjenige, der sich äußert, als Mitteilungshandelnder durch Anschluss konstruiert, als in wenigstens dieser Hinsicht relevant bezeichnet wird. Das geschieht auch dann, wenn die jeweilige Sinnzumutung abgelehnt wird. Die Ablehnung ist selbst immer noch Inklusion. Sie ist ein S´adresser á, ein Sich-Wenden-an, die kommunikative Berücksichtigung des Umstandes, dass jemand etwas mitgeteilt hat, das es Wert ist, negiert zu werden. Begreift man Inklusionssysteme nicht nur als Systeme, die Exklusion vermeiden bzw. vor ihr schützen sollen, sondern als Systeme, die selbst eine eigentümliche Inklusion ins Werk setzen, wird erneut deutlich, wie aufwändig es für Betreuer und Betreuerinnen ist, einerseits Verhaltensepisoden ihrer Klienten und Klientinnen als Mitteilungen zu deuten, andererseits diese Konstruktionen als Anlässe für die Möglichkeit der Signatur, der Gegenzeichnung, der Adressierung so aufzunehmen, dass die Kommunikation Fortsetzung findet, also auch: die soziale Adresse der Person ausfällen kann. Ebendies bedeutet Inklusion. Inklusionssysteme präferieren im Schema Inklusion/Exklusion die Seite der Inklusion. Sie sind das Resultat dieser Präferenz, die – ethisch formuliert – eine ‚Gesolltheit‘ voraussetzt in dem Punkt kommunikativer Relevanzmarkierungen. Die Frage ist, ob sich aus jener Präferenz Konturen einer Professionsethik entwickeln lassen.
VI Die Beantwortung dieser Frage greift noch einmal zurück auf die Annahme, dass Intimsysteme und Inklusionssysteme miteinander vergleichbar sind. In beiden Fällen hat man es mit der Komplettbetreuung von Menschen zu tun, und in beiden Fällen geht es um kommunikative Relevanzmarkierungen. Die Unterschiede sind leicht zu sehen: Intimität bezieht auch die Sexualisierungsmöglichkeiten der Körper in die Komplettbetreuung ein; genau dies können und dürfen Inklusionssysteme nicht. Ferner: Intimsysteme prozessieren reziproke Höchstrelevanz im Kontext zwischenmenschlicher Interpenetration; Inklusionssysteme des Typs, über den wir sprechen, müssen weitgehend auf Reziprozität verzichten. Auch sie muss ‚hinbeobachtet‘ werden.
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Das Medium, das die Unwahrscheinlichkeit von Intimsystemen in Wahrscheinlichkeit transformiert, ist, wie wir sagten: Liebe. Sucht man nach einem funktionalen Äquivalent für Liebe in Inklusionssysteme, muss es um ein de-sexualisiertes Medium gehen, das wechselseitige Komplettbetreuung und Hochrelevanz ermöglicht. Der klassische Systemtyp, der diese Voraussetzung erfüllt, ist die Freundschaft, die in ihrer Idealform vorsieht, dass Menschen füreinander uneigennützig große Bedeutung haben (s. zur klassischen Verbindung von Philia und Liebe bei Aristoteles: Siemens 2007; vgl. als Anthologie Eichler 1999; Rapsch 2004; Derrida 1988: 632-644). Amicalität – der Begriff, den ich hier einführen möchte – soll in aller Vorläufigkeit das Medium von Inklusionssystemen bezeichnen. Es reagiert auf deren scharfe Asymmetrie durch freundschaftstypische Symmetrisierung, die aber nicht einfach ‚Gleichheit‘ herstellt, sondern das ‚Gelten-Lassen‘ von Verschiedenheit durch Relevanzmarkierung (Inklusion) und den Ausschluss der Markierung von Nicht-Relevanz (Exklusion). Jene Vorläufigkeit bezieht sich darauf, dass man viele Bewegungen in entsprechenden Arbeitsfeldern beobachten kann, die (und sei es nur leitbildhaft) auf Amicalität, etwa auf ‚Wertschätzung‘ hinauslaufen, aber auch: dass dieses Medium sich nicht allerorten durchgesetzt hat, also in Entwicklung begriffen ist im Zusammenhang mit der Inklusionsdrift der funktional differenzierten Gesellschaft. Ein weiterer Grund, diesen Begriff zu erproben, liegt darin, dass Freundschaft wie die Liebe nicht verlangbar und nicht bezahlbar ist. Amicalität soll aber genau eine Verlangbarkeit bezeichnen, die auf der Basis von Gehaltszahlungen (sozusagen als Merkmal des Stellenprofils) ermöglicht wird. Ebendies, die Transformation von Unverlangbarkeiten in amicale Verlangbarkeiten, ist der Ansatzpunkt einer Professionsethik für Inklusionssysteme (Fuchs 2004: 242-262). Man kann auch von Inklusionsethik reden, insoweit es um die Ermöglichung von Signatur, Gegenzeichnung, Anerkennung, kurz: um Relevanzmarkierungen geht, die das Zentrum des Begriffschemas Inklusion/Exklusion darstellen.
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L ITERATUR Cassirer, Ernst. (1990): Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Frankfurt a.M. (Original 1944 New Haven). Derrida, Jacques (1988): The Politics of Friendship. In: Journal of Philosophy 85 (11), New York, S. 633-634. Eichler, Klaus-Dieter (Hg.) (1999): Philosophie der Freundschaft. Leipzig. Hegel, Georg W. F. (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a.M. Fuchs, Peter (1993): Moderne Kommunikation. Zur Theorie des operativen Displacements. Frankfurt a.M. Fuchs, Peter/Buhrow, Dietrich/Krüger, Michael (1994): Die Widerständigkeit der Behinderten. Zu Problemen der Inklusion/Exklusion von Behinderten in der ehemaligen DDR. In: Fuchs, Peter/Göbel, Andreas (Hg.): Der Mensch - Das Medium der Gesellschaft. Frankfurt a.M., S. 239-263. Fuchs, Peter (1996): Das Phantasma der Gleichheit. In: Merkur 50 (570/571), S. 959-964. Fuchs, Peter (1997): Adressabilität als Grundbegriff der soziologischen Systemtheorie. In: Soziale Systeme 3 (1), S. 56-79. Fuchs, Peter (1999a): Moderne Identität - im Blick auf das europäische Mittelalter. In: Hahn, Alois/Willems, Herbert (Hg.): Identität und Moderne. Frankfurt a.M., S. 273-297. Fuchs, Peter (1999b): Liebe, Sex und solche Sachen. Zur Konstruktion moderner Intimsysteme. Konstanz. Fuchs, Peter/Schneider, Dietrich (1995): Das Hauptmann-von-KöpenickSyndrom. Überlegungen zur Zukunft funktionaler Differenzierung. In: Soziale Systeme 95 (2), S. 203-224. Fuchs, Peter (2003): Der Eigen-Sinn des Bewusstseins. Die Person, die Psyche, die Signatur. Bielefeld. Fuchs, Peter (2004): Das Selbstverständliche im Umgang mit Menschen. In: Greving, Heinrich/Mürner, Christian/Rödler, Peter (Hg.): Zeichen und Gesten. Heilpädagogik als Kulturthema. Gießen, S. 242-262. Fuchs, Peter (2010): Das Fehlen von Sinn und Selbst. Ms. Bad Sassendorf. Fuchs, Peter (2010): Diabolische Perspektiven. Münster (im Druck). Lehmann, Maren (2002): Inklusion. Beobachtungen einer sozialen Form am Beispiel von Religion und Kirche. Frankfurt a.M.
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Autorinnen und Autoren
Dederich, Markus, Prof. Dr., Studium der Soziologie und Philosophie, Rehabilitationswissenschaftler an der Technischen Universität Dortmund; Forschungsschwerpunkte: (Bio-)Ethische Fragen im Kontext von Behinderung, Inklusion und Exklusion in Geschichte und Gegenwart, Disability Studies. Publikationen u.a.: Behinderung, Medizin, Ethik, Bad Heilbrunn 2000; Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies, Bielefeld 2007. Herausgaben u.a.: Bioethik und Behinderung, Bad Heilbrunn 2003; Behinderung und Anerkennung. Enzyklopädisches Handbuch der Behindertenpädagogik Bd. 2, Stuttgart 2009 (zusammen mit Wolfgang Jantzen); Heilpädagogik als Kulturwissenschaft – Menschen zwischen Medizin und Ökonomie, Giessen 2009 (zusammen mit Heinrich Greving, Christian Mürner und Peter Rödler) Friesacher, Heiner, Dr., Pflegewissenschaftler und Dipl. Berufspädagoge, Lehrbeauftragter an verschiedenen Universitäten und Fachhochschulen. Gast- bzw. Vertretungsprofessur für Pflegewissenschaft an der Alice-Salomon Hochschule Berlin und der Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftstheorie und theoretische Grundlagen pflegerischen Handelns, Ethik und Sozialphilosophie, Professions- und Qualitätsentwicklung. Publikationen u.a.: Theorie und Praxis pflegerischen Handelns: Begründung und Entwurf einer kritischen Theorie der Pflegewissenschaft, Göttingen 2008 Fuchs, Peter, Prof. Dr., Studium der Sozialwissenschaften und der Soziologie, emeritierter Professor für Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der Hochschule Neubrandenburg. Publikationen u.a.: Das System „Terror“. Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moder-
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ne, Bielefeld 2004; Theorie als Lehrgedicht. Systemtheoretische Essays I (herausgegeben von Marie-Christin Fuchs), Bielefeld 2004; Konturen der Modernität. Systemtheoretische Essays II (herausgegeben von Marie-Christin Fuchs), Bielefeld 2005. Herausgaben u.a.: Reden und Schweigen, Frankfurt 1989 (zusammen mit Niklas Luhmann); Beobachtet. Eine Einführung in die Systemtheorie, Opladen 1992 (zusammen mit Niklas Luhmann) Haynert, Harald, Studium der Pflegewissenschaft sowie der Philosophie und Psychiatrischen Ethik, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (IEKG), Department Pflegewissenschaft, der Universität Witten/Herdecke. Forschungsschwerpunkte: Ethik als Lebensentwurf und Schutzbereich, empirische Ausmessung heilberuflich relevanter Schutzbereiche sowie empirische Theoriebildung Hetzel, Mechthild, Dr. phil., Studium für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen, Studium der Philosophie. Vertretungsprofessur für Erziehungswissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt sowie für Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Philosophische Bildungstheorie, Geschichte der Philosophie des 18. und 20 Jh., Erkenntnis und Kritik, Philosophische Ethik, Anthropologie, Grundbegriffe der Philosophie einschl. Ästhetik in ihrer Erschließungskraft für Pädagogik: Autonomie, Anerkennen, Differenz, Enthusiasmus, Urteilskraft u.a. Publikationen u.a.: Provokation des Ethischen. Diskurse über Behinderung und ihre Kritik, Heidelberg 2007 Karger, André, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychoanalytiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Herausgaben u.a.: Sexuelle Übergriffe in Psychoanalyse und Psychotherapie, Göttingen 2001 (zusammen mit Olaf Knellessen, Getrud Lettau und Christoph Weismüller); Trauma und Gruppe. Philosophische und sozialwissenschaftliche Perspektiven, Gießen 2004 (zusammen mit Rudolf Heinz); Trauma und Wissenschaft, Göttingen 2009
A UTORINNEN
UND
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Körtner, Ulrich H.J., Prof. Dr. Dr. h.c., Studium der Ev. Theologie, Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Fundamentaltheologie, Hermeneutik, Ethik, Medizinische Ethik, Diakonie, Ökumenische Theologie, Eschatologie und Apokalyptik. Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin der Universität Wien. Publikationen u.a.: Papias von Hierapolis. Ein Beitrag zur Geschichte des frühen Christentum, Göttingen 1983; Unverfügbarkeit des Lebens? Grundfragen der Bioethik und der medizinischen Ethik, Neukirchen-Vluyn 2004; Leib und Leben. Bioethische Erkundungen zur Leiblichkeit des Menschen, Göttingen 2010. Herausgaben u.a.: Stammzellforschung. Ethische und rechtliche Aspekte, Wien/ New York 2008 (zusammen mit Christian Kopetzki); Lebensanfang und Lebensende in den Weltreligionen. Beiträge zu einer interkulturellen Medizinethik, Neukirchen-Vluyn 2009 (zusammen mit Günter Virt, Dietrich v. Engelhardt und Franz Haslinger) Kohlen, Helen, Juniorprof. Dr. phil., Sozial- und Gesundheitswissenschaftlerin, lehrt an der Fakultät Pflegewissenschaft der PhilosophischTheologischen Hochschule Vallendar. Forschungsschwerpunkte: Clinical ethical governance in European Countries, Ethik und Technik, Gemeindenahe Pflege, Gender und soziale Exklusionsprozesse. Publikationen u.a.: Care-(Ethik) und das Ethos fürsorglicher Praxis, Bremen 2008 (zusammen mit Christel Kumbruck); Conflicts of Care. Hospital Ethics Committees in the USA and in Germany, Frankfurt/New York 2009. Herausgaben u.a.: Bioethics, Care and Gender. Herausforderungen für Medizin, Pflege und Politik, Osnabrück 2010 (zusammen mit Hartmut Remmers) Lindmeier, Christian, Prof. Dr., Professor für Allgemeine Sonderpädagogik an der Universität Koblenz-Landau. Publikationen u.a.: Behinderung – Phänomen oder Faktum? Versuch einer Klärung, Bad Heilbrunn 1993. Herausgaben u.a.: Wohlbefinden und Wohnen von Menschen mit schwerer geistiger Behinderung, Reutlingen 1998 (zusammen mit Ute Fischer, Martin T. Hahn, Bernd Reimann u.a.); Integration – behindert? Berlin 2002 (zusammen mit Bernd Wilder); Geistigbehindertenpädagogik, Weinheim, Berlin, Basel 2002 (zusammen mit Bettina Lindmeier); Berufliche Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung. Neue Wege zur Teilhabe am Arbeitsleben, Weinheim und Basel 2006, (zusammen mit Stephan Hirsch)
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Rösner, Hans-Uwe, Dr. phil., Studium der Sozialarbeit und Soziologie, Dozent für politische Bildung, persönliche Assistenz und Pflege an der Zivildienstschule Trier. Publikationen u.a.: Jenseits normalisierender Anerkennung. Reflexionen zum Verhältnis von Macht und Behindertsein, Frankfurt a.M. 2002 Schnell, Martin W., Prof. Dr., Philosoph, Direktor des Instituts für Ethik und Kommunikation im Gesundheitswesen (IEKG), Universität Witten/ Herdecke. Auswahl Buchpublikationen seit 2000: Das Arzt/Patient-Gespräch, München 2009 (zusammen mit Thorsten Langer); Begleitung am Lebensende im Zeichen der Patientenverfügung. Lehrbuch für Medizin und Pflegewissenschaft, Bern 2009; Ethik als Schutzbereich. Lehrbuch für Medizin, Pflegewissenschaft, Philosophie, Bern 2008; Forschungsethik, Bern 2006; Die Sprachen der Pflege (zusammen mit Angelika Abt-Zegelin); Ethik der Interpersonalität. Die Zuwendung zum anderen Menschen im Licht empirischer Forschung, Hannover 2005; Leib.Körper.Maschine. Interdisziplinäre Studien über den bedürftigen Menschen, Düsseldorf 2004; Sprache und Pflege, Bern 2003 (zusammen mit Angelika Abt-Zegelin); Pflege und Philosophie. Interdisziplinäre Studien über den bedürftigen Menschen, Bern 2002; Zugänge zur Gerechtigkeit, München 2001; Ethik im Begutachtungwesen, Witten 2001 Stinkes, Ursula, Prof. Dr., Professorin für Geistigbehindertenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg (Außenstelle Reutlingen). Forschungsschwerpunkte: Pädagogik und Didaktik. Publikationen u.a.: Spuren eines Fremden in der Nähe. Das ‚geistigbehinderte‘ Kind aus phänomenologischer Sicht, Würzburg 1993; Plädoyer für die Aufnahme der Leiblichkeit in Überlegungen zur ‚Bildung als Selbstgestaltung‘. In: Fornefeld, Barbara/Dederich, Markus (Hg.): Menschen mit geistiger Behinderung neu sehen lernen: Asien und Europa im Dialog über Bildung, Integration und Kommunikation, Düsseldorf 2002; Zur schwierigen Frage nach der Anerkennung – Fürsorge oder Solidarität für Menschen mit Behinderung? In: Greving, Heinrich/Gröschke, Dieter (Hg.): Das Sisyphos-Prinzip. Gesellschaftsanalytische und gesellschaftskritische Dimensionen der Heilpädagogik, Bad Heilbrunn/Obb. 2002. Herausgaben u.a.: Beiträge zu einer Pädagogik der Achtung, Heidelberg 2004 (zusammen mit Hartmut Sautter und Rainer Trost
Pädagogik Kathrin Audehm Erziehung bei Tisch Zur sozialen Magie eines Familienrituals 2007, 226 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-89942-617-5
Johannes Giesinger Autonomie und Verletzlichkeit Der moralische Status von Kindern und die Rechtfertigung von Erziehung 2007, 218 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-795-0
Ghodsi Hejazi Pluralismus und Zivilgesellschaft Interkulturelle Pädagogik in modernen Einwanderungsgesellschaften. Kanada – Frankreich – Deutschland 2009, 376 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1198-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Barbara Keddi Wie wir dieselben bleiben Doing continuity als biopsychosoziale Praxis Mai 2011, ca. 310 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1736-8
Antje Langer Disziplinieren und entspannen Körper in der Schule – eine diskursanalytische Ethnographie 2008, 310 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-932-9
Christiane Thompson, Gabriele Weiss (Hg.) Bildende Widerstände – widerständige Bildung Blickwechsel zwischen Pädagogik und Philosophie 2008, 228 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-859-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Pädagogik Wiltrud Gieseke, Steffi Robak, Ming-Lieh Wu (Hg.) Transkulturelle Perspektiven auf Kulturen des Lernens 2009, 266 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1056-7
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Peter Kossack Lernen Beraten Eine dekonstruktive Analyse des Diskurses zur Weiterbildung 2006, 218 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-294-8
Dominik Krinninger Freundschaft, Intersubjektivität und Erfahrung Empirische und begriffliche Untersuchungen zu einer sozialen Theorie der Bildung 2009, 278 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1287-5
Fabian Lamp Soziale Arbeit zwischen Umverteilung und Anerkennung Der Umgang mit Differenz in der sozialpädagogischen Theorie und Praxis 2007, 258 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-662-5
Claudia Lemke Ethnographie nach der »Krise der Repräsentation« Versuche in Anlehnung an Paul Rabinow und Bruno Latour. Skizzen einer Pädagogischen Anthropologie des Zeitgenössischen April 2011, ca. 348 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1727-6
Ruprecht Mattig Rock und Pop als Ritual Über das Erwachsenwerden in der Mediengesellschaft 2009, 264 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1094-9
Paul Mecheril, Monika Witsch (Hg.) Cultural Studies und Pädagogik Kritische Artikulationen 2006, 322 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-89942-366-2
Elisabeth Sattler Die riskierte Souveränität Erziehungswissenschaftliche Studien zur modernen Subjektivität 2009, 176 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1323-0
Christian Schütte-Bäumner Que(e)r durch die Soziale Arbeit Professionelle Praxis in den AIDS-Hilfen 2007, 304 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-717-2
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