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German Pages 340 [336] Year 2021
Hannelore Roth Preußische Phantasmen
Lettre
Hannelore Roth (Dr.), geb. 1991, lehrt und forscht am Institut für deutsche Literatur an der KU Leuven, an der sie 2019 promovierte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind u.a. deutschsprachige Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts, Literatur und Politik, Gender, insbesondere Männlichkeitsforschung, und Popkultur.
Hannelore Roth
Preußische Phantasmen Imaginationen nationaler Identität in der deutschen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts
Veröffentlicht mit Unterstützung der Belgischen Universitätsstiftung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Marsden Hartley, Portrait of a German Officer (1914) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5881-1 PDF-ISBN 978-3-8394-5881-5 https://doi.org/10.14361/9783839458815 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Danksagung .................................................................................. 9 Zur Einführung ................................................................................ 11
I. Teil Das frühe Nachleben: Das preußische Phantasma im frühen 20. Jahrhundert 1. 1.1 1.2 1.3
Oswald Spengler ........................................................................ Streit um Spengler: Reflexionen über die Spengler-Rezeption ............................ »Macht, Macht und immer wieder Macht«: Oswald Spenglers Preußentum und Sozialismus (1919) ....................................................... Coda: »Prussians Welcome« .............................................................
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2. Ernst von Salomon ..................................................................... 89 2.1 »Ich bin ein Preuße und will ein Preuße sein«: Lebenslauf eines Geächteten .............. 89 2.2 Die Nation als Körper – der Körper als Nation: Ernst von Salomons Die Geächteten (1930) .................................................................... 115 2.3 Die Suche nach dem besseren Vater: Ernst von Salomons Die Kadetten (1933) ............ 136 3.
Zauber der Uniform: Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick (1931) ............. 161
II. Teil Das Nachleben revisited: Preußen-Figurationen nach 1990 4. Figurationen von Alexander von Humboldt ............................................. 193 4.1 Der Humboldt-Hype .................................................................... 193 4.2 Preußen und die Kulturnation als Identifikationsmodelle für die Gegenwart? Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) ........................................201
4.3 Coda: Humboldt in der DDR. Christoph Heins Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert (1980) .................................................................... 231 5.
Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«. Friedrich Christian Delius’ Der Königsmacher (2001).................................... 239
6.
Das Berliner Schloss: Mythologisches Relikt in einer mythenarmen Zeit ................ 281
Schluss...................................................................................... 301 Literaturverzeichnis ........................................................................ 309 Abbildungsverzeichnis ...................................................................... 337
Für Sien
Danksagung
Die vorliegende Studie ist aus meinem Dissertationsprojekt Das preußische Phantasma. Imaginationen von Preußen in der deutschen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts (2015-2019) hervorgegangen. Das Projekt kam zustande mit einem vierjährigen Stipendium der Forschungsstiftung Flandern (FWO) und wurde 2019 als Dissertation an der Fakultät Letteren der KU Leuven angenommen. Den langen Weg des Entwerfens und Verwerfens, Schreibens und Umschreibens bin ich mit vielen Menschen gemeinsam gegangen, die mich professionell oder freundschaftlich, und oft beides zugleich, unterstützt haben. Einigen von ihnen möchte ich an dieser Stelle ausdrücklich danken. Ganz herzlich danke ich meinem Doktorvater, Prof. Dr. Bart Philipsen, für die freundschaftliche und hingebungsvolle Betreuung des gesamten Projektes. Ich danke ihm für das uneingeschränkte Vertrauen, das er in mich gesetzt hat, für sein nicht ablassendes Interesse am Forschungsthema und für die Freiheit, die er mir als junger Forscherin gegönnt hat. Die vielen anregenden Gespräche und konstruktiven Kommentare waren für dieses Projekt von unschätzbarem Wert. Sein mikroskopischer Blick und seine eigenwillige Denkart haben diese Arbeit maßgeblich geprägt. Meiner Mitbetreuerin, Prof. Dr. Anke Gilleir, danke ich herzlich für wichtige Anregungen in der Anfangsphase des Projektes und für konstruktive Kritik an einzelnen Kapiteln. Ihre Kommentare und ihr scharfer Leserblick haben die Arbeit erheblich vertieft. Ich danke Prof. Dr. Ulrike Vedder für ihre Gastfreundschaft während meines Forschungsaufenthalts an der Humboldt-Universität zu Berlin. Die Teilnahme an ihrem Doktorandenkolloquium habe ich als gewinnbringend erfahren. Weiter bedanke ich mich bei Dr. Maha El Hissy, die so großzügig war, das letzte Kapitel zu lesen und es mit der ihr so kennzeichnenden Scharfsinnigkeit zu kommentieren. Ich danke Prof. Dr. Rolf Parr für sein Interesse am Projekt, für seine hilfreichen Einsichten zum Thema und seine generösen Lektürehinweise. Auch Dr. Michael Ludwigs, der das Manuskript kritisch durchgelesen hat, bin ich sehr dankbar. Ich bedanke mich außerdem ganz herzlich bei meinen ›Kompagnons‹ der Löwener Forschungsgruppe ›Deutsche Literatur‹, Dr. Aude Defurne und Dr. Michiel Rys, für ihre Freundschaft und ständige Aufmunterung während der Arbeit.
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Preußische Phantasmen
Ich konnte auch immer auf die Unterstützung von vielen FreundInnen und Verwandten zählen. Ich danke meinem Bruder Sebastian, der mir mehrmals mit Anregungen weitergeholfen hat, meinen Großeltern, die mich mit offenen Armen empfangen, und meinem Stiefvater Yves, dessen Witze über Preußen mich oft wohl oder übel zum Lachen gebracht haben. Weiterhin danke ich meinem immer gut gelaunten Freund Manuel, der mich nicht nur moralisch, sondern auch mit seinen hervorragenden Kochkünsten unterstützt hat. Besonders danke ich meinen Herzensfreundinnen Sien und Charlotte, die mir immer mit Rat und Tat zur Seite stehen. Ein Treffen mit ihnen ist ein wahrer energy boost. Ein ganz besonderer Dank gilt Dr. Arne De Winde, der das Projekt mitangeregt hat. Ich habe lange darüber nachgedacht, an welcher Stelle ich ihm eigentlich danken sollte. Denn er ist für mich vieles zugleich: ein großartiger Kollege, mit dem jede Zusammenarbeit ein Vergnügen ist, ein Mentor, life coach und über alles ein treuer Freund. Mit großer Selbstlosigkeit und Begeisterung hat er das ganze Manuskript durchgelesen und mit dem ihm so eigenen Scharfsinn kommentiert. Auf sehr viele Arten hat er diese Arbeit mitgeprägt. Ich habe mir jede denkbare Mühe gegeben, damit sie seiner Hilfe gerecht wird. Wie dankt man den wichtigsten Menschen überhaupt? Aus tiefstem Herzen danke ich meiner Mutter Christine. Sie hat meine Liebe zur deutschen Literatur geschürt und war die erste Leserin jedes einzelnen Absatzes. Große Teile dieser Arbeit habe ich bei ihr ›in retraite‹ geschrieben. Auf tausende Weisen hat sie für Ablenkung gesorgt und mich aufgeheitert, wenn es mit der Arbeit nicht voranging. Für ihre Liebe, Wärme und Unterstützung kann ich ihr niemals genug danken. Mein letzter, fast unaussprechlicher Dank gilt meiner großen Liebe Bart. Er hat die Höhen und Tiefen, die mit einer Dissertation einhergehen, aus der Nähe miterlebt und meine Launen selbstlos und mit viel Humor ertragen. Aus tiefstem Herzen danke ich ihm für seine bedingungslose Liebe und so viel anderes, das ich nicht in Worte fassen kann.
Zur Einführung
Einstieg: Marsden Hartleys Portrait of a German Officer (1914) Als der US-amerikanische Maler Marsden Hartley (1877-1943) während eines Aufenthalts in Paris 1912 Berlin besucht, ist er von der imperialen Metropole und ihrer rauschhaften Atmosphäre wie elektrisiert. »I like Berlin extremely […] I find it full of mystical ideas + colors + I have begun to paint them«,1 so schreibt er im August 1913 an den amerikanischen Fotografen und Galeristen Alfred Stieglitz. Zu diesem Zeitpunkt hat Hartley Paris schon gegen die deutsche Hauptstadt eingewechselt, die er im Dezember 1915 wegen des Krieges verlassen wird. Die Bilder, die er während dieser relativ kurzen Periode in Berlin malt, haben ihm den Ruf eines der bedeutendsten Vertreter*innen der amerikanischen Moderne eingebracht. Anders als die expressionistischen Großstadtbilder Ernst Ludwig Kirchners oder Max Beckmanns fangen Hartleys Berliner Gemälde die Hast der niemals dunklen und niemals schlafenden modernen Großstadt nicht in figurativen Straßenszenen ein. Sie geben keine konkreten Hochhäuser, Geschäfte oder Lokale wieder, keine Autos oder Städter, die hastig dazwischen lavieren. Stattdessen zeigen die farblich explodierenden, ohne Raumtiefe gemalten Bilder eine kaleidoskopische Collage von mystisch anmutenden Kreisen, Dreiecken, gezackten und geschlängelten Linien, Nummern und Buchstaben, achtspitzigen Sternen und detonierenden Himmelskörpern, die sich auf jeden Zentimeter der Leinwand zusammenpressen (Abb. 1, 2). Mit seinen nervösen Berlin-Gemälden fängt Hartley den jagenden Puls des modernen Großstadtlebens ein. »It was like a brass band in a small closet«,2 so beschreibt später die Malerin Georgia O’Keeffe Hartleys schmetternde Großstadtbilder, die sie in kleinen Galerien gesehen hat. Hartley ist in Berlin aber nicht nur von den Autos, elektrischen Straßenbahnen oder Kaufhauspalästen magnetisiert, mit denen die industrialisierte und urbanisierte Großstadt ihre Modernität etaliert. Noch mehr zieht ihn das unablässige Schauspiel von
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Hartley an Alfred Stieglitz, August 1913, zitiert nach Patricia McDonnell, »›Portrait of Berlin‹: Marsden Hartley and Urban Modernity in Expressionist Berlin,« in Marsden Hartley, Hg. Elizabeth Mankin Kornhauser (New Haven/London: Yale University Press, 2002), 39-57, hier: 39. Georgia O’Keeffe, interviewt von Calvin Tompkins am 24. Sept., 1973, zitiert nach ebd., 40.
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Preußische Phantasmen
Abb. 1: Pre-War Pageant (1913); Abb. 2: Himmel (c. 1914-1915)
Quelle: Abb. 1: Privatsammlung, Öl auf Leinwand; Abb. 2: The Nelson-Atkins Museum of Art, Kansas City, Öl auf Leinwand.
Militärparaden, festlichen Umzügen und Marschkapellen in den Bann, das in der kaiserlichen Hauptstadt das Alltagsleben durchdringt. In seiner 1933 erschienenen Autobiografie Somehow a Past erinnert er sich: »[T]he military life provided the key and clue to everything then […]. […] Of course in the Kaiser time there was always a parade of some kind coming down the Unter den Linden […]. […] I had arrived in Berlin at the right time to get the richness of the pageantry idea. There was a sense of magic in seeing royalty pass«.3 Als Hartley im Frühling des Jahres 1913 in Berlin eintrifft, kann er sich tatsächlich – wie hunderttausende andere Besucher – am militärischen Gepränge begeistern. Den Festlichkeiten für die Heirat der einzigen Tochter des deutschen Kaisers mit dem Herzog von Braunschweig folgen schon schnell das 25-jährige Regierungsjubiläum Wilhelms II. und das 100-jährige Jubiläum der ›Völkerschlacht‹ bei Leipzig 1813. Hartley spickt seine Berliner Gemälde dementsprechend mit stilisierten Darstellungen von Kürassieren, wie zum Beispiel Portrait of Berlin, Himmel (Abb. 2) und besonders The Warriors (Abb. 3), sowie mit abstrahierten Formen, die Assoziationen zu militärischen Symbolen und Paraphernalien wecken: Dreiecke suggerieren Helme, Kreise evozieren Abzeichen, Medaillen, Zielscheiben oder Räder, die Nummern deuten möglicherweise auf Regimentsnummern hin usw. Dass dieses militärische Kostümfest und der damit einhergehende Männlichkeitskult bei Hartley auch homoerotische Gefühle erweckt, veranschaulicht vor allem das Gemälde The Warriors, das nach eigener Angabe auf die kaiserlichen Hochzeitsfestivitäten am Pariser Platz 1913 zurückgeht.4 Von der jubelnden Menschenmasse oder den aus ganz Europa angereisten Hoheiten fehlt jede Spur. Das Bild zeigt lediglich das perfekt choreografierte militärische Gefolge der kaiserlichen Familie. Die in weiß gehüll-
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Marsden Hartley, Somehow a Past. The Autobiography of Marsden Hartley, Hg. Susan Elizabeth Ryan (Massachusetts: MIT Press, 1997), 86-87. Ebd., 90.
Zur Einführung
ten, mit Federhelmen geschmückten und mit schwarz-weißen Flaggen ausgestatteten Kürassiere, die unter ihren Uniformen »six foot of youth«5 verbergen, sitzen hoch auf ihrem Ross und türmen sich auf. Die mandorla- oder tempelförmige Figur in der Mitte des Gemäldes, darunter die wolkigen oder lotusartigen Formen, sowie die tantrischen Muster, die das Ganze umranken, geben der Szenerie eine kultische, spirituelle und erotische Dimension.
Abb. 3: The Warriors (1913)
Quelle: Privatsammlung, Öl auf Leinwand.
Kurz nach Kriegsausbruch fällt Hartleys Freund und möglicher Geliebter, der preußische Leutnant Karl von Freyburg, an der Westfront bei Arras. Hartley setzt ihm in seiner War Motif -Serie (1914-1915), die zwölf bruchstückhafte Kriegscollagen umfasst, ein verschlüsseltes Denkmal (Abb. 4-7). Erscheint die Serie durch die Ästhetik einer diskontinuierlichen Überhäufung zunächst als das Produkt eines ungestümen Malers, so liegt ihr in Wirklichkeit ein strenger, sogar monomaner Fokus zugrunde.6 Flaggen, Orden, Tressen, Epauletten, Federbüsche und andere Versatzstücke militärischer Paradeuniformen montiert Hartley in ständig neuen Konstellationen und Beziehungen in die Bildkompositionen, die er zudem mit kryptischen numerischen Anspielungen auf
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Ebd., 90. Vgl. Arne De Winde, »Eine Genealogie des Zerkratzens: Grabbe – Kiefer – Beyer,« text + kritik. Zeitschrift für Literatur 212, Christian Dietrich Grabbe, Hg. Sientje Maes, Bart Philipsen (2016): 83-100, hier: 83.
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von Freyburg besät. Die Reihe präsentiert sich als eine Serie von Anfängen und Neuanfängen, Verschiebungen und Wiederholungen, die zu keinem Endpunkt oder Ausgang kommen, sondern in einer immerwährenden Ausweichbewegung weiterwuchern. Die exzessive Häufung von (Schrift-)Zeichen und Symbolen, die gleichsam wie im benjaminschen Trauerspiel einen grundsätzlichen Verlust oder Mangel verdecken soll, höhlt die verweisende, metaphorische Dimension aus. Kann man im ersten Bild der Reihe, Portrait of a German Officer (Abb. 8), noch die Konturen eines menschlichen Torsos erkennen, so wirkt die Zusammensetzung von Formen und Objekten in den anderen Bildern (Abb. 4-7) eher beliebig oder undurchschaubar.
Abb. 4 (oben links): Painting No. 47 (1914-1915); Abb. 5 (oben rechts): Painting No. 5 (1914-1915); Abb. 6 (unten links): Abstraction (Military Symbols) (1914-1915); Abb. 7 (unten rechts): E. (German Officer – Abstraction) (c. 1915)
Quelle: Abb. 4: Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington, Öl auf Leinwand; Abb. 5: Whitney Museum of American Art, New York, Öl auf Leinwand; Abb. 6: Toledo Museum of Art, Toledo, Öl auf Leinwand; Abb 7: The University of Iowa Museum of Art, Iowa City, Öl auf Leinwand.
Zur Einführung
Abb. 8: Portrait of a German Officer (1914)
Quelle: The Metropolitan Museum of Art, New York, Öl auf Leinwand.
Portrait of a German Officer (Abb. 8) ist Hartleys bekanntestes Bild. Der Titel ist insofern irreführend, als das hauptsächlich aus militärischen Versatzstücken zusammengestellte ›Porträt‹ die Vorstellung einer geschlossenen Identität sowie die ästhetische Kategorie der Mimesis als illusorische Konstruktion ausstellt. Der Offizier hat weder Leib noch Gesicht. Damit bricht Hartley radikal mit einer ganzen Tradition von Soldatenporträts, die Soldaten mit zusammengezogenen Knochen und stechendem Blick abbildet. Die Betrachter*innen werden eingeladen, sich durch das enigmatische Zeichengestrüpp zu bewegen und das Konglomerat von Formen zu enträtseln, was das
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Preußische Phantasmen
Gemälde zu einem Such- und Vexierbild werden lässt. Der Torso ist aus gestreiften, karierten und gerauteten Flaggen zusammengeknüpft, die nationale oder regionale Identität verheißen. Die zwei weiß-schwarz gestreiften Flaggen in der Mitte des Bildes verweisen auf das Königreich Preußen, in dessen Dienst das mecklenburgische Adelsgeschlecht von Freyburg seit Generationen Offiziere gestellt hatte. Die rot-weiß-schwarze Flagge bezieht sich, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, auf das deutsche Kaiserreich, in dessen Namen Hartleys Freund auf dem ›Feld der Ehre‹ gefallen ist. Das von Karl Friedrich Schinkel 1813 entworfene Eiserne Kreuz, das Freyburg für seine militärischen Leistungen postum verliehen wurde, prangt, in ein goldenes Dreieck gestellt, in der Mitte der Brust. An der Unterseite des Bildes sieht man die Flaggen Belgiens und Englands, denen Deutschland den Krieg erklärt hatte. Das verstreut auftauchende weiß-schwarz karierte Muster wird häufig als Anspielung auf Freyburgs Lieblingszeitvertreib, Schach, interpretiert.7 Das Schachbrettmuster evoziert aber auch moderne Verkehrslagen. Die Nummer vier in der Mitte des Gemäldes deutet auf Freyburgs Regimentsnummer hin, die Nummer 24 auf das Alter, in dem der Leutnant gefallen ist. Unter der 24 ist der Sporn eines Kavalleristen sichtbar, an der rechten Hüfte hängen die Quasten der Uniform. Linksunten sieht man Freyburgs Initialen, die dem Kriegshelden huldigen, ihn aber zugleich auch anonymisieren. In Schulterhöhe ragen zwei Lanzen in den schwarzen Hintergrund. Historische und zeitgenössische Versatzstücke werden so anachronistisch ineinandergeschoben. Dementsprechend kann man die weiß-blau gerautete Flagge des Königreichs Bayern auch als eine Anspielung auf mittelalterliche Ritterturniere lesen. Auch im Berlin-Gemälde Military (1913) erinnert die zentrale, längliche Form an ein Schwert, das auf ein Schild prallt, wobei die dünne Linie in der Mitte dieser Form die rillenförmige Vertiefung oder ›Hohlkehle‹ des Schwertes und das grüne Querstück die sogenannte Parierstange darstellt.8 Hartleys Gemälde lassen dadurch nicht nur unterschiedliche Zeiten aufeinanderprallen, sondern auch genderspezifische Kontinuitäten durchschimmern. Zwar war die Vorstellung eines ritterlichen Zweikampfes durch den hochtechnisierten Stellungskrieg in der Praxis obsolet geworden, da jeden Tag eine hohe Anzahl uniformierter Körper verletzt, verstümmelt oder getötet wurde. Doch die Realität eines grausamen Massentodes führte paradoxerweise nicht zur Hinterfragung oder Unterminierung des Ideals
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Nach Hartleys Tod im Jahre 1943 schrieb Karl von Freyburgs Vetter, Arnold Rönnebeck, einem deutschen Sammler einen Brief, in dem er die von Hartley eingesetzten Symbole zu erklären versucht. Dieser Brief dient als Basis für spätere Interpretationen. Patricia McDonnell, Dictated by life. Marsden Hartley’s German Paintings and Robert Indiana’s Hartley Elegies (Minneapolis: Frederick R. Weisman Art Museum/University of Minnesota, 1995), 28. Man kann in dieser Komposition auch die Palette und den Pinsel eines Malers wiedererkennen. Das Gelb und das Blau auf der roten Palette hat der Maler dann gemischt, um das Grün, die einzige andere Farbe im Gemälde außer weiß und schwarz, zu erhalten. Das Bild ist über den folgenden Weblink verfügbar: https://www.artnet.com/magazine/features/dixon/dixon8-13-1.asp (abgerufen 22.07.2019).
Zur Einführung
individueller heroischer Männlichkeit.9 Wie dem autobiografischen Roman Die Kadetten (1933) von Ernst von Salomon zu entnehmen ist, der im zweiten Kapitel dieser Arbeit eingehend besprochen wird, war die Erziehung der Offiziere in spe auch während des Ersten Weltkrieges vom Wunschbild eines heroischen, ja schönen Opfertodes durchdrungen. Zudem wurde die Vorstellung individueller heroischer Männlichkeit in einer modernisierten Form fortgeschrieben, insofern man sie mit dem neuen Technikdiskurs kompatibel zu machen versuchte. Gerade das Jagdflugzeug, das wie kein anderes die Modernität des Krieges repräsentiert und zu dem sich auch Salomons Kadetten hingezogen fühlen, ließ den ritterlichen Zweikampf wieder möglich erscheinen.10 Der trauernde Hartley malt eben nicht den verletzlichen Körper des geliebten Freundes, sondern die triumphalen Hoheitszeichen des Deutschen Kaiserreichs, in dessen Namen sich Freyburg, wie Millionen andere, in den Tod gestürzt hat. Der natürliche Körper ist in dieser emblematischen Darstellung ausgelöscht. In Anlehnung an Ernst Kantorowizcs Zwei-Körper-Lehre11 wird er gleichsam mit einem zweiten, das heißt unsterblichen und mit Insignien der Macht ausgestatteten Körper überschrieben, der sich aus der Summe imaginärer Zuschreibungen anderer zusammensetzt.12 Die trügerische, nahezu verzaubernde Macht der Uniform ist wohl nirgendwo so deutlich vorgeführt worden wie im Theaterstück Der Hauptmann von Köpenick (1930) von Carl Zuckmayer, das im dritten Kapitel ausführlich besprochen wird. Mit seiner Komödie nahm Zuckmayer nicht nur den Uniformtaumel des wilhelminischen Kaiserreichs, sondern auch den der NSDAP in der Weimarer Republik ins Visier. Das Stück handelt vom Ex-Zuchthäusler Wilhelm Voigt, dem es dank einer gekauften Uniform gelingt, sich als Hauptmann auszugeben und mit einem ganzen Wachkommando das Rathaus von Köpenick zu belagern. Auch Hartley scheint in Portrait of a German Officer der auratischen Wirkung der Uniform zu verfallen, indem er das militärische Gepränge zitiert und reproduziert. Tatsächlich werden die Berlin- und War Motif -Gemälde immer wieder als affirmative und glorifizierende Darstellungen des preußischen Militarismus aufgefasst. So macht der amerikanische Bühnenbildner und Kritiker Lee Simonson Hartleys Vorliebe für schneidige Soldaten 1913 zum Gegenstand einer Karikatur (Abb. 9). Das Bild zeigt Hartley als übertrieben muskulösen Soldaten, der auf manierierte Weise, mit geschwellter Brust, gespitzten Zehen und im preußischen Stechschritt paradiert. Mit seinen bunten Bildern, auf die die Flagge in Hartleys rechter Hand Bezug nimmt, hat der amerikanische
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Karen Hagemann, »›WE NEED NOT CONCERN OURSELVES…‹ Militärgeschichte – Geschlechtergeschichte – Männergeschichte. Anmerkungen zur Forschung,« Traverse. Zeitschrift für Geschichte/Revue d’histoire 5, 1 (1998): 75-93, hier: 87. https://www.revue-traverse.ch/ausgabe/1998/1/geschlechtmaennlich (abgerufen 22.06.2018). René Schilling, ›Kriegshelden‹. Deutungsmuster heroischer Männlichkeit in Deutschland 1813-1945 (Paderborn: Schöningh, 2002), insb. 252-286, hier: 253. Ernst Kantorowicz, The King’s Two Bodies. A Study in Medieval Political Theology (Princeton: Princeton University Press, 1957). Albrecht Koschorke, »Macht und Fiktion,« in Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, Hg. Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Ethel Matala de Mazza (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2002), 73-84, hier: 79.
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Preußische Phantasmen
Maler eindeutig Farbe bekannt, so suggeriert die Karikatur. Der Bildtext lautet dementsprechend: »Marsden Hartley adopts Germany! to the tune of: ›Ich bin ein Preusser Kennt ihr meine Farben‹.« Wenn Hartley 1916 seine ›deutschen Bilder‹ in der Galerie 291 von Alfred Stieglitz in New York ausstellt, erhält er aufgrund der ihm unterstellten pro-deutschen Position nur sehr laue bis negative Kritiken. Gegen diesen Vorwurf setzt er sich öffentlich zur Wehr: »The forms are only those which I have observed casually from day to day. There is no hidden symbolism whatsoever in them; there is no slight intention of that anywhere.«13 Auch heute erkennt man in Hartleys War Motif -Serie eine unverhohlene affirmative Strategie. So schreibt die Kunsthistorikerin Donna M. Cassidy: »The objects not only commemorate the dead warrior but celebrate military power and function as signs of the masculine ideal.«14
Abb. 9: Lee Simonson, »Hartley adopts Germany« (1913)
Quelle: Yale Collection of American Literature, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, New Haven.
Gewiss hat Hartleys War Motif -Reihe das Potenzial, den Krieg zu ästhetisieren und glorifizieren. Mit seinen farbenprächtigen Gemälden scheint er selber dem taumelhaf13
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Hartleys Statement erschien in der Begleitbroschüre der Ausstellung in 291 vom 4. April bis zum 22. Mai. Es wurde in Stieglitzs Zeitschrift Camera Work erneut gedruckt. Camera Work 48 (Okt., 1916): 12. Donna M. Cassidy, Marsden Hartley. Race, Region, and Nation (Hanover/London: University Press of New England), 230.
Zur Einführung
ten Effekt der von ihm eingesetzten Symbole anheimzufallen und auch die Betrachter*innen in den Bann zu ziehen. Die Bilder können aber auch als eine kritische Erkundung der bedrohlichen und immerwährenden Anziehungskraft des militärischen Gepränges gelesen werden, wodurch so viele Männer für Kaiser, Volk und Vaterland in den Tod gegangen sind. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die palimpsestartige Struktur von Portrait of a German Officer. Wie man mit Röntgenstrahlen entdecken konnte, verbirgt sich unter der schwarzen Oberfläche eine komplexe Komposition von Dreiecken und Kreisen, die auf die früheren Berlin-Gemälde und besonders Portrait of Berlin zurückgeht.15 Es ist, als sage sich der Maler durch die Auftragung der schwarzen Oberschicht von seiner »kindlichen Vorliebe für das öffentliche Spektakel«16 los, die der unablässige Strom von Militärparaden bei seiner Ankunft in Berlin in ihm hervorgerufen hatte, um hingegen dessen Schattenseiten aufzuzeigen. Es verwundert daher nicht, dass Tilman Krause in Die Welt anlässlich der Ausstellung von Hartleys deutschen Gemälden in der Berliner Neuen Nationalgalerie 2014 von »faszinierende[n] Bilder[n] einer Entzauberung« sowie von einem »Abschied von einem Phantasma« spricht.17 Es ist aber nicht das elegische Schwarz, das in Portrait of a German Officer dominiert. Die dunkle untere Schicht wird von den grellen Farben Rot, Blau, Gelb, Weiß und Grün gleichsam überwuchert. Die grausame, nur mittels einer schwarzen Fläche darstellbare Kriegsrealität wird von den mit Sinn und (nationaler) Identität aufgeladenen, im Grunde genommen aber banalen Objekten in den Hintergrund gedrängt. So stellt Portrait of a German Officer nicht so sehr einen Entzauberungsprozess oder einen Abschied dar, sondern es veranschaulicht, wie in dem entzauberten Kontext des anonymen Massenkrieges die Sinn und Identität verheißenden Projektionsmechanismen immerwährend fortwirken. Jeder weiß, dass der ehrenvolle Soldatentod – gerade im Stellungskrieg – nichts anderes als eine Fiktion ist, das Eiserne Kreuz lediglich ein Trostpflaster, aber trotzdem strickt man fleißig daran mit. Damit die Illusion von Identität aufrechterhalten wird, sollen diese performativen Fiktionalisierungsstrategien dissimuliert werden.18 Der Logik des Performativen entsprechend ziehen sie sich hinter ihre phänomenologische Evidenz zurück. Gerade auf diese Dynamik lenkt Portrait of a German Officer die Aufmerksamkeit: Die durch den Titel evozierte Idee einer geschlossenen Identität wird durch die bruchstückhafte Komposition des Gemäldes in ihrer Performativität gezeigt und als illusorische Konstruktion exponiert. Das Bild führt vor Augen, wie bloße Farbflächen zu Projektionsflächen werden: Ein Farbmuster wird zu einer Flagge gestrickt, eine Flagge zu einer Nation; zwei sich kreuzende Linien sind eben keine zwei sich kreuzenden Linien, sondern stellen
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Stephan Kornhauser, Ulrich Birkmaier, »Marsden Hartley’s Materials and Working Methods,« in Kornhauser, Marsden Hartley, 265-277, hier: 270. Hartley an Rockwell Kent, März 1913, zitiert nach McDonnell, »›Portrait of Berlin‹,« 48. Tilman Krause, »Ein schwuler Amerikaner im kaiserlichen Berlin,« Die Welt, 10. Mai, 2014, https:// www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article127836120/Ein-schwuler-Amerikaner-im-kaiserli chen-Berlin.html (abgerufen 22.07.2019). Vgl. Arne De Winde, Sientje Maes, Bart Philipsen, »StaatsSachen oder die Sache des Staates. Zur Einführung,« in StaatsSachen/Matters of State. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19. Jahrhundert, Hg. dies. (Heidelberg: SYNCHRON – Wissenschaftsverlag der Autoren, 2014), 13.
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ein Symbol für Tapferkeit dar. Die übertriebene Theatralität, mit der das Gemälde diese Inszenierungsmechanismen zur Schau stellt und die durch die Kostümierung noch betont wird, unterbricht und hinterfragt die identifizierende Bewegung. Dieser Unterbrechung liegt aber keine intentionelle Gegenstrategie zugrunde. Es ist vielmehr die Materialität des Kunstwerkes, oder was man in Bezug auf literarische Texte unter Literarizität versteht, die das Potenzial hat, die Fiktion einer monolithischen Identität zu unterbrechen. Indem sie die Aufmerksamkeit auf sich selbst lenkt, steht ihr die Möglichkeit zur Verfügung, die sich hinter ihre phänomenologische Evidenz zurückziehende Performativität aus ihrer Latenz hervorzulocken. Das Kunstwerk kann diese Evidenzen freilich auch weiterschreiben, wie die Interpretationen von Hartleys Gemälden als affirmativen Darstellungen des Krieges und eines damit einhergehenden heroischen Männlichkeitsideals belegen. Die Stärke des Werkes liegt dann vielleicht in der folgenden Aporie: Liest man die War Motif -Serie als eine Affirmation von militärischer Glanz und Gloria und den damit einhergehenden identitätsbildenden Fiktionen und Narrativen, oder aber als deren kritische Erkundung oder Demontierung? Führt die ständige Reinszenierung der militärischen Artefakte dazu, dass vermeintliche Evidenzen fort- und festgeschrieben werden oder werden diese auratischen Objekte dadurch als leere Ornamente entlarvt, die man wie Versatzstücke fast beliebig hin- und herschieben kann? Vielleicht ist es aber weniger eine Sache von Entweder-oder, sondern von Sowohl-als auch. Dasjenige, was die Bilder affirmativ zitieren, wird unmittelbar dekonstruiert; was sie als Wunschbild projizieren, wird auch sofort entstellt.19 Sie sind gleichzeitig Figuration und Defiguration, Montage und Demontage, Bedeutungswucherung und damit Bedeutungsaushöhlung.
Das preußische Phantasma In dem Sinne legen Hartleys Bilder eine Dynamik offen, die kennzeichnend ist für das, was im Folgenden als ›Phantasma‹ bezeichnet wird. Das Phantasma wird hier als die Konstruktion einer geschlossenen und homogenen Identität, und in Bezug auf Preußen einer nationalen Identität, verstanden. Weil diese imaginäre Konstruktion – die durchaus reale, die Wirklichkeit gestaltende Auswirkungen hat – durch Momente der Illusion und Verführung bestimmt ist, kann das mittels performativer Projektions- und Fiktionalisierungsmechanismen aufgebaute Phantasma durch dieselben Mechanismen untergraben werden, wenn sie als solche hervortreten. Der Logik des Performativen entsprechend soll den fiktionalisierenden20 Gestus deshalb ausgeblendet oder dissi-
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Vgl. De Winde, »Eine Genealogie des Zerkratzens,« 91-93. Der Begriff des Fiktiven wird in dieser Arbeit in seiner ursprünglichen, auf das lateinische fingere zurückgehenden doppelten Bedeutung von (1) ›erfinden, sich ausdenken‹ und (2) ›verfassen, machen‹ verwendet. In diesem konstruktivistischen Sinne deutet er auf die der sozialen und politischen Ordnung zugrundeliegenden schöpferischen ästhetischen Mechanismen sowie die rhetorisch-diskursive Verfasstheit von Wirklichkeit und Identität hin. Kunst und Literatur sind – als spielerische Experimentierfelder – der Ort schlechthin, wo diese Fiktionalisierungsprozesse im Herzen des Politischen potenziell sichtbar werden und Identitäten auf ihrer Performativität hin geprüft werden können.
Zur Einführung
muliert werden, gleichsam in einem kollektiven Glaubensakt,21 um Natürlichkeit und Evidenz vorzutäuschen. Kann das Imaginäre als die nicht-abschließbare Dynamik der Identifizierung beschrieben werden, so lässt sich das Phantasma als die illusorische Stilllegung, Fixierung und Schließung dieser Bewegung begreifen.22 Es hat die Funktion, eine identitäre Leerstelle auszufüllen oder zu überspannen und erweckt so den Eindruck von Fülle und Ganzheit. Wie in Hartleys Bild klafft hinter dieser Rhetorik aber eine bedeutungslose Leere, die auch die exzessive Häufung von Ornamenten nicht ganz schließen oder zudecken kann. Obwohl das so verstandene Phantasma sich oft mit dem komplementären Begriff des Mythos überschneidet und sich letzterer Begriff in einigen Fällen auch als der geeignetere aufdrängen wird, betont das Phantasma doch mehr als der diskursiv-narrative, sich auf Geschichten konzentrierende Mythos-Begriff die zwanghafte (Re-)Produktion von faszinierenden und verlockenden Bildern mit der Konnotation der optischen Täuschung oder des Trugbildes. Anders als der ›Mythos‹ rückt der Begriff ›Phantasma‹ außerdem eine körperlich-affektive, oft auch triebhaft-erotische Bedeutungsschicht in den Vordergrund, die sich in Bezug auf Preußen als besonders produktiv erweisen wird. Diese triebhafte Dimension, die sich nicht auf den somatischen Bereich beschränkt, rückt das Phantasma in die Nähe des Irrationalen und Unbewussten, die traditionell Gegenstand der Psychoanalyse sind. Obwohl sich der Leitbegriff dieser Studie im psychoanalytischen Diskurs als ein wichtiges Konzept erwiesen hat, das mehrmals umgedeutet, neuinterpretiert und kritisiert wurde und somit selbst alles andere als ein fixer Begriff ist (u.a. Freud, Lacan, Žižek, Deleuze), wird in der vorliegenden Arbeit die Psychoanalyse als solche jedoch nicht als Methode verwendet. Vielmehr wird versucht, bestimmte Aspekte der psychoanalytischen Hermeneutik und des Phantasmas für das Lesen von Texten produktiv zu machen, wie zum Beispiel die insistierende beziehungsweise zwanghafte Wiederholung von (leitmotivischen) Bildern, die Chiffrierung, die (metaphorische) Verdichtung sowie die (metonymische) Verschiebung und Verstellung, in deren »verunreinigende[m] ›ver-›« sich eine »merkwürdige Uneigentlichkeit« versteckt.23 Das Phantasma präsentiert sich zwar als ein mit sich selbst identisches Ganzes, ist aber von Anfang an entstellt und zerfällt in weitere Phantasmen. Das Phantasma sind immer mehrere Phantasmen zugleich. In seiner Identität und Gemeinschaft verheißenden Funktion tritt das Phantasma verschärft hervor in Zeitabschnitten, die sich durch eine Suche nach Identität beziehungsweise durch Identitätskrisen kennzeichnen. Daher mag es nur auf den ersten Blick überraschen, dass das preußische Phantasma, das im Kontext des verlorenen Ersten Weltkriegs virulent wurde, nach der deutsch-deutschen Vereinigung wieder verstärkt heraufbeschworen wird. Die schwierigen Integrationsprobleme nach der Wende
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Slavoj Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹,« in Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Hg. Joseph Vogl (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994), 133-164, hier: 136. Vgl. Katharina Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres. Zur Dynamik der nationalen Identifizierung nach 1990 (Berlin: De Gruyter, 2014), 34. Samuel M. Weber, Rückkehr zu Freud. Jaques Lacans Ent-Stellung der Psychoanalyse (Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein, 1978), 7.
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haben das teleologische Diktum des Alt-Kanzlers Willy Brandt, »Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört«, als naiv und unzureichend entlarvt. Stattdessen bedürft die Berliner Republik neuer Fiktionen, oder vielmehr alter Fiktionen in einer neuen Form, zu denen sie sich in Beziehung setzen kann, um sich als Eines zu präsentieren.24 Solche Neu- beziehungsweise Reinszenierungen deuten zum einen auf den spektralen Charakter des preußischen Phantasmas hin, auf das geisterhafte Nachleben von etwas, das in seinen Ursprüngen immer schon gespenstisch war.25 Sie machen zum anderen auf den repetitiven, zwanghaften Charakter des Phantasmas aufmerksam, das sich chamäleonartig in jeweils anderen Formen zeigen kann. Das Phantasma setzt sich aus vielen fragmentarischen Versatzstücken zusammen, hat so weder ein wirkliches Zentrum noch eine Peripherie, sondern ist vielmehr ein rhizomatisches Gewebe von Motiven ohne Kern oder Tiefenraum, die sich in ständig neuen Konstellationen und mit neuen Akzenten zusammentun. Wenn diese permanente Reinszenierung, dessen konstitutives Prinzip vielmehr die Differenz als die Gleichheit ist, als solche sichtbar wird, kann die trügerische identitäre Schließung unterbrochen werden, und zwar von innen her. Das Phantasma, das durch performative Mechanismen konstruiert wird, ist von Anfang an vom Einsturz bedroht. Diese zwangsneurotische Diskursstruktur von Wiederholungen, Verschiebungen, Verdrängungen, Verwerfungen, Neubelebungen und Fetischisierungen unterschiedlicher Versatzstücke ist kennzeichnend für den öffentlichen Diskurs in Deutschland über Preußen und spitzt sich im 20. und 21. Jahrhundert zu.26 Preußen steht im Großen und
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Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza (Hg.), Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas (Frankfurt a.M.: Fischer, 2007), 62. Der grundsätzlich spektrale Charakter des Phantasmas bedeutet selbstverständlich nicht, dass es den historischen Staat Preußen nicht gibt. Zweifellos existiert der Staat; trotzdem ist er eine Fiktion, insofern er »gleichsam jederzeit von seinen Angehörigen (und auch von den anderen) fingiert werden [muss], um in seiner Existenz Bestand zu haben.« Koschorke, Lüdemann, Frank, Matala de Mazza, »Vorwort,« in Der fiktive Staat, Hg. dies., 9-14, hier: 10. Von Anfang an basiert Preußen auf Fiktionalisierungen, Konstruktionen und Projektionen ihres Selbstes, die in verschiedenen Gestalten die Gegenwart heimsuchen. Zum Beispiel wird Preußen in der sogenannten borussianistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts aufgrund seiner führenden Rolle im nationalen Einigungsprozess 1867-1871 und beim Westfälischen Frieden 1648 von Historikern wie Heinrich von Treitschke und Leopold von Ranke zum Wegbereiter einer vermeintlichen deutschen Weltmission stilisiert. Diese historiografisch-politische Verschiebung von »Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt« (Hardtwig 1980) hat ihrerseits die noch eingehend zu besprechende Preußen-Konzeption des Geschichtsphilosophen Oswald Spengler beeinflusst, der Preußen im Kontext des verlorenen Ersten Weltkriegs aktualisiert und neuinterpretiert. Wolfgang Hardtwig, »Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und Borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus,« Historische Zeitschrift 231, 2 (Okt., 1980): 265-324. Für einen Überblick des gewandelten Preußen-Diskurses, siehe u.a. Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen (Berlin: Rowohlt, 2009), insb. 211-294; Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, aus dem Englischen von Richard Barth, Norbert Juraschitz, Thomas Pfeiffer (München: Pantheon, 2007), insb. 743-780; Claudia Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft – Performanzen gespenstischer Macht. Königsfiguren in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts (Freiburg i.Br., Rombach, 2004), insb. 449-476. Einen hilfreichen Überblick bietet auch der
Zur Einführung
Ganzen sowohl für einen militaristischen und antidemokratischen Obrigkeitsstaat als auch für einen Hort von Aufklärung und Bildung, und kann demzufolge von unterschiedlichen Gruppen auf unterschiedliche Weisen angeeignet werden. Er ist – nach dem bekannten Diktum von Madame de Staël – ein widersprüchlicher Staat mit ›Januskopf‹. Die französische Schriftstellerin sah Preußens militärisch-philosophisches Doppelgesicht wie von keinem anderen von Friedrich II. verkörpert, der mit ebenso viel Begeisterung die Querflöte aufnahm wie er die Kriegsposaune schmettern ließ, so suggeriert das bekannte, zur Mythenbildung beitragende Gemälde Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci (1852) von Adolph Menzel in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Zwar müssen sich die Philosophen und Gelehrten auf dem Reiterstandbild Friedrichs II. auf dem Berliner Boulevard Unter den Linden mit einer Stelle an der Rückseite, direkt unter dem Hintern des königlichen Rosses, zufriedengeben, wie Herfried Münkler ironisch bemerkt, doch hat der selbsterklärte roi philosophe durch seinen Agnostizismus und seine nachdrückliche religiöse Toleranz entscheidend zur Verbreitung der Ideen der Aufklärung in Preußen beigetragen.27 Im 20. Jahrhundert trat zunächst der militaristische Friedrich II. wieder in den Vordergrund. Im Kontext des Ersten Weltkriegs bot der auf Angriff und Eroberung bedachte Preußenkönig die gewünschten historischen Anknüpfungsmöglichkeiten. So zog Thomas Mann in seinem antidemokratischen Kriegsessay Friedrich oder die große Koalition (1914/1915) historische Parallelen zwischen dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) und dem Ersten Weltkrieg. In beiden als Präventionskrieg scheinlegitimierten Angriffskriegen sei Preußen beziehungsweise Deutschland ein missverstandener Einzelner in einer Welt von übermächtig erscheinenden Feinden. Auch nach der Kriegsniederlage des Deutschen Kaiserreichs und dem Sturz des preußischen Königtums blieb Preußen ein wichtiger Bestandteil der antidemokratischen Rhetorik. Zwar bildete der Freistaat Preußen in der Weimarer Republik unter dem Reichskanzler Otto Braun eine sozialdemokratische Bastion, doch besonders in den Schriften der sogenannten Konservativen Revolution (Kap. 1) vertrat Preußen ein ›anderes‹ Deutschland, das sich jenseits von Weimar und Versailles, Republik und Demokratie situieren sollte.28 Der weitaus bekannteste Text in diesem Zusammenhang ist die Streitschrift Preußentum und Sozialismus (1919) von Oswald Spengler, die Gegenstand des ersten Kapitels dieser Arbeit ist. In den Schriften der konservativ-revolutionären Denker fanden die Nationalsozialisten ihre antidemokratische Munition. Somit wurde auch Preußen von der nationalsozialistischen Kulturpolitik vereinnahmt. Auf Postkarten, Münzen, Gedenktafeln usw. stellte man Friedrich II. als Urvater Adolf Hitlers dar.29 Die genealogische Linie vom preußischen Staat zum ›Dritten Reich‹ hatte im minutiös orchestrierten ›Tag von Potsdam‹ am 21. März 1933 ihren Höhepunkt. Diese teleologische Konstruktion resultierte in einer generellen Abkehr von Preußen nach dem Zweiten Weltkrieg. In beiden deutschen
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mit vielem Bildmaterial versehene Sammelband von Julius H. Schoeps (Hg.), Preußen. Geschichte eines Mythos (Berlin: Bebra, 2001), der aber kritisch heranzuziehen ist, weil in einigen Aufsätzen ein nostalgischer oder verharmlosender Zug durchschimmert. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 229. Frank-Lothar Kroll, »Friedrich der Große,« in Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, Hg. Etienne François, Hagen Schulze (München: C.H. Beck, 2002), 620-635, hier: 629-630. Siehe dazu Manfred Görtemaker, »Das Ende Preußens,« in Preußen. Geschichte eines Mythos, 198-219.
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Teilstaaten wurde der militaristische und reaktionäre Staat als Ausgangspunkt und Ursache des sogenannten deutschen Sonderwegs oder »Irrwegs«30 betrachtet, was am 25. Februar 1947 zur offiziellen Auflösung Preußens durch den Alliierten Kontrollrat in Berlin führte. Dabei war es weniger der historische Staat Preußen als die negative Version seines Mythos – Pickelhaube, Kadavergehorsam, bedingungsloser Respekt vor der Uniform –, die in das Auflösungsdekret mündete. Nach der anfänglichen ideologischen Distanznahme von Preußen in der BRD und DDR kam es Anfang der 1980er Jahre – nicht zufällig im Kontext eines generellen Erinnerungs-Booms – in beiden Staaten zu einer allmählichen Wiederaneignung des preußischen Erbes. Man wollte jetzt an das ›andere‹, aufgeklärte und reformatorische Preußen Steins, Hardenbergs und Humboldts anknüpfen, manchmal als Schirm für gesamtdeutsche Projektionen aufgrund von Preußens Schlüsselrolle bei der Gründung des deutschen Nationalstaates 1871, meistens aber in einem Konkurrenzverhältnis: Welches Deutschland beerbe Preußen besser?31 Dieses Tauziehen um die Beerbung preußischer Figuren und Traditionen hat der ostdeutsche Schriftsteller Claus Hammel in seiner Komödie Die Preußen kommen (1981) humoristisch auf die Spitze getrieben. Das Stück spielt in und um die »Prüfungsanstalt für Reintegration historischer Persönlichkeiten«32 in der DDR, wo der wiederauferstandene Friedrich II. über die Bedingungen seiner Reintegration verhandelt. Darauf schickt die Bundesrepublik heimlich einen Unterhändler in die DDR, um den Preußenkönig für das »wahre Deutschland«33 zu gewinnen. Geld, so erklärt ihm der Unterhändler, haben sie in der BRD genug, aber »[w]as wir brauchen, sind Ideale.«34 Ein Beispiel für die Rehabilitationsversuche Preußens in der Bundesrepublik ist die große West-Berliner Ausstellung »Preußen – Versuch einer Bilanz« im Martin Gropius-Bau 1981, die besonders die Janusköpfigkeit des Staates in den Mittelpunkt rückte.35 Beispiele in der DDR sind die symbolische Wiederaufstellung der Reiterstatue Friedrichs II. auf Unter den Linden 1980, die 1950 im Rahmen der anti-preußischen Kulturpolitik der DDR entfernt worden war, sowie die im selben Jahr veröffentlichte Friedrich II.-Biografie Ingrid Mittenzweis, die dem Preußenkönig zum ersten Mal wieder wohlwollend begegnete.36 Die positive Hinwendung zu Preußen als Folie für nationale Selbstentwürfe wurde nach der deutsch-deutschen Vereinigung im Zuge der schwierigen Identitätssuche der neuen Berliner Republik nur noch intensiver.37 Eine Reihe öffentlicher Veranstaltungen und Ereignisse zeugt von diesem Preußen-Revival. So plädierte der Publizist
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Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte (Mexiko: El libro libre, 1945); Georg Lukács, »Über Preußentum,« in Marxismus und Stalinismus. Ausgewählte Schriften IV (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2018 [1943]), 29-49, hier: 30. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 189. Claus Hammel, Die Preußen kommen, 2. Auflage (Berlin: Eulenspiegel, 1988), 7. Ebd., 25. Ebd., 25. Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, 450. Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie (Berlin: Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1979). Vgl. dazu Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, 451ff.
Zur Einführung
Joachim Fest 1990 in einem fast zeitgleich mit der Feier der deutschen Wiedervereinigung erschienenen Zeitungsartikel für den Wiederaufbau des preußischen Stadtschlosses in Berlin.38 Damit löste er ein gewaltiges, sich über viele Jahre hinziehendes Medienecho aus, das im Schlusskapitel dieser Arbeit eingehend besprochen wird. Auch heute, wo das Prestigeprojekt fast vollendet ist, ist die Medienresonanz keineswegs verstummt. Ferner wurden 1991 »aufgrund der deutschen Wiedervereinigung«39 die sterblichen Überreste Friedrichs II. und dessen Vaters Friedrich Wilhelm I. feierlich in Begleitung der Bundeswehr aus der Hohenzollernburg im schwäbischen Hechingen nach Schloss Sanssouci überführt. Die nächtliche Umbettungszeremonie fand in Anwesenheit des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl (allerdings als Privatperson) statt und wurde live im Fernsehen übertragen. Zehn Jahre später wurde anlässlich des 300. Jubiläums des Königreichs Preußen mit viel Aufwand das ›Preußenjahr 2001‹ organisiert, das mit zahlreichen Ausstellungen, Podiumsdebatten, Theatervorstellungen, Fernsehserien, Filmen und Konzerten einherging. Zudem schlug der Potsdamer Sozialminister Alwin Kiel 2002 vor, Berlin-Brandenburg nach der erhofften (aber gescheiterten) Länderfusion in das Bundesland ›Preußen‹ umzutaufen, was in den Medien kontrovers diskutiert wurde. Nicht zuletzt haben auch die popularisierenden Spiegel-Specials von 1993 und 2007 dazu beigetragen, dass Preußen und seine Protagonisten in ein rosigeres Licht gerückt wurden.40 Man kann all diese Ereignisse als Erscheinungsformen eines neuen, unverkrampfteren Patriotismus betrachten, der auf einen ›normalisierten‹ Umgang mit der nationalen Geschichte und den dazugehörigen Nationalsymbolen abzielt. Wie sich auch in den folgenden Analysen erweisen wird, ist die Aneignung des preußischen Erbes nach der deutsch-deutschen Vereinigung Ausdruck eines Verlangens, komplexlos, ja stolz sogar, in die eigene Geschichte ›heimkehren‹ zu können. Für diese Wiederaneignung wird auf das militaristische Preußen ganz und gar verzichtet. Vielmehr ist es die Kulturnation, die als unschuldige und unbescholtene Komponente nationaler Identität beansprucht wird. Dass aber diese offiziellen, vermeintlich unpolitischen re-enactments nationaler Identität im Zuge eines ›aufgeklärten‹ Patriotismus potenziell von ihrem unheimlichen Double heimgesucht werden, veranschaulicht zum Beispiel ein während eines Fußballspiels emporgehaltenes Transparent mit der Parole »Prussians welcome«, das in der Coda des ersten Kapitels angesprochen wird. Preußen ist also vieles zugleich: Es ist militaristisch, autoritär, machiavellistisch, bürokratisch, effizient, reformatorisch, aufgeklärt, schöngeistig, tolerant, demokratisch, sozialistisch, emanzipatorisch, cool, sexy, queer und pop.41 In Preußens »his38
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Joachim Fest, »Denkmal der Baugeschichte und verlorenen Mitte Berlins. Das Neue Berlin, Schloß oder Parkplatz? Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Nov., 1990. »Umbettungs-Zeremonie in Potsdam. Friedrichs Heimfahrt,« Spiegel TV, 18. Aug., 1991, https://ww w.spiegel.tv/videos/139029-friedrichs-heimfahrt (abgerufen 31.07.2019). Preussenstadt Potsdam. 1000 Jahre. Spiegel Spezial 2, 1. Feb., 1993; Preußen. Der kriegerische Reformstaat; Preußens wirkliche Gloria. Vor 200 Jahren: die Erfindung des modernen Staates. Spiegel 34, 13. Aug., 2007. Für ›demokratisch‹: Kap. 1 (Spengler) und Kap. 6 (Stadtschlossdebatte), für ›sozialistisch‹: Kap. 1 und 2 (Salomon), für ›pop‹: Kap. 5 (Delius), für ›emanzipatorisch‹, ›cool‹, ›sexy‹ und ›queer‹: »Preu-
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torische[r] Kleiderkammer«42 findet jeder, links wie rechts, progressiv wie konservativ, historische Versatzstücke nach seinem Geschmack, mit denen man sich ein maßgeschneidertes Preußen zusammenbasteln kann. Dieses Prinzip der bricolage im Sinne Claude Lévi-Strauss’,43 das heißt das Verfahren der Neuanordnung, Rekombination und Umdeutung schon vorhandenen Materials, geht zugleich mit einer Bedeutungswucherung und einer Bedeutungsaushöhlung einher. Preußen ist im 20. und 21. Jahrhundert eine Chiffre geworden, eine leere Hülle, die in dieser Beschaffenheit aber gerade die phantasmatische, identitätsstiftende Projektionsmaschinerie in Gang setzt. Durch diese formalistische Oberflächlichkeit wird Preußen zu einer ahistorischen Projektionsfläche, die den jeweiligen zeitgenössischen Bedürfnissen gemäß immer wieder umgedeutet wird. Das preußische Phantasma setzt sich aus einem Gewirr von Motiven, Narrativen und Ideologemen zusammen, die sich verschieben und verzweigen, in den Vordergrund und in den Hintergrund treten, kombiniert und neukombiniert werden.
Überblick Die folgenden sechs Kapitel rücken unterschiedliche Komponenten des sich aus Bruchstücken zusammensetzenden preußischen Phantasmas in den Vordergrund. Damit will diese Studie die innere Vielfältigkeit, die Gabelungen und Verzeichnungen verfolgen, die an der Konstruktion des Phantasmas beteiligt sind. Der Pluralität und Fragmentarität ihres Gegenstandes entsprechend versteht sich die Arbeit nicht als ein erschöpfender Überblick, der in forcierten Generalisierungen resultiert. Anstelle einer enzyklopädischen Vorgehensweise habe ich mich für punktuelle Detailanalysen einzelner Texte oder Textgruppen entschieden, die die literarischen und rhetorischen Strategien erkunden, mit denen das Phantasma konstruiert und potenziell gebrochen wird. Welche textuellen Strategien werden zum Beispiel verwendet, um einen historischen Staat in ein abstraktes Ideologem zu verwandeln? Wie avancieren preußische Protagonisten wie Bismarck oder Friedrich II. zu Emblemen charismatischer Autorität? Mittels welcher Techniken werden die dem preußischen Erbe inhärenten Inkongruenzen und Widersprüche aufgelöst, oder besser: maskiert? Welche politische Gemeinschaftsformen werden mit Preußen verknüpft und wie werden sie in den Texten inszeniert? Wie jede Textauswahl ist auch meine eine subjektive. Es wäre gewiss interessant, Texte von etwa Arthur Moeller van den Bruck (Der preußische Stil, Das Dritte Reich), Heinrich Mann
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ßen war cool und sexy,« Die Welt, 30. Juli, 2015, https://www.welt.de/print/die_welt/debatte/artic le144654670/Preussen-war-cool-und-sexy.html (abgerufen 26.07.2019). In diesem Artikel werden das Potsdam und Berlin zur Zeit des möglicherweise schwulen Königs Friedrich II. als »Eldorados der Homosexuellen« bezeichnet, was jedoch maßlos überzogen ist. Ein weiteres Beispiel für das ›queere‹ Preußen ist ein Porträt des »schwulen Fritz[en]« als »Bild des Tages« auf der Website queer.de. Das Porträt ist Teil der Ausstellung »We are Part of Culture«, die 2017 im Berliner Hauptbahnhof und vom Februar bis März 2019 im Düsseldorfer Familienministerium zu sehen war. Die Ausstellung zeigt 32 Porträts von LGBTI-Persönlichkeiten, die die europäische Geschichte maßgebend beeinflusst haben. »Der schwule Fritz,« https://www.queer.de/bild-des-tages.php?einzel=253 9 (abgerufen 26.07.2019). Hammel, Die Preußen kommen, 37. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken, aus dem Französischen von Hans Naumann (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1968).
Zur Einführung
(Der Untertan), Gertrud Kolmar (Preußische Wappen), Günter de Bruyn (Preußische Trilogie) oder Thomas Hettche (Pfaueninsel) zu analysieren. Dass die Arbeit also auch ganz anders hätte aussehen können, bedeutet jedoch nicht, dass die Textauswahl willkürlich ist. Die einzelnen Analysen heben zentrale und konstitutive Aspekte des preußischen Phantasmas hervor, die es in seiner Mannigfaltigkeit zu zeigen versuchen, ohne dabei Kontinuitäten und Überschneidungen aus dem Auge zu verlieren. Von wesentlicher Bedeutung in den Analysen ist die schon angesprochene Gleichzeitigkeit beziehungsweise Ambivalenz von Montage und Demontage, Affirmation und Dekonstruktion. Indem die Textlektüren auf diese Spannung hinweisen, suchen sie die Kontingenz in dem auf, was sich als notwendig und evident präsentiert.44 Dies hat auch eine theoretisch-methodologische Implikation. Damit die Textanalysen die Oktroyierungen ihres Gegenstandes nicht reproduzieren oder fortschreiben, entscheidet sich diese Arbeit für eine Beschreibungsebene, die gesuchte Verallgemeinerungen ablehnt.45 Sie legt sich nicht auf einen einzigen, auf jeden Text anwendbaren theoretischmethodologischen Rahmen fest, sondern optiert, mit Joseph Vogl gesprochen, für ein »methodisches Zaudern«.46 Diese Methode ist bewusst idiosynkratisch und punktuell und damit auch pluralistisch.47 Wie Vogl argumentiert, »[reduziert] eine idiosynkratische Methode ihre Eingangsbedingungen, stellt ihre normativen Voraussetzungen in Rechnung und minimiert die Subsumtionskraft ihrer Begriffe. Sie verfolgt nicht eine unterstellte Einheit ihres Objekts, sondern jene Verteilungen und Migrationen von Kenntnissen, die an der Gestaltung dieser Gegenstände beteiligt sind, eine innere Mannigfaltigkeit des Objekts. Jeder Wissensgegenstand ist ein Palimpsest.«48 Was die Analysen verbindet, ist ein mikrologisches Lektüreverfahren, bei dem textund diskursanalytische Strategien und Konzepte eingesetzt werden, die allesamt einem dekonstruktiven Ansatz verpflichtet sind. Als besonders produktiv erweisen sich Konzepte wie Performativität, Unterbrechung und bricolage, rhetorische Strategien wie Metapher, Metonymie, Synekdoche usw., Gender- und besonders Männlichkeitskonzepte und Theorien des politischen Imaginären. Wichtige Denkanstöße in dieser Hinsicht bieten Jean-Luc Nancy, besonders dessen Denken über die ›entwerkte Gemeinschaft‹ sowie den ›unterbrochenen Mythos‹,49 Claude Lévi-Strauss (bricolage), Albrecht Koschorke (das politische Imaginäre), Klaus Theweleit (›Männerphantasien‹) und Judith Butler (Performativität). Die Untersuchung setzt sich aus zwei großen Teilen zusammen. Sie fokussiert zunächst auf die Periode der Weimarer Republik, in der das preußische Phantasma virulent wird. Gerade der Sturz des historischen Königreichs macht Preußen offen für
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Vgl. Joseph Vogl, Über das Zaudern (Zürich: Diaphanes, 2007), 115. Vgl. ebd., 115. Ebd., 114. Ebd., 114. Ebd., 114. Jean-Luc Nancy, La communauté désœvrée (Paris : Christian Bourgois, 1986), darin der Aufsatz »Le mythe interrompu,« 108-174.
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inhaltliche Neufüllungen. In der Reflexion über politische Organisationsformen wird Preußen zu einem Such- und Orientierungsbegriff, der vor allem in den antidemokratischen Schriften des rechten Lagers eingesetzt wird. Die Untersuchung konzentriert sich zweitens auf die Periode der 1990er und 2000er Jahre, in der sich die Berliner Republik Preußen mit verstärkter Entschiedenheit als Erbe wiederaneignet. Darüber hinaus schlagen die Kapitel des ersten Teils immer wieder den Bogen in die Gegenwart. Die Nichtbeachtung von Texten aus der nationalsozialistischen Periode ist damit zu verantworten, dass die Analysen der früheren und späteren Texte die Instrumentalisierung Preußens durch die nationalsozialistische Kulturpolitik schon miteinbeziehen. Zwar haben sich Autoren wie Oswald Spengler und Ernst von Salomon vom Nationalsozialismus ferngehalten, aber wie Gilbert Merlio argumentiert, haben sie zweifelsohne dazu beigetragen, »ein geistiges Klima zu schaffen, in dem der Nationalsozialismus ideologisch akzeptabel wurde.«50 Ihre Texte bildeten die Grundlage für die nationalsozialistische Inanspruchnahme von Preußen. Vor allem der Reichspropagandaleiter Joseph Goebbels war ein großer Bewunderer Spenglers und bat ihn, anlässlich des Tages von Potsdam eine Rede zur Versöhnung von Preußentum und Sozialismus zu halten, was Spengler allerdings ablehnte.51 Weiter ist die Rückbesinnung auf Preußen nach der deutsch-deutschen Vereinigung immer auch eine Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Preußen-Diskurs. Im Zuge eines unverkrampfteren Patriotismus wird das jahrzehntelange Preußen-Verbot in den beiden deutschen Teilstaaten selbstbewusst aufgehoben unter dem schlussstrichartigen Motto, man müsse doch nicht mehr der Nationalsozialisten wegen auf eine Identität stiftende nationale Vergangenheit verzichten. Somit ist der Preußen-Diskurs nach 1990 auch eine Reaktion auf die ideologische Distanzierung von Preußen nach dem Zweiten Weltkrieg in der DDR und BRD. Obwohl die Periode der deutschen Teilung nicht als gesonderte Phase diskutiert wird, wird sie auf diese Weise doch angesprochen. Außerdem adressiert das vierte Kapitel die kulturpolitische Rezeption Alexander von Humboldts in der DDR anhand einer Analyse der Novelle Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert (1980) von Christoph Hein, die sich aus Briefen des Kammerdieners Humboldts zusammensetzt. Auf die Rezeption Preußens in der BRD geht die Analyse des Werks von Ernst von Salomon ein, der sich sein ganzes Leben als Preuße mit Leib und Seele verstanden hat. Die Berücksichtigung dieser marginalisierten Position in der preußenfeindlichen BRD erlaubt es, den Diskurs über Preußen in seiner Heterogenität vorzuführen. Die preußische Projektionsmaschine läuft im 20. Jahrhundert zum ersten Mal unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg auf vollen Touren, als der heute immer noch kontrovers diskutierte Kulturphilosoph Oswald Spengler im Jahre 1919 sein politisches Traktat Preußentum und Sozialismus veröffentlicht. Diese Streitschrift wird im ersten Kapitel einer rhetorisch-diskursiven Mikrolektüre unterzogen, der einige allgemeine Reflexionen über die Spengler-Rezeption besonders in den Niederlanden und in Belgien vorausgeschickt werden. In Preußentum und Sozialismus versucht Spengler die Begriffe ›Preußentum‹ und ›Sozialismus‹ auf eine ultimative Definition zurückzuführen und 50 51
Gilbert Merlio, »Über Spenglers Modernität,« in Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Hg. Alexander Demandt, John Farrenkopf (Köln: Böhlau, 1994), 115-128, hier: 115. Kroll, »Friedrich der Große,« 632.
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diese scheinbar inkommensurablen Konzepte im Hinblick auf ein ideales Staatsmodell miteinander zu versöhnen. Wenn in Marsden Hartleys War Motif -Serie der Ästhetik einer exzessiven Überhäufung in Wirklichkeit ein strenger, monomaner Fokus zugrunde liegt, so erweist sich umgekehrt Spenglers rigoroser Kategorisierungszwang bei näherer Betrachtung als eine exzessive A-Logik. So wie sich Hartleys Reihe als eine Serie von Neuanfängen, Verschiebungen und Wiederholungen präsentiert, die in einer immerwährenden Ausweichbewegung weiterwuchert, sieht sich auch Spengler dazu gezwungen, seine fest geschraubten Kategorien und Definitionen ständig umzuverteilen, zu modifizieren und zu verschieben, was letztendlich deren phantasmatische Dimension entlarvt. Dabei wird argumentiert, dass es gerade die Literarizität von Spenglers ›weltanschauungsliterarischem‹ Essay ist, die das scheinbar lückenlose Gedankengebäude durchlöchert. Preußentum und Sozialismus ist zugleich eine Erziehungsschrift, von der die nationalistische Jugend der Weimarer Republik wie elektrisiert war. Spenglers Plädoyer für einen preußisch-sozialistischen Staat prägte auch das Denken des ehemaligen Kadetten und Freikorpskämpfers Ernst von Salomon, dessen literarisches Schaffen im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht. Da sich sein Werk hauptsächlich aus autobiografischen Romanen zusammensetzt, wird zunächst Salomons enigmatischer Lebenslauf besprochen. Trotz seiner auffälligen politischen Frontwechsel – vom Freikorpspartisanen und nationalrevolutionären Attentäter in der Weimarer Republik über Sympathisanten des Kommunismus in der DDR bis hin zum Aktivisten der deutschen Friedensund Ostermarschbewegung in der jungen Bundesrepublik – zeigen seine Romane eine erstaunliche geistige Kontinuität, insofern sie immer wieder auf Preußen zurückgreifen. In einem zweiten Schritt wird Salomons Freikorpsroman Die Geächteten (1930) analysiert. Der Text imaginiert die Ostexpansion der Freikorpskämpfer nach dem Ersten Weltkrieg als Fortsetzung des nationalen Projekts des Reichsgründers Otto von Bismarcks, der seinerseits zum Fortsetzer eines von den Deutschen Ordensrittern im Mittelalter begonnenen kolonialen Projekts im Kerngebiet des altpreußischen Stammes erklärt wird. Der östliche Grenzkampf der Freikorps gilt nicht nur als Kampf um die nationale Regeneration, sondern erweist sich zugleich als identitätsbildender Kampf um die nach dem Weltkrieg brüchig gewordene männliche Existenz. Die Analyse untersucht, inwiefern sich die Nation und das männliche Subjekt wechselseitig über ihre Grenzen konstituieren. Der Fokus der Lektüre gilt der ambivalenten Dynamik von Grenzüberschreitung und Grenzziehung, Entgrenzung und (Re-)Stabilisierung, Zerstücklung und Ganzheit. Diese Ambivalenz ist auch in Hartleys War Motif -Serie enthalten, so könnte man argumentieren, indem die geometrischen Figuren zum einen als deutlich abgegrenzt erscheinen, zum anderen von fließenden Formen durchzogen werden. Auffällig ist der rote Streifen mit zwei weißen, sich wellenden Linien an der rechten Seite von Portrait of a German Officer, der auch in anderen War Motif -Gemälden, zum Beispiel The Iron Cross (1914-1915) und E. (German Officer – Abstraction), wiederkehrt. Dieser blutrote Streifen durchdringt gleichsam den soldatischen ›Körperpanzer‹ im Sinne Klaus Theweleits.52 In einem dritten Schritt wird Salomons autobiografischer Roman 52
Klaus Theweleit, Männerphantasien. Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Band 2 (München: dtv, 1995).
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Preußische Phantasmen
Die Kadetten (1933) analysiert, in dem der Autor seine Jahre in den Königlich Preußischen Kadettenanstalten von Karlsruhe und Berlin-Lichterfelde beschreibt, wo er zwischen 1913 und 1918 zum Offizier ausgebildet wurde. Preußen wird in Die Kadetten mit einem bestimmten Erziehungskonzept verknüpft, das sich ausdrücklich vom bürgerlichen Bildungsideal distanziert und sich stattdessen durch Zucht und Selbstzucht auszeichnet. Meine Lektüre von Die Kadetten fokussiert besonders auf den vom Icherzähler ausführlich geschilderten Generationenkonflikt. Der Eintritt des Icherzählers in die Kadettenanstalt bedeutet die Lossagung vom traditionellen (wilhelminischen) Vatermodell zugunsten eines männerbündischen, ›preußisch-sozialistischen‹ Kollektivs. Die unverbrüchliche Kadettengemeinschaft erweist sich dabei als Staat in nuce. Der Roman lässt aber zugleich die Brüchigkeit solcher scheinbar vollkommenen Staatsfigurationen und Gemeinschaftsfiktionen durchschimmern. Gegenstand des dritten Kapitels ist die Komödie Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten (1931) von Carl Zuckmayer. Mit dieser »Parabel über die Macht einer preußischen Uniform«53 beschwört Zuckmayer nicht nur den militaristischen Geist des deutschen Kaiserreichs, sondern auch den der Weimarer Republik herauf. Für den Entwurf dieses Deutschlandbildes greift das ›deutsche Märchen‹ immer wieder auf preußische Narrative und ›Tugenden‹ zurück. Die Analyse zeigt, wie Zuckmayer das imaginäre Potenzial der Uniform, auf das schon der Untertitel des Stückes hinweist, einer kritischen Analyse unterzieht. Das Stück führt nicht nur die nahezu unbeschränkte Macht der preußischen Uniform vor, die der Sichtbarmachung und Reproduktion staatlicher Ordnung dient, sondern unterläuft sie auch, insofern es den Uniformtaumel mittels Maskeraden, Mimikry und Fetischisierung auf parodistische Weise in seiner Fiktionalität und Theatralität zeigt. Auch hier ist aber die Grenze zwischen Dekonstruktion und Affirmation durchlässig. Während der Betrug des falschen Hauptmannes für die Zuschauer*innen als Beweis für das politische Versagen des Staates erkennbar wird, nehmen ihn die Figuren als Demonstration des reibungslosen Funktionierens der staatlichen Strukturen wahr. Das vierte Kapitel rückt eine der Galionsfiguren der Preußen-Renaissance um die Jahrtausendwende in den Mittelpunkt: den preußischen Naturforscher und Entdeckungsreisenden Alexander von Humboldt. Nach einer allgemeinen Reflexion über die gegenwärtige Popularität Alexander von Humboldts konzentriert sich das vierte Kapitel auf den internationalen Bestsellerroman Die Vermessung der Welt (2005) von Daniel Kehlmann. Dieser »Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt«,54 thematisiert nicht nur die allmähliche Erfindung der Nation im frühen 19. Jahrhundert, sondern auch deren »Wiedererfindung«55 in den 1990er und 2000er Jahren, indem er sich mit gegenwärtigen nationalen Identifikationsmustern wie Preußen und der 53 54
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Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 682. Daniel Kehlmann, »›Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker‹. Ein Gespräch mit Daniel Kehlmann über unseren Nationalcharakter, das Altern, den Erfolg und das zunehmende Chaos in der modernen Welt,« interviewt von Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Feb., 2006, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/bucherfolg-ich-wollteschreiben-wie-ein-verrueckt-gewordener-historiker-1304944.html (abgerufen 31.07.2019). Aleida Assmann, Geschichte im Gedächtnis. Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (München: C.H. Beck, 2007), 180.
Zur Einführung
Kulturnation auseinandersetzt. Auf diese Wiederaneignung des ›anderen‹ Preußens bezieht sich der Roman durchaus kritisch. Anders als im Humboldt Forum in Berlin wird das Projekt der Aufklärung vor dem Hintergrund der Nationenbildung und des Kolonialismus problematisiert. Die Kritik ist aber nicht so sehr an Deutschlands aufgeklärte Koryphäen an sich gerichtet, so wird argumentiert, als vielmehr gegen deren Erstarrung zu monumentalen Leitbildern für den Entwurf nationaler Identität. Das fünfte Kapitel setzt sich mit dem Roman Der Königsmacher (2001) von Friedrich Christian Delius auseinander. Delius erweist sich in dieser Satire als Chronist und Seismograf der deutschen Mentalitätsgeschichte, indem er den Kurswechsel angesichts der preußischen Geschichte von Ablehnung zu Aneignung im Zeichen eines neuen, unverkrampften Patriotismus literarisch verarbeitet. Diese positive Hinwendung zu Preußen wird mit einer Wiederkehr monarchischer Phantasien verknüpft, die sich als Ausdruck eines Unbehagens an der Demokratie seit der deutsch-deutschen Vereinigung beschreiben lässt. Zudem rückt der Roman das schon angesprochene Prinzip der bricolage in den Mittelpunkt des Textes, indem der Protagonist versucht, im Rahmen des neuen Preußen-Hypes für jede gesellschaftliche und politische Gruppe ein passendes Preußen zusammenzubasteln. Erweist sich Delius’ Preußen-Satire zugleich als eine Kritik am wetterwendischen Literatur- und Medienbetrieb, dann steht im abschließenden sechsten Kapitel eine Mediendebatte im Mittelpunkt der Analyse: die Berliner Stadtschlossdebatte. Diese kurz nach der deutsch-deutschen Vereinigung angestoßene Debatte ist nicht nur aufschlussreich für die Frage, an welche historischen Vorbilder die neue Berliner Republik anknüpfen möchte. Die vorherrschende Rhetorik der ›verlorenen Mitte‹ rückt zugleich die imaginären Mechanismen und Fiktionalisierungsstrategien, mit denen sich das nationale Gemeinwesen erst als solches erfinden kann, in den Vordergrund. Anhand einer rhetorischen Detaillektüre der Mediendebatte wird argumentiert, dass Preußen einen mythologischen Rest in unserer angeblich mythenarmen Gesellschaft darstellt. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei der ›täuschend echten‹ Schlosssimulation der Künstlerin Catherine Feff von 1993 gewidmet. Als phantasmatische Projektionsfläche bildet dieses Fake-Schloss den Ausgangspunkt einer Reflexion über das konstitutive Verhältnis von Gemeinschaft und Fiktion, die mit einer Coda über den Verhüllten Reichstag des Künstlerduos Christo und Jeanne-Claude abgeschlossen wird.
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1. Oswald Spengler
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Streit um Spengler: Reflexionen über die Spengler-Rezeption
Als der Geschichtsphilosoph und Kulturhistoriker Oswald Spengler (1880-1936) den ersten Teil seiner kolossalen Studie Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte 1918 veröffentlichte, war der Münchner Privatgelehrte auf einmal international berühmt. Nur wenige philosophische Werke kannten eine solche öffentliche Resonanz wie Spenglers Geschichtsspekulationen. Nicht nur verkaufte sich seine kulturpessimistische Untergangsprognose im geschlagenen und gedemütigten Nachkriegsdeutschland wie geschnitten Brot. Auch löste dieser philosophische Bestseller eine nie zuvor gesehene Debatte aus, in der zahlreiche prominente Intellektuelle wie Thomas Mann, Karl Kraus, Robert Musil, Ernst Bloch und Kurt Tucholsky gegen Spenglers Untergangsthese polemisierten. In diesen »Streit um Spengler«1 mischten sich auch Fachwissenschaftler ein: In Zeitungsartikeln, Streitschriften, Monografien und Sammelbänden warfen sie dem Untergangspropheten methodologischen Dilettantismus vor und deckten mit »philiströse[m] Eifer«2 – wie Theodor W. Adorno spöttisch formulierte – die vielen pseudowissenschaftlichen Fehler, Inkonsequenzen und Unzulänglichkeiten in Spenglers gewaltiger Geschichtskonstruktion auf. Was die AntiSpengleriaden3 besonders kennzeichnete, war ihr »alarmistischer Ton«.4 In zeitgenössischen Kommentaren wurde Spengler als ein betörender »Rattenfänger«5 dargestellt,
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Manfred Schröter, Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker (München: C.H. Beck, 1922). Theodor W. Adorno, »Spengler nach dem Untergang. Zu Oswald Spenglers 70. Geburtstag,« Der Monat 20 (1950): 115-128. Rudolf Borchardt fing mit einem Anti-Spengler an, kam allerdings nicht über einen Entwurf hinaus. Kai Kaufmann, Rudolf Borchardt und der ›Untergang der deutschen Nation‹. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk (Tübingen: Max Niemeyer, 2003), 69. Arne De Winde, Sven Fabré, Sientje Maes, Bart Philipsen, »Geschichtete Geschichten. Spengler zur Einführung,« in Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler, Hg. dies. (Heidelberg: Synchron – Wissenschaftsverlag der Autoren, 2016), 10-16, hier: 10. Otto Grautoff, »Die Kunst in Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes,« Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe 19, 1 (1921): 37-39, hier: 39.
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Preußische Phantasmen
der mit seiner dogmatischen Rede die Jugend ›hypnotisierte‹6 und ›narkotisierte‹.7 Kritiker porträtierten ihn als einen »Taschenspieler«,8 dessen ›benebelndes‹9 »Wortspiel« die Leser »hoffnungslos verwirrt[e]«.10 Zwar war die zivilisationskritische Idee eines Untergangs des Abendlandes zu diesem Zeitpunkt nichts wirklich Aufsehenerregendes. Was den Zeitgenossen aber Angst einflößte, war die ungesehene Radikalität, mit der Spengler seine These eines schicksalsbedingten und unabwendbaren Untergangs formulierte und sogar emphatisch bejahte.11 Spenglers Untergang des Abendlandes geht davon aus, dass es bisher acht sogenannte Hochkulturen von jeweils ungefähr 1000 Jahren gegeben hat: eine ägyptische, babylonische, indische, chinesische, antike, arabisch-magische, mexikanische und abendländisch-faustische. Diese Kulturen entwickeln sich unabhängig voneinander und durchlaufen alle auf analoge Weise das biologisch fundierte geschichtsphilosophische Schema von Aufstieg (Frühling), Blüte (Sommer), Niedergang (Herbst) und Tod (Winter). Damit ersetzte Spengler für jede Kultur die lineare Aufstiegsbewegung des Fortschrittsoptimismus durch eine zyklisch-organische Geschichtsauffassung. Auch zwischen den Kulturen lehnte er die ihm zufolge eurozentrische Idee eines kumulativen Fortschritts ab, denn durch die radikale Isoliertheit der Kulturkreisen sei jede Erbschaft oder Renaissance a priori ausgeschlossen. Inhaltliche Beziehungen zwischen Kulturen beurteilte Spengler als ein Missverständnis; sein monadologischer Kulturbegriff lässt keine Kommunikation oder Interaktion zwischen den Kulturen zu. Kulturen haben durch das sogenannte Ur-Symbol ihren eigenen ›Stil‹, der jedem Bereich den Stempel aufdrücke: Von der Kunst über die Wissenschaft bis hin zur Religion und Moral seien alle Kulturen grundsätzlich unterschiedlich. Mit anderen Worten: Im Hinblick auf ihre Form oder ›Morphologie‹ seien Kulturen homolog, in Bezug auf ihren Inhalt heterogen. Der abendländisch-faustische Stil kennzeichne sich zum Beispiel durch einen Hang zum Grenzenlosen, einen »Wille[n] nach Unendlichkeit«.12 Heutzutage befinde sich dieser Kulturkreis im Endstadium. Diese letzte Phase nannte Spengler ›Zivilisation‹. Der Übergang von Kultur zu Zivilisation habe im abendländischen Kulturkreis im 19. Jahrhundert stattgefunden und sei im ausgehenden 18. Jahrhundert durch die großen Revolutionen in Amerika und Frankreich angekurbelt worden. Das Zeitalter der Zivilisation kennzeichne sich durch einen Niedergang von Kultur und Religion und einen Aufstieg der Wissenschaft und Technik, durch Quantifizierung, Expansion, Rationalisierung, Urbanisierung und Vermassung und durch labile demokratische Herrschaftsformen, die für
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Ebd., 39. Friedrich Meinecke, »Über Spenglers Geschichtsbetrachtung,« Wissen und Leben. Monatsschrift für schweizerische und allgemeine Kultur 16 (1922-1923): 549-561, hier: 552. Leonard Nelson, Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagerkunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Beweis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen nebst Beitragen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Eine Pfingstausgabe für alle Adepten des metaphysischen Schauens (Leipzig: Der Neue Geist, 1921), 69. Meinecke, »Über Spenglers Geschichtsbetrachtung,« 552. Nelson, Spuk, 14. Gilbert Merlio, »Die Herausforderung Spengler. Zu einigen jüngeren Spengler-Lektüren,« in Spengler – Denker der Zeitenwende, Hg. ders. (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2009), 53-76, hier: 53. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus (München: C.H. Beck, 1920), 23.
1. Oswald Spengler
einen ›cäsaristischen‹ Machtergreifung anfällig seien. Dieses zivilisatorische Endstadium betrachtet Spengler lediglich als eine zu durchlaufende Phase in der Biografie der Kulturen. Die Erschöpfung der Kultur sei daher unumgänglich, Widerstand umsonst. Nach seinem ungeheuren Anfangserfolg scheint Spengler nach 1945 fast vollständig in Vergessenheit geraten zu sein. Wie Arne De Winde in Anlehnung an Adorno darlegt, verhinderten sowohl methodologische als auch ideologische Urteile jahrzehntelang eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Spenglers Schriften. Einerseits wurde sein panoramischer Blick über die Weltgeschichte als das untaugliche Hirngespinst eines dilettantischen Phantasten verpönt, der »mit der Willkür seiner Begriffskonstruktion die Realität vergewaltigt«,13 so Adorno. Andererseits wurde dieser extrem autoritäre Denker vor allem aufgrund seiner politischen Reden und Aufsätze der 1920er Jahre als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus verleumdet – trotz seiner tiefen Verachtung für den »Prolet-Arier«14 Hitler. Was Spengler einmal über Hitler behauptete, nämlich dass dieser vom Untergang des Abendlandes »den ganzen Titel gelesen hat«,15 scheint auch auf die Spengler-Lektüren nach 1945 zuzutreffen. Nach dem Philosophen Jaques Bouveresse gehörte es sogar »zum guten Ton, über Spengler zu spotten, ohne sich der Mühe zu unterziehen, ihn zu lesen.«16 Und doch hat bei näherer Betrachtung die Spengler-Kritik und -Rezeption nach 1945 nie wirklich aufgehört. Wie die Herausgeber*innen des Sammelbandes Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler (2016) argumentieren, haben Spenglers Schriften »einen unablässigen transhistorischen, transkulturellen und transdisziplinären Dialog ausgelöst«, in dem Adorno, Jacques Bouveresse, Gustav René Hocke und I.A. Richards nur die wichtigsten Katalysatoren einer fortwährenden Debatte um Spengler nach 1945 sind.17 Dass das Werk dieses »Denkers der Zeitenwende«18 sowohl auf der linken als auch rechten Seite des politischen Spektrums regelmäßig ›wiederentdeckt‹ wird – nicht zuletzt zur Bilanzierung der eigenen (Krisen- oder Schwellen-)Zeit –, davon zeugen schon die Titel vieler kulturwissenschaftlicher Aufsätze, Sammelbände, Monografien und Tagungen wie zum Beispiel »Spengler nach dem Untergang« (1950),19 Spengler – weitergedacht (1955),20 »Was Spengler Right?« (1966),21 Spengler heute (1980),22 Spengler
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Adorno, »Spengler nach dem Untergang,« 123. Zitiert nach Gilbert Merlio, »Urgefühl Angst,« in Oswald Spengler, »Ich beneide jeden, der lebt«. Die Aufzeichnungen ›Eis heauton‹ aus dem Nachlaß, Hg. ders. (Düsseldorf: Lilienfeld, 2007), 89-123, hier: 89. Gilbert Merlio, Markus Ophälders (Hg.), Spengler – ein Denker der Zeitenwende (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2009). Jaques Bouveresse, »Spenglers Rache. Die überraschende Aktualität eines Vergessenen,« Neue Rundschau 107, 4 (1996): 57-82, hier: 69. De Winde, Fabré, Maes, Philipsen, »Geschichtete Geschichten,« 11. Merlio, Ophälders (Hg.), Spengler – ein Denker der Zeitenwende. Adorno, »Spengler nach dem Untergang«. Franz Borkenau, »Spengler – weitergedacht. Eine Antwort an seine Kritiker,« Der Monat 8 (1955): 46-55. Theodor W. Adorno, »Was Spengler Right?,« Encounter 26 (1966): 25-29. Peter Christian Ludz (Hg.), Spengler heute. Sechs Essays (München: C.H. Beck, 1980).
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Preußische Phantasmen
wiedergelesen (1980),23 Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz (1994),24 Was bleibt von Spengler? (2009),25 Neulektüren von Oswald Spengler (2016)26 oder Oswald Spengler in an Age of Globalisation (2018).27 Von einer wirklichen Lücke in der Spengler-Rezeption und -Debatte kann also kaum die Rede sein; auch nach 1945 blieb Spengler ein ›Fall‹. Nach dem Fall der Mauer, vor dem Hintergrund der Auflösung eindeutiger LinksRechts-Positionen, kam es zu einem wahren Spengler-réveil und allgemeiner zu einer Renaissance von Diskursen der sogenannten Konservativen Revolution.28 Dafür ist im deutschen Kontext die literarische und essayistische Aktualisierung besonders von Spenglers Hauptwerk durch Autoren wie Botho Strauß, Rolf Hochhuth und Peter Sloterdijk exemplarisch.29 Während Sloterdijk Spengler – »bei allen Einschränkungen, die man gegen ihn geltend machen muss« – als einen »Gesprächspartner« oder »Ideentrainer« in seinen Schriften auftreten lässt,30 dessen morphologisch-phänomenologischer Ansatz eine Inspirationsquelle für Sloterdijks Raum- und Sphärenphilosophie bildet, reiht Strauß den Untergangspropheten unkritisch in seine (heterogene) kulturpessimistische Ahnengalerie ein, neben Rudolf Borchardt, Hugo von Hofmannsthal, Friedrich Nietzsche und Ernst Jünger. Was an Strauß’ zivilisationskritischer SpenglerRezeption besonders auffällt, ist die konstruierte Brüderschaft: Ähnlich wie sich Spengler in seinen Schriften immer wieder zur missverstandenen Kassandra und in seinen autobiografischen Notizen zur anachronistischen Ausnahmefigur in einer kulturell unfruchtbar gewordenen, ›zivilisatorischen‹ Zeit stilisiert, betrachtet sich Strauß als »letzten Deutschen«,31 als Outcast und Querdenker. Gerade aus dieser Außenseiterposition ziehen beide ihren prophetischen Stolz.32 Auch Hochhuth erweist sich in seinem literarischen Werk als Spengler-Adept. Vor allem in den späteren Lyrik-Bänden Drei Schwestern Kafkas (2006) und Vorbeugehaft (2008) wird Spengler anhand von Zitaten, Epigrafen und thematischen Anspielungen heraufbeschworen; in Vorbeugehaft wird dem Unter-
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Hermann Lübbe, »Historisch-politische Exaltationen. Spengler wiedergelesen,« in Spengler heute, 1-24. Alexander Demandt, John Farrenkopf (Hg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz (Köln: Böhlau, 1994). Alexander Demandt, »Was bleibt von Spengler?,« in Spengler – ein Denker der Zeitenwende, 273-285. De Winde, Fabré, Maes, Philipsen (Hg.), Tektonik der Systeme. Neulektüren von Oswald Spengler. The Oswald Spengler Society for the Study of Humanity and World History (Org.), »Oswald Spengler in an Age of Globalisation«. Internationale Tagung, 17.-19. Okt., 2018 (Blankenheimerdorf/Brüssel), https://www.oswaldspenglersociety.com/conference (abgerufen 20.05.2019). De Winde, Fabré, Maes, Philipsen, »Geschichtete Geschichten,« 10-11. Ebd., 10. Peter Sloterdijk, Hans-Jürgen Heinrichs, »Politische Sphärologie der Reiche,« in Die Sonne und der Tod: dialogische Untersuchungen, Hg. dies. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011), 223-233, hier: 228. Botho Strauß, »Der letzte Deutsche. Uns wird die Souveränität geraubt, dagegen zu sein,« Der Spiegel 41, 2. Okt., 2015, 122-124, https://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/139095826 (abgerufen 20.05.2019). Zur Spengler-Rezeption bei Strauß: Barbara Beßlich, »Imitatio Historiae. Botho Strauß und sein ›Untergang des Abendlandes‹,« in Tektonik der Systeme, 317-328.
1. Oswald Spengler
gangspropheten sogar ein Gedicht gewidmet.33 Auch schreibt sich Hochhuth ähnlich wie Strauß selbstbewusst in eine spenglersche Traditionslinie von »unerwünschten u. schwarzbelisteten«34 Autoren ein, indem er zum einen die politisch korrekte Öffentlichkeit aufzurütteln versucht und zum anderen den ›Mut‹ hat, den ›verfemten‹ Spengler zu lesen.
Die Chiffre Spengler Diese drei kurzen Beispiele zeigen schon, dass die gegenwärtige Spengler-Rezeption oft eine punktuelle oder okkasionalistische ist. Wie Gilbert Merlio argumentiert, kann man Spengler auf zwei Arten lesen. Liest man Spengler »mit dem Strich«, dann erscheint dieser antidemokratische Opponent der Weimarer Republik als ein extremer Nationalist und Imperialist, der »mit dazu beitrug, ein geistiges Klima zu schaffen, in dem der Nationalsozialismus ideologisch akzeptabel wurde.«35 Spengler »gegen den Strich« lesen bedeutet, ihn aus dem historischen Kontext herauszulösen und seine zeitkritischen Diagnosen auf ihre immerwährende Aktualität hin zu prüfen.36 Die politischen und ideologischen Implikationen seines geschichtsphilosophischen Denkens werden dann angesichts der Tiefe seiner Einsichten unerheblich. Sie werden, so Merlio, als »unerwünschter Ballast«37 unter den Tisch gekehrt, billigend hingenommen oder sogar unterschwellig weitergeschrieben, wie noch zu zeigen ist. Wenn man Spengler gegen den Strich liest, macht man ihn mit anderen Worten zur »Chiffre«; seine Schriften werden als eine Fundgrube unterschiedlichster ›aktueller‹ Themen und Fragestellungen benutzt, ohne dass dies eine Berücksichtigung seines ganzen Denkens oder eine tiefgreifende Lektüre seiner Schriften voraussetzt.38 Tatsächlich gibt es in Spenglers Texten viele Themen, die man auf die Gegenwart projizieren kann: Aushöhlung des demokratischen Systems, Populismus, Manipulation durch
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Rolf Hochhuth, Vorbeugehaft. Neue Gedichte (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2008), 61-62. Zu Hochhuths lyrischer Spengler-Rezeption: Arne De Winde, Hannelore Roth, »Spengler und sein Erbe Hochhuth,« in Tektonik der Systeme, 344-367. Dieses Zitat stammt aus einem Brief Gottfried Benns an Friedrich Wilhelm Oelze vom 21. November 1946: »(übrigens der interessanteste Denker seit Nietzsche: nicht Keyserling, nicht Klages, nicht Bergson, sondern Spengler wäre heute genau so unerwünscht u. schwarzbelistet wie er es bei den Nazis war).« Das Zitat fungiert als Nachtrag zu Hochhuths Gedicht Die letzte Autofabrik Englands (51) aus Drei Schwestern Kafkas sowie als Motto zu Hochhuths Aufsatz »Oswald Spengler – 85 Jahre nach ›Der Untergang des Abendlandes‹,« in Invasionen. Zur Ethologie der Geschichte (Basel: Schwabe, 2014), 85-106, hier: 85. Mit diesem Zitat bestätigt Hochhuth Benns (wenig nuancierte) Darstellung von Spengler als radikalem Opponenten des Naziregimes. Gilbert Merlio, »Über Spenglers Modernität,« in Der Fall Spengler, 115-128, hier: 115. Der Herausgeber des Bandes, John Farrenkopf, schwächt in seinem Beitrag die These Merlios (unberechtigterweise) ab, indem er Spengler als »naives« Opfer des Nationalsozialismus darzustellen versucht. Spengler habe Hitler »unbeabsichtigt« zur Macht verholfen; sein antidemokratisches Denken sei von den Nationalsozialisten »ausgenützt« worden. John Farrenkopf, »Klio und Cäsar. Spenglers Philosophie der Weltgeschichte im Dienste der Staatskunst,« in Der Fall Spengler, 45-74, hier: 70. Merlio, »Über Spenglers Modernität,« 115. Ebd., 115. Merlio, »Die Herausforderung Spengler,« 56.
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Preußische Phantasmen
die Medien, kulturelle Verflachung durch die Vergnügungsindustrie, Einwanderung, Herrschaft der Technik, ökologische Krise, Entzauberung der Welt und einen allgemeinen Werte- und Orientierungsverlust, demografischen ›Verfall‹, Überalterung der Bevölkerung usw. Sogar das Aufkommen eines neuen Kalifats habe Spengler vorhergesehen.39 Könnte es sein, dass der Untergangsprophet letztendlich Recht behalten hat? Diese von Adorno aufgeworfene Frage wird in der Debatte um Spengler immer wieder, oft mit schaudernder Bewunderung, gestellt.40 Adornos nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges geäußertes Diktum ist in der Spengler-Forschung inzwischen ein Gemeinplatz geworden: Für die Vergessenheit, in die Spengler nach seinem Tod geraten sei, »rächt [er] sich, indem er droht, recht zu behalten.«41 Wer sich aber »heute auf Spengler bezieht, muss sich darüber im Klaren sein, dass man ihn nicht zum halben Preis erwerben kann«,42 so möchte ich mit Dieter Heimböckel argumentieren. Dafür gibt es zwei Gründe. Zunächst ist Spenglers Werk sehr statisch. Anders als bei Spenglers frühem Bewunderer Thomas Mann, der sich von seinem konservativ-revolutionären Gedankengut der Frühjahre distanzierte und sich in einen republikanischen Denker verwandelte, bleiben bei Spengler die Kerngedanken, Themen und Schlüsselbegriffe grundsätzlich unverändert. Ob vor oder nach dem Krieg, in Erwartung eines deutschen Sieges, im Kontext eines niedergeschlagenen Deutschlands oder im Vorfeld der nationalsozialistischen Diktatur konzipiert: Der Ton der Werke (dogmatisch), die Handlungsmaximen (Durchhalteparolen bei gleichzeitiger Tatrhetorik), die Haltung (›heroischer Realismus‹) und die dargebotenen Ziele (preußischdeutsche Weltherrschaft) sind ungeachtet des wechselnden Kontextes dieselbe. Zweitens zeigt Spengler oft ein Janusgesicht, wobei beide Hälften untrennbar miteinander verbunden sind: Hinter dem nostalgischen Kulturpessimisten versteckt sich ein machtoptimistischer Imperialist und vice versa;43 hinter der ›postmodernen‹ Absage am Ethno- und Eurozentrismus durch sein vielgerühmtes Differenzdenken ein vom Sozialdarwinisimus geprägter Rassismus;44 sein lebensphilosophisches Klagelied über die Zerstörung der Natur durch die Technik und die Entfremdung des Menschen durch die Maschine wird durch seine Begeisterung für die Technik als »Taktik des Lebens«45 überboten. Keiner hat diese grundlegende Ambivalenz, diese »doppelte Vexation«, besser auf den Punkt gebracht als Thomas Mann, der sich nach anfänglicher Euphorie
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David Engels, Max Otte, Michael Thöndl, »Einhundert Jahre Untergang des Abendlandes (19182018),« in Der lange Schatten Oswald Spenglers. Einhundert Jahre Untergang des Abendlandes, Hg. dies. (Lüdinghausen: Manuscriptum, 2018), 7-15, hier: 9. Diese Frage ist nicht nur eine literarische Laune des Feuilletons, sondern wird auch von SpenglerForscher*innen ernsthaft diskutiert. So schreibt Alexander Demandt im Vorwort zum Sammelband Der Fall Spengler, dass es die Absicht der vorangegangenen Tagung war, »die These zu testen […], daß Spengler als Kulturkritiker im Wesentlichen recht hat.« Alexander Demandt, »Vorwort,« in Der Fall Spengler, VII-VIII, hier: VII. Adorno, »Spengler nach dem Untergang,« 115. Dieter Heimböckel, »›Was wir wollen, sollen alle wollen‹. Spengler interkulturell,« in Tektonik der Systeme, 284-300, hier: 287. Gilbert Merlio, »Einleitung,« in Spengler – Denker der Zeitenwende, 9-18, hier: 11. Ebd., 10. Gilbert Merlio, »Spengler und die Technik,« in Spengler heute. Sechs Essays, 100-122, hier: 112.
1. Oswald Spengler
desillusioniert von Spengler abwandte:46 »Eine so grausame Selbstüberwindung und Selbstverneinung scheint der kalt-heroische Denker sich zuzumuten. Ein heimlicher Konservativer, scheint er, der Kulturmensch, verdrehterweise die Zivilisation zu bejahen; allein, das ist nur der Anschein eines Anscheins, eine doppelte Vexation, denn er bejaht sie wirklich – nicht nur mit seinem Wort, dem etwa sein Wesen widerstrebte, sondern auch mit seinem Wesen!«47
Spengler 100 Jahre nach dem Untergang Wenn wir die Spengler-Rezeption 100 Jahre nach dem Untergang betrachten, dann springen zwei Sachen ins Auge. Erstens: Spengler wird meistens – zumindest im öffentlichen Diskurs – ›gegen den Strich‹ gelesen. Zweitens, und eng damit verbunden: Spenglers Popularität scheint größer denn je. Jedenfalls trifft dies auf die bisher noch nicht untersuchte Spengler-Rezeption in den Niederlanden und in Belgien zu. Anlässlich des 100jährigen Jubiläums von Spenglers Hauptwerk wurde Der Untergang des Abendlandes zum ersten Mal ins Niederländische übersetzt und in einer luxuriösen Fassung – die beiden Bände kosten fast 90 € – beim niederländischen Verlag Boom herausgebracht. Die Herausgeber führten eine nie gesehene Werbekampagne. Für die Buchvorstellung versammelten sie eine Reihe von prominenten Denkern, die im voll besetzten Amsterdamer Poptempel Paradiso mit Lesungen und Performances den Untergang kommentierten. In den Feuilletons erschienen zahlreiche, mit Sternen versehene Buchkritiken, als handle es sich um einen Roman. Der Soziologe Merijn Oudenampsen spricht in der niederländischen Zeitung NRC Handelsblad vom »intellektuellen Event des Jahres«.48 Darüber hinaus gründeten die Herausgeber das (exklusive) Online Leseforum »leesspengler.nl«, wo sich die Käufer des Buches ›Untergangspodcasts‹ mit Interviews anhören, Essays von Spengler-›Experten‹ – drei Frauen, 28 Männern – lesen oder Online Vorlesungen beim Philosophen Ad Verbrugge hören können. Weiter sind auf der Website Zusammenfassungen der verschiedenen Kapitel und eine Übersicht wichtiger spenglerscher Begriffe vorhanden. Auf die Frage, warum die Herausgeber, abgesehen vom Jubiläumsjahr, gerade zu diesem Zeitpunkt einen jedenfalls in Belgien und den Niederlanden fast vergessenen Autor neu beleben möchten, lautet die Antwort emphatisch, das Buch sei heute »relevanter denn je«.49 Der Untergang des Abendlandes sei – so lehrt uns ein Zitat Verbrugges auf dem Buchumschlag unter Anspielung auf Spenglers letzte Schrift
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Allerdings kannte Spengler in Manns literarischem Werk noch ein »äußerst zähes und verzwicktes Nachleben«, wie Barbara Beßlich argumentiert. Barbara Beßlich, »›Das wichtigste Buch!‹ Zu Thomas Manns Spengler-Rezeption im Zauberberg,« in Linke und rechte Kulturkritik. Interdiskursivität als Krisenbewußtsein, Hg. Gilbert Merlio, Gérard Raulet (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2005), 267-285, hier: 285. Thomas Mann, »Über die Lehre Spenglers,« in Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 10, Reden und Aufsätze 2, (Frankfurt a.M.: Fischer, 1974), 172-182, hier: 178. Merijn Oudenampsen, »Spengler was een inspirator van de Nazi’s,« NRC Handelsblad, 11. Okt., 2017, https://www.nrc.nl/nieuws/2017/10/11/spengler-was-een-inspirator-van-de-nazis-13449894-a1 576858 (abgerufen 20.05.2019). Oswald Spengler, De ondergang van het Avondland, aus dem Deutschen von Mark Wildschut (Amsterdam: Boom Filosofie, 2017), Klappentext.
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Jahre der Entscheidung (1933) – das »entscheidende Buch des einundzwanzigsten Jahrhunderts«. Damit ist auch der Grundtenor des Online Spengler-Forums vorgegeben. Brexit, Bitcoins, alternative facts, Meditation-Apps oder die polemische Debatte um die belgischniederländische Figur ›Zwarte Piet‹:50 Manchen ›Experten‹ zufolge hat Spengler all dies schon vor 100 Jahren vorhergesehen oder geahnt, zumindest könnten seine Schriften heute als Richtschnur oder Ratgeber für diese heiklen Fragen fungieren. Ohne eine Spur von Ironie behauptet der Technikphilosoph Hans Schnitzler zum Beispiel, es sei kein Zufall, dass sich Silicon Valley »im äußersten Westen« befinde, und zitiert dabei aus Spenglers Schrift Der Mensch und die Technik (1931). »Was sich jetzt in Silicon Valley ereignet«, so konkludiert Schnitzler, »ist genau dasjenige, was Spengler vorausgesehen hat.«51 [meine Herv.] Dabei vergisst der Technoskeptiker aber, dass Spenglers Schrift vielmehr einen Mahn- als einen Warnruf darstellt. Zwar bedauert der Kulturpessimist Spengler die Entfremdung des Menschen durch die Technik, aber der zynische Machtoptimist bejaht die technischen Errungenschaften der Zivilisation, denn im »Zeitalter der Weltkriege«52 verheißen diese dem »Raubtier Mensch«53 Macht. Vielleicht ist Schnitzler nur in beschränktem Maße mit Spenglers Werk vertraut und haben ihn die Herausgeber vor allem deshalb zu einem Podcast-Beitrag eingeladen, weil sie Spenglers ›Relevanz‹ in unserem digitalen Zeitalter demonstrieren wollten.54 Problematischer ist es, wenn Spengler-Kenner wie der niederländische Philosoph Ad Verbrugge oder der belgische Althistoriker David Engels Spenglers vom Sozialdarwinismus geprägtes Denken über Kulturen und Nationen und dessen am Nordismus55 grenzende 50
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In Belgien und in den Niederlanden wird jedes Jahr um den 6. Dezember heftig debattiert über die Frage, ob die Ikonografie des Nikolausfestes rassistisch sei. Der Nikolaus erscheint als ein alter Mann mit weißer Hautfarbe, seine Knechte mit schwarzer Hautfarbe, Kraushaar und dicken Lippen. Hans Schnitzler, »Ondergangspodcast #2: techniekfilosoof Hans Schitzler over Spengler,« interviewt von Marc van Dijk am 13. Dez. 2017, in leesspengler, https://www.leesspengler.nl/actu eel/blog/1432/ondergang-podcast--232-techniekfilosoof-hans-schnitzler-over-spengler/ (abgerufen 20.05.2019). Spengler, Jahre der Entscheidung, 40, 91. Oswald Spengler, Der Mensch und die Technik. Ein Beitrag zur Philosophie des Lebens (München: C.H. Beck, 1931), 17; Oswald Spengler, Jahre der Entscheidung. Deutschland und die weltgeschichtliche Entwicklung (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 1961), 37. In seiner Studie Het digitale proletariaat bezieht sich Schnitzler zum Beispiel nur einmal und sehr kurz auf Spengler, wenn er behauptet, der moderne Drang, Zeit und Raum zu übersteigen, sei von Spengler als die Grundhaltung des faustisch-abendländischen Menschen erkannt worden. Hans Schnitzler, Het digitale proletariaat (Amsterdam: De Bezige Bij, 2015), 41. Eines der vielen Beispiele dieses Nordismus findet man in Spenglers Schrift Jahre der Entscheidung: »Die preußische Idee […] wächst aus den Urmächten des Lebens hervor, soweit sie in nordischen Völkern noch vorhanden sind.« (183) Auch der niederländische Politiker der rechtspopulistischen Partei »FvD« (Forum voor Democratie) und selbsterklärte Spengler-Bewunderer Thierry Baudet propagiert (zwar nicht unter expliziter Bezugnahme auf Spengler) eine nordistische Ideologie. In seiner Siegesrede anlässlich der provinzialen Wahlen in den Niederländen am 20. März 2019 spricht Baudet von dem niederländischen Teilhaben an der »borealen Welt«. Der Begriff bezieht sich auf den griechischen Gott Boreas, den Gott des Nordwindes, ist aber von den Nationalsozialisten als Gründungsmythos der arischen Rasse vereinnahmt worden: »Hyperborea« deutet auf die
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faustische Ideologie zunächst ›zurechtrücken‹ – Spengler sei gar kein nationalistischer Denker, sondern ermögliche als Verfechter einer radikalen kulturellen Gleichrangigkeit gerade ein interkulturelles Gespräch56 –, um dann an der Seite des amnestierten Spengler ihre eigenen politischen und ideologischen Überzeugungen Luft zu machen. Diesen reden sie dann anhand von Spenglers offenbar in Erfüllung gegangenen aber von der Mehrheit immer noch nicht gehörten Prognosen Evidenz und Empirizität herbei. So glaubt David Engels in seinem Essay »Von der Einsamkeit des Spenglerianers« (2017/2018) grundsätzliche Aporien in der fortschrittsoptimistischen Geschichte der westlichen Welt aufdecken zu können, für die es unwiderlegbare Beweise gebe: »Und es ist wohl eine von nur wenigen Zeitgenossen verstandene Ironie der Geschichte, daß, je weiter die westliche Welt in ihrer Ablehnung der Spengler’schen Kulturmorphologie fortschreitet, sie desto mehr ihren implizierten Vorhersagen ungewollt Recht gibt: Die Leugnung der Logik des Lebens durch Medikalisierung, die Ablehnung unserer grundlegenden biologischen Funktionen durch die Gender-Ideologie, die Objektisierung des Individuums durch den allgegenwärtigen Hedonismus, die Selbstabschaffung des eigenen Erbes durch Verzicht auf Familiengründung – all das beweist nicht nur einen höchst problematischen Umgang mit dem Konzept individueller Vergänglichkeit, sondern zeigt auch, daß die gegenwärtige kulturelle Auflösung des Westens tief in der psychologischen Disposition des spätzeitlichen Europäers verankert ist und dementsprechend Verhältnisse schafft, welche eine realistische Selbstbesinnung und eine Einsicht in die Spengler’sche Vergänglichkeit einer jeden Gesellschaft wohl nur dann erst erlauben wird, wenn es zu spät ist.«57 [meine Herv.] Die angebliche Reflexion über Spenglers Kulturmorphologie ist hier nichts anderes als eine schwach maskierte Selbstpositionierung Engels’: Mit Spengler wettert der Althistoriker gegen sehr unterschiedliche Sachen wie die Gender-›Ideologie‹ (ein Konzept, mit dem der misogyne Spengler noch gar nicht vertraut sein konnte), bewusst kinderlose Paare oder Eingriffe durch die Medizin, die seiner Meinung nach die harte »Logik des Lebens« leugnen.58 »Nur wenige[…] Zeitgenossen« haben Engels zufolge den Mut,
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mythische nordische Provinz hin, aus der die arische Rasse stamme. Auch der Altpräsident des französischen »Front National« und verurteilte Negationist Jean-Marie Le Pen hat diesen Begriff öfters verwendet. Marijn Kruk, »Hoe Thierry Baudet aan de lippen hing van Jean-Marie Le Pen,« De Correspondent, 20. März., 2019, https://decorrespondent.nl/7955/hoe-thierry-baudet-aan-de-lipp en-hing-van-jean-marie-le-pen/811713530980-29774dcf (abgerufen 20.05.2019). Ad Verbrugge, »Ondergangspodcast #1: Spengler in Paradiso,« interviewt von Marc van Dijk am 2. Nov. 2017, in leesspengler, https://www.leesspengler.nl/actueel/blog/1415/ondergang-podcast--231-s pengler-in-paradiso/ (abgerufen 20.05.2019); David Engels, »Von der Einsamkeit des Spenglerianers,« Journal of the Oswald Spengler Society 1 (2017-2018): 4-7, https://www.oswaldspenglersociety.c om/kopie-von-online-journal (abgerufen 20.05.2019). Dieser Artikel ist auch im Niederländischen auf der leesspengler-Website erschienen: David Engels, »De eenzaamheid van de Spengleriaan,« in leesspengler, 20. Sept., 2017, https ://www.leesspengler.nl/actueel/blog/1332/de-eenzaamheid-va n-de-spengleriaan/ (abgerufen 20.05.2019). Engels, »Von der Einsamkeit des Spenglerianers,« 3. Hier flirtet Engels mit der darwinistischen Idee des survival of the fittest. Zwar kann man Engels keineswegs die Idee der natürlichen Auslese unterstellen, aber dieses Zitat erinnert doch stark an die folgende Textstelle aus Spenglers Jahre der Entscheidung: »Aber zu einer starken Rasse gehört nicht
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die grundsätzliche Aporie des westlichen Fortschrittsoptimismus ins Gesicht zu sehen, die Tatsache nämlich, dass vermeintlich fortschrittliche Maßnahmen gerade auf dasjenige hinlaufen, das der moderne Mensch so vehement verleugnet: die »innere geistige Selbstauflösung des Abendlandes«.59 Genau diese Erkenntnis mache die Position des ›einsamen Spenglerianers‹ so »tragisch«.60 Engels und Spengler sind von einem bevorstehenden Untergang oder vielmehr ›Vollendung‹ des Abendlandes überzeugt.61 Diese Einsicht bedeutet aber nicht, dass der Spenglerianer – wie ihm seine Kritiker*innen unterstellen – »zu kontemplativem Defätismus verdammt«62 sei. Die Erkenntnis fungiert vielmehr als ein Ausleseprinzip, das die tapferen Skeptiker von den willig blinden Angsthasen unterscheidet. Ähnlich wie Spengler in seinem Essay »Pessimismus?« (1921) argumentiert, seine Untergangsthese biete den »Beschaulichen und Idealisten« zwar eine »moralische Ausrede für ihre Tatenscheu«, wirke aber auf »tätige« Menschen wie ein »Stahlbad« und setze große »Aufgaben« voraus,63 ist auch Engels nicht gesonnen, sich wehrlos geschlagen zu geben. Denn obwohl der Untergang des Abendlandes für ihn außer Frage steht, liege die Art und Weise, in der sich der Untergang ereignen wird, noch nicht fest: »Wird es Europa gelingen, seine Zivilisation wie das Römische Reich, das Reich der chinesischen Han-Dynastie oder das der indischen Gupta-Herrscher zwar nicht weiterzuentwickeln, aber über Jahrhunderte hinweg aufrechtzuerhalten und gegen die innere wie äußere Auflösung zu verteidigen? Oder wird es nach der gerade sich vollziehenden endzeitlichen Vereinigung durch die Europäische Union rasch und ruhmlos untergehen, von außen durch jene außereuropäischen Mächte in Ost wie West bedroht, denen es erst zum gegenwärtigen Wohlstand verhalf, und von innen von den eigenen Bürgern aufgegeben, sei es aus Desinteresse, sei es, gerade im Fall der erst jüngst eingebürgerten Massen, aus kulturellem Ressentiment?«64 Auch hier ist Spenglers Geschichtsphilosophie für Engels nur ein Anlass, seinem EURessentiment Luft zu machen. Statt der sich gerade vollziehenden apokalyptischen Vereinigung durch die Europäische Union wünscht er sich ein Ende, das Europas »vergangener Größe gerecht wird…«.65 Wie dieses majestätische Ende genau aussehen wird,
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nur eine unerschöpfliche Geburtenzahl, sondern auch eine harte Auslese durch die Widerstände des Lebens, Unglück, Krankheit und Krieg. Die Medizin des 19. Jh. verlängert jedes Leben, ob es lebenswert ist oder nicht. Sie verlängert sogar den Tod. Sie ersetzt die Zahl der Kinder durch die Zahl der Greise. […] Sie verhindert die natürliche Auslese und steigert dadurch den Rasseverfall.« (206-207) Auch Spengler hegt ein ambivalentes Verhältnis gegenüber biologistischen Rassendiskursen, wie noch gezeigt werden soll. Engels, »Von der Einsamkeit des Spenglerianers,« 3. Ebd., 3. Ebd., 4. Ebd., 4. Oswald Spengler, »Pessimismus?,« in Reden und Aufsätze (München: C.H. Beck, 1937), 63-79, hier: 74-75. Die Spannung zwischen Spenglers deterministischer Geschichtslehre und einer voluntaristischen Perspektive, das heißt zwischen Schicksal einerseits und Pflicht, Aufgabe und Tatkraft andererseits ist eine Aporie, die Spenglers ganzes Werk bestimmt. Engels, »Von der Einsamkeit des Spenglerianers,« 4. Ebd., 4.
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das verraten die drei ominösen Punkte nicht.66 Aber Engels’ schon adressierter biologistischer Diskurs lässt vermuten, dass er nicht nur auf eine strikt kulturelle Revitalisierung ›unserer‹ abendländischen Tradition zielt. Dies macht er in seinem in der Zeitschrift Cicero erschienenen Aufsatz »Eine Utopie für Europa«67 deutlich, in dem er Spengler zwar nicht beim Namen nennt, wohl aber explizit auf dessen Schrift Jahre der Entscheidung verweist, in der der Untergangsphilosoph einen planetarischen Entscheidungskampf zwischen den einstigen »weißen Herrenvölker[n]«68 und den sich emanzipierenden »farbigen« Völkern prophezeit. Engels zufolge hat Europa »durch Sicherung eines positiven Verhältnisses zur antiken und christlichen Tradition, durch Schutz des abendländischen Familienideals und durch einen gesunden Stolz auf die Einzigartigkeit seines Erbes dem Vermächtnis der Vorfahren treu zu bleiben.«69 Dieses Zitat generiert nicht nur eine auf kulturelle Selbstüberhebung zielende In- und Exklusionslogik. Es rückt zugleich den beabsichtigten »Schutz« des abendländischen »Erbes« in einen genealogischen Diskurs. Die Sorge um die ›einzig-artige‹ Tradition setzt dabei die Sorge um den Nachwuchs voraus. Die »Sicherung« oder Kontinuität der abendländischen Tradition soll mit anderen Worten durch die Kette der Generationen gewährt bleiben. Es ist in dieser Hinsicht nicht verwunderlich, dass die 2018 gegründete »Oswald Spengler Society«,70 deren Präsident Engels ist, dem umstrittenen französischen Schriftsteller Michel Houellebecq den ersten Oswald-Spengler-Preis verliehen hat. In seiner Dankesrede betont Houellebecq genau jene zwei Kriterien, von denen auch Engels ein letztes Aufflackern des Abendlandes erhofft und die sich wie ein roter Faden durch Houellebecqs Werk hindurchziehen: die Rückbesinnung auf die christliche Tradition Europas und vor allem die Demografie. Was Engels bloß insinuiert, macht Houellebecq in seiner Dankesrede in Brüssel explizit: Bevor das Abendland endgültig das Licht löscht, sollen wir – »wie man ein letztes Mal die Würfel fallen lässt, wie man eine letzte Karte ausspielt, während man überzeugt ist, das Spiel verloren zu haben« – »Kinder machen«.71 Wie auch Spengler in Jahre der Entscheidung betrachtet Houellebecq
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Engels’ Beschreibung des unabwendbaren Untergangs als »allmählichen Verdämmerns« scheint aber der Idee eines großartigen Endes zu widersprechen. Auch die von Engels unterschriebene Idee der ›Vollendung‹, das heißt eines allmählichen Prozesses der totalen Erschöpfung und Erstarrung, entspricht der Vorstellung eines großen Endes nicht. Engels, »Eine Utopie für Europa,« Cicero, April, 2019, 28-29. Spengler, Jahre der Entscheidung, 196. Engels, »Eine Utopie für Europa,« 29. The Oswald Spengler Society for the Study of Humanity and World History ist der komparativen Studie von Kulturen und Zivilisationen gewidmet und lässt sich von den Ideen Oswald Spenglers inspirieren, so erklärt sie sehr allgemein im mission statement. Sie zielt demzufolge auf eine kritische Rehabilitierung von Spenglers Werk. https://www.oswaldspenglersociety.com/the-societ y (abgerufen 20.05.2019). Michel Houellebecq, »Warum ich trotzdem Optimist bin,« aus dem Französischen und in gekürzter Fassung von David Engels, Welt am Sonntag, 21. Okt., 2018, 57-61, hier: 60. Auch Spengler verwendet in Jahre der Entscheidung oft die mit Vabanquevorstellungen einhergehende Tropologie des (Würfel-)Spiels, so illustriert schon der Umschlag des Deutschen Taschenbuch Verlags 1961, auf dem drei Würfel zu sehen sind. Der letzte Satz dieser Schrift lautet zum Beispiel: »Wessen Schwert hier den Sieg erficht, der wird der Herr der Erde sein. Da liegen die Würfel des ungeheuren Spiels. Wer wagt es, sie zu werfen?« (212)
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die Erfüllung unserer »genetischen Mission« als die wichtigste Chance, uns gegen bedrohende Fremdeinflüsse zu wappnen: »Wirklich bedeutsam ist der Kampf um die Fortpflanzung«, die »Zahl der Nachkommen.«72 Mit Spengler teilt Houellebecq weiter die kulturpessimistische Invektive gegen den Materialismus, den Kapitalismus, die Konsumgesellschaft und den allgemeinen Werteverfall in der modernen Welt. Beide sind von der Unumgänglichkeit des abendländischen Selbstzerstörungsprozesses überzeugt, obwohl Spengler trotz seiner Verwendung zahlreicher Topoi aus der konservativen Zivilisationskritik letztlich nicht, wie Houellebecq, über den Untergang lamentiert, sondern ihn vielmehr bejaht. Auch ist ihnen ein fast metaphysisches Angeekelt-Sein gemeinsam – von sich selbst, den anderen, der Gesellschaft, der ganzen Welt –, das die houellebecqschen Romanfiguren kennzeichnet und Spenglers autobiografische Notizen prägt. All dies »prädestiniert«73 Houellebecq gleichsam dazu, der erste Preisträger des Oswald-Spengler-Preises zu sein. Wenn wir nun einige Tendenzen der heutigen Spengler-Rezeption besonders in den Niederlanden und in Belgien zusammenzufassen versuchen, ergibt sich das folgende Bild. Erstens wird Spengler sehr oft gegen den Strich gelesen. Der Untergangsprophet fungiert als multi-interpretierbare Chiffre, die den zeitgenössischen Bedürfnissen entsprechend nach Herzenslust umfunktioniert werden kann. Zweitens – und eng damit verbunden – gilt die Rezeption Spenglers als eine punktuelle. Man erwirbt den Philosophen oft nur ›zum halben Preis‹ und bastelt sich seinen eigenen Spengler zusammen. Dabei gilt, drittens, die Spengler-Lektüre an sich schon als eine politische Selbstpositionierung: Spengler zu lesen wagen heißt, sich selbst als tapferen Querdenker zu präsentieren, der unsere intellektuellen Bequemlichkeiten aufrüttelt und die selbsteingenommene politische Korrektheit (der Linken) erschüttert. Einwände gegen Spengler (wie gegen sich selbst) müssen dann nicht mehr inhaltlich widerlegt, sondern können einfach als Mangel an Mut abgewertet werden. Diese Tendenz zur Polarisierung geht, viertens, mit einer bedingungsloseren Würdigung von Spenglers Geschichtsphilosophie einher und weicht so von der Feststellung Merlios ab, die Rezeption Spenglers sei »fast immer eine Rezeption mit Vorbehalt«.74 Das bedeutet zum einen, dass man Spengler – nicht zuletzt auch als provokatorische Strategie – »vollkommen recht«75 gibt (Schnitzler, Engels), zum anderen, dass man den höchst ambivalenten Denker ideologisch freispricht. »Spengler ein Rassist? Von wegen!«, »Spengler ein halber Nazi? Wenn
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Houellebecq, »Warum ich trotzdem Optimist bin,« 58. David Engels, Gerd Morgenthaler, Max Otte (Hg.), Michel Houellebecq, Oswald Spengler und der ›Untergang des Abendlandes‹. Reden anläßlich der Verleihung des Oswald-Spengler-Preises an Michel Houellebecq, Brüssel, 19. Oktober 2018 (Lüdinghausen: Manuscriptum, 2019), Klappentext. Gilbert Merlio, »Reflexionen über Spenglers Rezeption,« in Tektonik der Systeme, 270-287, hier: 270. Auch Rolf Hochhuth gibt Spengler auf vorbehaltlose Weise recht. In der letzten Sendung der elfteiligen belgischen Dokumentarreihe De weg naar het Avondland (Der Weg zum Abendland) aus 2011 antwortet Hochhuth auf die recht abrupte Eröffnungsfrage des Reportagemachers und Philosophen Jan Leyers »Glauben Sie, dass Oswald Spengler recht gehabt hat?« wie folgt: »Selbstverständlich. Ich bin der Überzeugung, dass er vollkommen recht war, im Recht war, und dass er der maßgebende, letzte Philosoph des Abendlandes ist.« Rolf Hochhuth, De weg naar het Avondland, 11. Folge, interviewt von Jan Leyers, 2011, https://www.youtube.com/watch?v=AWOrs9ePmVo (abgerufen 20.05.2019).
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möglich noch absurder!«, so empört sich zum Beispiel der niederländische Übersetzer Mark Wildschut auf der Buchvorstellung von De Ondergang van het Avondland im Paradiso.76 Auch die Oswald Spengler Society beschreibt Spengler auf ihrer Website freiweg als (wissenschaftliche) Inspirationsquelle. Zudem verneint sie auf ihrer Startseite anhand eines Zitats des in Dachau ermordeten Physikers Friedrich Reck-Malleczewen jede Affinität Spenglers mit dem Nationalsozialismus, ja macht ihn sogar zu dessen heftigstem Gegner.77 Angesichts dieser Polarisierung und der Loslösung Spenglers vom nationalsozialistischen Gedankengut wundert es, fünftens, nicht, dass die Schrift, die von Spengler-Adepten immer öfter zitiert wird, Jahre der Entscheidung ist. Tatsächlich wird dieser Text ständig als Beleg für Spenglers entschiedene Ablehnung des Nationalsozialismus herbeizitiert: »Was am Anfang Großes versprach, endete in Tragödie oder Komödie«,78 so schreibt Spengler zum Beispiel in der Einleitung über die »nationale Umwälzung«79 1933. Die NSDAP reagierte auf den Erfolg von Jahre der Entscheidung mit einer heftigen Pressekampagne und veröffentlichte verschiedene Gegenschriften, in denen der Philosoph vor allem wegen seiner fatalistischen Untergangsthese scharf kritisiert wurde.80 Zugleich ist diese Schrift Spenglers radikalste. Denn seine Skepsis gegenüber Hitler basiert vor allem auf der ihm unterstellten Fehleinschätzung, er beschränke sich auf »provinzielle«81 Ziele, während die »wirkliche[n] und endgültige[n] Erfolge, das heißt außenpolitische[n]«,82 noch bevorstünden. Spengler wünschte sich die nationale Umwälzung mit anderen Worten noch extremer. Er warf dem Nationalsozialismus vor, er habe nicht genug mit dem Liberalismus gebrochen, führe als Staatspartei das verhasste Parteiensystem fort und schreibe mit der eschatologischen Ideologie des Dritten Reiches das von Spengler so vehement bekämpfte Fortschrittsdenken weiter.83 Der plebejische Hitler entsprach seinem elitären Cäsarenmythos keineswegs. Ernst Bloch fasste dies treffend in Worte: Jahre der Entscheidung sei »die erste Absage fast ans Hitlertum, doch nur, weil Spengler dem Demagogen die Bestie nicht glaubt und dem großen Maul des Massenjubels nicht das aristokratische Gebiß.«84
Ein philosophisch-literarischer Bestseller Warum konnte Spengler in der Weimarer Republik zum Bestsellerautor werden und spricht er auch nach 100 Jahren noch ein breites Publikum an? Dafür gibt es mindestens
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Der Vortrag erschien auch auf dem Leesspengler-Blog: Mark Wildschut, »De ambiguïteit van Spengler,« in leesspengler, 23. Okt., 2017, https://www.leesspengler.nl/actueel/blog/1406/de-ambig uiteit-van-spengler/ (abgerufen 20.05.2019). https://www.oswaldspenglersociety.com/ (abgerufen 20.05.2019). Spengler, Jahre der Entscheidung, 16. Ebd., 13. Clemens Vollnhals, »Praeceptor Germaniae. Spenglers politische Publizistik,« in Der Fall Spengler, 171-197, hier: 193-194. Spengler, Jahre der Entscheidung, 22. Ebd., 16. Merlio, »Urgefühl Angst,« 89. Ernst Bloch, »Anhang: Spenglers Raubtiere und relative Kulturgärten,« in Gesammelte Werke, Bd. 4, Erbschaft dieser Zeit (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1962), 318-329, hier: 321.
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drei Gründe, die sowohl auf den damaligen Kontext als auch auf den heutigen zutreffen. Der erste Grund, auf den auch Merlio hinweist, ist die gewaltige Geschichtskonstruktion, die viele ältere Ideen und Hypothesen aufgreift, vulgarisiert, radikalisiert und als unbestreitbare Tatsachen in ein fest abgeschlossenes System integriert.85 Spengler ist seit Hegel der erste Denker, der nach der durch den Historismus verursachten Krise wieder ein übergreifendes Geschichtssystem präsentiert, das den Hunger nach Orientierung stillen kann.86 Wie Merlio argumentiert, wollte Spengler die aus dem Historismus hervorgehende Skepsis allerdings nicht überwinden, sondern sie in Anlehnung an Nietzsches amor fati als »tapfere Skepsis« bejahen.87 Sein Denken ist von einem »Drang nach Restlosigkeit«88 geprägt: Es basiert auf dem holistischen Verlangen, »alle großen Fragen des Seins«89 einzuschließen und die unterschiedlichsten Spezialdiskurse wie Historiografie, Philosophie, Politik, Kunst, Literatur, Religion, Archäologie, Biologie, Sport usw. in einer neuen Synthese bereitzustellen.90 Nachdem alle Spannungen (scheinbar) integriert, die »Widerstände« – wie Adorno schreibt – »liquidiert«91 sind, entsteht der paradoxe Eindruck, dass die Welt noch so komplex sein mag, die Wahrheit aber einfach ist.92 Spenglers »Phantasma der Totalintegration«93 lässt sich somit als eine »Kontingenzbewältigung«94 angesichts der hyperkomplexen Wirklichkeit verstehen. Diese Komplexitätsreduktion geht immer auch mit einer Ausblendung oder einem 85
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Merlio, »Reflexionen über Spenglers Rezeption,« 271. Der Begriff der Morphologie geht auf Goethe zurück, dessen naturwissenschaftliche Thesen Spengler auf die Geschichte übertrug. In seiner Idee eines »Pessimismus der Stärke« sowie der Ablehnung des Fortschrittsnarrativs ist er Nietzsche verpflichtet (wenngleich Spenglers »Schicksal« in all seiner Berechenbarkeit dem die Providenz radikal in Frage stellenden »dionysischen Pessimismus« Nietzsches bei genauerer Betrachtung gerade widerspricht, wie De Winde und Kohns hervorheben. Arne De Winde, Oliver Kohns, »Pessimismus, Kultur, Untergang. Nietzsche, Spengler und der Streit um den Pessimismus,« Arcadia 50, 2 (2015): 286-306, hier: 297). Obwohl Spengler in Bezug auf seine relativistische Kulturkreislehre von einer »kopernikanische[n] Entdeckung« (Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, Bd. 1: Gestalt und Wirklichkeit (München: C.H. Beck, 1920), 24), von einem »ganz neuen Blick auf die Dinge« (»Pessimismus?,« 63) spricht, ist er auch hier nicht wirklich innovativ. Im Grunde genommen radikalisiert er die Thesen J.G. Herders, bis zu dem Punkt, wo Kulturen nichts anderes als diskontinuierliche und ›fensterlose Monaden‹ (Bloch, »Spenglers Raubtiere,« 326) sind. Wie Merlio betont, verallgemeinert Spengler damit das nationalistische Autarkie-Ideal des 19. Jahrhunderts, indem er die Isolierung der Nationen auf die Kulturen überträgt. Merlio, »Einleitung,« in Spengler – Denker der Zeitenwende, 9-18, hier: 9. Merlio, »Reflexionen über Spenglers Rezeption,« 271. Gilbert Merlio, »Spenglers Geschichtsmorphologie im Kontext des Historismus und seiner Krise,« in Spengler – Denker der Zeitenwende, 129-144, hier: 143. Marcus Krajewski, Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900 (Frankfurt a.M.: Fischer, 2006). Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, 4. Rolf Parr, »Analogie und Symbol. Einige Überlegungen zum interdiskursiven Status von Oswald Spenglers ›Der Untergang des Abendlandes‹,« in Tektonik der Systeme, 42-57, hier: 42. Adorno, »Spengler nach dem Untergang,« 121. Herbert Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1983), 186. Arne De Winde, »Die ›politische Verbitterung des 19. Jahrhunderts‹: Staat und Staatlosigkeit in Oswald Spenglers ›Preußentum und Sozialismus‹,« in StaatsSachen/Matters of State. Fiktionen der Gemeinschaft im langen 19. Jahrhundert (Heidelberg: Synchron – Wissenschaftsverlag der Autoren, 2014), 159-179, hier: 178. De Winde, Fabré, Maes, Philipsen, »Geschichtete Geschichten,« 14.
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Ausschluss des nicht zu integrierenden Anderen einher. In Spenglers Geschichtssystem ist »die Welt so lückenlos gedacht«, so Adorno, »daß für nichts Raum bleibt, was nicht seinem Wesen nach spannungslos mit jenem Großen identisch wäre.«95 Dieser Ausschluss im Kontext von Einheitsvorstellungen entspricht einem »Bedürfnis nach Begrenzung in Zeiten progressiver Entgrenzung«96 , »einem »schutzzonale[n]«97 Reflex, der auch heute spürbar ist. Untergangspropheten wie Spengler haben heute nicht zuletzt deshalb Konjunktur, weil sie angesichts der Unübersichtlichkeit einer pluralistisch ent-hierarchisierten Wirklichkeit wieder »›aufs Ganze gehen‹«.98 Wie Thomas Assheuer schreibt, liefern sie in Krisen- und Umbruchszeiten »kulturelle Schablonen, um amorphe Bedrohungen für das ratlose Bewusstsein fassbar zu machen.«99 Im Hinblick auf dieses schutzzonale Denken ist es nicht verwunderlich, dass Spengler in letzter Zeit heraufbeschworen wird, um multikulturelle Vorstellungen abzulehnen. So entstaubt die Anti-Islambewegung Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) Spenglers in- und exkludierenden Begriff des Abendlandes und reaktiviert diesen als »Kampf- und Abgrenzungsparole«100 gegen die Einwanderung von Moslems und Moslimen. Auch die kontroverse These eines Clash of Civilisations des Politologen Samuel Huntington, der sich explizit auf Spenglers relativistische und monadologische Kulturkreislehre bezieht, soll in diesem Kontext gelesen werden. Wie Heimböckel darlegt, sucht Huntington mit seinem Kulturbegriff die nach dem Ende des Kalten Krieges entstandenen Unübersichtlichkeiten durch die Auflösung der die Welt definierenden Blockbildung mit neuen, identitätsbildenden Grenzen und Feindbildern in den Griff zu bekommen.101 Somit ist sein spenglerscher Kulturbegriff von einer »Sehnsucht nach dem Feind«102 geprägt: »Wir wissen, wer wir sind«, so Huntington, »wenn wir wissen, wer wir nicht sind und gegen wen wir sind.«103 Der zweite Grund für Spenglers Popularität damals wie heute betrifft die Aktualität seiner zeitkritischen Fragestellungen, die in seinem Geschichtssystem eingebettet sind.
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Adorno, »Spengler nach dem Untergang,« 121. Heimböckel, »›Was wir wollen, sollen alle wollen‹,« Anmerkung 3.35, 376. Ebd., 285. Thomas Assheuer, »Weltverdüsterungspathos. Adorno, Heidegger, Agamben und das unverwüstliche Verlangen, das ›Ganze als Ganzes‹ zu denken,« DIE ZEIT, 20. Jan., 2011. https://www.zeit.de/2 011/04/Philosophie-Assheuer (abgerufen 20.05.2019). 99 Thomas Assheuer, »Die Dunkelseher. Ob Stefan George oder Oswald Spengler: Intellektuelle Untergangspropheten haben Konjunktur. Was macht sie so faszinierend?,« DIE ZEIT, 30. Aug., 2007. https://www.zeit.de/2007/36/Obskurantisten (abgerufen 20.05.2019). 100 KNA, »Historiker Wolfgang Benz zu Pegida. ›Das Abendland ist ein Mythos‹,« Der Tagesspiegel, 5. Jan., 2015, https://www.tagesspiegel.de/politik/historiker-wolfgang-benz-zu-pegida-das-abendlan d-ist-ein-mythos/11188888.html (abgerufen 20.05.2019). 101 Heimböckel, »›Was wir wollen, sollen alle wollen‹,« 297. 102 Byung-Chul Han, »Sehnsucht nach dem Feind. Psychologie von Pegida,« Süddeutsche Zeitung, 17. Dez., 2014, https://www.sueddeutsche.de/politik/psychologie-von-pegida-sehnsucht-nach-dem-fe ind-1.2269476 (abgerufen 20.05.2019). 103 Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert (München/Wien: Europa-Verlag, 1996), 21.
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Die heutige ›Relevanz‹ von Spenglers Thesen ist oben schon eingehend besprochen worden. Auch im desorientierten Nachkriegsdeutschland traf Der Untergang des Abendlandes den Nerv der Zeit. Schon der trompetenhafte Titel kombinierte die zu jener Zeit grassierende Lust am Untergang mit einer Bestimmtheit, die die Leser*innen erschütterte. Anders als der bestürzende Titel vermuten lässt, bot Spengler aber auch zeitgemäße Handlungsmaximen und Direktiven, mit denen er die (männlichen) Leser und vor allem die Jugend zu »ungeheuren Aufgaben«104 anstacheln wollte. Der ganze Erfolg des Buches gründe Spengler zufolge auf diesem durch den Titel hervorgerufenen »Missverständnis«,105 das er in seiner Verteidigungsschrift »Pessimismus?« ein für alle Mal zu klären versuchte: Er sei gar kein Pessimist, predige alles andere als eine resignative Haltung, auch gebe es keinen Grund zur Verzweiflung – schon gar nicht für Deutschland, denn ihm stehe als Pendant des imperium romanum eine gewaltige Zukunft bevor. Zwar habe sich am Vorabend des Untergangs die große Kultur unumkehrbar erschöpft, aber die imperialistischen Aufgaben, die in der darauf folgenden Phase der Zivilisation gefordert würden, seien ohnehin begeisternd, das hätten uns die Römer ja gelehrt. Deshalb solle Deutschland endlich aufhören, ein rückwärtsgewandtes Land von Dichtern und Denkern zu sein, um eine zeitgemäße Nation von »Männer[n] der Wirklichkeit, Industrielle[n], hohe[n] Offiziere[n], Organisatoren«106 zu werden: »Diese Ideale soll man in Scherben schlagen; je lauter es klirrt, desto besser. Härte, römische Härte ist es, was jetzt in der Welt beginnt. Für etwas anderes wird bald kein Raum mehr sein. Kunst ja, aber in Beton und Stahl, Dichtung ja, aber von Männern mit eisernen Nerven und unerbittlichem Tiefblick, Religion ja – aber dann nimm dein Gesangbuch, nicht den Konfuzius auf Büttenpapier – und gehe in die Kirche, Politik ja, aber von Staatsmännern und nicht von Weltverbesserern. Alles andere kommt nicht in Betracht. […] Zu einem Goethe werden wir Deutschen es nicht wieder bringen, aber zu einem Cäsar.«107 Spenglers Kulturpessimismus ist also die Voraussetzung für seinen Machtoptimismus, der Untergang der Kultur ist zugleich die Chance für den imperialen Aufstieg und die weltweite Vorherrschaft Deutschlands.108 Schon Ernst Bloch beschrieb Spengler deshalb als »Optimisten«.109 Der während des Weltkriegs und in Erwartung eines deutschen Sieges verfasste Untergang des Abendlandes ist ein Appell an Deutschland, nicht zur Revitalisierung der Kultur, sondern zur Erfüllung der imperialistischen Aufgabe, zu
Spengler, Preußentum und Sozialismus, 84. Spengler, »Pessimismus?,« 63. Ebd., 78. Ebd., 78-79. Diese Verbindung von Kulturpessimismus und Machtoptimismus wird von Merlio immer wieder betont u.a. in: »Urgefühl Angst,« 100; »Über Spenglers Modernität,« 121; »Einleitung,« in Oswald Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, 11. Auf diese Verschränkung wies Spenglers Biograf Anton Mirko Koktanek schon 1968 hin. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit (München: C.H. Beck, 1968), 140. Es war allerdings Adorno, der als Erster auf diese Verbindung aufmerksam machte, allerdings ohne dafür den Begriff ›Machtoptimismus‹ zu verwenden: »Pessimism serves here only as a kind of deification of the iron forces.« Adorno, »Was Spengler Right?,« 28. 109 Ernst Bloch, »Spengler als Optimist,« Der Neue Merkur 5 (1921-1922): 290-292. 104 105 106 107 108
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der die Deutschen als das »unverbrauchteste«110 Volk der abendländischen Welt berufen seien. An diesem Punkt weicht Spengler von anderen Kriegsschriften ab. Im Gegensatz zu den Vertretern der ›Ideen von 1914‹ wie Thomas Mann und Werner Sombart will er nicht mehr die tiefe deutsche Kultur gegen die rein materielle westliche Zivilisation verteidigen. Spengler fasst die bekannte Dichotomie von Kultur und Zivilisation nicht als synchronen und hierarchischen Gegensatz auf, wie Barbara Beßlich betont, sondern verzeitlicht sie, insofern Kultur notwendig in Zivilisation münde,111 die zeitgemäß bejaht werden solle. Die »allgemeine intellektuelle Unsicherheit«, die Beßlich angesichts des Untergangs feststellt, rührt gerade von dieser ›vexatorischen‹ Ambivalenz von Kulturpessimismus und Machtoptimismus, von Spenglers gleichzeitiger Verneinung und Bejahung heutiger Verhältnisse.112 Der dritte Grund für Spenglers Erfolg ist die literarische Dimension des Werkes, die gleichzeitig faszinierte und provozierte. Wie Beßlich vor allem anhand der SpenglerRezeption Thomas Manns ausführlich dargelegt hat, betrachteten viele Zeitgenossen den Untergang nicht nur als historische, sondern auch als literarische Tour de Force.113 Der frühe Mann war von der eigenwilligen Romanhaftigkeit des Untergangs fasziniert. Anders als seine bissigen Invektiven gegen Spengler aus der Zeit zwischen 1922 und 1947 vermuten lassen, schwärmte er in seinen Tagebucheinträgen und handschriftlichen Marginalien 1919/1920 von der »fesselnd[en]« Kraft, die Spenglers »glänzendes« Werk auf ihn ausübe.114 Spenglers Nachkriegsessay Preußentum und Sozialismus (1919) erntete bei Mann den gleichen Beifall: Er begeisterte sich für die »glänzenden Konstruktionen«,115 die in dieser politischen Streitschrift aufzufinden seien. Der Kunsthistoriker Otto Grautoff bezeichnete Spenglers tektonisches Gedankengebilde als eine »betörende Anthologie […], die weniger wissenschaftliche als belletristische Bedeutung hat.«116 An dieser Vorstellung hat sich wenig geändert. Im Online Büchershop kann man Spenglers Magnum Opus nicht nur als philosophisches Sachbuch, sondern auch als Belletristik kaufen. Heutige Kritiker und Schriftsteller werden genauso wie ihre Kollegen vor 100 Jahren von Spenglers eigensinnigen »literarischen Provokationen«117 »in
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Spengler, Preußentum und Sozialismus, 28, 84; Spengler, Jahre der Entscheidung, 208. Spengler wendet damit seine These, dass die Deutschen im Gegensatz zu anderen Völkern keine große nationale Vergangenheit haben, ins Positive. Vgl. Spengler, Preußentum und Sozialismus, 6. Beßlich, »›Das wichtigste Buch‹,« 272-273. Barbara Beßlich, »Kulturtheoretische Irritationen zwischen Literatur und Wissenschaft. Die Spengler-Debatte in der Weimarer Republik als Streit um eine Textsorte,« in Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Bd. 10 (München: edition text + kritik, 2005/2006), 45-72, hier: 45, 47. Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler (Berlin: Akademie Verlag, 2002); Beßlich, »Kulturtheoretische Irritationen«; Beßlich, »›Das wichtigste Buch!‹«. Beßlich, Faszination des Verfalls, 27. Thomas Mann, Tagebücher 1918-1921, Hg. Peter de Mendelssohn (Frankfurt a.M.: Fischer, 1979), Eintrag am 23. Dez., 1919, 348. Grautoff, »Die Kunst in Oswald Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹,« 38. Barbara Beßlich, »Untergangs-Mißverständnisse. Spenglers literarische Provokationen und Deutungen der Zeitgenossen,« in Spengler – Ein Denker der Zeitenwende, 29-52.
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ihren Bann gerissen«.118 So besprach Botho Strauß Spenglers 2007 herausgebrachte autobiografische Aufzeichnungen bedeutungsvollerweise in der Rubrik ›Belletristik‹ der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Strauß las die spekulative Geschichtsphilosophie des »gelehrten Epikers« – eine Beschreibung, die an Manns Bezeichnung des Untergangs als »intellektualen Roman[s]«119 erinnert – gleichsam als einen historischen Abenteuerroman: Gegenüber »Fukuyama, Huntington oder mindere[n] Weltbild-Designer[n]« sei die Lektüre Spenglers »einfach spannender«.120 Im niederländischen Sprachgebiet betont der preisgekrönte Schriftsteller Tommy Wieringa in einem Doppelinterview mit dem Politiker Thierry Baudet den tiefgreifenden Einfluss, den ›sein‹ Spengler, als »Philosoph des Kampfes«, auf ihn ausgeübt habe.121 Der niederländische Übersetzer Mark Wildschut behauptet sogar, Spengler verdiene nichts weniger als den Nobelpreis für Literatur.122 Diese hybride Textur zwischen Belletristik und Sachbuch, Literatur und Wissenschaft ist charakteristisch für einen bestimmten Texttyp, der seinen ersten Höhepunkt bereits im späten 19. Jahrhundert erlebte und von Horst Thomé als »Weltanschauungsliteratur« bestimmt wurde.123 Solche spekulativ-theoretischen Texte erheben Thomé zufolge »den expliziten Anspruch […], die ›Weltanschauung‹ des Verfassers argumentativ darzustellen«.124 Typischerweise verbinden sie »breite Darlegungen wissenschaftlicher Ergebnisse mit waghalsigen Hypothesen, metaphysischen Theoriefragmenten, autobiographischen Mitteilungen, persönlichen Glaubensbekenntnissen, ethischen Handlungsanweisungen, zeitpolitischen Diagnosen und gesellschaftlichen Ordnungsmodellen.«125 Die Weltanschauungsliteratur benutzt wissenschaftliche Befunde also vor allem für den Entwurf einer umfassenden Welterklärung, die in unübersichtlichen Zeiten Ordnung in das Chaos bringt, wie Beßlich in Anlehnung an Thomé hervorhebt.126 Als
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Grautoff, »Die Kunst in Oswald Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹,« 39. Thomas Mann, »Anzeige eines Fontane-Buchs,« in Gesammelte Werke in 13 Bänden, Bd. 10, 573-584, hier: 573. 120 Botho Strauß, »Spengler persönlich,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19. Aug., 2007, https://www.f az.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/spengler-persoenlich-1465018.html. (abgerufen 20.05.2019). Dass diese literarische Dimension auch auf Ablehnung stieß, davon zeugt zum Beispiel die herablassende Charakterisierung Spenglers durch Kurt Tucholsky als »Karl May der Philosophie«. Kurt Tucholsky, Gesammelte Werke, Bd. 10, Hg. Mary Gerold-Tucholsky, Fritz J. Raddatz (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975), 109. 121 Tommy Wieringa, Thierry Baudet, »Rukken mag,« interviewt von Jeroen Vullings, Vrij Nederland, 18. Mai, 2017, https://www.vn.nl/rukken-mag/ (abgerufen 20.05.2019). 122 Mark Wildschut, »Ondergangspodcast #1: Spengler in Paradiso,« in leesspengler, https:// www.leesspengler.nl/actueel/blog/1415/ondergang-podcast--231-spengler-in-paradiso/ (abgerufen 20.05.2019). 123 Horst Thomé, »Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers ›Der Untergang des Abendlandes‹,« in Literatur und Wissen(schaften) 1890-1935, Hg. Christine Maillard, Michael Titzmann (Stuttgart: J.B. Metzler, 2002), 193-212. 124 Horst Thomé, »Weltanschauungsliteratur. Vorüberlegungen zu Funktion und Texttyp,« in Wissen in Literatur im 19. Jahrhundert, Hg. Lutz Dannenberg, Friedrich Vollhardt (Tübingen: Niemeyer, 2002), 338-380, hier: 338. 125 Ebd., 338. 126 Beßlich, »Kulturtheoretische Irritationen,« 46.
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allgemeine Lebenshilfe zielt sie weit über die akademische Zunft hinaus.127 Die argumentativen Schwächen ihrer »Wissenschaftsmimikry« kaschieren diese Texte mit literarischen Schreibweisen und einer oft exzessiven Rhetorik.128 Dazu kommt noch, dass Spengler für seine Hypothesen einerseits einen wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch erhob, andererseits aber mit dem Argument der literarischen Beschaffenheit der Geschichte gegen die ›pedantischen‹ Forderungen der Fachhistoriker nach wissenschaftlicher Exaktheit tobte: »Geschichte wissenschaftlich behandeln wollen ist im letzten Grunde immer etwas Widerspruchsvolles […]. Natur soll man wissenschaftlich traktieren, über Geschichte soll man dichten.«129 Gerade dieser zwitterhafte Status von Spenglers Text zwischen Wissenschaftsmimikry und Dichtung provozierte und spaltete das Lesepublikum, weil es unterschiedliche, das heißt wissenschaftliche oder literarische Rezeptionsmuster auf ihn anwandte.130 Wie Beßlich betont, war die Debatte um Spengler in der Weimarer Republik nicht zuletzt auch ein »Streit um eine Textsorte«.131 Wer Spenglers Rhetorik als »pseudogeschichtswissenschaftliches Geschwätz« abqualifiziert, verfehlt Hermann Lübbe zufolge aber die Eigenheit und Eigenwilligkeit von Spenglers geschichtsphilosophischen Thesen.132 Tatsächlich zielte Spengler mit seinen gewaltsam konstruierten historischen Analogien133 keineswegs auf ein rein wissenschaftliches Geschichtsmodell. Vielmehr stellte er sie in den Dienst seiner politischen Absicht, Deutschland seiner weltgeschichtlichen Aufgabe bewusstzumachen, das heißt im Zeitalter des Cäsarismus zur hegemonialen Weltmacht emporzusteigen.134 Den Weg zu diesem imperium germanicum hatte Spengler den Deutschen 1919 in einer kurzen, aus Aufzeichnungen für den zweiten Band des Untergangs resultierenden Schrift gezeigt, die – so gibt er selbst an – den »Keim für diese ganze Philosophie«135 darstelle: den sogenannten preußischen Sozialismus. Mit diesem Begriff malte sich Spengler seine eigene Version des während der Kriegsjahre von nationalistischen Ideologen theoretisier127 128 129 130 131 132 133
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Ebd.,« 46. Ebd., 46-47. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, 139. Beßlich, »Kulturtheoretische Irritationen,« 46-47. Ebd., 45. Lübbe, »Historisch-politische Exaltationen,« 6. Mit beißendem Spott kommentiert Robert Musil in seinem Essay »Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind« (1921) Spenglers zentrale Denkform der Analogie wie folgt: »Spengler meint es quasi, arbeitet mit Analogien und in irgendeinem Sinne kann man da immer recht haben. […] Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelben Chinesen; in gewissem Sinne kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. […] Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum.« Robert Musil, »Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind,« in ders., Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, Hg. Adolf Frise (Hamburg: Rowohlt, 1955), 652. Vollnhals, »Praeceptor Germaniae«, 173. Spengler, Preußentum und Sozialismus, 3.
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ten nationalen Kriegssozialismus aus.136 Wie Spengler diese zwei auf den ersten Blick unvereinbaren Komponenten von altem, scheinbar obsolet gewordenem Preußentum und hochaktuellem Sozialismus in einer zeitgemäßen Synthese zusammenzubringen versuchte, wird in der folgenden Textanalyse nachgegangen.
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Merlio, »Die Herausforderung Spengler,« 54.
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»Macht, Macht und immer wieder Macht«: Oswald Spenglers Preußentum und Sozialismus (1919) Fisch ist nicht Fleisch. Fisch ist als Gegenbegriff und theoretisches Negativ des Fleisches das, was nicht Knochen ist. Fleisch ist als Gegenbegriff des Fisches das, was nicht Flosse ist. Also ist Fisch das, was nicht Knochen hat. Im Wesen des Knochens liegt die Verneinung der Flosse; was also Fleisch hat, kann keine Flossen haben. Das Fleisch widerspricht dem Fisch. – Leonard Nelson, Spuk137
Auch Spenglers im Dezember 1919 erschienenes politisches Traktat Preußentum und Sozialismus kannte einen außerordentlichen Erfolg. Im Mai 1920 war das Manifest schon beim 21.-30. Tausendsten angelangt, im Oktober 1932 ging das 75.-78. Tausendste in den Druck.138 Rückblickend rühmte sich Spengler dieser Streitschrift: »Von diesem Buche hat die nationale Bewegung ihren Ausgang genommen.«139 Diese Selbstpositionierung als nationalistische Avantgarde-Figur ist nicht ganz unberechtigt. Als eine der ersten und einflussreichsten publizistischen Kampfansagen an die neue Republik entzückte Preußentum und Sozialismus vor allem die nationalistische Jugend, die die Adressatin dieser Erziehungsschrift war: »An diese Jugend wende ich mich«140 , »Ich wende mich an die Jugend« (98), so macht Spengler am Anfang und Ende seines Textes klar. Während Spenglers direkte politische Einflussnahme eher gering war – er lavierte sich Anfang der 1920er Jahre durch die deutschnationalen Herrenklubs, bis sich mit dem gescheiterten Hitler-Putsch seine politischen Hoffnungen zerschlagen hatten –,141 wünschte er sich nichts lieber, als mit der Feder politisch wirksam zu sein.142 »Die Philosophie um ihrer selbst willen habe ich stets gründlich verachtet. […] Jede Zeile, die nicht geschrieben ist, um dem tätigen Leben zu dienen, scheint mir überflüssig«,143 erklärte er 1921 in seinem Aufsatz »Pessimismus?«. Auch nachdem sich Spengler resigniert aus der Tagespolitik zurückgezogen hatte, blieb das zentrale Ziel seiner publizistischen Tätigkeit politische Einflussnahme: »Jede Zeile sollte zum Sturz [jener Mächte] beitragen, die sich auf dem Berg unsers Elends und Unglücks mit Hilfe unserer Feinde verschanzt hatten«,144 schrieb er angesichts der deutschen Kriegsniederlage und Nelson, Spuk, 89. Vollnhals, »Praeceptor Germaniae,« 179. Oswald Spengler, Politische Schriften (München: C.H. Beck, 1933), VII. Oswald Spengler, Preußentum und Sozialismus (München: C.H. Beck, 1920), 5. Das Werk wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert. 141 Vollnhals, »Praeceptor Germaniae,« 179-182. 142 Dabei ist es auffällig, dass der Höhepunkt von Spenglers politischer Publizistik erst nach den Ereignissen von 1923 liegt, so weisen Arne De Winde und Oliver Kohns anhand von Spenglers politischen Reden nach. De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten. Adel und politische Mission in Spenglers politischen Reden,« Orbis Litterarum 71, 1 (2016): 76-98, hier: 79. 143 Spengler, »Pessimismus?,« 64. 144 Spengler, Jahre der Entscheidung, 13.
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der Novemberrevolution im Vorwort zu Jahre der Entscheidung (1933). Der in Preußentum und Sozialismus geäußerte Wunsch, »Täter, auch durch das Wort Täter sein [zu] können« (80), verrät das grundlegende Dilemma des ›antiintellektuellen Intellektuellen‹145 Spengler, dem er immer wieder zu entgehen versuchte, zum Beispiel durch die Analogisierung des »echte[n] Historiker[s]« mit dem »geborene[n] Staatsmann« in »Pessimismus?«.146 Dieses Verlangen nach politischer Wirksamkeit sowie die Selbststilisierung zum »Praeceptor Germaniae«147 wurde von Spenglers Zeitgenossen als verlogener und sogar lächerlicher ›Verrat des Intellektuellen‹ wahrgenommen.148 »Der Staatsmann Spengler [ist] zum Lachen«,149 so höhnt Ernst Bloch; nicht auf Nietzsche, sondern auf Spengler treffe Bloch zufolge die Formel des »nervösen Professor[s], der gern ein wüster Tyrann sein möchte«,150 zu. Tatsächlich war Spengler mit seiner Schrift Preußentum und Sozialismus endgültig zum Ideologen der ›Konservativen Revolution‹ geworden.151
Konservative Revolution Der auf den ersten Blick widersprüchliche Begriff ›Konservative Revolution‹ bezieht sich nicht auf eine zusammengeschlossene Gruppe von Schriftstellern und Intellektuellen mit einem festumrissenen Programm, sondern beschreibt vielmehr ein »heterogenes Netzwerk von – oft widersprüchlichen – politischen, ästhetischen und philosophischen Diskursen«,152 in denen Intellektuelle der Weimarer Republik gegen eine westlich-liberale Moderne anschrieben. Anders als der traditionelle Konservatismus des 19. Jahrhunderts präsentiert sich der konservativ-revolutionäre Diskurs nicht als rückwärtsgewandt oder reaktionär; er fordert vielmehr eine »Flucht nach vorn«.153 Wie Richard Herzinger darlegt, stellen die Denker der Konservativen Revolution dem westlichen, rein materialistischen Modernitätsdenken eine spezifisch »deutsche Moderne entgegen, in der die Errungenschaften westlicher Technik mit deutschem ›organischem‹ Ganzheits-
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Jeffrey Herf, Reactionary Modernism. Technology, Culture and Politics in Weimar and the Third Reich (Cambridge/London: Cambridge University Press, 1984), 56; De Winde, »Die ›politische Verbitterung des 19. Jahrhunderts‹,« 178. Spengler, »Pessimismus?,« 67. Vollnhals, »Praeceptor Germaniae,« 171. De Winde, Kohns, Aufgaben des Essayisten, 79. Vgl. auch Julien Benda, La trahision des clercs (Paris : Grasset, 1927). Bloch, »Spenglers Raubtiere,« 327. Ebd., 320. Merlio, »Die Herausforderung Spengler,« 54. De Winde, »Die ›politische Verbitterung des 19. Jahrhunderts‹,« 161. Für eine umfassende Typologie der Konservativen Revolution: Stefan Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1993). Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹ als Grundhaltung des Weimarer Neokonservatismus,« in Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage, 2. neubearbeitete und erweiterte Fassung, Hg. Manfred Gangl, Gérard Raulet (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2007), 395-409, hier: 398. Im Hinblick auf die Betonung der ›Flucht nach vorn‹ leuchtet die Behauptung Ernst Blochs, Spengler sei »kein rückwärtsgewandter Prophet, sondern ein vorwärtsgewandter Antiquar«, durchaus ein. Bloch, »Spenglers Raubtiere,« 324.
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denken fusioniert werden« sollen.154 Diese »Mischung aus Kulturpessimismus, technokratischem Optimismus und brutalem Vitalismus«155 ist Merlio zufolge charakteristisch für das konservativ-revolutionäre Denken. In dieser paradoxen Logik verschmilzt die (instrumentelle) Moderne organisch mit den elementaren Lebenskräften, um die krisenhafte Entfremdung der Moderne aufzuheben.156 Weil die Konservative Revolution »aus der Dynamik der Moderne die Energie […] zur Überwindung eben dieser Moderne«157 beziehen will, ist ihr weniger ein antimodernistischer als vielmehr ein ›übermodernistischer‹ Zug eingeschrieben. Herzinger bezeichnet die Konservative Revolution demzufolge als einen »deutsche[n] antiwestliche[n] ›Übermodernismus‹« oder einen »deutschen Überbietungs-Modernismus«.158 Diesen Gestus der Überbietung charakterisiert Herzinger als die »Grundfigur« der Konservativen Revolution.159 Die emphatische Bejahung der Moderne artikuliert allerdings keine tatsächliche Überwindung des Krisenbewusstseins. Vielmehr liegt ihr ein Verdrängungsmechanismus der Überkompensation oder der »Ultrakonformität«160 zugrunde. Sie ist, wie Merlio argumentiert, die psychopathologische Reaktion des ohnmächtig gewordenen deutschen Bildungsbürgers, der sich angesichts seiner Marginalisierung in der Industriegesellschaft danach sehnt, »auch um den Preis der Selbstaufgabe wieder zeitgemäß zu sein, wieder mit der Geschichte Schritt zu halten.«161 Nach dieser Leseart ist Spenglers Bekenntnis zur modernen Zivilisation letztendlich nichts anderes als die Projektion seiner eigenen Biografie auf die Biografie der Kultur, seine nationalistische Machtverherrlichung ein Ausdruck der eigenen (sozialen) Ohnmacht und Frustration.162 Ein letzter
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Richard Herzinger, »Kulturkrieg und utopische Gemeinschaft. Die ›Konservative Revolution‹ als deutscher antiwestlicher Gegenmodernismus,« in Sehnsucht nach Schicksal und Tiefe. Der Geist der konservativen Revolution, Hg. Volker Eickhoff, Ilse Korotin (Wien: Picus, 1997), 14-39, hier: 30. 155 Merlio, »Die Herausforderung Spengler,« 55. 156 Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹,« 405. Max Horkheimer betrachtet in Zur Kritik der instrumentellen Vernunft die »satanische Synthese von Vernunft und Natur« als das Merkmal schlechthin des Faschismus. Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Frankfurt a.M.: Fischer, 1986), 119. 157 Herzinger, »Kulturkrieg und utopische Gemeinschaft,« 30. 158 Ebd., 30, 35. 159 Richard Herzinger, »Die Überbietung als ästhetische und politische Grundfigur der ›rechten Moderne‹,« in Kunst – Macht – Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität, Hg. Rolf Grimminger (München: Wilhelm Fink, 2000), 105-126, hier: 105. 160 Merlio, »Urgefühl Angst,« 121. 161 Ebd., 407. 162 Wie Merlio argumentiert, wurzelt Spenglers Bejahung der kulturell unfruchtbar gewordenen Zivilisation nicht zuletzt auch in der eigenen künstlerischen Unfähigkeit. In seinen autobiografischen Notizen präsentiert sich Spengler immer wieder als der zuspätgekommene Kulturmensch. Seine zahlreichen Dramen- und Romanentwürfe, die nicht zufällig von an der Zeit scheiternden Künstlerpersönlichkeiten erzählen, zeugen von seinen frühen literarischen Ambitionen. Merlio, »Urgefühl Angst,« 108-109. Weiter wird die psychoanalytische Interpretation durch Spenglers autobiografische Aufzeichnungen untermauert. Darin offenbart sich eine Person, die »von Kind an die Sucht [hatte], Napoleon zu sein« (78), fiebernd von Großreichen wie ›Afrikasien‹ und ›Großdeutschland‹, von »Krieg und Sieg« (29) träumt, gleichzeitig aber von Selbstekel und Selbsthass, krankhaften Hemmungen und Ängsten aller Art erfüllt ist. Die Liste seiner Ängste ist nahezu endlos: Angst vor der Öffentlichkeit, vor Verwandten, vor Menschen im Allgemeinen, besonders »vor
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Rest Autonomie versteckt sich für die konservativ-revolutionären Denker paradoxerweise in der freiwilligen und somit heroischen Unterwerfung unter das Schicksal.163 »Ducunt volentem fata, nolentem trahunt« (4), so zitiert Spengler den Stoiker Lucius Annaeus Seneca am Anfang von Preußentum und Sozialismus und greift damit das Ende von Der Untergang des Abendlandes auf. Das Schicksal wird sich so oder so vollziehen,164 aber inmitten des Fatums ist es die Haltung, die dem Individuum eine voluntaristische Perspektive gewährt: »Man entgeht ihm [dem Schicksal] nicht, wenn man die Augen schließt, es verleugnet, bekämpft, vor ihm flüchtet. Das sind nur andere Arten es zu erfüllen.« (4) Deshalb soll man das Schicksal ›wollen‹, sich für das Schicksal ›entscheiden‹, sonst wird man schonungslos von ihm mitgezogen. In dieser ›heroisch-realistischen‹ Haltung – selbst spricht Spengler von »tapferer Skepsis« (98) oder »starke[m] Pessimismus«165 – erblickt Merlio in Anlehnung an Armin Mohler, den ersten Theoretiker der Konservativen Revolution, die »Grundhaltung« des konservativ-revolutionären Denkens.166 Der heroische Realismus erkläre und rechtfertige die Hinwendung des deutschen Konservatismus zur modernen technischen Zivilisation.167
What’s in a name? Schon der Titel Preußentum und Sozialismus ist für Spenglers Affinität mit dem konservativ-revolutionären Diskurs paradigmatisch. Erstens bringt er die produktive Spannung zwischen Traditionalismus und radikalem Umsturzdenken, Kontinuität und Diskontinuität zum Ausdruck.168 Wie in der Textanalyse gezeigt werden soll, höhlt Spengler die beiden auf den ersten Blick widersprüchlichen Begriffe ›Preußentum‹ und ›Sozialismus‹ semantisch aus, um sie in einer neuen Synthese zusammenzuzwingen:169 »Altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung, die sich heute mit dem Hasse von Brüdern hassen, sind ein und dasselbe.« (4) Schon dieses Zitat macht deutlich, dass mit Sozialismus nicht die SPD oder USPD, sondern ein metapolitischer Gesinnungssozialismus gemeint ist. Zweitens ist der Titel symptomatisch für die typisch konservativ-revolutionäre Vereinnahmung von traditionell linken politischen Begriffen wie ›Sozialismus‹,
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Weibern (sobald sie sich ausziehen)« (45), vor dem Beruf, dem Eintritt in einen Laden, der Welt, der Zukunft, dem Leben, Angst vor dem Entschluss, vor Versetzung, vor Verspätungen, vor Musik, Gewitter, Krieg, »vor allem Wirklichen« (78), schließlich Angst, anderen seine Angst zu zeigen. Spengler, »Ich beneide jeden, der lebt.« Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹,« 406-407. Dies verliert Spengler selber ab und zu aus dem Auge, zum Beispiel wenn er in seiner Rede »Aufgaben des Adels« (1924) die Hoffnung nährt, »unser Schicksal wenden« zu können. Spengler, »Aufgaben des Adels. Rede, gehalten am 16. Mai 1924 auf dem deutschen Adelstag in Breslau,« in Reden und Aufsätze (München: C.H. Beck, 1937), 89-95, hier: 92. Spengler, Jahre der Entscheidung, 32. Merlio, der sogenannte ›heroische Realismus‹,« 3; Armin Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918-1982 (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1989), 125. Mohler erweist sich in seiner Analyse der Konservativen Revolution aber zugleich als Apologet dieser Bewegung. Gilbert Merlio, »Spengler oder die dubiose Produktivität der Angst,« Vortrag gehalten am 3. Juni 2016 auf der Tagung COLLATERAL – a FRAME Symposium, PXL – MAD Hasselt, 1-11, hier: 1. De Winde, »Die ›politische Verbitterung des 19. Jahrhunderts‹,« 161. Beßlich, »Die Spengler-Debatte in der Weimarer Republik,« 50.
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›Revolution‹ oder auch ›Demokratie‹, von denen nur noch das formale Gerüst übrig bleibt, der Inhalt aber strategisch umgedeutet wird. Diese Umdeutung ist nationaler Natur: Die Begriffe bezeichnen einen deutschen Sozialismus, eine deutsche Revolution und eine deutsche Demokratie, wobei die deutsche zugleich die ursprüngliche und wahre Variante sei.170 Dieser Austausch von politischen Leitvokabeln über die politischen Fronten hinweg ist exemplarisch für die komplexe »Gemengelage«,171 die die Intellektuellendiskurse der Weimarer Republik darstellen. Diese überschreiten, vermischen und sprengen die herkömmlichen Aufteilungen in links versus rechts, Republikaner versus Antidemokraten oder Sachwalter der Moderne versus Befürworter der Tradition und dokumentieren so die politische Identitätskrise der Weimarer Republik.172 Wie JanWerner Müller argumentiert, wurde das Ende des Ersten Weltkrieges allgemein als ein fundamentaler Bruch wahrgenommen, der jede herkömmliche politische Legitimation fragwürdig machte.173 Genauso wie Sozialismus für Spengler nicht mit einer politischen Partei gleichzusetzen ist, wird auch der historische Staat Preußen weitgehend enthistorisiert und abstrahiert, darauf verweist schon das Suffix ›-tum‹ im Titel. Bereits im kulturpolitischen Essay Der preußische Stil (1916) des konservativ-revolutionären Denkers Arthur Moeller van den Bruck oder in Thomas Manns Kriegsessay Friedrich oder die große Koalition (1914/1915) fungiert Preußen als eine »absolute Idee«, mit der der westliche Liberalismus weltanschaulich bekämpft und die deutsche Nation gestärkt werden soll.174 Während Moeller in seiner Schrift die preußische Geschichte von den mythischen Anfängen bis zur Gegenwart verfolgt, zieht Mann historische Parallelen zwischen dem Siebenjährigen Krieg und dem Ersten Weltkrieg. Da, wo Moeller und Mann die preußische Geschichte noch ausführlich umreißen, löst Spengler als Erster den preußischen Staat aus seinem historischen Kontext heraus und stellt den preußischen ›Stil‹ – im Sinne eines bestimmten Ethos – in den Vordergrund.175 Zwar führt auch Spenglers Text historische Figuren wie Friedrich Wilhelm I., Friedrich II. oder Otto von Bismarck auf, aber diese werden lediglich als charismatische Personifizierungen von autoritativen Herrschaftskonzepten eingesetzt und aufgrund des vermeintlichen Ewigkeitscharakters ihrer Leistungen konsequent in die Gegenwart transponiert.176 So entstehen abstruse Thesen wie »Friedrich Wilhelm I. und nicht Marx ist […] der erste bewußte Sozialist gewesen« (42)
170 Vgl. Denis Goeldel, »›Revolution‹, ›Sozialismus‹ und ›Demokratie‹. Bedeutungswandel dreier Grundbegriffe am Beispiel von Moeller van den Bruck,« in Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, 79-92, hier: 80-81. 171 Gangl, Raulet (Hg.), Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengelage. 172 Ebd., Klappentext. 173 Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, aus dem englischen von Michael Adrian (Suhrkamp: Berlin, 2013), 32. 174 Detlef Felken. Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur (München: C.H. Beck, 1988), 107. 175 Ebd., 107. 176 Wolfgang Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft,« Geschichte und Gesellschaft 21, Sonderheft: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939 (2005): 61-90, hier: 76-77.
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und anachronistische Darstellungen wie Bismarck als »sozialistische[r] Imperialist« (35) oder Freiherr von Stein als der Begründer des »echt preußischen«, das heißt sozialistischen, das heißt nicht-marxistischen Rätesystems, auch wenn Stein diesen Gedanken »nicht ausgesprochen, vielleicht sogar bestritten« (61) hätte. Preußen und preußische Protagonisten fungieren in Preußentum und Sozialismus lediglich als eine Projektionsfläche für die Gegenwart, als ein Ideologem, das den zeitgenössischen Bedürfnissen entsprechend nach Belieben umgedeutet werden kann.177 Der preußische Staat dient vor allem als »Anreiz, Orientierung und Kraftgewinn für die Wiederherstellung einer deutschen Groß- bzw. Weltmachtstellung«178 nach dem verlorenen Weltkrieg. Im Licht dieser nationalen Machtwünsche wird die preußische Janusköpfigkeit in Spenglers Schrift strategisch ausgeblendet, damit ein widerspruchsfreies Bild entsteht. Preußen ist für Spengler die »Summe von Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist, Energie« (30) und anderen soldatischen Klischeemotiven wie Pflicht, Gehorsam, Leistung, Gemeingefühl und Opferbereitschaft; die Darstellung von Preußen als Hort von Aufklärung und Bildung kommt in seinen Schriften nicht vor. Das praxisorientierte Preußentum liefert die Munition für Spenglers schäumende Invektiven gegen das »tumbe Deutschtum«,179 das heißt gegen die »Haltung des deutschen ›Gebildeten‹ ohne praktische Begabung, des Professors, des Denkers und Dichters, aller, die schreiben statt zu handeln.« (50) Die Liquidierung dieser janusköpfigen Widersprüchlichkeit sowie die Enthistorisierung und Vergegenwärtigung machen Preußen zu einem politischen Mythos, auch wenn es für Spengler in der kulturell erschöpften Zivilisation de facto keine Mythen mehr, sondern nur noch Tatsachen geben kann. Aber auch in diesem entzauberten Zeitalter brauchen die Menschen Spengler zufolge Orientierung; das Ziel seiner Geschichtsphilosophie ist gerade, die Geschichte vorauszubestimmen und den Deutschen zeitgemäße Handlungsdirektiven an die Hand zu geben.180 Spengler, der mit seinem »kalten und klaren Blick«181 des »Geschichtskenners«182 »weiter [sieht] als andere«,183 ist für diese Aufgabe wie geschaffen. Die Rückbesinnung auf Preußen für die nationale Revitalisierung und den imperialistischen Aufstieg Deutschlands ist auf den ersten Blick evident. Besonders in der sogenannten borussianistischen Geschichtsschreibung184 wurde Preußen eine führen177
Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 18; De Winde, »›Die politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 162. 178 Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 88. 179 Spengler, »Ich beneide jeden, der lebt,« 15. 180 Gilbert Merlio, »Die mythenlose Mythologie des Oswald Spengler,« in Moderne und Mythos, Hg. Silvio Vietta, Herbert Uerlings (Paderborn: Wilhelm Fink, 2006), 207-225, hier: 219. 181 Spengler, »Pessimismus?,« 70. 182 Spengler, Jahre der Entscheidung, 14. 183 Ebd., 17. 184 Mit dem Begriff des Borussianismus wird nicht so sehr eine wissenschaftliche Theorie, als vielmehr eine politische Ideologie, ein »Komplex von Überzeugungen über Traditionen und Handlungsmaximen preußischer Politik mit unmittelbar praktisch-politischem Anspruch« (Hardtwig 1980, 266) gemeint, der dennoch seinen Ursprung in der Geschichtsschreibung, nämlich im Historismus hat. Wichtige Vertreter des borussianischen Geschichtsbildes sind Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen, Friedrich Meinecke und Heinrich von Treitschke. Zum einen geht die borussianische Ideologie von der ›deutschen Sendung‹ Preußens aus. Damit wird nicht nur die deutsche Eini-
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de Rolle im nationalen Einigungsprozess 1867-1871 zugemessen, die dafür gesorgt habe, dass Deutschland zu einer europäischen Großmacht emporsteigen konnte. Auch Spengler knüpft in Preußentum und Sozialismus und Jahre der Entscheidung an dieses gegen Versailles gerichtete Gründungsnarrativ an und richtet sich damit gegen die verhasste Weimarer Republik. Ähnlich wie Preußen 1870 für Deutschland den Weg zu einer machtbewussten politischen Existenz geebnet habe, so sei auch heute eine politische »Erziehung zu preußischer Haltung«185 notwendig. Bei näherer Betrachtung mag der Bezug auf Preußen für Deutschlands imperialistische Aufgabe allerdings überraschen, wird doch der Vertreter der sogenannten kleindeutschen (und großpreußischen) Lösung paradoxerweise für pangermanische Zielsetzungen instrumentalisiert.186 Auch wünscht sich Spengler keineswegs die Verfassung des alten Kaiserreichs zurück. Diese Umdeutung und ›Zurechtrückung‹ Preußens gemäß den gegenwärtigen politischen Bedürfnissen zeigt, mit den Worten Wolfgang Hardtwigs, vor allem die »ungemeine Plastizität bzw. Beliebigkeit und die damit verbundene umfassende Funktionalisierbarkeit des Mythos.«187 Im Folgenden wird mittels einer rhetorischen Detailanalyse von Preußentum und Sozialismus dargelegt, wie der phantasmatische Charakter dieser evident erscheinenden Umdeutungen gerade durch Spenglers exzessiv verwendete ›Logik‹ entlarvt wird. Dafür beziehe ich mich auf Arne De Windes Lektüre von Preußentum und Sozialismus, die ich erweitern und vertiefen möchte. Wie De Winde argumentiert, kennzeichnet sich Spenglers Werk durch einen restlosen Kategorisierungs- und Systematisierungszwang, der ihn dazu nötigt, die fest geschraubten Kategorien und endgültigen Definitionen immer wieder zu modifizieren und umzuverteilen,188 was sie letztendlich als leere Projektionsflächen demaskiert. Die Fokussierung auf die eigenwillige Rhetorik des Rhetorikkritikers Spengler bedeutet aber nicht, dass die ideologischen und politischen Digung unter der Führung Preußens 1871 gemeint; das Narrativ versetzt den preußischen Dienst an Deutschland bis in die Zeit des Westfälischen Friedens zurück. In diesem Sinne habe Bismarck ein Projekt vollendet, das Mitte des 17. Jahrhunderts begonnen habe. (Münkler 2010, 225) Zum anderen bereitete der Borussianismus die Superioritätsthese von Deutschlands Weltmission vor. Dabei wird argumentiert, dass Preußen-Deutschland mit der konstitutionellen Monarchie die für alle Staaten exemplarische Form staatlicher Herrschaft hervorgebracht habe. Deswegen komme Deutschland die Aufgabe zu, die Weltfriedensordnung zu garantieren. (Hardtwig 1980, 312) Dieses Geschichtsbild, das Schulbücher, Historiografie wie Literaturgeschichtsschreibung weitestgehend geprägt hat, machte Preußen zum Pars pro Toto für Deutschland, eine rhetorische Strategie, deren Wirkungen sich bis auf den heutigen Tag erstrecken. (Grabbe 2014, 190) Hardtwig, »Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt«; Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 255, Grabbe, Image und Imaginäres, 190. 185 Spengler, Jahre der Entscheidung, 16-17. Allerdings kritisiert Max Weber 1895 die defizitäre politische ›Erziehungsarbeit‹ der Deutschen durch Preußen. Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 74. In seiner Invektive gegen das ›Preußentum‹ behauptet Georg Lukács, das wie alle anderen Territorialfürstentümer partikularistisch angelegte Preußen sei das »wichtigste Hindernis für die nationale Einheit« Deutschlands gewesen: »Die vor allem von Treitschke verbreitete Legende, Preußen habe von Anfang an die Vereinigung Deutschlands erstrebt, ist historisch vollständig unhaltbar.« Lukács, »Über Preußentum,« 31. 186 Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 30. 187 Ebd., 67. 188 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 178-179.
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mensionen von Spenglers Traktat unberücksichtigt bleiben. Inhalt und Form, Ideologie und Argumentationsstil sind bei Spengler untrennbar verbunden. Spenglers These der Isoliertheit und Gegensätzlichkeit von Kulturen und Nationen ruft zum Beispiel die auf Dichotomien basierende Textstruktur von Preußentum und Sozialismus hervor.
Nationale Typologien Nach einer einführenden Notiz über die Entstehungsgeschichte der Streitschrift fängt Spengler mit einem exordium ex abrupto an: »Das Wort Sozialismus bezeichnet nicht die tiefste, aber die lauteste Frage der Zeit. Jeder gebraucht es. Jeder denkt dabei etwas andres. Jeder legt in dieses Schlagwort aller Schlagworte das hinein, was er liebt oder haßt, fürchtet oder wünscht. Aber niemand übersieht die historischen Bedingungen in ihrer Enge und Weite.« (3) Was Spengler sichtbar irritiert – das macht schon die nachdrückliche Wiederholung von »jeder« deutlich – ist die willkürliche Verwendung des Begriffs ›Sozialismus‹ als hohles »Schlagwort«, in das jedermann persönliche Träume oder Ängste hineinprojiziere. Dabei sei niemand in der Lage, die historischen Voraussetzungen und Zusammenhänge zu überschauen – natürlich bis auf einen Einzigen. Denn auch in Preußentum und Sozialismus überfliegt Spengler Zeiten und Räume, vom numidischen König Jugurtha (92) zum »Wahlengländer« (79) Marx, zurück zu Don Quijote – »de[m] spanische[n] Faust!« (26) – und wieder in die Gegenwart hinein, um so die einzig korrekte Analogie aus dem historischen Thesaurus hervorzuzaubern. Hauptanliegen seines Textes ist es, den Begriff ›Sozialismus‹ von den zahlreichen Fehlverwendungen zu befreien und ihn auf dessen ursprüngliche und deshalb auch einzig legitime Bedeutung zurückzuführen. Demzufolge wird die Vokabel von Spengler noch ein letztes Mal vereinnahmt und umgedeutet, um dem Projizieren dann endgültig Halt zu gebieten.189 Oder wie es im dogmatischen Tonfall heißt: »Wenn aber Sozialismus nicht Marxismus ist – was ist er dann? Hier steht die Antwort.« (3) Spenglers Philippika richtet sich also im Wesentlichen gegen eine bestimmte Auslegung des Begriffs, nämlich die marxistische. Demzufolge setzt er den Marxismus als unmittelbares Antonym von Sozialismus ein. Marx sei nur der »Stiefvater des Sozialismus« (3); er habe eine »zum Leib, zum Geist gewordne Idee« (10) zu einem oberflächlichen Ideal, den »wirkliche[n], instinktive[n] Sozialismus« zu einer »Theorie ausgedörrt« (81) und dasjenige, was Sache des »Blutes« sei, auf ein Stück »Papier« reduziert. (3) Diese nebelhafte theoretische Konstruktion habe den Menschen nur »den Kopf verwirr[t]«. (4) Damit sei »die Aufgabe gestellt: es gilt, den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien. Den deutschen, denn es gibt keinen andern. Auch das gehört zu den Einsichten, die nicht länger verborgen bleiben. Wir Deutsche sind Sozialisten, auch wenn niemals davon geredet worden wäre. Die andern können es gar nicht sein.« (4) Nicht nur erscheint Spengler hier als eine Art Whistleblower, der es heute als Einziger »wagt […], die Antwort zu wissen.« (4) Wie auch De Winde bemerkt, klingt in diesem Zitat schon Spenglers zentrale Definitionsstrategie an, die darauf fußt, essenzialistische Überlegungen mit dem Nationalen zu verschmelzen und so einen radikalen Gegensatz zwischen ›wir‹ und ›den andern‹ 189 Ebd., 163.
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zu generieren.190 Spengler definiert den Sozialismus als eine »Lebensform«(22), »Daseinsform« (98), ein unumgängliches deutsches »Schicksal«. (4) In Spenglers deterministischer Logik ist dieser angeborene sozialistische »Lebensstil« (14) nicht nur unausweichlich und »unveränderlich« (14, 22), sondern auch unübertragbar, das heißt »jedem ganz und allein eigen und keinem andern mitteilbar« (14), »so eigen, daß kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen« (7) vermag. Genauso wie es für die Deutschen keine andere Möglichkeit gebe, als Sozialisten zu sein, können die anderen es gar nicht sein. Die Abschottung zwischen Völkern und Nationen stellt sich in Preußentum und Sozialismus als total und absolut heraus, darauf weisen nicht zuletzt die emphatischen Wendungen »ganz und allein eigen« und »so eigen« hin. Diese superlativische Präzisierung, die aber im Grunde genommen nicht weiter präzisiert, sondern bloß auf eine »tautologische[…] Nullinformation«191 hinausläuft, deutet allerdings schon an, dass auch inmitten des Wir Grenzen gezogen und Ausschlussmechanismen in Gang gesetzt werden. Wenn Spengler zum Beispiel behauptet: »Jeder echte Deutsche ist Arbeiter. Das gehört zum Stil seines Lebens« (10-11), dann fungiert dieser »unveränderliche Lebensstil« (14) in Wirklichkeit als ein Ausleseprinzip, das einige Deutsche ›echter‹ als andere Deutsche oder gar »echtest« (7) erscheinen lässt. Wie noch ausführlicher gezeigt wird, gestaltet Spengler seine essenzialistischen Kategorisierungen also paradoxerweise fortwährend um. Ausgangspunkt für Spenglers nationale Typologien ist seine schon adressierte monadologische Kulturphilosophie, wie das zweite, aus dem Untergang des Abendlandes übernommene kurze Kapitel »Sozialismus als Lebensform« verdeutlicht. Alle (übernationalen) Hochkulturen verfügen über ein »unveränderliches Ethos« (22), so erklärt Spengler am Anfang dieses Kapitels. »Jedes dieser Gebilde ist in sich selbst vollendet und unabhängig. Historische Einwirkungen […] haften am Äußerlichsten; innerlich bleiben Kulturen, was sie sind.« (22) Von Kulturen ist nur auf diesen dreieinhalb Seiten die Rede; im Übrigen spricht Spengler von Nationen oder Völkern. Was schon im Untergang durchschimmerte, nämlich dass Spenglers ›innovativer‹ Kulturrelativismus von seinem (per definitionem auf Ausschluss basierenden) Nationalismus gespeist wird,192 ist in Preußentum und Sozialismus unübersehbar. Spätestens diese Schrift entlarvt die These als unhaltbar, Spengler habe aufgrund seines Differenzdenkens das herkömmliche ethno- und eurozentrische Denken überwunden.193 Die Hervorhebung von Pluralität dient lediglich der Überhöhung der eigenen Kultur und führt inmitten des abendländisch-faustischen Kulturkreises zur Verherrlichung des eigenen Volkes oder der eigenen Nation. Sie mündet in Fremdenfeindlichkeit, auch wenn Spengler immer wieder seine Unparteilichkeit hervorhebt. Seine Kulturvorstellung impliziert eine Art »psychischen Rassismus«, der, wie Merlio betont, die »Vorstufe zur biologischen
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Ebd., 163. Thomé, »Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur,« 206. Merlio, »Einleitung,« in Spengler – Denker der Zeitenwende, 9-10. So behaupten zum Beispiel Engels, Otte und Thöndl: »Was soll man zu einem Denker sagen, der als einer der ersten den Eurozentrismus überwand und dafür plädierte, jede Kultur an ihren eigenen Maßstäben zu messen […]?« Engels, Otte, Thöndl, »Einhundert Jahre Untergang des Abendlandes (1918-2018),« 9.
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Rassentheorie« bildet, eine These, die angesichts Spenglers stark vom Sozialdarwinismus geprägter politischer Theorie an Plausibilität gewinnt.194 Schon Adorno behauptet in seinem Aufsatz »Was Spengler Right?« Ähnliches: »Spengler indulged in a mythologisation of ›culture-souls‹ which could lead only to the relativistic extremism in which reason apparently exhausts itself in the social and psychological activities of individual peoples. From this it was only a step to the mad racial anthropologies which flowered in the Third Reich«.195 Auch Georg Lukács stellt in Die Zerstörung der Vernunft (1954) eine Kontinuität zwischen Spenglers Kulturkreislehre und der Rassentheorie des ›Dritten Reiches‹ fest: »Die solipsistische Wesensart der historischen ›Gestalten‹ ist das methodologische Vorbild für die faschistische Rassentheorie.«196 Zwar lehnte Spengler die darwinistisch angelegte Rassenlehre entschieden ab. Das »platte« Kausalitätsdenken des Darwinismus mache »den gesamten seelischen Zustand von der Einwirkung materieller Faktoren kausal abhängig« und sei »in der ganz besonders platten Fassung Büchners und Haeckels die Weltanschauung des deutschen Spießbürgers geworden«. (38) Zugleich aber hegt Spengler ein ambivalentes Verhältnis zu den biologistischen und eugenetischen Diskursen, die in den 1920er Jahren an Bedeutung gewinnen.197 Darauf weist nicht nur die Verwendung von Vokabeln wie »Instinkt«, »Blut« oder »Rasse« hin, sondern auch – wie noch besprochen wird – die Idee der Zucht.
Nationale Typologien (1): Frankreich, England, Preußen Die nationalen Typologien werden schon im ersten Kapitel »Die Revolution« klar umgrenzt, drohen aber gerade durch einen »Exzess der Kategorisierung«198 zusammenzubrechen. Spengler unterscheidet drei Typen von Revolutionen, die dem »Instinkt« der drei spätabendländischen Völker, das heißt dem französischen, englischen und »deutschen, genauer preußischen« (15) Instinkt entsprechen und deshalb nicht auf andere Völker übertragen werden können. Frankreich gelte als das »klassische Land westeuropäischer Revolutionen«: »Der Schall tönender Worte, die Blutströme auf dem Straßenpflaster, la sainte guillotine, die wüsten Brandnächte, der Paradeton auf der Barrikade, die Orgien rasender Massen – das alles entspricht dem sadistischen Geist dieser Rasse.« (11) Das Ergebnis der Revolution kümmere den Franzosen weniger als die »blutigen Szenen«, an denen sie gar »Freude« erleben: »Denn ohne Menschenköpfe auf Piken, Aristokraten an der Laterne, von Weibern geschlachtete Priester wäre er nicht zufrieden.« (12) Gegenüber dem französischen Blutrausch betont Spengler den nüchternen und diplomatischen Charakter der Engländer, die nicht wie die Franzosen die »Mittel« der Revolution, sondern lediglich deren »Zweck wollen«: »Der Engländer sucht den inneren Feind von der Schwäche seiner Position zu überzeugen. Gelingt es nicht, so greift er ruhig zu Schwert und Revolver und zwingt ihn, ohne revolutionäre Melodramatik.«
194 Merlio, »Über Spenglers Modernität,« 117. 195 Adorno, »Was Spengler Right?,« 29. 196 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Bd. II (Darmstadt/Neuwied: Hermann Luchterhand, 1973), 146. 197 De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 88. 198 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 164.
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(11) Die Deutschen dagegen »sind keine Revolutionäre« (11), sie »bringen es nur zu Karikaturen von beiderlei Art« (12). Als »Prinzipienreiter, Schulfüchse, Schwätzer in der Paulskirche und in Weimar« (13) seien sie lächerliche Epigonen der englischen Revolution, als marxistische Novemberrevolutionäre erscheinen sie als bloße »Nachäffer« (13) der französischen Jakobiner, deren gewaltige Politik von »Blut und Eisen« (12) in der deutschen Revolution durch eine »überwältigende Feigheit« (12) ersetzt worden sei. Schon hier beginnen die nationalen Typologien zu verschwimmen. Denn wurde der »erste Akt der deutschen Revolution« (8) – die es dem nicht-revolutionären oder gar »antirevolutionären« (15) Charakter der Deutschen entsprechend im Grunde genommen gar nicht geben kann –, das heißt die »Revolution in den Fraktionszimmern« (8), mit anderen Worten die Friedensresolution am 19. Juli 1917, eben noch als »Staatsstreich des englischen Elements« (8) dargestellt, dann wird er auf der nächsten Seite als »Bastillesturm« (9) beschrieben und scheint somit doch eher dem französischen Charakter zu entsprechen. Weiterhin ist es bemerkenswert, dass gerade die ständig als chaotisch und anarchisch porträtierte revolutionäre Politik der Jakobiner anhand des preußischen Leitspruchs »Blut und Eisen« des ›Eisernen Kanzlers‹ Bismarck charakterisiert wird. Gerade dieser antirevolutionäre Politiker, der die nationale Einigung von oben auferlegt hat, wird im Text als revolutionär handelnder Reichsgründer dargestellt, indem Spengler neben 1813 und 1914199 auch 1870 als Eckdatum einer ›echten‹, mit anderen Worten preußischen Revolution, das heißt »deutschen sozialistischen Revolution« (12), das heißt einer Revolution des »ganzen Volkes« (12) erwähnt. (37) Im nichtrevolutionären Deutschland gibt es offensichtlich zwei Arten von Revolutionen: erstens eine Schein- oder Pseudorevolution wie die »Biedermeierrevolution von 1848« (8) und die Novemberrevolution von 1918, die Spengler mittels negativ konnotierter Theatermotive (z.B. »Akt«, »Nachäffer«, »Schauspiel«, 10, »Lüge«, 11, »Farce«, 16) beschreibt, und zweitens eine echte, nationale Revolution, die, wie Herzinger dargelegt hat, für die konservativ-revolutionären Denker keine bloße Negation, sondern eine »Überbietung der proletarischen Revolution« bedeutet.200 Die drei Revolutionstypen der drei spätabendländischen Völker seien nicht, wie die antiken Revolutionen, defensiver Art, sondern entrollen eine »Machtfrage« (14), die auf die grundlegende Unterscheidung zwischen einer Herrschaft des Einzelnen und einer des Kollektivs hinauslaufe. Sie gehe jeweils mit einer bestimmten Staatsform einher, die »ein Volk in Wirklichkeit niemals […] wählen« (17), sich dafür aber wohl ›entscheiden‹ kann. »Der englische Instinkt entschied: die Macht gehört dem einzelnen. Freier Kampf des einen gegen den andern; Triumph des Stärkeren: Liberalismus, Ungleichheit. Kein Staat mehr.« (14) Dieser Instinkt entspreche der politischen Fassung des »liberalen Parlamentarismus«. (14) »Der französische Instinkt« seinerseits besage: »die Macht gehört
199 Auch in Jahre der Entscheidung wird das mythische ›Augusterlebnis‹ von 1914, das heißt die soziale Unterschiede nivellierende, patriotische Kriegsbegeisterung beim Anfang des Ersten Weltkriegs, als Manifestation der »preußischen Haltung« schlechthin beschrieben. Spengler, Jahre der Entscheidung, 16-17. 200 Herzinger, »Die Überbietung als ästhetische und politische Grundfigur der ›rechten Moderne‹,« 105.
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niemand. Keine Unterordnung, also keine Ordnung. Kein Staat, sondern nichts: Gleichheit aller, idealer Anarchismus«. (14) Diese bedrohliche politische ›Unform‹ klassifiziert Spengler als »gesellschaftliche Demokratie« (14), einen Begriff, den er aber auch für die Beschreibung des englischen politischen und sozialen Systems verwenden wird. Schließlich unterscheidet er den »deutsche[n], genauer preußische[n] Instinkt«, der »entschied«, dass »die Macht dem Ganzen [gehört]. Der einzelne dient ihm. Das Ganze ist souverän. Der König ist nur der erste Diener seines Staates (Friedrich der Große). Jeder erhält seinen Platz. Es wird befohlen und gehorcht.« (15) Dieser Instinkt entspreche der politischen Fassung des »autoritative[n] Sozialismus, dem Wesen nach illiberal und antidemokratisch, soweit es sich um englischen Liberalismus und französische Demokratie handelt.« (15) Dabei deutet das einschränkende »soweit« erneut auf eine Umverteilung der scheinbar festen Kategorien hin.201 Während englisch und liberal einerseits, französisch und demokratisch andererseits gerade noch ein jeweils untrennbares begriffliches Tandem bildeten, ist einige Zeilen später von einem »spezifisch preußischen« Liberalismus und einer »spezifisch preußischen« Demokratie die Rede. (15) Was Liberalismus in einem preußischen Sinne bedeuten könnte, bleibt bei Spengler dahingestellt. Die Möglichkeit eines alternativen demokratischen Systems im preußischen Sinne adressiert er hingegen mehrmals. Demokratie sei die kennzeichnende und unausweichliche politische Form des eingebrochenen zivilisatorischen Zeitalters: »Demokratie, man mag sie schätzen wie man will, ist die Form dieses Jahrhunderts, die sich durchsetzen wird. Es gibt für den Staat nur Demokratisierung oder nichts. […] Aber wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie. Wir haben eine eigne.« (98) Demzufolge wird die »Demokratisierung im preußischen Sinne« (99) streng von der französischen und englischen Variante abgegrenzt. Während sich »Demokratie im französischen Sinne« auf anarchistische Weise gegen »eine Ordnung überhaupt« richte (44), bedeute Demokratie im kapitalistischen England »die Möglichkeit für jedermann, reich zu werden.« (44) »In Preußen«202 hingegen erweise sich Demokratie als »die Möglichkeit, mithilfe »seine[r] Fähigkeiten« (44), mit anderen Worten durch »Leistung« (61), »jeden vorhandenen Rang« (44) zu erreichen. Das den Staat strukturierende Prinzip des Ranges macht deutlich, dass eine preußische Demokratie keineswegs politische Gleichberechtigung anpeilt, sondern im Gegenteil eine »Auslese […] begabte[r] Persönlichkeiten verbürgt«. (61) Diese hierarchische Struktur wird dann mithilfe eines klassenübergreifenden Arbeits- und Pflichtethos scheinegalisiert: In Deutschland sei »Arbeit die allgemeine Pflicht« (61) und »jeder echte Deutsche […] Arbeiter«. (10) Dabei hebt Spengler die sittliche Gleichwertigkeit der unterschiedlichen Arbeitsleistungen durch die staatstragenden »Berufsstände« (61) hervor: »Es gibt – das ist preußische Demokratisierung – keinen Unterschied in der sittlichen Würde der Arbeit: der Richter und Gelehrte ›arbeiten‹ so gut wie der Bergmann und Eisendreher.« (77) Im preußischen demokratischen System gibt es keine politischen Parteien. Es sei stattdessen eine »Berufsgemeinschaft«
201 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 164. 202 Durch diese geografische Andeutung verstrickt sich Spengler erneut in einem Widerspruch, hebt er in Preußentum und Sozialismus doch hervor, dass Preußentum, und also auch preußische Demokratisierung, keineswegs einer geografischen Lage entspreche. (29)
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(36), die von der Armee, dem Beamtentum und der Arbeiterschaft im Sinne der inzwischen aufgelösten soldatisch-autoritativen Arbeiterpartei August Bebels getragen wird. Mit ›Demokratie‹ wird also erneut ein politischer Schlüsselbegriff der Weimarer Republik – Werner Conze spricht sogar von einer »Demokratie-Renaissance«203 nach 1918 – vereinnahmt und strategisch umgedeutet.
Nationale Typologien (2): Spanien, England und Preußen vs. Frankreich und Italien oder Sozialismus vs. Anarchismus Die drei unvereinbaren Typen der spätabendländischen Völker versucht Spengler im zweiten und dritten Kapitel – »Sozialismus als Lebensform« und »Preußen und Engländer« – in einen größeren historischen Zusammenhang einzuflechten. So will er nachspüren, »woher dieser Geist des deutschen Sozialismus stammt« (21) und diesen zugleich vom Ethos der anderen Völker abgrenzen. Dafür zieht er neue national-typologische Grenzen und deutet Begriffe, die er im ersten Kapitel fest umrissen hatte, erneut um. Der Ausgangspunkt seiner historischen Erzählung ist der Übergang um 1800 von Kultur zu Zivilisation im abendländischen Kulturkreis, dessen faustisches Ethos sich durch »seinen unersättlichen Willen nach Unendlichkeit auszeichnet.« (23) Bedeutete dieser Hunger nach Unendlichkeit im Zeitalter der Kultur noch das Verlangen nach »innere[n] Weiten« und »Seelenräume[n]«, so habe er sich in der Zivilisation auf das »körperhaft Wirkliche« ausgedehnt: »Gewalt der Ideen wird Imperialismus.« (23) Als Synonym dieses »moderne[n] Imperialismus« verwendet Spengler den »modernen Sozialismus«. (24) »Sozialismus in diesem späten Sinne« (23) ist also nichts anderes als der zivilisatorische Ausdruck des abendländisch-faustischen »Willen[s] zur unbedingten Weltherrschaft im militärischen, wirtschaftlichen, intellektuellen Sinne«. (23) Dieser »moderne Sozialismus« sei daher »das Gemeinsame in uns. Es wirkt in jedem Menschen von Warschau bis San Franzisko«. (24) Die am Anfang des Textes formulierte These, Sozialismus sei dasjenige, das ›uns Deutsche‹ von ›den anderen‹ trenne (»Wir Deutschen sind Sozialisten. Die anderen können es gar nicht sein.«), scheint also nicht immer zuzutreffen. Die vermeintlich absolute Vokabel ›Sozialismus‹ fächert sich in eine engere und eine weitere Bedeutung aus: die des preußisch-deutschen autoritativen Sozialismus und die des allgemein spätabendländischen sozialistischen Willens zur planetarischen Allmacht. Durch diese Begriffserweiterung kann es zum Beispiel auch einen »›kapitalistischen‹ Sozialismus« (45) (allerdings in Anführungszeichen) geben, auch wenn Spengler die Gegenüberstellung von englischem Kapitalismus und preußisch-deutschem Sozialismus am Anfang des ersten Kapitels als die Grundopposition des heutigen Abendlandes, als »die letzte große Seelenfrage des faustischen Menschen« (7) bezeichnet hat. Diese Relativdefinition wird noch weiter relativiert, indem es zum Beispiel auch einen Sozialismus im allzu engen Sinne, nämlich den »Sozialismus marxistischen Stils« (49) gibt, oder einige abendländische Völker den ihnen gemeinsamen »Sozialismus im späten Sinne« doch »in einem bedeutsameren Sinne« (29) austragen. ›Sozialismus‹ erscheint bei Spengler also als ein 203 Werner Conze, »Demokratie,« in Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexicon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. I, Hg. Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Stuttgart: Klett-Cotta, 1972), 821-899, hier: 896.
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fluktuierender Begriff, der im Laufe des Textes permanent modifiziert und verschoben wird.204 Die folgende Tabelle listet die vielen von Spengler (oft willkürlich) erwähnten Formen des Sozialismus auf. Tabelle 1 deutscher Sozialismus
Milliardärsozialismus
echter Sozialismus
Sozialismus marxistischen Stils
autoritativer Sozialismus
Sozialismus in einem höheren Sinne
Sozialismus in diesem späten Sinne
Sozialismus, rein technisch gesprochen
moderner Sozialismus
wirklicher, instinktiver Sozialismus
Sozialismus in einem großen Sinne
internationaler Sozialismus
spanisch-kirchlicher Sozialismus
Pseudosozialismus
englisch-kapitalistischer Sozialismus
französischer Sozialismus
preußisch-autoritativer Sozialismus
westlicher Sozialismus
Sozialismus in einem bedeutsameren Sinne
östlicher Sozialismus
Sozialismus in seiner tiefsten Bedeutung
Wirtschaftssozialismus (Jahre der Entscheidung)
bewußter Sozialismus
Arbeitersozialismus (JdE)
Privatsozialismus
Programmsozialismus (JdE)
Drei Völker des Abendlandes haben den modernen Sozialismus laut Spengler »in einem großen Sinne« (26) verkörpert: die Spanier, die Engländer und die Preußen. Denn nur diese haben der europäischen Zivilisation sozialistische (im weiten Sinne) »Universalideen« (29) gegeben, nämlich den Ultramontanismus (Spanien), Kapitalismus (England) und Sozialismus in einem engeren Sinne (Preußen). Deren sozialistischem »Weltgefühl« stellt Spengler den »anarchischen Gegensinn« der Franzosen und Italiener gegenüber. (26) In ihrem »Protest gegen die Tiefe und Weite des faustischen Weltbewußtseins« seien die Franzosen und Italiener »Nächstverwandte« (26), was Spenglers These der radikalen Isolierung zwischen Kulturen und Nationen widerspricht. Im sozialistischen Lager weisen Spanien und Preußen aufgrund ihrer Betonung der »Pflichterfüllung« und des ›Dienens‹ »verwandte Züge« auf (27), wobei Pflicht und Dienst im Grunde genommen nichts anderes bedeuten als die totale Selbstentsagung und Verdinglichung des Individuums angesichts der »großen Mission« des nationalen Kollektivs: »kein ›Ich‹, sondern ein ›Es‹.« (27) Dieser »starke[…] und strenge[…] Lebensstil« (27) der Spanier und Preußen sei nach innen zwar entsagungsvoll, trage nach außen aber ihre Macht zur Schau, indem sich der spanisch-preußische Geist »den Planeten erobern [will], ein Reich, in dem die Sonne nicht untergeht.« (27) Diese Verwandtschaft führt zu eigenartigen Analogien wie »Bismarck war der letzte Staatsmann spanischen Stils« oder »Im Herzog Alba, dem Mann der großen Pflichterfüllung, hätten wir verwandte Züge finden sollen.« (27)
204 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 165.
1. Oswald Spengler
Dabei weist »Stil« nicht nur auf ein Ethos, sondern auch auf eine bestimmte Ästhetik hin. Spengler bezieht sich auf die ästhetischen Kategorien des Barock, der Gotik und der Renaissance, die er aber lediglich zur Untermauerung seiner dichotomisch angelegten Weltanschauung einsetzt. Die italienisch-französische Renaissance und die spanische Gotik präsentiert er zum Beispiel als diametrale Gegensätze: Im 15. Jahrhundert habe sich der gotische Geist »mit seinem ungeheuren Hang zum Grenzenlosen« gegen die Renaissance, das heißt gegen den »antigotische[n] Wille[n] zur begrenzten Kunst und zierlichen Gedankenbildung« aufgelehnt. (26) Dass Spengler sich nicht für historische Genauigkeit, sondern für weltanschauliche und politische Bedeutungen von Kunst- und Baustilen interessiert, zeigt auch die recht willkürliche Häufung von unterschiedlichen Kunstrichtungen.205 So habe der »preußische Stil« den »spanisch-gotischen Geist des Barock«, das heißt ein »Ideal von […] Strenge und Entsagung«, »wieder ins Dasein gerufen«. (27) In diesem Zitat verdichten sich einige nicht zusammenpassende Aspekte zu einer scheinbar widerspruchsfreien Ganzheit, was für die Schreibweise der Weltanschauungsliteratur charakteristisch ist.206 Denn was ist mit einer ›barocken Entsagung‹, als Antipode zum ›zierlichen‹ Stil der italienischen Renaissance, gemeint, ist doch der Barock gerade ein Kunst- und Baustil mit großem Prunk? Warum wird der Barock automatisch mit Spanien und nicht mit Italien, woher er stammt, assoziiert, ja stellt er sich gerade als nicht-italienischer Stil heraus? Und was macht die Gotik und der Barock einwechselbar? Beiden Stilen ist ein monumentaler Hang zur Größe gemeinsam, die Spenglers expansive faustische Weltanschauung verkörpert und zugleich ästhetisch verbrämt.
Nationale Typologien (3): Preußen vs. England oder Staat vs. Nichtstaat Nach dieser kurzen und skizzenhaften Präsentation des fünfköpfigen abendländischen Weltgerüstes (Spanien, England, Preußen, Frankreich, Italien) lenkt Spengler das Augenmerk auf die titeltragenden Figuren des dritten Kapitels: »Preußen und Engländer«. Anders als die Konjunktion im Titel suggeriert, seien die germanischen Völker innerlich zutiefst zerspalten. Die Engländer und Preußen, die 1763 mit dem Frieden zu Fontainebleau und zu Hubertusburg nach dem Siebenjährigen Krieg auf den weltpolitischen Plan getreten seien und somit den Übergang von der romanischen Kultur zur (germanischen) Zivilisation vollzogen haben, vertreten laut Spengler zwei »sittliche Imperative gegensätzlichster Art« (31), die beide um die absolute Vormacht ringen. Der Löwenanteil des Textes bemüht sich darum, diesen Gegensatz anhand eines stereotypen (Tugend-)Kataloges von nahezu austauschbaren nationalen Oppositionspaaren darzulegen.
205 Diese Verbindung von Ästhetik und Politik, (Bau-)Kunst und Weltanschauung ist das zentrale Motiv von Der preußische Stil von Arthur Moeller van den Bruck. Die Idee, dass sich das Wesen oder der Geist eines Volkes oder einer Nation in der Kunst und besonders in der Architektur offenbare, war aber nicht neu. Eine der einflussreichsten Schriften in dieser Hinsicht ist Rembrandt als Erzieher (1890) von Julius Langbehn, ein weiterer Verkaufsschlager im Genre der Weltanschauungsliteratur. Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen (Leipzig: Hirschfeld, 1890). 206 Beßlich, »Kulturtheoretische Irritationen,« 56-57.
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Dieser schematischen Erzählung schickt Spengler einen Exkurs über ›Preußentum‹ voraus. Auf gar keinen Fall möchte er über diesen Begriff »mißverstanden werden« (29), was allerdings – und »selbstverständlich«207 – passiert sei, so ärgert er sich rückblickend in Jahre der Entscheidung. In Preußentum und Sozialismus umreißt er den Begriff ›Preußentum‹ im apodiktischen Tonfall wie folgt: »[S]o gilt doch dies: Preußentum ist ein Lebensgefühl, ein Instinkt, ein Nichtanderskönnen: es ist ein Inbegriff von seelischen, geistigen und deshalb zuletzt doch auch leiblichen Eigenschaften, die längst Merkmale einer Rasse geworden sind, und zwar der besten und bezeichnendsten Exemplare dieser Rasse. Es ist längst nicht jeder Engländer von Geburt ein ›Engländer‹ im Sinne einer Rasse, nicht jeder Preuße ein ›Preuße‹. In diesem Worte liegt alles, was wir Deutschen nicht an vagen Ideen, Wünschen, Einfällen, sondern an schicksalhaftem Wollen, Müssen, Können besitzen. […] Es gibt echt preußische Naturen überall in Deutschland […] und es gibt seit Roßbach und Leuthen unzählige Deutsche, die tief in ihrer Seele ein Stückchen Preußentum besitzen, eine stets bereite Möglichkeit, die sich in großen Augenblicken der Geschichte plötzlich meldet.« (29) In diesem Zitat verdichten sich einige argumentative Spannungen und Ambivalenzen, die den ganzen Text und auch die anderen Schriften Spenglers prägen. Wie auch De Winde hervorhebt, springt erstens das ambivalente Verhältnis gegenüber dem biologistischen Rassendiskurs ins Auge.208 Spengler betont, dass das Verhältnis zwischen ›Rasse‹ und ›Geburt‹ keineswegs ein Zwingendes sei. Mit der einschränkenden Hinzufügung »im Sinne einer Rasse« verdeutlicht er, dass ›Rasse‹ vielmehr ein Auslesekriterium darstelle, das mit dem Faktor ›Geburt‹ im Wesentlichen nichts zu tun habe. Stattdessen fasst er Rasse »in geistigem Sinne« (22) auf. Trotzdem konstruiert er immer wieder, sei es mit Einschränkungen, einen kausalen Nexus zwischen geistigen und leiblichen Eigenschaften, darauf deutet in diesem Zitat die Phrase »deshalb zuletzt doch auch« hin.209 Diese Eigenschaften seien »längst«, also nach einer bestimmten Zeit, rassisch manifest geworden, was eine genealogische Kontinuität suggeriert. Sie haben sich in den »besten und bezeichnendsten Exemplare[n]« niedergeschlagen, scheinen also das Produkt von Auslese- und Verbesserungsmechanismen zu sein, wobei die Auslese eher auf Leistung (»die besten«) als auf einem genetischen Faktor basiert. Preußentum ist somit eine Eigenschaft, mit der Spengler innerhalb des deutschen Kollektivs eine Grenze zieht. Diese trennt die ›echten‹ Deutschen von den ›unechten‹ Deutschen, die »echt preußischen Naturen« von den Preußen von Geburt. Preußentum sei all das, was »wir Deutsche nicht an vagen Ideen, Wünschen und Einfällen […] besitzen«, das 207 Spengler, Jahre der Entscheidung, 179. 208 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 163. 209 Ebd., 163-164. Andere Beispiele dieser kausalen Verbindung von geistigen und körperlichen Eigenschaften sind die Folgenden: »Dies Gemeingefühl von Jahrhunderten hat in beiden Fällen [im Falle der Engländer und der Preußen] eine großartige Einheit der Haltung von Körper und Geist, eine Rasse hier von Erfolgreichen und dort von Arbeitenden herausgebildet.« (37); »Es [das unveränderliche Ethos] prägt […] einen antiken, indischen, chinesischen, abendländischen Typus ›Mensch‹ von vollkommen eigner Haltung des Leibes und der Seele, einheitlich in Instinkt und Bewußtsein, Rasse in geistigem Sinne.« (22) [meine Herv.]
1. Oswald Spengler
heißt eine »Summe von Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist, Energie« (30), die aber ›gezüchtet‹ werden muss. Damit stoßen wir auf eine zweite argumentative Spannung im spenglerschen Diskurs, nämlich die »Gleichzeitigkeit von Essenz und Potenz«.210 Erschien der preußische »Instinkt« zuvor als etwas, das, wie der Sozialismus, unzertrennbar zur deutschen Wesensart gehört, so erweist er sich hier als eine »stets bereite Möglichkeit«, ein Potenzial, das die Deutschen zu verwirklichen haben. Preußentum sei somit ein »Versprechen für die Zukunft«. (30) Diese aporetische Gleichzeitigkeit von Essenz und Potenz schlägt sich in der oxymorischen Wendung vom Preußentum als »schicksalhaftem Wollen, Müssen, Können« nieder. Einerseits sei Preußentum ein deutsches »Schicksal«, ein »Nichtanderskönnen«, was zum Beispiel auch in Sätzen wie »Der ›Zukunftsstaat‹ ist ein Beamtenstaat. Das gehört zu den unausweichlichen Endzuständen, die aus den Voraussetzungen unsrer in ihrer Richtung festgelegten Zivilisation folgen« (90) zum Ausdruck kommt. Andererseits sei Preußentum eine Entscheidung (»Wollen«), eine Möglichkeit (»Können«) und eine Aufgabe oder Pflicht (»Müssen«), für die eine leistungsfähige Führerschicht (»die besten und bezeichnendsten Exemplare«) »herangezüchtet« (13) werden müsse. Schon der Philosoph und Mathematiker Leonard Nelson wies in seiner parodistischen Streitschrift Spuk. Einweihung in das Geheimnis der Wahrsagerkunst Oswald Spenglers und sonnenklarer Beweis der Unwiderleglichkeit seiner Weissagungen nebst Beitragen zur Physiognomik des Zeitgeistes. Eine Pfingstausgabe für alle Adepten des metaphysischen Schauens (1921) auf diese terminologische Widersprüchlichkeit von Schicksal und Pflicht hin: »Was sollen uns Aufgaben und Pflichten, wenn doch deren Erfüllung bereits ein Schicksal ist, dem wir nicht entgehen, auch wenn wir es verleugnen, bekämpfen, vor ihm flüchten? Was soll das Verbot, dem unausweichlichen Schicksal auszuweichen? […] Wenn wir ohnehin die Erfüllung unseres Schicksals sind, welche Bedeutung hat es dann, uns vorzuhalten, daß wir es sein sollten?« (213) [Herv. i.O.] Die Gleichzeitigkeit von Essenz und Potenz greift auch der letzte, separat gesetzte Satz von Preußentum und Sozialismus auf: »Wir sind Sozialisten. Wir wollen es nicht umsonst gewesen sein.« (99) Er formuliert einen Appell an die Deutschen, zu werden, was sie eigentlich (immer) schon (gewesen) sind, einen Aufruf, ihre »unverbrauchte[n] Möglichkeiten« (84) nicht unverbraucht zugrunde gehen zu lassen. In seinem Versuch, den Begriff ›Preußentum‹ zu umreißen, braucht Spengler eine Figur, die dasjenige verkörpert, was Preußentum nicht ist. Dafür bezieht er sich auf ein bekanntes deutsches Nationalstereotyp, das vor allem im nationalistischen Diskurs des 19. Jahrhunderts inflationär verwendet wurde: den sogenannten deutschen Michel,211 der in Spenglers Darstellung die deutsche Nation von innen her bedroht, ihr aber auch ex negativo Identität gewährt.212 Während das Preußentum die »Summe von 210 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 171, 177. 211 Zum Nationalstereotyp des ›deutschen Michels‹: Karl Riha, »Der deutsche Michel. Zur Ausprägung einer nationalen Allegorie im 19. Jahrhundert,« in Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Strukturen und Funktionen von Konzepten nationaler Identität, Hg. Wulf Wülfing, Jürgen Link (Stuttgart: Klett-Cotta, 1991), 146-171. 212 »Der Feind fungiert als Identitätsgenerator, er bedeutet zugleich ein notwendiges Konstituens, eine Bestätigung wie auch eine existentielle Bedrohung von Eigenheit und Identität.« Medardus
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Tatsachensinn, Disziplin, Korpsgeist, Energie« sei, stelle das »Micheltum die Summe unsrer Unfähigkeiten« (8) dar. Das Suffix ›-tum‹ weist schon auf die polymorphe und zugleich amorphe Dimension dieser ›inneren Feindschaft‹ hin: »Alles das unpraktisch, subaltern, dumm aber ehrlich, formlos ohne Hoffnung auf künftige Formen, verjährt, auch seelisch unfruchtbar, ertötend, verkleinernd, herabziehend, der innere Feind jedes Deutschen für sich und aller Deutschen als Nation – das ist das Micheltum«. (30-31) Diese grundsätzliche »Unform« (30) manifestiert sich in den unterschiedlichsten Gestalten: in »Professoren und Schwärmern«, das heißt »›Deutsche[n]‹« – in Anführungszeichen – »in diesem idealistischen Sinne«, weiter in »trivialen Kosmopoliten«, die »für Völkerfreundschaften und Menschheitsziele [schwärmen]«, aber auch in »ewigen Provinzler[n], […] mit erstaunlichem Mangel an Fähigkeiten der Welt gegenüber«, schließlich in den »Biedermänner[n] aller Vereine, Biertische und Parlamente«, das heißt den »schläfrige[n]« deutschen Liberalen, wobei »schläfrig« auf das typische ikonografische Attribut des deutschen Michels, die Schlafmütze, hinweist. (30) Diese »michelhaften« (8, 83) Figuren seien für das »unfruchtbare« (31) und »unschöpferische« (75) 19. Jahrhundert emblematisch und für dessen »politische Verbitterung« verantwortlich. (62) Auffällig an diesen Beschreibungen ist, dass der deutsche Michel lediglich über die Negation definiert wird: er sei »unfruchtbar«, »unpolitisch«, »unpraktisch«, »subaltern«, für immer »formlos« und habe »keine Rasse«. (30) Er sei ein »Typus der Verneinung« und existiert somit nur ex negativo; er bedeutet lediglich dasjenige, was Preußentum nicht ist. Der deutsche Michel hat also eine formierende Funktion, indem er als gestaltloser Anderer die Eigenheit des preußischen ›Wir‹ spiegelbildlich konstituiert und bestätigt. Zugleich ist er derjenige, der diese Identität immer wieder heimsucht und von innen heraus zu deformieren und aufzulösen droht. Diese Angstvision der Formlosigkeit prägt auch Spenglers Argumentationsstil. Wie schon betont wurde, wird Preußentum und Sozialismus von einem exzessiven Kategorisierungszwang angetrieben, mit dem Spengler Schlüsselbegriffe auf ihre ultimative Bedeutung festzulegen versucht. Weiter wird der Text durch eine rigorose Entweder-Oder-Logik strukturiert, wobei das ›Oder‹ oft gerade diese Nicht-Form vertritt, so zum Beispiel in den Phrasen: »Man hat es [das Schöpferische] oder hat es nicht« (76), »es gibt eine Rettung nur für beide [Preußentum und Sozialismus] oder keinen« (98), »es gibt für den Arbeiter nur den preußischen Sozialismus oder nichts« (98), »es gibt für den Staat nur Demokratisierung oder nichts« (98), »es gibt für die Konservativen nur bewußten Sozialismus oder Vernichtung« (98), »den deutschen Sozialismus, denn es gibt keinen andern« (4). Spengler steckt die Formlosigkeit gleichsam in eine diskursive Zwangsjacke, um sie auf diese Weise fassbar und somit auch beherrschbar zu machen. Jetzt, da Spengler den Begriff ›Preußentum‹ klar umrissen hat, opponiert er die zwei entscheidenden Völker der abendländisch-faustischen Geschichte, die Engländer und die Preußen. Dafür konstruiert er eine Liste von Nationalstereotypen, die sich auf die Sitten oder ›Tugenden‹, die soziale Gliederung, das wirtschaftliche System und die politische Ordnung beziehen. Diese Nationalmerkmale bettet Spengler in ein historisches Narrativ ein: Der englische Instinkt gehe auf die seeräuberischen Wikinger, Brehl, »(Ein)Geborene Feinde. Der Entwurf existenzieller Feindschaft im Kolonialdiskurs,« in Feindschaft, Hg. Medardus Brehl, Kristin Platt (Paderborn: Wilhelm Fink, 2003), 157-177, hier 158.
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der preußische Stil auf die mittelalterlichen Ordensritter zurück. Mit seinem binär angelegten Katalog greift Spengler auf die antienglische Kriegsliteratur à la Händler und Helden (1915) von Werner Sombart oder auch Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) zurück.213 Wo diese Schriften den Inselstaat verteufeln, ist Spengler aber von der weltgewandten Realpolitik des englischen Regierungssystems, das in Wirklichkeit nur ein Scheinparlamentarismus »in den Händen sehr weniger Männer« (56) sei, fasziniert. Spenglers nationaltypisierende Liste lässt sich ad infinitum weiterschreiben: Kapitalismus steht gegenüber Sozialismus, Individualismus gegen Gemeingeist, Reichtum gegen Autorität, Privatmann gegen Beamte, Gesellschaft gegen Staat, Erfolg gegen Aufgabe, Glück gegen Pflicht, Milliardäre gegen Weltbeamte, Weltausbeutung gegen Weltorganisation, comfort gegen Arbeit, Boxkampf gegen Turnen usw. Wie auch De Winde hervorhebt, laufen diese Oppositionen im Grunde genommen auf den Gegensatz zwischen Staat und »Nichtstaat« (32, 61) hinaus, das heißt englischer ›Staatsfremdheit‹ (33) oder »Staatsfeindschaft« (33) in Form des liberalem Parlamentarismus einerseits und »altpreußische[m] Staatsgefühl« (99) oder »überpersönliche[m] sozialistische[m] Staatsgedanken« (32) andererseits. Während England an Stelle des Staates den »freien«, das heißt »staatsfremd[en] und ordensfeindlich[en]« »Privatmann« gesetzt habe (33), gebe es in Preußen »streng genommen keinen Privatmann«. (60) Stattdessen gehe »der Einzelwille im Gesamtwillen auf« (37), was dem »Ordensgedanke[n] ›alle für alle‹« (60) entspreche. »Jeder für sich: das ist englisch; alle für alle: das ist preußisch« (34), so schreibt Spengler aphoristisch. In einem »wirkliche[n] Staat, in der anspruchvollsten Bedeutung des Wortes« (60), wie er bisher nur im Staat Friedrichs des Großen und Bismarcks verwirklicht worden sei (6), gebe es keine Privatinteressen. Stattdessen sei »jeder Zugehörige ohne Ausnahme« (46) ein »Diener des Ganzen«. (60) So habe es auch Friedrich der Große mit seinem von Spengler ständig wiederholten Diktum »Ich bin der erste Diener des Staates« (15, 66, 87) vorgesehen. Gemäß diesem Postulat der totalen Inklusion imaginiert Spengler den Staat als eine ›exakt‹ arbeitende »Maschine«, der jeder Einzelne »als Glied« angehöre. (60) Spenglers idealer Staat ist de facto eine »durchorganisierte und autoritative Diktatur«,214 in der sich das Individuum restlos und ›freiwillig‹ in den »ungeheuren Organismus« (66) eingliedert. Eine Verfassung wird von Spengler als »staatsfeindlich« (59) abgelehnt; diese legt ja nicht nur die Pflichte, sondern auch die Rechte des Individuums fest. Der Streik sei ein »antistaatliche[s] und händlerische[s] Privatmittel[…]« (77) und soll daher verboten werden. Zwar ist Spenglers »autoritative Sozialismus« (66) monarchisch angelegt, da ein Fürst heute der »einzige Schutz« gegen die durch die »Macht des Privatkapitals« gelenkte »Interessenpolitik« der Parteien sei. (91) Die wirkliche Führung liegt in Spenglers Vorstellung aber nicht beim Fürsten oder, wie in England, bei den Parteien, sondern ist in Händen einer leistungsfähigen, technokratischen Elite:215 »Zu einem Staat gehört ein Staatsrat. Es ist das Verhältnis der Maschine zum gelernten Ingenieur«. (61) Dieses technokratische Ideal wird in Jahre der Entscheidung und im Untergang des Abendlandes 213 Felken, Oswald Spengler, 103. 214 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 166. 215 Ebd., 175.
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anhand hippologischer Metaphern biologisiert. In diesen Schriften stellt Spengler den Staat als ein »Gestüt«216 dar, in dem die »Rassepferde« durch einen »erfahrenen Reiter« ›geschult‹ oder ›diszipliniert‹ werden.217 Zur theoretischen Untermauerung der ›freiwilligen‹ Unterordnung des Individuums in das große Ganze bezieht sich Spengler auf ein bekanntes Theorem der preußisch-deutschen Aufklärung, nämlich den »kategorischen Imperativ« (42) Immanuel Kants. Spengler bringt diesen ethischen Begriff wie folgt auf den Punkt: »Handle so, als ob die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden sollte«. (42) Der kategorische Imperativ besagt, dass das vernunftbegabte Individuum selbst imstande ist, seine Autonomie zugunsten der Allgemeinheit zu begrenzen, sich selbst Gesetze aufzuerlegen und diese pflichtgemäß nachzukommen.218 Diesem allgemeinen Pflichtgesetz stellt Spengler die individualistische Handlungsmaxime des »Erfolgs« (42) oder des Glücks des englischen Philosophen Jeremy Benthams gegenüber. Während Kants kategorischer Imperativ eine abstrakte Formel ist, die noch mit konkreten Inhalten gefüllt werden muss, beharrt Spengler auf der formalistischen Logik: ›Tue deine Pflicht, indem du deine Pflicht tuest‹, so könnte man Spenglers tautologische Interpretation des Pflichtgesetzes paraphrasieren. Spengler verengt den kategorischen Imperativ auf zwei Weisen. Zum einen beschränkt er Kants universalistische Formel auf den nationalen Bereich; die Allgemeinheit bezieht sich bei Spengler lediglich auf den preußischdeutschen Staat. Zum anderen reduziert er die Pflichterfüllung des Individuums auf das Prinzip der »Selbstzucht«. (31, 97) So findet sich der letzte Rest Autonomie paradoxerweise im voluntaristischen Verzicht auf die Autonomie.219 Die Freiheit des Individuums zeigt sich gerade in der »selbstlosen Entsagung« (31) zugunsten des Kollektivs, der selbst-losen Eingliederung in den nach »Befehl und Gehorsam« (44) strukturierten preußisch-deutschen Staat. Zur Erklärung dieses Paradoxons greift Spengler auf die oxymorische Denkfigur der »libertas oboedientiae« oder der »Freiheit in Gehorsam« (32) zurück. Dabei polt er die beiden inkommensurablen Begriffe strategisch um und bringt sie zu einer neuen Synthese zusammen: Obwohl der Engländer nach »außen frei« (39) sei, und das bedeutet vor allem »geschäftlich frei« (50), sei er »innerlich« ein »Sklave«. (38) Der Preuße hingegen sei »[n]ach außen dienend, gehorsam, entsagend« (39), aber das »System sozialer Pflichten verbürgt« ihm »eine Souveränität der inneren Welt, die mit einem System sozialer Rechte, und das ist das individualistische Ideal, unvereinbar ist.« (38) In dieser »inneren Freiheit in einem großen Sinne« (32) – diesen Trick der unspezifischen Präzisierung kennen wir schon lange220 – liege »etwas unendlich Starkes und Freies«. (37) Dass dies nicht das Geringste mit »Herdengefühl« (37) zu tun habe, können die Nichtzugehörigen einfach nicht begreifen. Diese Behauptung veranschaulicht, wie Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, 520. Spengler, Jahre der Entscheidung, 181. Ute Frevert, »Pflicht,« in Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 2, Hg. Etienne François, Hagen Schulze (München: C.H. Beck, 2002), 269-285, hier: 270. 219 Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹,« 406-407. 220 Vgl. die parodistische Streitschrift Leonard Nelsons, in der ein fingierter ›junger Preuße‹ Spenglers rhetorische Tricks durchschaut: »Ach, Herr Spengler, diesen Trick kennen wir schon lange, aus der Schule, aber auch von ihnen. Sie wenden ihn zu oft an.« Nelson, Spuk, 213-214.
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Spengler mit seiner These der Nichtmitteilbarkeit und absoluten Unübertragbarkeit der völkischen Instinkte jedes Gegenargument schon im Vorhinein parieren kann. »Das Preußentum«, so postuliert Spengler, »ist exklusiv.« (37-38)
Schwellenangst Diese Isolierung zwischen den Nationaltypen erweist sich aber bei näherer Betrachtung als äußerst brüchig. Wie De Winde argumentiert, setzt Spenglers Versuch, Völker und Nationen abzuschotten, »eine paranoide Logik in Gang, die unablässig nicht nur äußere, sondern auch innere Feinde produziert.«221 Permanent wird die Exklusivität des Preußentums durch feindliche Fremdeinflüsse bedroht sowie von innen heraus angenagt. Die absolute Schreckgestalt dieser zersetzenden Infiltration nennt Spengler das »deutsche Engländertum« (49) oder »das innere England«. (65, 97) Mit diesen Begriffen werden zugleich der staatsfeindliche parlamentarische Liberalismus und der Kapitalismus attackiert, die für Spengler quasieinwechselbar sind, wie das Kompositum »kapitalistisch-parlamentarische[r] Liberalismus« (65-66) veranschaulicht. Das »innere England« ruft den Angsttraum der Staatlosigkeit wach. Wie Joseph Vogl argumentiert, wird die Frage des Staates, insofern sich diese als »Frage politischer und sozialer Formgebung begreifen« lässt, »von einer strukturellen Phobie, die sich auf das Formlose, das Monströse, die Ungestalt bezieht«, beherrscht.222 Spengler stellt den Liberalismus als »englische Armee« dar, die Napoleon bei der Schlacht bei Jena 1806 »unsichtbar« auf deutschem Boden zurückgelassen hat (7), und imaginiert ihn so als ein aggressiver Parasit, der den Staatskörper schleichend und fast unsichtbar ›anzufressen‹ (vgl. 35) beginnt.223 Seit Jena habe sich der verheerende Liberalismus allmählich die Köpfe der deutschen Gebildeten, für die Spengler immer ein Arsenal von Schimpfwörtern bereithält, »erobert«: »Der gebildete Spießbürger, der Bildungsphilister, der unpraktische Gelehrte, dem abstraktes Wissen die Welt verbaut hat«, gelten als die »dankbarsten Verteidiger« liberaler Ideen. (34-35) Als Verkörperung der »Unfruchtbarkeit« (34) kann der englische Liberalismus nicht auf deutschem Boden gedeihen, trotzdem pflanzt er sich wuchernd fort. Damit greift Spengler die sozialdarwinistische Idee der degenerativen Reproduktion auf:224 »Unsre Schriftsteller und Professoren haben mit der Fruchtbarkeit von Feldmäusen Deutschland mit Büchern und Systemen bevölkert, in denen die englischen Schlagworte des freien Staates, des freien Bürgers, der freien Persönlichkeit, des souveränen Volkes, der allgemeinen, freien und beständig fortschreitenden Menschlichkeit aus der Wirklichkeit englischer Kontore in die deutschen Wolken erhoben wurden.« (35) Spengler kritisiert hier nicht den englischen Liberalismus an sich, sondern den deutschen Liberalismus »ohne eine Ahnung von der straffen Aktivität und Zielsicherheit« (34) des englischen Liberalen »aus einem Guß«. (50) Dessen pragmatische Politik sei in
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De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 170. Joseph Vogl, »Politische Ungestalt,« in StaatsSachen/Matters of State, 33-43, hier: 34. De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts,« 170. Ebd., 172.
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Deutschland von dem »unentwegt liberale[n] Michel« (16) zur abstrakten Prinzipienreiterei erhoben worden. Ausgehend von der Unveränderlichkeit und Unübertragbarkeit der völkischen Instinkte und der dazugehörigen politischen Organisationsformen könne der Parlamentarismus – ein »spezifisch englisches Gewächs« – in Deutschland nur »Unsinn und Verrat« bedeuten. (54) Umgekehrt würde der »englische Sozialismus Verrat an England üben« (54), wenn er den Parlamentarismus abschaffe. Der deutsche Liberalismus sei also nur ein schwacher Aufguss, eine karikaturistische Nachahmung der englischen Regierungsform: »[W]ir können nicht Engländer, nur Karikaturen von Engländern sein«. (34) Demzufolge wird die Weimarer Republik als das Produkt eines »Narrenstreichs« (16) dargestellt, als eine »Farce«,225 in der die »Torheiten der Paulskirche« 1848/1849 epigonenhaft erneuert wurden. Das Einzige, das der deutsche Liberalismus vom englischen Modell übernommen habe, sei das »Nein« zum Staate, ohne aber diese Absage »durch ein ebenso groß gedachtes, energisches Ja zu rechtfertigen.« (34) Obwohl die englische Armee schon seit Jena auf deutschem Boden herumgeistere, sei es erst in der Novemberrevolution zum »Sieg des englischen Prinzips« (46) gekommen. Spengler zufolge sagen auch die marxistischen Novemberrevolutionäre lediglich ›Nein‹ zum Staat: »Gegen dieses Meisterstück von Staat, unsre echteste und eigenste Schöpfung, so eigen, daß kein anderes Volk es zu verstehen und nachzuahmen vermochte, […] rannte das englische Heer Deutschlands an.« (7) Die Novemberrevolution sei somit nichts anderes als ein »rein negative[r] (9), sogar »selbstmörderisch[er]« (7) »Staatsstreich[…]« (9); die Revolutionäre seien aufgebrochen, »um ihr eignes Haus anzuzünden.« (16) Damit knüpft Spengler an die in konservativ-revolutionären Kreisen populäre Verschwörungstheorie des ›Dolchstoßes‹ an, nach der das deutsche Heer beim Kriegsende ›im Felde unbesiegt‹ geblieben, durch die »Meuterei« der (sozialdemokratischen) »›Heimatarmee‹« aber hinterlistig verraten worden sei.226 (9) »Der echte Sozialismus«, so behauptet Spengler, »stand im letzten Ringen an der Front oder lag in den Massengräbern von halb Europa, der, welcher im August 1914 aufgestanden war und den man hier verriet.« (9) Die Novemberrevolution kategorisiert Spengler aber nicht nur als englisch, weil sie die liberalistische »Absetzung des Staates« (9) anvisiere. Die »wilde Lohnpolitik« (46) der
225 Mit dem Begriff »Farce« greift Spengler auf die hegelsche Opposition zwischen ›Farce‹ und ›Tragödie‹ als unterschiedlichen Reinszenierungspraxen von Geschichte zurück. Spengler betont in Preußentum und Sozialismus mehrmals, dass er vom »Staatsdenker« (79) Hegel beeinflusst sei (sich aber von dessen nur in Parteien und wirtschaftlichen Privatinteressen denkendem Schüler Karl Marx abgrenze). (vgl. 29, 40, 42, 69, 79) Auch Marx bezieht sich in seiner Schrift The Eighteenth Brumaire of Louis Bonaparte (1852) übrigens auf Hegels Opposition zwischen Farce und Tragödie. Während Spengler die marxistische Novemberrevolution als »Farce« der Revolution von 1848 bezeichnet, die ihrerseits von »Narren« und ›komischen‹ »Jean-Paul-Naturen« (17) geführt worden sei, stellt für Marx die Revolution von 1848 eine Farce der Revolution von 1789 dar. Zur Rezeption der hegelschen Begriffe ›Farce‹ und ›Tragödie‹ bei Marx: Michiel Rys, »Friedrich Schiller, the Politics of Aesthetics and the Labour Movement,« Vortrag am 8. Mai 2019 auf der Tagung Schiller and German Idealism/Schiller et l’idealism allemand, KU Leuven, 1-14, hier: 4. 226 Gerd Krumeich, »Die Dolchstoß-Legende,« in Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, Hg. Etienne François, Hagen Schulze (München: C.H. Beck, 2002), 585-599.
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streikenden Arbeiter zeige, dass die proletarische Revolution auch vom englischen Kapitalismus infiziert worden sei. In Spenglers Vorstellung folgen die Novemberrevolutionäre darin ihrem geistigen Führer Karl Marx. Diese Gleichschaltung von Kapitalismus und Marxismus ist ein Beispiel dafür, dass Spengler immer wieder die unterschwelligen Aporien des Marxismus aufzudecken versucht, was in abstrusen Aussagen wie »Marxismus ist der Kapitalismus der Arbeiterschaft« (75) oder »Nur der Kapitalismus englischen Stils ist das Gegenstück zum Sozialismus marxistischen Stils« (49) resultiert. Auf den ersten Blick eine »antienglische Theorie« (81), sei der Marxismus im Grunde genommen englisch angelegt, weil sie spiegelbildlich bestätige, was sie zu bekämpfen glaube: »Der Marxismus hat sich als reine Verneinung dieser Lehre [der Manchesterlehre, das heißt der materialistisch-kapitalistischen Ideologie] ihr Schema vollständig zu eigen gemacht.« (49) Marx ziele somit nicht auf strukturelle gesellschaftliche Veränderungen hin, sondern möchte – »ganz wikingermäßig« (71) – die bestehenden Verhältnisse lediglich umkehren, »die Rollen der Räuber und Beraubten umtauschen […] – Expropriation der Expropriateure«. (72, vgl. auch 89) In diesem Sinne habe er »de[n] Klassenegoismus zum Prinzip erhoben.« (75) Infolgedessen stellt Spengler die Idee des marxistischen Klassenkampfes als das Produkt einer groß angelegten Betrügerei dar, wobei der »Gegensatz[…] von Rassen in den von Klassen« (70) umgedeutet werde. »Im Banne dieser Konstruktionen« (15) sei man dann im November ausgezogen, ohne einzusehen, dass der proletarische Aufstand in Wirklichkeit eine groteske »Lüge« (11) sei. Dieser habe den sozialistischen Gedanken nämlich zum »Privilegium des vierten Standes« (15) gemacht, wo er sich in Wahrheit doch auf das »ganze[…] Volk[…]« (12) beziehe. Ähnlich wie es in Spenglers Vorstellung die Schriftsteller und Professoren waren, die mit dem englischen Liberalismus den Menschen seit Jena den Kopf verwirrt haben, werden hier die Schriftsteller – oder, wie es abwertend heißt, die ›Literaten‹ – für die Novemberrevolution verantwortlich gemacht: »Es war wieder nicht das Volk, nicht einmal die sozialistisch geschulte Masse; es war das Pack mit dem Literatengeschmeiß an der Spitze« (9), wobei Spengler erneut eine degenerative Metapher einsetzt. Nicht nur verführen die Schriftsteller das Volk über die Presse (9), sondern sie marschieren, oder marodieren vielmehr mit: »Wo man Helden erwartete, fand man befreite Sträflinge, Literaten, Deserteure, die brüllend und stehlend, von ihrer Wichtigkeit und dem Mangel an Gefahr trunken, umherzogen, absetzten, regierten, prügelten, dichteten.« (10)
»Macht, Macht und immer wieder Macht« Spenglers Invektive gegen die Literaten richtet sich zugleich gegen die Lehre Marx’, die die Zielscheibe der letzten zwei Kapitel von Preußentum und Sozialismus ist. Das Kapital sei ein »von Literatur gesättigtes« (3), rhetorisches und deshalb auch irreführendes und wirklichkeitsfremdes Traktat, eine »glänzende Konstruktion« (69), die die Leser »durch einige dem Gehirn eingehämmerte Sätze und Begriffe« (10) auf listige Weise manipuliere. Marx’ Theorie sei daran schuld, dass sich der »wirkliche, instinktive Sozialismus als Ausdruck altpreußischen Wesens literarisch nach England verirrt« (81) habe. Während der preußische Sozialismus ein »Stück Wirklichkeit höchsten Ranges« sei, sei »Marx […] – Literatur«. (80) Die obigen Zitate enthüllen, dass Spenglers schon
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erwähnte Zielsetzung, »den deutschen Sozialismus von Marx zu befreien« (4), um den lebensphilosophischen Gegensatz zwischen Vernunft und Leben kreist:227 »Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft beherrscht. […] Herr der Tatsachen bleiben ist uns wichtiger als Sklave von Idealen werden.« (79-80) Während Spengler den ›echten‹ Sozialismus anhand von Begriffen wie »Blut«, »Rasse«, »Wirklichkeit« und »Tatsachen« beschreibt, verbindet er den pseudosozialistischen Marxismus dagegen mit »Papier«, »Unfruchtbarkeit«, »Idealen« und »Literatur«. Wie auch De Winde darlegt, greift Spengler zur Überwindung dieser »grenzenlose[n] Unfruchtbarkeit« (62) auf eine antiintellektualistische und vitalistische Tatrhetorik zurück:228 »Programme gehören in das vorige Jahrhundert. Wir wollen keine Sätze mehr, wir wollen uns selbst« (4), was immer dieses ›uns selbst‹ auch bedeuten mag. Die Person schlechthin, die für Spengler diese Tatkraft verkörpert, ist August Bebel, der einzige ›Tatsachenmensch‹, den die Sozialdemokratie des 19. Jahrhunderts hervorgebracht habe. Er sei »ein Politiker, der nicht zu schreiben, sondern zu regieren wußte«, kein »Bücherschreiber«, sondern ein »Organisator.« (76) In nichts ähneln die Menschenmassen der Novemberrevolution der (wirklich) sozialistischen Arbeiterbewegung Bebels, dem »Meisterwerk eines echt sozialistischen Tatsachenmenschen, durch und durch militärisch und autoritativ«. (15-16) Nicht zuletzt die Beschreibung der Bebelpartei als »Meisterwerk« macht deutlich, dass sie Spenglers preußisch-sozialistischen Staat in nuce verkörpert; diesen hat er am Anfang seiner Schrift auch als »Meisterwerk« (7) bezeichnet. Die Darstellung des Staates als »Meisterwerk« oder Kunstwerk ist eine bekannte, schon in der Antike verwendete und im Nationalsozialismus von Joseph Goebbels pervertierte politisch-theologische Metapher, an die auch die Deskription Bebels als »Schöpfer großen Stils« (76) anschließt. Letztere Beschreibung entspricht Spenglers Charakterisierung des Staates als »unsre echteste und eigenste Schöpfung«. (7) Die Gleichschaltung des Sozialismus mit der Arbeiterbewegung des militaristischen Tatsachenmenschen Bebel reduziert den Sozialismus auf das antibürgerliche, soldatische Mobilisierungsmoment, das Spenglers Vorstellung vom Staat innewohnt. Von emanzipatorischen Zielsetzungen wird er ganz und gar entkoppelt.229 Diese Umdeutung wird im letzten Kapitel »Die Internationale« auf die Spitze getrieben. Darin pervertiert Spengler die marxistische Idee einer transnationalen Brüderlichkeit, indem er behauptet, eine »echte Internationale« sei nicht durch »Ausgleich und Zugeständnis, sondern durch Sieg und Vernichtung«, »nicht durch die Auflösung aller Meinungen in eine farblose Masse«, sondern »durch den Sieg der Idee einer Rasse über alle andern möglich«. (84) »Die echte Internationale ist Imperialismus« (84), so konkludiert Spengler pointiert. Dem faustischen Willen zur planetarischen Alleinherrschaft entsprechend kann dieser Imperialismus nur in einen tödlichen Endkampf zwischen dem englischen »Wikingergeist« und dem preußischen »Ordensgeist« münden. (52) So ist dieser Kampf nichts anderes als die Fortsetzung des nicht beendeten Weltkrieges. (vgl. 6, 18, 19) Der eine könne nur siegen, wenn der andere endgültig vernichtet 227 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts,« 174. 228 Ebd., 174. 229 Vgl. Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹,« 408.
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sei. Aber auch danach herrsche unmöglich Friede: »Wäre selbst der faustische Weltfriede erreicht« – wobei diese Möglichkeit durch den Irrealis a priori ausgeschlossen wird –,»so würden sich Herrenmenschen vom Schlage spätrömischer, spätchinesischer, spätägyptischer Cäsaren um dies Imperium schlagen«. (53) Kampf und Krieg fungieren für Spengler als das »perpetuum mobile«230 der Weltgeschichte, der Staat als Ausdruck der Kriegsbereitschaft: »Weltgeschichte ist Staatengeschichte. Staatengeschichte ist die Geschichte von Kriegen. […] Krieg ist die ewige Form höhern menschlichen Daseins, und Staaten sind um des Kriegen willen da: sie sind Ausdruck der Bereitschaft zum Kriege.« (52-53) Zur Erfüllung dieser imperialen Bestimmung bedürfe es also eines starken Nationalstaates, dessen endgültiges Ziel die totale Mobilmachung ist. Spenglers preußischsozialistisches Staatsmodell lässt sich daher als reiner Machtstaat, »jenseits von gut und böse« (76), begreifen. In der Nachfolge Heinrich von Treitschkes, der den Staat anhand des Credos »Zum ersten Macht, zum zweiten Macht, zum dritten Macht« definiert hatte,231 basiert auch Spenglers idealer Staat ausschließlich auf dem Prinzip »Macht, Macht und immer wieder Macht«. (98) Anders als die Befürworter der ›Ideen von 1914‹, die die imperialistischen Zielsetzungen in ein kulturelles Gewand kleiden, grenzt Spengler diesen nationalen Machtstaat ausdrücklich von der Kulturnation ab: »Wir brauchen keine Ideologen mehr, kein Gerede von Bildung und Weltbürgertum und geistiger Mission der Deutschen. Wir brauchen Härte, wir brauchen eine tapfere Skepsis, wir brauchen eine Klasse von sozialistischen Herrennaturen.« (98) Eine solche Klasse habe der große Organisator Bebel einst – vergeblich – »für die Entscheidung herangezüchtet«. (13) Auffällig hier ist das Erziehungskonzept der ›Zucht‹, das Spengler nicht nur in Preußentum und Sozialismus, sondern auch in seinen anderen politischen Aufsätzen und Reden, wie zum Beispiel »Aufgaben des Adels« (1924), Neubau des deutschen Reiches (1924) oder Jahre der Entscheidung (1933) leitmotivisch dem der ›Bildung‹ gegenüberstellt.232 An der Spitze von Spenglers nationalem Machtstaat steht keine Geistesaristokratie von Dichtern und Denkern, sondern eine »tragende, züchtende und erziehende Schicht«,233 die sich durch die »Instinkte des Befehlens, Organisierens und Verhandelns«234 auszeichnet. Dabei wird die Mehrdeutigkeit des Wortes ›Zucht‹ – nicht nur pädagogisch, sondern auch biologisch – strategisch ausgespielt,235 indem dieses Erziehungskonzept im Umfeld biologistischer Vokabeln zirkuliert: »Ich wende mich an die Jugend. Ich rufe alle die auf, die Mark in den Knochen und Blut in den Adern haben. Erzieht euch selbst! Werdet Männer!«. (98) Mit dieser beschwörenden Aufforderung wendet sich Spengler noch einmal unmittelbar an den eigentlichen Adressaten seiner Streitschrift, die männliche nationalistische Jugend, die »zur Führung der nächsten Generation berufen ist«. 230 De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 168. 231 Heinrich von Treitschke, »Bundesstaat und Einheitsstaat,« in ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. 2 (Leipzig: Hirzel, 1886), 77-241, hier: 152. 232 Dazu De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« insbesondere: 12ff. 233 Spengler, »Aufgaben des Adels,« 89. 234 Ebd., 89. 235 Das Konzept der Zucht und dessen Mehrdeutigkeit wird in der Analyse des Romans Die Kadetten von Ernst von Salomon, dessen Denken von Spengler beeinflusst wurde, eingehend besprochen.
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(97) Spengler zielt darauf hin, ihr ein maskulines Ideal der Härte zu injizieren und ein Erziehungskonzept der Selbstzucht aufzulegen. So soll sie, wie es in »Aufgaben des Adels« heißt, das »Rückgrat der Nation«236 bilden. Wie die Organisation seines preußisch-sozialistischen Staates konkret aussieht, leuchtet aber auch am Ende der Schrift nicht ein, obwohl Spengler diesen Eindruck mit Phrasen wie »Ich fasse zusammen:« (97), »Noch einmal:« (98) oder »Der Weg zur Macht ist vorgezeichnet:« (98) zu erwecken versucht. Der Teil nach dem Doppelpunkt bleibt vage, die beabsichtigte politische Synthese zwischen Preußentum und Sozialismus abstrakt. Folgende Beispiele illustrieren dies: »Heute aber ist die Gleichheit des Ziels nicht länger zu verkennen. Preußentum und Sozialismus stehen gemeinsam gegen das innere England, gegen die Weltanschauung, welche unser ganzes Leben als Volk durchdringt, lähmt und entseelt. […] Die Vereinigung bedeutet die Erfüllung des Hohenzollerngedankens und zugleich die Erlösung der Arbeiterschaft. Es gibt eine Rettung nur für beide oder keinen.« (97-98) »Noch einmal: der Sozialismus bedeutet Macht, Macht und immer wieder Macht. […] Der Weg zur Macht ist vorgezeichnet: der wertvolle Teil der deutschen Arbeiterschaft in Verbindung mit den besten Trägern des altpreußischen Staatsgefühls, beide entschlossen zur Gründung eines streng sozialistischen Staates, zu einer Demokratisierung im preußischen Sinne, beide zusammengeschmiedet durch eine Einheit des Pflichtgefühls, durch das Bewußtsein einer großen Aufgabe, durch den Willen, zu gehorchen, um zu herrschen, zu sterben, um zu siegen, durch die Kraft, ungeheure Opfer zu bringen, um das durchzusetzen, wozu wir geboren sind, was wir sind, was ohne uns nicht da sein würde.« (98) »Den preußischen Beamtentypus, den ersten der Welt, haben die Hohenzollern gezüchtet. Er bürgt für die Möglichkeit einer Sozialisierung durch seine ererbten sozialistischen Fähigkeiten. […] In diesen Typus muß der Arbeiter hineinwachsen, wenn er aufhört Marxist zu sein, und dadurch beginnt Sozialist zu werden. Der ›Zukunftsstaat‹ ist ein Beamtenstaat. Das gehört zu den unausweichlichen Endzuständen, die aus den Voraussetzungen unsrer in ihrer Richtung festgelegten Zivilisation folgen.« (90) Diese Beispiele können ad libitum ergänzt werden. In hochtrabendem Prophetenton versucht Spengler die Leser zu mobilisieren: für »die Erfüllung des Hohenzollerngedankens«, die »Erlösung der Arbeiterschaft«, die »Demokratisierung im preußischen Sinne«, die Vereinigung des »Beamtentypus« des 18. Jahrhunderts mit dem nicht-marxistischen, das heißt sozialistischen Arbeiter des 20. Jahrhunderts usw. Was diese Ziele genau beinhalten oder auf welche Weise sie zu erfüllen sind, bleibt ungewiss. Desto lauter klirrt aber die Rhetorik, die so die Funktion hat, gemäß dem Genre der Weltanschauungsliteratur die argumentativen Schwächen von Spenglers Streitschrift zu verdecken.237 Auffällig in den obigen Zitaten sind zum Beispiel die triadischen Reihungen,
236 Spengler, »Aufgaben des Adels,« 91. 237 Beßlich, »Kulturtheoretische Irritationen,« 46.
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die Evidenz und Bedeutungsfülle herbeireden – obwohl die unterschiedlichen Komponenten oft inkompatibel oder aber tautologisch sind – und zugleich einen alarmistischen Ton evozieren:238 Das innere England »durchdringt, lähmt und entseelt« unser Leben, der Beamtentypus und der Arbeiter sollen sich zusammenschmieden, »um zu herrschen, zu sterben, um zu siegen«, Sozialismus bedeute »Macht, Macht und immer wieder Macht«. Sosehr Spengler auch Entscheidung, Tat und Entschlossenheit predigt, sosehr er auch die Rhetorik schmäht, sein Aufruf zum preußisch-sozialistischen Staat bleibt letztendlich ein »reiner Imperativ ohne jede Eventualität einer Umsetzung«,239 eine rhetorische und imaginäre, eine »glänzende Konstruktion« (69). Die Kritik an Marx ist de facto eine Selbstkritik.
Weltanschauungsliteratur Gerade die exzessiv verwendeten literarischen Schreibweisen und rhetorischen Strategien sind es, die Spenglers »lückenloses«240 Gedankengebäude unterminieren.241 Sie kaschieren nicht nur die argumentativen Unzulänglichkeiten von Preußentum und Sozialismus, sondern lenken auch die Aufmerksamkeit auf den phantasmatischen Charakter der spenglerschen Konstruktionen. Beispielhaft dafür sind die binären Kategorien, die den Text strukturieren. Auf den ersten Blick erweckt Spenglers schematische Darstellung den Eindruck, dass die Welt vielleicht zwar komplex, die Wahrheit aber einfach und eindeutig ist.242 Bei näherer Betrachtung erweist sich die rigorose Logik freilich als eine »exzessive A-Logik«.243 Wie De Winde argumentiert, ist Spengler angesichts der komplexen Wirklichkeit, die sich nicht in dichotomische Schemata fassen lässt, dazu gezwungen, seine ›ultimativen‹ Kategorien und Definitionen ständig umzuverteilen, zu modifizieren und immer wieder zu verschieben.244 War es Spenglers Absicht, den immerwährenden Projektionsprozess ein für alle Mal stillzulegen, indem er zum Beispiel den von allen Seiten vereinnahmten Begriff ›Sozialismus‹ auf dessen endgültige Bedeutung zurückbringen wollte, sieht er sich im Laufe des Textes immer wieder dazu genötigt, den Projektionsprozess ins Unendliche auszudehnen.245 Spenglers Vorgehensweise erinnert so an das Konzept der différance, der permanenten Sinnverschiebung Jacques Derridas.246 Eine frühe Dekonstruktion von Spenglers textuellem Verfahren bietet schon Leonard Nelson. In Spuk führt Nelson parodistisch vor, wie Spenglers rigorose »Entweder-Oder«-Logik zur Folge hat, dass sich die Leser entweder in unauflösbaren Widersprüchen verstricken müssen, oder aber »immer weiter fortfahren in einem inhaltlosen unendlichen Regreß […] und dabei nie zu Ende und nie zu einem
238 239 240 241 242 243 244 245 246
Vgl. De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 93-94. Ebd., 86. Adorno, »Spengler nach dem Untergang,« 102. De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts‹,« 177. Schnädelbach, Philosophie in Deutschland 1831-1933, 186. De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts,« 178. Ebd.,« 177-178. Ebd., 162-163. Jaques Derrida, L’écriture et la différance (Paris : Seuil, 1967).
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faßbaren Sinn [kommen]« können.247 Es ist also paradoxerweise die »rhetorische Übersystematisierung«,248 die Spenglers fest geschraubtes diskursives System letztendlich durchlöchert. Seine Zielsetzung, jede Ambivalenz zu tilgen und jede Spannung in einem logischen und allesfassenden System zu lösen, generiert gerade Ambivalenzen und unauflösbare Spannungen, die literarischen Texten inhärent sind. Der »junge Preuße«, den Nelson in seiner Schrift über einen fingierten Brief zu Wort kommen lässt, hat Spenglers rhetorische »Tricks«249 durchschaut, aber in der historischen Wirklichkeit war die nationalistische Jugend von Spenglers Erziehungsschrift wie elektrisiert. Indem die Schrift einen soziale Unterschiede nivellierenden, soldatischen Nationalismus propagierte, lieferte Preußentum und Sozialismus neuen politischen Verbänden wie den Jungkonservativen und den Neuen Nationalisten sowie dem Freikorps in ideologischer Hinsicht Munition.250 So auch dem Kadetten und Freikorpskämpfer Ernst von Salomon, der sich sein ganzes Leben als Preuße mit Leib und Seele verstand.
247 248 249 250
Nelson, Spuk, 9-10. De Winde, »Die ›politische Verbitterung des neunzehnten Jahrhunderts,« 161. Nelson, Spuk, 213. Vollnhals, »Praeceptor Germaniae,« 178.
1. Oswald Spengler
1.3
Coda: »Prussians Welcome«
Die Rückbesinnung auf Preußen und Preußentum dient in Preußentum und Sozialismus der nationalen Regeneration, die ihrerseits als Voraussetzung für den imperialen Aufstieg Deutschlands gilt. An dieser Hoffnung hat sich fast 15 Jahre später nichts geändert, wie die Schrift Jahre der Entscheidung belegt. Wurde in Preußentum und Sozialismus besonders die Herausbildung eines starken Machtstaates in den Vordergrund gestellt, so verschiebt Spengler 1933 den Akzent noch mehr auf Preußens außenpolitische Aufgaben. Spengler ist der Meinung, dass anno 1933 die weltpolitischen Verhältnisse zu verändern beginnen. Damit meint er nicht so sehr die Machtergreifung Hitlers (auch wenn seine Schrift auf Hitlers Außenpolitik – oder eher dessen Mangel an außenpolitischen Zielsetzungen – reagiert), als vielmehr die Destabilisierung der globalen Machtverhältnisse durch die Emanzipation der ›farbigen Völker‹ zuungunsten der »weißen Herrenvölker«.251 Im hervorgebrochenen »Zeitalter der Weltkriege«,252 beim »Kampf der Planeten«253 drohen die ›Farbigen‹ »die Entscheidung zuletzt selbst in die Hand zu bekommen«,254 prophezeit Spengler, was immer diese Entscheidung auch genau bedeuten mag. Wie Preußentum und Sozialismus beschwört auch Jahre der Entscheidung den Angsttraum einer zersetzenden Infiltration herauf. Jetzt vertreten die ›farbigen Völker‹ die Rolle des ›inneren Englands‹ und die ›weiße Welt‹ oder Europa die prekäre Lage der deutschen Nation. Die ›Farbigen‹ stellen den absoluten äußeren Feind sowie den inneren Feind dar: Sie »poch[en] an die Tür«255 und »lauer[n] innerhalb des weißen Machtbereiches«.256 Die Bedrohung zeigt sich zum einen darin, dass besonders Asien das technische Know-how der westlichen Welt übernehme,257 zum anderen, dass die ›weiße Welt‹ durch die ›schwarze‹ Bevölkerungszunahme ›überflutet‹258 werde. Es überrascht daher nicht, dass Jahre der Entscheidung heutzutage immer öfters herbeizitiert wird. In der satirischen Zeitschrift Simplicissismus hat der Karikaturist Karl Arnold Spenglers diffuse Angstvision wie folgt verbildlicht: Was unmittelbar ins Auge fällt, wenn wir Arnolds Karikatur betrachten, ist der grundlegende Widerspruch zwischen der Überschrift »Oswald Spenglers ›Jahre der Entscheidung‹« und dem zusammengeduckten, grübelnden, sehr ›westlich‹ aussehenden Stubengelehrten, den die ›farbige Weltrevolution‹ schon am Kragen fasst.259
251 252 253 254 255 256 257 258 259
Spengler, Jahre der Entscheidung, 196. Ebd., 40, 91. Ebd., 209. Ebd., 194. Ebd., 210. Ebd., 194. Ebd., 192, 196, 199. Ebd., 205-206. Die folgende Analyse der Karikatur erschien in einer längeren Fassung in der Online Zeitschrift COLLATERAL. Online Journal for Cross-Cultural Close Reading. Hannelore Roth, »›Das Eschaton, das sich nicht denken lässt.‹ Oswald Spengler politische Fiktionen,« COLLATERAL. Online Journal for Cross-Cultural Close Reading, Cluster 2, d (Juni, 2016), https://collateral-journal.com/index.php?clu ster=2 (abgerufen 20.05.2019).
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Abb. 10: Karl Arnold, »Oswald Spenglers, ›Jahre der Entscheidung‹« (1933)
Quelle: Simplicissimus 38, 28 (1933): 333, © Klassik Stiftung Weimar.
Begraben unter seinem Berg Papiere schreibt Spengler in seinem Sonntagsanzug fleißig weiter, während er den heißen Atem der »gelbe[n], braune[n], schwarze[n] und rote[n] Gefahr«260 im Nacken spürt. Spenglers ominöse Prophetie ist in der Karikatur bereits in Erfüllung gegangen: »Die Farbigen […] nehmen das Schwert auf, wenn wir es niederlegen.«261 Das Schwert des Samurais hängt bedrohlich über seinen Texten, der Speer des Afrikaners stochert im Tintenfleck herum. Das Bild veranschaulicht so die dichotomische Logik, die sich wie ein roter Faden durch Spenglers Werk zieht: die Opposition zwischen Blut und Tinte/Papier, Leben und Vernunft, dem Leiblichen und dem Zerebralen, Wort und Tat usw. Allerdings werden die Polen spöttisch umgetauscht. Spengler wird somit zu jener Zielscheibe, auf die der Autor seine Schimpftiraden
260 Spengler, Jahre der Entscheidung, 194. 261 Ebd., 210.
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selbst immer wieder richtet: Die Dichter und Denker, die ›Literaten‹, die nur grübeln und schreiben statt zu handeln. Die Karikatur verspottet Spenglers Tatrhetorik, den ständigen Aufruf zur ›Entscheidung‹, den Martin Greiffenhagen als eines der zentralen Merkmale der Konservativen Revolution betrachtet: »Die Entschiedenheit an sich, die Entschlossenheit zu irgend etwas, notfalls zu nichts, ist es, die man emphatisch preist. […] Die Entscheidung entspringt einem normativen Nichts und beweist sich allein in der vitalen Kraft ihres Mutes zu sich selbst.«262 Diese selbstreferentielle Entscheidungslogik ist also per definitionem undurchführbar. Spenglers politische Entwürfe sind nichts anderes als rhetorische Heraufbeschwörungen einer krisenhaften Lage, was durch die Vokabel »gedacht« in der subscriptio ironisch unterstrichen wird. Spenglers kritisches caveat »Nicht so stürmisch, meine Herren« betont diese unumsetzbare Dimension seiner politischen Fiktionen. Er ist dazu genötigt, die gepredigte Entscheidung immer wieder zu verschieben. Es gibt in Spenglers Vorstellung nur eine Möglichkeit, diese »farbige Weltrevolution«263 – oder noch erschreckender: deren Bündnis mit der »weißen«,264 das heißt »proletarischen Weltrevolution«265 – zurückzudämmen: die Erziehung der ›weißen Welt‹ zum Preußentum. Dies ist auch die Zielsetzung dieser Erziehungsschrift: »Deutschland hat allein das Preußentum als Tatsache in sich. Mit diesem Schatz von vorbildlichem Sein kann es der Erzieher der ›weißen‹ Welt, vielleicht ihr Retter werden.«266 [Herv. i.O.] Auch in Jahre der Entscheidung gilt Preußentum als ein bestimmtes Ethos, als die Summe von soldatischen Klischeemotiven wie Disziplin, Opferbereitschaft, Gehorsam, Selbstzucht usw. Was Spengler in seiner letzten Schrift aber vor allem als typisch preußisch charakterisiert, ist der »unbedingte Vorrang der Außenpolitik«,267 die er dem »kleinen, innerdeutschen Denken«268 besonders der Nationalsozialisten gegenüberstellt. War die zentrale Zielsetzung von Preußentum und Sozialismus die totale Mobilmachung der deutschen Nation durch die Erziehung zum Preußentum, so mündet diese preußische Erziehung nun in eine europäische Kampfansage an die ›farbige Welt‹. Preußen gewährleiste dabei den Angriff und trete zugleich als »Grenzwacht der faustischen Kultur«269 auf. Den zeitgenössischen Bedürfnissen entsprechend deutet Spengler die Chiffre Preußen also wieder einmal um. Dieses Phantasma von Preußen als »Grenzwacht« der eigenen Kultur oder Nation existiert auch heute noch. Während eines Drittligafußballspiels zwischen Dresden und Cottbus 2015 hielten Cottbus-Fans einen Spruchband mit den Worten »Prussians Welcome« in Großbuchstaben und »destroy Saxony« in Kleinbuchstaben hoch. 262 263 264 265 266 267 268 269 270
Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. (München: Piper, 1971), 249. Spengler, Jahre der Entscheidung, 191. Ebd., 91. Ebd., 91. Ebd., 190. Ebd., 181. Ebd. 23. Ebd., 179. Benedikt Niessen, »›Preußen welcome‹ – Mein erster Trip in den Fußball-Osten,« vice, 19. Okt., 2015, https://www.vice.com/de/article/z4p4n8/preuen-welcomemein-erster-trip-in-den-fuball-ost en (abgerufen 20.05.2019).
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Abb. 11: Prussians Welcome
Quelle: Bultras.net (Screenshot).270
Eine reine Provokation des sächsischen Fußballgegners ist dies wohl kaum. Nicht nur der Spruch des Banners, sondern auch die drei Figuren, hier mit preußischer Pickelhaube, erinnern an die ›Refugees welcome‹-Transparente, die im Kontext von Angela Merkels Willkommenspolitik gezeigt wurden. Die dominante rhetorische Strategie von Preußentum und Sozialismus, nämlich die Vereinnahmung und Umdeutung beziehungsweise Pervertierung von Leitvokabeln des politischen Gegners, wird auch hier verwendet. Das Willkommen gilt nicht den Einwander*innen, sondern nur der autochthonen Bevölkerung. Preußen fungiert wie bei Spengler als nationalistischer Kampfund Abgrenzungsbegriff gegen die multikulturelle und pluralistische Gesellschaft. Das ›andere‹ Preußen, das Preußen der Toleranz, der Religionsfreiheit und der offenen Einwanderungspolitik, auf das man heute ebenfalls zurückgreift, spielt hier gar keine Rolle. Sogar in Bezug auf ein einziges Thema bietet Preußen also sehr unterschiedliche und widersprüchliche Anknüpfungsmöglichkeiten. Der größere Spruchband mit dem Spruch »Energie Cottbus – Treu bis zum Tod« in gotischer Schrift rückt den Fußballfanatismus zudem in den neonazistischen Umfeld und genauer, wie die schwarzen Regenjacken, Kapuzenpullover und Baseball-Mützen demonstrieren, den der sogenannten Autonomen Nationalisten. Äußerlich distanziert sich diese sich seit den 2000er Jahren herausbildende Gruppierung tatsächlich vom Skinheadstil der 1990er Jahre mit Glatze, Bomberjacke und Springerstiefeln. Stattdessen übernehmen die Autonomen Nationalisten den Kleidungsstil der linksextremen Szene. Sie zeigen sich bei Demonstrationen im black bloc-Stil und kopieren manchmal sogar Kult-Kleidungssymbole wie Che-Guevara-Shirt oder Keffiyeh. Traditionell linke politische Begriffe werden von den Autonomen Nationalisten ebenfalls vereinnahmt. So umschreiben sich die »Autonomen Nationalisten Berlin« auf ihrer Website als »National – Sozialistisch – Revolutionär«.271 In diesem Sinne weisen sie strukturelle Ähnlichkeiten mit den Neuen Nationalisten oder Nationalrevolutionären der Weimarer Re-
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Autonome Nationalisten Berlin, https://logr.org/anberlin/ (abgerufen 20.05.2019).
1. Oswald Spengler
publik auf, von denen Ernst von Salomon – Verehrer des Freikorpsanführers Ehrhardt und zugleich Bewunderer Che Guevaras – einer der wichtigsten Vertreter war.
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2. Ernst von Salomon
2.1
»Ich bin ein Preuße und will ein Preuße sein«: Lebenslauf eines Geächteten
»Magie der Heiterkeit« Im März 1995 widmeten die alten und neuen Bewunderer Ernst Jüngers, von HansPeter Schwarz über Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski bis Botho Strauß und Heiner Müller, ihrem Heros zum 100. Geburtstag einen Sammelband mit dem Titel Magie der Heiterkeit.1 Anders als diese Vokabel suggeriert, hat die Gefühlslage dieser neuen Zivilisationskritiker nichts Leichtes an sich. Der Umschlag des Aufsatzbandes zeigt den ehemaligen Offizier und Frontsoldaten mit gesenktem Kopf, schweren Lidern und verrunzelter Stirn. Damit steht Jünger meilenweit von den postmodern anmutenden CyborgPhantasien aus seinem Tagebuchroman In Stahlgewittern (1922), den er im Laufe seines Lebens frenetisch überarbeitete. Die Herausgeber, Günter Figal und Heimo Schwilk, stimmen den Band mit einer hymnischen Laudatio an und befördern den selbsterklärten Seismografen zum wichtigsten literarischen Kommentator des 20. Jahrhunderts: »Das Werk Ernst Jüngers hat für das Verständnis dieses Jahrhunderts Schlüsselcharakter. Wohl kein anderer Autor vergleichbaren Ranges ist der Herausforderung durch die Dynamik seiner Zeit so offen und kritisch zugleich begegnet.«2 Der kulturkonservativen Dialektik entsprechend gelte Jünger sogar als der moderne Schriftsteller schlechthin. Sein Werk sei »modern, ohne bloß von heute zu sein, es greift ohne eine Spur von Musealität in die Tiefe der Zeiten zurück und verhilft so zu der Einsicht, daß man die Moderne nicht versteht, wenn man nichts als modern sein will.«3
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Günter Figal, Heimo Schwilk (Hg.), Magie der Heiterkeit. Ernst Jünger zum Hundertsten (Stuttgart: Klett-Cotta, 1995). Für diesen Hinweis: Richard Herzinger, »Werden wir alle Jünger? Über die Renaissance konservativer Modernekritik und die postmoderne Sehnsucht nach der organischen Moderne,« in Kursbuch 122. Die Zukunft der Moderne, Hg. Karl Markus Michel, Tilmann Spengler (Berlin: Rowohlt, 1995), 93-118, hier: 93. Figal, Schwilk, Magie der Heiterkeit, 7. Ebd., 7.
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Preußische Phantasmen
Jüngers bemerkenswerte Wiederauferstehung nach der deutschen-deutschen Vereinigung beschränkte sich aber weder auf Deutschland noch auf ein politisch rechts orientiertes Publikum. Seine internationale Salonkarriere hatte spätestens 1993 einen großen Aufschwung genommen, als sein Essay »Gestaltwandel« dem Katalog der Biennale in Venedig vorangestellt wurde.4 Im Hinblick auf Jüngers eigenes Werk war seine dargebotene Prognose auf das 21. Jahrhundert aber alles andere, als der Titel ›Gestaltwandel‹ versprach. Anno 1993 wartete Jünger immer noch auf die Erfüllung seiner planetarischen Maschineprophezeiungen für das heraufkommende Zeitalter des Arbeiters. Was aber in frühen Texten wie Die totale Mobilmachung (1930) oder Der Arbeiter (1932) unverkennbar als proto-faschistisch galt, wurde jetzt in nebelhaften PosthistoireVorstellungen über Natur und Technologie, Götter und Titanen eingehüllt.5 Wie Andreas Huyssen hervorhebt, entsprachen diese Vorstellungen nicht nur einer zeitgenössischen ökologischen Krisenstimmung in Deutschland, sondern vor allem einem allgemeinen spirituellen Verlangen nach prophetischen Gesängen und Abgesängen im Wechsel der Zeiten, nachdem sich die politischen Ideologien als erschöpft erwiesen hatten.6 Schon Jüngers umstrittene Erzählung Auf den Marmorklippen aus dem Jahr 1939, die mehrmals als Widerstandsakt gegen den Nationalsozialismus gelesen worden ist, lässt sich als eine Fingerübung in der Kunst verstehen, den unvermeidlichen Untergang gelassen, ja mit »Heiterkeit«, zu durchleben.7 Wenn sich die hochentwickelte Kulturlandschaft der ›Großen Marina‹ im apokalyptischen Endkampf in ein versengendes Inferno verwandelt, kommentiert der Protagonist der Erzählung, den Blick fest auf die Flammen gerichtet, dass »glücklich der zu preisen [ist], dessen Wille nicht allzu schmerzhaft in seinem Streben lebt. Es wird kein Haus gebaut, kein Plan geschaffen, in welchem nicht der Untergang als Grundstein steht, und nicht in unseren Werken ruht, was unvergänglich in uns lebt. Dies leuchtete uns in der Flamme ein, doch lag in ihrem Glanz auch Heiterkeit. Mit frischen Kräften eilten wir den Pfad entlang.«8 Auch heute ist diese elitäre »Flucht in eine behagliche Metaphysik des Unberührtseins«9 von den Herausforderungen der Gegenwart besonders attraktiv. Im hohen Prophetenton predigt »YouTubes wichtigste Vaterfigur«10 Jordan Peterson eine im körperlichen wie im ›metaphysischen‹ Sinne verstandene aufrechte Haltung als das Nonplusultra, um der »tragischen«11 Grundkondition des Lebens ›heiter‹ die Stirn zu
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Ernst Jünger, »Gestaltwandel. Eine Prognose auf das 21. Jahrhundert,« DIE ZEIT, 16. Juli, 1993, h ttps://www.zeit.de/1993/29/gestaltenwandel (abgerufen 17.09.2018). Für diesen Hinweis: Andreas Huyssen, »Fortifying the Heart – Totally. Ernst Jüngers Armored Texts,« in Twilight Memories. Marking the Time in a Culture of Amnesia, Hg. ders. (New York/London: Routledge, 1995), 127-144, hier: 127-128. Huyssen, »Fortifying the Heart – Totally,« 127. Ebd., 127-128. Für diesen Hinweis: Herzinger, »Werden wir alle Jünger?,« 100, 113. Ernst Jünger, »Auf den Marmorklippen,« in ders., Sämtliche Werke, Bd. 15 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1978), 247-351, hier: 347. Herzinger, »Werden wir alle Jünger?,« 98. Jordan B. Peterson, 12 Rules for Life. An Antidote to Chaos (Toronto: Penguin Random House Canada, 2018), Klappentext. Ebd., 157.
2. Ernst von Salomon
bieten: »Standing up straight with your shoulders back means voluntarily accepting the burden of being. […] Then you may be able to […] find joy.«12 Zwar bezieht sich der populäre kanadische Psychologe nicht auf Jünger, und eine eindeutige ideengeschichtliche Linie zwischen den beiden Bestsellerautoren wäre maßlos überzogen. Wohl aber teilen sie ein spezifisches Verhältnis zu den Anfechtungen der modernen Gegenwart, das sich pauschal als ›heroischer Realismus‹ bezeichnen lässt. Beide Kulturkritiker sehen keine andere Möglichkeit, als die von ihnen verachtete moderne Zivilisation tapfer hinzunehmen, sie gar voluntaristisch zu bejahen, ohne aber wie Spengler die Hoffnung auf einen apokalyptischen Wendepunkt gänzlich fahren zu lassen. In seinem Essay »Der Waldgang« (1951) schreibt Jünger dementsprechend, es sei ein Trugbild zu glauben, man könne aus dem »Schiff« der Moderne einfach aussteigen. Denn dies bedeute, »auf hoher See auszusteigen […]. […] Es ist daher auf alle Fälle rätlich, an Bord und auf Deck zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß man mit in die Luft fliegen wird.«13 In seinem Verkaufsschlager 12 Rules for Life. An Antidote to Chaos (2018) erwähnt Peterson eine vergleichbare apokalyptische Metapher, wenn er sich auf das biblische Bild der Arche Noah bezieht.14 Mag sein, dass das Schiff im Strudel der Moderne versinkt, aber es ist gleichfalls möglich, dass es eines Tages wieder an festem, durch die Flut nunmehr gesäubertem Boden ankern wird. Die einzige Alternative, die uns bleibt, ist mutig auszuharren auf diesem angeblich ›verlorenen Posten‹.15 ›Haltung‹ bewahren ist dabei das Schlüsselwort, so stellte auch Walter Benjamin in seiner Besprechung von Jüngers Sammelband Krieg und Krieger (1930) spöttisch fest.16
Ein vergessener Moderner? In diesem ›neunationalistischen‹ Sammelband schrieb auch Ernst von Salomon einen Aufsatz. Im Gegensatz zum Herausgeber oder auch anderen Denkern aus dem Umfeld der Konservativen Revolution wie Spengler oder Carl Schmitt ist Salomon heute nahezu vergessen. Selbst in den wichtigsten rechtsintellektuellen Organen des vereinigten Deutschlands, der Wochenzeitung Junge Freiheit und der zweimonatlichen Zeitschrift Sezession, gilt der ehemalige Kadett und Freikorpskämpfer im Vergleich zu anderen konservativ-revolutionären Galionsfiguren nur als ein drittklassiger Spieler.17 Auch für die Literaturwissenschaft blieb Salomon eher unbekannt. Obwohl sein autobiografischer Bestsellerroman Der Fragebogen (1951) über die ›Entnazifizierungspolitik‹ der alliierten
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Ebd., 26, 28. Ernst Jünger, »Der Waldgang,« in ders. Sämtliche Werke, Bd. 7 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1980), 281-375, hier: 319. Für diesen Hinweis: Herzinger, »Werden wir alle Jünger?,« 99. Peterson, 12 Rules for Life, 27. Vgl. Spengler, Der Mensch und die Technik, 88. Walter Benjamin, »Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift ›Krieg und Krieger‹. Herausgegeben von Ernst Jünger,« in Gesammelte Schriften III. Kritiken und Rezensionen 19121931 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991), Kap. 97 im Projekt Gutenberg – DE, https://gutenberg.spieg el.de/buch/kritiken-und-rezensionen-1912-1931-2981/97 (abgerufen 17.09.2018). Gregor Fröhlich, Soldat ohne Befehl. Ernst von Salomon und der soldatische Nationalismus (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 2017), 399.
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Militärregierung eine der frühesten Literaturdebatten der Bundesrepublik entfachte, sind Forschungsansätze spärlich.18 Diese geringe Aufmerksamkeit für Salomon mag auf den ersten Blick überraschen, hat ihn zum Beispiel Jost Hermand doch als »eine der ›farbigsten‹ und auch gedanklich interessantesten Figuren« der sogenannten Konservativen Revolution bezeichnet.19 Auch Richard Herzinger umschrieb Salomons Texte als die »spezifische Literatur« dieser Bewegung.20 Anders als Jünger, der seine politischen Botschaften »in metaphysische Spekulationen und in eine absichtsvoll verrätselnde Metaphorik ein[kleidet]«, sei Salomon ein »jederzeit explizit formulierender Autor« in der Tradition der Neuen Sachlichkeit, weshalb sein Frühwerk »die Qualität eines zeitdokumentarischen Spiegels der untergehenden Weimarer Republik« habe.21 Dies mache seine Ästhetik keineswegs zur politischen Tendenzliteratur im engeren Sinne, sondern gerade ausgesprochen »modern«.22 Die Perspektive sei immer die des »erzählenden, selbstreflexiven Subjekts, das vom grundlegenden Zweifel am Sinn« seines Handelns gezeichnet ist.23 Hinter dem Mosaik von Alltagserinnerungen und vordergründigen Anekdoten gähnen zwar metaphysische Untiefen, aber anders als Jünger verweigert sich Salomon gemeinhin der olympischen Position des alles überschauenden, souveränen Subjektes. Während Jünger den Krieg »in der metaphysischen Abstraktion«24 (Benjamin) zelebriert und den Horror des Schlachtfeldes in den Bereich des Ästhetischen drängt, brennen sich in Salomons Freikorpsroman Die Geächteten (1930) die verrenkten Leiber, die schwärenden Gesichter, die offenen Wunden und die Kothaufen ins Papier ein. Weiterhin fallen die nicht nur von seinen Befürwortern, sondern auch von seinen Kritikern attestierten stilistischen Qualitäten seiner Texte ins Auge: die einer Vivisektion gleichkommende Sachlichkeit, lakonische Distanz und auch unverhohlener Witz wechseln sich ab mit obsessiver Beschreibungswut und einem zuweilen fast rhapsodischen Stil, der einen großen Sinn für Rhythmus und Kadenz aufzeigt. Auch wenn sein Schreiben, vor allem in Die Geächteten, Berührungspunkte mit der écriture automatique der Surrealisten aufweist, geht dem ein reiflicher Erwägungsprozess voraus, so teilt er selbst in einem Brief an Hans Grimm 1935 mit:
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Siehe u.a. Richard Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer. Ernst von Salomon: Konservativ-revolutionäre Literatur zwischen Tatrhetorik und Resignation,« Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge 8, 1 (1998): 83-96; Jost Hermand, Ernst von Salomon. Wandlungen eines Nationalrevolutionärs, (Stuttgart/Leipzig: Hirzel), 2002; in leicht abgewandelter Fassung: Jost Hermand, »›Was zählt, ist letztlich nur der Staat‹. Der ›unbeirrbare‹ Preuße Salomon,« in Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, Hg. Martin Sabrow (Helmstedt: Akademische Verlagsanstalt, 2012), 25-43; Ralf Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹. Das literarische Schaffen und das politische Wirken konservativer Autoren nach 1945 am Beispiel von Friedrich Georg Jünger, Ernst Jünger, Ernst von Salomon, Stefan Andres und Reinhold Schneider (Dresden: Thelem, 2008), Elke Matijevich, The Zeitroman of the Late Weimar Republic (New York: Peter Lang, 1995); Fröhlich, Soldat ohne Befehl. Hermand, Ernst von Salomon, 4. Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 84. Ebd., 84-85. Ebd., 84. Ebd., 84. Benjamin, »Theorien des deutschen Faschismus.«
2. Ernst von Salomon
»Ich schreibe keinen Satz, bevor ich ihn nicht fast eine Viertelstunde lang im Auf- und Abgehen gedreht und gewendet, vor mich hingesprochen und abgehorcht habe, um mich dann wie ein Löwe auf die Maschine zu stürzen und loszuklappern. Das Eigenartige ist nun, dass schließlich selbst der verdrehteste Satz nicht mehr abänderlich ist, ohne den Rhythmus des Ganzen zu stören, ja selbst, ohne den eigenen Wohllaut zu stören.«25 Dieser Gestus der »kontrollierten Unkontrolliertheit«, um einen Begriff des belgischen Künstlers Ronny Delrue zu verwenden, prägt vor allem seine frühen Romane, Die Geächteten (1930), Die Stadt (1932) und Die Kadetten (1933). Während die an der Stilhaltung der Neuen Sachlichkeit geschulte Kälte und Distanz um 1930 nicht ohne Salomons nationalrevolutionären Feuer zu denken ist, ist der Ton in Der Fragebogen ein zynischer und verhaltener geworden. Die drei Argumente, mit denen Jünger nicht nur von seinen konservativen Lobbyisten zu einem der bedeutendsten Autoren des 20. Jahrhunderts erklärt worden ist – Jünger als moderner Denker und Schriftsteller, Jünger als Meister-Stilist und Jünger als literarischer Kommentator der politischen und sozialen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts – treffen also auch, wenn nicht sogar mehr, auf Ernst von Salomon zu. Wenige Autoren haben ihren Lebenslauf – vom preußischen Kadetten über Freikorpspartisanen bis hin zum Aktivisten der deutschen Friedens- und Ostermarschbewegung in der jungen Bundesrepublik – konsequenter ins Zentrum ihres literarischen Werkes gerückt und diese mit der turbulenten Geschichte Deutschlands verknüpft, allerdings immer aus der Perspektive eines Außenseiters. Zwar könnte man mit Herzinger argumentieren, dass die Frage, ob ein Autor als modern eingestuft werden kann, angesichts dieses »überbeanspruchten« Begriffs fast zu einer rein terminologischen Angelegenheit geworden ist.26 Nicht nur habe die theoretische Literatur die Anwendungsmöglichkeiten dieses Begriffs ins schier Endlose erweitert,27 so dass nahezu jeder Autor ab 1800 als Modernist (oder Postmodernist) gelesen werden könne. Auch seien die Kriterien dafür ins Wanken geraten, was eigentlich unter nicht-modern oder sogar antimodern verstanden werden soll.28 So entdeckte man letztendlich auch in völkischen Texten der 1920er und 1930er Jahre und sicherlich in der Literatur der Konservativen Revolution modernimmanente Aspekte.29 Umgekehrt gibt es kaum eine Richtung der ›klassischen‹ oder ›avantgardistischen‹ Moderne – von Expressionismus über Futurismus bis hin zum Surrealismus –, die nicht die dunklen, elementaren Kräfte des ›Lebens‹ gegen eine geistlos-vernünftige, atomisierte
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Brief von Ernst von Salomon an Hans Grimm am 18. Januar 1935, in Verwischte Grenzen. Schriftstellerkorrespondenzen zwischen Literatur und Politik in der Weimarer Republik und im ›Dritten Reich‹, Hg. Claudia Scheufele, Helmuth Kiesel (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2013), 197-199, hier: 198. Herzinger, »Werden wir alle Jünger?,« 94. Ebd., 94. Ebd., 94. Ebd., 94; siehe auch Herzinger, »Die Überbietung als ästhetische und politische Grundfigur der ›rechten Moderne‹,« 105-126.
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liberale Zivilisation zu mobilisieren versuchte.30 Besonders in der Weimarer Republik haben sich die gängigen Aufspaltungen zwischen Links und Rechts, Republikanern und Antirepublikanern, Befürwortern und Kritikern der Moderne als obsolet erwiesen.31 Wie auch die Spengler-Lektüre belegt hat, finden im »diskursiven Laboratorium«32 der 1920er Jahre Leitvokabeln wie ›Gemeinschaft‹, ›Revolution‹ oder ›Sozialismus‹ in nahezu allen politischen Lagern Resonanz.33 Die ›Modernität‹ eines Autors ist also nicht so sehr daran abzulesen, dass zentrale Probleme und Aporien der Moderne artikuliert werden, sondern vielmehr wie. Diesbezüglich unterscheiden sich Jünger und Salomon maßgeblich. Jünger sucht das grundlegende Selbstentfremdungsgefühl der Moderne abzuwehren, indem er es gerade ins Extreme steigert. Seine Texte zeugen nicht von einer inneren Zerrissenheit, sondern beschwören ein »zweite[s], kältere[s] Bewusstsein« herauf, das mit der »Fähigkeit, sich selbst als Objekt zu sehen«,34 ausgerüstet ist und sich außerhalb des Bereiches der Gefühle und Schmerzen befindet. Bei Salomon brechen zwischen diesen rhetorischen Abwehrreflexen auch Momente einer abgründigen Verletzlichkeit und Nichtigkeit hervor, wie in den Textanalysen noch gezeigt wird. Weiterhin ist bei beiden Autoren die typisch konservativ-revolutionäre Pose eines radikalen Dezisionismus anwesend, dem – wie bei Spengler – ein Verdrängungsmechanismus der Überkompensation zugrunde liegt. Tatsächlich drückt diese zur Schau getragene heroische Haltung nicht so sehr eine reale Überwindung des Krisenbewusstseins aus, als vielmehr ein noch tieferes Gefühl der Sinnlosigkeit und der Ohnmacht angesichts der Herausforderungen der Moderne.35 Salomon schreckt aber als einer der wenigen konservativ-revolutionären Autoren nicht davor zurück, diese Ambivalenz auch explizit zu thematisieren. Der grundsätzliche Zweifel am Sinn des Handelns treibt seine Texte voran, während diese Perspektive bei Jünger gänzlich fehlt, ja gleichsam metaphysisch abgesichert wird. Diese Position des suchenden und zweifelnden Subjekts macht Salomon zum ›moderneren‹ der beiden Schriftsteller. Auch wenn Salomon seine Zeit vehement bekämpfte, nutzte er doch deren moderne Techniken der Repräsentation und Subjektkonstitution aus. Warum, so ist zu fragen, ist dann die Auseinandersetzung mit Salomon auf ein Minimum beschränkt geblieben, während Jünger vor allem nach der deutsch-deutschen Vereinigung eifrig rezipiert wurde, nicht nur als ideologische Identifikationsfigur für neue Rechte und alte Linke,36 sondern auch in der Literaturforschung? Ein erster Grund
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Herzinger, »Werden wir alle Jünger?,« 94. Manfred Gangl, Gérard Raulet, »Einleitung,« in Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, 9-56, hier: 27. Ebd., 27. Ebd., 35-36; vgl. auch Rob Heynen, »Socialism from the Right? Aesthetics, Politics and CounterRevolution in Weimar Germany,« New Formations 75, 1 (Juni, 2012): 82-98. Ernst Jünger, »Über den Schmerz,« in ders., Sämtliche Werke 7 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1980), 181. Merlio, »Der sogenannte ›heroische Realismus‹,« 409. Das konservative Verlangen, »wieder in die ›Tiefe der Zeiten‹ zu greifen«, entspricht laut Herzinger den »Bedürfnissen einer alternden Linken«, »die nach dem Verlust ihrer weltlichen Utopien in vermeintlich unzerstörbaren metaphysischen oder anthropologischen Essentialien Halt zu finden hofft.« Herzinger, »Werden wir alle Jünger?,« 98.
2. Ernst von Salomon
für die Nichtbeachtung, so argumentiert Salomons Biograf Markus Josef Klein in seiner 1994 veröffentlichten Dissertation,37 beruht weniger auf literarischen als auf ideologischen (Vor-)Urteilen. Zwar verliert sich Klein, zusammen mit dem Verfasser seines Vorwortes, Armin Mohler, in polemischen Verschwörungstheorien. Die zunächst von der Universität Heidelberg abgelehnte Dissertation sei »Anlass einer emotionsreichen Kampagne geworden, welche von linken Historikern inszeniert war.«38 Doch ganz unberechtigt ist Kleins Polemik gegen die Gegner Salomons nicht. Tatsächlich basierte die Nichtbeachtung seiner Texte vor allem auf ›antifaschistischen‹ Beweggründen, wenngleich Salomons Verhältnis zum Nationalsozialismus, wie noch dargelegt werden soll, alles andere als eindeutig war. Wie auch immer man die ideologische Stoßrichtung seiner literarischen Werke bewerten mag: Die Tatsache, dass bedenkliche Wissenschaftler wie Klein die akademische Auseinandersetzung mit Salomon nun als tapferen Widerstand gegen das »moralische Postulat«39 einer ›politisch korrekten‹ Gegenwart darstellen, ist eine Folge der jahrzehntelangen Nichtbeachtung durch die Forschung, die Salomon und sein am preußischen Sozialismus orientiertes Staatskonzept als letzte Zuckung einer ohnehin erlöschenden reaktionären Position abstempelte.40 Sogar die kritisch-nuancierten Forschungsansätze Jost Hermands balancieren mehr als einmal auf der Grenze einer verharmlosenden Verteidigungsschrift des »farbigen« Preußen Salomon. So setzt Hermand Salomons »Streben nach einer besseren Synthese von ›Freiheit und Ordnung‹« einfach mit den sozialutopischen Zielsetzungen eines Ernst Bloch gleich,41 obwohl diese Verbindung bei Salomon aus der Vorstellung eines autoritären Untertanenstaat herrührt. Gewiss spielen ideologische Berührungsängste eine wichtige Rolle für Salomons Nichtbeachtung. Aber andere aus ideologischen Gründen lange Zeit verpönte konservativ-revolutionäre Denker wie Spengler und Jünger wurden nach dem Mauerfall trotzdem wiederentdeckt und (kritisch) rehabilitiert. Welchen Unterschied gibt es zwischen diesen Denkern, der für eine andere Rezeptionsgeschichte verantwortlich sein könnte? Diesen finden wir in der schon adressierten Flucht in eine behagliche, vor den Herausforderungen der Moderne schützende Pseudo-Metaphysik, die auch heute attraktiv ist. Während Jüngers Visionen von einer bevorstehenden Zeitenwende und auch Spenglers majestätische Untergangsprophezeiungen heute »kulturelle Schablonen liefern, um amorphe Bedrohungen […] fassbar zu machen«,42 sie gleichsam mit Heiterkeit zu überschauen, werden die Leser*innen von Salomons Texten immer wieder ins unübersichtliche Gewimmel und Getümmel des Hier und Heute hineingeschleudert. Die Flucht in eine bequeme, zeitenübergreifende Metaphysik, die der gegenwärtigen »Sehnsucht nach Härte und Schwere«43 (Rüdiger Safranski) vor dem Hintergrund einer unüber37 38 39 40 41 42 43
Markus Josepf Klein, Ernst von Salomon. Eine politische Biographie. Mit einer vollständigen Biographie, (Limburg an der Lahn: San Casciano, 1994). Ebd., 7. Ebd., 15. Vgl. dazu auch die Rezeption Ernst Jüngers. Herzinger, »Werden wir alle Jünger?«, 102. Hermand. »›Was zählt, ist letztlich nur der Staat‹,« 43. Assheuer, »Die Dunkelseher«. Rüdiger Safranski, »Die Sehnsucht nach Härte und Schwere. Ein Nachwort,« Akzente 3 (Juni, 1995): 280-287.
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sichtlichen Wirklichkeit entspricht, wird bei Salomon immer wieder storniert. Zwar zeugen auch seine Texte von einem Verlangen nach Tiefe und Schwere, aber anders als bei Jünger und Spengler stammt diese Sehnsucht nicht von einem souverän-entrückten, sondern von einem tragisch scheiternden Subjekt her, das sich inmitten der Umwälzungen der Zeit mit aller Macht zu behaupten versucht. Aufschlussreich für diese unterschiedliche Haltung ist Salomons Bild des »verlorenen Haufens« von Landsknechten, das er im gleichnamigen Aufsatz entwirft, gegenüber Spenglers Vorstellung des »auf verlorenem Posten«44 stehenden Soldaten aus Der Mensch und die Technik (1931). In den letzten Zeilen seines Textes beschwört Spengler die Figur eines römischen Legionärs herauf, dessen Gebein man vor dem Tor in Pompeji wiederfand, weil man ihn beim Ausbruch des Vesuvs nicht abgelöst hatte. Spengler geht es vor allem darum, im Anblick der unabwendbaren Katastrophe das Gesicht und besonders die Haltung zu wahren. Salomons verlorener Haufen von Landsknechten aber, der sich rettungslos gepresst zwischen zwei feindlichen, spießstarrenden Fronten befindet, kämpft aus dieser verlorenen Lage zurück und versucht in die feindlichen Linien eine Bresche zu schlagen.45 Zwar bekennen sich damit auch Salomons Landsknechte in heroisch-realistischer Weise zur »schönen Härte ihres Schicksals«,46 aber vielmehr als (resignierte) Akzeptanz versteht sich die Grundposition dieser Männer als die des immerwährenden Widerstandes. Diese Haltung passt jedoch viel weniger zu den Trostübungen in Gelassenheit, die seit den 1990er Jahren angesichts der unübersichtlichen Wirklichkeit mit unter anderem dem Linkskonservativen Rüdiger Safranski an Popularität gewannen und auch heute, wie das Beispiel von Jordan Peterson zeigt, Konjunktur haben. Der dritte Grund für die Nichtbeschäftigung mit Salomon ist dessen enigmatische Biografie, die durch die vielen unerwarteten Wendungen angebliche Gewissheiten über Links und Rechts, Moderne und Anti-Moderne sprengt. Schon eine kurze Aufzählung seiner Lebensphasen macht dies deutlich: Erziehung in einer preußischen Kadettenanstalt, Teilnahme an den Freikorpskämpfen im Baltikum und in Oberschlesien, Mitglied der rechtsradikalen Organisation Consul, Beihilfe zum Mordanschlag auf den deutschen Außenminister Walther Rathenau, Verurteilung zu fünf Jahren Zuchthaus, Unterstützer der sogenannten Landvolkbewegung in Schleswig-Holstein und Beteiligung
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Spengler, Der Mensch und die Technik, 88. Ernst von Salomon, »Der verlorene Haufe,« in Krieg und Krieger, Hg. Ernst Jünger (Berlin: Junker und Dünnhaupt, 1930), 103-126, hier: 126. Die Figur des Landsknechtes ist ein zentraler Bezugspunkt für das Selbstverständnis der Nationalrevolutionären und der Freikorps. Jünger erwähnt diese identifikationsträchtige Figur bereits in Der Kampf als inneres Erlebnis (1922). Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 181ff.; Matthias Sprenger, Landsknechte auf dem Weg ins Dritte Reich? Zu Genese und Wandel des Freikorpsmythos (Paderborn: Ferdinand, Schöningh, 2008). Salomon zieht in »Der verlorene Haufe« zudem eine Parallele zwischen den Freikorpskämpfern des Nachkrieges und den Söldnern des Dreißigjährigen Krieges. Wo sich aber der Landsknecht im Dreißigjährigen Krieg dem Herrn, bei dem er am meisten Beute zu machen glaubt, verkaufe, und damit der so verachteten Figur des Händlers gleiche, verschenke sich der Landsknecht des deutschen Nachkrieges, und zwar an eine Idee. Salomon, »Der verlorene Haufe,« 118. Salomon, »Der verlorene Haufe,« 126.
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an einem Bombenanschlag auf den Berliner Reichstag, dem Kreis der Neuen Nationalisten um Ernst Jünger zugehörig, nach 1933 innerer Emigrant, der seine damalige jüdische Lebensgefährtin durch das nationalsozialistische Regime zu bringen wusste, Verfasser relativ unpolitischer Filmdrehbücher bei der Ufa und dennoch von den Amerikanern verhaftet worden, Sympathisant des Kommunismus und der DDR, Sprecher auf linksgerichteten Friedenskonferenzen seit den 1960er Jahren und Bewunderer von Che Guevara und Fidel Castro. Trotz dieser Wandlungen zeigen seine Romane eine erstaunliche geistige Kontinuität, die sich als ein an Oswald Spengler orientierter, zutiefst antiwestlich und antiliberal geprägter ›preußischer Sozialismus‹ beschreiben lässt.47 Eine nähere Betrachtung der auf den ersten Blick »unbegreiflich[en], wechselhaft[en] und standortslos[en]«48 Vita dieses ungebundenen Querdenkers ist also unentbehrlich, will man sich mit Salomons ideologischer Position und der nachdrücklichen Rolle Preußens auseinandersetzen, die sich trotz aller politischer Frontwechsel wie ein roter Faden durch sein literarisches und auch essayistisches Werk hindurchzieht. In seinen überwiegend autobiografischen Romanen hat Salomon den wichtigsten Kapiteln dieses ›spektakulären‹ Lebenslaufes ein literarisches Denkmal gesetzt. Die Zeit als Königlich Preußischer Kadett beschreibt er in Die Kadetten (1933), die Jahre im Freikorps, der Anschlag auf Rathenau und die Haft im Zuchthaus sind Gegenstand seines Erstlingsromans Die Geächteten (1930). Der mehr als 800 Seiten umfassende Bestsellerroman Der Fragebogen (1951) ist eine sarkastische, quälend ausführliche Beantwortung jenes 131 Fragen zählenden ›Entnazifizierungs‹-Fragebogens der alliierten Militärregierung, die Salomon zusammen mit etwa 1,4 Millionen Deutschen 1946 in der amerikanischen Besatzungszone ausfüllen musste. In Die Kette der tausend Kraniche (1972) verarbeitet er sein Engagement in der bundesrepublikanischen Friedensbewegung sowie seine Reise als Abgeordneter der Bundesrepublik nach Tokio zur VII. Weltkonferenz gegen Atombomben 1961. Gewiss bieten die autobiografisch unterfütterten Romane einen privilegierten Einblick in die Lebensgeschichte und Erfahrungswelt des Autors sowie – da Salomon seine Lebensgeschichte besonders in Die Kadetten und Die Geächteten als eine »generationsspezifische Erlebnisvariante«49 darstellt – in die Erfahrungswelt von Angehörigen derselben Jahrgänge. Der individuelle Blick in die Vergangenheit ist in der Lage, Zusammenhänge, Querverbindungen oder gerade Details einzufangen, die in der offiziellen Geschichte herausgefallen oder gestrichen worden sind.50 Wie Ulrike Jureit darlegt, kann die Autobiografie auf diese Weise »Gegenwelten aufzeigen, […] gängige oder erwartbare Darstellungsmuster durchkreuzen oder sie als verbindlich bestätigen.«51 Während positive Stimmen den persönlichen Blickwinkel, die Nähe zum Alltäglichen oder das
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Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹, 137. Klein, Ernst von Salomon, 16. Ulrike Jureit, »Autobiographien: Rückfragen an ein gelebtes Leben,« in Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, Hg. Martin Sabrow (Helmstedt: Akademische Verlagsanstalt, 2012), 149-157, hier: 151. Ebd., 151. Ebd., 151.
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widerborstige Potenzial der Autobiografie loben, betonen Kritiker vielmehr die autofiktionalen Umdeutungen und Verklärungen, mit denen das Leben »retrospektiv als kontinuierliches und letztlich einheitliches Ganzes« dargestellt wird.52 Gewiss sind diese Pros und Kontras stichhaltig. Eine kritische Haltung gegenüber dieser vermeintlich authentischen Erzählform ist aber jedenfalls vonnöten, und besonders dann, wenn man sich mit der Gattung des autobiografischen Romans befasst. Vielmehr als einen unvermittelten Zugang zur historischen Vergangenheit zu liefern, konstruiert das literarische Ich anhand von selbsterlebten Erfahrungen eine »biographische Erzählung, die rhetorisch und szenisch verdichtet ist«,53 so Jureit. Auf diese Weise stellen diese Texte, als »Orte subjektiver […] Sinnstiftung«, einen »individuellen Ordnungsversuch, eine Art Choreographie des eigenen Lebens dar«.54 Darin schleicht sich selbstverständlich auch die aktuelle Erzählsituation ein. Bei Salomon sind die Darstellung des Vergangenen und die Selbstpositionierung in der Gegenwart auf Engste miteinander verschränkt.
Lebenslauf eines Außenseiters55 Flucht in die Kadettenanstalt: Die Kadetten (1933) Der 1902 geborene Ernst von Salomon war beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs erst zwölf Jahre alt. Den Krieg erlebte er in der Königlich Preußischen Kadettenanstalt von Karlsruhe, in die er als Elfjähriger gezogen, vielleicht sogar geflohen war. Denn wie so viele seiner Generation suchte Salomon im ausklingenden wilhelminischen Kaiserreich nach alternativen zu familiären Verhältnissen, so schildert er es jedenfalls in Die Kadetten (1933). Die Sozialisation in der preußischen Kadettenanstalt stellt sich als ein zutiefst prägendes Kapitel in Salomons Leben heraus.56 Die auf einen jugendlichen Heldentod abzielende Kadettenerziehung, die außer dieser Todesbereitschaft auch unbedingten Gehorsam zum Staat, asketische Disziplin und einen festen Ordnungswillen forderte, stellte das identitätsbildende soldatische Gerüst her, auf das Salomon in Krisenzeiten immer wieder zurückgriff. Auch bildete die Kadettenanstalt mit ihrer exklusiven, homosozialen Gruppenmentalität und ihrer systematischen Trennung von der zivilen Gesellschaft die Grundlage für Salomons antidemokratisches, antibürgerliches und misogynes Ressentiment. Mit seiner ausdrücklichen Rehabilitierung von preußischen Tugenden, allen voran dem ›Willen zum Staat‹, gehört Die Kadetten zu einer Reihe von Schriften, die seit dem Anfang des Ersten Weltkriegs versuchten, preußische Ideale in eine zeitgenössische Gestalt zu übertragen. Diese Umdeutung begann mit Der preußische Stil (1916) von
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Ebd., 151. Ebd., 157. Ebd., 151. Für Salomons Leben und Werk stütze ich mich besonders auf die folgenden Werken: Fröhlich, Soldat ohne Befehl, Hermand, Ernst von Salomon, Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹ (137-187) und Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer«. Salomons Zeit in der Kadettenanstalt wird meistens eher als biografische Randnotiz erwähnt. Nur Gregor Fröhlich bespricht diese Jahre in seiner Salomon-Biografie umfangreich. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 37-99.
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Arthur Moeller van den Bruck und besonders Preußentum und Sozialismus (1919) von Oswald Spengler und erlebte ihren Höhepunkt gegen Ende der Weimarer Republik mit Schriften wie Preußen muß sein (1931) von Wilhelm Stapel, Die preußische Frage (1932) von Hans Schwarz und Die Botschaft des Ostens (1933) von Carl Dryssen.57 In seiner 2017 erschienenen Biografie über Salomon liest Gregor Fröhlich Salomons Bekenntnis zum Preußentum in Die Kadetten als eine »antitotalitäre Kurskorrektur«.58 Nicht nur versuche Salomon die von ihm in Die Geächteten bejahte nihilistische Zerstörungsenergie ins Moralische zurückzubiegen59 (als mache sich der ehemalige Freikorpskämpfer plötzlich Gewissensbisse). Auch ziele Die Kadetten darauf hin, die völkische Umdeutung des preußischen Staatskonzeptes durch die Nationalsozialisten zu widerlegen, indem er es in den ursprünglichen Zustand zurückversetze.60 Dennoch, so wird die Textanalyse zeigen, drängen sich Parallelen zum ominösen Erscheinungsjahr von Die Kadetten auf. Auch Jost Hermand versucht Salomons Preußen-Hommage in ein rosigeres Licht zu rücken. Er betont vor allem den »wahrhaft sozialistischen« Impetus dieser Schrift, der in Qualitäten wie »Solidarität, Kameradschaftlichkeit, sozialer Verantwortung und damit Einordnung in das größere Ganze« seinen Ausdruck finde.61 Somit lasse sich das Buch gleichsam als ein literarischer »Abschied« von jenem militaristischen Preußen lesen, wo seit dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. »das Gesetz des Prügelstocks« geherrscht habe.62 Tatsächlich behauptet der Icherzähler in Die Kadetten eine »ausklingende Ordnung«63 zu beschreiben. Dort aber, wo Hermand Salomons Preußen-Konzeption die militaristische Schale abziehen möchte, damit lediglich der sozialistische Kern übrig bleibt, ist Salomons elitärer preußischer Zukunftsstaat letzten Endes nichts anderes als die Forderung zur unmittelbaren Einsatzbereitschaft einer auserlesenen (Todes-)Gemeinschaft von gestählten Kriegern, die nach der Auflösung ihrer Kadettenkompanien nach dem verlorenen Krieg »immer noch [marschieren]«.64 Als Salomon 1917 in die Hauptkadettenanstalt von Berlin-Lichterfelde versetzt wurde und das ihm jahrelang eingeschärfte Lebensziel eines ehrenvollen Heldentodes in greifbarer Nähe lag, brach 1918 die Novemberrevolution aus. Als unzeitgemäßes Relikt aus vergangenen Zeiten wurde das Kadettenkorps von einem Tag auf den anderen aufgelöst. In Die Kadetten beschreibt Salomon die in der Anstalt herrschende Erschütterung, die mit dem Verlust der identitätsstiftenden Ordnung einherging und den Ausgangspunkt für seine Überzeugung bildete, jetzt ›ins Nichts‹ handeln zu müssen:65 »Und doch war unsere Witterung scharf für das, was sich anbahnte, und der äußerste Schmerz, der uns bewegte, war der, so gut wie ausgeschaltet zu sein, nicht mitwir-
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Hermand, Ernst von Salomon, 14. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 306. Ebd., 305. Ebd., 306. Hermand, Ernst von Salomon, 14. Ebd., 14. Ernst Salomon, Die Kadetten (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1959), 47. Ernst Salomon, Die Geächteten (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980), 29; Salomon, »Der verlorene Haufe,« 108. Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 83.
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ken zu können, für und gegen, mit unserer wachen Kraft und Bereitschaft abseits stehen zu müssen, als Reserve ohne Front, ausgespart für nichts, und unseren Willen gerichtet in eine gespensterhafte Leere, dorthin, wo soeben noch ein Staat war, und nun nichts mehr sein sollte als ein allgemeines Gefühl. Dies war unser Schrecken, es schien, als seien wir überflüssig geworden.«66 Das Bewusstsein, im Grunde fehl am Platz zu sein, wird ihn zeitlebens nicht mehr verlassen, nicht in der Weimarer Republik, nicht während der nationalsozialistischen Diktatur und nicht im westlichen Nachkriegsdeutschland. In Die Kette der tausend Kraniche (1972) schreibt der rückblickende Icherzähler resigniert, er sei »Deutscher ohne Deutschland, Preuße ohne Preußen, ein Monarchist ohne Monarchie, ein Nationalist ohne Nation, ein Sozialist ohne Sozialismus – und wäre ich Demokrat, so sei ich einer ohne Demokratie.«67 Mit dem Gefühl, nach dem verlorenen Weltkrieg überflüssig geworden zu sein, schildert Salomon nicht nur seine eigene Gemütsverfassung. Als eines der eloquentesten Sprachrohre des ›Jahrgangs 1902‹68 fängt er die verzweifelte Gefühlslage einer ganzen Generation ein, die zu jung war, um im Ersten Weltkrieg zum aktiven Einsatz zu kommen, zu alt aber, um den Krieg und die Ideen von 1914 ohne Weiteres an sich vorbeigehen zu lassen.69 Wie keine andere Generation fühlte sich diese ›Generation der Sachlichkeit‹70 von ihren Heldenlieder singenden Vätern – nicht zuletzt vom Hohenzollernkaiser, der fluchtartig ins niederländische Exil ging – betrogen und im Stich gelassen. »La guerre, ce sont nos parents!«, so fasste Ernst Glaeser die Gefühlslage seiner Generation zusammen.71 In den vielen autobiografisch gefärbten Romanen der 1920er und frühen 1930er Jahre kultivierten die literarischen Vertreter dieser Generation daher eine ganz eigene Haltung, die sich durch Nüchternheit und Härte bis hin zur emotionalen Kälte auszeichnete, bar jeden moralischen Ballastes.72 Aus den ›Wanderern zwischen beiden Welten‹73 waren 1918 ›Wanderer ins Nichts‹74 geworden.
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Salomon, Die Kadetten, 47. Ernst von Salomon, Die Kette der tausend Kraniche (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1972), 234. Diese Formel wurde beim Erscheinen von Ernst Glaesers gleichnamigem autobiografischem Roman 1928 zum Schlagwort für die nach 1900 geborene, ›überflüssige‹ männliche Generation. Ernst Glaeser, Jahrgang 1902 (Potsdam: Gustav Kiepenheuer, 1928). Zwar ist der Generationsbegriff als historische Kategorie ein problematischer, aber selten begann eine Generation so früh mit der Aufzeichnung der eigenen Chronik, in der sich die Angehörigen als gleich gestimmte Gruppe präsentierten. Vgl. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 27ff.; Elke Matijevich, The Zeitroman of the Late Wemar Republic, 131ff. Ulrich Herbert, »›Generation der Sachlichkeit‹. Die völkische Studentenbewegung der frühen 1920er Jahre in Deutschland,« in Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hg. Frank Bajohr, Werner Johe, Uwe Lohalm (Hamburg: Christians, 1991), 115-145. Glaeser, Jahrgang 1902, 185. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 28-29. Vgl. auch Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994). Walter Flex, Der Wanderer zwischen beiden Welten (München: C.H. Beck, 1916). Friedrich Freksa, Der Wanderer ins Nichts. Roman (München: Georg Müller, 1920).
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Die Wanderer ins Nichts: Die Geächteten (1930) Nach der Auflösung der Kadettenanstalt schloss sich der inzwischen 16-jährige Salomon jenen Freikorps an, die von der sozialdemokratisch geprägten Reichsregierung zunächst zur Niederschlagung kommunistischer Umsturzversuche in Berlin und dann, auf Veranlassung von Großbritannien und Frankreich, gegen die vordringende Rote Armee im Baltikum eingesetzt wurden. Salomon erreichte das Baltikum Anfang April 1919 und gesellte sich dort dem Freikorps von Liebermann zu, in dem er aufgrund seiner militärischen Vorerfahrung als Führer eines MG-Zuges eingesetzt wurde. Die deutsche Regierung verlor aber schnell die Kontrolle über das antibolschewistische Unternehmen der Entente. Die meisten Freikorpskämpfer verstanden sich keineswegs als Hilfstruppen der Weimarer Koalition. Die Triebfedern ihrer Expedition lagen mal in einem romantischen Germanisierungsdrang des nicht mit dem Schmach der Niederlage versehenen Ostens, mal in einer Weigerung, den Großen Krieg als beendet hinzunehmen und stattdessen als ›letzte Front‹ weiterzumarschieren.75 Im zunehmenden Machtvakuum des Baltikums verloren sich die Freikorps in Gewaltorgien. Nachdem sie von der Reichsregierung nach Deutschland zurückbeordert worden waren, zog Salomon, nach einem kurzen Aufenthalt in Deutschland, wo er sich im Rahmen der Brigade Ehrhardt im März 1920 am Kapp-Putsch beteiligte, nach Oberschlesien, um den Vormarsch der Polen aufzuhalten. Aber erneut wurden die dortigen Freikorps vom SPD-Reichswehrminister Gustav Noske zurückberufen. Ihren sprichwörtlichen Rubikon überquerten die Freikorpskämpfer an der Memel. Am Ende ihrer Ostexpedition fühlten sie sich ein zweites Mal von der Heimat verraten und verlassen. Mit dieser zweiten Dolchstoßlegende in der Tasche kehrten sie als Staatsfeinde nach Deutschland zurück.76 Zielscheibe ihrer aufgestauten Frustrationen waren jetzt die Weimarer ›Novemberverbrecher‹ und ›Erfüllungspolitiker‹. Salomon schloss sich der rechtsradikalen terroristischen Organisation Consul des früheren Marineoffiziers Hermann Ehrhardt an, die Attentate auf führende Politiker der Weimarer Republik verübte, darunter den Mordanschlag auf den ehemaligen Reichsministerpräsidenten Philipp Scheidemann, die Ermordung des Reichsfinanzministers Matthias Erzberger und den Mord am jüdischen Reichsaußenminister Walther Rathenau, den Salomon in Die Geächteten als ein nationalrevolutionäres Fanal beschreibt.77 Salomon beteiligte sich am Attentat auf Rathenau; er hielt für die Attentäter Erwin Kern und Helmut Fischer das Fluchtauto bereit. Wegen Beihilfe zum Mord wurde er zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Durch die Generalamnestie Paul von Hindenburgs wurde er aber am 1. Dezember 1927 vorzeitig entlassen. Diese drei ineinander verschränkten Konfliktszenarien der frühen Weimarer Republik – die revolutionären und konterrevolutionären Wirrungen im Zuge der Novemberrevolution, die Kämpfe im östlichen Grenzgebiet des Baltikums und Oberschlesiens und den rechtsradikalen Terror nationalistischer Gruppierungen – beschreibt Salomon in seinem beim Rowohlt Verlag erschienenen succès de scandale Die Geächteten. Der Erfolg brachte ihm zwar keine stabilen Lebensumstände, gewährte ihm aber den Zugang zu 75 76 77
Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 170. Ebd., 170. Der Icherzähler in Die Geächteten betont, dass Antisemitismus kein Motiv für den Mord war.
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den Berliner Intellektuellenkreise, wo er zahlreiche Bekanntschaften mit oftmals linksorientierten Schriftstellern und Künstlern wie Bertolt Brecht und Georg Grosz pflegte.78 Vielmehr als eine Rechtfertigungsschrift oder eine retrospektive Beschönigung ist Die Geächteten eine sich am Stil der Neuen Sachlichkeit orientierende »Darstellung« von Salomons Motiven für die Teilnahme an den Freikorpskämpfen und der Ermordung Rathenaus, so macht der Autor seinen Lesern im Vorwort von 1961 klar. Diese seien mit der damaligen »amoralisch[n] Epoche« völlig im Einklang gewesen: »Die Motive zu diesem Mord konnten vor Gericht nicht geklärt werden, das Buch sollte sie klären. […] Ich muß mich zu diesem Buch bekennen, und ich tue es.«79 Damit erfüllt der Roman für Salomon jene subversive Funktion, die Michel Foucault der Literatur zugesprochen hat, als er sie in Die Ordnung der Dinge als Gegendiskurs bezeichnete.80 Indem Diskurse Grenzen des Sagbaren herstellen, ist Literatur, mit ihrer Vorliebe für das Ausgeschlossene, zumindest für den frühen Foucault immer auch eine Form von Grenzüberschreitung.81 Salomon scheint mit seinem Roman einen ästhetischen Widerstand gegen jene ›Wahrheit‹ leisten zu wollen, die ihm vor Gericht auferlegt worden ist. Der Text präsentiert sich in seiner Beschreibungswut als literarische Selbstbehauptung eines (stolzen) Verbrechers, der im Medium der Literatur die Grenzen der Diskurse zu sprengen versucht. Die Geächteten ist eine rabiate Abrechnung mit der Weimarer Republik aus der Perspektive des Neuen Nationalismus. Die nationalrevolutionären Intellektuellen, die sich Ende der 1920er Jahre unter diesem Banner zusammenschlossen, zelebrieren in ihren Texten die Nation als eine transzendente Größe, den Krieg als »reinste[n] Ausdruck elementarer Lebensdynamik« und den Frontkämpfer als eine heroische und amoralische Gegengestalt zu den vermeintlichen Pappfiguren der Weimarer Demokratie.82 Salomon war im Gegensatz zu anderen Protagonisten dieser Gruppe kein Teilnehmer am Ersten Weltkrieg; sein Bekenntnis zum Neuen Nationalismus hat seine Wurzel in der am Anfang des Romans beschriebenen trostlosen Rückkehr geschlagener deutscher Frontsoldaten in die Heimatstadt. Diese Kriegsheimkehrer, die eine bürgerliche Welt vorfanden, in die sie sich nicht mehr einfügen konnten oder wollten, verkörpern für den Icherzähler einen neuen, harten und amoralischen Soldatentypus, den der Krieg – als »aller Vater Dinge«83 – erzeugt hatte und der jetzt die quasianarchischen Schlachtfel-
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Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 302. Ernst von Salomon, Die Geächteten, 5. Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1974). Rolf Parr, »Liminale und andere Übergänge. Theoretische Modellierungen von Grenzzonen, Normalitätsspektren, Schwellen, Übergängen und Zwischenräumen in Literatur- und Kulturwissenschaft,« in Schriftkultur und Schwellenkunde, Hg. Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Bielefeld: transcript 2008), 11-63, hier: 32. Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 85. Vgl. auch Salomon, »Der verlorene Haufe,« 118: »Da der Soldat entschiedener lebt, zeigen sich ihm auch die Verwandlungen des Lebens entschiedener an.« »Der Krieg, aller Vater Dinge, ist auch der unsere; er hat uns gehämmert, gemeißelt und gehärtet zu dem, was wir sind.« Ernst Jünger, »Der Kampf als inneres Erlebnis,« in ders., Sämtliche Werke, Bd. 7 (Stuttgart: Klett-Cotta, 1980), 11-104, hier: 11.
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der des Nachkrieges betritt: »Der ungeheure Druck des Krieges und Nachkrieges hatte eine neue Rasse, einen neuen Typus Krieger geformt«,84 so schreibt Salomon in »Der verlorene Haufe«. Aus den asketischen Kadetten und staatstragenden Offizieren waren Partisanen geworden, die sich als Landsknechte, als »Soldaten ohne Befehl« begriffen.85 Wie Fröhlich argumentiert, ist dieses paramilitärische Selbstverständnis nicht mehr oder nur bedingt mit den bisherigen preußischen militärischen Traditionen, die Salomon in der Kadettenanstalt eingebläut worden waren, in Einklang zu bringen.86 Und doch spielt Preußen auch in diesem Roman eine beträchtliche Rolle, wie die Textanalyse zeigen wird.
Engagement in der Landvolkbewegung: Die Stadt (1932) Nach seiner Haftentlassung im Dezember 1927 beteiligte sich Salomon an der im Januar 1928 in Schleswig-Holstein angefangenen Landvolkbewegung, die auch sein von den Rechtsradikalen zu den Kommunisten übergewechselter älterer Bruder Bruno unterstützte.87 Die Landvolkbewegung entstand als spontaner Steuerboykott gegen die bauernfeindliche Politik der Reichsregierung und mündete in einen anarchischen Aufstand gegen die auf eine Wirtschaftskrise zusteuernde Weimarer Republik. Nach zahlreichen Konfrontationen mit der Polizei und gezielt ausgeführten Sprengstoffanschlägen auf Symbole des ›Weimarer Systems‹ war der Höhepunkt dieser Terrorwelle das von Ernst von Salomon und Walther Muthmann ausgeführte Bombenattentat auf den Berliner Reichstag am 1. September 1929. Als Salomon nach nur wenigen Monaten Gefängnis am 16. Dezember 1929 freigelassen wurde, zog er für sein nächstes Buch in das französische Baskenland. Dort beteiligte er sich nach Joseph Klein am Putschversuch des spanischen Generals José Sanjurjo und schmuggelte Waffen über die französisch-spanische Grenze.88 Hitlers Machtergreifung erlebte Salomon in Wien, wo er sich unter der Leitung des prominenten Nationalökonomen Othmar Spann am Soziologischen Institut betätigte. Seine Begeisterung für die Landvolkbewegung und seine Enttäuschung über deren Scheitern arbeitete Salomon in seinem 1932 beim Rowohlt Verlag erschienenen Roman Die Stadt ein. Im zweiten Teil dieses von der Literaturkritik häufig als unlesbar bezeichneten Buches verlagert Salomon den Schwerpunkt von Schleswig-Holstein nach Berlin und setzt sich mit den verschiedenen politischen Strömungen zwischen 1930 und 1932 auseinander. Im ideologisch aufgehetzten Klima der frühen 1930er Jahre schwankt der stark autobiografisch gefärbte Protagonist Hans Iversen, der zunächst als rechtsradikaler Journalist für die in Not geratenen Bauern eintritt, zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten. Beide Gruppierungen ringen zu diesem Zeitpunkt darum, die
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Salomon, »Der verlorene Haufe,« 122. Fröhlich, Soldat ohne Befehl. Fröhlich bezieht sich für diesen Titel auf Salomons Beitrag »Soldaten ohne Befehl« in der Freikorpszeitschrift Der Reiter gen Osten. Mit dieser Formel charakterisiert Salomon das Selbstverständnis der Freikorps. Ernst von Salomon, »Soldaten ohne Befehl,« Die Reiter gen Osten 5, 9, 1934, 3-4. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 176. Hermand, Ernst von Salomon, 7. Klein, Ernst von Salomon, 204.
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deutsche Arbeiterschaft auf ihre Seite zu bringen. Iversen ist von der brachialen Militanz beider Gruppen hingerissen. Allerdings kann er weder die Bewunderung der Kommunisten für die Sowjetunion noch das Legalitätsprinzip der Nationalsozialisten ohne weiteres hinnehmen. Die eine Haltung findet er zu ›östlich‹, die andere zu ›westlich‹. Um zu verhüten, dass Deutschland daher entweder zum »russischen Vorfeld« oder zur »amerikanischen Kolonie« avanciert,89 plädiert Iversen – wie viele zwischen 1930 und 1933 – für einen ›dritten Weg‹, der die nationale Eigenart Deutschlands in den Vordergrund stellt. Diese zeichnet sich für Iversen vor allem durch Bauerntum, Kameradschaft und einen radikalen Umsturzwillen aus. Letztendlich zieht er dann doch die rebellisch gesinnten Kommunisten den auf Legalität dringenden Nationalsozialisten vor. Bevor er sich aber endgültig entscheiden kann, wird er bei einer kommunistischen Demonstration von einem Polizisten erschossen.
Hitler als Verhängnis: Salomons Verhältnis zum Nationalsozialismus So wie der Protagonist von Die Stadt das Legalitätsprinzip der Nationalsozialisten verwirft, so lehnte auch Salomon die NSDAP trotz ihrer antidemokratischen Stoßrichtung als eine dem demokratischen System grundsätzlich entstammende Partei ab. In rückblickenden Porträts durch Freunde und Bekannte wie Axel Eggebrecht und Wolfgang Koeppen oder durch die Redaktion der linksliberalen Wochenzeitung DIE ZEIT, in der Salomon hin und wieder publizierte, wurde er dezidiert als »Hitler-Gegner« dargestellt.90 Nicht nur kollidierte die pragmatische Parteipolitik und Machtergreifung Hitlers mit Salomons metapolitischem Radikalismus, der sich programmatisch der konkreten politischen Festlegung seiner nationalrevolutionären Ziele verweigerte.91 Auch waren die ›plebejische‹ Organisationsform der NSDAP, ihre angestrebte Mobilisierung der Massen und ihre Gleichsetzung von Staat, Nation und Volk meilenweit von Salomons elitärem nationalem Projekt entfernt.92 Nur eine kleine Schar von Auserwählten war laut Salomon zu nationalrevolutionären Taten fähig. So schreibt er 1928 im Aufsatz »Masse und Mensch«: »Der Nationalismus ist ausgesprochen eine Bewegung der Einzelnen. Ihm ist die Masse wohl form- und verwendbar, niemals bewegendes, schöpferisches Moment. Wir glauben an keinen Aufstand der Masse. Wir glauben an einen Aufstand des neuen Menschen.«93 Dass sich führende Denker der Konservativen Revolution entweder von Beginn an von Hitler und der NSDAP fernhielten, wie Salomon und Jünger, oder sich später distanzierten, wie Carl Schmitt, mag also nur auf den ersten Blick überraschen.94 89 90
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Ernst von Salomon, Die Stadt (Berlin: Rowohlt, 1932), 272. Axel Eggebrecht, Der halbe Weg. Zwischenbilanz einer Epoche (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1975), 295; Wolfgang Koeppen, Einer der schreibt. Gespräche und Interviews, Hg. Hans-Ulrich Treichel (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995), 162; Josef Müller-Marin, »Abschied von Ernst von Salomon. Er blieb ein Preuße durch und durch. Ein Mensch und Autor, der von den Normen abwich,« DIE ZEIT, 18. Aug., 1972, https://www.zeit.de/1972/33/er-blieb-ein-preusse-durch-und-durch (abgerufen 17.09.2017). Für diese Hinweise: Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹, 151. Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 89. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 301, 305. Ernst von Salomon, »Masse und Mensch,« Deutsche Front, 1. Mai 1928. Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 89.
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In Der Fragebogen präsentiert sich Salomon als ein unbeirrbarer Gegner der nationalsozialistischen Diktatur und ein konsequenter Verächter Hitlers. Hitler war für ihn eine diabolische »Schicksalsgestalt«, eine verhängnisvolle Prüfung für die deutsche Nation, die man zu durchstehen habe.95 Wie Herzinger hervorhebt, ist diese heroische Haltung zu diesem Zeitpunkt aber »nur noch eine mühsam aufrecht erhaltene Pose, die dem eigenen unbeteiligten, fatalistischen Beiseitestehen den Anschein tragischer Konsequenz verleihen sollte.«96 Vielmehr hatte sich Salomon mit der nationalsozialistischen Diktatur arrangiert und führte das einst so verachtete passive und gemächliche Leben eines Bürgermanns, eines »Revolutionärs außer Dienst«.97 In diesen Jahren verdiente sich Salomon sein Brot auf unterschiedliche Weisen. Er arbeitete als Lektor bei Rowohlt, bis der Verlag 1938 von den Nationalsozialisten verboten wurde. Weiter schrieb er für die Zeitschrift Der Reiter gen Osten, in der er sich erneut mit der Freikorpsbewegung auseinandersetzte. Schließlich betätigte er sich als Drehbuchautor für Unterhaltungsfilme sowie für antienglische und nationalsozialistische Propagandastreifen, was in der Salomon-Forschung meistens unerwähnt bleibt.98 Obwohl Salomon den Nationalsozialismus in Der Fragebogen als eine pervertierte Form des Nationalismus darstellt, wünschte er sich den aktiven Einsatz im Zweiten Weltkrieg. Nach Kriegsbeginn meldete er sich unmittelbar bei der Wehrmacht, aber wegen seiner Vorstrafe durch den Mord an Rathenau wurde ihm der Dienst verweigert, so blickt er im Fragebogen zurück.99
»Io resto prussiano«: Der Fragebogen (1951) Als Salomon zusammen mit seiner jüdischen Lebensgefährtin Ille Gotthelft am 11. Juni 1945 von den Amerikanern verhaftet wurde, war das dem inzwischen 43-jährigen Schriftsteller fast zur Routine geworden. Trotzdem kam dieser sogenannte automatic arrest, unter den nach Schätzung der amerikanischen Militärregierung bis zum Juli 1945 über 80.000 Deutsche in der amerikanischen Besatzungszone gestellt worden
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Ebd., 90. Ebd., 90. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 326. Noch im Jahre 2014 ist Salomons von Herbert Selpin verfasste Film Carl Peters (1941) der von dem gleichnamigen Gründer der Kolonie Deutsch-Ostafrika handelt, von der Murnau-Stiftung wegen seines rassistischen und volksverhetzenden Inhaltes als ›Vorbehaltsfilm‹ eingestuft und kann nur unter besonderen Bedingungen gezeigt werden. Salomons Faszination für Carl Peters geht nicht zuletzt aus Peters’ Preußen-Konzeption hervor. In seinem Essay »Das Deutschtum als Rasse« (1905) macht Peters Preußen zum Leitstern seines kolonialen Projektes. Ähnlich wie bei Spengler ist die Rückbesinnung auf Preußen ein Aufruf, eine »neue, junge Rasse«, eine zukünftige deutsche »Edelrasse« heraufzuzüchten. Carl Peters, »Das Deutschtum als Rasse,« in Gesammelte Schriften, Bd. 3 (München: C.H. Beck, 1944), 355-365. Für eine Analyse von Carl Peters’ kolonialpolitischem Diskurs: Christian Geulen, »›The Final Frontier…‹ Heimat, Nation und Kolonie um 1900: Carl Peters,« in Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Hg. Birthe Kundrus (Frankfurt a.M.: Campus, 2003), 35-55. Jost Hermand bezweifelt diese offizielle Erklärung der Wehrmacht und deutet Salomon sogar zum potenziellen Widerstandskämpfer um, zu einer Laus im Pelz im Herzen der deutschen Armee: »Doch wahrscheinlich fürchtete man eher seinen rebellischen Geist, der auch andere zu einer Widerstandshaltung gegen das NS-Regime verführen könne.« Hermand, »›Was zählt, ist letztlich nur der Staat‹,« 32.
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waren,100 für den ›inneren Emigranten‹101 als eine Überraschung, schienen die dafür verwendeten Kriterien des Arrest Categories Handbook doch nicht auf ihn zuzutreffen.102 Seine Verhaftung und anderthalbjährige Internierung in verschiedenen Entnazifizierungslagern betrachtete Salomon demzufolge als Willkürakt einer selbstgerechten amerikanischen Siegermentalität, nicht zuletzt weil er– so schreibt er in Der Fragebogen empört – von den amerikanischen Militärbehörden ohne Weiteres als »irrtümlich Verhafteter«103 entlassen wurde. Der Fragebogen bietet Salomon 1951 die Gelegenheit, seinen Frustrationen über seine Internierung in mehr als 800 Seiten Luft zu machen. Den 131 Fragen zählenden Fragebogen der alliierten Militärregierung beantwortet der ironische Icherzähler pedantisch genau. Salomon unternimmt den Versuch, 50 Jahre deutsche Geschichte aus der autobiografischen Sicht eines Außenseiters einzufangen. Er schildert unter anderem seine Zeit im Freikorps des Kapitäns Ehrhardt, seine Beteiligung am Kapp-Putsch, an der Landvolkbewegung und am Rathenau-Mord sowie sein Leben als Nationalrevolutionär unter der nationalsozialistischen Diktatur. Das schier endlose Panorama von Anekdoten ist aber nur das Vorspiel zum eigentlichen Höhepunkt: der vehementen Anklage gegen die USA und deren überhebliche Unterdrückungspraktiken, sei damit nun ihr brutales Vorgehen in den Entnazifizierungslagern, ihre ›inquisitorischen‹ Befragungstechniken oder ihr ›imperialistisches‹ Sendungsbewusstsein in Bezug auf die Verbreitung der American way of life gemeint. Diese Darstellung der amerikanischen Entnazifizierungspolitik als quasireligiöse Missionierung findet sich in der frühen Nachkriegszeit nicht nur bei Salomon. Auch Autoren wie Gottfried Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger beschreiben die Verwaltung der Alliierten immer wieder als koloniale »Okkupation«,104 wie schon der Titel eines Buches Jüngers deutlich macht. Der Fragebogen ist aber nicht nur eine antiamerikanische Schimpfschrift, sondern auch eine widerborstige Deutschland-Apologie. Wie Hermand darlegt, verweigert sich der Roman ausdrücklich dem zeittypischen Ton der Anklage gegen Deutschland und plädiert selbstbewusst für eine nationale Selbstbehauptung inmitten fremdländischer oder supranationaler Anfechtungen im Kontext des Kalten Krieges.105 Die Frage nach der Staatsangehörigkeit ist für den autobiografischen Icherzähler »eine Frage auf Leben und Tod«.106 Da es zu diesem Zeitpunkt wegen der Teilung Deutschlands in vier
100 Clemens Vollnhals, »Entnazifizierung. Politische Säuberung unter Alliierter Herrschaft,« in Ende des Dritten Reiches – Ende des Zweiten Weltkrieges, Hg. Hans-Erich Volkmann (München: Piper, 1995), 369-392, hier: 377. 101 Als »inneren Emigranten« bezeichnet ihn Ralf Heyer. Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹, 150. 102 Aufgelistet waren Mitglieder der paramilitärischen Waffen-SS und der SA, der deutschen Geheimdienste, der Sicherheitspolizei, des Grenzdienstes, der Gestapo sowie Landräte, Beamte der NSDAP und Staatsbeamte ab dem Rang des Ministerialrates. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 330. 103 Ernst von Salomon, Der Fragebogen (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1953), 788. 104 Ernst Jünger, Jahre der Okkupation (Stuttgart: Klett-Cotta, 1958). Für den Hinweis: Gregor Streim, »Unter der ›Diktatur‹ des Fragebogens. Ernst von Salomons Bestseller Der Fragebogen (1951) und der Diskurs der ›Okkupation‹,« in Literarische und politische Deutschlandkonzepte 1938-1949, Hg. Gunther Nickel (Göttingen: Wallstein, 2004), 87-116, hier: 90, 103. 105 Hermand, Ernst von Salomon, 19-20. 106 Salomon, Der Fragebogen, 60.
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Besatzungszonen und in zwei Satellitenstaaten noch keine deutsche Staatsangehörigkeit gebe, beschwört er sein geliebtes Preußen herauf. Dort sei nämlich zum ersten Mal die Idee entstanden, dass »der Wille zum Staate das Einzige ist, was die Nation zusammenhält.«107 Solange er also nicht »zu sagen in der Lage [ist], daß [s]eine Staatsangehörigkeit eine deutsche ist,« so bleibt ihm »nichts, als […] zu bekennen: Ich bin ein Preuße, und ich will ein Preuße sein.«108 Dieses Bekenntnis zu Preußen zeigt sich schon im schwarz-weiß-roten Buchumschlag. Diesbezüglich verwundert es nicht, dass die italienische Übersetzung von Der Fragebogen den Titel Io resto prussiano, »ich bleibe Preuße«, trägt. Die Wahlverwandtschaft mit Preußen musste vielen bundesrepublikanischen Leser*innen als antiquiert, ja als unanständig und sogar suspekt vorkommen,109 nicht nur weil sich die junge Bundesrepublik unter Konrad Adenauer resolut für eine Westorientierung entschied, aber vielleicht vor allem weil der preußische Bundesstaat vor vier Jahren vom Alliierten Kontrollrat in Berlin als ideologischer Wegbereiter des Nationalsozialismus offiziell aufgelöst worden war. Nach zwei verlorenen Weltkriegen schien die Zeit des deutschen Nationalismus endgültig vorbei zu sein. Die Konfession eines überzeugten Nationalisten löste dann auch ein gewaltiges Presseecho aus. Das Urteil der Literaturkritik war überwiegend negativ. Man sprach von einer »faschistisch verschmockten Autobiographie«,110 einem »literarische[n] Attentat auf Deutschland«111 oder – prosaischer – einer »peinlichen Stinkbombe«.112 Zwar lobten die meisten Kritiker Salomons geschliffenen Schreibstil und ironisch-witzigen Ton, dennoch stießen der dreiste Antiamerikanismus, der unverhohlene antidemokratische Grundton und die Verharmlosung und partielle Reinwaschung der NSDAP und der Waffen-SS auf eine Mauer von Ablehnung. »Ein blendendes, aber gefährliches Buch,« so fasste Die Welt den Roman zusammen.113 Trotzdem (oder gerade deswegen) avancierte das Buch zum regelrechten Verkaufsschlager und zum ersten literarischen Erfolg im Nachkriegsdeutschland überhaupt. Noch im selben Jahr gab es vier weitere Auflagen, allein bis 1953 wurden mehr als 200.000 Exemplare verkauft, Übersetzungen auf Englisch, Französisch und Italienisch
107 Ebd., 64. 108 Ebd., 64-65. 109 Wenige Wochen vor der Erscheinung von Der Fragebogen hatte sich ein anderer Preußen-Fan, HansJoachim Schoeps, für die Rehabilitierung Preußens in der akademischen Welt eingesetzt. Anlass war das Fehlen jeglicher Gedenkfeier des 250. Geburtstages des preußischen Staates am 18. Januar 1951. Schoeps hielt darauf einen Vortrag mit dem Titel »Die Wahrheit über Preußen« im Audimax der Universität Erlangen, wo er seit 1947 Professor für Geistesgeschichte war. Der Vortrag wurde ein großer Erfolg. Die Druckausgabe des Vortrages unter dem Titel Die Ehre Preußens verkaufte sich zehntausendfach. Erik Lehnert, »Die letzten Preußen,« Sezession 38, 1. Okt., 2010, 1-4, hier: 2, https ://sezession.de/22731/die-letzten-preussen-2 (abgerufen 17.09.2018). 110 Friedrich Luft, »Ein literarischer Remer. Zu Ernst von Salomons ›Fragebogen‹,« Die Neue Zeitung, 27. Okt., 1951. 111 Gerhard Pohl, »Die großen Tips,« Der Monat 4, 40, 1952, 439-443, hier: 441. 112 Luft, »Ein literarischer Remer«. 113 Gert H. Theunissen, »Der Fragebogen des Herrn von Salomon. Ein blendendes, aber gefährliches Buch,« Die Welt, 19. April, 1951.
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folgten schnell. 1985 wurde der Roman sogar verfilmt.114 Wolfgang Koeppen beschreibt in seiner Erzählskizze Wie ich dazu kam… zur Entstehungsgeschichte seines Romans Tod in Rom (1954) die Auslage der Buchhandlungen in Rom, in denen man offensichtlich nur zwei deutsche Autoren kenne: Goethe und Ernst von Salomon.115 Der Fragebogen schien gerade durch seine Unzeitgemäßheit den Nerv der Zeit getroffen zu haben, insofern er zum ersten Mal einem weitverbreiteten Unbehagen an den Entwicklungen nach 1945 Luft machte. Mit seiner Darstellung der amerikanischen Soldaten als gesinnungsloser, kaugummikauender Rüpel entsprach Salomon einem 1951 noch spürbaren Ressentiment gegenüber den Amerikanern, die vor dem Hintergrund der Kollektivschuldthese Hans Morgenthaus den Deutschen vorwarfen, sie hätten in ihrer Mehrheit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft unterstützt.116 Dieser Pauschalverdammung setzt Salomon in Der Fragebogen eine Verharmlosung seiner Figuren und eine Relativierung der nationalsozialistischen Gräueltaten gegenüber. So zieht er Parallelen zwischen den amerikanischen Internierungslagern und den deutschen Konzentrationslagern und rehabilitiert die Waffen-SS als Keimzelle eines möglichen antiamerikanischen Widerstandes.
Der antiamerikanische Friedenskämpfer: Die Kette der tausend Kraniche (1972) Vor dem Hintergrund dieser antiamerikanischen Deutschland-Apologie wird es einsichtig, warum sich der frühere Krieger Salomon in den 1950er und 1960er Jahren den neutralistischen Ideen und pazifistischen Bestrebungen der deutschen Abrüstungsbewegung annäherte. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt gab es nicht wenige Befürworter einer als »dritter Weg« bezeichneten Alternative für die amerikanische oder sowjetrussische Dominanz. Der Fragebogen erschien auf dem Höhepunkt dieser neutralistischen Forderungen.117 Auch wenn die Neutralisten alles andere als eine homogene Gruppe bildeten, stand das gemeinsame Ziel eines wiedervereinigten, blockfreien Deutschlands für alle fest. Wie Fröhlich darlegt, hing Salomon der Idee eines Nationalneutralismus an, mit der er ein unabhängiges Deutschland innerhalb der Grenzen von 1937 beanspruchte.118 In einem wiedervereinigten und neutralen Deutschland sah er die Grundlage für eine erneute nationale Selbstbestimmung.119 Demzufolge übte Salomon in nationalen und internationalen Zeitschriften scharfe Kritik an den Plänen einer Wiederbewaffnung Westdeutschlands im Zuge einer angestrebten NATO-Mitgliedschaft. Nicht nur hielt er die Idee einer deutschen Armee in einer demokratischen Staatsform für absurd.120 Anders als die meisten Anhänger der frühen bundesrepublikanischen Friedensbewegung, die in der Wiederaufrüstung eine Heraufbeschwörung des gebannt
Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 341. Wolfgang Koeppen, »Wie ich dazu kam…,« in DIE ZEIT, 4. Nov., 1954, https://www.zeit.de/1954/44/ wie-ich-dazu-kam (abgerufen 17.09.2018). 116 Hermand, Ernst von Salomon, 20; Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 92. 117 Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 361. 118 Ebd., 362. 119 Ebd., 362. 120 Ernst von Salomon, »Es gibt keine demokratische Armee!,« Rheinisch-Westfälische Nachrichten, 15. Jan., 1955.
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geglaubten militaristischen Geistes erblickten, bedeutete die Einreihung Westdeutschlands in das westliche Militärbündnis für Salomon vor allem eine Untergrabung allgemeindeutscher Interessen, erklärte sich der westdeutsche Staat so doch für den Bruderkampf gegen sein ostdeutsches Gegenstück bereit.121 Ende der 1950er Jahre mischte sich Salomon in die explosive Debatte um die atomare Aufrüstung der Bundeswehr ein. Wie viele Mitglieder der Anti-Atombewegung stand Salomon dadurch im Verdacht, kommunistische Sympathien zu hegen.122 Tatsächlich schätzte er den antiwestlichen, antiliberalen und autoritären Charakter und den revolutionären Impetus der DDR und sah dort sogar in gewissem Maße sein Ideal des preußischen Sozialismus verkörpert.123 So erklärte er 1967 in einem Rundfunkinterview, dass der Kommunismus diejenigen Tugenden hochzuhalten habe, die schon die Tugenden Preußens gewesen seien: »Solidarität, Disziplin, Organisation, Denken für den Staat, der Staat als Motiv des Handelns.«124 Der Verdacht kommunistischer Sympathien wurde noch verstärkt durch seine Präsidiumsmitgliedschaft im von der Stasi finanzierten Demokratischen Kulturbund Deutschland, sowie sein politisches Engagement für die 1960 gegründete Deutsche Friedens-Union Anfang der 1960er Jahre. Deren ursprüngliches Ziel war es, Kommunisten, Sozialisten, Neutralisten und Nationalisten gegen die Westpolitik der Bundesrepublik zu vereinen. Dies bedeutete aber keineswegs, dass Salomon ins kommunistische Lager der DDR gewechselt war: »So lange im Osten stets von der Gesellschaft und der Partei gesprochen werde statt vom Staat, bleibe der Hafen für einen Preußen vermint«, so zitiert Hans Lipinsky-Gottersdorf einen pathetischen Salomon im Vorwort zu dessen Roman Der tote Preuße.125 Vielmehr verstand sich Salomon als ein ungebundener Querdenker, ein radikaler Außenseiter, der in keinem politischen Lager seine Heimat fand und diese politische Obdachlosigkeit mit forcierter Charakterfestigkeit zu überwinden versuchte. Salomons Engagement in der bundesrepublikanischen Friedensbewegung gipfelte in seiner Teilnahme an der VII. Weltkonferenz gegen Atombomben in Tokio im August 1961, wo er als offizieller Delegierter für die Bundesrepublik auftrat.126 Über diese Reise berichtet er in seinem 1972 postum veröffentlichten autobiografischen Roman Die Kette der tausend Kraniche, der mit seinem ironisch-anekdotischen Stil und antiamerikanischen Stoßrichtung ganz in der Tradition von Der Fragebogen geschrieben ist. In diesem Roman demonstriert Salomon, wie sich sein nationalistischer Furor mit den ›antiimperialistischen‹ und pazifistischen Bestrebungen der Anti-Atombewegung verbinden lässt.127 Salomons Friedensappell auf der Anti-Atomkonferenz ist letztendlich 121 122 123 124 125 126
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Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 363. Ebd., 364. Ebd., 366. Interview mit Salomon von Wolfgang Venohr, WDR, 1. Januar, 1967, abgedruckt unter dem Titel »Ein Mensch mit seinem Widerspruch,« Neue Politik 12, 38, 23. Sept., 1967, 16-18, hier: 17. Ernst von Salomon, Der tote Preuße. Roman einer Staatsidee (Reinbek bei Hamburg, 1977), 10. Salomon brachte die Anekdote im Umlauf, dass seine Einladung zur Weltkonferenz lediglich auf einem Missverständnis beruhe: Die Japaner hätten den Titel des Film 08/15 (1954), für den Salomon das Drehbuch verfasst hatte, als eine Verweisung auf den Bombenabwurf über Hiroshima verstanden, weil die Bombe um 08 Uhr 15 gefallen war. Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 369. Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 94.
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nichts anderes als eine antiwestliche Kampfansage an die Weltmacht der USA. Weder den Holocaust noch das sowjetische GULAG-System, sondern die grenzenlose nukleare Kriegsführung der USA hält der autobiografische Icherzähler für das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Durch diese ›Amerikanisierung‹ des Krieges sei auch das traditionelle soldatische Selbstverständnis obsolet geworden. Konnte Salomon der hochtechnisierten Kriegsführung des Ersten Weltkriegs und der Freikorpskämpfe mittels strategischen Umdeutungen noch den Anschein eines intensiveren Lebens geben, so bedeute der Druck auf den Atomknopf einfach eine sinnlose Verschwendung von Leben. Der elitäre Krieger, der seine Identität aus dem heroischen Zweikampf zieht, kann jetzt von einem Herrn Jedermann zur Seite geschoben werden: »Was soll das Kriegertum, seine Tugenden und seine Ehre noch für einen Sinn haben«, so klagt der Icherzähler gegen einen japanischen Samurai, in dessen Verhaltenskodex er starke Übereinstimmungen mit dem preußischen Kriegerethos erblickt,128 »wenn es möglich ist, die letzte Entscheidung durch den Druck auf einen Knopf herbeizuführen, mit dem irgendein Krawattenhändler im sicheren Betonunterstand nach seinem Verstand die Welt untergehen lassen könnte!«129 Dieser nuklearen Kriegsführung der Amerikaner stellt Salomon in Die Kette der tausend Kraniche eine Kampfform gegenüber, von dem er dachte, es gebe ihn nicht mehr: den Partisanenkampf Che Guevaras. In den Dschungeln und Slums Südamerikas focht der marxistische Guerillaführer die nationalistischen Befreiungskämpfe gegen den amerikanischen Imperialismus aus, die Salomon auch für Deutschland verlangte und die er als Freikorpskämpfer einst selbst, gleichsam als Vorläufer der antikolonialen Bewegung, im »Dschungel der Großstädte« in der Weimarer Republik geführt habe: »Ich hatte die mageren Nachrichten vom Partisanenkrieg in Kuba mit Eifer studiert wie alle Beispiele einer nationalen Revolution […]. [D]a schien mir dieser Che in der Tat wesensverwandt mit dem, was ich vorzustreben bemüht war. […] [E]r war ein echter Vertreter des Gedankens, daß Revolutionen überhaupt nur auf nationaler Basis zu einer wirklichen Volksbefreiung führen konnten, er war ein Freikorpsguerilla, ein Partisan im Dschungel der Wälder, wie ich es einst im Dschungel der Großstädte für möglich hielt, er war sich bewußt, daß nur eine eigene Gerichtsbarkeit, die der Femegerichte, die Disziplin in der Guerillaformation aufrechterhalten konnte, und schließlich, dass der echte Nationalrevolutionär notwendig mit einem echten Sozialismus strengster Observanz zu einer echten wirtschaftlichen Befreiung vom internationalen Kapital führen konnte und daß dieser Kampf weltweit geführt werden mußte.«130 Indem Salomon die Bundesrepublik als ›Schuldkolonie‹ der USA imaginierte, konnte er sie in die Reihe der kolonial unterdrückten Staaten der Dritten Welt einstufen. Seine
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Auch Spengler bewunderte die japanische Elite der Samurai als eine »alte, stolze, ehrenhafte und tapfere Herrenschicht […], die mit zum besten gehört, was die ganze Welt an ›Rasse‹ besitzt.« Spengler, Jahre der Entscheidung, 77. 129 Salomon, Die Kette der tausend Kraniche, 243. 130 Ebd., 181.
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Hoffnung auf einen ›dritten Weg‹ projizierte er jetzt in deren Erwachen eines nationalen Selbstbehauptungswillens.131
Der tote Preuße: Roman einer Staatsidee (1973) Diese Art von Geschichtsklitterung wird in Salomons dickleibigem Nachlassfragment Der tote Preuße. Roman einer Staatsidee auf die Spitze getrieben. Vielmehr als ein Roman ist Der tote Preuße ein von historischen Daten und Fakten überquellender, schwer lesbarer Großessay. Das ursprüngliche Projekt zielte darauf ab, in drei Bänden einen umfangreichen Überblick der deutschen Lebensverhältnisse von den Germanenzeiten bis zum vermeintlichen Untergang Preußens im Jahr 1933 zu verschaffen, aber durch Salomons Tod 1972 bricht das Werk schon im Mittelhochalter ab. Wenn diesem Buch in den Feuilletons schon eine Rezension gewidmet wurde, dann war das Urteil vernichtend: Der Spiegel nannte es eine »wabernde Geschichtsfibel, in der sich Lexikon, historisches Handbuch und markige Holzschnitt-Urteile à la Werner Beumelburg mit Stilblüten […] und Spuren alter Erzählkunst verquicken.« Man hätte »besser getan«, so Der Spiegel, »das offenbar unredigierte Arbeitsmanuskript eines unglücklich in die Geschichte Verliebten nicht zu drucken.«132 In Der tote Preuße bildet das Grab eines anonymen preußischen Soldaten im Kurpark von Bad Kissingen den anekdotischen Anlass, um in der deutschen Geschichte Ansätze einer preußisch-sozialistischen Staatsidee aufzudecken und sie von den Fehlentwicklungen zu trennen. Diese Aufteilung führt oft zu abstrusen Analogien zwischen Herrschern und Epochen. So wird der Widerstandskampf der Germanen gegen die Römer als eine Präfiguration der antiamerikanischen Stimmen in der Bundesrepublik stilisiert, kämpften die Germanen doch gegen den römischen »Way of Life«, das heißt die »flache und angenehme Kunst der Römer«.133 ›Antiwestlich‹ regierende, ostwärts orientierte Herrscher wie der Ostgote Theoderich der Große, der zudem Übereinstimmungen mit Friedrich II. aufweise, werden als Vertreter preußischer Werte hochgelobt. Hingegen werden die Agenten Roms, die den Kaiserthron der Macht der Päpste unterordneten, allen voran Carolus Magnus, als Verräter des preußischen-sozialistischen Staatsideals diffamiert.134 Der Gegensatz zwischen westlicher ›Überfremdung‹ und nationalem Selbstbehauptungswillen, der Salomons Werke seit der Teilung Deutschlands prägt, wird hier also in ein historisches Narrativ gestellt. Salomon wollte mit diesem Romanprojekt, das er als sein Hauptwerk betrachtete, noch ein letztes Mal das tote Preußen für die Wiederbelebung einer bestimmten Staatsidee heraufbeschwören. Diese warte bis heute »auf ihre Stunde […], endlich in die Wirklichkeit überführt zu werden«, wie er in einem Gespräch mit Hans LipinskyGottersdorf, dem Verfasser des Vorwortes, erklärte.135 Aber zu diesem Zeitpunkt klang die Idee eines autoritären, sozialistischen, militärischen und hierarchisch gegliederten
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Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 378-379. »Historische Ruins,« Der Spiegel, 29. Okt. 1973, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41898458.ht ml (abgerufen 17.09.2018). Salomon, Der tote Preuße, 36. Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹, 185. Salomon, Der tote Preuße, 13.
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preußischen Staates, der frei vom Einfluss des Westens und stark nach dem Osten ausgerichtet war, in der Bundesrepublik furchtbar antiquiert, wenn nicht reaktionär: »Was als Rohbau nachbleibt, ist bereits Ruine«,136 so schreibt Der Spiegel pointiert. Die praktische Unumsetzbarkeit dieses Staatsentwurfes ist aber nicht nur auf kontextbezogene Faktoren zurückzuführen, sondern ist ihm strukturell eingeschrieben. Wie bei Spengler und anderen Denkern aus dem konservativ-revolutionären Umfeld basiert Salomons Zukunftsvision – das macht schon der Untertitel Roman einer Staatsidee deutlich – auf der »Vorstellung von der Selbsterschaffung der Nation in der Hingabe an eine absolute Idee«.137 Insofern sich Salomon dabei konkreten (partei-)politischen Zielen verweigert, diese gleichsam imaginär ›überbieten‹ will, ist sein Staatsentwurf letztendlich nichts anderes als ein ewig-ästhetisch-utopisches Konstrukt.138 Diesem ist, wie Herzinger in Bezug auf die Konservative Revolution darlegt, das »Scheitern […] gleichsam konstitutiv eingeschrieben.«139 Die Verarbeitung dieser Enttäuschung, die von der praktischen Unerfüllbarkeit hervorgerufen wird, bestehe Herzinger zufolge gerade in der »Radikalisierung [des] utopischen Anspruchs.«140 Diese schlägt sich nicht zuletzt in einer exzessiven Tatrhetorik nieder, wie auch die folgende Textanalyse zeigen wird. Die zyklopischen Gedankenbauten, die Salomon in seinem letzten Werk aufeinanderschichtet, zeigen tatsächlich, wie sehr das strukturelle Scheitern seiner Staatsutopie gerade eine Radikalisierung der Erwartung auslöst. Im Folgenden soll anhand zweier auf den ersten Blick inkommensurabler Romane, Die Geächteten (1930) und Die Kadetten (1933), der zentralen Stellung der preußischen Staatsidee und der preußisch-deutschen Nation im literarischen Schaffen Salomons nachgegangen werden. Die Wahl für zwei Texte aus Salomons Frühwerk ist im Hinblick auf die dargelegte geistige Kontinuität seines Schreibens nicht beliebig. Gewiss ist eine kritische Haltung gegenüber der herkömmlichen Idee eines kohärenten Œuvres (und Lebens) berechtigt, aber in diesen Romanen der frühen 1930er Jahre legt Salomon schon die weltanschaulichen Schwerpunkte und ideologischen Schlüsselbegriffe seines Denkens dar, zu denen er sich trotz sich wandelnder politischer Verhältnisse immer wieder leidenschaftlich bekannte. Die Entscheidung für Die Kadetten liegt auf der Hand: Mit seiner (ambivalenten) Rehabilitierung von preußischen Militärtraditionen und Tugenden wie eiserner Disziplin, asketischer Selbstbeherrschung, penibler Ordnungsliebe und bedingungslosem Gehorsam zum Staat versucht der Roman preußische Ideale in eine zeitgenössische Gestalt zu übertragen. Die hier dargelegte Lektüre von Die Kadetten fokussiert besonders auf den vom Icherzähler ausführlich geschilderten Generationenkonflikt im ausklingenden wilhelminischen Kaiserreich, der aber auch, wenn auch unter anderen Vorzeichen, die Diskurse der Weimarer Republik bestimmt. Dieser Ausgangspunkt kann in einer Arbeit über Preußen nur auf den ersten Blick überraschen. Der notorische Konflikt zwischen
»Historische Ruins,« Der Spiegel, 29. Okt., 1973. Herzinger, »Die Überbietung als ästhetische und politische Grundfigur der ›rechten Moderne‹,« 115. 138 Vgl. ebd., 108. 139 Ebd., 108. 140 Ebd., 108. 136 137
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dem strengen, jähzornigen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. und dem sensiblen Sohn Friedrich II., auf den sich auch Salomon im Vorwort zu Die Kadetten ausdrücklich bezieht, kann als der Generationenkonflikt schlechthin betrachtet werden. Nachdem der Vater den Kronprinzen in das von ihm gegründete Kadettenkorps in Berlin geschickt hatte, konnte die Geschichte Preußens erst anfangen, so erklärt Salomon seinen Lesern: »Das Spiel war aus, und was begann, das war die verdammte Pflicht und Schuldigkeit. […] Als das Wort von der verdammten Pflicht und Schuldigkeit entstand, da wurde Preußen geboren«.141 Auch stellt sich in Die Kadetten der Generationenkonflikt gerade als die Bedingung für die als preußisch-sozialistisch konzipierte soziale und politische Organisationsform des Männerbundes heraus, die sich als programmatische Verabschiedung des herkömmlichen Vatermodells der Kaiserzeit verstehen lässt. Zudem verknüpft Salomon Preußen mit einem bestimmten Erziehungskonzept, das sich von den »längst brüchig gewordenen«,142 ›verkrusteten‹ Erziehungsmethoden der wilhelminischen Vatergeneration grundlegend unterscheiden will. Die Wahl für Die Geächteten liegt vielleicht weniger auf der Hand. Tatsächlich scheint diese Gewaltapologie eines selbsterklärten Staatsfeindes dem spartanisch-strengen Ethos eines preußischen Kadetten zu widersprechen. Doch diese Gegenüberstellung ist zu rigoros: Die Montage von Klischeemotiven wie Pflicht, Gemeingefühl, Korpsgeist, dem Soldatischen, Todesbereitschaft und Selbstaufopferung für das große Ganze, die in Die Kadetten als genuin preußisch dargestellt werden, ist auch in Die Geächteten omnipräsent. Darüber hinaus wird die Ostexpansion der Freikorpskämpfer und die dadurch erhoffte nationale Regeneration durch ein scheinbar beiläufig erwähntes historisches Detail in den Kontext des preußischen Mythos gerückt. Die Freikorpskämpfer ziehen nämlich am 1. April 1919, dem Geburtstag Otto von Bismarcks, ins Baltikum. So wird der preußische Bundes- und deutsche Reichskanzler – ähnlich wie in der Schrift Das Dritte Reich (1923) von Arthur Moeller van den Bruck – zum Fortsetzer eines von den Deutschen Ordensrittern im Mittelalter begonnenen kolonialen Projektes im Kerngebiet des altpreußischen Stammes erklärt.143 Zum Schluss werden während eines Gesprächs zwischen dem Icherzähler und dem Marineoffizier Kern – der Schlüsselszene des Buches, so Salomon im Vorwort von 1961 – die politischen Ziele dieser Tatrhetoriker zum ersten Mal auf semisystematische Weise erörtert, und zwar anhand des Begriffes des ›preußischen Sozialismus‹. Wie bei Spengler wird die Leitvokabel der politischen Linken strategisch umgedeutet und von den falschen ›Interessen‹ des Klassenkampfes losgelöst, unter dem Vorwand, diesen Begriff auf seine ursprüngliche, das heißt nationale Bedeutung zurückzuführen. Neben der Analyse von diesen konkreten preußischen Motiven und Narrativen versteht sich die folgende Lektüre von Die Geächteten als ein allgemeinerer Beitrag zur Männlichkeits- und Nationalismusforschung. Aus der Gefühlsverfassung aggressiver Verzweiflung heraus erzählt ein für den Krieg zu spät Gekommener, wie er sich selbst und die Nation in den Wirren des Nachkrieges aufrechtzuerhalten und neu zu definieren versucht. Dabei konstituieren sich der soldatische Mann und die Nation wechsel141 Salomon, Die Kadetten, 7. 142 Ebd., 172. 143 Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 67.
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seitig, und zwar über das Ineinandergreifen von konkret im Raum verortbaren, territorialen Grenzen und symbolischen Körpergrenzen. Wie viele andere Freikorpsautoren ist auch Salomon von dieser Grenzthematik wie besessen. Diese Obsession für (Körper-)Grenzen dürfte weniger auf frühe Kindheitsentwicklungen, wie Klaus Theweleit in seiner Studie zur Entstehung soldatischer ›Männerphantasien‹ im präfaschistischen Deutschland argumentiert,144 zurückzuführen sein, als vielmehr auf die spezifischen historischen Erfahrungen des verlorenen Weltkrieges und des östlichen Grenzkampfes.
144 Theweleit, Männerphantasien. Männerkörper. Zur Psychoanalyse des weißen Terrors. Band 2 (München: dtv, 1995), 210ff.
2. Ernst von Salomon
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Die Nation als Körper – der Körper als Nation: Ernst von Salomons Die Geächteten (1930) Meine Haut ist die Topographie eines Krieges […]. Pläne und Intrigen, Grabenkämpfe, Partisanentrupps, Bündnisse und Übergabeforderungen haben auf ihr Platz. Meine Haut ist das Gelände einer Schlacht, deren Verlauf ich nicht begreife. Man verhandelt auf mir und fliegt Angriffe, deren Ziele ich nicht kenne. Zettelt Scharmützel an, und ich weiß nicht, gegen wen. Begradigt mir unbekannte Fronten, schließt Verträge, und ich weiß nicht, zu welchem Preis. – Thomas Hettche, Nox145
Der Begriff der Grenze und die mit ihm gebildeten Komposita haben in den aktuellen Literatur- und Kulturwissenschaften seit einigen Jahren Konjunktur. Grenzziehungen und -Überschreitungen, Abgrenzungen und Grenzverwischungen, Grenzgänge und -Verletzungen sind geradezu ubiquitär und stellen ein äußerst reges, interdisziplinäres Forschungsfeld dar.146 Während die Kulturwissenschaft die Grenzen zwischen Mensch und Tier, Leben und Tod, Mensch und Maschine oder den Geschlechtern auslotet, tastet die Literaturwissenschaft die Grenzen zwischen unterschiedlichen Wissensbereichen, Diskursen, Textgattungen, Stilen und Epochen ab. Dabei scheint der Grenzbegriff selbst inzwischen metaphorisch entgrenzt zu sein: »Die Grenze ist […] zu einer universalen Metapher für all das geworden, was zuerst dichotomisch aufgespalten und anschließend auf die verschiedensten Arten und Weisen wieder miteinander verschränkt werden kann,«147 so schreiben Eva Geulen und Stephan Kraft im Vorwort zum Sonderheft »Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur« (2010) der Zeitschrift für Deutsche Philologie. Seltener aber seien in den Literaturwissenschaften konkrete, sichtbare Grenzen und Grenzräume Gegenstand der Untersuchung, seien sie nun staatlich fixiert, juristisch festgeschrieben oder im Krieg umkämpft.148 Allerdings sind die Texte, in denen diese reflektiert, semantisiert oder rhetorisch gestaltet werden, Legion. Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist, Der Verschollene von Franz Kafka, Ernst Jüngers In Stahlgewittern oder Thomas Hettches Nox sind nur einige wenige Beispiele, in denen konkrete Grenzen auf die verschiedenste Weise literarisch verhandelt und erlebt werden. 145 Thomas Hettche, Nox. Roman (Frankfurt a.M.: Suhrkamp), 153. 146 Eva Geulen, Stephan Kraft, »Vorwort,« Zeitschrift für Deutsche Philologie 129, Sonderheft: Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur (2010): 1-4, hier: 1. Dieses Kapitel erschien in einer kürzeren Fassung in Sarmatien – Germania Slavica – Mitteleuropa. Vom Grenzland im Osten über Johannes Bobrowskis Utopie zur Ästhetik des Grenzraums, Hg. Sabine Egger, Stefan Hajduk, Britta C. Jung (Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2021), 213-231. 147 Geulen, Kraft, »Vorwort,« 1. 148 Ebd., 1.
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Diese Rückführung des metaphorisch schillernden Grenzbegriffs auf seine wörtliche Bedeutung heißt aber nicht, dass symbolische und metaphorische Differenzkonstruktionen vom Grenzbegriff getrennt werden müssen. Im Gegenteil sind »Symbolisches und Materiales« schon von Beginn an »im Begriff der Grenze verschränkt.«149 So sind Staatsgrenzen nicht nur geografisch verortbare Linien, sondern auch »Formen von diskursiver Praxis«,150 die Bedeutungen generieren und Identität verheißen, indem sie nicht nur einschließen, was oder wer ›dazu‹ gehört, sondern vor allem ausschließen, was oder wer nicht. Die Verkopplung mit konkreten Grenzen bedeutet vielmehr, dass diese unsichtbaren Grenzen mit neuen Energien aufgeladen werden, indem sie gleichsam ›geerdet‹ werden.151 Diese komplexe Verwobenheit konkret im Raum verortbarer Grenzen einerseits und symbolischer, insbesondere körperlicher Grenzen andererseits bildet den Ausgangspunkt für die Lektüre von Ernst von Salomons Die Geächteten (1930). Im ersten Teil dieses dreigliedrigen Romans beschreibt der Icherzähler retrospektiv, wie er sich nach Kriegsende als 16-jähriger Kadett auf Veranlassung der Regierung zum »Grenzschutz im Osten«152 meldet und zwischen 1919 und 1921 als desertierender Freikorpssoldat im Baltikum und in Oberschlesien kämpft.153 Diese seit dem Versailler Vertrag strittige Grenzregion im Osten galt auch 1930 noch als »nationales Reizthema«.154 Besonders das Ressentiment über die vom Völkerbund 1921 beschlossene Teilung Oberschlesiens, bei der der überwiegende Teil des Industriegebiets Polen zugewiesen worden war, wurde Ende der 1920er Jahre in einer Vielzahl von Grenzlandromanen und -Dramen erneut angefacht, unter denen die Skandalromane O.S. (1929), eine Abkürzung für Oberschlesien, von Arnolt Bronnen und Die Geächteten von Ernst von Salomon die bekanntesten Beispiele sind.155 Diese nationalrevolutionären Intellektuellen feiern in ihren Texten die Nation als eine »systemsprengende Idee«,156 den Krieg als den »reinste[n] Ausdruck elementarer Lebensdynamik«157 und den Krieger als ›ekstatischen‹158 »Befehlsempfänger des
149 Jan Weyand, Gerd Sebald, Michael Popp, »Einleitung: Grenzen aus soziologischer Sicht,« in: Grenzgänge – BorderCrossings. Kulturtheoretische Perspektiven, Hg. dies. (Münster: LIT Verlag, 2006), 9-18, hier: 10. 150 Claudia Bruns, »Die Grenzen des ›Volkskörpers‹. Interrelationen zwischen ›Rasse‹, Raum und Geschlecht in NS-Geopolitik und Kunst,« Feministische Studien 33, 2 (2015): 177-196, hier: 178. 151 Geulen, Kraft, »Vorwort,« 2. 152 Salomon, Die Geächteten (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1980), 29. Das Werk wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert. 153 Im Hinblick auf die Grenzthematik wird nur der erste Teil, »Die Versprengten«, eingehend besprochen. Die zwei anderen Teile des Romans, »Die Verschwörer« und »Die Verbrecher«, die von den terroristischen Aktivitäten der Organisation Consul in der Weimarer Republik und der Zeit im Zuchthaus handeln, sind aus der hier gewählten Perspektive weniger relevant. 154 Dieter Lamping, Über Grenzen – Eine literarische Topographie (Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, 2001), 54. 155 Ebd., 54. 156 Herzinger, »Die Überbietung als ästhetische und politische Grundfigur der ›rechten Moderne‹,« 106. 157 Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 85. 158 In Die Geächteten bezeichnet der Icherzähler die Frontkämpfer als »Ekstatiker des Krieges«. (76)
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Lebens selbst«.159 Dieser explosiv-vitalistische Grundzug geht in Die Geächteten – so meine These – mit einem veränderten Grenzverständnis einher, das sich an den geopolitischen Schriften Friedrich Ratzels und Karl Haushofers orientiert. Im Anschluss an Ratzels Unterscheidung zwischen einerseits »abstrakten«, das heißt politisch verhandelten, und andererseits »wirklichen«, das heißt aus der Wanderdynamik der Völker entstandenen Grenzen,160 lokalisiert Salomon Deutschland nicht mehr innerhalb juristisch-kartografisch festgelegter Staatsgrenzen, sondern »an der Grenze« (49) [meine Herv.], die nicht mehr als klare ›Linie‹, sondern als dynamische, ständig verschiebbare Kampfzone gilt. »Der Krieg hebt die Grenzlinie auf«, schreibt Ratzel in seiner Politischen Geographie;161 er führe die tote Linie auf ihren ursprünglichen, lebendigen Charakter als Grenzgebiet zurück, das entsprechend der Haut des Individualkörpers sowohl zusammenschrumpfen und verletzt werden als auch wachsen und sich endlos ausdehnen kann. Territoriale Grenzen und Körpergrenzen, nationales und individuelles Subjekt fließen im Roman gemäß diesem anthropogeografischen Grenzgefühl ineinander und definieren sich durch eine ambivalente Dynamik von Grenzüberschreitung und Grenzziehung, Entgrenzung und (Re-)Stabilisierung wechselseitig. Vielmehr als eine Linie stellt die Grenze eine Schwelle oder eine Zone des Übergangs dar.162 Mit dieser organischen Logik sickern nicht nur Vorstellungen (bedrohter) nationaler Einheit und Ganzheit, sondern auch die Kategorie des Geschlechts in den politischen Diskurs ein. Tatsächlich geistern weiblich codierte Vielfalt und Fragmentierung durch den Roman als wahre Schreckbilder, die das am männlichen Körper verhandelte Ideal der Härte auf individueller und nationaler Ebene aufzulösen drohen. So gilt der östliche Grenzkampf nicht nur als Kampf um eine nationale Regeneration, sondern zugleich als identitätsbildender Kampf um die männliche Existenz, die mit dem Ende des Ersten Weltkriegs brüchig geworden ist. Zugleich wird der Grenzkampf im Osten als Generationenkonflikt dargestellt. Der revolutionäre Aufbruch der Freikorpskämpfer ins Baltikum und nach Oberschlesien wird immer wieder als »Sache der Jugend« (114) charakterisiert, die darauf zielt, die als ›verkrustet‹ beschriebenen, sich an der Vorkriegszeit orientierenden patriarchalischen Strukturen der Weimarer Republik möglichst blutig aufzureißen. Die durch diesen symbolischen Vatermord entstandene emotionale Lücke füllen die Freikorpskämpfer einerseits mit der Idee einer ›neuen‹, bezeichnenderweise biologisch verstandenen Nation, andererseits mit der Hinwendung zu nur wenig älteren, selbst erwählten Führern. Die ideologische Lücke wird hingegen – programmatisch – offen gelassen. Im Gegensatz zur verhassten ›Paragrafenlogik‹ der Weimarer Republik, so wird Salomon nicht müde zu betonen, ›handeln‹ und ›entscheiden sich‹ die geächteten Freikorpskämpfer ohne jegliche ideologische oder moralische
159 Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 87. 160 Friedrich Ratzel, Politische Geographie (München: Oldenbourg 1897), 447. 161 Ebd., 386. Zu Ratzels Grenzverständnis: Jörg Kreienbrock, »Von Linien, Säumen und Räumen. Konzeptualisierungen der Grenze zwischen Jacob Grimm, Friedrich Ratzel und Carl Schmitt,« Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, 33-48. 162 Für einen umfassenden Überblick von Liminalitätsmodellen in der Literatur- und Kulturwissenschaft sowie eine Auswahlbibliografie zu ›Liminalität‹: Parr, »Liminale und andere Übergänge,« 11-64.
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Richtschnur. Das Grenzgebiet wird mithin zu einer Art gesetzlosem Raum, zur terra nullius, die von liminalen Figuren des Dazwischen bevölkert wird.
Der Körper als nationale Grenze Zu Beginn des Romans beschreibt der männliche Icherzähler rückblickend, wie er sich als Königlich Preußischer Kadett in den Wirren der Novemberrevolution aufrechtzuerhalten versucht. Da der junge Offiziersanwärter bei Kriegsende erst 16 Jahre alt war, musste er ohnmächtig zusehen, wie der Krieg ohne ihn verloren wurde, die Revolution – vom Icherzähler immer wieder abwertend »Revolte« genannt – das alte Regime stürzte und die verhasste Republik installiert wurde. Nachdem er »unsagbar verwirrt« (11) in der aufgeregten Stadt umhergeirrt ist, macht der Icherzähler in seinem Zimmer Inventur: Die Feldbinde, den Husarensäbel, die Achselstücke,… alle Gegenstände, aus denen er während der Kriegsjahre seinen männlichen Stolz gezogen hat und die ihm »Sinn« (12) gewährten, stellt er auf dem Tisch aus, um ihm in »diesem verworrenen Augenblick« (12) »Halt« (11) zu geben, bevor er diese Relikte aus einer alten Welt endgültig vom Tisch wischt. Diese erste Szene veranschaulicht, dass zusammen mit der in die Krise geratenen Nation – die über die Aufzählung von militärischen Objekten maskulin definiert wird – auch die männliche Existenz des Icherzählers nach der Kriegsniederlage auf dem Spiel steht. Als unzertrennlicher »Teil« der alten Nation, die »endgültig und unwiderruflich in den Staub sank und nie mehr, niemals wieder erstehen würde« (12), wird auch die eigene Identität brüchig, gleichsam gespensterhaft. Demselben psychoanalytischen Szenario unterliegt der Marineoffizier Kern. Als ihn der Icherzähler fragt, wie er als kaiserlicher Offizier den 9. November hat überstehen können, antwortet Kern, dass er »ihn nicht [überstand]«, sondern sich, »wie es die Ehre befahl, eine Kugel in den Kopf gejagt« hat: »Ich bin tot; was an mir lebt, bin nicht ich. Ich kenne kein Ich mehr seit jenem Tage. […] Ich starb für die Nation, so lebt in mir alles nun einzig für die Nation.« (213) Dabei ist dieser ›ehrenvolle‹ Freitod zugleich eine endgültige Verabschiedung von der alten Ordnung. Anstatt des archaisch-männlichen Ehrenkodexes gilt dem im Grenzkampf wiedergeborenen Mann nur noch ein amoralisches Draufgängertum, das in den Texten der Nationalrevolutionären durch die Idee der Nation und das Selbstverständnis der Freikorpskämpfer als »Vollstrecker eines geschichtlichen Willens« (206) quasimetaphysisch überhöht wird. Schon im ersten Kapitel des Romans wird deutlich, wie sehr sich dieses Ineinanderfließen von nationalem und männlichem Subjekt am männlichen Körper und besonders an dessen Grenzen manifestiert. Die Grenzen und Öffnungen des biologischen Körpers machen die Auflösung beziehungsweise die (prekäre) Erstarkung der nationalen Ordnung diskursiv verfügbar und setzen einen geschlechterspezifischen Prozess von Inund Exklusion in Gang. So wird das Chaos der Novemberrevolution ausdrücklich weiblich definiert; in der Vorstellung des Icherzählers sind es jedes Mal Frauen, die an der Spitze der Massendemonstrationen marschieren. Die revolutionäre Menschenmenge wird als zersetzendes und amorphes Monstrum imaginiert, das den Icherzähler in seinen alles verschlingenden Sog aufzunehmen und aufzulösen droht: »[Die Gefahr] trug ein gestaltloses Antlitz, das Gesicht der Masse, die sich breiig heranwälzt, bereit, alles in ihren seimigen Strudel aufzunehmen, was sich nicht widersetzt.« (13) (Nicht nur) in
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diesem Zitat wird die von der Masse herausgehende Gefahr mittels auf Unordnung, Auflösung und (körperliche) Flüssigkeiten zielender Begriffe beschrieben. Deshalb verwundert es nicht, dass der Icherzähler die ständig herumspuckenden Frauen als bedrohlicher als die sich prügelnden Männer erfährt. Die Angst vor dem unbeherrschten Austritt von Flüssigkeiten wie Speichel (aber auch Blut, Eiter, Urin oder Exkrementen) aus dem Körper drückt dann nicht nur die Angst vor dem Abjekten, sondern auch vor der Überschreitung beziehungsweise dem Verlust nationaler Ordnung aus.163 In diesem Drama des Konturverlustes versucht der Icherzähler »zu bestehen […], um jeden Preis zu bestehen, vor was es auch immer sein möge«. (12) Damit er dem »Strudel« nicht verfalle, »steift« er seinen Körper (12) oder klammert sich krampfhaft an die Uniform,164 die ihn wie eine Art zweiter, besserer Haut umschließt. Konfrontiert mit der »zusammengeströmten« (13) Masse, beißt er bedeutsam die Zähne zusammen. Nur das performativ wiederholte Wort »›Haltung!‹ und […] nochmals: ›Haltung!‹« (13) darf seinem gepanzerten Körper noch entfahren, um die Abgrenzung zu vollziehen und zu bestätigen. Die angestrebte Aufrichtung und Stabilisierung des männlichen Subjekts ist also durchaus prekär. Zum einen wird sie von einer Angst vor Schwellenübergängen, von Auflösungs- und Zerstücklungsphantasien angetrieben, zum anderen bedürft sie der ständigen Reinszenierung. Das Produktionsprinzip des soldatischen Mannes, der in diesem Moment eigentlich noch ein Kind ist, wird demzufolge von einer strukturellen Ambivalenz von Grenzziehung und Entgrenzung, Ordnung und Transgression bestimmt.165 Diese ambivalente Dynamik wird besonders greifbar, als das Freikorps, das zu dem Zeitpunkt noch im Solde der Regierung steht, in einer Mietskaserne nach verborgenen Waffen der revolutionären Linke sucht. Die Bewohner dieser dunklen, schmutzigen, labyrinthisch wirkenden Mietskaserne – Arbeiter und Arbeiterinnen, invalide Veteranen, Prostituierte, kleine Kinder – werden ausdrücklich in ihrer schlichten, als degeneriert erscheinenden Körperlichkeit dargestellt und ekeln den Icherzähler an. In dieser (Un-)Gestalt bedrohen sie die als mechanisch-stabil imaginierten Körpergrenzen der Freikorpskämpfer. Ihre Haut scheint geradezu zu platzen: »Das drang uns in die Brustkästen, spritzte unerträgliche Spannung in die Adern, so daß sich das Blut mit kurzen und harten Stößen gegen die Haut drängte.« (39) Dabei handelt es sich nicht nur um eine externe Bedrohung. Die »brodelnde« (41), »summende«, »kochende«, »quellende« (38), »quäkende« (40) Atmosphäre, die die Freikorpskämpfer vollkommen desorientiert, die schwächliche Körperlichkeit der Bewohner, die andauernd lachenden Frauen und der unerträgliche Gestank spiegeln vor allem die grundsätzliche Instabilität des eigenen Körpers wider. Diese im Innern lauernde, zersetzende Alterität steht mit dem Ideal des maschinenartigen (Kollektiv-)Körpers im Widerspruch und soll deshalb verdrängt Vgl. Oliver Kohns, »Die Übertragung der Reinheit (Mary Douglas, Friedrich Nietzsche),« in Grenzräume der Schrift, Hg. Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Bielefeld: transcript, 2008), 23-47, hier: 25. 164 In dieser Hinsicht ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Mutter die Achselklappen vom Mantel des Icherzählers trennt. (12) Wie in der Analyse von Die Kadetten ausführlich dargelegt wird, stellt die mütterliche Fürsorge eine permanente Bedrohung für die schmerzhaft errungene Männlichkeit in der Kadettenanstalt dar. 165 Theweleit, Männerphantasien, 158. 163
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werden; sie ist aber schon aufgrund der Gebundenheit an der Materie nicht restlos zu sublimieren. Dass die starrenden Augen der Bewohner den Freikorpskämpfern während der Haussuchung »das Kreuz steiften« (42), ist symptomatisch für diesen instabilen Charakter, denn das maskuline Ideal der Härte kann jeden Moment erschlaffen. Nur in der festen Abgeschlossenheit des Freikorps scheint der soldatische Mann kurzzeitig im Stande zu sein, seine Grenzen aufrechtzuerhalten: »Wir schienen uns gegen diesen Druck nicht anders wehren zu können, als indem wir bei aller inneren Benommenheit so fest wie möglich auftraten und mit barscher Sicherheit so lässig wie möglich handelten. Wenn uns aus kreischenden, verzerrten Mündern der Hass entgegenspie, dann fühlten wir für abgründige Sekunden das Nahen einer schrecklichen Entscheidung.« (42)
Die Nation als Körpergrenze Nicht nur das männliche Subjekt, auch die Nation wird in Die Geächteten von ihren umkämpften Grenzen her begriffen: »Deutschland war da, wo um es gerungen wurde, es zeigte sich, wo bewehrte Hände nach seinem Bestande griffen, es strahlte grell, wo die Besessenen seines Geistes um Deutschlands willen den letzten Einsatz wagten. Deutschland war an der Grenze. Die Artikel des Versailler Friedens sagten uns, wo Deutschland war.« (48-49) Dass sich die Nation nicht innerhalb politisch festgeschriebener Staatsgrenzen situiert, erkennt der Icherzähler zum ersten Mal beim »gespenstische[n] Einmarsch« (29) geschlagener deutscher Fronttruppen in seine Heimatstadt. Während die aufgeregte Masse deren ›Heimkehr‹ voller Sehnsucht entgegensieht, marschieren die »Besten der Nation« (23) »geschlossen«, »schnurgerade«, mit »harten, wie aus Holz zurechtgehackten Gesichter[n]«, »fremd, unverbunden, feindlich« an der »Menge« vorbei. (26) Nicht das Deutschland, in das sie zurückkehren, ist für diese Krieger die Heimat, sondern die Front: »Die Front war deren Heimat, war das Vaterland, die Nation. Und niemals sprachen sie davon. […] Der Krieg zwang sie, der Krieg beherrschte sie, der Krieg wird sie niemals entlassen, niemals werden sie heimkehren können, niemals werden sie ganz zu uns gehören, sie werden immer die Front im Blute tragen, den nahen Tod, die Bereitschaft, das Grauen, den Rausch, das Eisen. Was nun geschah, dieser Einmarsch, dies Hineinfügen in die friedliche, in die gefügte, in die bürgerliche Welt, das war eine Verpflanzung, eine Verfälschung, das konnte niemals gelingen.« (29) In der Imagination der Nationalrevolutionären hat das Fronterlebnis Bürger aller Klassen und Berufe zu einer übergesellschaftlichen Schicksalsgemeinschaft zusammengeschlossen. Die nicht-vermittelbaren Kriegserfahrungen trennen diese Gemeinschaft für immer von der bürgerlichen Gesellschaft. In diesem Sinne ist die mythisch verklärte Frontgemeinschaft, die sich während der 1920er Jahre zum sozialen und nationalen Identifikationsmodell der Freikorps entwickelte, nicht nur als Vorläufer der soziale Unterschiede nivellierenden nationalsozialistischen Volksgemeinschaft zu betrachten, sondern sie erscheint auch als deren elitäres Gegenstück:166 Zugang zur Nation ist 166 Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 196-197.
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nur einer auserlesenen Gruppe von Kriegseingeweihten gewährt, den »Besten der Nation«, die sich Deutschland mit Leib und Leben verschrieben haben. Da der Krieg zwar beendet, die endgültige »Entscheidung« nach der Ansicht des Icherzählers aber noch nicht getroffen worden sei, »[marschieren] die Krieger immer noch«, diesmal allerdings »für eine andere Revolution« (29), eine »nationale Revolution«. (135) Am Tag nach dem Einmarsch der Kriegsheimkehrer meldet sich der Icherzähler denn auch sofort zu den zum »Grenzschutz im Osten« (29) geworbenen Freiwilligen-Formationen. Dieser Grenzschutz ist zugleich ein Versuch zur Selbstbewahrung: Die obige Beschreibung der zurückkehrenden Frontsoldaten als eines undurchdringbaren (»geschlossen«), streng geometrischen (»schnurgerade«) Kollektivkörpers verdeutlicht einmal mehr, dass die Grenzen der Nation und die des Körpers in der Imagination des Icherzählers zusammenfallen. Die Idee, dass die Grenzen der Nation nicht unbedingt denen des Staates entsprechen, hat ihren Ursprung in den Schriften des Geografen Friedrich Ratzel. In seiner Politischen Geographie (1897) unterscheidet Ratzel zwischen politisch-»abstrakten« Raumvorstellungen, die sich an linearen Grenzen orientieren, und »wirklichen«, in der Wanderdynamik sich ausbreitender oder zurückziehender Völker verwurzelten Grenzen, die sich als Saum manifestieren.167 Der Grenzsaum gehe der Grenzlinie voraus, aber diese »organische Bewegung«168 sei »durch die künstlichen Mittel der Verträge zum Stillstand gebracht«169 worden. Der Krieg hingegen hebe diese artifizielle Linearität politischer Grenzen auf und führe die Grenze auf ihre ursprüngliche, lebendige und auch gewalttätige Eigenart als Grenzraum zurück.170 Das aggressiv-revisionistische Potenzial dieser Auffassung liegt auf der Hand: In der Zwischenkriegszeit lieferte sie den nationalistischen Denkern die nötige Munition für den Kreuzzug gegen den ›Schandvertrag‹ von Versailles.171 Während man mit Blick auf den Westen vor allem die artifizielle Form der vertraglich festgelegten neuen Grenzen ins Visier nahm, war Expansion das zentrale Thema der Debatten um die Ostgrenze, an der es die meisten Gebietsverluste gab, unter anderem das von Polen annektierte Posen und West-Preußen. In diesen Debatten griff man häufig auf die mittelalterliche Ostexpansion der deutschen Ordensritter zurück, deren Siedlungen in der ratzelschen Terminologie dann die ›wirklichen‹ Grenzen Deutschlands anzeigten.172 Auch der Icherzähler von Die Geächteten bezieht sich auf dieses historische Narrativ, um die Eroberungspolitik der deutschen Freikorps im Baltikum zu legitimieren und mythisch zu überhöhen:173 »Gerade
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Ratzel, Politische Geographie, 447. Friedrich Ratzel, Anthropogeographie (Stuttgart: Engelhorn, 1899 [1882]), 259. Ratzel. Politische Geographie, 448. Kreienbrock, »Von Linien, Säumen und Räumen,« 48. Andreas Rutz, »Grenzen im Raum – Grenzen in der Geschichte. Probleme und Perspektiven,« Grenzen im Raum – Grenzen in der Literatur, 7-32, hier: 20. Ebd., 20. Darin unterscheiden sich Die Geächteten und andere an der Ostgrenze situierte Nachkriegsromane wie z.B. Werner Jansens Geier um Marienburg (1924) oder Wilhelm Kotzde-Kottenrodts Die Burg im Osten (1925) von den sogenannten Ostmarkenromanen in den zwei Jahrzehnten vor dem Weltkrieg. Während sich die Nachkriegsromane auf eine ferne Vergangenheit, meistens auf die mittelalterliche Expansion der Deutschen Ordensritter beziehen, findet in den Ostmarkenromanen
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das Gefühl, inmitten dieser lieblichen Landschaft eigentlich immer auf schwankendem Sumpfboden zu stehen, der unablässig seine Blasen warf, hatte doch dem Kriege hier oben den bewegten, ständig wechselnden Charakter gegeben, der vielleicht schon den deutschen Ordensrittern jene schweifende Unruhe vermittelte, die stets von neuem aus ihren festen Burgen zu kühnen Fahrten trieb.« (83-84) Dieses besonders seit 1925 beliebte koloniale Narrativ ließ sich mit dem Konzept des deutschen ›Kulturbodens‹ des Geopolitikers Albrecht Penck pseudowissenschaftlich untermauern. Im Gegensatz zum ›Volksboden‹ verweist das Konzept ›Kulturboden‹ nicht auf ein von den Deutschen dominiertes Gebiet in der Gegenwart, sondern auf ein in der (fernen) Vergangenheit kolonisiertes Gebiet, das auch heute noch deutlich die Spuren deutscher Anwesenheit trage.174 Vor allem die überaus populären, für die Herausbildung der nationalsozialistischen Geopolitik maßgeblichen Schriften Karl Haushofers aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre versahen Ratzels theoretische Überlegungen mit politischem Sprengstoff. Wie Claudia Bruns in Bezug auf die Schriften Haushofers darlegt, galt dem Münchener Geografieprofessor die Grenze nach den Erfahrungen der Explosionen in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs nicht mehr als klare Linie, sondern als eine dynamische »Kampfzone«.175 Grenzen zeigten sich auf dem Schlachtfeld nicht mehr als deutlich abgesteckte Frontlinien, sondern als sich permanent verschiebende, elastische Zonen, die sich wie die Haut des biologischen Einzelkörpers immer weiter ausdehnen.176 Damit schrieb Haushofer Ratzels organisches Grenzverständnis in eine biopolitisch und rassisch begründete Expansionspolitik um, der zufolge die wachsende Bevölkerung des Deutschen Reiches nur durch Gebietserweiterungen überleben könne. Gemäß der Unterscheidung zwischen abstrakten und wirklichen Grenzen wird in Die Geächteten die herbeigesehnte Nation konsequent vom Staat, die nationale Identität von der Staatsbürgerschaft getrennt. So werden die Balten als Männer eines »deutschen Stammes« (82), Oberschlesien als eine bedrohte deutsche Provinz dargestellt, die
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die Germanisierung des Ostens in der Gegenwart statt, und zwar im Kontext der bismarckschen ›inneren Kolonisationskampagne‹ in den überwiegend polnischen Regionen Preußens. Die von Bismarck 1886 ins Leben gerufene ›preußische Ansiedlungskommission‹ war mit dem Aufkauf des Landes polnischer Gutsbesitzer beauftragt, um es dann in kleineren Einheiten an den Bauern aus den deutschen Westprovinzen zu verkaufen. Wie Hubert Kiesewetter dargelegt hat, wurden zwischen 1886 und 1911 insgesamt 394.398 Hektar Land für die Ansiedlung von 150.000 deutschen Bauern – darunter 112.116 Hektar aus polnischem Besitz – angekauft. Kristin Kopp, »The Weimar ›Drang nach Osten‹,« in Weimar Colonialism. Discourses and Legacies of Post-Imperialism in Germany after 1918, Hg. Florian Krobb, Elaine Martin (Bielefeld: Aisthesis, 2014), 189-208, hier: 194; Hubert Kiesewetter, Industrielle Revolution in Deutschland. Regionen als Wachstumsmotoren (Stuttgart: Franz Steiner, 2004), 134. Mit dem Begriff ›Kulturboden‹ deutete Penck das Modell der ›Kulturlandschaft‹ Friedrich Ratzels um. Während sich für Ratzel ein Volk und eine Landschaft wechselseitig konstituieren und – als symbiotischer Organismus – dem steten Wandel unterworfen sind, wird nach Penck eine Landschaft einmal nachhaltig kultiviert. Kopp, »The Weimar ›Drang nach Osten‹,« 192. Karl Haushofer, Grenzen in ihrer geographischen und politischen Bedeutung (Berlin/Grunewald: Kurt Vowinckel, 1927), 11; Bruns, »Die Grenzen des ›Volkskörpers‹,« 182. Ebd., 182.
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die Freikorpskämpfer – als vermeintliche Freiheitskämpfer – »aufs neue zu erstreiten« (169) versuchen. Als die deutsche Regierung die Baltikumtruppen auffordert, sofort nach Deutschland zurückzukehren und dabei mit Verlust der Staatsangehörigkeit droht, können sie nur darüber lachen, denn diese Paragrafenlogik ist ihnen vollkommen »wurscht«. (69) Daher nennen sie sich beim Kampf um Riga »lettische Staatsbürger«; sie seien »deutsche Soldaten, die nominell keine deutschen Soldaten sind, und schützen eine deutsche Stadt, die nominell keine deutsche Stadt ist.« (68) Im Gegensatz zum starren Staatsgebilde der Weimarer Republik ist die Nation der Freikorpskämpfer also eine im Wortsinn u-topische Größe, eine nahezu unaussprechbare, »gelebte Idee«, die allerdings realer als die unvollkommene faktische Realität sei und von den Kriegern täglich im Kampf neuerzeugt werden muss:177 »Wir fühlten uns so sehr Deutschland«, so der Icherzähler, »dass wir, wenn wir Idee sagten, Deutschland meinten, dass wir, wenn wir Kampf sagten, Einsatz, Leben, Opfer, Pflicht, dass wir dann immer Deutschland meinten.« (111) Die Nation der Neuen Nationalisten lässt sich also nicht als ein politischer Nationalstaat mit einem deutlich abgegrenzten Territorium, einer Staatsgewalt und Staatsbürgern begreifen, sondern sie ist die ideelle und schicksalshafte Triebkraft eines systemsprengenden Kampfes: »Ich sage Schicksal«, erklärt Kern dem Icherzähler, »weil ich die Nation als Kraft begreifen muß und nicht als Stoff.« (209) So stellt sich die Nation mit Herzinger als ein ›Mythos‹ im Sinne George Sorels dar, das heißt ein »künstlich her- (oder ›hin‹-)gestellte[s], unbestimmte[s] Ahnungsbild, an dem bedingungslos zu glauben Kräfte freisetzte, die von der Ratio unerfaßbar seien:«178 »Sie ahnten das Wort, ja, sie sprachen es aus und schämten sich vor dessen verwaschenem Klang und drehten es, prüften es in geheimer Furcht und ließen es aus dem Spiel mannigfaltiger Gespräche, und es stand doch über ihnen. In tiefer Dumpfe eingehüllt stand das Wort, verwittert, lockend, geheimnisreich, magische Kräfte strahlend, gespürt und doch nicht erkannt, geliebt, und doch nicht geboten. Das Wort aber hieß Deutschland.« (48) Dieses »Ahnungsbild« ist nur denjenigen zugängig, die sich der Nation unter Einsatz des eigenen Lebens ganz und gar verschworen haben. Demzufolge trennt der Icherzähler die Nation konsequent vom Weimarer Staat. Das Deutschland des Versailler Vertrags sei ein »Land, wie ein leerer Fleck auf der Landkarte, in den die Hand des Topographen zögern mußte Städte einzuzeichnen und Dörfer und Flüsse und Grenzen, ein plumpes, passives Land, ein Land ohne Wirklichkeit«. (80) Somit handelt es sich beim Kampf um die Nation letztendlich nicht um einen Kampf um territorial-lineare Grenzen, sondern um einen identitätsbildenden Grenzkampf, der sich vor allem ex negativo, über die Kluft mit dem Staat und dessen Bürgern, offenbart: »›Vormarsch‹: das hieß für uns nicht ein Marsch auf ein militärisches Ziel, um einen Punkt auf der Landkarte, eine Linie im Gelände zu erobern, das hieß vielmehr den Sinn
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Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 86. Herzinger, »Die Überbietung als ästhetischen Grundfigur der ›rechten Moderne‹,« 106.
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einer harten Gemeinsamkeit erfahren, das hieß die Zeugung einer neuen Spannung, die den Krieger auf eine höhere Ebene stößt, das hieß die Lösung aller Bindungen an eine versinkende, verrottete Welt, mit der der echte Krieger keine Gemeinsamkeit mehr haben konnte.« (52) In diesem identitätsbildenden Grenzkampf steht nicht nur die nationale Regeneration nach dem verlorenen Weltkrieg, sondern auch die männliche Identität des Freikorpskämpfers auf dem Spiel. Der Aufbruch ins Baltikum gilt dementsprechend als »die neue, die letzte Möglichkeit, für Deutschland und für uns.« (50) Nationales und männliches Subjekt sind hier völlig austauschbar und legitimieren sich wechselseitig: »Wir zogen aus, die Grenze zu schützen, aber da war keine Grenze. Nun waren wir die Grenze, wir hielten die Wegen offen; wir waren Einsatz im Spiel, da wir die Chance witterten, und dieser Boden war das Feld, auf das wir gesetzt.« (50) Die Freikorpskämpfer sind die Grenze, sind die Front, sie haben immer eine (Körper-)Grenze zu verteidigen, eine Grenze vorwärts zu schieben,179 die nicht die tote Linie eines starren Rechtskonstruktes ist, sondern die dynamische Kampfzone eines lebendigen Kollektivkörpers.180 Diese territoriale Entgrenzungslust scheint aber der Idee eines streng abgegrenzten Körpers oder Korps zu widersprechen, wie unten noch ausführlich besprochen wird. Zudem enthält die Selbstbetrachtung als Grenze ein großes Aggressionspotenzial, das – wie die Tropen des Schach- oder Kartenspiels im letzten Zitat veranschaulichen – mit Vabanquevorstellungen eines stolz »auf verlorenem Posten« (208) stehenden Geächteten einhergeht. Wie Klaus Theweleit in seiner Studie Männerphantasien hervorhebt, ist »ihr Daseinszustand Krieg.«181 Der territoriale Grenzkampf im Osten erweist sich also zugleich als ein symbolischer ›Kampf ums Dasein‹.182
Anthropogeografisches Grenzgefühl Dieses Phantasma der totalen Verschmelzung des männlichen Einzelkörpers mit dem nationalen Kollektivkörper zu einer Unio mystica geht in Die Geächteten mit einem Grenzverständnis einher, das sich an lebensphilosophischen Dualismen orientiert.183 So wird dem Staat als »tote[r] Formel« (157) konsequent ein lebendiger und vitaler Kollektivkörper entgegengestellt. Dementsprechend spüren die Freikorpskämpfer die territorialen Außengrenzen wie ihre eigene Haut, was einerseits eine autoimmunisierende Logik gegen ›innere Feinde‹ (den Liberalismus, die Demokratie, die westliche ›Zivilisation‹) ankurbelt, andererseits zur Folge hat, dass äußere Fremdkörper abgestoßen werden müssen. Die Freikorpskämpfer empfinden die Durchlässigkeit territorialer Grenzen als ebenso bedrohlich wie die Durchlässigkeit der eigenen Körpergrenzen,
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Theweleit, Männerphantasien, 157. Bruns, »Die Grenzen des ›Volkskörpers‹,« 182. Theweleit, Männerphantasien, 157. Bruns, »Die Grenzen des ›Volkskörpers‹,« 182. Martin Lindner hat die zentrale Funktion der um 1900 einsetzenden Lebensideologie in den Texten der Neuen Sachlichkeit nachgewiesen. Martin Lindner, Leben in der Krise. Zeitromane der Neuen Sachlichkeit und die intellektuelle Mentalität der klassischen Moderne (Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler, 1994), 5; vgl. dazu auch Bruns’ Haushofer-Lektüre: »Die Grenzen des ›Volkskörpers‹,« 182ff.
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eine Angst, die auch in den Texten der Neuen Rechten immer wieder heraufbeschworen wird, wie Gabriele Kämper in ihrer 2005 veröffentlichten Dissertation Die männliche Nation überzeugend nachgewiesen hat.184 Nach der Logik dieses ›anthropogeografischen‹185 Grenzgefühls wird der Boden beim Einmarsch französischer Soldaten »gemartert« (20), liegt das Reich nach 1918 wie eine »offne Wunde vor, an deren Ränder brutale Fäuste drückten, daß Blut und Eiter quoll« (77), zieht »ein gespenstischer Finger blutige Linien rund um das Reich«, als die »Fronten erstarrten«. (75) Die im Versailler Vertrag festgelegten Grenzen werden – wie auch in der politischen Publizistik dieser Jahre186 – als physische Zerstörungen des Landes, als klaffende Wunden dargestellt. Den am männlichen Körper verhandelten Auflösungs- und Zerstücklungsphantasien entsprechend werden die Gebietsverluste im Zuge des Ersten Weltkriegs vom Icherzähler sogar als unbetäubte Amputationen imaginiert: »Noch waren die Grenzen flüssig, doch, wo begonnen wurde, sie sicher zu ziehen, da schrie das Land, und die neuen Linien waren wie Messerschnitte, die ihre blutigen Furchen zogen, und ganze Provinzen fielen, wie Glieder, die ein Betrunkener amputierte.« (110) Diese emotionale Identifikation geschändeter territorialer Außengrenzen mit dem eigenen Körper hat die Funktion, territoriale Ansprüche zu legitimieren und naturalisieren.187 Sie erzeugt mithin eine grenzrevisionistische Haltung, die mit der Aufforderung zur Ermächtigung und Restabilisierung der Nation einhergeht. Die Öffnung nach außen würde nämlich auch das innere Gefüge destabilisieren. Zwar wird dieses anthropogeografische Grenzverständnis nicht nur am männlichen Körper verhandelt, aber auch die gelegentliche Analogisierung der Außengrenzen mit den Grenzen des weiblichen Körpers geht immer wieder mit dem Aufruf zur Vermännlichung der Nation einher. So zielt die emotionale Schändungs- und Vergewaltigungsmetaphorik in Bezug auf den Versailler Vertrag darauf hin, eine grenzrevisionistische Haltung des männerbündisch gedachten Kollektivs hervorzurufen.188 Weiter wird die Verletzlichkeit des Reiches nach dem verlorenen Krieg anhand der typisch weiblichen Metapher des »umgebrochene[n] Acker[s]« veranschaulicht, der für Eindringlinge »offen« liegt: »jedweden Samen aufzunehmen war es [das Reich] bereit.« (189) Diese erschreckende Offenheit wird aber zu einer Chance für die Neugestaltung des Reiches umgedeutet: »Der Samen aber, der allein aufgehen durfte, dies war unser fester Wille, durfte einzig die Frucht unserer Träume sein.« (189) Ein einziges »Tröpfchen« der Freikorpskämpfer genüge, um die »stagnierende Flüssigkeit«, die das Reich sei, zu »gefrier[en] mit einem knisternden Schlage.« (189) So wird eine harte, undurchlässige und explizit als männlich gedachte Nation evoziert. Auch hier widerspricht die Suggestion der eruptiven männlichen Körperlichkeit aber der Vorstellung eines streng abgegrenzten Körpers oder Korps.
184 Gabriele Kämper, Die männliche Nation. Politische Rhetorik der neuen intellektuellen Rechten (Köln: Böhlau, 2005). 185 Ratzel, Anthropogeographie. 186 Kopp, »The Weimar ›Drang nach Osten‹,« 190. 187 Bruns, »Die Grenzen des Volkskörpers‹,« 178. 188 Ebd., 182.
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Um diese männliche Wiedergeburt der Nation darzustellen, verwendet der Icherzähler auf eine äußerst plastische, gewalttätige Sprache, in der sich martialische und sexuelle Lust überlagern. Der Kriegsschauplatz wimmelt von phallischen Bildern. In einer der vielen Kriegs- beziehungsweise Masturbationsszenen heißt es wie folgt: »Das Gewehr bäumte sich und schnellte wie ein Fisch, ich hielt es fest und zärtlich in der Hand, ich klammerte seine zitternden Flanken zwischen meine Knie und jagte einen Gurt, den zweiten auch, hintereinander durch.« (88) Schießen ist eine ejakulatorische Erfahrung, die – als befreiende Entladung elementarer Lebenskraft – »satanische Lust« (73) erregt, in einer anderen Szene penetriert das Gewehr geradezu die »warme[n], lebendige[n] Menschenleiber« und nachdem die Munition alle ist, liegt der Icherzähler »erschöpft und fröstelnd« am Boden. (73) Diese transgressive Gewalt ist produktiv sowie transformativ: In einer Art zweiter, exklusiv männlicher Geburt »formt« (48) der Grenzkampf harte, maschinenartige Männer, die an Ernst Jüngers ›Stahlgestalt‹ erinnern: »[W]ie, bin ich nicht eins mit dem Gewehr? Bin ich nicht Maschine – kaltes Metall?« (73) Das schon angesprochene ambivalente Produktionsprinzip des soldatischen Mannes von Grenzüberschreitung und Grenzziehung wiederholt sich also im tatsächlichen Grenzkampf. Dem ekstatischen Blackout, dem grenzenlosen und entgrenzenden Rausch des losstürmenden und losschießenden beziehungsweise ejakulierenden Freikorpskämpfers folgt die Restabilisierung als ›Stahlgestalt‹ ohne Körperöffnungen. Die imaginierte Identifikation mit den destruktiven Kräften der modernen Maschinenwelt, mit der Salomon die Realität seines organischen, sterblichen Körpers zu überspielen versucht, scheint das letzte Hilfsmittel zu sein, inmitten des technischen Infernos zu existieren. Zugleich stellt die Verschmelzung mit dem Maschinengewehr den paradoxen Versuch dar, gerade in der ›freiwilligen‹ Selbstverleugnung einen letzten Rest von Autonomie aufzuweisen. Die Ohnmachtsgefühle angesichts der Anonymität und Willkür des industriell geführten Krieges versucht der Icherzähler durch ein ›Bündnis‹ mit der Technik zu überwinden.189 Wie Salomon in »Der verlorene Haufe« darlegt, haben die Stahlgewitter des Ersten Weltkriegs und die technisierte Kriegsführung im Baltikum eine »neue Rasse«,190 eine neue kriegerische Elite erzeugt, die den Selektionsprozess des Massenkrieges überstanden hat. Dieser Vorstellung der männlichen Selbsterzeugung entsprechend wird an der Front eine übergesellschaftliche, mann-männliche Gemeinschaft produziert, die ihr revolutionäres Selbstverständnis aus der radikalen Trennung von der weiblichen oder ›effeminierten‹ bürgerlichen Welt zieht. Die Vorstellung der Grenze als äußerer Teil eines organischen Kollektivkörpers geht aber nicht nur mit einem immunisierenden Reflex einher. Wie die Haut des Einzelkörpers können sich die Grenzen der Nation auch ausdehnen. Zwar ist die nationalsozialistische Idee des ›Lebensraums‹ im Roman nicht explizit anwesend, ja scheint durch die Vorstellung der elitär-mythischen Nation sogar unterminiert oder verhindert zu werden. Doch gerade die (Wieder-)Eroberung des östlichen Raums wird als die Bedingung für die angestrebte »nationale Revolution« (135) vorausgesetzt. Der Roman nimmt
189 Fröhlich, Soldat ohne Befehl, 122. 190 Salomon, »Der verlorene Haufe,« 122. Bei Jünger heißt es in Bezug auf den ersten Weltkrieg dementsprechend: »Der Kampf ist nicht nur eine Vernichtung, sondern auch die männliche Form der Zeugung«. Jünger, »Der Kampf als inneres Erlebnis,« 50.
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so nicht nur die Idee des Lebensraums vorweg, sondern knüpft ungeachtet des verlorenen Weltkriegs auch an die faustische Logik der Vorkriegs- und Kriegszeit an: Ihre Selbstbehauptung und »Erfüllung« finde die Nation erst im »Sieg der Deutschheit über die Erde« (209), so wird der Icherzähler von Kern aufgeklärt. Damit vermittelt der Roman das Wunschbild eines Imperiums sine fine, einer grenzenlos gewordenen Welt, wenngleich sich Salomon in anderen Texten immer wieder zum vehementen Gegner des (amerikanischen) Imperialismus stilisiert.191 In dieser aus nationalen Ohnmachtsgefühlen geborenen Großmachtphantasie fungiert das ehemalige Kerngebiet der alten ›Prußen‹ durch die mittelalterliche Ostexpansion der Deutschen Ordensritter als das »östlichste Bollwerk deutschen Herrentumes« (54) und birgt eine »unbestimmte Hoffnung« auf »das kommende Reich«. (78) Stellte Preußen bei Spengler eine imaginäre Größe dar, die als »Anreiz, Orientierung und Kraftgewinn für die Wiederherstellung einer deutschen Groß- bzw. Weltmachtstellung«192 diente, so bezieht sich Preußen bei Salomon auch auf ein konkretes Territorium. Die nationale Regeneration und Großmachtstellung sieht Salomon durch die vermeintliche Wiedereroberung des Gebietes zwischen Weichsel und Memel realisiert. Das Grenzverständnis in Die Geächteten kennzeichnet sich also durch eine ambivalente Dynamik. Während zu schützende, mit Reinheit und Keuschheit verbundene, geschlechtlich codierte symbolische Grenzen nach innen errichtet werden, durchbrechen die Freikorpskämpfer die territorialen Grenzen selbstbewusst nach außen. Die oben formulierte Behauptung, dass territoriale Grenzen zu ihrer Legitimierung und Naturalisierung symbolische Differenzkonstruktionen benötigen, nimmt hier somit eine paradoxe Form an. Wie Claudia Bruns in Bezug auf den nationalsozialistischen Staatskörper hervorhebt, ist die symbolische Grenzziehung die Bedingung für eine radikale territoriale Flexibilisierung, und umgekehrt ruft diese territoriale Entgrenzungslust eine kompensatorische symbolische Grenzziehung im Innern hervor.193 Territoriale Expansion ohne die Gefahr nationaler Selbstauflösung scheint mit anderen Worten nur in einer klar abgesicherten, auf Differenz und Hierarchie basierenden symbolischen Ordnung der Geschlechter möglich zu sein, was durch die geschlechterspezifische Vokabel »Herrentum« einmal mehr verdeutlicht wird. Die anscheinend fixe Opposition zwischen fest und fließend, begrenzt und grenzenlos ist also selbst alles andere als fixiert und wird im Text ständig umgepolt. Symbolische und territoriale Grenzen stehen somit in einem wechselseitig konstitutiven Spannungsverhältnis.
Die »Bismarcksche Aufgabe« Als Leitstern und Wegbereiter der deutschen Ostexpansion auf dem Wege zur Weltherrschaft fungiert der preußische Bundes- und deutsche Reichskanzler Otto von Bis-
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Auch die Sekundärliteratur grenzt Salomons Nationalismus explizit vom Imperialismus ab (Klein, Ernst von Salomon, 171) oder erwähnt diese Großmachtphantasien einfach nicht (u.a. Hermand, Ernst von Salomon; Heyer, ›Verfolgte Zeugen der Wahrheit‹; Herzinger, Ernst von Salomon). Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 88. Bruns, »Die Grenzen des ›Volkskörpers‹,« 183.
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marck.194 Die Freikorpskämpfer fahren nämlich am 1. April 1919, am Geburtstag Bismarcks, ins Baltikum, »ohne Kündigung und Befehl« (49), wie der Icherzähler hinzufügt. So wird Bismarck, der nach seinem erzwungenen Rücktritt aus der Politik oft als tragischer Verstoßener dargestellt wird,195 zum Waffenbruder dieser selbsterklärten Geächteten gemacht und zur Diskreditierung der Weimarer Republik und des Versailler Vertrags eingesetzt. Schon 1925 bezieht sich der Nationalbolschewist Ernst Niekisch in seinem Kampf gegen die neue Westpolitik Gustav Stresemanns auf Bismarck.196 Auch Arthur Moeller van den Bruck macht den preußischen Bundeskanzler in seiner Schrift Das Dritte Reich (1923) zum Aushängeschild der erhofften deutschen Ostexpasion: Unsere heutige »Bismarcksche Aufgabe«, so Moeller, ist die »Aufgabe nach Osten«.197 Dieser aktualisierte Bismarck ist lediglich ein blasser Schatten des historischen Bismarcks. Konkrete Berührungspunkte gibt es in der Weimarer Republik nur noch über die feierlichen Anlässe des Bismarck-Kultes,198 wie es auch in Salomons Text der Fall ist. Vielmehr als auf historische Akkuratesse zielen die Bismarck-Verweisungen und -Verehrungen auf das phantasmatische und charismatische Potenzial des Kanzlers. Besonders in unübersichtlichen Zeiten und politischen Legitimationskrisen, in denen sich die neue Weimarer Republik schon von Anfang an befand, erfüllt Bismarck eine »Orientierungsfunktion.199 Zwar waren die meisten Elemente, auf die sich die BismarckVerehrung in der Weimarer Republik bezog, schon vor 1914 anwesend, aber die oft als traumatisch empfundenen Ereignisse von Kriegsniederlage, Revolution und außerpolitischem Machtverlust führten doch zu neuen Akzenten im Bismarck-Kult, wie Hardtwig ausführlich dargelegt hat.200 Nach 1918 wurde vor allem Bismarcks kriegerisches Einigungswerk zwischen 1867 und 1871 in den Vordergrund gerückt, das – so das emotionale Argument – sogar Krieg und Niederlage überstanden habe.201 So konnte man sich Bismarck trotz oder sogar dank des verlorenen Krieges als Wegbereiter und Neubegründer einer europäischen Groß- bzw. Weltmachtpolitik aneignen. Den »Jugendstreich« (Max Weber) der kleindeutschen Lösung galt es jetzt zu überbieten oder vielmehr zu ›vollenden‹.202 In Das dritte Reich schreibt Moeller: »Aber Bismarck, der Gründer des zweiten Reiches war, wird über sein Werk hinaus auch noch der Gründer des dritten gewesen sein.«203 »Man wird dann erkennen«, so Moeller noch in der neubearbeiteten Fassung von Der preußische Stil (1922),
194 Für die folgenden Reflexionen über die Bismarck-Rezeption im konservativ-revolutionären Umfeld in der Weimarer Republik beziehe ich mich auf Wolfgang Hardtwigs Artikel »Der BismarckMythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft,« Geschichte und Gesellschaft 21, Sonderheft: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939 (2005): 61-90. 195 Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 65. 196 Ebd., 72. 197 Arthur Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich (Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1931), 231. 198 Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 64. 199 Ebd., 84. 200 Ebd., 66-67. 201 Ebd., 72. 202 Ebd., 73-74. 203 Moeller van den Bruck, Das Dritte Reich, 231.
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»daß Bismarck auch nach 1919 der Reichsgründer bleibt: und daß das Jahr 1870 die deutsche Einheit ganz anders, dauernd, auch 1919 überdauernd, unterschichtet hat, als dies im Jahre 1849 möglich gewesen wäre. […] Die Zerschlagung der Formen hat möglich gemacht, künftig einen weiteren, einen größeren, einen gesamtdeutschen Inhalt in neuer Form zusammenzufassen, als ihn die teildeutsche Lösung enthielt. […] Die Dynastien sind gesunken – aber die Stämme können über das Werk Bismarcks hinweg, das sich als ein Übergang zu einer zukunftsgeschichtlichen Erfüllung des gesamtdeutschen Schicksals herausstellt, einen Weg zueinander finden, der ihnen ohne 1914 und 1919 niemals offengestanden hätte.«204 Diese Art von Geschichtsklitterung lässt sich nur aus der »ungemeinen Plastizität«205 des modernen politischen Mythos begreifen, der generell die Funktion hat, in unsicheren und unübersichtlichen Zeiten Deutungsmuster anzubieten, die gesellschaftlichpolitische Komplexität durch die Aufhebung von Widersprüchen zu vereinfachen und die wachsende Kluft zwischen einer vermeintlich ruhmreichen Vergangenheit und einer wenig glorreichen Gegenwart zu überbrücken.206 Der »Ewigkeitscharakter«207 der bismarckschen Realisierungen sowie sein ›vorbildliches‹ Handeln machen ihn zu einer in hohem Maße ahistorischen »Projektionsfläche«208 für die nationalen und imperialen Machtphantasien seiner Bewunderer. Tatsächlich sehnten sich konservativ-revolutionäre Denker wie Moeller, Spengler oder Salomon keineswegs nach dem Deutschen Kaiserreich zurück. Die Anknüpfungsmöglichkeiten, die Bismarcks Gestalt als ›eiserner‹ Außenpolitiker und ›revolutionär‹ handelnder Reichsgründer für die Gegenwart bot, kompensierten die Nachteile seiner potenziellen Identifizierbarkeit mit dem altkonservativen preußischen Junker oder mit seiner alles andere als reibungslos verlaufenden Innenpolitik.209
Preußischer Sozialismus Der Ruck nach Osten, für den der Icherzähler und Kern plädieren, wird von ihrem antiwestlichen Ressentiment angetrieben. Unter einer westlichen Politik verstehen sie eine parlamentarische Demokratie, ein kapitalistisches Wirtschaftsmodell und eine liberale Gesellschaftsordnung. Die einzige Alternative zu dieser als degeneriert verstandenen Politik sehen sie im Sozialismus, »und nur in seiner reinsten Form, in der preußischen nämlich.« (222) Wie bei Spengler wird diese Leitvokabel der politischen Linken unter dem Vorwand einer restitutio ad integrum von den schwindelhaften ›Interessen‹ des internationalen Klassenkampfes und der Gesellschaft losgelöst und in eine nationale Ordnung überführt. Das einzige ›Interesse‹, das sie selbst anerkennen können, so Kern, sei die Nation. (212) Wie Spengler wollen sie den genuin deutschen Sozialismus vom
204 Arthur Moeller van den Bruck, Der preußische Stil. Neue Fassung, mit einem Vorwort von Hans Schwarz (Breslau: Korn, 1931), 197-198. 205 Hardtwig, »Der Bismarck-Mythos,« 90. 206 Ebd., 90. 207 Ebd., 76. 208 Ebd., 77. 209 Ebd., 81.
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international geprägten Marxismus befreien. Obgleich der Icherzähler der antiwestlichen Stoßrichtung Russlands durchaus zugetan ist und zwischen ›Russentum‹ und ›Deutschtum‹ aufgrund ihres stetigen Kampfes gegen externe und innere Feinde sogar eine wesentliche Verwandtschaft sieht, verwirft er die »Überfremdung« Russlands durch den Marxismus dezidiert: »Wie, wenn der Russe, sich gegen den Westen zu wehren, die Hilfe einer Komponente nahm, die sich innerhalb des Westens gegen diesen selber gebildet hat? Das hieße doch den Teufel Kapitalismus mit dem Beelzebub Marxismus austreiben!« (211) Auch die »deutsche Schicht, die sich [vom Westen] überfremden ließ« und die bereit war, der »Tyrannei des Wirtschaftlichen« »den letzten Rest der deutschen Substanz« preiszugeben, wird mit der Parole des preußischen Sozialismus vehement bekämpft. (212) Spätestens seit dem 1915 erschienenen Werk Händler und Helden von Werner Sombart wurde der Krieg, der Salomon zufolge noch nicht beendet ist, als ein manichäischer Kampf der Ordnungen zwischen der kapitalistischen Allianz Englands, Frankreichs und Amerikas einerseits und Deutschland andererseits dargestellt. In Deutschland herrsche nicht kruder Materialismus, sondern geistige Kultur vor. Die immerwährende Angst des Icherzählers vor ›Überfremdung‹ macht einmal mehr deutlich, dass auch Salomons nationales Denken von einer ›schutzzonalen‹ Logik angesteuert wird.
Terra nullius Der Aufbruch ins Baltikum und nach Oberschlesien wird zudem als Generationenkonflikt inszeniert, der nicht nur mit der Idee einer Verjüngung, einer Re-Generation, sondern auch mit der einer Vermännlichung einhergeht: »Wir sagten ›Nein‹ zum Reiche jener Tage, weil wir ein ›Ja‹ zum kommenden schon auf der Zunge hatten. […] Mehr kann ein Mann nicht tun.« (81) Als Vertreter des »ewige[n] Recht[s] der Jugend«, der »wache[n] Kraft der Jugend« (169-170) verkörpern die Freikorpskämpfer das regenerative Potenzial der Nation. Dabei spielt der Aufbruch in östliche Richtung eine wichtige Rolle: In ihren antiwestlich angelegten Schriften beschreiben Moeller und Spengler die Kräfte der östlichen Völker als jung und unverbraucht, während die westlichen Völker als alt und degeneriert erscheinen. Das symbolische ›Nein‹ der Freikorpskämpfer drückt die Hoffnung aus, die immer wieder als ›verkrustet‹ beschriebenen, sich an der wilhelminischen Vorkriegszeit orientierenden bürgerlich-patriarchalischen Strukturen der verhassten Weimarer Republik und deren ›Erfüllungspolitik‹ endgültig sprengen zu können. Dieser symbolische Vatermord wird in den politischen Morden exponierter Personen dieser Demokratie, besonders im Mordanschlag auf den damaligen Außenminister Walther Rathenau, konkret, dessen »Blut unversöhnlich trennen [soll] was auf ewig getrennt werden muß.« (216) Die durch die Vaterdemontage entstandene emotionale Lücke füllen die Freikorpskämpfer auf einer abstrakten Ebene mit der Idee einer neuen Nation, die sie resolut vom ›Vaterland‹, das heißt vom im 19. Jahrhundert wurzelnden, sentimental-pathetischen Patriotismus abgrenzen: »Wir konnten uns dem Vaterlande nicht verpflichtet fühlen, weil wir es nicht mehr achten zu können glaubten. Wir konnten das Vaterland nicht achten, weil wir die Nation liebten.« (81) Auf einer konkreteren Ebene wird dieses Manko durch die männerbündische Struktur des Freikorps beseitigt. Durch die emo-
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tionale Hinwendung der Jugend zu sich selbst und zu nur wenig älteren Führern können sie diese stellvertretenden Väter nun wohl ›achten‹: »Wir erkannten uns sofort, wir begrüßten uns, […] ohne voneinander zu wissen, ohne Marschbefehl und ohne ein bestimmteres Reiseziel, als einfach dies: Oberschlesien! Noch im Zuge, bildeten wir schon den Stamm einer Kompanie, ein Führer war nach wenigen Minuten des Gesprächs bald erkannt, sofort und selbstverständlich in seiner Autorität geachtet«. (171) Bezeichnenderweise werden sowohl die Nation als auch das Freikorps als eine archaisch anmutende Abstammungsgemeinschaft dargestellt. Nicht die »Heiligkeit der Verträge« (169), sondern der »Anruf des Blutes« (77) treibt die Jugend zur Nation. Weiter wird das Freikorps als »Stamm der Frontsoldaten« (45) beschrieben, denn schon im Weltkrieg wurde »die Nation vom Vaterland [geschieden]«. (76) Abgesehen vom Bekenntnis zum preußischen Sozialismus wird die durch die symbolische Entthronung entstandene ideologische Lücke hingegen ausdrücklich offen gelassen. Der Icherzähler betont immer wieder, dass die Freikorpskämpfer – im Gegensatz zur Weimarer Regierung mit ihren »Parolen und Programmen« (77, 189) – instinktiv aber dennoch ›entschlossen‹ handeln. Allerdings stellt sich dieser für die Konservative Revolution typische Dezisionismus als der verzweifelte Versuch heraus, das Gefühl der totalen Sinnlosigkeit und der tiefen Ohnmacht angesichts des Gangs der Dinge zu überwinden. Anders als bei Jünger wird diese heroische Pose aber mit der Perspektive des selbstreflexiven Subjektes verschränkt, das den grundlegenden Zweifel am Sinn des Handels expliziert: »Was wir wollten, wußten wir nicht, und was wir wußten, wollten wir nicht. Krieg und Abenteuer, Aufruhr und Zerstörung und ein unbekannter, quälender, aus allen Winkeln unserer Herzen peitschender Drang! Aufstoßen ein Tor durch die umklammernde Mauer der Welt, […] siegen nach Osten […] – wollten wir das? Ich weiß nicht, ob wir es wollten, wir taten es. Und die Frage nach dem Warum verblaßte unter den Schatten immerwährender Gefechte.« (54-55) Dabei wird jede ideologische oder moralische Richtschnur radikal durchgeschnitten: »Wir sahen rot, wir hatten nichts mehr von menschlichen Gefühlen im Herzen. […] Wir hatten einen Scheiterhaufen angezündet, da brannte mehr als totes Material, da brannten unsere Hoffnungen, unsere Sehnsüchte, da brannten die bürgerlichen Tafeln, die Gesetze und Werte der zivilisierten Welt, da brannte alles, was wir noch vom Wortschatz und vom Glauben an die Dinge und Ideen der Zeit, die uns entließ, wie verstaubtes Gerümpel mit uns geschleppt.« (104) Ähnlich wie der Icherzähler in der Anfangsszene machen die Freikorpskämpfer mit der alten Welt reinen Tisch. Die bürgerlichen Tafeln, Gesetze und Werte sind nur noch anachronistische Relikte aus früheren Zeiten. Sie waren schon »verstaubt«, gehörten also – bedeckt mit dieser trockenen Leblosigkeit – einer vergangenen Welt an, aber jetzt werden sie endgültig als moralischer Ballast (»geschleppt«) entsorgt. Auch werden sämtliche Hoffnungen und Sehnsüchte beseitigt und mit dem anderen »Gerümpel« auf den Scheiterhaufen geworfen. Das Bild des Feuers macht die Idee einer endgültigen Tabula Rasa allerdings ambivalent, da es doch mit der Vorstellung des Neuentstehens aus der Asche und mit der Idee der ewigen Wiederkehr verbunden ist. Das Einzige, was dem
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Icherzähler zufolge übrig bleibt, ist die Tat, um der Tat willen: »Nicht das war wichtig, daß, was wir taten, sich als recht erwies, sondern daß in diesen ausgeschlossenen Tagen überhaupt gehandelt wurde«. (77) Dieser Tatendrang ist nichts anderes als der atavistische Wille zur totalen »Vernichtung«, »die erste Lust des Menschen«, die »nach ihren Rechten schrie.« (55) So wird der Grenzraum im Roman zu einem quasigesetzlosen Gebiet, zur terra nullius, wo staatliche Gewalt nahezu abwesend ist. Dieses Land der Niemande ist aber nicht leer; als Schwellenlandschaft wird sie von Figuren des Dazwischen, von Außenseitern, Geächteten und Heimatlosen bevölkert.210 Wie Jörg Kreienbrock darlegt, sind diese Grenzwesen in der Konzeption Friedrich Ratzels allerdings keine bloßen Kriminellen. In Bezug auf den Grenzkrieg zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürstentum Litauen zwischen 1303 und 1410 schreibt Ratzel diesen Figuren in seiner Politischen Geographie vielmehr eine militärische und politische Funktion zu.211 Mal im Sold des Ordens, mal für ihre eigenen Interessen führen sie einen Guerillakampf, einen paramilitärischen Partisanenkampf gegen die Litauer. Dabei haben sie keine direkte politische Zugehörigkeit.212 So werden im Raum des Partisanenkriegs die ›abstrakten‹, politischjuridischen Grenzziehungen außer Kraft gesetzt.213 Auch im Roman kennzeichnen sich die geächteten Freikorpskämpfer durch wechselnde Loyalitäten. Als moderne »Landsknechte« (48) pendeln sie zwischen Angriff und Verteidigung und verzichten auf jede Form von Staatsangehörigkeit. Der Icherzähler nennt sie selbstbewusst »Barbaren« (144), »Versprengte, Außgestoßne, heimatlose Geusen«. (81) Genau wie die von Ratzel beschriebenen liminalen Figuren sind die Freikorpskämpfer nicht einfach Verbrecher, sondern erfüllen im Grenzkampf eine spezifische Funktion: Als »Statthalter für die noch ungeborene Nation« (81) ist es ihre Aufgabe, »den ersten Schritt zu tun, die Bresche zu schlagen. […] Unsere Aufgabe ist der Anstoß, nicht die Herrschaft.« (216) Sie betrachten sich als kämpferische Avantgarde in einer Zeit, die lediglich einen »Übergang« (61) zu einer apokalyptischen Zeitenwende darstellt. So hat die Grenze auch eine zeitliche Dimension: Sie ist ein Raum zwischen »unwiederbringlich[er]« (37) Vergangenheit und unbestimmter Zukunft.
Grenzen des Sagbaren Die radikale Grenzziehung mit der bürgerlichen Welt und deren Paragrafenlogik bedeutet für den Schriftsteller Salomon eine fundamentale Aporie. Sie ruft nämlich die Frage auf, ob und wie man innerhalb sprachlicher Strukturen die Grenzen der Sprache überschreiten oder zumindest aufweisen kann.214 Nicht nur betont der Icherzähler, dass herkömmliche Leitvokabeln wie Volk, Vaterland, Heimat, Pflicht, Treue und Ehre nach dem verlorenen Krieg obsolet geworden sind, dass was sie »ausgesprochen
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Kreienbrock, »Von Linien, Säumen und Räumen,« 45. Ebd., 45. Ebd., 47. Ebd., 48. Diese Frage wirft Oliver Kohns in Bezug auf die Texte Friedrich Nietzsches auf. Kohns, »Die Übertragung der Reinheit (Mary Douglas, Friedrich Nietzsche),« 28.
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hatten«, »ungültig« (27), »nicht echt« (29) mehr war. Auch Sprache an sich ist problematisch geworden. Die Frontsoldaten sowie die Freikorpskämpfer »tragen ein Wissen in sich, das sich sprachlicher Definition und Vermittlung entzieht«,215 und nach dem sie wortlos handeln: »Das, was wir marktschreierisch in die Welt hinausprahlten, das hatte bei ihnen seinen geheimen Sinn erfahren, dem hatten sie gelebt, das hieß sie das zu tun, was wir wohlgefällig Pflicht nannten. […] Und niemals sprachen sie davon. Niemals glaubten sie an das Wort, sie glaubten an sich.« (29) Eine Eins-zu-eins-Beziehung zwischen der intelligiblen Sphäre des Signifikats und dem Signifikanten kann es nach dem Weltkrieg nicht mehr geben. Die Krieger sind wie Eingeweihte in einer quasimystischen Gemeinschaft, aus der es keinen Weg zurück in die bürgerliche Gesellschaft gibt. In ihrer verzweifelten Suche nach »brauchbaren Ausdruckstrümmern« aus dem zurückgebliebenen »Wortchaos« stoßen sie immer wieder an die Grenzen des Sagbaren. (205) Um diese Krise der Repräsentation zu überwinden, rekurriert Salomon auf die Tradition des Erhabenen.216 Wie Jörg Heiniger bemerkt, ist das Erhabene, als »Begriff der Krise«, immer auch ein Diskurs über Grenzen und deren Überschreitungen.217 Nicht nur strotzt der Text vor erhabenen Themen und Motiven wie heroischer Opfer- und Todesbereitschaft, rauschhaftem Kampferlebnis und überwältigenden Naturelementen wie Stürmen und Vulkanen; auch wird die grundsätzliche Un-Vorstellbarkeit dieser Erlebnisse für gewöhnliche Sterbliche zu einer negativen Ästhetik des Unsagbaren und Unerträglichen umgeschrieben.218 Das Erhabene, so schreibt Jan Assmann, »ist das Unnennbare, Unaussprechliche, Sprach- und Begriffstranszendente.«219 Immer wieder werden die Erfahrungen der Freikorpskämpfer als »unsagbar« und »unfassbar« für die »unverstehenden Menschen« beschrieben. (229) So ist es nur folgerichtig, dass nicht einer der Papierfetzen, auf denen die Rathenau-Mörder Kern und Fischer ihre letzte Botschaft verzeichnet hatten und die sie mit Steinen beschwert vom Turm warfen, gefunden werden konnten, weil der Sturm zu heftig war. Die von Walter Benjamin in seinem Essay »Der Erzähler« (1936) dargebotene These, dass die heimkehrenden Frontsoldaten »nicht reicher«, sondern »ärmer an mitteilbarer Erfahrung«220 aus dem hochtechnisierten Stellungskrieg zurückkehrten, scheint also auch auf Salomon zuzutreffen: »Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer
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Herzinger, »Ein extremistischer Zuschauer,« 85. Für die Tradition des Erhabenen im Werk Ernst Jüngers: Oliver Kohns, »An Aesthetics of the Unbearable. The Cult of Masculinity and the Sublime in Ernst Jünger’s ›Der Kampf als inneres Erlebnis‹ (Battle as an Inner Experience),« Image [&] Narrative 14, 3 (2013): 141-150. 217 Jörg Heininger, »Erhaben,« in Ästhetische Grundbegriffe 2. Hg. Karlheinz Barck et al. (Stuttgart: J.B. Metzler, 2001), 275-338, hier: 276. 218 Vgl. Kohns, »An Aesthetics of the Unbearable,« 146-147. 219 Jan Assmann, Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur (München: Hanser, 1998), 192. 220 Walter Benjamin, »Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows,« in ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2 (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1977), 438-465, hier: 439.
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Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper.«221 Zwar ist Salomon keineswegs schweigend vom Schlachtfeld des Nachkrieges zurückgekommen. Indem aber der Autor für die Beschreibung der ›unsagbaren‹ Kriegserlebnisse auf die literarische und philosophische Tradition des Erhabenen zurückgreift, ist sein Schreiben vielleicht noch weiter von dem entfernt, was Benjamin als »mittteilbare Erfahrung« bezeichnet. Die Ästhetisierung und Sublimierung der Kriegserlebnisse mittels überwältigender Naturelemente oder Tropen des männlichen Heroismus222 wie Todesbereitschaft und Selbstaufopferungswillen ist nur die andere Seite der protofaschistischen Maschinenphantasien, mit denen Salomon den »winzige[n], gebrechliche[n] Menschenkörper« ausblendet, oder besser: ihn mit einem undurchdringlichen Panzer ausstattet. In Bezug auf Ernst Jünger spricht Andreas Huyssen daher von ›gepanzerten Texten‹.223 Zwischen diesen rhetorischen Abwehrreflexen brechen aber auch immer wieder Momente einer tiefgründigen Verletzbarkeit und Nichtigkeit hervor. So spickt der Autor seinen Roman mit seitenlangen Detailbeschreibungen der grässlichsten Brutalitäten und Verwundungen auf dem Kriegsschauplatz, die nicht philosophisch oder literarisch abgesichert und daher aufgearbeitet oder verklärt werden.224 Im Gegenteil beschwören diese Textstellen gerade das unbehagliche Gefühl der Selbstentfremdung und des ›Geworfen Seins‹ inmitten einer Reihe unbeeinflussbarer Prozesse herauf. Aber auch diese Beschreibungswut scheint der immunisierenden Logik des rechtsradikalen männlichen Subjekts zu entsprechen, so könnte man argumentieren. Wie der Verbrecher im Gefängnis schreibt, um seine Identität zu bewahren,225 so versucht Salomon die Grenzen des Ich schriftlich nachzuzeichnen, ihnen sozusagen Kontur zu verleihen, um sich zu vergewissern, dass nicht er es ist, der da verstümmelt und verrenkt am Boden liegt. Nicht nur das nationale und männliche Subjekt, sondern auch der Schreibmodus wird also letztendlich von der ambivalenten Dynamik von Entgrenzung und Grenzziehung, Grenzüberschreitung und Restabilisierung gesteuert. Im Diskurs des Erhabenen werden die Grenzen des Sagbaren, der ›mitteilbaren Erfahrung‹ gesprengt, während sie anhand der fast zwanghaften Beschreibungswut immer wieder aufgesucht, abgetastet, umgepolt und wieder festgelegt werden. Wie der Icherzähler gegen die Grenzen des Sagbaren verstößt und die Leser*innen dadurch einen Schimmer des ›winzigen, ge-
221 Ebd., 439. 222 Das Erhabene ist immer auch ein Diskurs über männlichen Heroismus, so argumentiert Mareen van Marwyck. Mareen van Marwyck, Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 (Bielefeld: transcript, 2010), 48-61. 223 Huyssen, »Fortifying the Heart – Totally,« 130, 134. 224 Andreas Huyssen verknüpft im Hinblick auf Ernst Jünger die Ästhetisierung des Horrors in Jüngers Texten mit dem freudschen Begriff des ›Reizschutzes‹. Huyssen, »Fortifying the Heart – Totally,« 138. 225 Sigrid Weigel, ›Und selbst im Kerker frei…!‹ Schreiben im Gefängnis. Zur Theorie und Gattungsgeschichte der Gefängnisliteratur (1750-1933) (Marburg/Lahn: Guttandin und Hoppe, 1982), 8.
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brechlichen Menschenkörpers‹ erhaschen können, wird in der folgenden Textanalyse von Die Kadetten vorgeführt.
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Die Suche nach dem besseren Vater: Ernst von Salomons Die Kadetten (1933) Jeder ist sein eigner Preuße, populär gesprochen. Darin liegt der erzieherische Wert, das Humanum sozusagen, der Zwangsjacke, die ebensogut Freiheitsjacke genannt werden kann. Der Philosoph würde schließen, daß die wahre Freiheit in der Katatonie beruht, als dem vollendeten Ausdruck der Disziplin, die Preußen groß gemacht hat. Die Konsequenz ist reizvoll: der ideale Staat gegründet auf den Stupor seiner Bevölkerung, der ewige Frieden auf den globalen Darmverschluß. Der Mediziner weiß: die Staaten ruhn auf dem Schweiß ihrer Völker, auf Kotsäulen der Tempel der Vernunft. – Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei226
Jahrgang 1902 In der heutigen Epoche von Radikalismen, politischer und existentieller Unbehaustheit und in die Krise geratener Männlichkeit wird die »vaterlose Gesellschaft«227 (Matthias Matussek) oft als Ursache für vielerlei Fehlentwicklungen insbesondere der Söhne betrachtet und gleichsam zur conditio humana der westlichen Welt erklärt.228 Vor allem im rechtskonservativen Lager wird diese Vaterlosigkeit immer wieder als Verlustgeschichte natürlicher männlicher Vorherrschaft bedauert, die zur Entgleisung der »von uns verwahrloste[n] Kinder«229 geführt habe, so behauptet ein polemischer Botho Strauß anlässlich neonazistischer Gewalttaten gegenüber Asylanten 1993 in seinem kontroversen Essay »Anschwellender Bocksgesang«. Aber nicht nur Skinheads, auch Jugendlichen mit einem Migrationshintergrund wäre ein väterliches Kraftfeld offensichtlich von Nutzen: »Wo sind die Väter? WO SIND DIE VÄTER?«, so fragte sich der ehemalige belgische 226 Heiner Müller, »Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei,« in ders., Werke 4. Die Stücke 2, Hg. Frank Hörnigk (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002), 511-537, hier: 526. 227 Matthias Matussek, Die vaterlose Gesellschaft. Eine Polemik gegen die Abschaffung von Familie (Frankfurt a.M.: Fischer, 2006). Der Begriff geht auf den 1913 veröffentlichten Essay Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker (Wien: Hugo Heller & Cie) von Sigmund Freud zurück und wurde 1919 im Essay Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft (Wien: Anzengruber Verlag) von Freuds Schüler Paul Federn auf die politischen Probleme der Nachkriegszeit angewendet. Der Begriff wurde 1963 vom Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich in seiner sozialpsychologischen Studie Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft (Zürich: Buchklub Ex Libris) aufgegriffen. 228 Dieses Kapitel erschien in einer kürzeren Fassung in Weimarer Beiträge 63, 4 (2017): 540-561. 229 Botho Strauß, »Anschwellender Bocksgesang,« Der Spiegel, 8. Februar, 1993, 202-207, hier: 204.
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Staatssekretär für Asyl und Migration und Pädagoge Theo Francken nach Krawallen, die 2017 in Brüssel stattfanden und an denen vor allem marokkanische Jugendliche beteiligt waren.230 In beiden Fällen wird zum einen das Klischee des abwesenden Vaters kultiviert, zum anderen der Mann als Stütze der Familie und der Gesellschaft porträtiert. Das Fehlen dieses väterlichen Kraftfeldes bedrohe dann die (öffentliche) Ordnung. Dieses antifeministische Denkbild findet sich aber nicht nur auf rechtskonservativer Seite. Auch ein Autor wie Milo Rau scheint in seinem Theaterstück Civil Wars231 (2014) ein Idealbild normal-autoritärer väterlicher Männlichkeit zu vermitteln. Ausgehend von der Geschichte des jungen belgischen Salafisten Joris erinnern sich vier Menschen an ihre eigene, vom problematischen Verhältnis zum Vater geprägte Jugend, das nicht nur als Ursache für die psychosoziale Fehlentwicklung dieser Individuen, sondern auch als Grund für das in die Apokalypse rasende Europa des 21. Jahrhunderts angeführt wird. Wie Claudia Bruns darlegt, wurde diese heute so oft beklagte vaterlose Gesellschaft um 1900 gerade herbeigesehnt.232 Nicht nur die eben erst gegründete bürgerliche Jugendbewegung, sondern auch die reformwillige wilhelminische Elternschaft, die im Aufbruch der (männlichen) Jugend ihre eigenen politischen Hoffnungen zu realisieren wünschte, erhoben den symbolischen Vatermord zum Teil ihres Programms.233 Selbst wenn diese Vaterdemontage oft nichts anderes als ein diskursives Phänomen blieb, das sich vor allem in Literatur, Kunst, Architektur, Kleidung und Bildungsreformdebatte etablierte,234 verlieh sie der Jugend doch ein »revolutionäres Selbstverständnis«,235 das nicht nur mit der Idee einer Re-Generation, sondern auch mit der einer Vermännlichung einherging.236 Dementsprechend konzipierte 1912 der Berliner Student und erste Theoretiker der Wandervogel-Bewegung Hans Blüher die männerbündische Grundlage der bürgerlichen Jugendbewegung als »dramatische Revolution« einer männlichen Jugend gegen die Väter.237 Der Glaube, zusammen mit den wilhelminischen Patriarchen auch die starren bürgerlich-paternalistischen und obrigkeitshörigen Strukturen entsorgen zu können, war zu dieser Zeit außerordentlich stark.238
230 Theo Francken, interviewt von Walter Pauli und Peter Casteels am 13. Dezember 2017, »Absolute genderneutraliteit? Dan is het ook gedaan met vrouwenrechten en de hele reutemeteut,« Knack, https://www.knack.be/nieuws/belgie/theo-francken-absolute-genderneutraliteit-dan-is-het-ookgedaan-met-vrouwenrechten-en-de-hele-reutemeteut/article-longread-938235.html (abgerufen 24.10.2018). Vgl. auch Arne De Winde, »De taal liegt niet. Een lezing van Theo Francken,« COLLATERAL – Online Journal for Cross-Cultural Close Reading, Collision 7 (Februar 2018), https://ww w.collateral-journal.com/index.php?collision=7 (abgerufen 24.10.2018). 231 Milo Rau, Die Europa Trilogie/The Europe Trilogy. The Civil Wars, The Dark Ages, Empire (Berlin: Verbrecher Verlag, 2016; Uraufführung 2014). 232 Für die folgenden Reflexionen über den männerbündischen Diskurs um 1900 beziehe ich mich besonders auf Bruns’ Artikel »Metamorphosen des Männerbunds. Vom patriarchalen Vater zum bündisch-dionysischen Führersohn,« in Vaterlosigkeit. Geschichte und Gegenwart einer fixen Idee, Hg. Dieter Thomae (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010), 96-123. 233 Ebd., 96, 103. 234 Ebd., 96. 235 Ebd., 103. 236 Ebd., 104. 237 Ebd., 102. 238 Ebd., 96.
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Diese Hoffnung führte zu Beginn des Ersten Weltkriegs bekanntlich in die notorische deutsche Kriegsbegeisterung, die das ganze Land zu ergreifen schien. Erfahrungen der Langeweile, Sinnleere und gesellschaftlichen Unzufriedenheit bargen ein zerstörerisches Potenzial, das den Krieg als ein kulturrevolutionäres Ereignis, als Aufbruch und kathartischen Neuanfang erscheinen ließ.239 Diese existentielle Obdachlosigkeit der bürgerlichen Jugend im ausklingenden wilhelminischen Zeitalter wurde von Walter Flex in seiner 1916 veröffentlichten autobiografischen Kriegsnovelle Der Wanderer zwischen beiden Welten treffend zum Ausdruck gebracht, indem er die vaterlosen Wandervögel in geschlossener Formation in den Krieg marschieren ließ. Die jugendliche Aufbruchsstimmung bezog sich vor allem auf diejenigen bürgerlichen Institutionen, deren Machtstrukturen bis dahin als evident galten: das Elternhaus mit dem pater familias und die Schule mit dem allwissenden Lehrer an der Spitze. Diese Infragestellung des spätestens seit der Aufklärung explizit als männlich gedachten Vernunftsubjekts führte tatsächlich zu gesellschaftlichen Veränderungen und Modernisierungen, stellte aber keineswegs einen radikalen Bruch mit der bürgerlich-hegemonialen Männlichkeit dar.240 Wie Bruns am Beispiel der Wandervogelbewegung hervorhebt, ging die Revolte gegen die bürgerlichen Väter vielmehr mit einer »Modernisierung bestimmter Männlichkeitskonzepte« einher,241 deren Struktur durch die emotionale Hinwendung der Jugend zu sich selbst und zu nur wenig älteren, selbst erwählten Führern zwar nicht mehr patriarchalisch gedacht war, die alte durch Differenz und Hierarchie strukturierte Geschlechterordnung jedoch erneut bekräftigte.242 Gerade weil der Bund die traditionell auf das rationale Subjekt beschränkte Männlichkeit emotionalisierte und erotisierte, konnte er auf neue Weise mit der Familie konkurrieren und Mädchen und Frauen – als Teil der Familie – ausschließen.243 Zur selben Zeit, als Blüher eine aufbruchsbereite bürgerliche Jugend beschrieb, rückte Sigmund Freud den mörderischen Konflikt zwischen Vater und Sohn in das Zentrum seiner psychoanalytischen Arbeit, nicht nur durch die Konzeptualisierung des Ödipuskomplexes, sondern auch durch den in Totem und Tabu (1913) beschriebenen Mord der Bruderhorde am Urvater als Fundierung der Kultur. So stellte sich der Aufbruch der Söhne gegen die Väter zugleich als Kampf um eine neue Figuration von Männlichkeit dar: An die Stelle des einen Vaters trat jetzt ein männerbündisch strukturiertes Kollektiv, ohne dass die gesellschaftliche männliche Hegemonie damit bedroht wurde.244 Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs wurde das männerbündische Konzept zudem radikalisiert und politisiert. Nicht nur kam es noch einmal zu einer verstärkten Blüher-Rezeption, dessen Männerbundideologie die Mentalitätsgeschichte der Zwi-
239 Thomas Anz, »Literatur der Moderne und Erster Weltkrieg. Rausch des Gefühls und pazifistische Kritik,« Literaturkritik.de. Rezensionsforum 8 (Aug., 2004), https://literaturkritik.de/id/7306 (abgerufen 24.10.2018). 240 Bruns, »Metamorphosen des Männerbunds,« 96-97. 241 Ebd., 97. 242 Ebd., 103, 107. 243 Ebd., 97, 104, 105. 244 Ebd., 101.
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schenkriegszeit weitgehend geprägt hat.245 Auch rekurrierten politische Organisationen wie der Jungdeutsche Orden (eine politisierte Version der Wandervogelbewegung der Vorkriegszeit), die Jungkonservativen und die Neuen Nationalisten in Opposition zur neuen Weimarer Republik auf bündische Strukturen, während paramilitärische Verbände wie das Freikorps das »Konzept in bisher nicht gekannter Radikalität in die Tat umsetzen«.246 Dieser hier in aller Kürze vorgestellte Problemaufriss zur Männlichkeitsdebatte aus der Perspektive des männerbündischen Diskurses bildet den kulturwissenschaftlichen Rahmen für die folgende Lektüre des autobiografischen Romans Die Kadetten (1933) von Ernst von Salomon. Anhand eines retrospektiven Icherzählers beschreibt Salomon seine Jahre in den Kadettenanstalten von Karlsruhe und Berlin-Lichterfelde, wo er zwischen 1913 und 1918 zum Offizier ausgebildet wurde. Dort musste er ohnmächtig zusehen, wie der Krieg verloren wurde, ohne dass er selbst zum Einsatz kommen konnte. Mit großer Erzählfreude schildert er den Alltag der Kadetten: die Bubenstreiche aber ebenso den schmerzvollen Sozialisierungsprozess und das stundenlange Exerzieren als Teil der Erziehung vom Knaben zum Mann. Salomon setzt seinen Jahren auf der Kadettenschule aber nicht einfach ein Denkmal. Peinlich genau, zugleich ironisch distanziert beschreibt er seine Suche – und die Suche einer ganzen privilegierten Generation, so macht der Klappentext klar247 – nach Alternativen zum tyrannischen Bildungssystem und zu familiären Verhältnissen im ausklingenden wilhelminischen Kaiserreich, eine Suche, die ihn aus dem Elternhaus heraus und in die Königlich Preußische Kadettenanstalt von Karlsruhe brachte. Als einen der eloquentesten Exponenten des ›Jahrgangs 1902‹, als Freikorpskämpfer und Neuen Nationalisten hat der oben beschriebene Generationenkonflikt den Autor und dessen schriftstellerische Tätigkeit weitgehend geprägt. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, wie Die Kadetten den instabilen Status des alten Vatermodells aufdeckt und besonders im Vokabular der Erziehung eine spezifische Form hegemonialer Männlichkeit248 entwirft, anhand derer Fragen der sozialen, politischen und geschlechtlichen Ordnung verhandelt werden. Die Loslösung vom traditionellen patriarchalischen Vatermodell geht in Die Kadetten mit einem emphatischen Bekenntnis zum Jünglings- und Führerkult einher, der anstelle des einen Vaters ein männerbündisch-militärisches, ›preußisch-sozialistisches‹ Kollektiv in den Vordergrund stellt, das zur staatstragenden Gemeinschaft avanciert. Salomon schwebt ein militärisches Modell der Gesellschaft vor, in dem jedes Rädchen seinen exakten Platz
245 Zur Blüher-Rezeption: Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934) (Köln: Böhlau, 2008), 327-382. 246 Bruns, »Metamorphosen des Männerbunds,« 109. 247 Ich beziehe mich auf die Taschenbuch-Ausgabe aus dem Jahr 1959. Ernst von Salomon, Die Kadetten (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1959). Das Werk wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert. 248 Zum Begriff ›hegemoniale Männlichkeit‹: Robert William Connell, Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten (Opladen: Leske + Budrich, 1999), 98. Nach Connell »kann man hegemoniale Männlichkeit als jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)«.
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haben soll. Zugleich erscheint die Kadettenanstalt vor dem Hintergrund der damals verstärkt aufkommenden biopolitischen Diskurse als eine »Verwandlungs-, eine Wiedergeburtsmaschine«,249 die unterworfene wie auch produktive Körper produziert,250 die sich zu einer streng hierarchisch geordneten Organisation zusammenschweißen. Die Kadetten werden als manipulierbares ›Material‹ imaginiert, das einerseits gezüchtet und andererseits geformt, das heißt ›in Form‹ gebracht werden muss. Obwohl Frauen in dieser »Sexualitätsmaschine«251 radikal ausgegrenzt werden, wird das Weibliche in eine homoerotische Affektivität und ›Kameradschaft‹ umgepolt.252
Vom patriarchalen Vater zum ›sozialistischen‹ Männerbund In der recht humoristischen Anfangsszene von Die Kadetten erzählt der männliche Icherzähler rückblickend, wie er als Elfjähriger von seiner »gewalttätig[en]« (13) Mutter vor den Augen seiner begeistert klatschenden Mitschüler und Lehrer verprügelt wird, als sie erfährt, dass er schon seit einem halben Jahr die Unterschrift auf den Mahnzetteln des Lehrers fälscht. Daraufhin beschließt der Junge von der Schule und von Zuhause wegzulaufen, um als Geschirrwäscher sein Glück zu versuchen. Allerdings wird er schon bald von den öffentlichen Instanzen wieder nach Hause gebracht. Diese erste Szene legt bereits einige zentrale Themen und Motive des Textes offen: das Brüchig-Werden der bürgerlichen Institutionen der Familie und der Schule, die Krise der naturwüchsigen väterlichen Autorität und die Infragestellung des männlichen Subjekts, den Machtverlust gegenüber dem anderen Geschlecht und den Aufbruch des Sohnes. Die bürgerliche Kleinfamilie erscheint nicht mehr als zeitloses Idyll einer beglückenden, die Gefahren der Moderne abfangenden patriarchalen Ordnung oder als natürlicher (H)Ort mütterlicher Geborgenheit und familiärer Intimität, sondern als Schauplatz der Gewalt und des gender trouble. Denn nicht der Vater, sondern die Mutter verfügt über die Strafgewalt, die traditionell dem pater familias zukommt, und dies nicht nur in der Privatheit der Familie, sondern sogar im öffentlichen Bereich. Auch Erniedrigungen und verletzende Bemerkungen gehören zu den als »unerträglich« beschriebenen »Erziehungsmaßnahmen« der Mutter, so lesen wir einige Seiten später. (16) Gegenüber der Überdominanz der Mutter fällt besonders die Abwesenheit des Vaters ins Auge. Dass »ein rechter Junge nicht [schreie], wenn er mal Hiebe bekäme«, ist das Einzige, was der Vater aus dem Abseits hinzufügt, während die Mutter die Hinterbacken des Sohnes »mit sachlichem Eifer und einem Riemen« bedient. (13) Dass der Sohn sich dann doch dazu entscheidet, das »väterliche Heim« (13) und nicht das 249 Theweleit, Männerphantasien, 173. 250 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2013), 37. 251 Theweleit, Männerphantasien, 154. 252 Die These von Thomas Kühne, das Leitbild männlicher Kameraderie sei von der Suche nach einem geschlechterspezifischen Ausgleich geprägt und versuche so den Konflikt zwischen den Geschlechtern gerade zu entschärfen, kann nicht zuletzt durch die misogynen Männerphantasien der Kadetten in das Reich der Fabel verwiesen werden. Thomas Kühne, Kameradschaft. Die Soldaten des nationalsozialistischen Krieges und das 20. Jahrhundert (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006), 71-72.
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mütterliche zu verlassen, verweist nicht nur auf die Problematisierung der natürlichen Autorität des Vaters in der Familie, sondern scheint auch darauf hinzudeuten, dass das Schrecklichste an der väterlichen Abwesenheit gerade die mangelnde Rettung vor der Mutter ist. Zwar wird das Aufbegehren des Sohnes recht komisch beschrieben, zur gleichen Zeit wird aber eine spezifische Form von Männlichkeit evoziert. Diese basiert auf einem archaisch-männlichen Ehrenkodex, der auf Werte wie Würde, Ehre, Scham und Schande gründet (»Ich wischte mir also das Blut von der Nase und ging erhobenen Hauptes davon«; »Er mußte die erste große Demütigung mit Auf-und-davongehen beantworten«, 13), auf Tatendrang (»Und ich wußte schon, was zu tun war«, 13), Dezisionismus (»Sogleich beschloß ich, mit der Schule auch das väterliche Heim zu verlassen«, 13), und dem narzisstischen Phantasma des ›großen Mannes‹ (»Daran erprobte sich, wer das Zeug zum großen Manne in sich trug«, 13). [jeweils meine Herv.] Die Diskrepanz zwischen dem erhabenen Ton und der kindlichen Naivität des Icherzählers führt den Traum, ein Mann anstatt eines Kindes zu sein, ad absurdum. In dieser Hinsicht ist es nicht verwunderlich, dass die einzige positiv besetzte Person in der Familie der nur zwei Jahre ältere Bruder ist. Als Königlich Preußischer Kadett zeichnet sich dieser durch »Unerschütterlichkeit« (15) und die »sichere Würde seines Auftretens« (14) aus und verkörpert so als 13-jähriges Kind paradoxerweise das oben beschriebene Männlichkeitsideal. Auf diese Weise zeigt die Familienkonstellation schon eine signifikante Verschiebung der männlichen Vorherrschaft auf: Die Ablösung des traditionellen Vatermodells verbindet sich mit einer Selbstermächtigung der Jugend, die durch den revolutionären Aufbruch mit einer vermeintlichen Vermännlichung einhergeht. Zugleich verknüpft sich diese Verjüngung mit einer Hinwendung zum Führerkult: Am Thron des Vaters sägt nun der ältere Bruder, der ›Führersohn‹,253 der sich radikal von der kleinbürgerlichen Welt der Familie distanziert. Gerade weil es keine brüderliche Intimität zwischen den beiden Brüdern gibt – er »[wies] es weit von sich, sich während seiner Urlaubstage mit mir sonderlich abzugeben, nicht so sehr, weil ich zwei Jahre jünger, sondern weil ich eben allzu zivil war für seinen Geschmack« (14) –, bietet der ältere Bruder eine Alternative zu den erstickenden familiären Beziehungen. Der Satz »Ganz stramme Beine hast du ja, sagte er, na, so langsam werden wir aus dir schon einen Menschen machen« (15) ist die einzige direkte Kommunikation, die es im Roman zwischen den Brüdern gibt. Dabei verweist »Mensch« zum einen auf einen spezifischen Rang in der Kadettenanstalt: Nach ›Schnappsack‹ und ›Ruppsack‹ wird der Kadett nach zwei Jahren ›Mensch‹ sein. Das Verhältnis zwischen den Brüdern, zwischen Sohn und Führersohn, zeichnet sich also nicht durch Gleichheit, sondern durch Rang und strenge Hierarchie aus. Zum anderen deutet ›Mensch‹ auf das biopolitische Machtdispositiv der Kadettenanstalt hin, das sich auf den Menschen in seiner schlichten Kreatürlichkeit bezieht. Die Kadettenanstalt stellt sich als eine »Verwandlungs-, eine Wiedergeburtsmaschine«254 dar, die wie aus einem »formlosen Teich«255 neue Menschen, das heißt Männer generiert, die sich durch Härte und (Selbst-)Zucht (»stramme Beine«) auszeichnen. Dass 253 Für den Begriff ›Führersohn‹: Bruns, »Metamorphosen des Männerbunds«. 254 Theweleit, Männerphantasien, 173. 255 Foucault, Überwachen und Strafen, 173.
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sich die herkömmliche souveräne Macht des Vaters nur an einer einzigen Stelle entfaltet, und zwar in der Entscheidung, dass es »nun wirklich bald Zeit [sei], daß der Junge ins Korps käme« (14), ist ziemlich ironisch, bedeutet sie doch die Selbstentthronung des einen patriarchalen Vaters zugunsten eines kollektivistischen Modells von Führersöhnen.
Die (Un-)Sichtbarkeit der Macht Dieses neue Modell männlicher Vorherrschaft wird sichtbar, sobald der Icherzähler durch das große eiserne Tor der Anstalt, das die Kadetten von der bürgerlichen Welt trennt, eintritt. Sofort sucht sich jeder sogenannte Bärenführer seinen persönlichen ›Sack‹ aus. Diese Beziehung zwischen Anfänger und nur wenig älterem Führer basiert auf einem als selbstverständlich verstandenen System gegenseitiger Pflichten und Verantwortungen. So ist es zum Beispiel Pflicht, dass der Sack für den Bärenführer auf einen Teil seines Essens verzichtet oder ihm die Knöpfe der Uniform putzt. Der Bärenführer seinerseits wird dafür verantwortlich gemacht, wenn sein Sack gegen die Regeln der Kadettenanstalt verstößt und wird gegebenenfalls mitbestraft. Auch wenn dieses Verhältnis nur bis zur Inkorporation dauert, bleibt die Hierarchie immer strikt erhalten. Die Insassen der Kadettenanstalt haben alle einen spezifischen Rang und Platz, die zunächst durch Alter, innerhalb der Ränge durch Leistung erworben werden und die die einzelnen Kadetten zum Teil des überindividuellen Ganzen machen. Jeder Kadett hat »Befehls- und Strafgewalt nach unten« und »Gehorsamspflicht nach oben.«256 Anders als im Wandervogel, wo die Beziehung zu nur wenig älteren Wandervogelführern »an Intensität den familiären Bindungen gleich[kommt]«,257 ist das Verhältnis zwischen Sack und Bärenführer ein rein sachliches. Zwar wird der Aufbruch aus dem Elternhaus auch im Roman als Suche nach dem ›besseren Vater‹ dargestellt258 – der nur einige Monate ältere Bärenführer des Erzählers nennt ihn bedeutungsvoll »mein Sohn« (24) –, aber Sinn und Bedeutung ziehen die Kadetten doch vor allem aus der hierarchischen Organisation der Kadettenanstalt, also aus dem rein formalen Machtprinzip, das den Anfängern eine spätere Führerschaft verheißt: »Sie haben gehorchen zu lernen, um später befehlen zu können.« (28) Sogar die gelegentlichen homoerotischen Beziehungen, die – anders als Homosexualität – von den Kadetten öffentlich akzeptiert werden, basieren auf diesem hierarchischen Prinzip. So gibt es für den sogenannten »Schuß«, wie der auserkorene Knabe genannt wird, eine »Schußpflicht« und zwischen den beiden Jünglingen eine »Schußwirtschaft«, die strikte Regeln beinhaltet. (143) Diese strenge Hierarchie wird immer wieder mit dem Anschein egalitärer Züge durchsetzt und geht so mit einer neuen Figuration von Macht einher, die sich explizit von der vermeintlich tyrannischen Ordnung der Familie und der Schule abgrenzt: »Der Hauptmann sprach nicht wie ein Lehrer zu seinem Schüler, auch nicht wie ein Vater zu seinem Sohn. […] Alles aber war wie selbstverständlich, Ton und Weise, alles gehörte zusammen, da war nichts, was wunder nahm, außer diesem einen Ge256 Theweleit, Männerphantasien, 145. 257 Bruns, »Metamorphosen des Männerbunds,« 104. 258 Vgl. ebd., 104.
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fühl, welches den jungen Kadetten, den elfjährigen überfiel, plötzlich einer Gemeinschaft anzugehören, die ihresgleichen nicht kannte.« (41) Diese neue Organisation der Macht, die einen »selbstverständlichen« sozialen Rahmen für die Angehörigen dieser »Gemeinschaft« voraussetzt, kann man mit dem Begriff ›Autorität‹ beschreiben. (41) Zwar erscheint Autorität im 20. und 21. Jahrhundert als ein ebenso unbestimmter wie schillernder Leitbegriff des politischen Diskurses,259 ja bildet gerade die »Unbegreifbarkeit des Wortes für eine begriffliche Definition […] das Leitmotiv vieler Studien über Autorität,«260 wie die Herausgeber des Sammelbandes Autorität. Krise, Konstruktion und Konjunktur (2016) bemerken. Allerdings beschreiben die meisten Begriffsbestimmungen Autorität als eine »als legitim anerkannte hierarchische Relation«,261 als eine »bejahte Abhängigkeit«262 (Max Horkheimer), die gleichermaßen vom Herrschenden wie vom Beherrschten ausgeht. Diese Beziehung wird nicht durch Gewalt oder nachträgliche Überzeugung durch Argumente,263 sondern durch die »vorhergehende Unterwerfung« eines Individuums oder einer Gruppe »unter eine hierarchische Überlegenheit« hergestellt.264 Autorität ist also zirkulär organisiert, entsteht aber vor allem ›von unten‹: Sie ist die Summe der Zuschreibungsoperationen durch die Untergebenen, die denjenigen, dem sie Autorität zumessen, am Ende wirklich mächtig werden lassen.265 In dieser Hinsicht spricht der Icherzähler in Die Kadetten von der »fruchtbaren Wechselwirkung« einer »beide Teile verpflichtende[n] Autorität.« (53) In ihrem maßgebenden Essay Macht und Gewalt (1970) definiert Hannah Arendt Autorität als die »fraglose Anerkennung seitens derer, denen Gehorsam abverlangt wird«.266 Arendt zufolge basiert die autoritä-
259 Wie Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin Roussel in ihrer Einleitung zum Sammelband Autorität hervorheben, dominierte bis ins 19. Jahrhundert ein sehr präzises, enges Verständnis des Begriffs ›Autorität‹ (10), das – bei allen Unterschieden zwischen den spezifischen Disziplinen (Wissenschaft, Recht usw.) auf die Frage, »welches Wissen und welche Erkenntnis glaubwürdig sei,« hinauslaufe. (11-12) Erst im 19. Jahrhundert, also in dem Moment, in dem sich »jede Form von Zwangs- und Fremdherrschaft, Hierarchie und Unterordnung, zunehmend vor dem universalen Gleichheitsideal der modernen Demokratien zunehmend rechtfertigen musste«, wurde ›Autorität‹ zu jenem »schillernden wie vagen Grundgriff der politischen Sprache«. (12) Der Begriff kreist, so Jens Kertscher, »um einen Kern von Bedeutungsnuancen und Konnotationen, die sich jedoch allesamt einer strikten begrifflichen Fixierung entziehen.« Oliver Kohns, Till van Rahden, Martin Roussel, »Autorität. Krise, Konstruktion und Konjunktur – zur Einleitung,« in Autorität. Krise, Konstruktion und Konjunktur, Hg. dies. (Paderborn: Wilhelm Fink, 2016), 7-24; Jens Kertscher, »›Autorität‹. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Umgang mit einem belasteten Begriff,« in Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Hg. Carsten Dutt (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2003), 133-147, hier: 133. 260 Kohns, van Rahden, Roussel, »Autorität,« 8-9. 261 Ebd., 7. 262 Max Horkheimer, »Allgemeiner Teil,« in Studien über Autorität und Familie, Hg. Max Horkheimer et al. (Lüneberg: zu Klampen, 1936), 3-76, hier: 24. 263 Hannah Arendt, Macht und Gewalt, aus dem Englischen von Gisela Uellenberg (München/Zürich: Piper, 2003), 46. 264 Oliver Kohns, »Latenz der Macht. Zu einigen Diskursen über Autorität um 1900 (Carové, Freud, Weber, Federn, Kuntze),« in Perspektiven der politischen Ästhetik, Hg. ders., (Paderborn: Wilhelm Fink, 2016), 145-178, hier: 152. 265 Vgl. Koschorke, »Macht und Fiktion,« 75. 266 Arendt, Macht und Gewalt, 46.
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re Beziehung auf dem gemeinsamen Nenner der »Hierarchie selber, deren Legitimität beide Parteien anerkennen und die jedem von ihnen seinen von ihr vorbestimmten, unveränderten Platz anweist.«267 Aufgrund dieser »fraglosen Anerkennung«, die »den Gebrauch jeglichen Zwanges«268 per definitionem ausschließt, grenzt Arendt Autorität von Gewalt und Macht ab, die sie im Sinne Max Webers als Durchsetzen des »eigenen Willen[s] auch gegen Widerstreben«269 auffasst. Wie Oliver Kohns hervorhebt, geht diese fraglose Anerkennung mit einem spezifischen Regime der (Un-)Sichtbarkeit einher.270 Kohns bezeichnet Autorität als ein »Phänomen der Latenz«, eine »latente Form der Macht«, die gerade »aus dem Verborgenen« wirksam ist.271 Autorität sei deshalb »dasjenige, das nicht als Autorität in Erscheinung tritt.«272 Diese grundsätzliche Unsichtbarkeit habe Kohns zufolge auch Implikationen für das Sprechen über Autorität. Aufgrund ihrer grundlegenden A-Phänomenalität folgert er, dass die Intensivierung des Diskurses über Autorität gerade den Moment bezeichne, in dem die fraglose Anerkennung problematisch geworden sei.273 Dementsprechend sei der Diskurs über Autorität keine Anfangserzählung, sondern eine »Verfalls- oder Verlustgeschichte«.274 Die diskursive Legitimation in Form einer Anfangserzählung wäre für die fraglose Autorität »nicht nur nicht nötig, sondern sogar hinderlich«.275 Salomon lenkt aber immer wieder die Aufmerksamkeit auf die Beziehung der fraglosen Anerkennung in der Kadettenanstalt und grenzt sie ausdrücklich von den Verhältnissen in der Familie und Schule ab. Anders als die repräsentative Gewalt des Vaters und des Schullehrers, die »von oben herab« (41) sprechen und so die natürliche Selbstverständlichkeit der autoritären Hierarchie außer Kraft setzen, deutet in der Beziehung zwischen Hauptmann und Kadett »nichts [als die Haltung] auf das Verhältnis zwischen Vorgesetztem und Untergebenem«. (41) Während der elfjährige Icherzähler in der Familie oder der Schule lediglich als ein Kind, das einem Erwachsenen bedingungslos zu gehorchen hat, betrachtet wurde, ist er in der Anstalt, genauso wie der Hauptmann, ein »Mann in Uniform« (41), was in der Logik der Kadettenanstalt geradezu pleonastisch wirkt. Als der Erzähler dort zum ersten Mal in seinem Leben gesiezt wird, ist das eine
267 Hannah Arendt, »Was ist Autorität?,« in dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, Hg. Ursula Ludz (München/Zürich: Piper, 2012), 159-200, hier: 159. 268 Ebd., 159. 269 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 1. Halbband (Tübingen: Mohr Siebeck, 1921 [1980]), 28. Allerdings hat sich die Möglichkeit einer gewaltlosen Autorität spätestens seit der poststrukturalistischen Autoritätskritik als Illusion erwiesen. Jacques Derrida hat in Gesetzeskraft. »Der mystische Grund der Autorität« (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1991) vorgeführt, wie Legitimität, Gerechtigkeit und Gewalt von Anfang an unauflöslich miteinander verschränkt sind. Vgl. dazu Sophie Uitz, »Question Authority. Hannah Arendt und das Scheitern der Frage nach Autorität,« in Autorität, Hg. Kohns, van Radhen, Roussel, 25-39. 270 Kohns, »Latenz der Macht,« 150. 271 Ebd., 151. 272 Ebd., 151. 273 Ebd., 156. 274 Ebd., 156. 275 Ebd., 155.
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fast epiphanische Erfahrung. Nach dem Prinzip des sogenannten preußischen Sozialismus oder der »preußischen Harmonie« (42) wird die vertikal-hierarchische Machtstruktur des einen Vaters von der vermeintlich horizontal operierenden, latent wirkenden Autorität des big brother ersetzt.276 Der Hauptmann sowie der unbedeutendste Sack sind denselben »Verantwortungen« und Pflichten »in gleicher Weise« unterworfen, der Hauptmann nur »auf einer höheren Basis«. (41) Dem im Vorwort des Buches zitierten Spruch Friedrich des Großen »Ich bin der erste Diener des Staates« (7) entsprechend werden die scheinbar inkommensurablen Elemente der autoritativen Herrschaft und des Dienstes in der Kadettenanstalt vereinigt, die verkrüppelnde Hierarchie mit egalitären Verheißungen verdeckt. Die autoritäre Macht der Kadettenanstalt ist also unsichtbar, aber wohl einsehbar: Dem Signum des Kadettenhauses »Suum cuique« oder »Jedem das Seine« (38) gemäß hat jeder Einzelne einen deutlichen »Platz und Rang«, was ihn Teil einer unverbrüchlichen »Gemeinschaft« werden lässt und ihm eine »Bedeutung«, eine Identität verleiht. (41) Demgegenüber ist die Gewalt des Vaters und der Familie sichtbar, dessen Sinn aber nicht einsehbar: »Jedenfalls, zu Hause ist Stuß« (17), folgern der Icherzähler und der künftige Kadett Schmidt, wenn sie darüber sprechen, ob sie gerne in die Anstalt eintreten möchten. Das Kadettenhaus wird auf diese Weise zum Antidot gegen die Bedeutungslosigkeit, den Un-Sinn und die Willkür, die zu Hause angeblich herrschen: »Eins aber war ihm ganz nahe und ganz stark: Daß er zum ersten Male in seinem Leben hier unter einem Gesetze stand, und nicht unter einer Willkür.« (41) Salomon, der an dieser Stelle vom Icherzähler auf die dritte Person Singular umschaltet und jetzt vielmehr programmatisch argumentiert anstatt zu erzählen, greift damit auf die paradoxe Figur der ›Freiheit in Gehorsam‹ zurück, die erst durch die latente Machtstruktur der Autorität ermöglicht wird. Diese Denkfigur knüpft an die neostoische Tradition Justus Lipsius’ sowie an Theoreme der preußisch-deutschen Aufklärung, besonders den schon erwähnten kategorischen Imperativ Immanuel Kants an. Indem die ›Freiheit in Gehorsam‹ die im Grunde widersprüchlichen Ideen von Freiheit und Zwang, oder besser: »Bindung« (47) miteinander verknüpft, ist sie Barbara Stiewe zufolge eine »autoritäre Reformulierung des aktivistischen liberalen Freiheitsideals – der Vorstellung eines selbstbestimmten Denkens und Handelns ohne äußere Determination oder Fremdbestimmung«.277 Die ›Freiheit in Gehorsam‹ erfüllt den Erzähler mit »Glück« (42), vermittelt so gleichsam eine Alternativgeschichte des liberalistischen pursuit of happiness, während das liberalistische Freiheitsideal mit unsinnigem, kindlichem Vagabundieren in Verbindung gebracht wird: »Manchmal schoß ein unsinniger Wunsch nach Freiheit auf, er zerschellte an der sicheren Richtung des Willens; das tun zu können, was befohlen war, seht, das wog jede Freude an ungebundenem Schweifen doppelt auf.« (52) Im Grunde genommen ist die ›Freiheit in Gehorsam‹ oder auch der »Wille zur eigenen Beherrschung« (54) aber nichts anderes als die ›freiwillige‹ Abtötung der Vernunft und des freien Willens zugunsten
276 Paul Verhaeghe, Narziss in Trauer. Das Verschwinden des Patriarchats, aus dem Englischen von Sergej Seitz und Anna Wieder (Wien/Berlin: Turia + Kant, 2015), 83. 277 Barbara Stiewe, Der ›Dritte Humanismus‹. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis zum Nationalsozialismus, (Berlin/New York: De Gruyter, 2011), 247.
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einer restlosen Eingliederung des Individuums in das große Ganze: »Jetzt fällt alles Besinnen ab wie unnützer Ballast.« (54) Glaubte der einsame Sack vor der Initiation noch, »den Sinn« dieser »ganzen Maschinerie« »wittern« zu können, so heißt es später: »Nicht um die Dinge zu wissen, war nötig, sondern ihnen hingegeben zu sein«. (53)
»Mut zur Sezession« Aufgrund der oben aufgelisteten Leitvokabeln »Gemeinschaft«, »Bedeutung« oder »Gefühl« (41) könnte man zunächst davon ausgehen, dass sich das preußische Kadettenhaus ähnlich wie die männerbündische Wandervogelbewegung zwischen den Polen eines weiblich-familiär codierten privaten Bereichs und eines als männlich gedachten öffentlichen, staatstragenden Raumes situiere.278 Tatsächlich wird in der Kadettenanstalt eine »korporative Gemeinschaft von miteinander in Fühlung seienden Jünglingen und älteren Mentoren«279 evoziert, die vor dem Bedeutungsverlust in der Moderne schützt und sich dennoch im Stande fühlt, die Handlungsfähigkeit des männlichen Subjekts zu behaupten.280 Vor allem in den Tagen nach dem verlorenen Weltkrieg fungiert das Kadettenhaus als Refugium einer plötzlich obsolet gewordenen Form von Männlichkeit und wird zur »eigentlichsten Heimat« stilisiert: »[D]ie H.K.A. war unser Zuhause geworden, und die unverbrüchliche Gemeinschaft der Kadetten in jenen Tagen schien selbst für alle fernere Gestaltung unseres Lebens von größerer Bedeutung als das Elternhaus, als die sicherste Zuflucht einer Zeit, die […] aus den Fugen ging.« (220) Dieser Heimat- und Gemeinschaftsbegriff verheißt aber alles andere als die traditionell damit assoziierten Vorstellungen von Intimität oder familiärer Geborgenheit. Die Gemeinschaft der Kadetten fungiert gerade nicht als emotionales Gegenstück, sondern als Garant der männlichen Härte, die jede Form von aufrichtigem zwischenmenschlichem Kontakt radikal ausgrenzt: »Hier war kein Leben und kein Streben von Mensch zu Mensch gerichtet, und doch herrschte eine unverbrüchliche Gemeinschaft; denn da der Sinn jedes einzelnen auf ein und dasselbe, ein Drittes, Unsichtbares, Unaussprechbares, und doch bis in die kleinste Handlung, bis in das verlorenste Wort Spürbares gerichtet war, und dieser gerichtete Sinn erst den gleichstrebigen Wert verlieh, regelte sich die Bindung unter den einzelnen, und war jeder einzelne für sie verantwortlich. Das feste Gefüge, in welchem ein jeder an seinem Platze stand, erlaubte keine privaten Gefühle […]. Dies gab dem uniformen Bezirk die geschlossene Kraft und jeder Äußerung des Lebens in ihm den so erstaunlich hohen Grad von Unbarmherzigkeit, der jede echte Hierarchie auszeichnet. Hier blieb jede Art von Toleranz freilich unmöglich, jede Liberalität in Meinung und Handlung ein Verstoß gegen das höhere Gesetz.« (47) Nicht durch ein »Streben von Mensch zu Mensch« formiert sich die »unverbrüchliche Gemeinschaft« oder die »Bindung« zwischen den Kadetten, sondern durch die ›freiwillige‹ Einreihung des Individuums in das überindividuelle und »uniforme[…]«, das 278 Vgl. Bruns, »Metamorphosen des Männerbunds,« 102. 279 De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 86. 280 Vgl. Bruns, »Metamorphosen des Männerbunds,« 102.
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heißt uniformierte und uniformierende Ganze, in dem »jeder an seinem Platze« steht und jeder »auf ein und dasselbe, ein Drittes, Unsichtbares, Unaussprechbares« ausgerichtet ist. Was mit dieser hegelianisch anmutenden Bildsprache genau gemeint ist, bleibt hier allerdings noch unklar; jedenfalls kann das verbindende Element des »festen Gefüges« nicht affektiven oder ethischen Kategorien zugeordnet werden. Die »echte« Gemeinschaft zeichnet sich gerade durch die »Unbarmherzigkeit« ihrer hierarchischen Organisation aus; sie basiert auf einem formalen, amoralischen Machtprinzip. Die Vokabeln »fest« und »geschlossen« deuten dabei auf die Undurchlässigkeit des männlichen Kollektivkörpers hin. Die Internalisierung dieses Prinzips ist ein schmerzhafter Prozess, der nur allmählich die regressiven Wünsche des Jünglings abspalten kann: »Immer wieder versuchte ich, den eisernen Ring zu zersprengen, der mich, wie ich dachte, nur vermöge meines Unvermögens von den Kameraden schied. Doch wäre dies mir selbst mit dem letzten Ausdrucksmittel einer verlorenen Sehnsucht nach menschlicher Wärme, plumper Vertraulichkeit, niemals gelungen, im Gegenteil, wenn diese sonsthin schon in widerwärtigem Geruche stand, hier mußte sie die Nasen am empfindlichsten verletzen. Ich stieß bei meinen kläglichen Versuchen wie gegen Gummiwände und forschte doch stets von neuem nach Gelegenheit, aus der Umwandung herauszutreten. Mir sollte die Untauglichkeit dieses Mittels grimmig klar werden, und doch gleichzeitig sich die Tore öffnen, soweit sie sich eben öffnen ließen.« (47) In seiner Sehnsucht nach zwischenmenschlichem Kontakt, in seinem heißen Wunsch, ›dazu‹ zu gehören, lauert der Icherzähler, der als »nasse[r] Sack« (48) aus dem Kreis der Kameraden ausgeschlossen bleibt, krampfhaft auf das »Loch, durch das sofort hineinzuschlüpfen [er] mit beklemmendem Wunsch entschlossen war«. (48) Bald wird deutlich, dass »menschliche Wärme«, »plumpe Vertraulichkeit«, »widerwärtiger Geruch«, verletzte Nasen und geöffnete Löcher nicht nur im übertragenen Sinne zu begreifen sind. Als ein junger Unteroffizier während der Freizeit in die Stube der Kadetten eintritt, »[stellt] er mit gekräuselter Nase fest, daß die Luft von einer peinlichen Ausdünstung verpestet war. ›Hier stinkt’s ja mächtig‹, sagte er, ›mach doch einer mal das Fenster auf.‹« (48) Der Grund dieser Ausdünstung bleibt zunächst in der Schwebe. Handelt es sich etwa um einen Furz? Der Erzähler lässt diese Gelegenheit nicht ungenutzt verstreichen. »[W]ie ein Habicht« stürzt er sich »auf die Beute. Da war endlich die Bahn, auf der ich gleiten konnte, und dunkel fühlte ich, wie im Allzumenschlichen doch ein jeder sich mit dem anderen fand« (48): »Es stieß mir sozusagen aus den Tiefen des Magens in den Mund, ich verschluckte mich kichernd und sagte: ›Wer’s zuerst gerochen, dem ist es ausgekrochen‹, und lachte unsinnig los, würgte den Knäuel aus dem Halse, und wenn ich mich auch zur gleichen Sekunde in der schwefeligsten Hölle der Albernheit fühlte, so dachte ich doch, mit diesem Worte Bresche geschlagen zu haben, und erstickte fast an meinem Anfall gequältesten Gelächters. Erst langsam wagte ich, aus meiner Verkrümmung hochzusehen und die Wirkung des vertraulich-komischen Wortes festzustellen.« (48)
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Das brennende Verlangen des Erzählers, mit diesem albernen Kinderreim eine »Bresche« in den »eisernen Ring« der Kadettengemeinschaft zu schlagen, wird zunächst aber nicht erfüllt. Der vertraute Witz führt gerade nicht zu der erwarteten zeitweilig affektiven, nahezu komplizenhaften Gemeinschaft von Erzähler und Zuhörern, sondern zu einer noch größeren Kluft zwischen dem »unsinnig« kichernden, spasmisch ›verkrümmten‹ Erzähler und den schweigenden, versteiften Zuhörern: »Die Kadetten saßen stumm und sahen mich alle an.« (48) Diese Kommunikationsweigerung wird sich nach seiner Vernehmung durch Graf Schönung, woher er diesen »häßlichen, diesen ekelhaften, diesen […] geschmackslosen Reim« (49) denn habe, noch verschlimmern. Nachdem sich die Nachricht, dass »der Sack gepetzt [hat]« (50), wie ein Lauffeuer in der Anstalt verbreitet hat, wird der Erzähler in »Verschiß« (50) getan: Von allen Kadetten, auch von denen der anderen Kompanien, wird er wie die Pest gemieden; er ist für sie der letzte Dreck. Denn »ein Kadett, der einen Kameraden verrät, ist ehrlos« (51), so schreibt es ihnen der Kadettenkodex vor. So unerwartet der Erzähler in den Verschiss getan wurde, so plötzlich wird dieser wieder aufgehoben, und zwar nach einer Körperstrafe, mit der der Verstoß gegen das Gesetz der Kadettengemeinschaft vergolten, »Schmerzensgeld«281 bezahlt worden ist. Der Verrat, vor allem aber die Sehnsucht des einsamen Sacks nach menschlicher, mütterlich codierter Wärme und Freundschaft soll »rhythmisch« »ausgeklopft« (51), der Verstoß mit Zeichen an und in den Körper – diesen geächteten Bereich des »Allzumenschlichen« (48) – eingeschrieben werden: »Die Kadetten standen im Halbkreise um mich herum. Jeder hatte eine Klopfpeitsche in der Hand, einen hölzernen Griff, an dem lange Lederriemen befestigt waren, und die zum Ausklopfen der Kleidungsstücke diente. Glasmacher trat vor, nahm mich am Arm und führte mich zum Tisch. Ich kletterte mühsam hoch und legte mich auf den Bauch. Glasmacher nahm meinen Kopf in seine Hände, preßte mir die Augen zu und drückte meinen Schädel fest auf die Tischplatte. Ich biß die Zähne zusammen und spannte meinen ganzen Körper an. Dann sauste der erste Hieb. Ich zuckte hoch, aber Glasmacher hielt fest, und dann hagelte es hernieder, auf Rücken, Schultern, Beine, ein wahnsinniges Feuer von harten, klatschenden Schlägen. Meine Hände griffen umklammernd an den Tischrand, ich schlug mit Knien, Schienbein und Zehen rhythmisch auf, den rasenden Schmerz zu bannen, nun schien sich alle Qual durch den Körper hindurch auf den Tisch zu pflanzen, immer wieder prallte ich mit Hüften und Lenden gegen das mitzitternde Holz, jeder Schlag lud erneut und mit schleudernder Gewalt das Bündel aus Muskeln, Haut und Knochen und Sehnen, bis der ganze Körper sich in Spannung dehnte, und drängte, nach unten durchzuplatzen. Ich gab meinen Kopf ganz in Glasmachers Hände, sperrte mich mit einem Ruck und lag schließlich stöhnend still. »Aufhören!« befahl Unteroffizier Glöcklen I, und sofort sprang alles zurück. Langsam rutschte ich vom Tisch. Da trat Glasmacher auf mich zu, gab mir die Hand und sagte: ›Pax, nun ist die Geschichte erledigt.‹« (51) Was bei der Leibesstrafe ins Auge springt, ist ihre theatralische, rituelle Dimension. Wenn gegen das selbstverständliche Gesetz der Kadettenanstalt verstoßen wird, scheint 281
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die sonst latente Macht manifest zu werden. Das »Fest der Martern« hat allerdings »nichts mit einer gesetzlosen Raserei zu tun«, wie Michel Foucault in Überwachen und Strafen darlegt. Es ist »nicht regellos und ungeordnet, […] zwar grausam, aber nicht maßlos. Es handelt sich um eine geregelte Praxis, die ein genau definiertes Verfahren darstellt.«282 Tatsächlich wird die Strafzeremonie sehr präzise inszeniert. Sie hat einen deutlichen Anfang, ein Mittelstück und einen sichtbaren Endpunkt, die mit spezifischen Gesten, dramaturgischen Spielregeln und theatralischen Anordnungen einhergehen, als folgten sie einem bestimmten Skript. Die Protagonisten sowie die Nebenfiguren haben alle eine deutliche Rolle zu erfüllen, die auf einem unausgesprochenen und nicht-hinterfragbaren, geradezu masochistischen ›Vertrag‹ beruht. Glasmacher ist zugleich Zeremonienmeister, Zuschauer und rächende Gewalt, während der Erzähler zum (erotisierten) »duldende[n] Objekt« (49) wird. »Der Masochismus ist Selbstvernichtung als autonomes Spiel des selbst«, so formuliert Albrecht Koschorke in seiner Studie über Leopold von Sacher-Masoch pointiert.283 Willig unterwirft sich der Erzähler der Leibesstrafe (»ich gab meinen Kopf ganz in Glasmachers Hände«, 51), um danach die soldatisch-männliche Identität zu formieren. Diese lässt die Vorstellung des schwachen, gebrechlichen Fleisches, auf die der Erzähler mit seinem Spruch hingedeutet hat, nicht mehr zu. Die Rückführung des Körpers auf seine einzelnen Bestandteile – auf ein »Bündel aus Muskeln, Haut und Blut und Knochen und Sehnen« – nimmt zudem die ästhetische Metaphorik des Umbaus und der Neumontage einer aus menschlichem Rohstoff zusammengestellten Körpermaschine vorweg, in dem jedes Glied dem überindividuellen, militärischen Ziel dient.284 Diese gipfelt in der einige wenige Seiten später erschütternd breit ausgesponnenen (und noch zu besprechenden) Allegorie des Künstler-Führers, die den eigentlichen ›Sinn‹ von Salomons Text offenbart. Das Strafzeremoniell stellt sich auf diese Weise als ein Initiationsritus, ein rite de passage vom Knaben zum Mann dar, der sich aber nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die ›Seele‹ des Kadetten im Sinne Foucaults bezieht. Nicht nur ist der Vorfall nun mit einem Mal »erledigt« (51); nach der Leibesstrafe ist der Erzähler auch Teil der Kadettengemeinschaft, er hat sich letztendlich doch durch die ›Bresche‹ gezwängt: »Das Eis [war] plötzlich gebrochen. Keiner sprach jemals noch von dem, was vorgefallen war.« (51) Nachdem klare Verhältnisse geschaffen worden sind, kann die Latenz der Macht also wieder eintreten. An der recht unschuldigen, quasikarnevalistischen Inkorporation der Säcke braucht der Erzähler sogar nicht mehr teilzunehmen. Offiziell nimmt die ›Sackzeit‹ aber ein Ende, wenn ein Zahnarzt sämtliche noch vorhandene Milchzähne der »armen Delinquenten« (52) mit einer Zange zieht, ein Brauch, der auch dem Erzähler nicht erspart bleibt. Abermals wird der Übergang vom Knaben zum Mann, von der kindlichen Welt des unverbindlichen Spiels zum ernsten Vorraum des Krieges, den 282 Foucault, Überwachen und Strafen, 46. 283 Albrecht Koschorke, Leopold von Sacher-Masoch. Die Inszenierung einer Perversion (Berlin: Piper, 1988), 89. 284 Bart Philipsen, »Der blähende Mythos. Der Furz und seine Beziehung zum politisch Unbewussten in Ernst von Salomons ›Die Kadetten‹,« COLLATERAL – Online Journal for Cross-Cultural Close Reading, Cluster 10, d (Januar 2018),https://www.collateral-journal.com/index.php?cluster=10 (abgerufen 24.10.2018). Theweleit zufolge ist das eigentliche Ziel der Kadettenanstalt der »Umbau des Leibs«. Theweleit, Männerphantasien, 144.
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der Erzähler mit seinem albernen Kinderreim zu unterminieren drohte, mittels einem gewaltsamen körperlichen Eingriff ritualisiert. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft soll aufgeführt und performativ vollzogen werden.285 So wird auch deutlich, warum jede Assoziation mit der mütterlich codierten Kinderwelt radikal ausgegrenzt, jede Erinnerung an sie sogar völlig »vergessen« werden muss: »Wir fangen ganz von vorne an« (28), so erklärt Oberhauptmann Kramer den neuen Insassen. »Alles, was Sie nun erleben, sehen und begreifen, haben Sie zu vergessen.« (28) Die heile Welt der mütterlichen Fürsorge stellt für die Kadetten nämlich eine dauerhafte Bedrohung für die schmerzhaft errungene Männlichkeit dar:286 »Gerade jegliche Art der fürsorglichen Teilnahme schien mir durchaus unerträglich, und der breite Strom mütterlichen Empfindens ließ mich wünschen, wieder in der härteren Luft des Korps zu atmen.« (56) Wie Gabriele Kämper in Bezug auf die Rhetorik der neuen intellektuellen Rechten feststellt, »bestimmt das Kindheitsphantasma der Kastration sowie das Trauma geraubter Männlichkeit das assoziative Szenario der heilen Welt.«287 [Herv. i.O.] Wenn der Icherzähler »an die kindlichen Spiele zu Hause« zurückdenkt, erfüllt ihn »bittere Scham«. (52) Von den Kadetten wird also eine bedingungslose »Mut zur Sezession«288 (Botho Strauß) erwartet: »Mutter gibt’s nicht. Mutter ist zivil.« (19) Stattdessen heißt es immer wieder »alte Dame«. Nur so erwirbt man den »hohen Grad von Dickfelligkeit« (38), den die Kadetten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Anstalt brauchen, nur so gelingt es, »sich seiner Haut zu wehren«. (19) Dies führt gelegentlich zu aggressiven, misogynen ›Männerphantasien‹, die erst in der Kadettenanstalt entwickelt werden: »›Ich lege Ihnen meinen Jungen ans Herz‹«, so sagt die Mutter des Erzählers beim Abschied zu einem Leutnant, »und lächelte, und ich hätte sie erschlagen mögen.« (18) Dass es sich dabei im Grunde genommen um narzisstische Projektionen verunsicherter und ›impotenter‹ Männer handelt, hat Klaus Theweleit aus psychoanalytischer Sicht ausführlich dargelegt. Im Folgenden soll aber besonders hervorgehoben werden, wie sich die ›totale Institution‹ (Foucault) der preußischen Kadettenanstalt als ›Schule‹289 einer bestimmten Form von Männlichkeit erweist und so Fragen sozialer, politischer und geschlechterspezifischen Provenienz verhandelt. Die Kadetten zeigt, dass sich diese soldatische Männlichkeit nicht so sehr durch den Krieg, sondern vielmehr durch die auf einen heroischen Heldentod hinzielende Erziehung zum Krieg gestalten konnte.290 Diese Erziehung distanziert sich explizit vom bürgerlichen Bildungsideal und macht stattdessen Zucht und Selbstzucht zum pädagogischen Programm schlechthin. Diese alternative Coming-of-Age-Geschichte ist im Grunde genommen nichts anderes
285 Wolfgang Braungart, Ästhetik der Politik, Ästhetik des Politischen. Ein Versuch in Thesen (Göttingen: Wallstein 2012), 44. 286 Kämper, Die männliche Nation, 16. 287 Ebd., 217. 288 Strauß, »Anschwellender Bocksgesang,« 206. 289 Vgl. Ute Frevert, »Das Militär als ›Schule der Männlichkeit‹. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert,« in Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Hg. dies. (Stuttgart: KlettCotta, 1997), 145-173. 290 Theweleit, Männerphantasien, 351.
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als eine Pervertierung des seit der Aufklärung im klassischen Bildungsroman vermittelten Bildungsideals. Die geistige Entwicklung eines mehr oder weniger autonomen und freien Individuums – das sich aber auch den Regulierungen der Gesellschaft fügen und seine Triebe und Begierden kontrollieren soll – verschiebt sich zur sozialen und körperlichen (Selbst-)Disziplinierung der Kadetten, die auf diese Weise politisch fügsam gemacht werden. Die so erzeugte Körpermaschine hat zwar die Aufgabe, den Staat bedingungslos zu verteidigen, unterminiert aber zu gleicher Zeit die herkömmlichen bürgerlichen Strukturen der Familie und Schule, die die Bildungsarchitektur des 18. und 19. Jahrhunderts weitestgehend geprägt haben. Stattdessen wird im Vokabular der Erziehung eine explizit als preußisch gedachte Staatlichkeit entworfen, das heißt ein durchorganisierter, männerbündisch-militaristischer Führerstaat, in dem sich das Individuum freiwillig einreiht. Eher als ein Bildungsroman ist Die Kadetten also ein Erziehungsroman, der zwar die Entwicklung des Protagonisten in den Vordergrund stellt, zugleich aber die bildungsbürgerlichen Prämissen der Aufklärung in ihr Gegenteil umschlagen lässt, die »Freiheitsjacke« sozusagen in eine »Zwangsjacke« verwandelt.291
Zucht versus Bildung Nicht nur die tiefe Kluft zwischen Eltern- und Kadettenhaus wird im Roman als Zustand programmatischer Vaterlosigkeit beschrieben. Auch das Verhältnis zwischen der Kadettenanstalt und der Schule wird als Generationenkonflikt dargestellt, der sich über die Pole »lebendig« und »frisch« (69) gegen »vertrocknet« und »grau« (70), »autoritär« (53, 70) gegen »tyrannisch« (70), »Sinn« (42, 111) gegen »Unsinn« (71) veranschaulicht. So ist es nur folgerichtig, dass die Kadetten für den ehemaligen Gymnasialdirektor Bandke, der zum neuen Hauptmann ernannt wird, als alle Offiziere in den Krieg gezogen sind, konsequent das bürgerliche »Papa« (u.a. 102, 123) verwenden, während ihr Verhältnis zu den (Unter-)Offizieren als Verhältnis zwischen »Erzieher« (u.a. 24, 34) und Zögling, Mentor und Mentee, oder oft auch Hirten und »Schäflein« (u.a. 34, 80, 126, 171) imaginiert wird.292 Die Lehrer in der Kadettenanstalt – die »ältesten, unmöglichsten und unbehilflichsten Greise[…]« (70) – sind für die Kadetten unendlich »lächerlich« (70), »harmlos« (71) und »bedeutungslos«. (69) Die »bittere[n], graue[n] Erfahrungen« (69) der Vorkriegsjugend mit dem damaligen pädagogischen System haben dem Icherzähler zufolge vor allem ihre Ursache »in der mangelnden Widerstandsfähigkeit einer Jugend, welche die Spannung zwischen so durchaus andersgearteten Bereichen wie Eltern- und Schulhaus nicht in sich auszugleichen verstand«. (71) Diese Vorstellung lässt der Aufbruch aus dem bildungsbürgerlichen Bereich der Schule in die militärische Kadettenanstalt gleichsam zu einem revolutionären Ereignis werden, das mit einer regenerativen Selbstermächtigung sowie einer wehrhaften Ermannung der Jugend einhergehen soll.
291 Müller, Leben Gundlings, 526. 292 Die auf Vertrauen basierende Beziehung zwischen einem Hirten und seinen Schäflein ist für die Figuration von Autorität schon seit der Antike paradigmatisch. Vgl. Kohns, van Radhen, Roussel, »Autorität,«, 15.
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Die verkrusteten Unterrichtsmethoden der Lehrer werden immer wieder der »lebendige[n] Disziplin« (70) der Offiziere gegenübergestellt,293 deren Verhältnis zu den Kadetten auch im pädagogischen Bereich, gemäß dem Prinzip des oben beschriebenen preußischen Sozialismus, mit egalitären Zügen versetzt wird: »Gerade das, was den Zivilpaukern in hohem Grade mangelte, machte den Reiz der Offiziere aus: Sie verstanden es, zu selbständiger Leistung anzuspornen, sie lernten sozusagen mit, besaßen nicht die Autorität des Mehrwissenden, sondern die des Schnellerbegreifenden«. (70) Die Offiziere und Unteroffiziere »leben« sozusagen »vor« (164), sie sind die »Vorbilder […], zu welchen die Kadetten erzogen und gebildet wurden, und da war nichts, was sich im Instinkt dagegen wehren konnte.« (42) In dieser natürlichen (»Instinkt«) Hierarchie, die anders als die Gymnasialbildung auf dem Prinzip der Persönlichkeit gründet, scheinen die (Unter-)Offiziere den gleichen Weg wie die anderen Kadetten nur etwas weiter zurückgelegt zu haben. Im Klassenraum gilt die Herstellung einer solchen Hierarchie als eine widernatürliche Mimikry, als ein krampfhafter Versuch, die latente Machtstruktur auch im geistigen Bereich zur Geltung zu bringen: »[D]ie Errechnung des Primus war mehr ein Akt platonischer Art, gewissermaßen der vollkommen mißlungene Versuch, einen Abglanz der Hierarchie auch im Raume der geistigen Disziplinen herzustellen«. (39) Dieser »längst brüchig gewordenen Bildungswelt« (172) wird das Konzept der Zucht und der Selbstzucht entgegengestellt, das als pädagogisches Kontrastprogramm zum starren, rein zerebral orientierten bürgerlichen Bildungssystem erscheint. Immer wieder wird die Lebendigkeit dieser Erziehungsmethode betont und der Abtötungsprozess der totalen Körperdisziplinierung als Naturprozess verbildlicht.294 Die Kadetten heißen »Blütenknospen des Staates«, die Abhärtung der Jugendlichen wird als »Kristallisation« und »Auslese« beschrieben und die Mehrdeutigkeit des Wortes Zucht – nicht nur pädagogisch, sondern auch biologisch – wird ausgespielt: »So mußte denn der weltliche Enthusiasmus aus dem grünen Holze des Staates schlagen, die Kadetten, Blütenknospen des Staates, zogen alle Kraft aus ihm. In ihrem pädagogischen Bereiche geschah die besondere Kristallisation des preußischen, also des staatsnächsten Geistes; es enthielt aus diesem einen Geiste heraus und in einem Guß die lebendigen Elemente aller pädagogischen Konstruktionen und die Erfahrungen aller Erziehungssysteme, abgewandelt und gerichtet auf das Ziel einer größtmöglichen Ausbildung zur bestmöglichen Erfüllung einer überindividuellen Aufgabe. […] Die unter Zucht gesetzten jungen Seelen unterlagen Formungsprinzipien, die nicht auf Bildung zielten, sondern auf Ausbildung, nicht auf Arbeit, sondern auf den Dienst, nicht auf den Erfolg, sondern auf das Amt. So wurde ein hoher, leistungsfähiger Durchschnitt erzeugt, an dessen Segnungen jeder einzelne teilhaben konnte, der sich der Zucht unterwarf, über den hinauszusteigen aber die Härte des Druckes
293 Auch im heutigen Erziehungs- und Bildungsdiskurs kann man eine Revitalisierung autoritärer Denkmuster feststellen. Besonders populär in dieser Hinsicht ist zum Beispiel die Streitschrift Lob der Disziplin (Berlin: List, 2006) des Pädagogen und Direktors der elitären Internatsschule Schloss Salem, Bernhard Bueb. 294 Philipsen, »Der blähende Mythos.«
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letzte eigene Bewährung forderte. Die vorgesetzte Linie also, nicht aber die Gewalt der anderen, von unten oder von oben her, bestimmte die Auslese.« (52-53) Wie Arne De Winde und Oliver Kohns in Bezug auf Spenglers Gesamtwerk nachgewiesen haben, »verdichten und überschneiden sich« im Konzept der Zucht »sehr unterschiedliche Bedeutungsdimensionen, die alle auf ein biopolitisches Machtdispositiv, nach dem der Mensch manipulierbares ›Material‹ ist, zurückzuführen sind«.295 In der ›totalen Institution‹ der Kadettenanstalt, wo der Tag keine Lücken hat,296 der Raum aber umso mehr,297 unterliegt der Kadett unterschiedlichen biopolitischen Disziplinierungsverfahren, »Formungsprinzipien«, die das Menschen-»Material« in Formation bringen. (186) Nach dem Ideal »geschlossener Männlichkeit« (35) bringen sie Männer »in einem Guß« hervor. Schauplatz dieser Zucht sind die »jungen Seelen«, die nicht nur das Ziel, sondern auch der Effekt dieser psychosomatischen Disziplinierungsverfahren sind. Wie Foucault in seiner Genealogie des Gefängnisses gezeigt hat, wird diese Seele – im Unterschied zur christlichen Theologie – erst aus den »Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung und des Zwangs geboren«.298 »[S]ie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper – durch Machtausübung an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert«.299 Beispielhaft für diesen Nexus zwischen Geist und Körper ist der »preußische Drill«, der durch stundenlanges Exerzieren nicht nur den Körper strafft, sondern auch »den Charakter unerbittlich vorformt« (10, Vorwort), das heißt, mit Foucault gesprochen, sie »gelehrig« und »fügsam« macht.300 Der Logik eines biopolitischen Leistungs- und Effizienzdenkens zufolge wird so, wieder in den Worten des Icherzählers gesprochen, ein »leistungsfähiger Durchschnitt erzeugt«, der ökonomisch nützlich und politisch fügsam ist:301 »Wir tobten bis in die Dunkelheit über den Platz. Schließlich war kein Gedanke mehr in uns, kein Gefühl, kein Wollen und kein Wunsch, außer höchstens dem Staunen, daß die Glieder doch immer wieder sich mechanisch regten, fast ohne unser Zutun, allein auf die knarrende Stimme hin, die es längst nicht mehr nötig hatte, noch
295 De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 90. 296 Theweleit, Männerphantasien, 145. Elias Canetti beschreibt die »Ordnung der Zeit« als »das vornehmste Attribut aller Herrschaft«. Elias Canetti, Masse und Macht (Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg, 1982), 471. 297 Die Architektur der Kadettenanstalt dient der totalen Überwachung und Sichtbarmachung der Insassen, die sich auch gegenseitig beobachten. Die Anstalt erweist sich auf diese Weise als ein »Wissensapparat« im Sinne Foucaults. So sind die Stuben mit jeweils zwei Fenstern und zwei Türen ausgestattet, von denen die eine in das Zimmer des Erziehers führt. (24) Die Toiletten haben nur halbe Türen, infolgedessen Köpfe und Beine der Klobesucher für alle Insassen sichtbar sind. (31) Auch die Umkleidekabinen im Schwimmbad sind zum Wasser hin offen. (43). An Stelle von Türen sind die Mauer des Schlafsaals »in großem Bogen durchbrochen«. Der Offizier von Dienst schläft in einem Holzverschlag in der Ecke, der mit einem kleinen Fenster ausgestattet ist, »durch welches er den ganzen Schlafsaal übersehen konnte.« (35) Auch Theweleit weist auf die architektonische Offenheit der Kadettenanstalt hin. Theweleit, Männerphantasien, 144. 298 Foucault, Überwachen und Strafen, 41-42. 299 Ebd., 41. 300 Ebd., 177. 301 Ebd., 177.
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tadelnd einzugreifen.« (131) Wie die Tropen des Mechanischen und Maschinellen betonen, macht der Drill die Kadetten zu geistlosen, »politische[n] Puppen«,302 deren Glieder sich nur noch automatisch regen. Dafür benötigen sie sogar keinen Puppen- oder Drahtspieler mehr; sie haben die Macht des Vorgesetzten vollkommen internalisiert, züchtigen sich selbst. Nicht die »Gewalt der anderen«, sondern die »vorgesetzte Linie« (53) treibt die Maschinerie an, wodurch den Untergegebenen die Zucht paradoxerweise als Freiheit vorkommt. Zudem wird diese geistlose Mechanik der trainierten Körper als etwas Ästhetisches dargestellt. Die militärischen Exerzitien und Schwimm- und Gymnastikübungen der Kadetten gleichen einem »verwegene[n] Tanz« (54) von synchron ›sausenden‹, ›taumelnden‹, ›wirbelnden‹ Körpern (55), deren ›Grazie‹ an den mechanischen Gliedermann Heinrich von Kleists aus dessen berühmtem Marionettenaufsatz erinnert.303
Material-Schlacht Was die »vorgesetzte Linie«, die »überindividuelle Aufgabe« der Kadetten genau ist oder verheißt, bleibt anfänglich im Ungewissen. Bald wird aber klar, dass sie letztendlich nichts anderes bedeutet als die totale Mobilmachung einer »todesbereiten« (53) männlichen Jugend, die im Vor-Ort der Kriegsrealität zum jugendlichen Heldentod erzogen wird: »Sie sind hier, um sterben zu lernen.«304 (28) Die Zukunftsprojektion des heroischen Todes auf dem Feld der Ehre ist fest verflochten mit der herauszubildenden soldatisch-männlichen Identität: »[E]in Schritt weiter zu ernster Männlichkeit bedeutete auch einen Schritt näher an die Schlachtfelder dieses Krieges, von dem wir alle in naiver und doch vollgrädig echter Bereitschaft hofften, er würde nicht zu Ende gehen, bevor wir nicht reif waren, in ihm eingesetzt zu werden.« (154) »Erst in der Schlacht«, so kommentiert Bertolt Brecht dieses phallische Phantasma in seinem Drama Mann ist Mann (1926/1927) mit einem zweideutigen Scherz, »erreicht ja der Mann seine volle Größe.«305 Die Vokabel »reif« verdeutlicht, dass Zucht nicht nur im pädagogischen Sinne zu begreifen ist, sondern dass dieser Erziehungsmethode auch eine biologistische Tendenz zugrunde liegt. »Reif« wird hier nicht nur als Äquivalent von ›erwachsen‹ eingesetzt, sondern deutet auch auf den Kadetten in seiner schlichten Kreatürlichkeit hin, dessen körperliche Kräfte oder auch politische Begabungen in der »Offizierspflanzstätte« (Klappentext), die die Kadettenanstalt ist, geradezu planmäßig ›gezüchtet‹ werden.306
302 Ebd., 175. 303 Heinrich von Kleist, »Über das Marionettentheater,« in ders., Sämtliche Werke, Hg. K.F. Reinking (Wiesbaden: R. Löwit, 1972 [1810]), 980-987. Für diesen Hinweis: Philipsen, »Der blähende Mythos.« 304 Noch 1967 spricht Salomon von einem besonders ausgeprägten Verhältnis der preußischen Kultur zum Tod. Ernst von Salomon, interviewt von Wolfgang Venohr, »Ein Mensch mit seinem Widerspruch,« 17. 305 Bertolt Brecht, »Mann ist Mann. Die Verwandlung des Packers Galy Gay in den Militärbaracken von Kikoa im Jahre neunzehnhundertfünfundzwanzig,« in ders., Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Aufgabe, Bd. 2, Stücke 2, Hg. Klaus-Detlef Müller et al. (Berlin/Weimar/Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1988), 167-229, hier: 197. 306 Vgl. De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 89.
2. Ernst von Salomon
Zweimal wird die Mannschaft sogar als im Krieg zu ›verbrauchendes‹ (219) »Material« (54, 186) beschrieben,307 was der Rede vom Ersten Weltkrieg als Materialschlacht eine zweite Bedeutungsebene verleiht. Auch die Verwendung des Begriffs »Auslese« im oben zitierten Auszug deckt Salomons ambivalentes Verhältnis zu biologistischen Diskursen auf. Zwar bezieht sich der Autor hier nicht explizit auf die darwinistische Idee der natürlichen Auslese, doch wird ständig eine scheinbar kausale Verbindung zwischen geistigen und körperlichen Eigenschaften hergestellt, die bisweilen auf einer von Auswahlmechanismen regulierten Erbschaft basiert.308 Diese Ambivalenz wird besonders deutlich, wenn der Unteroffizier Dolberg die Reihe von Bildern aller jener Kadetten betrachtet, die von der Anstalt abgegangen sind, um ins Heer einzutreten. Einerseits wird die 300-jährige preußische Geschichte über eine Verkettung von adligen Generationen heraufbeschworen. Brüder, Vettern, Väter und Söhne haben nicht nur gleichlautende Namen, sondern auch dieselben Gesichter, was eine genealogische Kontinuität suggeriert. Andererseits scheint preußisch vor allem eine geistige Eigenschaft eines ahistorischen »Typs« (165) zu sein, der sich durch Ernst und Strenge auszeichnet. So gilt preußisch als eine Essenz, die über das Zusammenspiel genetischer und geistiger Merkmale konstruiert wird. Wie bei Spengler stellt sich preußisch aber auch als eine Potenz dar, die die Kadetten zu verwirklichen haben. Als »Blüten« (7) oder »Blütenknospen« (52) der preußischen Adelsgeschlechter, als ewige Jugend sind sie das Regenerationspotenzial der Nation, das ständig ›nach-wächst‹. Die Beschreibung der Kadetten als »Nachwuchs der Edelsten der Nation« (130) verweist auf die Idee einer durch Auswahl gesteuerten Vererbung. Zudem macht sie deutlich, wie sehr Menschen in der Logik der Kadettenanstalt nichts anderes als ersetzbare Materialien sind,309 »Haufen untauglicher Abfallbrocken« (54), die sich – nach dem im Vorwort zitierten berühmt-berüchtigten Spruch Friedrich des Großen »Wollt ihr Kerls denn ewig leben…?« (8) – schon im Voraus als »Kadaver« (54) betrachten sollen. Dieser ›Kadavergehorsam‹ prägt bis heute die Vorstellung von Preußen. Mittels eines homerischen Vergleichs zwischen Führer und Bildner treibt Salomon diese Logik in erschütternder Weise auf die Spitze. Wie der Bildner sich den lebendigen Rohstoff gefügig macht, ihn knetet und nach seinem Willen formt, so züchtigt auch der Führer seine Mannschaft, gestaltet sie ästhetisch um: »Denn Soldaten sind Künstler und die großen Meister des Krieges sind die mythischen Häupter der Welt. Und wie der Bildner mit lebendigem Stoffe arbeitet, jeweilig sucht den gewachsenen Stein, die Hölzer wählt, seine Träume werkgerecht dem Materiale zu formen, wie er strebt, statt selbst mit vollendeten Surrogaten um des lebendigeren Schmelzes, um der heißer atmenden Glut willen die Farben, so wie sie die Natur
307 Über diese als typisch preußisch dargestellte Vorgehensweise streiten sich die Unteroffiziere Dolberg und Pahlen, und zwar ohne dass die eine Perspektive der anderen vorgezogen wird: »Ich kenne nur einen adeligen Charakter, der einordbar ist, das ist der preußische«, so Dolberg. »Ach, der preußische Dinge (sic!) sind einordbar, aber nicht Menschen«, antwortet Pahlen. »Aber das ist eure verfluchte preußische Einstellung, […] die den Menschen verdinglicht, verdingt, wie es früher in der Instordnung hieß. Was macht ihr aus der Mannschaft? Ihr macht Material aus ihr.« (186) 308 Vgl. De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 88-89. 309 Ebd., 89.
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immer wieder unvollendet, ihm selber nie vollendet bietet, zu bereiten, wie er den hartgewordenen Ton so lange in seinen eigenen warmen Fingern knetet, bis er sich jedem Drucke schmiegt, dem Stoff sich schenkt, sich ihm vermischt, daß einmal das Werk größer sei als der es schuf, so mag der Führer mit der Mannschaft sich verquicken, Zucht fordern in dem Maße seiner Zucht, Gehorsam werkgerecht, vom Wesen seines Wesens, im Geiste alles Geistes, und mag zum Haufen untauglicher Abfallbrocken werfen, wem es geziemt und wen es gelüstet, sich nicht anders denn als Kadaver zu betrachten.« (53-54) Die »Verquickung« des Führers mit der Mannschaft im großen Kunstwerk des Staates ist ein bekanntes politisch-theologisches Motiv, das schon auf Plato zurückgeht und im Nationalsozialismus von Joseph Goebbels in pervertierter Weise neu formuliert wurde.310 Tatsächlich kann über die Parallele zum ominösen Erscheinungsjahr des Romans kaum hinweggelesen werden. Mit dieser trügerischen Allegorie wird die Macht des ›Demiurgen‹ scheinbar relativiert.311 Der Führer wird nicht nur als der ›Große Architekt‹ dargestellt; auch er wurde einst aus rohem Material geformt. Ausdrücklich wird der ›Schöpfer‹ als schlichte Kreatur, als »Geschöpf« beschrieben, das erst am Ende des schweren Weges über das »Geschaffene« verfügt. (53) So wird eine autogenerative Logik vermittelt, nach der eine herausragende Führerschicht sich andauernd selbst erschafft.312 Zudem deutet die Beschreibung der Soldaten als »Künstler« nicht nur auf eine gewisse Kriegsästhetik hin, sondern sie unterstreicht auch die explizit als männlich gedachte (genialische) Produktionskraft. Darüber hinaus gewährt die Imagination der Kriegsanführer als »mythische[r] Häupter der Welt« diesem phallischen Phantasma eine mythische Dimension, verweist sie doch auf die Kopfgeburt der Pallas Athene. Das oben beschriebene Erziehungsideal der Selbstzucht wird hier also sexualisiert und zum Phantasma männlicher Selbsterzeugung umgeschrieben.
Ein preußisches Staatsmodell Letztendlich erweist sich die Kadettenanstalt als eine »Sexualitäts«- und »Wiedergeburtsmaschine«,313 die in einer Art zweiten Geburt neue, soldatische Männer im Sinne von Jüngers ›Stahlgestalt‹ generiert. Dass es sich dabei um eine exklusiv männliche Geburt handelt, wird im folgenden Zitat durch die Verben »sich heranwälzen« und »vorstoßen« hervorgehoben, verweisen sie doch auf die eruptive Körperlichkeit der männlichen Reproduktion. Aus dem »Samen eines Volkes« züchtet der preußische Drill diese neuen Männer. Der noch ungeformten Männlichkeit wird in der Kadettenanstalt ein undurchdringlicher ›Körperpanzer‹ (Theweleit) angemessen: »Die zweite Kompagnie, die dritte und vierte. Immer von neuem wälzt es sich heran, stößt es vor in breiter Front, ohne Beule noch Bucht, eine Mauer hinter der anderen, das ganze Regiment wie eine tief in Reihen gegliederte Maschine, unerbittlich, exakt,
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Philipsen, »Der blähende Mythos.« Ebd. De Winde, Kohns, »Aufgaben des Essayisten,« 91. Theweleit, Männerphantasien, 154, 173.
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viertausend Menschen und ein Regiment, gepeitscht vom kriegerischen Hymnus der Musik. […] Geformt, gestählt in langen Jahren, geschworen auf die Fahne, geübt im Sterbenlehren und Sterbenlernen, genommen aus dem Samen eines Volkes und an den Krieg gesetzt. […] Muskeln wie Stränge, breite Brust und hartes Gelenk, und die Mauer dieser aus Zucht geborenen Körper, das ist die Front, das ist die Grenze, der Angriff, Element des Sturmes und des Widerstands, und hinter ihr bleibt Deutschland, das Heer zu speisen mit Mann und Brot und Munition.« (87) Die »aus Zucht geborenen« Einzelkörper schweißen sich zu einem wehrhaften, undurchdringbaren Kollektivkörper zusammen, zu einer Körpermaschine, die reibungslos und »unerbittlich exakt« funktioniert. Sie zeichnet sich durch Härte, Stärke, Uniformität und körperliche Geschlossenheit aus, was durch die strenge Geometrie (»Mauer«; »ohne Beule noch Bucht«) noch betont wird. Genauso wie in Die Geächteten geistern Vielfalt, Fragmentierung und Grenzüberschreitung durch den Roman als wahre Schreckbilder, was zudem den performativen Charakter dieser Männlichkeit unterstreicht. Die Utopie der »geschlossener Männlichkeit« (35) erweist sich als durchaus instabil und bedarf einer täglichen Reinszenierung in Form des Drills. Die Angst vor Schwellenübergängen zeigt sich zudem in der Selbstdarstellung als »Grenze« und als »Front«, die in Die Geächteten auf die Spitze getrieben wurde. Durch diese Gleichschaltung von männlichem Subjekt und Front ist es nur folgerichtig, dass, wenn die Front in Stücke fällt, auch die männliche Existenz der Kadetten brüchig wird. Wie die Kadetten aus der Erziehung zum Krieg, aus der Zucht »geboren« wurden, »stirbt« (228) das Korps, wenn der Krieg zu Ende geht. Gerade diese biologistische Darstellungsweise lässt zu, dass das Kadettenkorps explizit zur staatstragenden Gemeinschaft wird. Als »seltsame Blüte des Staates« (7, 52) verbildlicht das preußische Kadettenkorps synekdochisch das Regenerationspotenzial des Staates, was nicht nur mit einer Verjüngung, sondern auch ausdrücklich mit einer Remaskulanisierung einhergeht. Einer »bestimmten Schicht Männer« (229, Nachwort) hat die Aufgabe, in einer Art zweitem Zeugungsakt den rohen Stoff der »kopflose[n]« (137) Masse in eine hierarchische Organisation umzuformen: »Da wurde Preußen geboren« (7), heißt es im Vorwort, wobei Preußen im Sinne eines durchorganisierten, auf dem reinen Machtprinzip basierenden Führerstaats (um-)gedeutet wird. Wie bei Spengler verlangt die Vorstellung eines nationalen Machtstaates eine »tragende, züchtende und erziehende Schicht«,314 die anstelle des einen souveränen Herrschers eine männerbündische Elite, eine (neuadlige) Führungsschicht in den Vordergrund rückt. Dem spenglerschen Aufruf »erzieht euch selbst!«315 entsprechend wird die neue Generation aufgrund ihrer Hinwendung zu sich selbst und zu nur wenig älteren Führern zum Wegbereiter eines neuen Staates. Die Demontage des Vaters wird in Die Kadetten also zum Entwurf eines neuen Herrschafts- und Staatsmodells herangezogen, das auf männerbündischen Strukturen basiert und organologische Staatsfiktionen mit machttechnologischen Phantasmen im Erziehungskonzept der (Selbst-)Zucht kurzschließt.
314 315
Spengler, »Aufgaben des Adels,« 89. Spengler, Preußentum und Sozialismus, 104.
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Dass Salomon zudem ein militaristisches Ideal der Gesellschaft vorschwebt, wird insbesondere durch das ständig operationalisierte Bild der Körpermaschine, in der jedes Rädchen reibungslos funktioniert, veranschaulicht. Auf diese Tradition verweist auch Foucault: »Der Traum von einer vollkommenen Gesellschaft wird von den Ideenhistorikern gern den Philosophen und Rechtsdenkern des 18. Jahrhunderts zugeschrieben. Es gab aber auch ein militärisches Träumen von der Gesellschaft; dieses berief sich nicht auf den Naturzustand, sondern auf die sorgfältig montierten Räder einer Maschine; nicht auf einen ursprünglichen Vertrag, sondern auf dauernde Zwangsverhältnisse; nicht auf grundlegende Rechte, sondern auf endlos fortschreitende Abrichtungen; nicht auf den allgemeinen Willen, sondern auf die automatische Gelehrigkeit und Fügsamkeit.«316 Der Roman entwirft also gemäß der Struktur der Kadettenanstalt und dem Ideal der überindividuellen Körpermaschine ein vollkommenes, militaristisches Staatsmodell, das fortwährende Zwangsverhältnisse – die allerdings als Freiheit konzipiert werden – zur Totalstrukturierung des Staates einsetzt. Ordnung und Bindung, Pflicht und Dienst sind die Prinzipien, auf die sich der preußische Zukunftsstaat gründet. Nach der Logik des preußischen Sozialismus wird dieser Staat mit dem Anschein egalitärer Züge durchsetzt, was mit der Ablösung des einen allmächtigen Vaters zugunsten eines männerbündisch strukturierten Kollektivs einhergeht. Dass Frauen radikal aus diesem Staatsmodell ausgegrenzt werden, wird durch die Idee der Selbstzucht oder das Phantasma der männlichen Selbsterzeugung auf die Spitze getrieben.
Mythos interruptus Das Faszinierende an diesem Roman ist aber, dass er zugleich die Brüchigkeit solcher scheinbar vollkommenen Staatsfigurationen und Gemeinschaftsfiktionen aufzeigt. Kommen wir dafür noch einmal auf die peinliche Szene mit dem üblen Geruch zurück. Trotz ihres anekdotischen Anlasses stellt sie sich in mehreren Hinsichten als die Schlüsselstelle des Romans heraus. Wie Bart Philipsen argumentiert, wird in dieser Erzählsequenz eine »Meta-Szene« eingebettet, die »einerseits auf die Unterbrechung und das drohende Scheitern« des Initiationsritus und der Kadettengemeinschaft insgesamt fokussiert, »andererseits in diesem Bruch ein verdrängtes Reales ›entkommen‹ lässt«,317 das sich wie eine dunkle Wolke über der am Ende dennoch folgenden Initiation und der angeblich wiederhergestellten, erleichtert aufatmenden Gemeinschaft zusammenzieht. Tatsächlich droht jene Blähung aus der »schwefeligsten Hölle« (48) aufgrund ihrer grenzenlosen Flüchtigkeit die imaginäre Geschlossenheit der »unverbrüchlichen Gemeinschaft« (47), des »festen Gefüges« (48) aufzulockern und die aseptisch-symbolische Körpermaschine mit ihrer »im Innern lauernden […] Alterität«318 zu konfrontieren. Nach Philipsen ist diese Alterität nichts anderes als die krude 316 317 318
Foucault, Überwachen und Strafen, 218. Philipsen, »Der blähende Mythos.« Ebd.
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Materialität des »bloß Lebendigen«: Sie ist »sowohl das unkontrollierbare, exzessive und – da es keine Grenzen kennt – transgressive Leben als auch die ihm innewohnende Verwesung«.319 Beide Aspekte unterminieren die gemeinschaftsbildende Vorstellung des disziplinierten, roboterartigen Kollektivkörpers und sollen daher im Züchtigungsprogramm der Kadettenanstalt abgetötet oder ›abgeführt‹ werden, als wäre der alte Brauch, den Kadetten bei der Inkorporation Rizinus – ein bekanntes Abführmittel – »einzufiltern, um sie solchermaßen auch von innen zu reinigen« (52), noch üblich.320 Wie Philipsen hervorhebt, steht nicht die Würde des flatulierenden Täters auf dem Spiel, sondern die Position aller Kadetten, als Glieder des Kollektivkörpers.321 Deshalb soll die zunächst noch anonym im Raum hängende Ausdünstung so schnell wie möglich wieder »in die Latenz des Unpersönlichen« gebannt werden, und zwar »von einem beliebigen einen«:322 »hier stinkt es ja mächtig, mach doch einer mal das Fenster auf.« (48) [meine Herv.] Gerade diese anonyme Abfuhr wird aber obstruiert, indem der Erzähler den Geruch mit seinem albernen Kinderspruch abfängt und so das zu verdrängende Reale, das nach Jacques Lacan nicht imaginiert oder in die symbolische Ordnung integriert werden kann, in den symbolischen Bereich der Sprache hineinschmuggelt.323 Anlass der (stillschweigenden) Empörung ist weniger das ›Petzen‹ über einen Kameraden als vielmehr die Tatsache, dass überhaupt gesprochen worden ist, und zwar vom geächteten Bereich des Sinnlich-Körperlichen, der die symbolische Körpermaschine aus der Fassung zu bringen droht. Nach der gelungenen Initiation des Erzählers kann auch die Kadettengemeinschaft wieder aufatmen: »Keiner sprach jemals noch einmal von dem, was vorgefallen war« (51), heißt es bedeutungsvoll. Im Anfang der Gemeinschaft ist also nicht das Wort, sondern das Geheimnis: »ein Drittes, Unsichtbares, Unaussprechbares«, hinter dem »der Sinn zu wittern« ist, »der diese ganze Maschinerie aufgebaut und mit Leben erfüllte« (47); ein noch ausstehendes »unsichtbares Ziel« (53), nach dem die Kadetten voller Ungeduld fiebern und das die scheinbar unverbrüchliche Gemeinschaft zusammenhält; ein »Rest, der nicht mit Worten zu beseitigen war«. (55) Der unaussprechbare »Sinn« oder das unsichtbare »Ziel« – so weiß der rückblickende Erzähler – ist der Krieg, und zwar einer, der die ästhetischen und mythischen Vor-
319
Ebd. Auch der eigenartige Kreuzzug gegen Masturbation durch heutige rechtspopulistische Politiker wie den niederländischen Fraktionsvorsitzenden des ›Forum voor Democratie‹ (FVD) Thierry Baudet und rechtsextremistische Bewegungen wie das flämische ›Schild & Vrienden‹ oder die ›Proud Boys‹ in den Vereinigten Staaten, im Vereinigten Königreich, in Kanada und Australien lässt sich vor diesem Hintergrund verstehen. In Online Foren regen sich diese neuen Verehrer eines Hypermachismus gegenseitig an, ihre männliche ›Energie‹ nicht zu verschwenden. Der unbeherrschte Austritt von Sperma und die Vorstellung vom schwachen Fleisch unterminiere das maskuline Ideal des symbolischen Körperpanzers. Vgl. Lotte Beckers, »De rechtse kruistocht tegen masturbatie,« De Morgen, 21. Feb., 2018, https://www.demorgen.be/politiek/de-rechtse-kruistocht-tegen-ma sturbatie-b2433a60/ (abgerufen am 24.10.2018). 320 Philipsen, »Der blähende Mythos.« 321 Ebd. 322 Ebd. 323 Ebd.
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stellungen vom Kriegseinsatz als »Kunst«, von Soldaten als »Künstlern« und Offizieren als »Meistern des Krieges« oder »mythischen Häuptern der Welt«, in ihrer perversen Fiktionalität enttarnt hat.324 (53) Statt einer »schönen« und »anständigen« »Bekräftigung« des Lebens (83) steht den meisten Kadetten ein grausames Ende im anonymen Massenkrieg bevor.325 Der »Rest«, von dem die Rede ist, der aber »nicht mit Worten zu beseitigen war«, erinnert in diesem Sinne an Slavoj Žižeks Beschreibung der Kategorie des Realen als »der Rest, der der Symbolisierung entgeht«.«326 Dieser »Rest« ist letztendlich nichts anderes als jener »winzige, zerbrechliche Menschenkörper«, von dem Walter Benjamin einige wenige Jahre später in seinem Essay »Der Erzähler« sprechen wird. Die Erziehung zum Krieg hat diesen verletzbaren und sterblichen Körper zwar zu vertilgen oder zu »vergessen« (28) versucht, in der rohen Kriegsrealität wird er dennoch wiederkehren. Der »Rest« ist jenes sterbliche und unbeherrschte Fleisch, das vor dem heroischen Tod auf dem Schlachtfeld noch mal ejakuliert, uriniert oder in die Hose scheißt. Diesen nicht restlos zu sublimierenden, ›mächtig stinkenden‹ (48), ja unerträglichen Geruch, in dem sich Leben und Verwesung ›verquicken‹, hat der Erzähler den Kadetten – wohl ungewollt – mit seinem frechen Kinderreim unter die gerümpfte Nase gerieben, die phallische Fiktion dieser unverbrüchlichen Gemeinschaft für einen winzigen Augenblick unterbrochen.
324 Ebd. 325 Manchmal dringt der Kriegshorror doch gewaltsam in den Alltag der scheinbar hermetisch abgeschlossenen Kadettenanstalt ein, zum Beispiel während des Bombenüberfalls von Karlsruhe, wo um 240 Menschen, vor allem Kinder, ums Leben kamen und wobei auch der Erzähler mit seiner Kadettenkompanie anwesend war. (133-139) Meistens wird der Gräuel des Krieges aber verharmlost oder (ästhetisch) verklärt, nicht zuletzt, so erläutert der Erzähler selbst, weil »der Krieg nur an der Peripherie unseres engen Bereiches stand, was dazu führe, dass die Kadetten »das Schemenhafte […] in glühendere Bilder« umsetzen. (111) Das ›großartige‹ »Schauspiel« (110) von Jagdflugzeugen generiert eine »magische« (108) Wirkung, ein Luftangriff ist »alles wahnsinnig schick und spannend«. (108) Der rückblickende Erzähler skizziert diese kindlich-naive Gemütslage nicht ohne Ironie: »[G]anz unmöglich schien es uns, daß wir uns in Gefahr befanden, und wenn dies Gefahr war, so lockte sie mit Entzückung verheißendem Ruf – so ferne kam uns der Krieg nah, daß wir seine tödlichen Spiele als Schauspiel liebten, und als freundliche Unterbrechung, und es konnte wohl vorkommen, daß vor verderblichen Extemporalen das Gebet gemurmelt wurde: ›Lieber Gott, laß bitte morgen Flieger kommen, so gegen halb zehn.‹« (110-111) 326 Slavoj Žižek, Der Erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, Bd. 1, 2. erweiterte Auflage, aus dem Französischen von Isolde Charim (Wien: Turia + Kant, Wien 1992), 93.
3. Zauber der Uniform: Carl Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick (1931) »Ich bin meine Kleidung und meine Kleidung ist ich« – Elfriede Jelinek, Jackie1
Die Sprache der Mode In dem Jahr, als das rosa Chanel-Kostüm Jackie Kennedys mit Blutflecken beschmutzt wurde, stellte der Semiotiker Roland Barthes seine kulturwissenschaftliche Arbeit Die Sprache der Mode fertig.2 Gegenstand seiner Untersuchung ist die in Modezeitschriften zwischen 1957 und 1963 be- und ›geschriebene‹ Kleidung, die er einer strukturalistischen Analyse unterzieht. Indem er diese von getragenen und abgebildeten Kleidern abgrenzt, macht er auf ihre unterschiedliche Materialität und Semiotik aufmerksam. Wird der Stoff mittels Worten gewoben, dann werden die geschriebenen Kleider von der denotativen Funktion losgelöst; sie können dadurch eine imaginäre Bedeutung generieren.3 Zeichnet sich die Rhetorik eines Textes besonders durch die Textur der Kleidung aus, das heißt durch die spezifische Art und Weise, wie das jeweilige Kleidungsstück mit rhetorischen und poetischen Mitteln wie zum Beispiel Metaphern und Metonymien inszeniert wird, kann man von einer »Poetik der Kleidung« sprechen.4 Das macht literarische Texte besonders dafür geeignet, Kleidung mit den eigenen ästhetischen Mitteln zu thematisieren und inszenieren.5
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Elfriede Jelinek, »Der Tod und das Mädchen IV (Jackie),« in dies., Der Tod und das Märchen I-V. Prinzessinnendramen (Berlin: Berliner Taschenbuch Verlag, 2003), 63-101, hier: 82. Die Arbeit wurde 1963 beendet und 1967 veröffentlicht. Roland Barthes, Die Sprache der Mode, aus dem Französischen von Horst Brühmann (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1318, 1985), 13-29; Stefan Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« in Fiktionen des Männlichen. Männlichkeitsforschung in der Literaturwissenschaft, Hg. ders. (Wien: Facultas, 2018), 92-108, hier: 94-95. Barthes, Die Sprache der Mode, 241; Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 95. Torsten Voß, Körper, Uniformen und Offiziere. Soldatische Männlichkeiten in der Literatur von Grimmelshausen und J.M.R. Lenz bis Ernst Jünger und Hermann Broch (Bielefeld: transcript, 2016), 28.
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Das imaginäre und inszenatorische Potenzial haftet der Kleidung, als »ausgezeichnete[m] poetische[m] Objekt«,6 aber an sich schon an, »zunächst einmal«, so Barthes, »weil sie mit vielerlei Abwandlungen sämtliche Eigenschaften der Materie heraufbeschwört: Substanz, Form, Farbe, Tastbarkeit, Bewegung, Festigkeit, Glanz; zum andern, weil sie den Körper berührt und als dessen Substitut und Maske ganz gewiß Objekt einer intensiven Besetzung ist«.7 Sie schützt und schmückt nicht nur den Körper, sondern verhüllt, inszeniert, ersetzt und verstellt ihn auch. Auf diese Weise ist Kleidung nicht nur ein wichtiges Medium für (geschlechtliche) Identitätsbildung, sondern gehört auch zu den zentralen Körpertechnologien, »durch die die Verhaltens- und Distinktionsmuster, Körper- und Gestensprache, Wahrnehmungsweisen, kurz der gesamte sozio-kulturelle Habitus eingeübt wird.«8 Kleidung ist mit anderen Worten nie eine neutrale ›Sache‹, das Sprechen über sie ebenso wenig, auch wenn die Sprache der Mode, so Barthes, dasjenige, was »Sache einer Entscheidung, eines Gebots ist, am Ende so notwendig und neutral wie eine schlichte Tatsache«9 erscheinen lässt, »als sei [die Kleidung] allem Schein entzogen«.10 Diese von Barthes für die Sprache der Mode der frühen 1960er Jahre beschriebene Dynamik einer sich hinter ihre phänomenologische Evidenz zurückziehenden Performativität ist in einer Kleiderordnung wie der Uniform umso zwingender präsent. Zwar argumentiert Barthes, dass eine hierarchisch strukturierte Ordnung wie die monarchische Gesellschaft des Ancien Régimes ihre »Kostüme offen als Ensemble von Zeichen« zur Schau stellt, weshalb ihr Zeichencharakter deutlicher und also »unschuldiger« als in unserer modernen Gesellschaft mit ihrem charakteristischen Phänomen der Mode hervortritt.11 Tatsächlich wird generell angenommen, dass je stärker eine politische Ordnung oder Institution organisiert ist, desto mehr wird eben diese Strukturiertheit veranschaulicht und sichtbar gemacht.12 Allerdings ist diese Visibilität alles andere als ›unschuldig‹, ist sie doch (auch etymologisch) aufs engste mit Evidenzen verknüpft, die als »Effekte der spezifischen Bedingungen des Sehens im politischen Raum«13 betrachtet werden können. Gerade in Kleiderordnungen implizieren sich Visualisierung und Reproduktion wechselseitig, entstehen Anerkennungsdynamiken über den äußeren Schein. Als »ästhetisch-performative Figurationen des Politischen und Kulturellen«, die sich »an der Schnittstelle von Zeichen, Körper und Macht« situieren,14 zielen Klei6 7 8
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Barthes, Die Sprache der Mode, 242. Ebd., 242. Gabriele Mentges, Birgit Richard, »Schönheit der Uniformität. Zur kulturellen Dynamik von Uniformierungsprozessen,« in Schönheit der Uniformität. Körper – Kleidung – Medien, Hg. dies. (Frankfurt a.M./New York: Campus, 2005), 7-16, hier: 9. Vgl. auch Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 94. Barthes, Die Sprache der Mode, 273. Ebd., 272. Ebd., 273. Voß, Körper, Uniformen und Offiziere, 38. Thomas Frank, Albrecht Koschorke, Susanne Lüdemann, Ethel Matala de Mazza, »Einleitung,« in dies., Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft, 7-12, hier: 9. Zaal Andronikashvili, Tatjana Petzer, »3 – Kleiderordnungen,« in Die Ordnung pluraler Kulturen. Figurationen europäischer Kulturgeschichte, vom Osten her gesehen, Hg. dies. (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2014), 187.
3. Zauber der Uniform
derordnungen auf die Behauptung der bestehenden Ordnung ab. Allein schon durch die ritualisierte Reinszenierung der Uniform, die als Symbol der Standardisierung, Regulierung und Normierung gilt, wird ihre Zeichenhaftigkeit, und damit die Kontingenz der durch sie repräsentierten politischen oder kulturellen Ordnung, zu einer Scheinnormalität festgeschrieben.
Carl Zuckmayer: Der Hauptmann von Köpenick Die oben beschriebenen performativen Mechanismen werden in Carl Zuckmayers Theaterstück Der Hauptmann von Köpenick (1931) anhand des turbulenten Schicksals einer preußischen Militäruniform, die von Figur zu Figur weitergegeben wird, sichtbar gemacht und in ihrer Fiktionalität entlarvt. Das Stück spielt in Berlin und Umgebung zur Zeit der Jahrhundertwende und handelt vom Schuster und Ex-Zuchthäusler Wilhelm Voigt, dem es dank einer gekauften Uniform gelingt, sich als Hauptmann auszugeben, mit einem ganzen Wachkommando das Rathaus von Köpenick zu belagern, den Bürgermeister zu verhaften und schließlich auch noch die Gemeindekasse zu beschlagnahmen. Ziel seiner ›Köpenickiade‹ ist allerdings nichts anderes als die Ausstellung eines Passes: Der gerade aus dem Gefängnis entlassene Voigt hat weder Arbeit noch eine Aufenthaltsgenehmigung, kann das eine jedoch nicht ohne das andere bekommen und gerät in die Mühlen der preußischen Bürokratie. Das Köpenicker Rathaus hat aber keine Passabteilung. Voigts Versuch, im Leben Fuß zu fassen, scheitert abermals, und er stellt sich am Ende wieder der Polizei. Als er sich während der Vernehmung, bei der er nur noch die halbe Hauptmannsuniform trägt, im Spiegel betrachtet und sich daraufhin vor Lachen ausschüttet, bricht das Stück ab. Mit dieser auf wahren Begebenheiten basierenden, nach der Tradition des Volksstückes ausgerichteten Komödie bestätigte der Kleist-Preis-Träger des Jahres 1925 seinen Status als einen der erfolgreichsten Dramatiker der Weimarer Republik. Von Thomas Mann einmal euphorisch als »die beste Komödie der Weltliteratur seit Gogols Révisor«15 gefeiert, avancierte Der Hauptmann von Köpenick zum Kassenschlager, bis das Stück 1933 in Deutschland verboten wurde, weil es nicht nur den »Uniform-Taumel«16 des wilhelminischen Kaiserreichs, sondern auch den der NSDAP ins Visier nahm. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Stück mehrmals verfilmt und auf Theater- und Musicalbühnen neuinszeniert, 2017-2018 noch in einer gegenwartskritischen Fassung des Theaterregisseurs Jan Bosse am Deutschen Theater Berlin. Bosse versetzt den bürokratischen Hürdenlauf des deutschen Kaiserreiches in die heutige neoliberalistische Wettbewerbsgesellschaft, in der ein Außenseiter – ein Sans-Papier? – ohne Erfolg (s)einen Platz sucht. Das Bühnenbild einer Gründerzeitfassade des Berliner Boulevards Unter
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Zitiert nach Pierre Vaydat, »Le Capitaine de Köpenick de Carl Zuckmayer: imposture et al.iénation,« Germanica 35 (2004): 11-20, hier: 20, Fußnote 21, https://journals.openedition.org/germanica/1778 (abgerufen 22.06.2018). Carl Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft (Berlin: Fischer, 1996 [1966]), 513.
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den Linden wechselt sich mit Gucci-Werbeplakaten und der Spiegelfassade des BahnTowers am Potsdamer Platz ab.17
»Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde« So erfolgreich die Komödie Zuckmayers war, so populär war auch der biografische Wilhelm Voigt. Der Hochstapler musste zwar eine zweijährige Gefängnisstrafe verbüßen,18 aber durch seinen ›Schelmenstreich‹ von 1906 wurde er zum regelrechten Medienstar, der von der nationalen und internationalen Presse schmunzelnd als Eulenspiegel des wilhelminischen Kaiserreichs gefeiert wurde. Um ihn entstand, gleichsam als dialektisches Pendant zum Verlust seiner bürgerlichen Ehrenrechte,19 ein wahrer Heldenkult. Noch während der Haft organisierten verschiedene Zeitungen öffentliche Spendensammlungen, Hauptmann-von-Köpenick-Postkarten wurden an den Straßenecken Berlins zu Tausenden verkauft. Die satirische Zeitschrift Simplicissimus, in der Preußen und vor allem der preußische Junker immer wieder Zielscheibe des Spottes waren, widmete dem Betrüger selbst ein ganzes Sonderheft.20 Kaum vier Tage nach seiner vorzeitigen Entlassung trat der inzwischen 59-jährige Voigt in einem Passagenpanoptikum in der Friedrichstraße in Berlin Mitte auf, ging auf Tournee nach Dresden, Wien und Budapest, wo er bereits eine Berühmtheit war, später nach Kanada und Amerika, trat in Nachtklubs, Restaurants und auf Jahrmärkten auf, signierte Postkarten mit einem Bildnis von ihm als verkleidetem Hauptmann, und wurde sogar als Wachsfigur in Madame Tussauds in London verewigt.21 Auch seine stark heroisierte Autobiografie Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde aus dem Jahr 1909, in der sich Voigt als späterer Michael Kohlhaas inszenierte,22 verkaufte sich sehr gut. Und noch 1981 wurde in der großen Preußen-Ausstellung in West-Berlin die mutmaßliche Uniform des falschen Hauptmannes zur Schau gestellt.23
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»Der Hauptmann von Köpenick – Deutsches Theater Berlin,« Youtube, hochgeladen von Deutsches Theater Berlin, 7. Jan., 2018, https://www.youtube.com/watch?v=eTLRnwfpQPY (abgerufen 22.06.2018). Voigt wurde ursprünglich zu einer Haft von vier Jahren verurteilt, wurde aber nach zwei Jahren vom Kaiser begnadigt. Vgl. Achim Geisenhanslüke, Die Sprache der Infamie. Literatur und Ehrlosigkeit. Paderborn: Fink, 2014, 11. Simplicissimus 11, 33, Spezial-Nummer: Köpenick, 12. Nov., 1906, https://www.simplicissimus.info/in dex.php?id=5 (abgerufen 22.06.2018). Christopher Clark, »Preußenbilder im Wandel,« Historische Zeitschrift 293, 2 (Sept., 2011): 307-321, hier: 316; Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 681-682. Carl Zuckmayer, Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde. Mein Lebensbild, (Berlin: Eulenspiegel, 1986), Kap. 16 im Projekt Gutenberg – DE, https://gutenberg.spiegel.de/buch/-7113/16 (abgerufen 22.06.2018). »Mut zum Anfassen,« Der Spiegel 33, 10. Aug., 1981, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-1433646 3.html (abgerufen 22.06.2018).
3. Zauber der Uniform
Virulenz der Uniform 1931 hatte der anekdotische Stoff noch nichts an Aktualität eingebüßt, im Gegenteil. Als »Parabel über die Macht einer preußischen Uniform«24 beschwört das Stück nicht nur den militaristischen Geist des deutschen Kaiserreichs, sondern auch den der Weimarer Republik herauf.25 Denn mit dem Ende des Ersten Weltkriegs verschwand die Uniform keineswegs aus dem Straßenbild. Wie Stefan Krammer hervorhebt, bildeten neben der alten militärischen Kleidung, die teils aus pragmatisch-finanziellen,26 teils aus nostalgischen Gründen weitergetragen wurde, auch neue Uniformen einen festen Bestandteil des öffentlichen Lebens. Im ideologisch explosiven Klima der 1920er und 1930er Jahre deuteten sie die jeweilige politische Zugehörigkeit an.27 Die vielen paramilitärischen Verbände, die im Kontext der von den Alliierten auferlegten Rüstungsbegrenzungen als potenzielle Verstärkung der Reichswehr fungierten, veranschaulichen dieses Vordringen militärischer Muster in die bürgerliche Gesellschaft, trübten sie doch die Trennungslinie zwischen einer vom Staat eingestellten professionellen Armee und den sich der parlamentarischen Kontrolle weitgehend entziehenden, selbsternannten Kampfbünden.28 Auch in der deutschsprachigen Literatur der Zwischenkriegszeit ist die Uniform in vielfältiger Weise präsent, als melancholische Erinnerung an die ›gute alte Zeit‹, als hoffnungsvolles Symbol für eine nationale Regeneration oder als ominöses Menetekel für die Durchmilitarisierung der Gesellschaft. Die literarischen Texte, die den »Zauber der Montur«29 einfangen, sind Legion: Im Westen nichts Neues (1929) von Erich Maria Remarque, Mann ist Mann (1926/1927) von Bertolt Brecht, Die letzten Tage der Menschheit (1918-1922) von Karl Kraus oder Radetzkymarsch (1932) und Das falsche Gewicht (1937) von Joseph Roth sind nur einige wenige sehr unterschiedliche Beispiele, in denen die Uniform als wiederkehrendes Motiv oder zentrales Narrativ eingesetzt wird. Was all diese Romane illustrieren, ist die entscheidende Bedeutung der militärischen Uniform innerhalb männlicher Identitätsbildungen. Zwar ließ der hochtechnisierte Stellungskrieg das alte Stereotyp individueller heroischer Männlichkeit und uniformierter Zugehörigkeit in der Realität obsolet werden, da die uniformierten Körper jeden Tag massenweise verstümmelt oder getötet wurden. Doch wie Karen Hagemann betont, führte diese Erfahrung paradoxerweise nicht zur Hinterfragung oder Unterminierung dieser hegemonia-
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Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 682. Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 98; Anthony Grenville, »Authoritarianism Subverting Democracy: The Politics of Carl Zuckmayer’s ›Der Hauptmann von Köpenick‹,« The Modern Language Review 91, 3 (Juli, 1996): 635-646, hier: 635. Viele ehemalige Soldaten mussten nach Kriegsende betteln gehen und konnten sich keine anderen Kleidungsstücke als die alte Uniform leisten. Die Uniform wurde so vom Zeichen des Stolzes zum Zeichen der Armut. Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 93; Markus Rieger, Zauber der Montur. Zum Symbolgehalt der Uniform in der österreichischen Literatur der Zwischenkriegszeit (Wien: Braumüller, 2009), 3. Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 93. Ebd. 93. Rieger, Zauber der Montur; Vgl. auch Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 94.
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len Männlichkeit, sondern gerade zu deren »Verfestigung« und »Neuformulierung«.30 Dies erfolgte nicht zuletzt durch die ›Bedrohung‹ der während des Krieges gewandelten Geschlechterverhältnisse, die sich in der Zwischenkriegszeit noch verstärkte.31 Tatsächlich wurde das Trauma des verlorenen Weltkrieges auf eine genderspezifische Weise erlebt.32 Das Ablegen der Uniform wurde von vielen Männern gerade nicht als Befreiung bejubelt, sondern versetzte die ehemaligen Soldaten in einen Zustand der Orientierungs- und Machtlosigkeit. Symbolische Aktionen wie das Ausziehen der Uniform oder das Abreißen der Achselstücke, die in der Literatur der Zwischenkriegszeit immer wieder als ritualisierte Kastration oder Zeichen von Impotenz dargestellt und sehr oft den weiblichen Figuren zugerechnet werden, veranschaulichen diese symbolische Nacktheit.33 Neue Kleider wurden aber vom Staat, der seine Männer einst in Uniformen gesteckt hatte, um auf dem ›Feld der Ehre‹ für Kaiser, Volk und Vaterland zu kämpfen und zu sterben, längst nicht immer zur Verfügung gestellt.34 Diese symbolische Nacktheit stellt sich, wie Krammer betont, als eines der Grundprobleme der Zwischenkriegszeit heraus und bereitete den Weg für eine virulente Wiederkehr der Uniform.35 Die Kontinuität und Stabilität der hegemonialen Männlichkeitsentwürfe, die über die Kleidung, als unlösbaren Teil der Identität, hergestellt wurden, ergaben 30
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Hagemann, »›WE NEED NOT CONCERN OURSELVES…‹,« 87; Voß, Körper, Uniformen und Offiziere, 307. Aufschlussreich ist auch der Aufsatz von Rolf Parr über den im Ersten Weltkrieg zum Einsatz gekommenen Jagdflieger Gunther Plüschow. Parr legt dar, wie Plüschow in seinen autobiografischen Texten individuelle Vorstellungen vom traditionellen ritterlichen Kämpfer in den neuen Technik-Diskurs zu integrieren versucht, sie auf diese Weise bewahrt und weiterschreibt. Rolf Parr, »Reisender ›Sportsmann‹ im Krieg. Gunther Plüschow: Die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau. Erlebnisse in drei Erdteilen (1916),« in Von Richthofen bis Remarque: Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg, Hg. Thomas F. Schneider, Hans Wagener (Amsterdam/New York: Brill, 2003), 31-49. Vgl. auch Schilling, ›Kriegshelden‹,« insb. 252-286. Hagemann, »›WE NEED NOT CONCERN OURSELVES…‹,« 87. Die Historikerin Ute Frevert datiert die Verschränkung von Männlichkeit, soldatischen Tugenden und Nation auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht 1813 in Preußen zurück, die sich dann im Laufe des 19. Jahrhunderts verfestigte. Zum einen wurde der Wehrdienst gleichsam zur universellen Erfahrung, schloss sie doch Männer aus allen sozialen Schichten ein (und Frauen aus): »[D]er männliche Geschlechtscharakter [inkorporierte] im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend soldatische Elemente.« Zum anderen wurde Wehrdienst in der Publizistik aller politischen Lager diskursiv mit Staatsbürgerschaft, Wahlrecht und also auch mit der Nation verknüpft (auch wenn solche Gedankenexperimente nicht in die politische Praxis umgesetzt wurden). So fungierte der Militärdienst gleichsam als »politisches Initiationsritual«, die Armee als ›Schule der Nation‹: »Wehrdienst [sollte] die Nation im eigentlichen Sinn erst konstituieren, ständische und regionale Differenzen abschleifen und [einen] uniformen, geeinten ›Körper‹ schaffen«. Ute Frevert, »Soldaten – Staatsbürger. Überlegungen zu historischen Konstruktionen von Männlichkeit,« in Männergeschichte – Geschlechtergeschichte: Männlichkeit im Wandel der Moderne, Hg. Thomas Kühne (Frankfurt a.M./New York: Campus, 1996), 69-87, hier: 76, 79, 80. Diese Verbindung zwischen Militärdienst und Männlichkeit, Wehrdienst und staatsbürgerlichen Rechten wird in Der Hauptmann von Köpenick auf die Spitze getrieben. Vgl. dazu zum Beispiel die schon adressierte Szene (12-13) in Ernst von Salomons Die Geächteten, in der die Mutter die Achselklappen vom Mantel des Icherzählers trennt, sowie Joseph Roths Roman Radetzkymarsch (1932). Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 92-93. Ebd., 93.
3. Zauber der Uniform
sich also paradoxerweise aus der krisenhaften Brüchigkeit dieser traditionellen Männlichkeitsmuster.36 Kleidung erweist sich so als Brennglas der Moderne,37 in dem die Spannungen und Ambivalenzen der Gesellschaft mikroskopisch zusammengeballt werden. Das gilt vielleicht besonders für die deutsche Gesellschaft der 1920er und frühen 1930er Jahre, in der die informeller werdende Kleidung für Männer und vor allem die mit Bubi- oder Pagenkopf, kurzem Rock, ohne Korsett und mit Zigarette ausgestattete ›Neue Frau‹ stark mit den uniformierten Körpern kontrastierten.
Ein deutsches Märchen Vor dem Hintergrund dieser geschlechterspezifischen Problematik soll im Folgenden gezeigt werden, wie Carl Zuckmayer das imaginäre und inszenatorische Potenzial der Uniform in Der Hauptmann von Köpenick einer kritischen Analyse unterzieht. Im Stück wird die nahezu unbeschränkte Macht der militärischen Uniform, die der Repräsentation und Reproduktion staatlicher Ordnung dient, nicht nur demonstriert, sondern auch parodistisch unterminiert, indem der Zauber der Montur mittels Maskeraden, Mimikry und Fetischisierung öffentlich in seiner Fiktionalität und Theatralität ausgestellt wird. So erweist sich der Text zum einen als Archiv des Wissens, in dem der militaristische Geist des Kaiserreichs und der Weimarer Republik szenisch eingefangen wird, Machtkonstellationen literarisch verhandelt und Zu- und Festschreibungsprozesse sichtbar gemacht werden. Zum anderen deutet der Text auf die Möglichkeit hin, sich von diesen hegemonialen Bildern und vermeintlich festen Identitätskonzepten loszulösen, indem diese blitzlichthaft in ihrer Relativität und Brüchigkeit gezeigt werden. Dramatische Texte sind besonders dafür geeignet, solche festgeschriebenen Vorstellungen von Herrschaft und Identität auf ihre Performativität zu prüfen. Als »deutsches Märchen in drei Akten«, so der Untertitel, präsentiert sich die Komödie als eine ›Studie‹ über die politische Kultur und Mentalität Deutschlands. Für den Entwurf dieses Deutschlandbildes greift der dramatische Text immer wieder auf preußische Narrative wie Immanuel Kants ›kategorischen Imperativ‹, den Sieg bei Sedan 1870 oder den Mythos des preußischen Rechtsstaates sowie stereotype preußische ›Tugenden‹ wie Pflichtbewusstsein, Ordnung, Gehorsam, Disziplin, Dienstbereitschaft, Unbestechlichkeit und Pünktlichkeit zurück. Den Diskurs der borussianischen Geschichtsschreibung imitierend, nach dem die Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 unter der Regie Preußens der Ziel- und Endpunkt der vermeintlichen ›deutschen Sendung‹ Preußens sei, werden ›das Preußische‹ und ›das Deutsche‹ nahezu als Synonyme verwendet, ja ist ›das Preußische‹ genau dasjenige, das ›deutsch sein‹ auszeichnet. Diese im 19. Jahrhundert durchaus positiv besetzte preußische Sonderstellung schreibt Zuckmayer aber zum ›Greuelmärchen‹38 um: aus Pflichtbewusstsein wird
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Hagemann, »›WE NEED NOT CONCERN OURSELVES…‹,« 87. Christine Kutschbach, Falko Schmieder, »Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung,« in Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung, Hg. dies. (Berlin: Kulturverlag Kadmos, 2015), 11-18, hier: 11. So lautet der Untertitel von Heiner Müllers Preußenstück Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei (1976).
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Kadavergehorsam, aus Dienstbereitschaft Selbstverzicht. Merkwürdigerweise ist diese Dynamik von der Forschungsliteratur kaum beachtet worden. ›Preußentum‹ wird nicht auf seinen Konstruktcharakter hin befragt, sondern zu einer selbstverständlichen Essenz festgeschrieben, bis zu dem Punkt, dass ›Verpreußung‹ und ›Militarisierung‹ auch in der sekundären Literatur oft unkritisch als Synonyme eingesetzt werden.39 Zudem deutet der Untertitel schon auf die imaginären Mechanismen hin, die für eine Nation notwendig sind, um sich als homogenes und stabiles Ganzes zu erfinden. Das ›deutsche Märchen‹ macht auf die konstitutive Verbindung zwischen Politik und Fiktion aufmerksam, die der mythologischen Logik entsprechend immer wieder dissimuliert werden muss, damit die Gemeinschaft überhaupt Bestand haben kann. Der Text befragt so auch selbstironisch seinen eigenen Status; er rückt selbstbewusst seine eigene Fiktionalität in den Vordergrund, und leistet auf diese Weise Widerstand gegen die Illusion einer stabilen und natürlichen (kollektiven) Identität. Die nachfolgende dekonstruktive Lektüre lenkt die Aufmerksamkeit auf die literarischen und rhetorischen Mittel, die die mythologische Logik potenziell unterbrechen. Die bisherige Forschungsliteratur zu Der Hauptmann von Köpenick ist angesichts der nicht abnehmenden Popularität des Stückes nicht nur auffällig spärlich, sondern beschränkt sich meistens auch auf eine politisch-historische Kontextualisierung des dramatischen Textes.40 Wenn schon eine literaturwissenschaftliche Analyse vorgenommen wird, begrenzt sie sich generell auf traditionelle Kategorien wie Personenkonstellation oder Aufbau der Handlungsstränge und auf sehr allgemeine Interpretationsansätze.41 Eine Ausnahme bildet der Essay »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen« von Stefan Krammer, der besonders aus gendertheoretischer Perspektive Konzepte wie Performativität und Theatralität in den Vordergrund stellt. Die folgende Lektüre nimmt Krammers dekonstruktive Ansätze zum Ausgangspunkt und versucht diese zu vertiefen und weiterzudenken, indem sie diese Konzepte auf die politische Ordnung überträgt und so das produktive Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Fiktion ins Zentrum der Analyse rückt.
»Det hat ›n Preuße im Blut«: Kritik am preußischen Militarismus Schon das Eingangsbild von Der Hauptmann von Köpenick veranschaulicht, wie sehr das Stück vom militärischen Ethos durchtränkt ist. Denn bevor ein einziges Wort gesprochen worden ist, wird der militärische Grundton sowohl auf akustischer wie auch visueller Ebene evoziert. Noch bei geschlossenem Vorhang erschallt ein preußischer Militärmarsch, der den Taktschritt einer vorbeiziehenden Gardekompanie musikalisch un39 40
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Vgl. Vaydat, »Le Capitaine de Köpenick de Carl Zuckmayer,« 14 : »[L’imposture] réside dans la militarisation avidement acceptée de la société civile, dans la prussianisation des mentalités«. Eine tiefschürfende Analyse des sozialen und politischen Kontextes bietet Anthony Grenville, der nicht nur den Kontext des deutschen Kaiserreichs, sondern auch den der Weimarer Republik beachtet. Grenville, »Authoritarianism Subverting Democracy«. Ein guter Einstieg zu Der Hauptmann von Köpenick ist die Analyse und Interpretation in der für das Abitur bestimmten Reihe »Königs Erläuterungen«. Wilhelm Große, Textanalyse und Interpretation zu Carl Zuckmayer. Der Hauptmann von Köpenick, Königs Erläuterungen 150, 2. Auflage (Hollfeld: Bange Verlag, 2014).
3. Zauber der Uniform
terstützt. Ferne Militärmusik begleitet die ganze erste Szene und wird das Stück leitmotivisch durchziehen. Das Bühnenbild zeigt die Innenseite des Uniformladens des Königlichen Preußischen Hoflieferanten Adolf Wormser in Potsdam, wo ein Hauptmann namens von Schlettow gerade seine neu bestellte Uniform anprobiert und sich dabei mit dem Zuschneider Wabschke über den vorschriftmäßigen Abstand der Gesäßknöpfe streitet. Die Schaufenster des Ladens sind mit Offiziersuniformen, einzelnen Uniformstücken, Helmen, Mützen, Säbeln und Lackstiefeln dekoriert, auch auf dem Ladentisch liegen militärische Attribute wie Uniformknöpfe, Epauletten, Handschuhe und Feldbinden. An der Wand prangen Fotos höherer Offiziere mit Unterschrift sowie ein Bildnis der kaiserlichen Familie. Wie sehr das militärische Ethos die ganze bürgerliche Gesellschaft durchdringt, wird an den unterschiedlichsten Orten und Bevölkerungsschichten vorgeführt. Nicht nur in den amtlich-polizeilichen Institutionen, sondern auch in öffentlichen (Uniformläden, Herbergen) und privaten (bürgerlichen Wohnzimmern) Räumen deuten militärische Objekte wie Säbel und Pickelhauben sowie Bilder von Offizieren, militärischen Feiern und Schlachten auf die Allgegenwärtigkeit des Militärs hin. Die Schuhfabrik, in der Wilhelm Voigt erfolglos Arbeit sucht, wird wie eine Kaserne geführt, ein militärischer Ton begleitet das Gespräch im Personalbüro: »Ohne ordentliche Papiere kann ich Sie nich einstellen. […] Hier herrscht Ordnung! […] [W]ennse gedient hätten, wär Ihnen das in Fleisch und Blut übergegangen.«42 Das Reintegrationsprogramm des Zuchthauses, in dem Voigt eingesperrt ist, ist von militärischer Strenge und preußischem Drill geprägt und dient als Ersatz für den nicht geleisteten Wehrdienst, mit dem Ordnung und Disziplin – Werte, die offensichtlich auch für die bürgerliche Existenz unentbehrlich sind – eingeübt werden: »Manch einer«, so der Gefängnisdirektor, »verläßt die Anstalt als ein zwar ungedienter, aber mit dem Wesen und der Disziplin unserer deutschen Armee hinlänglich vertrauter Mann. Und das wird ihn befähigen, auch im zivilen Leben, […] wieder seinen Mann zu stellen.« (61) Wie sehr diese militärischen Tugenden als typisch preußisch charakterisiert werden, macht Voigt im Zuchthaus deutlich: »Det hat ʼn Preußen im Blut«. (63) Auch in der Herberge für Obdachlose bestimmen militärische Organisationsmuster den Tagesablauf: Mit dem Signal des Zapfenstreiches aus der benachbarten Kaserne dirigiert der Herbergsvater die Männer zu Bett. Das Militär wird im Stück also nicht nur als eine staatliche Institution dargestellt. Es ist auch ein »kulturelles System«, »das bestimmte Denkstile und Deutungsmuster repräsentiert«,43 an denen sich auch das Nichtmilitär orientiert. Tatsächlich kam es besonders im wilhelminischen Zeitalter zu einer Durchmilitarisierung der Gesellschaft, die in Europa ihresgleichen nicht hatte.44 Militärische Bilder und Symbole drangen 42
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Carl Zuckmayer, Der Hauptmann von Köpenick. Ein deutsches Märchen in drei Akten, 81. Auflage (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2017 [1931]), 36. Das Werk wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert. Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 96. Die These eines preußisch-deutschen Militarismus, der in Intensität und antidemokratischer Ausrichtung andere europäische Länder weit hinter sich gelassen habe, ist ein Thema, über das sich Historiker*innen, oft in quasiapologetischer Weise, immer wieder streiten. Diese sogenannte Sonderwegtheorie bezieht sich vor allem auf den hohen Grad der preußischen Militarisierung sowie die weit über das Zeitalter der europäischen Revolutionen hinausreichende ungebrochene Vor-
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in die Privatsphäre hinein, Paraden, Marschkapellen und Manöver wurden sehr genau einstudiert, die Uniform wurde auch an freien Tagen voller Stolz getragen und bildete so einen wichtigen Bestandteil der visuellen Öffentlichkeit des wilhelminischen Kaiserreichs.45 Selbst trat der ›Medienmonarch‹ Wilhelm II. in immer neuen Uniformen in die Öffentlichkeit, wechselte die Uniform sogar mehrere Male am Tag.46 Dementsprechend wimmelt es auch in Der Hauptmann von Köpenick ständig von Offizieren, Grenadieren, Reserveleutnanten und humpelnden Kriegsveteranen. Kleine Kinder singen militärische Lieder (75) und tragen bunte Offiziersuniformen, einer ist »als kompletter Husar, der andre als Kürassier maskiert.« (107) Sogar die Damen im Café National sitzen »wie Soldaten, die auch bei ungünstigster Gefechtslage ihren Posten nicht verlassen.« (19) Dieser paratextuelle Hinweis erinnert an das seit der Frühen Neuzeit zu den festen Bestandteilen der soldatischen Ikonografie gehörende Motiv des ›Aushaltens auf verlorenem Posten‹, das sich, wie schon dargelegt wurde, besonders in konservativ-revolutionären Diskursen der Weimarer Republik zum herausragenden Charakteristikum einer maskulinen Identität entwickelt hatte.47 Die parodistische Übertragung der heroisch-realistischen Ethik des Standhaltens in einer aussichtslosen Gefechtslage auf die sich langweilenden Prostituierten (so scheint der Text jedenfalls zu suggerieren), entlarvt die hegemoniale soldatisch-heroische Männlichkeit in ihrer Diskursivität und Brüchigkeit.
»Halt dich grad!« Was aber die Leser*innen und Zuschauer*innen als Travestie hegemonialer Männlichkeit erkennen, wird von den Figuren im Stück nicht als solche durchschaut. Männlichkeit existiert für sie nur im Singular; sie wird auf selbstverständliche Weise über sol-
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machtstellung der alten preußischen Eliten, vor allem der ostelbischen Junker. Sie war insbesondere in der deutschen Geschichtswissenschaft der späten 1960er und 1970er Jahre sehr einflussreich, aber wird seit den letzten 20 Jahren immer öfter nuanciert und bezweifelt. Einer der wichtigsten Exponenten dieser relativ neuen Tendenz in der Preußenforschung ist der australische Historiker Christopher Clark, dessen fast 800 Seiten zählende Studie Iron Kingdom. The Rise and Fall of Prussia 1600-1947 aus dem Jahr 2006 auch in der breiteren Öffentlichkeit große Wirkung entfaltete. Clark leugnet den preußischen Militarismus nicht, wie zum Beispiel der Historiker Michael Salewski, der ihn als »Mythos«, »Phantom«, »Märchen« oder einfach »blanke[n] Unsinn« ins Reich der Fabel verweist. Er betrachtet ihn aber vielmehr als Variante eines europäischen Phänomens, die im Vergleich zu anderen Nationen gar nicht so einzigartig war, wie immer behauptet wurde. Spätestens seit den 1890er Jahren kann man nach Clark aber doch von einer preußischen ›Sonderstellung‹ sprechen (obgleich die Metapher des ›Weges‹ problematisch bleibe). Zum einen, weil Preußen bis zum Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs 1918 an seinem alten plutokratischen Dreiklassenwahlrecht festgehalten hat, während es in den süddeutschen Staaten wohl zu demokratischen Wahlrechtreformen kam; zum anderen, weil die preußische Armee weitgehend von der parlamentarischen Kontrolle abgeschirmt und letztlich allein der ›Kommandogewalt‹ des Kaisers unterstellt war. Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947; Clark, »Preußenbilder im Wandel«; Michael Salewski, »Preußischer Militarismus – Realität oder Mythos? Gedanken zu einem Phantom,« Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 53, 1 (2001): 19-34, hier: 19, 31. Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 684. Ebd., 684. Lothar Bluhm, Auf verlorenem Posten. Ein Streifzug durch die Geschichte eines Sprachbildes (Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier, 2012).
3. Zauber der Uniform
datische Tugenden wie Selbstdisziplin, freiwillige Ausrichtung auf eine übergeordnete Entität, Ordnung und Gehorsam definiert. Diese ›männlichen‹ Tugenden werden nach der Pädagogik der Körpersozialisation durch die militärische Körperertüchtigung erzeugt. Diese Pädagogik geht davon aus, dass die Disziplinierung des Körpers nicht nur äußere, sondern auch innere Haltungen einschleift.48 Das Militär, in dem täglich exerziert und stundenlang strammgestanden wird, erweist sich so als »Schule der Männlichkeit«49 und der gezüchtigte Körper als zentrale Vermittlungsinstanz zu ›männlichen‹ Denk- und Verhaltensweisen. Dieser Nexus zwischen Leib und Geist wird explizit, wenn Hauptmann von Schlettow seinen niedergeschlagenen Burschen Delzeit in die Kompanie zurückschickt: »Stillgestanden! Nehmense sich zusammen, Delzeit. Sie sind doch ›n Mann.« (37) Auf diese Weise wird ein Kausalverband zwischen Körperund Affektbeherrschung konstruiert – Qualitäten, die in ihrer sich wechselseitig bestätigenden Verschränkung einen Mann erst zum Mann machen. Tatsächlich wird im Stück außerordentlicher Wert auf eine aufrechte Körperhaltung gelegt: »Halt dich grad!« (10), so schreit der Uniformschneider Wormser seinen Sohn Willy in der ersten Szene immer verzweifelter an. Die Figuren, gleich ob Hauptmann, Polizist oder Beamter, stehen ständig stramm: Sie ›reißen die Knochen zusammen‹, ›verharren in strammer Haltung‹ und gehen nicht einfach, sondern ›marschieren‹. Bei diesen Disziplinierungsverfahren kommt der militärischen Uniform eine herausragende Bedeutung zu. Sie formalisiert den natürlichen Körper, bringt ihn in Form, insofern sie als zweite oder »bessere Haut« (38) imaginiert wird: »In Uniform«, so Hauptmann von Schlettow, »da macht man Figur, das gibt ›n kolossalen Halt«. (24) Dieser Halt fehlt jenen Figuren, die keine Uniform tragen oder nicht als Soldat ausgebildet worden sind. Wie Voigt sind sie »mager und knochig«, haben eine »jebeugte Kopfhaltung – schiefe Schulter – […] etwas krumme, sojenannte O-Beene« (133-134), ihnen fehlt, gleichwie dem jüdischen Schneider Wormser, einfach »der Schliff, der Schnick, der Benimm, die ganze bessere Haltung«. (9) Daran wird zudem ein moralisches Urteil geknüpft. Wer eine aufrechte Körperhaltung hat, ist auch ein aufrechter Mensch: »Wenn eener jung is – und jesund – und grade Knochen hat – ick meine – wenn eener ›n richtiger Mensch is, det is doch de Hauptsache, nich?«. (39)
»Staatsbürjerliche Pflicht, Recht woll ick sagen« Dabei weist »richtig« nicht nur auf eine moralische Grundhaltung hin, sondern wirkt in der Bedeutung von ›im wahren Sinne des Wortes‹ auch ein- und ausschließend, obgleich diese In- und Exklusion mit dem ständigen Hinweis auf ›Mensch-Sein‹ unter der Maske der Universalität kaschiert wird. Mit Joseph Vogl handelt eine »Politik der Nation« stets »doppelzüngig«: »Sie spricht die Sprache der Staatsbürgerschaft und der
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Ute Planert, »Der dreifache Körper des Volkes: Sexualität, Biopolitik und die Wissenschaften vom Leben,« Geschichte und Gesellschaft 26, 4 (Okt.-Dez., 2000): 539-576, hier: 553. Ute Frevert, »Das Militär als ›Schule der Männlichkeit‹. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert,« in Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, Hg. dies. (Stuttgart: Klett-Cotta, 1997): 145-173.
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Universalität und meint doch immer wieder nur eine verhohlene cosa nostra«.50 Diese Scheinuniversalität hat zur Folge, dass im Stück denjenigen die Existenzberechtigung entzogen wird, die nicht ›gedient‹ haben. Zahlreiche Textbeispiele veranschaulichen dies. Erst durch den Dienst »wird man wieder ›n Mensch« (27), so Hauptmann von Schlettow. Der Uniformschneider Wormser, der dem gerade zum Leutnant beförderten und zukünftigen Bürgermeister von Köpenick, Obermüller, eifrig nach dem Mund redet, ist seinerseits davon überzeugt, dass Mensch-Sein erst mit dem militärischen Grad des Leutnants anfängt: »Muß ›n schönes Gefühl sein, wenn man auf einmal mit Herr Leutnant angeredet wird, das schmeichelt den Gehörknöchelchen. Wissen Sie, ich sage immer: vom Gefreiten aufwärts beginnt der Darwinismus. Aber der Mensch, der Mensch fängt erst beim Leutnant an, is nich so, is nich so?«. (54) Wormsers Aussage wird von einem im Text als ›Vorwärts-Leser‹ angedeuteten Sozialdemokraten im Einwohnermeldeamt bestätigt, wenn er miterlebt, wie ein Leutnant das Meldeamt ungeachtet der langen Reihe Wartender einfach schließt, ohne eine andere Legitimierung als den Zirkelschluss »Befehl ist Befehl« (80): »Na, jetzt kenn wa einpacken. Nu is aus. Fürs Militär, da hamse nemlich Zeit, da hat ›n Staatsbürjer keine Existenz gegen.« (80) Wie sehr sogar der Sozialdemokrat die militärische Logik von Autorität und Gehorsam internalisiert hat, zeigt dessen zweimaliger freudscher Versprecher, wenn er Anspruch auf seine »staatsbürjerliche Pflicht, Recht woll ick sagen« (78,79) erhebt. Militärische Pflicht und staatsbürgerliches Recht sind im Stück also unlösbar verschränkt. Im wilhelminischen Kaiserreich ist man nur dann Teil der »Menschenordnung« (99), wenn man seine Bürgerpflicht getan, das heißt Wehrdienst geleistet hat. Dies macht nicht zuletzt die emphatische Frage »Haben Sie gedient?« (35, 36, 101, 112, 119) deutlich, die sich als roter Faden durch den dramatischen Text hindurchzieht und zur Floskel wird. Sie bezeugt zudem, dass die Gesellschaft selbst nach den militärischen Mustern von Rangordnung und Hierarchie, Befehl und Gehorsam organisiert ist. Dementsprechend führt Voigts Schwager Friedrich Hoprecht, der als preußischdeutscher Beamter schlechthin dargestellt wird, die von Voigt bestrittene (moralische) ›Richtigkeit‹ der staatlichen Ordnung auf die streng hierarchische und schnurgerade Form einer militärischen Truppe zurück: »Hoprecht: Wer ›n Mensch sein will – der muß sich unterordnen, verstanden?! Voigt: […] Denn muß de Ordnung richtig sein, Friedrich, det isse nich! Hoprecht: Sie is richtig! Bei uns is richtig! Schau dir ne Truppe an, in Reih und Glied, denn merkste’s! Wer da drin steht, der spürt’s! […] Dann biste’n Mensch – und dann haste ne menschliche Ordnung!« (99) Auch Bürgermeister Obermüller, der sich als Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei linksliberal orientiert, beruft sich für die Beschreibung des idealen Gesellschaftsmodells auf militärische Strukturen, indem er die »Volksgemeinschaft« mit dem preußischen »Volksheer[…]« gleichsetzt:
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Joseph Vogl, »Einleitung,« in Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Hg. ders. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1994), 7-30, hier: 17.
3. Zauber der Uniform
»Das Große ist bei uns die Idee des Volksheeres, in dem jeder Mann den Platz einnimmt, der ihm in der sozialen Struktur der Volksgemeinschaft zukommt. […] Die Idee der individuellen Freiheit verschmilzt bei uns mit der konstitutionellen Idee zu einem entwicklungsfähigen Ganzen. Das System ist monarchisch – aber wir leben – angewandte Demokratie!« (56) Das Modell des Volksheeres setzt eine autoritäre, streng hierarchisch strukturierte und maskuline soziale Ordnung voraus, der sich »jeder Mann« ›freiwillig‹ unterwirft. Anders als Obermüller glauben lassen möchte, ist seine Begeisterung für eine konstitutionelle Monarchie, auf der er die Überlegenheit Deutschlands gegenüber anderen, das heißt republikanischen Nationen basiert, alles andere als demokratisch inspiriert. Seine politischen Überzeugungen scheinen denen des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck zu entsprechen, dessen Reichsverfassung die Herrschaftsstrukturen des absolutistischen Staates im Grunde genommen bewahrte und konsolidierte – ein offizielles Porträt des ›Eisernen Kanzlers‹ hängt übrigens in Obermüllers Amtszimmer.
»Befehl ist Befehl« Ein wichtiger Aspekt dieser autokratisch ausgerichteten Monarchie ist die sogenannte Kommandogewalt des Königs, der seit der Jahrhundertwende durchgängig als ›Oberster Kriegsherr‹ bezeichnet wurde.51 Weil im Zuge der Revolutionen von 1848 der Staat zwar konstitutionalisiert, die preußische Monarchie aber nicht entmilitarisiert wurde, mit anderen Worten die Entscheidungsvollmacht in zivilen und militärischen Angelegenheiten nicht zusammengeschlossen wurde, konnte die preußische Armee gleichsam als »Prätorianergarde« unter dem persönlichen Befehl des Königs weiterexistieren.52 Von der parlamentarischen Kontrolle weitgehend abgeschirmt, wurde so ein Stück preußischer Partikularismus ins deutsche Kaiserreich eingearbeitet.53 Diese Eigentümlichkeit der preußischen Militärverfassung wird in Der Hauptmann von Köpenick auf humoristische Weise angeprangert, wenn es Wilhelm Voigt ohne andere Legitimation als die Autorität seiner Uniform gelingt, sich ein ganzes Wachkommando zu unterstellen und den Bürgermeister von Köpenick abzusetzen, »auf allerhöchsten Befehl Seiner Majestät des Kaisers und Königs« (119), so behauptet er zumindest. Sträubt sich Obermüller anfangs noch einigermaßen, wird sein Widerstand mit Voigts Verweis auf die absolute Kommandogewalt unmittelbar im Keim erstickt: »Sie sind doch Soldat. Sie wissen doch, daß ein Kommando vor Gewehr absolute Vollmacht bedeutet.« (126) Die Szene im Köpenicker Rathaus ist eine wörtliche Mimikry der oben beschriebenen Geschehnisse im Meldeamt: »Haben Sie gedient?«, so Voigt, »Dann wissen Sie doch, daß jeder Widerstand nutzlos ist. Befehl ist Befehl.« (119) Der pflichtbewusste Obermüller bezweifelt die staatliche Ordnung nicht und befolgt ohne Widerspruch die Befehle des vermeintlichen Hauptmannes, auch wenn dies bedeutet, dass er unter Aufsicht eines seiner Untergebenen als Gefangener nach Berlin abtransportiert wird. Sobald die Autorität des Militärs angesprochen wird, zählen die individuellen Freiheiten 51 52 53
Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 688. Ebd., 687. Ebd., 687-688; Clark, »Preußenbilder im Wandel,« 318-319.
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und konstitutionellen Rechte in Preußen »selbstverständlich« (123) – so die Antwort des Stadtkämmerers Rosencrantz auf einen Befehl Voigts – nicht mehr: »Frau Obermüller: Ist denn da gar nichts zu ändern? Voigt: Leider nein, gnädige Frau. Sie wissen, wenn man als Offizier einen Befehl kriegt – es mag einem persönlich sehr wider den Strich gehen – aber dafür ist man Soldat. Frau Obermüller: Oh, vielen Dank.« (123-124) Die widerstandslose Kapitulation der zivilen Verwaltung beim militärischen Coup im Köpenicker Rathaus stellt sich gleichsam als eine soziale Gesetzmäßigkeit dar, die »in der Natur der Sache« (141) liegt, so erklärt Voigt später dem Kriminaldirektor. Damit formuliert das Stück 1931 auch eine zeitgenössische Warnung, wird doch die Einschränkung und letztendliche Eliminierung der in der Weimarer Verfassung angelegten demokratischen Elemente in gewisser Hinsicht schon durch die grundsätzliche Passivität der liberalen und sozialdemokratischen Politiker, die im Bürgermeister Obermüller ihr fiktives Pendant haben, vorbereitet.54 Tatsächlich greift das Stück fast prophetisch dem sogenannten Preußenschlag des 20. Juli 1932 vor, der in der Historiografie gemeinhin als Auftakt zur Machtergreifung Hitlers beschrieben wird. Mit dieser staatsrechtlich umstrittenen Aktion einer vom Reichspräsidenten Hindenburg erlassenen Notverordnung wurde die Absetzung des ›roten Zaren‹ Otto Braun und der sozialdemokratischen Staatsregierung Preußens, die oft als letztes »Bollwerk der Demokratie«55 der Weimarer Republik beschrieben wird, verfügt. Auch in der politischen Realität leistete die preußische Verwaltung gegen diesen Staatsstreich keinen Widerstand. Joseph Goebbels notierte in seinem Tagebuch: »Alles rollte wie am Schnürchen ab. Die Roten sind beseitigt. Ihre Organisationen leisten keinen Widerstand. Der Generalstreik unterbunden. Die Roten haben ihre große Stunde verpasst. Die kommt nie wieder.«56
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Für Analogien zwischen der politischen Mentalität des Kaiserreichs und der Weimarer Republik: Grenville, »Authoritarianism Subverting Democracy«. »›Ein Bollwerk der Demokratie‹. Der australische Historiker und Bestsellerautor Christopher Clark über Preußen und den deutschen Sonderweg,« Spiegel Special Geschichte 3, 156-159, hier: 156. Im Freistaat Preußen waren von März 1920 bis Juli 1932 die Sozialdemokraten unter der Führung von Otto Braun an der Macht. Während die Weimarer Republik zwischen 1919 und 1933 insgesamt 12 Kanzler und 21 Reichskabinette erlebte, erwies sich Preußen politisch bemerkenswert stabil. Trotzdem bedarf der apologetischen Umschreibung von Preußen als »Bollwerk der Demokratie« eine Nuancierung. Denn bis zum Ende der Republik stand keine andere gesellschaftliche Elite in derartiger Opposition zur parlamentarischen Demokratie wie die preußischen Junker. Der Historiker Stephan Malinowski hat zudem die Affinitäten zwischen dem preußischen Adel und dem Nationalsozialismus überzeugend dargelegt. Stephan Malinowski, Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NS-Staat (Berlin: Akademie-Verlag, 2003). Zitiert nach Bernd Ulrich, »Anfang vom Ende der Weimarer Republik,« Deutschlandfunk, 20. Juli, 2007, https://www.deutschlandfunk.de/anfang-vom-ende-der-weimarer-republik.871.de.html?d ram:article_id=125941 (abgerufen 22.06.2018).
3. Zauber der Uniform
Zauber der Montur Die Frage, ob dieser Kniefall vor der auratischen Macht der Uniform und den durch sie verkörperten Institutionen und Strukturen nun ein typisch deutsches beziehungsweise preußisches Phänomen sei, ist nicht nur von der Geschichtsschreibung, sondern auch in der Literatur immer wieder gestellt worden. Nicht nur Carl Zuckmayers ›deutsches Märchen‹, sondern auch Heinrich Heines Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) oder Heiner Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen (1976) rücken allein schon durch ihre Titel die Frage nach dem exemplarisch ›Deutschen‹ oder ›Preußischen‹ (kritisch) in den Vordergrund und nehmen mit ihrer Genreandeutung die durch sie thematisierte imaginäre Wirkung der Uniform vorweg. Auch der 2018 herausgebrachte und auf wahren Begebenheiten basierende Film Der Hauptmann des Regisseurs Robert Schwentke über die historisch unterbelichteten Grausamkeiten der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg befragt den bedingungslosen Respekt vor der Uniform als typisch deutsches Charakteristikum. Durch die explizite Anspielung auf die Anekdote des Hauptmanns von Köpenick schreibt Schwenke ihn, so scheint es, zum preußisch-deutschen Verhängnis um.57 Eine Hauptmannsuniform in einem zurückgelassenen Fahrzeug genügt, um die Verwandlung des Deserteurs Willie Herold in den blutdürstigen ›Henker vom Emsland‹ zu vollziehen, dem es ohne eine andere Legitimation als den fingierten und nur halbherzig geprüften Befehl »von ganz oben« gelingt, in einem Strafgefangenenlager ein Massaker anzurichten. Ein Blick in den Seitenspiegel des Autos vollführt die Metamorphose Herolds: Er richtet sich auf, der Tonfall wird bissig. In einer eigenartigen Dialektik von Zeigen und Verhüllen wirkt die Uniform wie ein märchenhafter Tarnumhang, der den natürlichen Körper unter sich wegzaubert. Nur der Uniform selbst wird Autorität angedichtet, bis auf den Punkt, dass die ehemaligen Verfolger des Deserteurs ihr einstiges »Schweinchen«, wie sie Herold am Anfang des Films hinterherriefen, in der Uniform gar nicht mehr erkennen und ihm bedingungslos gehorchen.58 Diese auratische Wirkung der Uniform wird in Der Hauptmann von Köpenick von den Figuren mehrmals angesprochen und mittels Strategien der literarischen Übertreibung satirisch in ihrer Scheinhaftigkeit entlarvt. Wie im Film verzaubert die Uniform sowohl ihre Träger als ihre Betrachter. »So eine Uniform hebt entschieden«, gibt Obermüller zu, während er sich wohlgefällig im Spiegel mustert, »es geht ein gewisser Zauber von ihr aus.« (56) »[D]e Leite […] sin geblendet vonneme solchene Glanz«, so versichert der Trödler Krakauer Voigt, wenn dieser eine fleckige Hauptmannsuniform im Straßenstand betrachtet, »Da, schaunse sich an, den Glanz, die Nobleß, das Material, das teire Tuch, de seidne Fitterung, den roten Kragen, de blanken Kneppe – isse’s nich e Wunder?«. (103) Wenn Voigt die Uniform anzieht, ist der gerissene Verkäufer ironischerweise selbst vom ›Glanz‹ des Kleidungsstücks geblendet und redet ihn nun ständig mit ›Herr Hauptmann‹ an. So werden jene zirkulären Anerkennungsdynamiken, die im Stück über den äußeren Schein entstehen und über die Autorität erst hergestellt wird, 57 58
Robert Schwentke, Der Hauptmann, 15. März, 2018. »Der Hauptmann. Offizieller Trailer,« Youtube, hochgeladen von Weltkino Filmverleih, 15. Jan., 2018, https://www.youtube.com/watch?v=uD-Z3WQMLMM (abgerufen 22.06.2018).
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auf hyperbolische Weise aufgedeckt: »Wie der Mensch aussieht, so wird er anjesehn.« (33) In Anlehnung an Ernst Kantorowizcs Zwei-Körper-Lehre wird der (recht klägliche) natürliche Körper Voigts gleichsam mit einem zweiten, politischen Körper überschrieben, der aus der Summe imaginärer Zuschreibungen anderer besteht und den natürlichen Körper unter sich verblassen lässt:59 »[S]one Uniform, die macht det meiste janz von alleeine« (141), bezeugt Voigt später im Polizeibüro. Die Rhetorik der Uniform überzeugt so sehr, dass Voigt – genau wie Herold – keinen Ausweis oder Haftbefehl vorzeigen muss, um seinen Auftrag ›im Namen des Kaisers‹ zu bescheinigen. Obgleich Frau Obermüller zunächst noch Argwohn hegt, ist es der Bürgermeister selbst, der seiner Frau versichert, dass »der Mann nur seine Pflicht [tut], einfach Befehl [hat]«: »Legitimation? Ja gar keine. Er ist doch Hauptmann«. (125) Am Ende erweist sich also derjenige, dem alle Macht zusprechen, als wirklich mächtig,60 auch wenn die Investitur, die als »zentrales Ritual der Begründung von Herrschaft«61 gilt, nicht im öffentlichen Raum, sondern in einer Toilette im Bahnhof stattgefunden hat. Das Stück stellt so auf satirische Weise die Abhängigkeit der Autorität von Fiktionen heraus, die aufs Engste mit den sozialen Bedingungen des Sehens verknüpft sind.62 Dass es dabei egal ist, dass die Uniform inzwischen total verlottert und verschmutzt ist, führt den Uniformtaumel ad absurdum. De facto ist der auratische Bann des sogenannten »Kaisers Rocks« aber schon von Anfang an durchbrochen, weil man die Uniform nicht, wie Voigt glaubt, vom Kaiser höchstpersönlich erhält, sondern sie einfach im Uniformladen kaufen kann.63 Dass Kleider Leute machen, wird nicht nur anhand der Figur von Wilhelm Voigt, sondern auch anhand der des Hauptmanns von Schlettow auf tragisch-ironische Weise in Szene gesetzt. Der Hauptmann erzählt dem befreundeten Arzt Jellinek, wie sehr die Uniform für ihn ein Mittel der Selbstbehauptung und Selbstermächtigung ist: »In Uniform, […] da is man ›n ganz anderer Kerl. Wissense – in Staatsbürjerkluft – da komm ick mir immer vor wie ne halbe Portion ohne Mostrich.« (24) Erst die Uniform macht ihn zum ›Kerl‹, wirkt auf seinen Körper ein, gibt ihm den »Halt« (24), macht ihn schneidig. Die Investitur bedeutet aber nicht nur eine Transformation des Körpers, insofern sie die Körperdressur des Soldaten unterstützt, sondern auch eine organische Verschmelzung, die die Formalisierungs- und Disziplinierungsverfahren durch die Uniform als lebendigen Naturprozess erscheinen lässt. Der Körper und die Uniform bilden eine natürliche Einheit, als wäre, wie Hermann Broch den preußischen Offizier Joachim von Pasenow im ersten Teil der Schlafwandler-Trilogie behaupten lässt, »die Uniform eine direkte Emanation der Haut«.64 »Det is keen Rock mehr«, beteuert auch der Zuschneider Wabschke, wenn Hauptmann von Schlettow die neue Uniform anzieht, »det is ›n
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Koschorke, »Macht und Fiktion,« 79; auch Krammer weist diesbezüglich auf Kantorowizcs ZweiKörper-Lehre hin. Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 96. Koschorke, »Macht und Fiktion,« 75. Thomas Frank, »Investitur, Devestitur,« in Des Kaisers neue Kleider, 218-232, hier: 222. Susanne Lüdemann, »Beobachtungsverhältnisse,« in Des Kaisers neue Kleider, 85-94, hier: 85. Krammer, »Das Drama mit der Uniform,« 102. Hermann Broch, »Die Schlafwandler,« in Hermann Broch. Das dichterische Werk. Kommentierte Werkausgabe. Teil I: Bände 1-8, Hg. Paul Michael Lützeler (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986), 26.
3. Zauber der Uniform
Stick vom Menschen«. (38) Die Uniform sitzt laut Wabschke wie »anjewachsen«, wie »de eigne Haut«, als wäre der Hauptmann mit ihr »uff de Welt jekommen«. (8) Wormser vergleicht den Uniformstoff sogar mit Pferdehaut und scheint damit das besonders in konservativ-revolutionären Kreisen populäre Konzept der Zucht aufzugreifen, das in seiner Mehrdeutigkeit nicht nur auf das pädagogische Projekt der Körperdressur -und Sozialisation hindeutet, sondern auch jenen biologistischen (Rassen-)Diskursen entspricht, die in den 1920er Jahren verstärkt aufkamen. Wie schon erwähnt wurde, setzt Oswald Spengler für seinen technokratischen Staatsentwurf mehrmals hippologische Metaphern ein. Der Staat wird dann als ein »Gestüt«65 vorgestellt, das fitte »Rassenpferde«,66 das heißt ein leistungsfähiges und staatstragendes Elitenkollektiv züchten soll. Diesem Diskurs ist aber von Anfang an eine strukturelle Aporie eingeschrieben, insofern beim Abrichtungsprozess immer auch ein (verdrängter) Rest der tierischen Natur, des unbeherrschten und widerspenstigen Lebens selbst, übrig bleibt, der jeden Moment auszubrechen vermag. Außerdem wird dieser Diskurs im dramatischen Text parodiert, indem nicht einfach von Pferdehaut, sondern von einem »frisch gewichste[n] Pferdepopo« (9) die Rede ist. Wenn Hauptmann von Schlettow dann im Café National ausnahmsweise mal ohne Uniform erscheint, wird er nicht in seiner Rolle als Hauptmann anerkannt: »Ohne Charge biste for mir ›n janz deemlicher Zivilist!!« (33), erwidert ihm ein betrunkener Grenadier, nachdem Schlettow ihn ohne Erfolg auf seine soldatischen Pflichten hingewiesen hat. Anlässlich der Streiterei wird der Hauptmann sogar verhaftet. Nachdem nicht nur die vestimentäre, sondern auch die staatliche Ordnung derart auf den Kopf gestellt worden ist, sieht Schlettow keine andere Möglichkeit, als aus seinem geliebten Militär auszuscheiden und ein ziviles Leben als Landwirt anzufangen. Die Devestitur des ›bunten Rockes‹ besiegelt symbolisch das Ende seiner militärischen Karriere. Gerade als Schlettow seinen Abschied einreicht, bringt ihm Wabschke die neue Uniform, die er zwar kurz anprobiert, aber dann auch schnell wieder auszieht. »Was wollense denn, ich will ja« (39), sagt Schlettow vorwurfsvoll zu Wabschke, wenn ihn dieser noch umzustimmen versucht. Die Szene erinnert vage an das vielleicht bekannteste literarische Krisenmoment heroisch-soldatischer Männlichkeit des 20. Jahrhunderts, wenn der österreichische Schriftsteller Arthur Schnitzler seinen Protagonisten Leutnant Gustl aufgrund des Schreckbildes einer nahenden Devestitur den Freitod ›wählen‹ lässt: »Ich muß! Ich muß! Nein, ich will! – Kannst du dir denn überhaupt vorstellen, Gustl, daß du dir die Uniform ausziehst und durchgehst?«.67 In beiden Fällen betrachten die Figuren die Uniform als einen quasiuntrennbaren Teil ihrer (männlichen) Identität – Gustl kann sich sogar keine Existenz außerhalb der Uniform mehr vorstellen. Auch wird, was Sache einer Entscheidung ist und also anders hätte sein können, aus nahezu pathologischer Ordnungsliebe zunächst zu einer Notwendigkeit oder zur schlichten Pflichterfüllung umgeschrieben, die dann – gemäß der (pervertierten) Logik des kategorischen Imperativs – als freier Wille präsentiert wird.
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Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. 1, 520. Spengler, Jahre der Entscheidung, 181. Arthur Schnitzler, Lieutenant Gustl (Hamburg: fabula, 2014 [1906]), 36.
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»Ordnung muß sein« Diese formalistische Ordnungsliebe zeigt sich nicht nur an der Figur des Hauptmanns von Schlettow, sondern auch an den anderen Staatsdienern im Stück. Der Oberwachtmeister im Potsdamer Polizeibüro sowie der Polizeiinspektor im Köpenicker Rathaus behalten die ganze Zeit die Uhr im Auge, die das Ende ihrer Dienststunde anzeigt; weiter ist das Schlafzimmer des Bürgermeisters Obermüller mit zwei exakt gehenden Uhren ausgestattet. Außer in Pünktlichkeit manifestiert sich die Ordnungsliebe auch in einem extremen Hang nach Sauberkeit. So nimmt der Stadtschutzmann Kilian dem Bürgermeister beim Eintreten unmittelbar den Regenschirm ab und zieht ihm die Gummischuhe aus. Bei keiner anderen Figur ist der Ordnungssinn aber so ausgeprägt wie beim Beamten Friedrich Hoprecht, für den die Ordnung des Staates absolut und nicht-hinterfragbar ist. Nicht nur gewährt sie als nahezu metaphysische Größe dem Leben einen tieferen Sinn, sondern sie ist der Garant menschlicher Existenz: »Wir leben in ›n Staat – und wir leben in ne Ordnung – da kannste dir nicht außerhalb stellen, das darfste nich! […] da mußte dich wieder reinfügen. […] ›n Mensch biste überhaupt nur, wenn du dich in ne menschliche Ordnung stellst! Leben tut auch ne Wanze!«. (99) Hoprechts Trennung vom Leben in einer staatlichen Ordnung und dem (Über-)Leben als solches erinnert an Giorgio Agambens Unterscheidung zwischen bios, das heißt dem politisierten, ›wertvollen‹ Leben, und zōē, das heißt dem ›nackten Leben‹ jener Gruppen, die aus der politischen Ordnung verbannt und also vom Mensch-Sein ausgeschlossen werden.68 Diejenigen, die sich außerhalb der politischen Ordnung stellen, sind nach Hoprechts Ansicht nicht mehr als Wanzen, eklige Tiere, die der menschlichen Ordnung höchstens in einer parasitären Weise anhaften können. Für Hoprecht gehen »Recht und Ordnung über alles, das weiß jeder Deutsche!« (100) und er definiert dieses Recht in Anlehnung an den kantschen Pflichtbegriff als dasjenige, was »Gesetz« ist: »Es geht ja nicht nach dem, was einer möchte, es ist ja für alle da.« (97) Das bedeutet auch, dass es in der gut geölten Maschinerie des preußisch-deutschen Rechtstaates, in der »jeder zu Seinem« (97) kommt und »jeder dran [kommt], wenn er dran is« (78), kein Unrecht geben kann: »Bei uns gibt’s kein Unrecht! Wenigstens nicht von oben runter!«. (100) Dass Hoprecht seine militärische Beförderung, für die er eigentlich doch »an der Reihe« (66) war, nicht bekommen hat, ändert seine Meinung keineswegs: Man muss dieses »Unglück« (nicht Unrecht) einfach »tragen – wie ›n Mann.« (98) Dieser extreme Ordnungssinn spiegelt sich auch in der Kleidung der Figuren wider. So beschreibt Frau Hoprecht ihren Mann als einen »Feind von jede Unregelmäßigkeit« (65), gerade im Moment, wenn sie die Knöpfe seiner Unteroffiziersuniform mit einem putzmittelgetränkten Lappen bearbeitet. Tatsächlich werden die staatliche und die vestimentäre Ordnung im Stück konsequent miteinander verschränkt. So wie die Uniform als ›Kaisers Rock‹ die staatliche Ordnung repräsentiert, so muss sie von ihren Trägern piekfein in Ordnung gehalten werden:69 »Wenn ich mir ne neue Montur bauen lasse«, so Hauptmann von Schlettow, »denn muß nu alles tadellos in Form sein, da heb 68 69
Giorgio Agamben, Homo Sacer: Sovereign Power and Bare Life (Stanford: Stanford University Press, 1998). Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 101.
3. Zauber der Uniform
ich meine Freude dran«. (12) Diese Ordnungsliebe ahmt Voigt als falscher Hauptmann parodistisch nach, wenn er im Rathaus einen schlafenden Polizeiinspektor mit offenstehendem Uniformkragen zur Ordnung ruft: »Bringen Sie mal gefälligst Ihre Kleidung in Ordnung. […] Na ja, Ordnung muß sein.« (121) Die Ordnung, die Voigt hier in Bezug auf die Kleidung des Polizeiinspektors abverlangt, überträgt er kurz danach fast wortwörtlich auf dessen Polizeigewalt:70 »Sorgense mal für Ruhe und Ordnung gefälligst!«. (121)
»Ordnung muss sein« [A]: Die Uniform Wie auch Krammer andeutet, zeigt sich Ordnung im Stück immer wieder als Selbstzweck.71 Auf vestimentärer Ebene wird das an keiner anderen Figur so deutlich wie am Hauptmann von Schlettow. Beim Anziehen des neu geschneiderten Uniformrocks spürt er unmittelbar, dass »da was nich in Ordnung« (7) ist, so lauten die ersten Worte des Stückes. Und in der Tat: Es stellt sich heraus, dass die Gesäßknöpfe den gesetzlichen Vorschriften um einen halben Zentimeter nicht entsprechen. »An den Kleinigkeiten, daran erkennt man den Soldaten«, sagt der Hauptmann triumphierend, »darauf is alles aufgebaut«; genau wie beim militärischen Stechschritt »steckt [da] ›n tieferer Sinn drin«.72 (10) Diesen formalistischen Prozess der Körperdisziplinierung, der mittels der Uniform und des Paradeschritts verbildlicht wird, füllt Schlettow aber nicht nur mit diesem nicht näher bestimmten ›tieferen Sinn‹, sondern auch mit der Illusion von Leben: »Aufn bunten Rock kein Stäubchen – das ist mir Lebensaufgabe.«73 (24) Die Körperdisziplinierung wird zudem mittels einer ästhetischen Bildsprache umgedeutet und sublimiert, indem die Uniform, in ihrer organischen Verschmelzung mit dem natürlichen Körper, als ein in sich beschlossenes, vollendetes »Kunstwerk« dargestellt wird, das »wirklich tadellos« ist, an dem »nichts fehlt«. (38) So entspricht die Uniform der intransitiven Struktur des Ornaments, das auf nichts anderes als auf sich selbst verweist und seine Vollendung und Erfüllung lediglich in sich selbst findet: »Das Ornament ist sich Selbstzweck« [Herv. i.O.],74 schreibt Siegfried Kracauer in seinem berühmten Essay 70 71 72 73
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Ebd., 102. Ebd., 101. »Die Disziplin ist eine politische Anatomie des Details«, schreibt Michel Foucault pointiert in Überwachen und Strafen, 178. Diese Umdeutung des Körperdisziplinierungsprogramms in einen natürlichen Prozess findet sich auch im Roman Pasenow oder die Romantik von Hermann Broch. In diesem ersten Teil der Schlafwandler-Trilogie wird dem Uniformknopf ebenfalls eine wichtige Rolle zugeteilt: »So wird dem Mann, der des Morgens seine Uniform bis zum letzten Knopf geschlossen hat, tatsächlich eine zweite und dichtere Haut gegeben, und es ist, als ob er in sein eigentliches und festeres Leben zurückkehre.« Dass dieser natürliche Prozess aber im Grunde genommen ein Mortifikationsprozess ist, der das Leben selbst zu beseitigen sucht, verdeutlicht schon die darauf folgende Hinzufügung: »Abgeschlossen in seinem härteren Futteral, verschlossen mit Riemen und Klammern, beginnt er seines eigenen Untergewandes zu vergessen und die Unsicherheit des Lebens, ja das Leben selbst rückt fern ab.« Broch, Die Schlafwandler, 24. Eine solche rhetorische Umdeutungsstrategie verwendet auch Ernst von Salomons Icherzähler in Die Kadetten, wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde. Siegfried Kracauer, »Das Ornament der Masse,« in Das Ornament der Masse. Essays. Mit einem Nachwort von Karsten Witte (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1963), 50-63, hier: 52.
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»Das Ornament der Masse« aus dem Jahr 1927. Oder wie es Jackie Kennedy in Elfriede Jelineks Theaterstück ausdrückt: »Es kann unmöglich sein, daß etwas fehlt, weil sonst alles fehlen würde.«75 Hinter dieser Rhetorik der Ganzheit und des tieferen Sinnes klafft aber eine bedeutungslose Leere, die auch die exzessive Häufung von Ornamenten, Insignien und Details nicht schließen kann. Die unterschiedlichen Uniformen und Uniformstücke auf der Bühne sind oft nicht an einem Körper gebunden, sondern fungieren als leeres Dekorationselement oder Requisit, hängen an Kleiderhaken oder Türen und erscheinen auf »Holzpuppen ohne Kopf « (7).76 Zudem wird die Hauptmannsuniform, die die dramaturgische Handlung vorantreibt, von Figur zu Figur weitergegeben; es gelingt ihr also nicht, im funktionalen Sinne Uniform zu sein.77 Hauptmann von Schlettow will die Uniform, die er beim Hoflieferanten Wormser bestellt hat, nicht mitnehmen, weil die Gesäßknöpfe nicht richtig sitzen. Auch die nachgearbeitete Uniform kann er als Hauptmann außer Dienst nicht mehr tragen und er gibt sie Wormser in Kommission. So landet die Uniform im Schrank des Reserveleutnants und späteren Bürgermeisters Obermüller. Als dieser sie nach zehn Jahren für ein Kaisermanöver braucht, ist sie ihm zu eng geworden. Zwar versucht seine Frau noch, den umfänglichen Körper in die Uniform hineinzuzwingen und sie mit Gewalt zu schließen – »du nimmst dich zusammen, das fehlt noch, daß du jetzt einfach schlappmachst« (74) –, aber durch ihre unsanfte Vorgehensweise reißt die Uniform. Der Knopf, den Frau Obermüller zusammen mit einem Stofffetzen in der Hand behält und der sozusagen auf »Wache an der Grenze zwischen Hülle und Körper«78 steht, fungiert als Pars pro Toto für seinen entmachteten, durch die sexuelle Konnotation von ›schlappmachen‹ geradezu kastrierten Träger. Das Abreißen des Knopfes impliziert nicht nur eine tatsächliche berufliche Degradierung, sondern auch eine symbolische Entblößung oder gar Entmannung.79 75 76 77 78 79
Jelinek, »Der Tod und das Mädchen IV (Jackie),« 83. Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 99. Ebd., 100. Mona Körte, »Aus dem Leben der Knöpfe,« in Von Kopf bis Fuß, 113-118, hier: 117. Auch im Roman Radetzkymarsch von Joseph Roth sind die »festen Knöpfe[…]« des Protagonisten Carl Joseph Trotta für die Geschlossenheit des männlichen Körpers zuständig und sollen ihn vor den (erotischen) Regungen des Lebens selbst abriegeln, wie dies auch im bereits zitierten Romanfragment Pasenow und die Romantik von Broch der Fall war: »Auf einmal lagen ihre beiden schimmernden Ärmel an seinem Hals, und ihr Gesicht lastete auf seinen Haaren. Er rührte sich nicht. Aber sein Herz klopfte laut, ein großer Sturm brach in ihm aus, krampfhaft zurückgehalten vom erstarrten Körper und den festen Knöpfen seiner Uniform.« Joseph Roth, Radetzkymarsch, (Berlin: Verlag der Contumax, 2015 [1932]), 29. Außerdem schenken literarische Texte dem Knopf einer militärischen Uniform auffallend oft Aufmerksamkeit, wie Mona Körte dargelegt hat. In Robert Walsers »Rede an einen Knopf« aus dem Jahr 1915 gesteht der Icherzähler einem schon ziemlich verschlissenen Hemdknopf seine Liebe und dankt »diese[m] treuherzigen und bescheidenen kleinen Burschen« für die »lange[…], geduldige[…] Dienstzeit«. Robert Walser, »Rede an einen Knopf,« in Poetenleben, Hg. ders. (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1986 [1915]), 108-110. Im Roman La Guerre des boutons von Louis Pergaud wird eine Fehde zwischen den Heranwachsenden zweier Dörfer mit einem Kampf um die Knöpfe geschlichtet. Die Knopfjagd fungiert als Ersatz für die Kopfjagd: Die Jugendlichen schlitzen sich die Knopflöcher auf und schneiden die Knöpfe von Hemd und Hose. Louis Pergaud, La Guerre des boutons (Paris : Mercure de France, 1912). Für diese Hinweise: Körte, »Aus dem Leben der Knöpfe,« 113-114.
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Die gerissene Uniform taugt jetzt höchstens noch für einen Maskenball, konkludiert Wabschke, und so trägt sie Auguste Victoria Wormser, die Tochter des Uniformschneiders, tatsächlich zum Kaisermanöverball, auf dem sie zu Ehren der anwesenden Husaren ein feierliches Lied vorträgt. Die Uniform passt ihrer neuen Besitzerin aber wieder nicht ganz: Sie »spannt über ihrer wohlgerundeten Figur, etwas zu blonde Haare quellen kokett unter der Offiziersmütze hervor,« (87) so heißt es im Paratext. Wenn Augustes Lied zu Ende ist, bedankt sie sich nicht nur mit weiblich konnotierten Kusshändchen, sondern ahmt mit militärischen Grüßen auch den männlichen Habitus eines Soldaten nach. Das Crossdressing hat sichtbar Verwirrung gestiftet: Nach ihrer Performance wird sie von den begeisterten Zuschauern nicht nur als »Diva« (88), sondern auch als »Kamerad« (89) begrüßt. Auch in erotischer und sexueller Hinsicht werden die festgeschriebenen, heteronormativen Geschlechterverhältnisse ins Wanken gebracht: »Süß! Einfach puppig! In so’n Hauptmann könnt ich mich glatt verlieben« (88), ruft die Frau eines Majors aus, während Rittmeister von Schleinitz dem strammstehenden »Herr[n] Kamerad[en]« (89) Auguste bewundernd die Hand küsst. In einer slapstickartigen Szene wird die Uniform dann schließlich durch Willy Wormser mit Sekt bespritzt. Während Willy noch »erstarrt« dasteht, tupfen die anderen Herren schon mit Servietten an Auguste Wormser und den anderen »begossenen« Damen. (93) Das kann aber nicht verhindern, dass die befleckte Uniform jetzt zum Trödler muss, wo Wilhelm Voigt sie »fïern Maskenball« (103), so seine Worte, kauft. Die Odyssee dieses Kleidungsstücks macht auf die besondere semiotische Struktur der Uniform aufmerksam. Zwar differenzieren (klar geregelte) individuelle Merkmale wie Orden und Insignien die uniformierten Soldaten voneinander, insofern sie die unterschiedlichen funktionalen Beziehungen in dem hierarchisch strukturierten Kollektiv andeuten. Das Besondere an der militärischen Uniform ist allerdings, dass sie nicht an einem einzigen Körper gebunden ist. Gerade diese grundsätzliche Austauschbarkeit treibt Der Hauptmann von Köpenick auf die Spitze, indem das Kleidungsstück von den unterschiedlichsten Figuren angezogen wird. Dies hat zur Folge, dass die Uniform in ihrer Theatralität und Fiktionalität ausgestellt wird. Denn wie auch Krammer hervorhebt, bleibt die Uniform trotz aller rhetorischen Prägnanz ein Kostüm, eine leere Hülle, die von den Figuren beliebig an- und ausgezogen wird.80 Die offensichtliche Maskerade unterbricht spielerisch die Fiktion eines mit sich selbst identischen Ganzen, problematisiert und verunsichert die Idee einer stabilen Identität und widersetzt sich herkömmlichen Vorstellungen von Ganzheit, Vollendung und Finalität. Die Uniform scheint einfach niemandem zu passen und gelangt nicht an ihr Ziel: Niemals wird sie von einem aktiven Offizier getragen, sodass sie mit dessen Körper verschmelzen könnte. Das Stück wendet sich also in parodistischer Weise gegen die Fetischisierung der Uniform, indem es die Fetischisierung im Grunde vom Anfang bis zum Ende selbst betreibt.81 Durch diese künstliche und offensichtliche Wiederholung der permanenten (Re-)Inszenierungsmechanismen, die für die Konstruktion einer stabilen Identität unentbehrlich sind, wird jede identifizierende Bewegung von Anfang an unterbrochen. 80 81
Krammer, »Das Drama mit der Uniform zwischen den Weltkriegen,« 108. Ebd., 102.
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Der Auftritt von Auguste Wormser auf dem Kaisermanöverball führt dies vielleicht am deutlichsten vor. Von der Ehrenloge, »wie auf einem Podium dem Saal zugewandt« (86), singt sie ihr Lied, inszeniert so gleichsam ein Theater im Theater, was die Illusion von Unmittelbarkeit ins Wanken bringt. Identität stellt sich im Stück als der performative Effekt gesellschaftlicher Zuschreibungs- und Verfestigungsverfahren heraus; sie erweist sich als kontingent, plural und unmöglich abzuschließen, was durch das tatsächliche Platzen der zu stramm sitzenden Uniform bei Obermüller in humoristischer Weise veranschaulicht wird. Die Tatsache, dass Kleider Leute machen und Autorität auf »regulativen Fiktionen« basiert,82 wird nicht – gemäß der mythologischen Logik – mit einem Unsichtbarkeitsmantel kaschiert, sondern durch die unterschiedlichsten Rollen, die die Uniform erfüllt, in ihrer Maskenhaftigkeit und Pluralität zur Schau gestellt.
»Ordnung muss sein« [B]: Der Staat Nicht nur die vestimentäre Ordnung, sondern auch die Ordnung des Staates erweist sich im Stück als Selbstzweck. Als nahezu metaphysische Größe stellt sich der Staat als notwendig und nicht-hinterfragbar dar; seine Ordnung muss mit aller Gewalt bewahrt werden. Wenn sie von jemandem angegriffen wird, und sei es nur mit Worten, kommt das demzufolge einem blasphemischen Verbrechen gleich: »[D]u pochst an de Weltordnung – dat is ne Versündigung, Willem! Det änderste nich, Willem! Det änderste doch nich!!« (102), ruft Hoprecht verzweifelt aus, wenn Voigt die Richtigkeit der Staatsordnung und des Rechtssystems anficht. Diese Hochschätzung des Staates als eines Wertes an sich, die historische Wurzeln in der Lehre Martin Luthers von der Gehorsamkeitspflicht gegenüber der staatlichen Obrigkeit und vor allem im unpolitischen Staatsidealismus Hegels hat, ist ein fester Bestandteil der liberal-demokratischen Preußenkritik.83 Der dramatische Text greift deren Argument auf, dass Deutschlands starke Fixierung auf den Staat zuungunsten der Zivilgesellschaft den in anderen Staaten wohl gedeihenden demokratischen Tendenzen zuwidergelaufen sei, mit anderen Worten dass sich Obrigkeitsstaat und politischer Eskapismus gegenseitig implizieren.84 Dieser Vorwurf des als typisch deutsch gedachten politischen Immobilismus schreibt Zuckmayer aus der Perspektive des loyalen Staatsdieners Hoprecht satirisch zu einer ›gesunden‹ Stabilität um: »Bei uns in Deutschland, da is ›n fester Boden drunter, da is kein hohler Raum zwischen, da kann nichts passieren! Anderswo vielleicht, wo det Jebälke faul is […] da is Bruch! Verstehste?! Bei uns is alles jesund von unten auf – und was jesund is, det is auch richtig, Willem! Det is auf Fels jebaut!«. (99-100) So wie die ornamentale Kleiderordnung mit der Illusion von Leben gefüllt wird, wird auch dem Formalismus des Staates mit den ständig wiederkehrenden Schlüsselwörtern ›gesund‹ und ›Leben‹ ein tieferer Sinn gewährt. Der staatlichen Ordnung, die
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Koschorke, »Macht und Fiktion«, 77. Wolfgang Bergem, Tradition und Transformation. Eine vergleichende Untersuchung zur politischen Kultur in Deutschland. Mit einem Vorwort von Kurt Sontheimer (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1993), 81; Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 221. Bergem, Tradition und Transformation, 80.
3. Zauber der Uniform
auf Pflichterfüllung, Dienst und das große Ganze ausgerichtet ist, ist aber in Wirklichkeit eine (selbst-)destruktive Gewalt eingeschrieben,85 auf die der dramatische Text mit einem einfachen Wortspiel aufmerksam macht: »Hoprecht: Recht is, was Gesetz is, Willem. Es geht ja nicht nach dem, was einer möchte, es is ja für alle da. […] Voigt: Und wenn einer kaputtjeht bei, denn is er alle. Da hilft ›n kein Recht mehr, und kein Jesetz.« (97) Im Gespräch mit Hoprecht verfremdet Voigt durch die Verwechslung von »alle« als einer ›Gesamtheit‹, einem ›Kollektiv‹ einerseits und ›erschöpft, aufgebraucht‹ andererseits – ungewollt, so scheint es – eingeschliffene Denk- und Sprechgewohnheiten. In der unerwarteten Verschränkung beider Bedeutungen schimmert der Gedanke durch, dass die Gewalt einer identitären Schließungsfigur so erschöpfend ist, dass sie letztendlich implodiert, sich gleichsam selbst unterbricht. In Hoprechts Logik endet beziehungsweise kulminiert die restlose Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv in Destruktion und Tod, Opfer und Selbstopfer: »[R]einfügen mußte dich! […] Und wenn’s dich zerrädert – denn mußte det Maul halten, denn jehörste doch noch zu, denn biste ›n Opfer! Und det is ›n Opfer Wert!«.86 (101) Der pflichtbewusste Beamte skizziert so die Konturen jener »Todesgemeinschaft«, die Leben (erst wertvoll) macht, indem sie es in den Tod stößt, und die Joseph Vogl zufolge »zum Notstandsgesetz des modernen Patriotismus« geworden ist; im »heiligen Volkskrieg« von 1813, im »Augusterlebnis« von 1914 und in der goebbelschen »Volkswerdung der deutschen Nation« habe diese Gemeinschaft ihre exemplarische Form gefunden.87 Mit dem leicht abgewandelten preußischen Leitspruch »Jeder zu Seinem« (97) beendet Hoprecht sein Plädoyer für eine kadavergehorsame Todesgemeinschaft. Die Tatsache, dass der Spruch »Jedem das Seine« später am Haupttor des Konzentrationslagers Buchenwald zu lesen war, macht auf grausame Weise deutlich, dass das Phantasma identitärer Schließung in ihrer extremsten Form außer ins ›freiwillige‹ Selbstopfer auch in die schonungslose ›Ausrottung‹ desjenigen, was nicht mit dieser Gemeinschaft identifizierbar ist, münden kann. Mit den 85
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Diese Ambivalenz ist schon im vorausgeschickten Motto aus dem Märchen Rumpelstilzchen der Gebrüder Grimm präsent: »›Nein‹, sagte der Zwerg, ›laßt uns vom Menschen reden! Etwas Lebendiges ist mir lieber als alle Schätze der Welt!‹«. Zwar wird dieses Motto in der Forschungsliteratur immer wieder als Beispiel für Zuckmayers humanistisches Plädoyer für den »Willen zum Leben« und das »Menschliche überhaupt« (Große, 91, 94) angeführt, aber mit diesen Worten fordert der bösartige Zwerg von der Königin das neugeborene Kind. Wenn sie ihn überlistet und seinen Namen errät, reißt Rumpelstilzchen sich entzwei. Schon im Motto hängt der Schatten von Destruktion und Tod also über der Rhetorik des Menschlichen und Lebendigen. Vgl. Große, Textanalyse und Interpretation zu Carl Zuckmayer, 91-94. Diese Logik des Kadavergehorsams findet sich in ähnlichen Worten im Roman Der Untertan von Heinrich Mann, ein Paradebeispiel der vermeintlichen preußisch-deutschen Untertanenmentalität: »Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einmärsche, […] ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! […] Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie und zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe!«. Heinrich Mann, Der Untertan (München: deutscher Taschenbuch Verlag, 1969 [1918]), 46-47. Vogl, »Einleitung,« 16-17.
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Worten Klaus Vondungs ist der Holocaust der »Extremfall des Versuchs, Einheit und Homogenität mit Gewalt herzustellen«.88 Voigt seinerseits scheint als Außenseiter, der sich nicht in diese Ordnung einfügen will, die einzige Figur im Stück zu sein, die nicht von einer solchen Rhetorik geblendet ist und herausfühlt, dass eine Gemeinschaft auf regulativen Fiktionen basiert. Denn mit dem »Amen«, das er diesem preußischen Leitspruch noch hinzufügt, macht er – wiederum ungewollt, denn »freundlich, ohne Spott« (97) – deutlich, dass solche sinnstiftenden Denkbilder auf einem kollektiven und ritualisieren Glaubensbekenntnis durch Eingeweihte beruhen, das sie erst wirkungsvoll werden lässt. Mit seinem Staatsstreich hat Voigt diese gemeinschaftsbildende Logik so sehr auf die Spitze getrieben, dass sie sich letztendlich gegen sich selbst wendet. Die staatliche Maschine ist so fest geschraubt, dass sie am Ende in sich zusammenbricht, die Nähte der Uniform sind so eng, dass sie ständig zu platzen drohen: »Wennse [die menschliche Ordnung] man nur keen Loch hat! Wennse man nur nicht so stramm sitzt, daß de Nähte platzen!« (99), sagt Voigt zu Hoprecht. Als Außenseiter schlüpft Voigt gleichsam in dieses ›Loch‹ hinein und unterbricht die mythologische Logik von innen her, ja ›bekämpft‹ den Staat mit dessen eigenen militaristischen Denkbildern und Einheit stiftenden Fiktionen. Diese hat er ironischerweise im Zuchthaus gelernt: Das militärische Reintegrationsprogramm ist ihm tatsächlich, wie der Gefängnisdirektor schon voraussah, »im späteren Leben […] von Nutzen« (62) geworden. Schon im Zuchthaus aber werden diese imaginären Mechanismen, die für die Nation notwendig sind, um sich als homogenes Wir zu erfinden, in ihrer Konstruiertheit gezeigt. Während des ›vaterländischen Unterrichts‹ zur Feier des 40. Jahrestages des Sieges bei Sedan, der als Ursprungsmythos der deutschen Nation fungiert, spielen die Zuchthäusler auf dem Podium der Zuchthauskapelle die Schlacht anhand taktischer Anweisungen und schnauzender Befehle des Direktors nach. Die (Meta-)Theatralität stört jeden nostalgisch-pathetischen oder identifizierenden Reaktion bei den Zuschauer*innen und Leser*innen des Stückes, die der Gefängnisdirektor mit seiner Ansprache bei den Gefangenen heraufzubeschwören versuchte: »Sechzig Millionen deutsche Herzen schlagen höher bei dem Gedanken, daß heute vor vierzig Jahren unser glorreiches Heer auf blutiger Walstatt den entscheidenden Sieg errang, der uns erst zu dem gemacht hat, was wir sind.« (60) Die transhistorische Essenz, die der Direktor hier vorspiegelt, wird durch die Wiederholung der Schlacht in ihrer fiktionalen Gemachtheit entlarvt. Die vermeintliche Singularität der Gründung »zerlegt sich in eine fortwährende Iteration«,89 die Ausdruck und Effekt des anfänglichen Fehlens nationaler Identität ist und diesen Mangel zugleich zu kaschieren versucht. Diese permanente Reinszenierung, die im historischen Kontext des deutschen Kaiserreichs im jährlichen ›Sedantag‹ ihren Ausdruck fand, weist (potenziell) darauf hin, dass »das Gemeinsame und die Einheit des Kollektivs weder ursprünglich noch gegenwärtig, weder vorgegeben noch deduzierbar, sondern stets verschoben, aufgeschoben und vertagt«90 und also niemals abgeschlos-
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Klaus Vondung, »Einleitung,« in Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik, 199-202, hier: 201. So kommentiert Joseph Vogl die dekonstruktive Lektüre der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung durch Jaques Derrida. Vogl, »Einleitung,« 20. Ebd., 20.
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sen ist. Dass es in Der Hauptmann von Köpenick überdies Häftlinge sind, die die Schlacht bei Sedan nachspielen, sich dabei über die Wetterverhältnisse zanken und aus voller Brust auf imaginären Trompeten blasen, lässt die Reinszenierung schließlich zu einer grotesken Mimikry werden, die der Schlacht jede Erhabenheit und jedes identifikatorisches Potenzial nimmt.
»Die Ordnung vermisse ich« In dem Moment, als die staatlichen Instanzen herausfinden, dass sie von Voigt hinters Licht geführt worden sind, betont der Text Voigts Außenseiterposition einmal mehr. So ist der Kriminalinspektor davon überzeugt, dass es sich beim Ex-Zuchthäusler Voigt um einen »Geisteskranken« (140) handelt. Voigt erklärt ihm seinerseits, dass »det doch ›n Kind [weiß], daß man bei uns mitn Militär allens machen kann.« (141) Der Text scheint damit die Hoffnung zu nähren, dass gerade der sozial Unsichtbare die soziale Illusion der Gesellschaft zu durchschauen und aufzuheben vermag. Aber anders als in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider, das die Kleiderweber auktorial als Betrüger denunziert und dem Kind, dieser »Stimme der Unschuld«, die »privilegierte Position des gesellschaftlichen ›Wahrheitsproduzenten‹« zuteilt,91 erscheint Voigt keineswegs als Mythenzertrümmerer oder rebel with a cause. Wenn der Kriminalinspektor fragt, wie er »überhaupt zu der ganzen Sache jekommen« (140) ist, antwortet Voigt schlicht: »Det is doch janz einfach. Da braucht ick nich erst zu kommen, det kam jewissermaßen zu mir.« (141) Für seinen Schelmenstreich hat er »nichts weiter vorbereitet«; er hat sich nur die »Uniform angezogen – und denn hab ick mir ›n Befehl jegeben – und denn bin ick losjezogen und hab ›n ausjeführt.« (141) Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist Zuckmayers Auffassung vom Gattungsbegriff ›Komödie‹, die er in seinem »autobiographischen Bericht« Pro Domo aus dem Jahr 1938 darlegt: »So scheint mir Logik, Kausalität, oder, in menschlichem Bezug, Motivierung, das nebensächlichste und unmaßgeblichste aller ihrer [der Komödie] konstruktiven Elemente zu sein.«92 In diesem Licht verwundert es nicht, dass der Theaterkritiker Herbert Jhering gerade diese ›Unordnung‹ als die Schwäche des Stückes erkennt: »Kunst kann nur auf dem Boden einer Weltanschauung, einer Welteinstellung bestehen. Die Ordnung vermisse ich.«93 Tatsächlich setzt Zuckmayers Drama keine andere Ordnung an die Stelle der bestehenden Ordnung. Aber vielleicht ist das gar keine Schwäche, wie Jhering behauptet, sondern gerade die Stärke des Stückes, würde es sonst doch das Phantasma identitärer Schließung in gespiegelter Weise zu reproduzieren und die fundamentale Kontingenz jeder Gemeinschaftsform erneut mit Vorstellungen von »Logik«, »Kausalität« und »Motivierung« zu verschleiern drohen. Das Schlussbild ist in dieser Hinsicht bedeutungsvoll. Im Vernehmungszimmer des Polizeipräsidiums betrachtet sich Voigt, der jetzt nur noch Rock und Mütze trägt, im Spiegel und lacht los,
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Lüdemann, »Fetischismus«, in Des Kaisers neue Kleider, 187. Carl Zuckmayer, Pro Domo. Autobiographischer Bericht (Stockholm: Bermann-Fischer, 1938), 81. Herbert Jhering, Theater in Aktion: Kritik aus drei Jahrzehnten 1913-1933, Hg. Edith Krull, Hugo Fetting (Berlin: Henschelverlag, 1986), 492. Die Besprechung erschien ursprünglich in Berliner BörsenCourier, 6. März, 1931, 8.
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»immer mehr, lacht übers ganze Gesicht, mit dem ganzen Körper, aus dem ganzen Wesen – lacht, bis ihm der Atem wegbleibt und die Tränen herunterlaufen. Aus diesem Lachen formt sich ein Wort – erst leise, unverständlich fast – dann immer stärker, deutlicher, endgültiger, schließlich in neuem, großem, befreitem und mächtigem Gelächter alles zusammenfassend Unmöglich!!« (143-144) Zum einen bricht dieses »befreite«, befreiende und frei-bleibende Lachen endgültig den Zauber der Montur. Das ungläubige »Unmöglich« drückt aus, dass Voigt – anders als »sechzig Millionen guter Deutscher, [die] auch etwas wußten, ohne etwas zu merken«,94 so heißt es polemisch im Programm der Erstaufführung – nicht von der Aura der Uniform oder seinem Spiegelbild narzisstisch geblendet wird. Zum anderen öffnet das Lachen, wie Mikhail Bachtin in seiner Arbeit Literatur und Karneval darlegt, die Welt auf eine neue Weise: Es »drückt die fröhliche Relativität einer jeden Ordnung, Gewalt und Hierarchie aus«,95 »dekouvriert die vermeintliche ›Notwendigkeit‹ als eine relative und beschränkte.«96 So wird Voigts Mütze gleichsam zum saturnalischen Pileus, zur karnevalistischen Narrenkappe, die die Einrichtung der Welt, die jedem seinen Platz in der Ordnung zuweist, für einen Augenblick aus den Fugen bringt und die Brüchigkeit der bestehenden Machtverhältnisse blitzlichthaft aufscheinen lässt. Wie der Karneval den Wechsel feiert und nicht das, was der Wechsel jeweils bringt,97 bricht auch Der Hauptmann von Köpenick in diesem transitorischen Moment ab. So widersetzt sich das Stück monolithischen Vorstellungen von Vollendung, Vollkommenheit und Finalität. Das widerspiegelt sich auch auf der vestimentären Ebene. Indem Voigt am Ende nur noch die halbe Hauptmannsuniform trägt, wird das Phantasma des gepanzerten Körpers, nach dem die Uniform und der Körper eine organische Einheit bilden und in dessen fester Abgeschlossenheit »die Unsicherheit des Lebens, ja das Leben selbst fern ab[rückt]« (Broch),98 als Illusion entlarvt. Gerade dieses ›fern abgerückte‹ Leben ist es, das im Schlussbild wieder aufblitzt. Die unerschütterlichen und schnurgeraden Körper haben einem Körper platzgemacht, der vor Lachen »zuck[t]«, »schütter[t]« und »wank[t]« (143), der lacht und weint zugleich. Das Schlussbild symbolisiert auf diese Weise die »anthropologische Grundposition des Menschen«, so behauptet Wilhelm Große.99 Die letzten Worte des Stückes, die dem Märchen Die Bremer Stadtmusikanten der Gebrüder Grimm entnommen sind, entsprechen diesem Plädoyer für das Menschliche und das Leben: »›Kommt mit‹, sagte der Hahn, ›etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden!«. (144) Das Stück endet so mit einem utopischen Ausblick auf die Zukunft. Zudem formuliert es einen deutlichen Appell an die Zuschauer*innen und Leser*innen, indem die ursprüngliche grammati-
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Zitiert nach John R.P. McKenzie, Social Comedy in Austria and Germany 1890-1933 (Bern: Peter Lang, 1992), 156. Michail Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, aus dem Russischen von Alexander Kämpfe (München: Hanser, 1969), 51. Ebd., 28. Ebd., 51. Broch, Die Schlafwandler, 24. Große, Textanalyse und Interpretation zu Carl Zuckmayer, 94.
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sche Form des Imperativs Singular, wie sie schon in einer früheren Szene verwendet wurde,100 hier für die des Imperativs Plural eingewechselt wird. Anders als in der Tradition des Volksstückes erweist sich die wiederhergestellte Harmonie aber als trügerisch und zwiespältig. Denn nicht nur hat Voigt noch immer keinen Pass, was doch das eigentliche Ziel der ganzen Aktion war; auch bleibt seine Unternehmung sozial folgenlos. Zwar gleicht Voigt in halber Uniform, in seinem ›Kaisers Rock‹, einem Narren, dessen Aufgabe es ist, als ein »grotesker Doppelgänger, Zerrbild, Vexierbild, verkehrtes Bild der Macht«, dem Fürsten einen Spiegel vorzuhalten, damit der Herrscher nicht blind wird und selbst nicht als lächerlicher Tor endet.101 Aber genauso wie die Bürger und die Polizisten lacht der Kaiser lediglich, wenn ihm der Staatsstreich zu Ohren kommt. Dies ist keineswegs ein befreiendes Lachen, das die Ordnung in ihrer Relativität entlarvt, sondern vielmehr das Lachen der Toren, das die bestehenden Machtverhältnisse bejaht: »[D]a kann man sehen, was Disziplin heißt!«, so zitiert der Kriminalinspektor den Geheimbericht des Kaisers, »Kein Volk der Erde macht uns das nach!«. (135) Anstatt den symbolischen Bankrott des Staates und dessen Institutionen hinzunehmen und diese narzisstische Kränkung einzusehen, wird die Illusion von jedem, dem Kaiser voran, als »soziale[r] Fetisch« intakt gehalten.102 Die störende Mimikry wird nicht als Beweis für den offensichtlichen failed state, sondern als überhebliche Demonstration der herausragenden deutschen Disziplin und des reibungslosen Funktionierens der staatlichen Strukturen wahrgenommen. Das »Unmöglich«, das Voigt am Ende ausruft, kann in diesem Sinne auch auf die gesellschaftlichen Hemmungen, die keine Veränderungen und Verschiebungen zulassen, hindeuten. Zwei Jahre nach der Uraufführung des Stückes wird sich dieser Ausruf in der historischen Realität als prophetisch erweisen. 1933 zeigt sich die Wirksamkeit dieser phallischen Illusion in ihrer erschreckenden Realität, während sich der angebotene utopische Ausweg als naive Illusion herausstellen wird.
Verkehrte Ordnung: Die Rückseite der Uniform Wenn die Uniform im Stück die staatliche Ordnung repräsentiert, ihre mit Ehrenzeichen überladene Vorder- oder Außenseite die hierarchisch strukturierte Macht des Staates prunkvoll inszeniert, bietet die wenig glamouröse Rück- oder Innenseite der Uniform vielleicht eine Möglichkeit, das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und ihrer Repräsentation auf eine andere Weise zu denken. Anders als die zur Ansicht bestimmte Schauseite besteht die dem Blick entzogene gestickte oder genähte Rückseite des Kleidungsstücks aus einem verwirrenden, disharmonischen, ja geradezu ›anarchischen‹103 Gespinst von kreuz und quer durcheinander laufenden Fäden und Linien, die weder einer einsichtigen Richtung oder Logik folgen, noch einen sichtbaren Anfangs- oder
100 In der zwölften Szene des Stückes liest Voigt einem kranken Mädchen, das bei der Familie Hoprecht zur Untermiete wohnt, aus den Bremer Stadtmusikanten vor. (86) 101 Albrecht Koschorke, »Narr, Narrenfreiheit,« in Des Kaisers neue Kleider, 244-253, hier: 247, 252-253. 102 Lüdemann, »Fetischismus,« 189. 103 Vgl. Broch, Die Schlafwandler, 26: »Denn unheimlich war, daß jeder das Anarchische, das allen gemeinsam ist, unter dem Rocke mit sich herumträgt.«
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Endpunkt haben.104 Beide Seiten der Stickerei sind aber konstitutiv miteinander verbunden, denn das verwirrende Netzwerk auf der Rückseite bildet eben die Befestigung des Fadens auf der Vorderseite.105 In seiner Berliner Kindheitserinnerung »Der Nähkasten« macht Walter Benjamin auf dieses konstitutive Verhältnis zwischen Vorderund Rückseite aufmerksam. Die labyrinthische Rückseite zieht ihn in ihren Bann: »Eine Stunde verbrachten nun auch wir mit unsern Augen der Nadel folgend, von der träg ein dicker, wollener Faden herunterging. […] Und während das Papier mit leisem Knacken der Nadel ihre Bahn freimachte, gab ich hin und wieder der Versuchung nach, mich in das Netzwerk auf der Hinterseite zu vergaffen«.106 Nicht die wohlgeordnete, »obere Region« des mütterlichen Nähkastens fasziniert ihn, wo »diese Rollen beieinanderlagen, die schwarzen Nadelbücher blinkten, und die Scheren jede in ihrer Lederscheide steckten«, sondern der »finster[e] Untergrund«, de[r] Wust, in dem der aufgelöste Knäuel regierte, Reste von Gummibändern, Haken, Ösen und Seidenfetzen«.107 In diesem asymmetrischen, jedoch konstitutiven Verhältnis zwischen Vorder- und Hinterseite liegt das epistemologische Potenzial der Stickerei.108 Zum einen erweist sich die herbeigesehnte Ordnung als ambivalent. Je stärker das teleologische Ordnungsbegehren auf der Schauseite hervortritt, desto verstrickter und verworrener wird das Muster auf der Kehrseite. So nimmt es auch Walter Benjamin wahr, der vom Netzwerk auf der Hinterseite, das mit jedem Stick, mit dem [er] vorn dem Ziele näherkam, verworrener wurde«,109 angezogen wird. Diese ambivalente Dynamik ist auch in Der Hauptmann von Köpenick wirksam, so hat die Textlektüre gezeigt. Je zwingender das alles einschließende Ordnungsgebot, desto mehr nimmt der Druck der potenziell zerstörerischen Kräfte im Innern zu. Zum anderen stellt sich die Idee eines mit sich selbst identischen Ganzen als trügerisches Hirngespinst heraus, wie Denise Reimann in ihrem kulturwissenschaftlichen Essay über die ›Rückansichten des Gestickten‹ bemerkt. Indem die Rückseite als »synchrone, mit dem gerichteten Blick jedoch nicht einzuholende, ihm immer schon vorauseilende Spur der ›Schauseite‹ in Erscheinung tritt«, sei diese Gleichzeitigkeit nur ungleichzeitig zu erblicken, das Ganze nicht ganzheitlich überschaubar.110 Auf diese »strukturelle Unmöglichkeit«111 deutet die Rückseite hin. Sie erweist sich so als »Darstellung der Differenz selbst«,112 ja der différance, denn die Unmöglichkeit, 104 Denise Reimann, »Vom ›Netzwerk auf der Hinterseite‹. Rückansichten des Gestickten,« in Von Kopf bis Fuß, 84-90, hier: 84. 105 Ebd., 84. 106 Walter Benjamin, »Der Nähkasten,« in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970), 133-137, hier: 137. Diese Sammlung autobiografischer Skizzen entstand in mehreren Entwürfen im Laufe der 1930er Jahre und wurde 1950 als Buchausgabe postum veröffentlicht. 107 Ebd., 136. Für den Hinweis auf Walter Benjamins Kindheitserinnerungen: Reimann, »Vom ›Netzwerk auf der Hinterseite‹,« 88. 108 Reimann, »Vom ›Netzwerk auf der Hinterseite‹,« 88. 109 Benjamin, »Der Nähkasten,« 137. 110 Reimann, »Vom ›Netzwerk auf der Hinterseite‹,« 88. 111 Ebd., 88. 112 Friedrich Weltzien, »Der Rücken als Ansichtsseite. Zur ›Ganzheit‹ des geteilten Körpers,« in Körperteile. Eine kulturelle Anatomie, Hg. Claudia Benthien, Christoph Wulf (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2001), 439-460, hier: 453.
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das Ganze in seiner Totalität zu erfassen, öffnet den Raum für das dekonstruktive Konzept der permanenten Sinnverschiebung Derridas.113 Auf der rhizomatisch114 wuchernden Rückseite ohne erkennbares Zentrum oder klar auszumachende Hierarchie wird die Fixierung eines Sinnes immer wieder aufgeschoben; die Bedeutungsproduktion findet in einem unabschließbaren, relationellen Verweisprozess ohne Ursprung statt.115 Wenn wir Gemeinschaft auf diese Weise zu denken trachten, bedeutet dies, dass sie sich in einer Textualität ausdrückt, die sie zur permanenten Verschiebung ihres Selbstverständnisses nötigt.116 Gemeinschaft konstituiert sich dann, wie der französische Philosoph Jean-Luc Nancy argumentiert, gerade im »Verfehlen« einer fixierten Identität, in der Erfahrung der grundsätzlichen Unabschließbarkeit und nicht zu integrierenden »Heterogenität«,117 in jenem ›Loch, in das Voigt hineinschlüpft. Nicht vollendbar weder herstellbar findet die Gemeinschaft gerade in ihrer Undarstellbarkeit ihre einzig mögliche Form. Sie stellt sich mit Nancy als eine »unmögliche Schließung« und »notwendige laterale Beziehung zwischen sozialen Existenzen« dar.118 Ihre Fäden lassen sich zwar zu einem Netz verknüpfen, aber keinesfalls zu einem Bündel vereinen;119 wie im benjaminschen Nähkasten ist der Knäuel immer schon gelöst. Der Blick auf die Rückseite der Uniform lenkt die Aufmerksamkeit auf die nicht-abschließbare Konstruiertheit der von der Uniform repräsentierten politischen Gemeinschaft, die so als work in progress statt als vollendetes (Kunst-)Werk erscheint. Die Innenseite ›entwirkt‹120 geradezu die Außenseite, unterbricht die mythologische Logik von innen her. Wie irritierend diese grundsätzliche Unabschließbarkeit ist, zeigte der deutsche Künstler Joseph Beuys mit der Ausstellung eines weit geschnittenen Filzanzugs im Jahre 1970. Die störende Wirkung verdankt Filzanzug nicht nur seiner Reproduzierbarkeit, die mit der herkömmlichen Idee von Singularität und also auch von Vollendung und Aura bricht – Beuys produzierte während seiner Karriere mehr als 100 Exemplare dieses Anzugs. Irritation löst auch das formlose Material des Anzugs aus, wodurch er nie wirklich getragen werden kann,121 eine leere Hülle bleibt, im funktionalen Sinne gar
Jacques Derrida, L’écriture et la différance (Paris: Seuil, 1967) ; Reimann, »›Vom Netzwerk auf der Hinterseite‹,« 89. 114 Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Rhizome. Introduction (Paris : Les Éditions de Minuit, 1976). 115 Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik (Freiburg i.Br.: Rombach, 1999), 39. 116 Ebd., 39. 117 Ebd., 38; Jean-Luc Nancy, La communauté désœvrée (Paris : Christian Bourgois, 1986). 118 Bedorf, »Jean-Luc Nancy. Das Politische zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft,« in Das Politische denken, Hg. Ulrich Bröckling (Bielefeld: transcript, 2010), 145-157, hier: 149. 119 Ebd., 153-154. Bedorf bezieht sich hier auf Jean-Luc Nancys ephemeres Konzept einer »Politik der Knoten« oder »Politik des Bandes«. Jean-Luc Nancy, Le Sens du monde (Paris: Galilée, 1993); dt. in Auszügen »Der Sinn des Politischen,« aus dem Französischen von Jadja Wolf, Eric Hoerl, in Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, Hg. Wolfgang Pircher (Wien/New York, 1999), 119140, 133-134. 120 ›Entwerkt‹ ist die wörtliche Übersetzung von Jean-Luc Nancys Begriff ›déœuvrée‹ in seiner Arbeit La communauté désœuvrée, die aber als Die undarstellbare Gemeinschaft ins Deutsche übersetzt worden ist. 121 Den Filzanzug sah Beuys als Erweiterung seiner Filzplastiken und damit als »ein Objekt, das man gerade nicht anziehen soll«. Dennoch hat er ihn selbst einmal getragen, in der Aktion Action the 113
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kein wirklicher Anzug ist. Aber es ist vielleicht doch vor allem die völlige Knopflosigkeit des Filzanzugs, die irritiert.122 Damit scheint der Anzug nie fertig, immer offen zu sein und in dieser verletzlichen Unabschließbarkeit nicht nur eine der größten Ängste der deutschen Zwischenkriegszeit zu bilden.
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dead mouse/Isolation Unit, die er im November 1970 mit Terry Fox in der Staatlichen Kunstakademie in Düsseldorf durchführte. Pinakothek der Moderne, München, Filzanzug, https://pinakothek-beu ys-multiples.de/de/product/filzanzug/ (abgerufen 22.06.2018). Vgl. Körte, »Aus dem Leben der Knöpfe,« 114-115.
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
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Der Humboldt-Hype
Auffällig oft taucht in der deutschen Literatur des 21. Jahrhunderts der preußische Forschungsreisende Alexander von Humboldt (1769-1859) auf, so bemerkt Theodore Ziolkowski.1 Zwar fand Humboldt schon seit seiner fünfjährigen Südamerikareise, zu der er 1799 aufbrach, in den Texten der unterschiedlichsten Autoren Erwähnung – von Honoré de Balzac, Henry David Thoreau und Edgar Allen Poe über Franz Grillparzer, Adalbert Stifter und Theodor Fontane bis hin zu Ezra Pound, Ernst Jünger und Gabriel García Márquez2 –, aber immer nur als literarische Randfigur. Erst um die Jahrtausendwende betritt der preußische Universalgelehrte, abgesehen von einem ersten Schritt um 1980 in Christoph Heins Novelle Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert, als Protagonist die deutsche literarische Szene.3 Die weitaus bekannteste Fiktionalisierung Alexander von Humboldts ist der internationale Erfolgsroman Die Vermessung der Welt (2005) von Daniel Kehlmann, der in diesem Kapitel ausführlich besprochen wird. Andere Beispiele, die Ziolkowski erwähnt, sind der historische Roman Der Entdecker (2001) von Berndt Schulz (Pseudonym: Mattias Gerwald), weiter der mit Prosastücken gespickte Foto-Essay Humboldt-Reise-Novellen (2001) von Günter Herburger sowie der fantasiereiche Abenteuerroman Das Erlkönig-Manöver (2007) von Robert Löhr. In diesen Werken erscheint Humboldt in wechselnden Figurenkonstellationen: Humboldt mit dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß, Humboldt mit dem französischen Botaniker Aimé Bonpland, Humboldt und Goethe oder Humboldt und sein Diener Johann Seifert. Die literarische Aneignung Alexander von Humboldts ist aber nicht nur ein deutsches Phänomen. In zeitgleich entstandenen Romanen wird Humboldts Leben auch im internationalen Kontext, vor allem in Frankreich, ins Zentrum fiktionaler Handlungen
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Theodore Ziolkowski, »Alexander von Humboldt im Roman des 21. Jahrhunderts,« Weimarer Beiträge 62 (2016): 417-441, hier: 417. Für eine exhaustive Liste von Werken, in denen Humboldt als literarische Figur auftritt: Rex Clark, Oliver Lubrich (Hg.), Transatlantic Echoes. Alexander von Humboldt in World Literature (New York/Oxford: Berghahn Books, 2012), v-viii. Ziolkowski, »Alexander von Humboldt im Roman des 21. Jahrhunderts,« 418.
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gerückt.4 Humboldts literarische Popularität in Frankreich überrascht kaum. Nicht nur wurde er auf seiner Amerikareise vom französischen Botaniker Aimé Bonpland begleitet, auch war Humboldt leidenschaftlich frankophil. Er verfasste viele seiner wissenschaftlichen Schriften auf Französisch und lebte ab 1808 – trotz napoleonischer Kriege – in Paris, bis ihn König Friedrich Wilhelm III. 1827 nach Berlin rief, um ihn als täglichen Tischgast bei sich zu haben.5 Überdies hegte er tiefe Bewunderung für die Werte der Französischen Revolution, die seine politischen Ansichten weitgehend prägten.6 Auffällig still um Humboldt blieb es dagegen im englischsprachigen Raum, trotz der vielen Berge, Seen, Parks, Städte und Verwaltungsbezirke, die in Nordamerika nach ihm benannt sind.7 So konnte die Historikerin Andrea Wulf den preußischen Naturforscher in ihrer 2015 veröffentlichten Biografie noch als einen »vital and lost player in environmental history and science« beschreiben.8 In Deutschland wurde die heutige Popularität des damaligen wissenschaftlichen Superstars – kein Forscher wurde im 19. Jahrhundert häufiger porträtiert als Alexander von Humboldt9 – vor allem um die Jahrtausendwende geschürt. Das 200. Jubiläum von Humboldts Aufbruch zu seiner Amerikaexpedition bot 1999 die Gelegenheit für zahlreiche Symposien und Ausstellungen, die den Naturforscher zum »Vordenker für das 21. Jahrhundert«10 ausriefen. Fünf Jahre später kam es anlässlich Humboldts triumphaler Rückkehr nach Europa, die seinen Status als berühmtesten Mann der Welt nach Napoleon bestätigte,11 zu einem neuen Höhepunkt im Humboldt-Hype. Der Spiegel widmete dem »genialen Abenteurer« und »prominentesten Weltbürger seiner Zeit« eine schwärmerische Titelgeschichte von Matthias Matussek, die Humboldt zum »VorbildDeutschen«, zum »strahlendsten und mutigsten und sanftesten Helden, den Deutschland je hervorgebracht hat«, erklärte.12 Auch brachte Hans Magnus Enzensberger Humboldts zwischen 1845 und 1862 in fünf Bänden erschienen Kosmos als opulenten Pracht-
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Ziolkowski erwähnt u.a. den Roman Le Manuscript de Humboldt (2010), in dem zwei alternde Universitätsprofessoren nach einem vermeintlich verlorenen Manuskript Humboldts auf die Suche gehen, weiter den zweiteiligen Graphic Novel Le dernier voyage d’Alexandre de Humboldt (2010/2014) von Vicent Froissard und Étienne Le Roux und den Roman Le chaste monde (2015) von Régine Detambels, in dem das Leben des Protagonisten dem Lebenslauf Humboldts entspricht. Andrea Wulf, The Invention of Nature. Alexander von Humboldt’s New World (New York: Knopf, 2015), 240. Ebd., 96. Ziolkowski, »Alexander von Humboldt im Roman des 21. Jahrhunderts,« 437. Wulf, The Invention of Nature, Klappentext. Frank Holl, »›Die zweitgrößte Beleidigung des Menschen sei die Sklaverei …‹ – Daniel Kehlmanns neu erfundener Alexander von Humboldt,« HiN – Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien XIII, 25 (2012): 46-62, hier: 47, https://www.uni-potsdam.de/u/romanistik/humb oldt/hin/hin25/holl.htm (abgerufen 24.11.2018). Frank Holl, Kai Reschke, »›Alles ist Wechselwirkung‹ – Alexander von Humboldt,« in Alexander von Humboldt – Netzwerke des Wissens. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt und im Bonner Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Ostfildern: Hatje Cantz, 1999), 12-15, hier: 15. Wulf, The Invention of Nature, 3. Matthias Matussek, »Der geniale Abenteurer,« Der Spiegel 38, 13. Sept., 2004, 162-174, hier: 162-163, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32134706.html (abgerufen 24.11.2018).
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
band in der »Anderen Bibliothek« heraus. Für dieses Projekt entfachte der Herausgeber eine ungesehene Werbekampagne. Er organisierte Schulpatenschaften mit dem Ziel, dass alle 30.000 Schüler der 32 deutschen Humboldt-Gymnasien die üppigen Bände kostenlos erhalten konnten,13 trat in Interviews als begeisterter Fürsprecher für den preußischen Universalgelehrten auf und brachte 2004 den fiktiven Dialog Alexander von Humboldt und François Arago14 auf die Berliner Bühne, in dem er Humboldt als zukunftsfrohen Aufklärer durchaus positiv darstellte. Enzensbergers Begeisterung für Humboldt ist auf den ersten Blick überraschend. Im Gedicht A.v.H. (1769-1859) aus dem 1975 erschienenen Gedichtband Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts adressiert der Dichter am Beispiel Humboldts die Widersprüche der Aufklärung in der Tradition Adornos und Horkheimers: »Ein Gesunder war er, der mit sich die Krankheit/ahnungslos schleppte, ein uneigennütziger Bote der Plünderung, ein Kurier,/der nicht wußte, daß er die Zerstörung dessen zu melden gekommen war,/was er, in seinen Naturgemälden, bis daß er neunzig war, liebevoll malte«.15 [Herv. i.O.] Die 37 Balladen in Mausoleum erscheinen nicht zuletzt durch ihre Überschriften, die aus Namensinitialen, gefolgt von Geburtsund Sterbedatum bestehen, als Grabtafeln und Leichengedichte, als Nachrufe auf ausschließlich männliche Protagonisten der europäischen Fortschrittsgeschichte. Porträtiert werden Mathematiker, Astrologen und Astronomen, Ingenieure, Biologen, Physiker, Philosophen, Politiker, Anthropologen, Naturforscher, Forschungsreisende, Ärzte, (Zauber-)Künstler und Komponisten, die seit 1300 lebten.16 Illustre Namen sind zum Beispiel Giovanni de Dondi, Gottfried Wilhelm Leibniz, Carl von Linné, Che Guevara, Frédéric Chopin, Frederick Wilson Taylor, Niccoló Machiavelli, Thomas Malthus und Charles Darwin. Wie unterschiedlich die Porträtgalerie auch sein mag, eins haben all diese Männer gemein: die unglaubliche Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihrer Neugier und ihren wissenschaftlichen Trieben frönen. Sie seien »Triebtäter«, so Enzensberger in einem Gespräch mit Alexander Kluge, die »in einem emphatischen Sinne Geschichte gemacht haben, bis zur Weltherrschaft«.17 Dadurch personifizieren sie auch die »Widersprüche des ›Fortschritts‹«, dieses »kollektive[n] Mythos«,18 wie es im Klappentext heißt. 30 Jahre nach dem Erscheinen von Mausoleum bleibt von dieser ätzenden Fortschrittskritik wenig übrig. Enzensberger feiert Alexander von Humboldt in einem
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Holl, »›Die zweitgrößte Beleidigung des Menschen sei die Sklaverei …‹,« 48. Das Theaterstück erschien 2016 in einer luxuriösen Ausgabe mit 24 farbigen Linolschnitten unter dem Titel Heureka! Ein wissenschaftliches tête-à-tête zwischen Alexander von Humboldt und François Arago in der Sternwarte zu Paris (Hamburg: Svato, 2016). Die Luxusausgabe in Leder kostet 800 €, die ›Normalausgabe‹ in Leinen 380 €. Hans Magnus Enzensberger, »A.v.H. (1769-1859),« in Mausoleum. Siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1975), 56-58, hier: 58. Eine Ausnahme ist der römische Dichter Vergil, der zwischen 70 und 19 vor Christo lebte. Hans Magnus Enzensberger, »Balladen aus der Geschichte des Fortschritts,« interviewt von Alexander Kluge am 12. Dez. 1999, im DCTP-Programm auf Sat.1, https://kluge.library.cornell.edu/conversations/enzensberger/film/1950 (abgerufen 24.11.2018). Enzensberger, Mausoleum, Klappentext.
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Spiegel-Interview euphorisch als letzten Universalgelehrten, der in Zeiten hoher Spezialisierung Verbindendes herstellen kann. Der preußische Gelehrte, der zugleich Botaniker, Geograf, Anthropologe und Astrologe war, gehe »stets aufs Ganze« und verkörpere so die »Poesie der Wissenschaft«.19 Für diese Symbiose von Poesie und Wissenschaft hatte Enzensberger zwei Jahre zuvor in seinem Buch Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Prosa20 aus 2002 schon eine Lanze gebrochen. Die kritisch-theoretisch inspirierte Fortschrittskritik aus Mausoleum ist in den Elixieren kaum noch präsent. Stattdessen ergründet Enzensberger in Essays, Prosastücken und Gedichten, die er teilweise aus seinem Gesamtwerk zusammengestellt hat, die Schönheit der Wissenschaft. Die universalgelehrten Zeitalter der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit betrachtet er als wegweisend für die Zukunft. Enzensbergers neuer Lobsang auf Humboldt lässt sich in diesen allgemeineren Perspektivenwechsel vom fortschrittskritischen Mausoleum zu den wissenschaftspoetischen Elixieren eingliedern.21 Der Neudruck des Gedichts A.v.H. (1769-1859)22 in Die Elixiere der Wissenschaft widerspricht dieser These nicht. Vielmehr bildet er ein Angebot zu einer Relektüre und Neuinterpretation des Gedichtes unter veränderten Voraussetzungen, ohne aber die Ambivalenz dieser Wissenschaftsgeschichte gänzlich aufzulösen. Interessant in dieser Hinsicht ist ein Interview von Alexander Kluge mit Enzensberger anlässlich dessen Kosmos-Projektes 2004.23 Der Dichter liest Kluge eine Textstelle aus seiner biografischen Ballade über Humboldt vor, in der ein unverhohlen fortschrittskritischer Ton durchschimmert: »Hell, in der Mitte auf seinem Feldstuhl, sitzt der gefeierte Geognost in seinem Labor, im Dschungel, in Öl gemalt, an den Ufern des Orinoko. Wie Schnee schmilzt die Terra Incognita unter seinen Blicken. Über die letzten Gletscher, die ödesten Bergketten wirft er sein Netz von Kurven und Koordinaten. Er mißt die magnetische Deklination, den Salzgehalt und die Bläue des Himmels. Ungläubig sehen die Einheimischen zu. Was für wunderbare Leute sind diese, welche die Welt durchlaufen, um Pflanzen zu suchen, und um ihr Heu mit anderem Heu zu vergleichen! Warum laßt Ihr Euch aufzehren 19 20 21
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Hans Magnus Enzensberger, »Der Mann geht stets aufs Ganze,« Der Spiegel 38, 13. Sept. 2004, 175177, hier: 175, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-32134707.html (abgerufen 24.11.2018). Hans Magnus Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft. Seitenblicke in Poesie und Wissenschaft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002). Vgl. zu Enzensbergers Elixiere der Wissenschaft z.B. Sandra Pott, »›Poesie der Wissenschaft‹? Hans Magnus Enzensbergers Gedichte über Naturforscher der Frühen Neuzeit (1975/2002),« Zeitschrift für Germanistik, Neue Folge 17, 2 (2007): 340-360. Enzensberger, Die Elixiere der Wissenschaft, 217-221. Im Neudruck sind bloß die ursprünglichen Initialen der Gedichtüberschrift vom vollständigen Namen ersetzt worden. Hans Magnus Enzensberger, »Humboldts Kosmos. H. M. Enzensberger über die Sehnsucht nach Wissen,« interviewt von Alexander Kluge am 26.Sept. 2004 im DCTP-Programm auf Sat.1. In DIE ZEIT erschien das Gespräch in gekürzter Fassung. Hans Magnus Enzensberger, Alexander Kluge, »Weltbeschreibungen. Die ganze Welt in einem Buch,« DIE ZEIT 38, 9. Sept., 2004, https://www.ze it.de/2004/38/ST-Kluge/komplettansicht (abgerufen 09.01.2019).
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
von Moskitos, nur um ein Land zu vermessen, das Euch nicht gehört? […] Er stellt ganze Länder dar wie ein Bergwerk. Für brennende Krater, die er leidenschaftlich besteigt, vermisst und betastet, hegt er, Vulkanist und Vulkanologe, eine wahre Manie.«24 [Herv. i.O.] Das Duden-Wörterbuch definiert eine Manie als einen »besonders durch Enthemmung und Selbstüberschätzung gekennzeichnete[n] heiter-erregte[n] Gemütszustand als Phase der manisch-depressiven Psychose«.25 Die Verwendung dieses Wortes im Gedicht entlarvt Humboldts leidenschaftlichen Fortschrittsoptimismus als einen krankhaften Zwangszustand und verknüpft die unermüdliche Leistungsfähigkeit des preußischen Entdeckungsreisenden mit menschlichem Hybris angesichts der Natur. Auch das »Netz/von Kurven und Koordinaten«, das der Naturforscher über die Gletscher und Bergketten wirft – ein Bild, das übrigens drei Dezennien später den Umschlag von Kehlmanns Die Vermessung der Welt schmücken wird –, deutet auf Zwang und Herrschaft hin und verortet Humboldts Forschungen im Spannungsfeld von Wissen und Macht. Weiter weist die Metapher des schmelzenden Schnees – dem ökologischen Krisengefühl der 1970er Jahre entsprechend – auf die Destruktion der Natur durch den Menschen (»unter seinen Blicken«) hin. Zudem rücken die kursiv geschriebenen Reaktionen der einheimischen Bewohner Humboldts Leistungen in den Interpretationsrahmen der Verbindung von Aufklärung und Kolonialismus. Das Land, das Humboldt und seine Gefolgsleute vermessen, gehöre ihnen nicht. Hinter ihrer Forschungsreise müsse doch anderes als nur wissenschaftliches Interesse stecken, so suggerieren die Fragen der autochthonen Bewohner. Enzensberger geht im Interview mit Kluge aber nicht auf diese Fortschrittskritik an Humboldt ein. Er kommentiert die von ihm vorgelesene Textstelle wie folgt: »Er hat all diese Felder besetzt, neue Felder eröffnet, die extrem zukunftsträchtig waren.« Drei Jahrzehnte nach dem Erscheinen des zivilisationskritischen Gedichtes interpretiert Enzensberger es also neu, indem er Humboldt zum wegweisenden Universalgelehrten macht. Enzensbergers Wiederauflegung von Humboldts Kosmos erreichte zwar nicht den Bestseller-Status der Originalausgabe. Diese schrieb mit mehr als 20.000 verkauften deutschen Exemplaren des ersten Bandes in den ersten Monaten und Übersetzungen auf Französisch, Englisch, Niederländisch, Italienisch, Dänisch, Polnisch, Schwedisch, Spanisch, Russisch und Ungarisch »in der Geschichte des Buchhandels wirklich Epoche«,26 so Humboldts deutscher Herausgeber. Aber auch Enzensbergers luxuriöse Kosmos-Ausgabe von fast 1000 Seiten verkaufte sich auffällig gut und fand in den Medien starke Beachtung. Was fasziniert ein heutiges Publikum an diesem Naturforscher? Warum werden so viele Menschen von einem auf den ersten Blick furchtbar antiquierten, von Messergebnissen überquellenden Buch, das durch die beginnende Professionalisierung der Naturwissenschaften und Verfestigung disziplinärer Grenzen schon zu 24 25 26
Ebd. Duden Online Wörterbuch, https://www.duden.de/suchen/dudenonline/manie (abgerufen 24.01.2019). Andrea Wulf, Die Erfindung der Natur, aus dem Englischen von Hainer Kober (München: C. Bertelsmann, 2016), 310.
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seiner eigenen Zeit anachronistisch anmutete, gefesselt? Daniel Kehlmann erklärt die Wirkung wie folgt: »Das Unbehagen an einer durch die Entdeckungen von Gauß, Darwin, Einstein, Gödel und Heisenberg ins Wanken gebrachten Weltordnung ist immer noch größer, und zwar in jedem von uns, als uns selbst klar ist. Der Erfolg des Kosmos im Sommer 2004 – erklärt er sich nicht auch dadurch, daß es etwas Stärkendes hat, in Gestalt eines wuchtigen Buches noch einmal den Übersichtsplan eines wohlgeordneten Weltenbaus in Händen zu halten, das Monument eines Alls, dessen Raum sich nicht krümmt, dessen Zeit sich nicht dehnt, in dem niemandes Stammbaum durch Affen kompromittiert ist und dessen Realität sich noch nicht in die Vagheit des Statistischen verschiebt? Es ist heute schwer, dieses Gefüge, einst so fest in der Wissenschaft verankert, ohne Melancholie zu betrachten; wie fern ist es mittlerweile gerückt, wie poetisch mutet es an, wie fremdartig auch.«27 Im Zeitalter der allgemeinen Relativitätstheorie, der Quantenphysik und der Chaostheorie, die den Denkkategorien des Menschen widersprechen und sogar die Kausalität selbst als eine Illusion entlarven, scheint Humboldts streng strukturierte Weltordnung, in der die Welt als ein einheitliches Ganzes erscheint, dem verunsicherten Menschen einen Halt zu geben. Der Kosmos, ein Begriff, der im Griechischen sowohl Ordnung wie auch Schönheit bedeutet, habe dadurch etwas »Stärkendes« und vielleicht sogar Tröstliches, zugleich etwas ›Melancholisches‹ und ›Poetisches‹ wie auch ›Fremdartiges‹ oder Exotisches. Das Buch scheint einen endgültig verlorenen Zustand, nach dem sich viele Menschen zurücksehnen, kurzzeitig zurückzuholen. Alexander Kluge bringt dies noch mal auf den Punkt: »Dem von der Gegenwart unbefriedigten Geist die Sehnsucht nach unbekannten Regionen des Wissens zu erfüllen, das ist die Zweckrichtung des Kosmos.«28 Humboldts Mammutarbeit lässt sich so als die abenteuerliche Reise eines »Erd- und Himmeldetektiv[s]«29 in die gemeinhin abstrakten Zonen der Wissenschaft lesen. Tatsächlich ist Humboldt das Gegenteil eines Stubengelehrten. Er machte Wissenschaft ganz konkret und körperlich: Er zog mit seinen Messgeräten los, bestieg Berge, kroch in Höhlen, stieg Vulkane hinunter und fuhr in Gruben. Wissenschaftliche Experimente testete er am eigenen Körper. Nicht umsonst fügte Humboldt seinem Alterswerk den Untertitel »Versuch einer physischen Weltbeschreibung« hinzu. Den Kosmos hat er sich nicht ausgedacht; Humboldts Kosmos ist die materielle Welt, die er mit eigenen Augen wahrgenommen und studiert hat – und das sehr oft mit Gefahr für das eigene Leben. Genau diese laut Enzensberger heute fast gänzlich verschwundene Kombination von
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Daniel Kehlmann, »Wo ist Carlos Montúfar?« in ders., Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2005), 9-27, hier: 23-24. Alexander Kluge, »Alexander von Humboldts Kosmos,« Interview mit Hans Magnus Enzensberger am 26. Sept. 2004 im DCTP-Programm auf Sat.1, https://kluge.library.cornell.edu/conversations/en zensberger/film/1948 (abgerufen 24.01.2019). Hans Magnus Enzensberger, ebd.
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
Intellekt und Praxis, analytischem Blick und Risiko macht den preußischen Wissenschaftler (nicht nur) für Enzensberger so anziehend.30 Ein weiterer Grund für Humboldts gegenwärtige Popularität ist die Tatsache, dass Humboldts Leben der Reise- und Wanderlust und dem ›Fernweh‹ vieler Menschen unserer Zeit entspricht. Das hat auch DIE ZEIT verstanden: Die Zeitung organisiert seit einigen Jahren »Zeit-Reisen« nach Ecuador, die auf den Spuren von »Humboldts phantastischer Reise« dessen Expeditionen rekonstruieren und die Teilnehmer*innen mit Lesungen und Vorträgen zu den »Originalschauplätzen der bedeutendsten Wissenschaftsreise des 19. Jahrhunderts«31 begleiten. Darüber hinaus entsprechen Humboldts auch von einem Laienpublikum stark besuchte Kosmos-Vorträge im heutigen Marx Gorki-Theater in Berlin, die er als populärwissenschaftliche Fassungen seiner akademischen Vorlesungen konzipierte, den vielen Wissenschaftsshows, die heutzutage Konjunktur haben. Der wichtigste Grund, der Humboldt zum aufgehenden Stern des 21. Jahrhunderts gemacht hat, sind die ›aktuellen‹ Themen, die er vor 200 Jahren schon auf die politische Tagesordnung setzte. Durch seine nachdrückliche Ablehnung der Sklaverei und des Kolonialismus wird er oft als einer der ersten Wissenschaftler gewürdigt, der eine frühe postkoloniale Perspektive unter den Bedingungen einer sich herausbildenden Globalisierung geöffnet hat. »Mit seiner Feder«, so erklärte der Freiheitskämpfer Simón Bolívar, »habe Humboldt Südamerika erweckt.«32 Es gibt aber auch kritische Stimmen, die den Naturforscher als Vertreter einer Wissenschaft betrachten, die von solchen kolonialen Strukturen profitiert hat und mit seinen Forschungsreisen selbst Teil eines Herrschaftssystems war.33 Eng mit Humboldts antikolonialer Perspektive verbunden ist seine grüne Umweltpolitik. Andrea Wulf beschreibt ihn als den ersten Wissenschaftler, der Kolonialismus in Zusammenhang mit der Zerstörung der Umwelt brachte und Natur, ökologische Probleme, imperiale Machtverhältnisse und Politik in Verbindung miteinander diskutierte.34 Nachdem Humboldt im Jahre 1800 die verheerenden ökologischen Folgen der kolonialen Plantagen am Meer Valencia in Venezuela gesehen hatte, machte er als Erster auf die negativen Auswirkungen des Menschen auf das Gleichgewicht der Natur aufmerksam. Wulf erklärt ihn deshalb zum »Vater der modernen Ökologiebewegung«,35 bezeichnet ihn als einen »Visionär«, der die herkömmlichen Ideen über die Natur »revolutionierte«.36 Demzufolge werden Humboldts ›revolutionäre‹ Erkenntnis30 31 32 33
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Ebd. »Ecuador – Humboldts phantastische Reise,« DIE ZEIT, https://zeitzeitreisen.zeit.de/reise/ecuadorhumboldt/ (abgerufen 24.01.2019). Wulf, The Invention of Nature, 145. Vgl. Rex Clark, Oliver Lubrich (Hg.), Cosmos and Colonialism. Alexander von Humboldt in Cultural Criticism (New York/Oxford: Berghahn Books, 2012). Obwohl sich die deutsche Kolonialzeit de facto auf die Periode 1884-1918 beschränkt, gingen dieser Periode lange Phasen des Kolonialphantasierens voraus. Insbesondere die Epoche der Aufklärung schuf für die spätere Kolonialisierung das kulturelle und intellektuelle Klima. Vgl. dazu Susanne Zantop, Colonial Fantasies – Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany (1770-1870) (Durham: Duke University Press, 1997); Damien Tricoire (Hg.), Enlighted Colonialism. Civilization Narratives and Imperial Politics in the Age of Reason (Basingtoke: Palgrave Macmillan, 2017). Wulf, The Invention of Nature, 105. Ebd., 58. Ebd., 5.
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se über Natur und seine geradezu ›visionären‹ Warnungen vor den Eingriffen des Menschen auf die Umwelt heutzutage als Richtschnur in Debatten über Nachhaltigkeit wiederaufgegriffen. »Humboldts neuer Blick auf die Erde liefert ein wegweisendes ›Humboldtsches Programm für das Anthropozän‹«,37 so beteuert Wolfgang Lucht, Professor am Potsdam Institute for Climate Impact Research und der Humboldt-Universität zu Berlin, in einer der zehn Kosmos-Lesungen, in denen internationale Wissenschaftler*innen zum 250. Geburtstag des Naturforschers 2019 die verschiedenen Themen aus Humboldts eigener Vortragsreihe aufgreifen und aus aktueller Sicht behandeln. Liest man die kurzen Zusammenfassungen dieser modernen Kosmos-Vorträge durch, dann scheint es, als wollen die Sprecher*innen die ungeheuren Herausforderungen, vor denen der Mensch im 21. Jahrhundert steht, anno 2019 mit Humboldt lösen.38
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Wolfgang Lucht, »Humboldts revolutionärer Blick auf die Erde – eine Chance für das Anthropozän,« Abstrakt zum Kosmos-Vortrag am 25. April 2019 im Rahmen des Humboldt-Jahres 2019 an der Humboldt-Universität zu Berlin, https://www.hu-berlin.de/de/service/veranstaltunge n/250-jahre-alexander-von-humboldt/veranstaltungen/kosmos-lesungen/kosmos-lesungen (abgerufen 24.01.2019). Das ganze Programm zum Jubiläumsjahr Alexander von Humboldts in Berlin-Brandenburg ist über den folgenden Weblink nachzuschlagen: https://avhumboldt250.de/ (abgerufen am 11.01.2019).
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
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Preußen und die Kulturnation als Identifikationsmodelle für die Gegenwart? Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt (2005) Jeder Blick, der uns trifft, zerstört unsere eigene Welt und stellt uns in seine eigene hinein. – Thomas Hettche, Pfaueninsel39
Vermessung eines Bestsellers Dass Daniel Kehlmann wenig spektakuläre Berufe mit spannungsreichen Erzählmomenten zu verknüpfen vermag, das entdeckte man schon, bevor er zwei skurrile Wissenschaftler zu den Hauptfiguren eines weltweiten Bestsellerromans machte.40 Biedere Beamte, eitle Kritiker, Versicherungsmathematiker, Fernsehelektriker, wissenschaftliche Assistenten und Literaturwissenschaftler – dies ist das nicht besonders glamouröse Figurenpersonal, das Daniel Kehlmanns frühe Romane und Erzählungen wie Beerholms Vorstellung (1997), Unter der Sonne (1998), Mahlers Zeit (1999) Der fernste Ort (2001) und Ich und Kaminski (2003) bevölkert. Aber erst zusammen mit dem Mathematiker und Astronomen Carl Friedrich Gauß an der Seite des preußischen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt wurde der 30-jährige Kehlmann zur Weltberühmtheit. »Jetzt beginnt für Sie die Zeit, wo alle mehr über Sie wissen als Sie selbst«, habe Günter Grass ihm kurz nach Die Vermessung der Welt väterlich gesagt, so erzählte Daniel Kehlmann dem Journalisten Adam Soboczynski, der ihn für das ZEITmagazin porträtierte.41 Grass sollte recht behalten: Zwei Jahre später taucht Kehlmann im Tagebuchroman Das bin doch ich (2007) des österreichischen Schriftstellers Thomas Glavinic als Figur auf. Der Erfolg von Die Vermessung der Welt war, wie Felicitas von Lovenberg 2006 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schrieb, »eine Sensation«.42 Der Roman führte 37 Wochen die Spiegel-Bestsellerliste an, wurde in mehr als 50 Sprachen übersetzt und als Hörbuch, Hörspiel, Theaterstück und Kinofilm bearbeitet. Im Film trat Kehlmann auch selbst auf: Außer einem Cameo ist er der unsichtbare Erzähler, der die verschiedenen Episoden des Lebens Gauß’ und Humboldts aneinanderreiht. Zu den Preisen, die er für Die Vermessung der Welt erhielt, gehören unter anderem der Candide-Preis (2005), der Heimito-von-Doderer-Preis (2006) und der Kleist-Preis (2006). Mit mehr als zwei Millionen verkauften Exemplaren allein im deutschsprachigen Raum gilt Die Vermessung der Welt als einer der erfolgreichsten Romane der deutschen Nachkriegszeit, zusammen mit Patrick Süskinds bisher unangefochtenem Spitzenreiter Das Parfum (1985), Günter Grass’ Die Blechtrommel (1980), Robert Schneiders Schlafes Bruder (1992) und Frank Schätzings Der Schwarm (2004).43 39 40
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Thomas Hettche, Pfaueninsel. Roman (München: btb, 2016), 49. Dieses Kapitel erschien in einer kürzeren Fassung in Daniel Kehlmann und die Gegenwartsliteratur. Dialogische Poetik, Werkpolitik und populäres Schreiben, Hg. Fabian Lampart, Michael Navratil, Iuditha Balint (Berlin/Boston: De Gruyter, 2020), 281-301. Adam Soboczynski, »Hilfe, ich werde porträtiert!,« DIE ZEIT 43, 16. Okt., 2008, https://www.zeit.de /2008/43/Kehlmann-Portraet-43 (abgerufen 24.01.2019). Felicitas von Lovenberg, »Vermessung eines Erfolgs«, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. Jan., 2006. Ebd.
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Zwar gab es in den Feuilletons auch kritische Stimmen. Der Schriftsteller Rainald Goetz sprach in einem Blog auf der Internetseite von Vanity Fair über »die gehobene Angestelltenkultur, vollends belanglos«,44 während die österreichische Literaturkritikerin Evelyne Polt-Heinzl den Roman aufgrund seiner leichtfüßigen Komik in die Kategorie »Exportable, Less Weigthy German Novels«45 verbannte. Aber diese Kritik war sehr einfach zu überhören inmitten der wohlwollenden, ja überschwänglichen Besprechungen, die dem Buch entgegenschollen. Martin Lüdke lobte die fiktionale Doppelbiografie als den »Höhepunkt dieses Buchherbstes, […] ein schönes, packendes und spannendes, […] ein großes Buch, […] einen Geniestreich«.46 Das Buch sei Hubert Spiegel zufolge »unterhaltsam, humorvoll und auf schwerelose Weise tiefgründig und intelligent«;47 es stelle ein »exquisites«48 (Martin Krumbholz), »süffige[s] Lesevergnügen«49 (Urs Jenny) dar. Jakob Augstein sprach von einem »Abenteuerroman«, einem »wunderbar lesbare[n] Text voller gebildeter Anspielungen und Zitate und versteckter Kleinode«.50 Kehlmann sei ein »außergewöhnlicher Erzähler«51 (Ulrich Weinzierl), »ein früher Meister«, »ein echter«, ein »toller Erzähler«, schlicht »brillant.«52 (Krumholz) »Für mich ist es das beste Buch eines deutschen Autors, das ich in diesem Jahr gelesen habe«,53 so jubelte Elke Heidenreich in ihrer populären Literatursendung Lesen!. Auch die internationale Presse sprach sich über den Roman und seinen Autor äußerst lobend aus. Time Magazine zählte Measuring the World zu den zehn besten Büchern des Jahres 2006. »Kehlmann has it in him to be the great German novelist that the world had given up waiting for«, so prophezeite der Sunday Telegraph euphorisch. »With a boundless sense of fun […] he explores scientific and metaphorical ideas«, schrieb The Observer. Dieser Ansicht war auch Bernard Pivot : »Kehlmann a le don de rendre clair ce qui pourrait paraître compliqué, enjoué ce qui aurait dû être austère, vif et impertinent ce qui eût été sous une autre plume compassé et respectueux« (Journal du dimanche au
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Zitiert nach Markus Gasser, Das Königreich im Meer. Daniel Kehlmanns Geheimnis (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch, 2013), 129. Evelyne Polt-Heinzl: »Symbolfigur der neuen Erzählgeneration,« Die Furche, 23. Nov., 2006. Martin Lüdke, »Doppelleben, einmal anders,« Frankfurt Rundschau, 28. Sept., 2005, https://www .fr.de/kultur/literatur/doppelleben-einmal-anders-11729504.html (abgerufen 24.01.2019). Hubert Spiegel, »Der Schrecken der Welt läßt sich messen, aber nicht bannen,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. Okt., 2005. Martin Krumbholz, »Das Glück – ein Rechenfehler,« Neue Zürcher Zeitung, 18. Okt. 2005. Urs Jenny, »Duett der Solipsisten,« Spiegel Special 6, Bücher 2005, https://www.spiegel.de/spiegels pecial/a-378343.html (abgerufen 24.01.2019). Jakob Augstein, »Der Handlungsreisende. Daniel Kehlmann hat den Erfolgsroman ›Die Vermessung der Welt‹ geschrieben – wer ihn begleitet, erfährt etwas über das Leben der Literatur in unserem Land,« DIE ZEIT, 24. Nov., 2005, https://www.zeit.de/2005/48/L-Kehlmann (abgerufen 24.01.2019). Ulrich Weinzierl, »Wenigstens einmal richtig gefeuert. ›Die Vermessung der Welt‹ machte Daniel Kehlmann zum Bestsellerautor. Was das bedeutet, weiß er noch nicht,« Die Welt, 28. Feb., 2006, https://www.welt.de/kultur/article200914/Wenigstens-einmal-richtig-gefeuert.html (abgerufen 24.01.2019). Krumbholz, »Das Glück – ein Rechenfehler«. Elke Heidenreich, »Lesen!,« ZDF, 4. Okt., 2005. Diese erfolgreiche Fernsehsendung lief zwischen 2003 und 2008. Für diesen Hinweis: Preußer, »Zur Typologie der Zivilisationskritik,« 83.
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
quotidien). Der Roman sei »delightfully irreverent« (Sunday Telegraph), »refreshing« (Daily Telegraph), »a delightful read« (Literary Review), »a deceptively clever novel« (Observer). »Who would have thought such high-minded stuff could be a vehicle for comedy?«,54 so fragte sich Mark M. Anderson in The Nation erstaunt.55 Tatsächlich: Wie kann ein Buch, das früher nur sogenannte Bildungsbürger interessiert hätte, jetzt ein Massenpublikum erreichen?56 Selbstverständlich reichen der historische Rückenwind des Humboldt-Jahres 2004 und der 150. Todestag Gauß’ 2005 sowie die lobenden Kritiken nicht dazu aus, dass ein Buch zum Bestseller wird. Anderson hat in seiner Frage die Antwort schon partiell formuliert. Der Roman skizziert in alternierenden Kapiteln die Porträts zweier Ikonen deutscher Wissenschaftsgeschichte und tut dies auf eine so anspruchsvolle wie unterhaltsame, gebildete wie humorvolle Weise. Gerade diese Kombination von Bildung und Unterhaltung, Ernst und Heiterkeit, die es nach Kehlmanns eigener Ansicht in der deutschen Nachkriegsliteratur kaum gebe,57 wird in den Kritiken immer wieder als die große Leistung des Romans hervorgehoben. Die vielen, oft wenig subtil eingebauten intertextuellen Anspielungen erschweren die Lektüre nicht. Vielmehr gewähren sie den germanistisch einigermaßen gebildeten Leser*innen ein schmunzelndes Heureka-Moment. Wie Moritz Baßler argumentiert, ermöglicht Kehlmann – poeta doctus und Geschichtenerzähler zugleich – seinem Lesepublikum auf diese Weise ein »populäres, aber stets gebildetes […] Lektürevergnügen.«58 Die »Mehrfachadressierung« sorge dafür, dass sich »nicht nur die Lesermassen, sondern auch Kritiker und Literaturwissenschaftler für diese Literatur begeistern.«59 In der Laudatio auf Kehlmann zur Verleihung des Kleist-Preises 2006 wertet der Literaturkritiker Uwe Wittstock die öffentliche Resonanz auf Die Vermessung der Welt als ein »Indiz dafür, wie grundsätzlich sich das literaturkritische Klima hierzulande verändert hat.« Denn der Roman sei »all das nicht, was einst als unverzichtbar galt: Er ist nicht experimentell, nicht in aufdringlicher Weise sprachskeptisch und versucht nicht
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Mark M. Anderson, »Humboldt’s Gift,« The Nation, 30. April, 2007, https://www.thenation.com/art icle/humboldts-gift/ (abgerufen 16.01.2019). Für diese Pressestimmen: https://www.kehlmann.com/pressestimmen/Pressestimmen_Vermessu ng.pdf (abgerufen 24.01.2019). Diese Frage nimmt Heinz-Peter Preußer zum Ausgangspunkt seines Artikels »Zur Typologie der Zivilisationskritik. Was aus Daniel Kehlmanns Roman ›Die Vermessung der Welt‹ einen Bestseller werden ließ,« text + kritik. Zeitschrift für Literatur, Bd. 177. Daniel Kehlmann, Hg. Heinz Ludwig Arnold (München: edition text + kritik, Januar 2008): 73-85, hier: 74. Marius Meller erklärt den Erfolg des Romans dadurch, »daß es wieder oder noch immer eine breite Bildungsschicht in Deutschland gibt, die man mit einer vorsichtigen Modifizierung des Begriffs als bürgerlich bezeichnen könnte.« Marius Meller, »Die Krawatte im Geiste,« in Daniel Kehlmanns ›Die Vermessung der Welt‹. Materialien, Dokumente, Interpretationen, Hg. Gunther Nickel (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2008),127-135, hier: 131-132. Daniel Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze. Poetikvorlesungen, 3. Auflage (Göttingen: Wallstein, 2009). Jens Krumeich, »›Germanist[], ohne Germanist zu sein?‹ Daniel Kehlmann und die literaturwissenschaftliche Forschung,« in Daniel Kehlmann und die Gegenwartsliteratur, 201-227, hier: 203. Moritz Baßler, »Genie erzählen. Zu Daniel Kehlmanns Populärem Realismus,« Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 16, Schwerpunkt: Daniel Kehlmann (2017): 37-55, hier: 50.
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um jeden Preis mit lang gepflegten Erzähltraditionen zu brechen.«60 Stattdessen sei er einfach »brillant geschrieben, dramaturgisch meisterhaft gebaut, schon deshalb höchst unterhaltsam und nachweislich enorm publikumswirksam.«61 Tatsächlich kann Kehlmanns Werk als Fortsetzung einer sogenannten Renaissance des Erzählens gedeutet werden, die im deutschsprachigen Raum in den 1980er Jahren mit Die Entdeckung der Langsamkeit (1983) von Sten Nadolny und Das Parfum von Patrick Süskind begonnen hat und sich in den 1990er Jahren in den Werken Christoph Ransmayrs, Robert Schneiders und Helmut Kraussers fortsetzte.62 Die poetologischen Positionen dieser Autoren kennzeichnen sich neben einer Ablehnung des vermeintlichen politischen Sendungsbewusstseins der deutschen Nachkriegsliteratur vor allem durch eine »Lust am Fabulieren«63 sowie das »Vordringen […] eines historisierenden, unterhaltenden, artistischen oder phantastischen Erzählens«.64 Die Textur dieser Romane sei, so Baßler, nicht widerspenstig, sondern garantiere einen »widerstandslosen Übergang von der Textebene […] zur Darstellungsebene.«65 Die »leichte Lesbarkeit«, die sich daraus ergibt, betrachtet Baßler als die Vorbedingung für eine massenhafte Popularität.66 Ein zweiter Schlüssel für den exorbitanten Erfolg von Die Vermessung der Welt liege Baßler zufolge im »Angebot einer doppelten Identifikation«.67 Die Leser*innen können sich zusammen mit den unverstandenen Genies Gauß und Humboldt über die normale Welt erheben,68 die sich, habe man ihre Geheimnisse und Mysterien entwirrt, in Wirklichkeit »so enttäuschend ausnahm, sobald man erkannte, wie dünn ihr Gewebe war, wie grob gestrickt die Illusion, wie laienhaft vernäht ihre Rückseite«,69 so ein lamentierender Gauß. Zur gleichen Zeit können sie sich über die Verschrobenheit der beiden deutschen Gelehrten lustig machen,70 die genauso wie der kleinwüchsige Oskar aus Die Blechtrommel oder der bucklige und hinkende Grenouille aus Das Parfum für ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten einen Preis bezahlen müssen. Hinzu kommt noch das Lachen über nationale Stereotypen. Man lache zusammen mit den erfindungsfreudigen
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Uwe Wittstock, »Daniel Kehlmann und die Risse der Realität,« Die Welt, 16. Dez., 2006, https://w ww.welt.de/print-welt/article702761/Daniel-Kehlmann-und-die-Risse-in-der-Realitaet.html (abgerufen 15.01.2019). Ebd. Als einsamer Vorläufer dieser Renaissance des Erzählens wird immer wieder der 1959 erschienene Roman Die Blechtrommel von Günter Grass erwähnt. Kehlmann porträtiert Grass in den Göttinger Poetikvorlesungen übrigens als magisch-realistischen Erzähler, der aber von der Kritik und in der Forschung nicht als solcher wahrgenommen worden sei. Kehlmann, Diese sehr ersten Scherze, 14. Nikolaus Förster, Die Wiederkehr des Erzählens. Deutschsprachige Prosa der 80er und 90er Jahre (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1999), 5-6. Jochen Vogt, »Langer Abschied von der Nachkriegsliteratur? Ein Kommentar zum letzten westdeutschen Literaturstreit,« in ›Erinnerung ist unsere Aufgabe‹. Über Literatur, Moral und Politik 19451990, Hg. ders. (Opladen: Westdeutscher Verlag, 1991),173-187, hier: 180. Baßler, »Genie erzählen,« 40. Ebd., 40. Ebd., 49. Ebd., 49. Daniel Kehlmann, Die Vermessung der Welt, 42. Auflage (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2017), 59. Das Werk wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert. Baßler, »Genie erzählen,« 49.
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Südamerikanern und sinnenfreudigen Franzosen über die nüchternen und humorlosen Deutschen und vice versa; man sei für Fantasie und gegen blutleere Vernunft, zugleich aber für Wissenschaft und gegen Aberglaube usw.71 »Als Leser«, so konkludiert Baßler, »steht man hier sozusagen immer auf der richtigen Seite.«72 Dieses Argument der »doppelten Identifikation« ist gewiss stichhaltig. Die folgende Analyse zeigt aber, wie der Text die nationalen Identifikationsangebote nicht einfach fortschreibt, sondern immer wieder problematisiert und unterbricht. Einen dritten Grund für den Erfolg sieht Heinz-Peter Preußer in der Tatsache, dass Kehlmann seinem Lesepublikum »einen vertrauten Diskurs in gewandeltem Modus« präsentiert, nämlich den Diskurs der Zivilisationskritik.73 War dieser im zivilisationskritischen Doppeljahrzehnt der 1970er und 1980er Jahre eine »Chiffre für die universale Katastrophe«, erzielt er in Die Vermessung der Welt komische Effekte.74 Diese heitere Fassung der Zivilisationskritik war diesem Diskurs bislang nicht zu eigen, macht ihn aber genießbar und verkäuflich.75 Auch Mark Anderson sieht in der Abwandlung eines vertrauten Diskurses eine Erfolgsformel. So ordnet er Kehlmanns Roman in eine deutsche Traditionslinie von literarischen Auseinandersetzungen mit den aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgehenden Schuldfragen und Tabus ein, sieht aber im Verfahren der Komik und der Satire eine grundsätzlich neue Herangehensweise: »In any case, Kehlmann’s Measuring the World is no less concerned with ›the German question‹; it simply provides a different means of exorcising the ghosts in the national closet. One might compare its satire of die Klassik to Christo and Jeanne-Claude’s wrapping of the Reichstag in 1995, when this most somber historical side suddenly became something playful and light – for a moment.«76 [Herv. i.O.]
Ein historischer Gegenwartsroman Andersons Vergleich mit Christos und Jeanne-Claudes Verhülltem Reichstag rückt Die Vermessung der Welt in einen gegenwärtigen Diskurs über nationale Identität. Der Roman thematisiert nicht nur die allmähliche Erfindung der Nation im frühen 19. Jahrhundert, sondern auch deren »Wiedererfindung«77 nach 1990, indem er sich mit gegenwärtigen nationalen Identifikationsmustern wie Preußen und der Kulturnation auseinandersetzt und Humboldt und Gauß als zwei exemplarische deutsche Bildungsbürger porträtiert. Der Gegenwartsbezug wird schon ganz am Anfang des Romans evoziert. Als Gauß zusammen mit seinem ungeliebten Sohn Eugen anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses auf Einladung von Alexander von Humboldt 1828 von Göttingen nach Berlin reist, schildert der Text eine Stadt, die sich in mehreren Hinsichten mit dem Berlin der 1990er Jahre verknüpfen lässt:
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Ebd., 49. Ebd., 49. Preußer, »Zur Typologie der Zivilisationskritik,« 74. Ebd., 74. Ebd., 74. Anderson, »Humboldt’s Gift«. Assmann, Geschichte im Gedächtnis, 180.
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»Sie erreichten Berlin am Spätnachmittag des nächsten Tages. Tausende kleiner Häuser ohne Mittelpunkt und Anordnung, eine ausufernde Siedlung an Europas sumpfigster Stelle. Eben erst hatte man angefangen, prunkvolle Gebäude zu errichten: einen Dom, einige Paläste, ein Museum für die Funde von Humboldts großer Expedition. In ein paar Jahren, sagte Eugen, werde das hier eine Metropole sein wie Rom, Paris oder Sankt Petersburg. Niemals, sagte Gauß. Widerliche Stadt!« (13-14) Wie Katharina Grabbe bemerkt, erscheint das Berlin anno 1828 hier als eine ebenso große Baustelle wie das Berlin der 1990er Jahre.78 Die Schwelle zwischen den östlichen und westlichen Teilen der Stadt, zwischen dem Brandenburger Tor und dem Leipziger Platz, war nach dem Mauerfall ein Niemandsland aus Gras und Schlamm, ein schemenhaftes Gespinst von nirgendwohin führenden Fußwegen.79 Durch die riesigen Bauvorhaben etwa am Potsdamer Platz, im Regierungsviertel oder am Hauptbahnhof bildeten Kräne und Gerüste das Aushängeschild der Stadt. Auch heute wird der öffentliche Berlindiskurs durch die zahlreichen Bauprojekte mitbestimmt. Während Kehlmanns BerlinTextstelle ausmalt, wie sich die Stadt als Repräsentantin Preußens allmählich gestaltet, rückt in den städtebaulichen Debatten seit den 1990er Jahren die Gestaltung Berlins als Hauptstadt der Berliner Republik und damit als Repräsentantin der Nation in den Mittelpunkt.80 Letzteres zeigt sich sehr deutlich in der Berliner Stadtschlossdebatte, die im letzten Kapitel besprochen wird. Gerade die darin vorherrschende Rhetorik der verlorenen Mitte greift Kehlmanns kurze Berlin-Passage auf, indem die Stadt »ohne Mittelpunkt« (13) erscheint. Dieser Hinweis auf die Stadtschlossdebatte sowie auf das 2002 lancierte Projekt des sogenannten Humboldt Forums am Anfang des Textes – man hat gerade angefangen, ein »Museum für die Funde von Humboldts großer Expedition« (13) zu errichten – macht deutlich, dass Kehlmanns historischer Roman ebenfalls von der gegenwärtigen Wiedererfindung der Nation erzählt. Wie in der Einführung dargelegt wurde, bezog sich die neue Berliner Republik für den Entwurf nationaler Identität auf Preußen. Die detailtreue Rekonstruktion des preußischen Stadtschlosses in Berlin, die Überführung der sterblichen Überreste Friedrichs II. und dessen Vater nach Potsdam, das ›Preußenjahr 2001‹ – all diese Ereignisse zeugen von einem neuen, unverkrampfteren Umgang mit der nationalen Geschichte und deren Nationalsymbolen. Als selbsterklärter »Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt«,81 beteiligt sich Die Vermessung der Welt an diesem Aufstieg Preußens als Folie für den Entwurf nationaler Selbstbilder nach 1990, und zwar auf kritische Weise. Während der Roman in den zahlreichen Rezensionen als ein besonders unterhaltsames Buch über zwei besonders langweilige Wissenschaftler gelobt wurde, hat die deut-
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Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 211. Andreas Huyssen, »The Voids of Berlin,« in Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory, Hg. ders. (Stanford: Stanford University Press, 2003), 49-71, hier: 55-56. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 211. Daniel Kehlmann, »›Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker‹. Ein Gespräch mit Daniel Kehlmann über unseren Nationalcharakter, das Altern, den Erfolg und das zunehmende Chaos in der modernen Welt,« interviewt von Felicitas von Lovenberg, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Feb., 2006, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/bucherfolg-ich-wollte-schrei ben-wie-ein-verrueckt-gewordener-historiker-1304944.html (abgerufen 24.11.2018).
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
sche Rezeption – so Kehlmann selbst in der Frankfurter Allgemeine Zeitung – eines der Hauptthemen erstaunlicherweise kaum beachtet: die Beschäftigung mit Deutschland und dessen »Nationalcharakter«.82 Der Roman sei »eine recht aggressive Satire über das Deutschsein«.83 Für den Entwurf dieses Deutschlandbildes greift Die Vermessung der Welt immer wieder auf stereotype preußische ›Tugenden‹ wie bedingungsloses Pflichtbewusstsein, penible Ordnungsliebe, eiserne Disziplin, asketische Selbstbeherrschung und nüchterne Sachlichkeit zurück, wie in der Analyse gezeigt wird. So sind ›das Preußische‹ und ›das Deutsche‹ nahezu einwechselbar, ja ist ›das Preußische‹ genau dasjenige, das ›deutsch sein‹ auszeichnet. Als Humboldts aufmüpfiger und sinnenfreudiger Begleiter, der französische Botaniker Aimé Bonpland, zum Beispiel witzelt, dass ein Deutscher und Humor nicht zusammenpassen, antwortet Humboldt gereizt: »Ein Preuße könne sehr wohl lachen. In Preußen werde viel gelacht. Man solle nur an die Romane von Wieland denken oder die vortrefflichen Komödien von Gryphius. Auch Herder wisse einen guten Scherz wohl zu setzen.« (111) Diese im 19. Jahrhundert durchaus positiv besetzte preußische Sonderstellung führt Kehlmann ad absurdum. »Müsse man immer so deutsch sein?«, so stößt Bonpland voller Unglauben aus, als Humboldt das einmalige Phänomen einer gänzlichen Sonnenfinsternis durch seine unermüdliche Vermessungsarbeit und seine als preußisch dargestellte Disziplin einfach verfehlt hat: »Er habe es nicht gesehen, sagte Humboldt. Nur die Projektion. Er habe das Gestirn im Sextanten fixieren und auch noch die Uhr überwachen müssen. Zum Aufblicken sei keine Zeit gewesen. […] Manche nähmen ihre Arbeit eben ernster als andere!« (80) Pflichtbewusstsein schreibt Kehlmann zu einer Geschichte der Entsagung um, Selbstbeherrschung wird zur »Lebensuntauglichkeit«.84 Das sind typische Themen und Motive des deutschen zivilisationskritischen Diskurses, die Kehlmann aber in einer komisch-ironischen Fassung präsentiert, wie dieses kurzes Beispiel schon veranschaulicht. Zudem krönt Kehlmann mit Alexander von Humboldt eine der Galionsfiguren der gegenwärtigen Preußen-Renaissance zum Protagonisten seines Romans.85 Auch mit 82
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Ebd. Wie Grabbe bemerkt, findet sich das ›Deutsche‹ als Thema des Romans eher in der ›Auslandsgermanistik‹ wieder. So liest Joshua Kavaloski den Roman als eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen Debatten um eine deutsche ›Leitkultur‹. Joshua Kavaloski, »Periodicity and National Identity in Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt,« Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 9 (2010): 263-287. Stuart Taberner bemerkt Parallelen zwischen der Zeit, in der Die Vermessung spielt, und dem Deutschland nach 1990. So erzähle der Roman auch von der deutschen Wiedervereinigung (obwohl Taberner diese These dann doch nicht wirklich ausarbeitet). Stuart Taberner, »Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt (Measuring the World),« in The Novel in German Since 1990, Hg. ders. (Cambridge: Cambridge University Press, 2011), 255-269. Marek Jakubów interpretiert den Roman als den Versuch, »ein alternatives Bild der nationalen kulturellen Tradition zu liefern«. Marek Jakubów, »Abschied von der Kulturnation,« Studia Niemcoznawcze/Studien zur Deutschkunde 47 (2011): 59-70, hier: 64. Kehlmann, »›Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker‹. So schrieb Andreas Maier im Booklet des Hörbuchs zu Die Vermessung der Welt: »die große deutsche Geistesgeschichte, eine einzige Lebensuntauglichkeit«. Zitiert nach Kehlmann, »›Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker‹. Vgl. zum Beispiel Rüdiger Schaper, Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten (München: W.J. Siedler, 2018), 254: »Etwas Besseres als der Name Humboldt lässt sich mit Preußen nicht
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Humboldt setzt sich Die Vermessung der Welt kritisch auseinander. So bildet der Roman ein Gegengewicht zu den überschwänglichen Lobliedern auf Humboldt als offenen Weltbürger und zukunftsweisenden Universalgelehrten, wie sie von Matussek, Enzensberger und auch den Befürwortern des Humboldt Forums (vgl. Kap. 6) verbreitet werden. In Kehlmanns literarischem Humboldt-Porträt brechen die Ambivalenzen des aufklärerischen Ganzheitsdiskurs durch, indem der preußische Gelehrte durch seinen Vermessungswahn, Harmonisierungszwang und einseitigen europäischen Forschungsblick nicht nur sich selbst, sondern auch der Natur und Kultur Südamerikas auf zugleich rücksichtlose und naive Weise Gewalt antut. Das universalistische Projekt der Aufklärung wird in Die Vermessung der Welt vor dem Hintergrund der Nationenbildung und des Kolonialismus problematisiert. Von einem interkulturellen Dialog kann im Roman – zumindest auf den ersten Blick – nicht die Rede sein; vielmehr lässt Kehlmann die europäische Aufklärung und die südamerikanische Kultur, mit ihrer Vorliebe für das Magische im Alltäglichen, aufeinander prallen. Damit zog sich Kehlmann die Wut einiger empörter Wissenschaftler zu, die diese »Gelehrtensatire«86 wegen der »hanebüchenen […] Fehler, Erfindungen und Verdrehungen«87 niedersäbelten. Anders als zum Beispiel Enzensberger stellt Kehlmann seinen Protagonisten nicht als unabhängigen Forscher dar, der sich »nicht einbinden, festnageln, reduzieren«88 lassen wollte. Humboldt wird immer wieder ausdrücklich als »Beamter der preußischen Krone« (76), der sogar nachts seine Staatsuniform trägt, porträtiert, wodurch Wissen und staatliche Macht miteinander verschränkt werden. Auch geht Humboldt mehr als einmal Kompromisse mit autoritären Regierungen ein. Damit er in Südamerika frei reisen kann, benötigt er von der kolonialen Großmacht Spanien zunächst einen Pass, und redet dem spanischen Minister deshalb nach dem Munde. Für seine späte RusslandExpedition verspricht er dem Zaren Nikolas I., der seine Forschungsreise finanziert und die Strecke zusammenstellt, sich nicht mit sozialen und politischen Angelegenheiten zu beschäftigen. Humboldts Kompromissbereitschaft ist Gegenstand der Novelle Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert von Christoph Hein, die in der Coda dieses Kapitels besprochen wird. Darüber hinaus macht Kehlmann den preußischen Entdeckungsreisenden zur kulturellen Schachfigur der Weimarer Klassik, die im Roman von Schiller, Wieland, Wilhelm von Humboldt und vor allem Goethe vertreten wird. Indem außer Alexander von Humboldt der feste Cast der Weimarer Klassik auf skizzenhafte Weise im Roman auftritt, bezieht sich Kehlmann für sein Deutschlandbild auch auf die gegenwärtige Wiederentdeckung der Kulturnation als (neokonservatives) Identifikati-
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verbinden. Humboldt, das ist die Überwindung Preußens aus dem preußischen Geist.« Schaper versucht hier offensichtlich, den ›echten‹ preußischen Geist, von dem er den aufgeklärten Humboldt als Vertreter sieht, von den (politischen) Fehlentwicklungen zu trennen. Ottmar Ette, »Alexander von Humboldt in Daniel Kehlmanns Welt,« Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien XIII, 25 (2012): 34-40, hier: 38. Nachbemerkung der Redaktion zu: »Auch ein Beitrag zum Humboldt-Jahr. Drei Stimmen zu Daniel Kehlmanns Roman ›Die Vermessung der Welt‹,« in Lichtenberg-Jahrbuch, Hg. Ulrich Joost, Alexander Neumann (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2009), 262-267 hier: 263. Enzensberger, »Der Mann geht stets aufs Ganze«.
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
onsmuster für Deutschland als Land der Dichter und Denker. Als »verspätete Nation«89 oder genauer: verspäteter Nationalstaat, der aus den imaginären Selbstzuschreibungen des Bildungsbürgertums hervorging, stellt das Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Modellfall einer Kulturnation dar, die sich trotz des Fehlens territorialer Einheit durch eine gemeinsame kulturelle Tradition, durch eine Sprache und durch gemeinsame Sitten und Bräuche auszeichnet. Für dieses Selbstbild bezog sich das Bildungsbürgertum selbstbewusst auf die Weimarer Klassik, mit anderen Worten auf Geist und Bildung. Dies hatte laut dem Historiker Herfried Münkler zur Folge, dass die Diskrepanz von Politik und Kultur zum »deutschen Wesensmerkmal« wurde.90 Wie Münkler behauptet, ging diese hervorgehobene Stellung Weimars zudem mit einer Neigung zur »Selbstmusealisierung« und nostalgischen Erstarrung einher, die schon in den 1820er Jahren, also noch zu Lebzeiten Goethes, festzustellen war.91 An diese Tradition von Deutschland als Land der Dichter und Denker knüpfte man nach der deutsch-deutschen Vereinigung wieder an. Einerseits ersetzte die ›Kulturnation‹ den ideologisch belasteten Begriff des Kulturerbes, der aus der DDR-Zeit stammte. Andererseits wollte man den guten Ruf der deutschen Kultur wiederherstellen, der durch den Nationalsozialismus befleckt worden war: Geist und Bildung hätten mit den Fehlentwicklungen und Verbrechen der gescheiterten nationalen Politik nichts zu tun.92 Auf diese Loslösung der Kulturnation von der politischen Geschichte Deutschlands nimmt Kehlmann auf kritische Weise Bezug, nicht nur im Roman selbst, wie noch gezeigt wird, sondern auch in Interviews und Essays: Es wäre, »als müßte man nur fest genug das Deutschland vor Hitler und Ludendorff zurückwollen, und schon wäre der Wunsch Wirklichkeit«,93 so Kehlmann in seinem Essay »Wo ist Carlos Montúfar?« (2005). »Es gelingt uns einfach nicht, so kritisiert der Autor diesen Wunsch in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, »die große Humanität der Weimarer Klassik zu betrachten, ohne mitzudenken, wie traurig und entsetzlich es ist, dass diese Tradition nicht verhindern konnte, was dann in der NS-Zeit geschah«.94 Vor allem im SchillerJahr 2005 – also im selben Jahr, als Die Vermessung der Welt veröffentlicht wurde – tauchte der Begriff ›Kulturnation‹ überraschend oft in Festreden und Artikeln auf. Wie Sigrid Weigel argumentiert, ist dieser Diskurs symptomatisch für den Versuch, eine Art »gefühlter Nation« zu entwerfen in einem Staat, in dem Politik anscheinend auf das Niveau von Betriebswirtschaft reduziert worden ist.95 Tatsächlich beschwört der ehemalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin in der Frankfurter Allgemeine Zeitung den »Glanz einer Bildungs- und Kulturnation« gegen die vermeintlich exklusive Orien-
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Helmut Plessner, Die verspätete Nation. Über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, 2. Auflage (Stuttgart: Kohlhammer, 1959). Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 336-337. Ebd., 348. Sigrid Weigel, »Zwanghafte Einheit. Phantome der Kulturnation,« Die Tageszeitung, 7. April, 2008, https://www.taz.de/!5183990/ (abgerufen 24.11.2018); Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 330. Kehlmann, »Wo ist Carlos Montúfar?,« 23. Kehlmann, »Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker«. Schon die Genese des Konzepts ›Kulturnation‹ im 19. Jahrhundert wurde von einer Kritik an der Vorherrschaft der Wirtschaft begleitet. Vgl. Weigel, »Zwanghafte Einheit«.
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tierung Deutschlands am wirtschaftlichen Nutzen unter dem Titel »Das hat Humboldt nie gewollt« herauf.96 In diesem Sinne stellt sich das Ende von Die Vermessung der Welt als ziemlich ironisch heraus. Während die ehemaligen Heroen der Wissenschaft Humboldt und Gauß von den jüngeren Kollegen inzwischen überflügelt worden sind, wandert der von seinem Vater immer wieder heruntergemachte Eugen Gauß nach einem Zusammenstoß mit der Polizei während einer geheimen Studentenversammlung nach Amerika aus. Dort wird er zusammen mit einem mitreisenden Iren ein »Geschäft aufmachen, eine kleine Firma« (301) gründen. Dieser befreiende Abschied von der deutschen Kulturnation – im Abenddunst taucht die Freiheitsstatue (anachronistisch) auf – ist aber nicht so sehr gegen Deutschlands kulturelle Helden an sich gerichtet, so wird im Folgenden argumentiert, als vielmehr gegen deren Erstarrung zu monumentalen Leitbildern für den Entwurf nationaler Identität. »Mein Buch ist kein patriotisches Buch. Natürlich auch nicht das Gegenteil«,97 so verdeutlicht Kehlmann sein Verhältnis zu Deutschland und dem deutschen kulturellen Erbe in Der Spiegel. Preußen scheint dann, so suggeriert die Darstellung der beiden Humboldt-Brüder als autistisch verkrampfter, rigoroser Wissenschaftler, diese Erstarrung geradezu zu verkörpern. Der jüngere Bruder ruht nicht, bevor er jeden Fluss, Berg und See vermessen und kartografiert hat, der Ältere diktiert seinem Sekretär jeden Tag zwischen sieben und halb acht abends ein Sonnet. »Die Humboldt-Brüder«, so schreibt Kehlmann in seinem Essay »Wo ist Carlos Montúfar?«, »sowohl Alexander als auch der ungleich erschreckendere Wilhelm, waren gewiß die Zähesten, die am hartnäckigsten zur Klassizität Entschlossenen unter den Weimarern. […] [I]mmer blieben sie Klassiker aus schierer Willensanstrengung«,98 wobei diese Willensanstrengung wiederum eine Frage der preußisch-deutschen Disziplin ist. Zwar spielt der Roman mit nationalen Stereotypen und Gemeinplätzen, die die Komplexität des preußisch-deutschen Erbes in eine bildhafte Oberflächlichkeit transformieren und so gerade die Voraussetzung für vielfältige Identifikations- und Projektionsstrategien bilden.99 Diese starren Vorstellungen von Identitäten werden aber immer wieder unterlaufen, so wird in der Textanalyse gezeigt. Nicht nur thematisiert auch Die Vermessung der Welt die »fröhliche Relativität einer jeden Ordnung«,100 wie Michail Bachtin es in Literatur und Karneval ausdrückt, und zwar anhand karnevalesker Motive. Auch stellt der Roman seine Repräsentations- und Inszenierungsmechanismen zur Schau, was die Illusion von Unmittelbarkeit unmöglich oder jedenfalls problematisch macht.
Julian Nida-Rümelin, »Das hat Humboldt nie gewollt,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. März, 2005, https://www.zeit.de/2005/10/Kulturnation (abgerufen 24.11.2018). 97 Daniel Kehlmann, »›Mein Thema ist das Chaos‹. Der Bestseller-Autor über die Entstehung seines Forscherromans ›Die Vermessung der Welt‹, das Verhältnis von literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz und die Kränkung des Menschen durch die Entdeckungen der Quantenphysik,« interviewt von Matthias Matussek, Mathias Schreiber und Olaf Stampf, Der Spiegel 49, 5. Dez., 2005, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43513122.html (abgerufen 24.11.2018). 98 Kehlmann, »Wo ist Carlos Montúfar?,« 23. 99 Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 191. 100 Bachtin, Literatur und Karneval, 51. 96
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Rahmenerzählung: Die Erfindung der Nation Die Vermessung der Welt erzählt in neun episodenhaften Kapiteln abwechselnd vom Leben und Forschen Alexander von Humboldts und Carl Friedrich Gauß’. Der eine gilt als zukunftsfroher Aufklärer und sammelnder Empiriker, der andere als grübelnder Stubengelehrter, der mathematische Probleme mithilfe der Logik zu Hause am Schreibtisch löst. Diese Kapitel werden durch die Erzählung über eine Begegnung der beiden inzwischen gealterten Figuren anlässlich des Deutschen Naturforscherkongresses 1828 in Berlin gerahmt. Wie Grabbe darlegt, rückt insbesondere die Rahmenerzählung die fiktionalisierte Doppelbiografie in den Kontext des damaligen Deutschland-Diskurses und der aufkommenden nationalen Bewegungen.101 Schon auf der zweiten Seite des Romans wird Eugen Gauß, der den Vater nach Berlin begleitet, als Exponent zweier wichtigen Gruppierungen im Prozess der Nationenbildung dargestellt, deren nationales Pathos von den Erfahrungen der preußischen Befreiungskriege gegen Napoleon herrührte.102 Zum einen gehört Eugen mit Knotenstock, langen Haaren und roter Mütze zu den Burschenschaften, zum anderen hat er das Buch Deutsche Turnkunst von Friedrich Ludwig Jahn, »eines seiner Lieblingsbücher« (8), dabei, was ihn als Anhänger der deutschen Turnbewegung erkennbar werden lässt. Diese Bewegung war insbesondere in Preußen stark vertreten.103 Wie Grabbe argumentiert, wird der Kontext des aufkommenden Nationalismus also besonders über visuelle Attribute und modische Details heraufbeschworen.104 Damit setzt der Text nicht nur ein bestimmtes Wissen bei seinem (gebildeten) Leserpublikum voraus, sondern bezieht sich auch auf einen »Modus der Kommunikation«,105 der für die erwähnten nationalistischen Gruppierungen kennzeichnend ist. Als fester Bestandteil der ›altdeutschen Tracht‹ – eine Mode, die im Zuge der napoleonischen Kriege in Abgrenzung von der französischen Kleidung populär wurde – inszenieren der Knotenstock und das lange Haar das deutsche Nationalbewusstsein am (männlichen) Körper.106 Auch das Turnen ist ein »nationales Kommunikationssystem, das am Körper ansetzt.«107 Es macht das Streben der Turnbewegung nach Überwindung der partikularstaatlichen Zersplitterung über Bewegung, Körperhaltung und rituelle Inszenierungen sichtbar.108 Ziel der Gymnastikübungen ist es ja, ein »ganzer Kerl« (232) zu werden, so wird im zweiten Teil der Rahmenerzählung verdeutlicht. Der Roman lenkt mit anderen Worten die Aufmerksamkeit auf die visuellen Inszenierungsstrategien, die notwendig sind, um »Vorstellungen der Einheit
101 Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 193-197, hier: 193. 102 Ebd., 193, 194. 103 Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa (München: C.H. Beck, 2000). Siehe vor allem das Kapitel »›für Volk und Vaterland kräftig zu würken…‹. Zur politischen und gesellschaftlichen Rolle der Turner zwischen 1811 und 1871,« 103-131. 104 Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 195. 105 Ebd., 195. 106 Ebd., 195. 107 Gertrud Pfister, »Frisch, fromm, fröhlich, frei,« in Deutsche Erinnerungsorte 2, Hg. Etienne François, Hagen Schulze (München: C.H. Beck, 2002), 202-220, hier: 202. 108 Ebd., 202.
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und Ganzheit zu schaffen, über deren Vermittlung die Beteiligten erst rückwirkend zu einem Selbstverständnis, zu einem Eigenbild finden«.109 Dass es zu diesem Zeitpunkt aber noch keine territorial definierte Staatlichkeit gibt, die die Nation als Einheit sichtbar machen kann, wird deutlich, als ein Gendarm in einer Gastwirtschaft an einer Grenzstation die Pässe der beiden Reisenden verlangt. Eugen besitzt einen »Passierschein: Ein Zertifikat des Hofes, in dem stand, daß er, wiewohl Student, unbedenklich sei und in Begleitung des Vaters preußischen Boden betreten dürfe.« (10-11) Der Vater kann aber keinen Pass vorweisen. Das Erstaunen des Gendarmen – »gar keinen Paß, […] keinen Zettel, keinen Stempel, nichts?« (11) – veranschaulicht, wie sehr die preußische Obrigkeit in der Restaurationszeit auf die stichfeste Überwachung ihrer Bürger vertraut.110 Ein anderer Gast mischt sich in den Zwischenfall ein und lenkt so die Aufmerksamkeit auf sich, wodurch Vater und Sohn die Reise fortsetzen können: »Das alles werde enden! Deutschland werde frei sein, und gute Bürger würden unbehelligt leben und reisen, gesund an Körper und Geist, und kein Papierzeug mehr brauchen.« (12) Eugen teilt die Meinung dieses Restaurationskritikers, so lesen wir später: »Es gebe starke Bewegungen im Land, Freiheit sei nicht mehr bloß ein Schillersches Wort.« (221) Die strenge polizeistaatliche Kontrolle der Bürger im Deutschen Bund manifestiert sich auch in der Begrüßungsszene anlässlich Gauß’ Ankunft bei Humboldt, wenn ein Polizist das Empfangskomitee für eine »Zusammenrottung« (16) hält, die das allgemeine Versammlungsverbot übertritt. Im zweiten Teil der Rahmenerzählung werden diese Hinweise auf die politische Lage im Deutschen Bund und die heranwachsenden nationalen Tendenzen wiederaufgegriffen, als Eugen in eine illegale Studentenversammlung gerät. Als Sprecher tritt der aufsässige Mann aus der Gastwirtschaft auf. Seine charismatische Erscheinung – »er war schlank und sehr groß, hatte eine Glatze und einen langen grauen Bart« (230) – und seine muskulöse Rede – ein gestraffter Körper diene der Stärkung der Nation – machen ihn als Turnvater Jahn erkennbar, obwohl der Mann angeblich anonym bleiben möchte: »Meinen Namen sollt ihr nicht wissen!«, donnert der Redner dramatisch. Kehlmann führt die nationalistische Rhetorik ad absurdum, verwandelt gleichsam die politische Tragödie in eine Komödie, indem er den Redner an seinem wackligen Stehpult einige tölpelhafte Squat-Übungen ausführen lässt. (232) Die slapstickartige Komik nimmt der Szene jede Erhabenheit und stört jede nostalgisch-pathetische oder identifizierende Reaktion, den der Redner bei den Zuhörern heraufbeschwört: »Er bückte sich und verharrte einen Moment, bevor er in rhythmischen Bewegungen sein Hosenbein hochkrempelte. Auch hier! Er klopfte mit der Faust an seine Wade. Rein und stark, felgaufschwungfest, klimmzugshart, wer wolle, könne fühlen. Er richtete sich auf und stierte ein paar Sekunden in den Raum, bevor er mit Donnerstimme schrie: Wie dieses Bein sei, so müsse Deutschland werden! […] Mehreren Zuhörern stand der Mund weit offen, vielen liefen Tränen über das Gesicht, einer hatte zitternd die Augen geschlossen, sein Nebenmann biß sich vor Erregung in die Finger.« (231)
109 Koschorke, Lüdemann, Frank, Matala de Mazza, »Vorwort,« in Der fiktive Staat, 11. 110 Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 195.
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Diese zeitweilige affektive Gemeinschaft zersplittert aber, sobald vier Gendarmen hereinkommen und den Redner verhaften. Die als ›Schule der Männlichkeit‹ dargestellte preußisch-deutsche Turnbewegung, in der der gezüchtigte Körper als zentrale Vermittlungsinstanz zu ›männlichen‹ Denk- und Verhaltensweisen erscheint, wird mit Strategien der Übertreibung als Fiktion entlarvt: Die »wackeren Burschen« »schluchzen hemmungslos« (231) und flehen die Polizisten um Milde an. Später stellt sich heraus, dass der anonyme Redner gar nicht Turnvater Jahn, sondern ein Betrüger, ein Lookalike, gewesen sein soll, was die Szene zu einer grotesken Mimikry werden lässt: »Nun scheine es gottlob, daß der Redner bloß einer der vielen Nachahmer sei, die unter seinem Namen das Land durchstreiften« (257), so erklärt ein Polizist Humboldt später. So leistet der Text auf spielerische Weise Widerstand gegen starre Vorstellungen von (nationaler) Identität und lenkt die Aufmerksamkeit auf die (Re-)Inszenierungsmechanismen, mit denen eine Nation oder eine Gemeinschaft sich ständig (neu-)erfindet.
Erziehung zum deutschen Mann: Bildung und Zucht Durch die Rahmenerzählung über die Erfindung der Nation werden die beiden Forscherporträts der Binnenerzählung als zwei exemplarische Bilder des Deutschen oder des deutschen Bildungsbürgers lesbar.111 Während sich Humboldt vor allem durch extreme Leistung und Zucht, Pflicht und Ordnung kennzeichnet, erscheint Kehlmanns Gauß als genialer Kauz, der sich als Kind in einigen wenigen Stunden das Lesen beigebracht hat (55) und bereits im frühen Alter die schwierigsten mathematischen Übungen lösen konnte, vor allem aber durch beeindruckend wenig soziale Intelligenz auffällt. Er unterbricht zum Beispiel seine Hochzeitsnacht, um im entscheidenden Moment eine astronomische Formel aufzuschreiben. Er ist ein grübelnder Melancholiker, dessen größte Angst darin besteht, in Mittelmäßigkeit abzugleiten, ein desinteressierter Vater, der seine Frustrationen jedes Mal an seinem Sohn Eugen auslässt, ein passionierter Bordellbesucher, der während des Geschlechtsaktes noch immer wissenschaftliche Formeln vor sich hin murmelt, und ein weltfremdes Genie, das sich nicht im Geringsten für Politik interessiert, sogar nicht einmal weiß, wer »dieser Bonaparte« (98) ist. Trotz seiner niederen Herkunft aus dem ärmsten Viertel Braunschweigs kann Gauß aufgrund seiner Begabungen die Errungenschaften der Aufklärung genießen; dank der Bemühungen des prügelnden Grundschullehrers erhält er eine Ausbildung. Das Elternhaus steht dagegen im Zeichen der preußischen Strenge und (Körper-)Disziplin. Die erzieherischen Maßnahmen des Vaters, eines Gärtners mit ständigen Rückenschmerzen, beschränken sich auf die Aufforderung, sich immer aufrecht zu halten: »Ein Deutscher, sagte er immer wieder, während er müde die abendliche Kartoffelsuppe aß, sei jemand, der nie krumm sitze. Einmal fragte Gauß: Nur das? Reiche das denn schon, um ein Deutscher zu sein? Sein Vater überlegte so lange, daß man es kaum mehr glauben konnte. Dann nickte er.« (53-54) Auch Humboldts Erziehung zum »deutsche[n] Mann« (21) steht im Zeichen des aufklärerischen Bildungsideals und der preußischen Zucht. Zusammen mit seinem als sa-
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distisch porträtierten »Erziehungsbruder«112 Wilhelm durchläuft Alexander ein intensives Bildungsprogramm, »zwölf Stunden am Tag, jeden Tag der Woche, ohne Pause oder Ferien« (20), das die beiden Brüder für eine Beamtenkarriere im Dienst des preußischen Staates trimmen soll. Der eine soll zum »Mann der Kultur«, der andere zum »Mann der Wissenschaft« ausgebildet werden. (20) Zudem gilt ihre Erziehung ganz im Sinne der Aufklärung als eine Art Bildungsexperiment, als »ein großer Versuch« (24), für den sich die Mutter bei Goethe persönlich erkundigt hat. Dessen nebelhafte Antwort konnte aber niemand wirklich verstehen, so die humoristische Pointe. So wird Goethe nicht nur von seinem Piedestal gestoßen; die eigentliche Inhaltlosigkeit seiner Antwort impliziert, dass er auch heute vor allem als ein ›Label‹ fungiert und sein Name stellvertretend für die Weimarer Klassik und ihre aufgeklärten Ideen und Bildungsideale steht.113 Das Label Goethe prägt aber nicht nur Humboldts Erziehung, sondern auch seine späteren Expeditionen. Vor seinem Aufbruch nach Südamerika geht Humboldt mit seinem Bruder nach Weimar, wo Goethe ihn beiseite nimmt: »Goethe verschränkte die Arme auf dem Rücken. Und nie solle er vergessen, von wem er komme. Humboldt verstand nicht. Er solle bedenken, wer ihn geschickt habe. Goethe machte eine Handbewegung in Richtung der bunten Zimmer, der Gipsabgüsse römischer Statuen, der Männer, die sich im Salon mit gedämpften Stimmen unterhielten. Humboldts älterer Bruder sprach über die Vorteile des Blankverses, Wieland nickte aufmerksam, auf dem Sofa saß Schiller und gähnte verstohlen.« (37) Wie Grabbe bemerkt, greift Kehlmann für sein skizzenhaftes Goethe-Porträt auf ein tradiertes Goethebild aus dem Bilderarchiv des deutschen Bildungsbürgers zurück: Die schematische Darstellung des Weimarer Klassikers in nachdenklicher Pose mit den Armen auf dem Rücken verschränkt erinnert an das bekannte Gemälde Goethe, in seinem Arbeitszimmer, dem Schreiber John diktierend (1831) von Joseph Johann Schmeller.114 Auch die im Text angesprochene Flucht von farbigen Zimmern in Goethes Wohnung am Weimarer Frauenplan, die seit 1998 zum UNESCO-Welterbe gehört und als Museum zu besuchen ist, wird als bekannt vorausgesetzt. Zum einen schreibt der Roman auf diese Weise tradierte Bilder der Weimarer Klassik fort und erschließt sie für den Entwurf heutiger kollektiver Selbstbilder. Die bildhafte Oberflächlichkeit der Szene – das Programm der Weimarer Klassik wird nicht erläutert, sondern mit einer schlichten Handbewegung in Richtung der römischen Statuen und der sich über Kunst und Kultur unterhaltenden Männer vor Augen geführt – macht die Weimarer Klassik als Identifikationsmodell umso anschlussfähiger. Diese Oberflächlichkeit verdeutlicht zudem, dass Goethe auch im Ausland das Image von Deutschland als Land der Dichter und Denker prägt, denn auch das nicht-deutsche Publikum kann diese Handgeste ohne weitere Erläuterung verstehen.115 Zum anderen lenkt diese Textstelle die Aufmerksamkeit auf die fiktionalen Inszenierungsmechanismen, die mit einem solchen Selbstentwurf einhergehen. Das
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Daniel Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze, 42. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 202-203. Ebd. 203. Ebd., 202-203.
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macht sie einerseits durch ihre überspitzte Stilisierung, andererseits durch den Rückgriff auf ein Gemälde, der die malerische Inszenierung gleichsam im Medium des Textes reinszeniert. Indem der Roman so auf die Illusion von Unmittelbarkeit verzichtet, wird erneut jede identifizierende Bewegung von Anfang an unterbrochen. Auch problematisiert die Darstellung der Weimarer Klassiker über bekannte und tradierte Bilder Vorstellungen von Authentizität und Unmittelbarkeit in Bezug auf Vergangenheit und Geschichte. Vergangenheit stellt sich als etwas grundsätzlich Konstruiertes heraus, indem sie als fragmentarischer Effekt immer schon vorgefertigter Bilder erscheint. Diese Fragen sind Gegenstand des noch zu besprechenden Romans Der Königsmacher von Friedrich Christian Delius, der der postmodernen Gattungsbezeichnung ›historiografische Metafiktion‹ zuzuordnen ist.
»Oberhalb aller Bergspitzen sei es still«: Aufklärung versus Magischen Realismus Auch wenn Humboldt Goethes warnende Botschaft ›nicht versteht‹, sind die politischen Implikationen des Konzepts Kulturnation in dieser Szene kaum zu überlesen. »Von uns kommen Sie«, so fügt Goethe nachdrücklich hinzu, »von hier. Unser Botschafter bleiben Sie auch überm Meer.« (37) An diesen statischen Kategorien von wir versus sie, hier versus dort, auf die Goethe beharrt, hält Humboldt während seiner Forschungsreisen unverrückbar fest. Anders als Matthias Matusseks Humboldt begegnet Kehlmanns Humboldt der südamerikanischen Kultur nicht offen, mit »neugieriger Liebenswürdigkeit« und »völliger Vorurteilsfreiheit«,116 durch die er auch in der Forschungsliteratur gemeinhin als Wegbereiter eines »weltweiten interkulturellen Dialoges«117 gelobt wird. Vielmehr betrachtet der preußische Entdeckungsreisende den südamerikanischen Kontinent und dessen kulturelle Bräuche aus einem eindimensionalen und überlegenen europäischen Forschungsblick, mit dem er die ›neue Welt‹ nicht nur zu entdecken und erschließen, sondern sie auch seinem aufgeklärten, ›vernünftigen‹ Weltbild zu unterwerfen versucht. »Diese Leute seien allesamt so abergläubisch, […] man merke, welch weiter Weg es noch sei zu Freiheit und Vernunft« (121), so schreibt Humboldt herablassend an seinen Bruder, als seine ›Expedition‹ in eine Grabhöhle bei den indianischen Führern heftigen Widerwillen erregt. Dort zerrte er »mehrere Leichen aus ihren Körben, löste Schädel von Wirbelsäulen, brach Zähne aus Kinnladen und Ringe von Fingern« (120). Er wird also – der Wissenschaft willen – zum Grabschänder und -Plünderer. Aus wissenschaftlichen Gründen sehnt er sich zudem nach einem Vulkanausbruch (167) und freut sich auf ein bevorstehendes Erdbeben, das zwar die ganze Stadt in Trümmer legen, aber auch eine neue Theorie der Erdkruste ermöglichen wird. (69) Weiter hat Humboldt zwei Krokodile mit einem Rudel Hunde zusammensperren lassen, »die Wissenschaft habe es verlangt«. (169) Sein hemmungsloser Wissensdrang berücksichtigt mit anderen Worten keine ethischen Kategorien und ruft so das Motiv des Faustischen in Erinnerung. Matrosen halten Humboldt für den »Teufel« (196) und Bergarbeiter sehen in ihm einen »Dämon« (198), vor dem sie, wo immer er auftaucht, auf die Knie fallen und Gott um Hilfe anflehen. 116 117
Matussek, »Der geniale Abenteurer,« 168. Clark, Lubrich (Hg.), Transatlantic echoes, 1.
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Während seiner Forschungsreise stößt Humboldt überall auf eine Mauer von Verständnislosigkeit, Argwohn und Widerwillen. Die Konfrontation mit Sklaven wird im Text gleichsam als clash of civilizations dargestellt. Als Humboldt bei einer Sklavenversteigerung drei Männern die Ketten abnehmen lässt, wissen sie gar nicht, was sie mit ihrer wiedergewonnenen Freiheit machen sollen, und können ihren Befreier nur hilflos anstieren. (70) Und als Humboldt sich weigert, sich in den Kordilleren wie es Sitte ist von Trägern schleppen zu lassen – »der Menschenwürde wegen« (165) – sind die Träger so beleidigt, dass sie den Baron fast verprügelt hätten. (165) In diesen Szenen wird Humboldt nicht so sehr als bewundernswerter Vorkämpfer für universelle Menschenrechte dargestellt, sondern vielmehr als unbeholfener und naiver Mensch, der für soziale Codes und kulturelle Bräuche kein Auge hat und dadurch blamiert dasteht. Das universalistische Projekt der Aufklärung scheint in Südamerika also an ihre Grenzen zu stoßen und durch den vom Text implizierten kulturellen Relativismus als naive Fiktion entlarvt zu werden. Am Ende des Romans bietet der Text aber ganz unerwartet einen potenziellen Ausweg aus dem starren kulturellen Relativismus, und zwar über die Widerlegung des Jahrtausende lang unanfechtbaren Parallelaxioms Euklids durch Gauß.118 Dieses nimmt an, dass parallele Linien sich nur in der Unendlichkeit kreuzen. Die nichteuklidische Geometrie besagt, dass das euklidische Parallelaxiom zwar auf einer Fläche, aber nicht auf einer Kugel und also nicht auf dem Globus gilt;119 auf dem Globus gebe es unendlich viele parallel zueinander verlaufende geografische Längen, die sich am Nord- und am Südpol dennoch kreuzen. Der Text vereinfacht die Theorie auf humoristische Weise, indem Gauß schon als Schuljunge während einer Ballonfahrt feststellt, der Raum sei ›krumm‹. (66) Diese Einsicht wird in einem Gespräch zwischen Gauß und Humboldt mit den Einsichten jener Ruderer, die Humboldt in Südamerika auf dem Rio Negro begleiteten, verknüpft: »Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze, [sagte Gauß]. Aber der Verstand, sagte Humboldt, forme die Gesetze! Der alte kantische Unsinn. Gauß schüttelte den Kopf. Der Verstand forme gar nichts und verstehe wenig. Der Raum biege sich und die Zeit dehne sich. […] Die Welt könne notdürftig berechnet werden, aber das heiße noch lange nicht, daß man irgend etwas verstehe. Humboldt verschränkte die Arme. […] Was sei das mit dem Raum? Am Orinoko habe er Ruderer gehabt, die ähnliche Witze gemacht hätten. Er habe das Gefasel nie verstanden.« (220) Die unerwartete Verschränkung der Erkenntnisse der modernen Mathematik mit dem magisch-realistischen Weltbild der südamerikanischen Ruderer suggeriert, dass sich
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Vgl. Taberner, »Daniel Kehlmann’s Die Vermessung der Welt (Measuring the World),« 257, 261. Die eigentliche Entwicklung der nichteuklidischen Theorie kam erst eine Generation später, als Gauß’ Schüler Georg Friedrich Bernhard Riemann die Differentialgeometrie gekrümmter Linien entwickelte und 1854 in seinem Habilitationsvortrag vorstellte. Damit legte er das Fundament für die allgemeine Relativitätstheorie Albert Einsteins. Die Protagonisten der allgemeinen Relativitätstheorie, Einstein und Kurt Gödel, treten später noch in Kehlmanns Theaterstück Geister in Princeton (Berlin: Argon, 2013) auf.
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unterschiedliche Kulturen letztendlich doch nicht völlig getrennt, als sich niemals berührende parallele Linien entwickeln, sondern sich annähern und letztendlich kreuzen. Die Ruderer verweisen mit ihren Vornamen Carlos, Gabriel, Mario und Julio auf die südamerikanische Erzähltradition des Magischen Realismus, die Kehlmanns Schreiben – so wird der Autor nicht müde in Interviews, Essays und Poetikvorlesungen zu betonen – zusammen mit dem literarischen Werk Franz Kafkas,120 Vladimir Nabokovs,121 Leo Perutz’ und Thomas Manns weitestgehend geprägt hat.122 Den episodenhaften Erzählgestus des Magischen Realismus zwischen Traum und Wirklichkeit hat Kehlmann in Bezug auf Die Vermessung der Welt als den »Anti-Weimar-Gestus«123 schlechthin bezeichnet; damit bestätigt Kehlmann, so könnte man argumentieren, die stereotypen Dichotomien, die er in seinem Roman durch Strategien der Übertreibung der Lächerlichkeit preisgibt. Tatsächlich sind die »wirre[n] Geschichten« (109), die sich die Ruderer am Orinoko ständig zuflüstern, dem »Abgesandten Weimars in Macondo«124 höchst unheimlich: »Er habe den Eindruck, hier werde ununterbrochen erzählt«, so vertraut Humboldt Pater Zea an. »Wozu dieses ständige Herleiern erfundener Lebensläufe, in denen noch nicht einmal eine Lehre stecke? Man habe alles versucht, sagte Pater Zea. Erfundene Geschichten aufzuschreiben sei in allen Kolonien verboten. Aber die Leute seien hartnäckig […]. Es liege am Land.« (114) Wie sehr sich Humboldt (wie Pater Zea und auch Gauß) als Feind des Erzählens herausstellt, verdeutlicht vor allem seine Rezitation des »schönste[n] deutsche[n] Gedicht[es], frei ins Spanische übersetzt« (128), von dem nur noch das thematische Gerippe übrig bleibt: »Oberhalb aller Bergspitzen sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein« (128), so paraphrasiert Humboldt Goethes ikonisches Gedicht Ein Gleiches. »Es sei natürlich keine Geschichte über Blut, Krieg und Verwandlungen«, so erklärt der Forscher den perplex dreinschauenden Ruderern gereizt; »es komme keine Zauberei darin vor, niemand werde zu einer Pflanze, keiner könne fliegen oder esse einen anderen auf.« (128) Diese Textstelle kann man als das (humoristisch überspitzte) poetologische Programm eines ›neuen Erzählens‹ lesen. Für Bonpland und die Ruderer entspricht Humboldts ›freie Übersetzung‹ keineswegs den Kriterien ›guter‹ Literatur. Gute Literatur bedeutet für sie Geschichten erzählen, und zwar durchaus spannende und unterhaltsame. Der Botschafter Goethes scheitert natürlich auch deshalb, weil er die ästhetischen Bedingungen des ursprünglichen Gedichtes (und also auch die eigene Kultur oder Kultur an sich) ignoriert, wie Michael Navratil hervorhebt.125 Tatsächlich bügelt Humboldt die Literarizität des Ge120 Das Kapitel »Der Garten«, in dem Gauß als staatlicher Landvermesser den Grafen von der Ohe zur Ohe besucht, sei eine Umkehrung von Kafkas Roman Das Schloß, so verdeutlicht Kehlmann selbst in den Poetikvorlesungen Diese sehr ernsten Scherze, 34. 121 Ebd., 10-12. 122 Kehlmanns literarische Vorbilder sind ausnahmslos Männer. Er erwähnt keine Schriftstellerinnen als Lehrmeisterinnen. 123 Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze, 40. 124 Ebd., 39. Macondo ist der Schauplatz des Romans Hundert Jahre Einsamkeit von Gabriel García Márquez. 125 Michael Navratil, »Fantastisch modern. Zur Funktion fantastischen Erzählens im Werk Daniel Kehlmanns«, Literatur für Leser 1 (2014): 39-57, hier: 50-51.
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dichtes, die Ambivalenz und Polysemie gänzlich glatt. In der englischen Fassung von Die Vermessung fühlt sich die Übersetzerin deshalb sogar genötigt, die folgende Fußnote hinzuzufügen: »It must be said that Goethe did it better.«126 Aber wie auch Moritz Baßler argumentiert, liegt die Betonung in dieser Szene doch vor allem darauf, dass Humboldt vor dem Hintergrund eines fantastischen Erzählens als typischer Deutscher, als phantasieloser, ›radikaler Realist‹127 erscheint.128 Kehlmann adressiert diesen erzählerischen Zusammenstoß auch in den Göttinger Poetikvorlesungen, indem er die südamerikanische Erzähltradition der deutschen diametral gegenüberstellt: »Ich fand Literatur immer am faszinierendsten, wenn sie nicht die Regeln der Syntax bricht, sondern die der Wirklichkeit. Das habe auch ich immer versucht, und ich war immer wieder überrascht davon, wie stark die inneren Widerstände vieler deutscher Kunstverständiger dagegen sind. Man könnte daran wohl Mentalitätsbeobachtungen knüpfen; ich glaube, nirgendwo ist die Literatur, aber nirgendwo auch das Lebensgefühl so fest verankert in gutbürgerlich unzerstörbarer Wirklichkeit. García Márquez sagt in einem Gesprächsbuch, daß man als Kolumbianer ganz von selbst zum Surrealisten wird, weil die einen umgebende Welt so unwirklich ist. So gesehen, sind wir hier wohl das andere Extrem. Hier ist das Wirkliche so geordnet, daß wir in Planquadraten träumen.«129 Dem Phantastischen begegnet Humboldt in der Neuen Welt nicht nur in Form der kulturspezifischen Erzählhaltung des Magischen Realismus; es bricht auch, gemäß der Aussage von García Márquez im obigen Zitat, in den Alltag hinein. Der ganze Kontinent wimmelt von solchen »Verschiebungen in der Wirklichkeit« (117): Sprechende Fische, Zwerghunde mit Flügeln, vielköpfige Menschen, die sich in Katzensprachen unterhalten oder rückwärts sprechen (107, 137), ein Matrose, dem es im Fieberwahn gelingt, davon zu fliegen, ein Händler in Mexiko City, der sich die Hand abhackt und wieder anwachsen lässt, eine metallene Scheibe – ein Ufo? –, die Humboldt fliegend verfolgt usw.: All diese »Risse in der Realität«130 stören die sorgfältigen Kategorisierungen des aufgeklärten Cogito, das die Natur – um es mit den Worten Humboldts zu sagen – als eine »vernünftige Einrichtung« (236), als ein durch den menschlichen Verstand vollkommen erfassbares »Ganzes« (117) betrachtet. Um sich gegen das Clair-obscur dieser ›gebrochenen Wirklichkeit‹ zur Wehr zu setzen, macht Humboldt, was er am besten kann: messen. Dazu hat ihm schon sein früherer Lehrer für Philosophie und Physik, der Kant-Schüler Marcus Herz, geraten: »Wann immer einen die Dinge erschreckten, sei es eine gute Idee, sie zu messen.« (22) Deshalb
Daniel Kehlmann, Measuring the World, aus dem Deutschen von Carol Brown Janeway (New York: Vintage Books, 2007), 107. 127 Vgl. Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze, 14: »Hierorts wollte man davon [von der südamerikanischen Erzähltradition des Magischen Realismus] nicht viel wissen, knüpfte an den Dadaismus der Vorkriegszeit an, zog den Humor ab und nannte es ein Experiment. Lautpoesie und soziales Engagement – die zwei bedrückenden Eckpfeiler des radikalen Realismus.« [meine Herv.] 128 Baßler, »Genie erzählen,« 39. 129 Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze, 15. 130 Wittstock, »Daniel Kehlmann und die Risse in der Realität«. 126
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kriecht dieser »Prometheus der neuen Zeit«131 (290) unverwüstlich in jedes Erdloch, erklimmt jeden Berg, erkundet jede Höhle bis in die hinterste Kammer, vermisst jeden Fluss, Hügel und See auf seinem Weg, zerlegt jede Pflanze und jedes Gewächs, ordnet sie nach Klassen und schreibt Abhandlungen darüber. (19, 30, 41) »Ein Hügel, von dem man nicht wisse, wie hoch er sei«, so ermahnt Humboldt seinen ungeduldigen Mitreisenden Bonpland, beleidige die Vernunft und mache ihn unruhig. […] Ein Rätsel, wie klein auch immer, lasse man nicht am Wegesrand.« (42) »Zahlen«, so fährt Humboldt fort, »bannten Unordnung« (50), und die erfährt er als bedrohlich: »Man müsse selbst so genau sein, daß einem die Unordnung nichts anhaben könne.« (129) Humboldts Vermessungsarbeit dient also nur vordergründig der wissenschaftlichen Gewinnung von Messdaten zur Kartierung des Raumes. Vielmehr erweist sie sich als eine kompensatorische Strategie, mit der er die vorgeblich lückenlose Rationalität des aufgeklärten Weltbildes krampfhaft aufrechtzuerhalten versucht. Sie gewährt Ordnung inmitten des Chaos, Sicherheit inmitten der Unübersichtlichkeit. Dieser totalitäre Vermessungswahn bedeutet daher auch, dass dasjenige, was sich nicht restlos systematisieren und kontrollieren lässt, durch das überforderte Bewusstsein mit aller Gewalt verdrängt werden soll. In Der Spiegel erläutert Kehlmann mit einem Hinweis auf die überraschend ›schmutzlose‹ Italiendichtung Goethes, dass »Klassiker sein« nicht nur heiße, dass man »der souveräne, humanitär engagierte Weltversteher« sei; es bedeute auch »viel Wirklichkeit, viel Chaos ausblenden.«132 Der Autor treibt diese Idee im Roman mehrmals auf die Spitze, etwa wenn Humboldt ein ohnmächtiges Mädchen in zerrissener Kleidung nicht als Opfer einer Vergewaltigung erkennt, wie der Text suggeriert, sondern als Hitze-Opfer betrachtet (104-105), weiter halsstarrig darauf besteht, dass Menschen, »selbst wenn er es sähe«(138), nicht fliegen, oder beschließt, einfach nichts über das Seeungeheuer aufzuschreiben, das nicht nur er, sondern alle anderen Mitreisenden kurz vor Teneriffa gesichtet haben. (45) Jedes Mal, wenn Humboldts Sinne Informationen herbeischaffen, die sich seinem Weltbild nicht problemlos fügen und der Vernunft widersprechen, bevorzugt er es, seinen Sinnen nicht zu trauen. Navratil fasst es wie folgt in Worte: »Ein Wissenschaftssystem wie dasjenige Humboldts kalkuliert die Verdrängung, die zu seiner eigenen Aufrechterhaltung notwendig ist, bereits mit ein.«133 Die Konstruktion dieses wohlgeordneten, harmonischen Weltgefüges ist überdies ein ästhetisches Projekt, mit dem die fiktionalisierten Vertreter der Weimarer Klassik den Menschen – nach dem schillerschen Programm – sittlich erziehen und erheben wollen. So legt Goethe Humboldt vor der Abreise ans Herz, in Südamerika vor allem die Vulkane zu erforschen, um die sogenannte neptunische Theorie Abraham Werners, nach welcher der Erdkern kalt und fest sei, zu stützen, weil »[d]as Innerste der Natur nicht kochendes Lava [sei]. Nur verdorbene Geister könnten auf solch abstoßende Gedanken verfallen.« (36-37) [meine Herv.] Die Aufgabe Humboldts erinnert an die
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Die Bezeichnung Humboldts als »Prometheus« findet sich auch in der noch zu besprechenden Novelle Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert von Christoph Hein. Diese Bezeichnung durch eine russische Ehrendelegation ist historisch belegt. Wulf, The Invention of Nature, 213. Kehlmann, »Mein Thema ist das Chaos«. Navratil, »Fantastisch modern,« 49.
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Expedition der drei französischen Vermesser La Condamine, Bouguer und Godin im Auftrag der französischen Akademie, über die Pater Zea Humboldt aufklärt: »[A]us ästhetischen Gründen vor allem [habe man] Newtons unschöne These widerlegen wollen, daß die Erde sich durch Rotation abplatte.« (115) [meine Herv.] Gegen solche schönen Ordnungs- und Harmonisierungsträume leistet der südamerikanische Kontinent Widerstand: Auch wenn diese Forscher »unvorstellbar genau« (115) arbeiteten und mittels der euklidischen Geometrie »halsstarrig […] ein Zahlennetz über die widerstrebende Natur« (116) zu zwingen versuchten, stimmten ihre Daten niemals überein (115);134 die Schneisen, die La Condamine schlug, wuchsen zu, sobald er sich abwandte, die Bäume, die er fällte, ragten schon in der nächsten Nacht wieder in die Luft (116). Nicht nur der ›krumme‹ Raum bringt die europäischen Forscher aus der Fassung; in der phantastischen Sphäre der Tropen gerät auch ihr Zeitgefühl mehrmals aus den Fugen. Als Humboldt und Bonpland von einem sintflutartigen Regen getroffen werden – eine tote Kuh, der Deckel eines Klaviers, ein Schachbrett und ein zerbrochener Schaukelstuhl treiben an ihrem Unterschlupf vorbei – und Humboldt seine Pariser Uhr hervorholt, heißt es: »Entweder war der Beginn des Gewitters erst wenige Minuten her, oder sie saßen schon über zwölf Uhren fest, oder aber der Regen hatte nicht bloß Fluß, Wald und Himmel, sondern die Zeit selbst durcheinandergebracht, hatte ein paar Stunden fortgespült, so daß der neue Mittag mit der Nachtstunde und dem nächsten Morgen zusammenfloß.« (142) Die Szene stellt die vereinheitlichenden Harmonisierungstendenzen der Aufklärung als vermessen auf den Kopf. Gauß dagegen sieht als Wegbereiter der allgemeinen Relativitätstheorie ein, dass Raum und Zeit nicht absolut sind; mit diesen Prinzipien sei seiner Meinung nach »geschlampt« (99) worden. Die alternierenden Kapitel stellen sich auf diese Weise als epistemologischer Paradigmenwechsel heraus. Gauß erweist sich dabei eindeutig als der modernere der beiden Wissenschaftler. Dessen mathematisch-physikalische Forschungen entlarven Humboldts übersichtliches Weltbild als eine »Fiktion«, als einen »schöne[n] Traum«. (95)
Dialektik der Aufklärung: »Jeder ist sein eigner Preuße« Humboldt verlangt also nicht nur, die Natur zu erforschen, sondern will sie auch beherrschen und in Form bringen. Dieser Wunsch trifft ebenfalls auf die eigene Natur zu. Der preußische Forschungsreisende ist der Inbegriff asketischer Selbstbeherrschung und unerschütterlicher, nahezu roboterartiger Selbstdisziplin; auf diese Weise kann er sich – paradoxerweise – als denkendes Ich erhalten. Den Körper macht er zum reinen Instrument, indem er ihn immer wieder als Versuchsobjekt bei seinen Experimenten einsetzt und so gleichsam die äußeren Zwänge seiner ›experimentellen‹ Erziehung internalisiert. Um die Leitfähigkeit des elektrischen Stroms in der Muskulatur zu beweisen, soll ein Diener zwei Aderlasspflaster auf seinen Rücken kleben, die Blasen aufschneiden und ein Stück Zink auf die Wunden legen (31-33), er trinkt Gift, um des-
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Das Motiv des Zahlennetzes wiederholt sich in Gauß’ Landvermessungsarbeit, wenn es ihm rückblickend so erscheint, als habe er die Natur mit einem »Netz aus Geraden, Winkeln und Zahlen« (268) überzogen, das den Raum erst wirklich werden lasse. Das Motiv findet sich auch auf dem Umschlag des Romans.
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sen Wirkung zu untersuchen – »die Substanz solle erforscht werden, er habe es also zu riskieren« (132) – oder berührt elektrische Aale, nur damit er wenige Tage später mit tauber Hand aber überglücklich eine Abhandlung über deren Entladungen schreiben kann. (104) Um sich mit diesen körperlichen Schmerzen vertraut zu machen, hat er sich vor seiner Abreise eine Woche lang den Arm auf den Rücken gebunden. Diese Haltung erinnert an die nachdenkliche Pose Goethes, die eine Seite zuvor beschrieben wurde. So erscheint Humboldt zum zweiten Mal als zur Karikatur verzerrtes Abbild Goethes, als »Klassiker aus schierer Willensanstrengung«.135 Tatsächlich ›entschließt‹ sich Humboldt immer wieder dazu, körperliche Empfindungen und Unannehmlichkeiten wie Übelkeit und Schwindel einfach zu leugnen. Wenn der kranke Bonpland ihn fragt, ob er nicht auch nur ein bisschen seekrank sei, heißt es: »Er wisse es nicht. Er habe sich entschlossen, es zu ignorieren, also bemerke er es nicht. Natürlich müsse er sich manchmal übergeben. Doch eigentlich falle ihm das kaum mehr auf.« (50) Und wenn seine Mutter auf dem Sterbebett anfängt, spitze Schreie auszustoßen, kann Humboldt nicht begreifen, dass sie sich so »ungesittet« (35) benimmt. Es versteht sich beinahe von selbst, dass dieser homme machine136 asexuell ist.137 An Frauen ist Humboldt nur für seine sonderbare Statistik über Kopfläuse interessiert. (70) Beim Anblick der nackten Indianerinnen in der Mission missfällt es ihm, »an wie vielen Stellen Frauen behaart waren; das schien ihm unvereinbar mit ihrer natürlichen Würde.« (71) Als in seinem Zimmer ein Mädchen nackt auf ihn wartet, erweist er sich als impotent. (75-76) Ein »Hochgefühl« überwältigt ihn hingegen, wenn etwas gemessen wird. Dann ist er »trunken vor Enthusiasmus«, kann durch die »Erregung« gar nicht schlafen. (39) Wohl spielt der Text auf pädophile homoerotische Gefühle an, aber darauf reagiert Humboldt mit heftigen Abwehrreflexen. »[M]an müsse sich entsetzliche Gewalt antun«, so teilt Humboldt seinem Bruder vage mit, der versteht, dass Alexander damit »die Knaben« meint. (264) Die latente »Gewalt« bricht heraus, als sich ein nackter Junge in Humboldts Zelt hineinschleicht. Um seinen sexuellen Gelüsten zuvorzukommen, tritt Humboldt auf den Jungen ein, bis dessen Körper sich nicht mehr regt. Am nächsten Tag blutet Humboldt aus mehreren Schnittwunden: »Er habe versucht sich zu rasieren«, sagt er dem erstaunten Bonpland. »Bloß der Moskitos wegen dürfe man nicht verwildern, man sei immerhin ein zivilisierter Mensch.« (127) Der Franzose erscheint dagegen als hedonistischer Sinnenfreund, der sich während der Reise mehrmals in amourösen Abenteuer verliert. Als ihn Humboldt eines Tages mit einer Frau ertappt, reagiert er empört: »Der Mensch sei kein Tier […]. Humboldt fragte, ob er nie Kant gelesen habe.« (48) Der Hinweis auf den wichtigsten Vertreter der Aufklärung sowie die Entgleisung des »zivilisierten Menschen« Humboldt rückt die hier erzählte Geschichte der Entsagung in den Interpretationsrahmen der Dialektik der Aufklärung. Wissen wird instrumentell verwendet und dient der Beherrschung und Unterwerfung der äußeren sowie
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Kehlmann, »Wo ist Carlos Montúfar?,« 23. Humboldt schenkt Henriette Herz, in deren Salon sich die Humboldt-Brüder als Teil ihrer Erziehung einmal in der Woche mit gebildeten Leuten treffen, das Buch l’homme maschine von Julien Offray La Mettrie, das er selber sehr schätzt. (23) Vgl. Preußer, »Zur Typologie der Zivilisationskritik,« 78.
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der eigenen Natur; der Körper muss gezüchtigt, Gefühle und Empfindungen verdrängt, die Triebe sublimiert werden, kurzzeitige Interessen werden durch Langzeitziele ersetzt, kurz: das Leben selbst wird der Aufklärung geopfert.138 Der Pionier dieser bürgerlichen Subjektkonstitution ist für Adorno und Horkheimer der antike Held Odysseus. Indem sich dieser listenreiche Grieche an den Mast seines Schiffes binden lässt, verzichtet er auf die unmittelbaren Verlockungen durch die Sirenen mit den Mitteln zweckinstrumenteller Vernunft. Humboldt erscheint im Text mehrmals als karikierter Nachkomme Odysseus’. Er lässt sich auf dem Weg nach Neuspanien einen ganzen Tag lang fünf Meter über der Wasseroberfläche an den Bug des Schiffes fesseln, um die Höhe der Wellen zu messen. (195) Als ihm ein Wahrsager die Hand zu lesen versucht, stellt dieser beunruhigt fest, dass »da nichts [sei]. Keine Vergangenheit, keine Gegenwart oder Zukunft. Da sei gewissermaßen keiner zu sehen. Der Wahrsager blickte aufmerksam in Humboldts Gesicht. Niemand!«. (125) ›Niemand‹, so hatte sich bekanntlich auch Odysseus genannt, um aus der Höhle des Zyklopen Polyphem zu entkommen. Mit dieser Antwort rettete der Grieche das Ich durch die Selbstverleugnung.139 Diese Subjektzurichtung im Kontext der Dialektik der Aufklärung wird als typisch preußisch dargestellt, und das nicht nur, weil Preußen ein Zentrum der deutschen Aufklärung war. Auf seiner Reise hat Humboldt das Porträt der berühmtesten Figur der preußischen Geschichte, nämlich Friedrich des Großen, »eines lustigen Zwerges mit gespitztem Mund« (75), dabei. Dieses Porträt hat das nackte Mädchen, das gelangweilt in Humboldts Zimmer auf ihn wartet, »auf nicht unbegabte Weise bunt angemalt.« (75) Kehlmann scheint hier auf jenen Siebdruck Andy Warhols aus den 1980er Jahren anzuspielen, der den ›alten Fritz‹ in einer mit rosa Details gespickten Uniform, mit rosa Pupillen und einer neongelben Perücke darstellt. Mit Preußens bekanntestem König hat Humboldt auffällig viele Übereinstimmungen. Auch Friedrich II., den Kant in seinem Essay »Was ist Aufklärung?« als den aufgeklärten Herrscher schlechthin bezeichnete, wird von Zeitgenossen und in der Geschichtsschreibung immer wieder als Muster von Fleiß und unermüdlicher Arbeitslust dargestellt. Zudem gibt es bei beiden Männern Vermutungen von (verdrängter) Homosexualität. Besonders wichtig in diesem Kontext ist ihre harte und lebensverneinende Erziehung, die sie weitgehend geprägt hat. Die verkrüppelnde Sozialisation Friedrichs II. von einem sensiblen Knaben, der sich mehr für Literatur als für die Regierungskunst interessiert, zu einem erbarmungslosen Herrscher durch den demütigenden Vater, den ›Soldatenkönig‹ Friedrich Wilhelm I., weist Parallelen auf mit Humboldts Sozialisation von einem »schwächlichen« (20), verschlossenen und literaturliebenden (24) Knaben zum Inbegriff der Selbstzucht. Statt sich dem festgelegten Bildungsprogramm zu unterwerfen, streicht Humboldt lieber durch die Wälder auf der Suche nach Käfern, bis sich der ›Erziehungsbruder‹ Wilhelm einmischt:
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Ebd., 75. Die Rettung des Ich durch die Selbstverleugnung greift Kehlmann in seinem Roman F (2013) wieder auf. Die Handlung dieses Romans kreist – in Anlehnung an Dostojewskis Die Brüder Karamasow (1879) – um drei Brüder, die die Lebensbereiche Religion, Wirtschaft und Kunst verkörpern. Als Iwen, der Zeuge einer Prügelei ist, den Schlägern seinen Namen verschweigen will, nennt er sich »Niemand«, nach dem Roman Mein Name sei Niemand des Vaters Arthur Friedland. Er wird aber trotzdem erstochen. Daniel Kehlmann, F (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2013).
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»Keiner von ihnen habe das Recht, sich gehenzulassen« (24), so verwarnt er den jüngeren Bruder, und lässt ihn danach auf das dünne Eis eines zugefrorenen Teiches treten, woraufhin Alexander beinahe ertrinkt. Dieses Nahtoderlebnis hat den gewünschten Erfolg. Nach einem kathartischen Fieber zwingt er sich in ein Selbstdisziplinierungsprogramm zur Abwehr von Angst und Schmerz: »Von nun an wurden seine Noten besser. Er arbeitete konzentriert und nahm die Gewohnheit, beim Nachdenken die Fäuste zu ballen, als müsse er einen Feind besiegen […] Er bat darum, eine Nacht in dem leeren Zimmer verbringen zu dürfen, aus dem man am häufigsten nächtliche Laute hörte. Am Morgen darauf war er blaß und still, und senkrecht über seine Stirn zog sich die erste Falte.« (25) So stellt sich die preußische Variante der Aufklärung als von Anfang an repressiv, instrumentell und antiemanzipatorisch heraus. In Bezug auf Friedrich II. wurde dieses Narrativ stark durch die grotesken Preußen-Darstellungen des Dramatikers Heiner Müller geprägt. Mit der Aussage »Jeder ist sein eigner Preuße«140 durch den Professor einer preußischen Irrenanstalt in Leben Gundlings (1976) imaginiert Müller die preußische Aufklärung als einen deformierenden Abtötungsprozess der menschlichen Triebstruktur durch die Verwandlung von Fremdzwängen in Selbstzwänge, von dem Friedrich II. das Produkt schlechthin darstelle. Dieser zivilisationskritische Ton ist zwar auch hörbar in Die Vermessung der Welt, aber was in den 1970er und 1980er Jahren eher Stoff für Kulturpessimisten war, wird bei Kehlmann ins Komische gewandelt.141 Dabei ist die geschichtsphilosophische Einbettung nahezu verschwunden.142 Während Müller Friedrich II. durch die harte Sozialisation zu einer autoritären Schreckensgestalt werden lässt, erscheint Kehlmanns Humboldt vielmehr als übertrieben pflichtbewusstes und gesellschaftlich unangepasstes Original. Die Zivilisationskritik schwillt in Die Vermessung der Welt am lautesten vor dem Hintergrund des Kolonialismus an, indem unterschiedliche Figuren auf die verheerenden (kultur)politischen, ökonomischen und militärischen Implikationen von Humboldts Vermessungsarbeit anspielen. In der Tat scheint dessen enzyklopädischer Hang zu einer homogenisierten Wissensordnung nicht nur einem neutralen theoretischen Interesse zu dienen, auch wenn Humboldt das behauptet: »Man wolle wissen, […] weil man wissen wolle.« (70) Der Abt einer Indianer-Mission widerspricht diesem Anliegen aber: »Dahinter stecke doch anderes! Niemand reise um die halbe Welt, um Land zu vermessen, das ihm nicht gehöre« (71), und greift damit fast buchstäblich einen Vers aus Enzensbergers bereits zitierten Gedicht A.v.H. (1769-1859) auf: »Warum laßt Ihr Euch aufzehren/von Moskitos, nur um ein Land zu vermessen, das Euch nicht gehört?«. [Herv. i.O.] Was der Abt nur andeutet, nämlich dass der Wissenshunger dem Zweck der Machterweiterung unterworfen ist, macht Bonpland explizit. Als der Ruderer Julio erzählt, dass sich ›Aguirre der Wahnsinnige‹ an den Ufern des Orinoko zum Imperator erklärt hat, antwortet Bonpland: »Ein verrückter Mörder, […] der erste Erforscher des Orinoko! Das ergebe Sinn.« (111) An anderen Textstellen wird auf die ökonomischen Folgen der Vermessungsarbeit hingedeutet: »Daß der Kanal jetzt auf den Karten verzeichnet 140 Müller, »Leben Gundlings,« 526. 141 Preußer, »Zur Typologie der Zivilisationskritik,« 74. 142 Ebd., 76.
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sei, erklärte Humboldt, werde die Wohlfahrt des gesamten Erdteils befördern. Man könne nun Güter quer über den Kontinent bringen, neue Handelszentren würden entstehen, ungeahnte Unternehmungen seien möglich.« (136) Dass dies auch mit kolonialer Ausbeutung und mit der Zerstörung der Natur einhergeht, darauf verweist Humboldt selbst, jedoch ohne den zukunftsfrohen Blick zu verlieren: »Ein exakter Atlas von Neuspanien […] könne die Besiedlung der Kolonie fördern, die Unterwerfung der Natur beschleunigen, das Geschick des Landes in eine günstige Richtung lenken.« (196) In seiner rücksichtslosen Naivität erinnert er an Enzensbergers Humboldt, den »Kurier,/der nicht wußte, daß er die Zerstörung dessen zu melden gekommen war,/was er, in seinen Naturgemälden, bis daß er neunzig war, liebevoll malte.«143 [Herv. i.O.] Während Humboldts Audienz beim Präsidenten Jefferson in Nordamerika wird einmal mehr deutlich, wie sehr ein vermessener Raum auch ein politischer Raum ist: »Auf dem Tisch lag wie zufällig eine Karte von Mittelamerika. Er [Jefferson] wollte alles über Neuspanien, dessen Transportwege und Bergwerke wissen. Es interessierte ihn, wie die Administration arbeitete, wie im Land und über den Ozean hinweg Befehle übermittelt wurden, wie die Stimmung unter den Adligen war, wie groß die Armee, wie ausgerüstet, wie gut ausgebildet. Wenn man eine Großmacht zum Nachbarn habe, könne man nie genug Information besitzen. Dennoch mache er den Herrn Baron darauf aufmerksam, daß er im Auftrag der spanischen Krone gereist sei. Womöglich verpflichte ihn das zu Verschwiegenheit. Ach warum, sagte Humboldt. Wem solle es schaden? Er beugte sich über die Karte, deren zahlreiche Fehler er gerade berichtigt hatte, und markierte mit genau gesetzten Kreuzen die Standorte der wichtigsten Garnisonen. Jefferson bedankte sich seufzend.« (213-214) Der Fortschrittsoptimismus des »General[s] Humboldt« (199), wie man ihn in Nordamerika genannt hat, wird nur einmal, in der mexikanischen Tempelanlage von Teotihucan, gedämpft. Angesichts des Zusammenhangs der gewaltigen wissenschaftlichen Leistung des astronomischen Kalenders mit den dargebrachten Menschenopfern bei der Einweihung des Tempels stößt Humboldt auf die Dialektik der Aufklärung: »So viel Zivilisation und so viel Grausamkeit, sagte Humboldt. Was für eine Paarung! Gleichsam der Gegensatz zu allem, wofür Deutschland stehe.« (208) Es fällt schwer, diese Stelle nicht als Verweis auf den Holocaust, dessen Grausamkeiten von den deutschen ›Dichtern und Denkern‹ nicht verhindert werden konnten, zu lesen. Aber sogar dann ist Kehlmann viel weniger ironisch oder sarkastisch als komödiantisch in seiner heiteren Fassung der Zivilisationskritik, wie Preußer bemerkt.144 Einen anderen, viel schärferen Ton findet man zum Beispiel im Roman Pfaueninsel (2014) von Thomas Hettche, der vom Einbruch der Modernisierung und des beginnenden Maschinenzeitalters auf die arkadische preußische Pfaueninsel in der Havel bei Potsdam erzählt. Ähnlich wie in Die Vermessung der Welt wird ›das Fremde‹ von den Vertretern der aufgeklärten Weltanschauung – den Gartenplanern Peter Joseph Lenné und Gustav Adolph Fintelmann –
143 Enzensberger, »A.v.H. (1769-1859)«, 58. 144 Preußer, »Zur Typologie der Zivilisationskritik,« 80.
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zunächst analysiert, um dann restlos angeeignet oder vernichtet zu werden.145 Diesem Prozess sind sowohl die Pflanzen, die Tiere als auch das vormodern anmutende Figurenarsenal, allen voran die ›Zwergin‹ Marie, unterworfen.146 Die unzähligen Kadaver von exotischen Tieren, die auf der Insel für das Anlegen eines botanischen und zoologischen Themenparks angesiedelt wurden, weisen auf die zahllosen Opfer der Moderne hin, die im nächsten Jahrhundert noch folgen werden: »Dort, so aufgebläht vom Feuer, daß der riesige Schwanz starr abstand, der verkohlte Balg eines Känguruhs. […] Und dort, der Haufen schwarzer, vom Feuer angefressener Knochen, das konnte nur ein Büffel gewesen sein und richtig: da war der Schädel mit den Hörnern. Eilig ausgehobene Gruben, schlampig mit Kalk beworfene Körper darin, verschiedenste Gliedmaßen, Bäuche, ein Maul, das aus dem Weis herausragte wie ertrinkend. Weiße Asche, die in einer langen Schleppe auf die Havel hinaustrieb. Blutige Häute, die man über ein provisorisches Gestell geworfen hatte, im Blut nur eine einzige saubere Stelle, an der sich die Maserung des Fells erhalten hatte. Ein Haufen Hörner und Klauen. Das aufgeblähte Känguruh, dessen verkohlter Leib jeden Augenblick zu platzen drohte, stank erbärmlich. Fliegen, die sie noch nie auf der Insel gesehen hatte, riesige grüne Fliegen, als wären sie aus der Hölle selbst gekrochen, in dichten Schwärmen überall.«147
Dummkopf, Wirrkopf, Clown: karnevalistische Verkehrung intellektueller Hierarchien Kehlmanns Kritik an der Kultur- und Bildungsnation, die zur Zeit der Veröffentlichung von Die Vermessung der Welt wieder als nationales Identifikationsmodell heraufbeschworen wurde, richtet sich aber nicht so sehr gegen Deutschlands kulturelle Helden an sich, als vielmehr gegen deren Erstarrung zu monumentalen Identifikations- und Leitbildern. Diese Erstarrung wird von unterschiedlichen Figuren evoziert: Humboldt bindet sich eine Woche lang den Arm auf den Rücken, Gauß’ Vater definiert einen Deutschen als »jemand, der nie krumm« sitzt (53), die Hand Wilhelm von Humboldts fühlt sich »kalt und leblos« an, sein Blick ist »starr wie der einer Puppe« (242). Solche starren Vorstellungen von (nationaler) Identität werden aber unterminiert, indem der Text die grundsätzliche Relativität und Kontingenz einer jeden Ordnung oder (intellektuellen)
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Vgl. Gerhard Scholz, »Inselhopping durch die Jahrhunderte. Der historische Roman seit 2000 am Beispiel von Christian Krachts Imperium und Thomas Hettches Pfaueninsel,« in Gegenwart schreiben. Zur deutschsprachigen Literatur 2000-2015, Hg. Corina Caduff, Ulrike Vedder (Paderborn: Wilhelm Fink, 2017), 151-161, hier: 159-160. 146 Dadurch hat der Roman auch eine stark ausgeprägte Gender-Dimension. Die kleinwüchsige Marie soll in dieser von großen Männern gemachten Geschichte wie der Garten zurechtgestutzt, in Form gebracht und perfektioniert werden: »Er [Fintelmann] wünschte sich, ihr Riemen unter die Achseln zu schieben und sie wie Spalierobst aufzubinden, damit sie gerade wachse. Er wollte sie düngen, in ein Treibhaus setzen, ihre Füße mit guter Gartenerde behäufeln, damit sie wachse. Endlich wachse. […] Auch auf der Insel kümmerte er sich um jene Pflanzen, die nicht gerieten, mehr als um die makellosen […]. All das verlangte geradezu nach einer Korrektur«. Hettche, Pfaueninsel, 29. 147 Ebd., 148.
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Hierarchie thematisiert. Das zeigt sich sehr deutlich in den zwei letzten, kontrastierenden Kapiteln, »die Steppe« und »der Baum«, in denen ein Generationenwechsel vollzogen wird.148 Während Eugen bei seiner (erzwungenen) Auswanderung nach Amerika anlässlich des Zusammenstoßes mit der Polizei ein ›Mann‹ geworden ist – er trägt einen Bart, raucht Pfeife (295) und berührt zum ersten Mal eine Frau (298) –, ist bei seinem Vater die körperliche und geistige Verkümmerung, vor der sich dieser sein ganzes Leben gefürchtet hat (vgl. 10, 91, 98-99, 245), deutlich spürbar: »Sein Rücken schmerzte, sein Bauch ebenso, und in seinen Ohren rauschte es. […] Immer noch konnte er denken, zwar nichts allzu Kompliziertes mehr, aber für das Nötigste reichte es.« (292) Dagegen scheint der von seinem Vater immer wieder als »begriffsstutzige« (191) Taugenichts (190) porträtierte Eugen am Ende doch dessen Intelligenz geerbt zu haben. So gewinnt er bei einem Kartenspiel, indem es ihm jetzt »ohne Schwierigkeiten« gelingt, sich die Karten nach einer Methode, die ihm sein Vater früher vergeblich beizubringen versucht hat, zu merken. (297) Auch wundert es ihn plötzlich, genau wie seinen Vater als Kind (vgl. 54, 89), »warum die Leute immer so lange brauchten, um zu antworten.« (299) Während sich Eugen jetzt geistig zu entfalten vermag, werden die wissenschaftlichen Leistungen der beiden gealterten Wissenschaftler noch zu deren Lebzeiten überholt. So ist Gauß, der selber keine Abhandlung zur nichteuklidischen Geometrie veröffentlicht hat, weil »die Idee so naheliegend [sei], daß er sie gern den Dummköpfen überlasse« (281), nicht nur von jüngeren Kollegen (273), sondern sogar von »dem alten Martin Bartels« (290), seinem früheren Tutor, »überflügelt« (290) worden; ihre Vermutungen, Euklids Geometrie sei nicht die wahre, schicken sie ihm in Abhandlungen zu. Der große Mathematiker kommt sich jetzt wie ein »Magier der dunklen Zeit, […] wie ein Alchemist auf einem alten Kupferstich« (273) vor. Ein vergleichbares Schicksal ist Humboldt beschert: Während seiner späteren Forschungsreise durch Russland erscheint er den jüngeren Mitreisenden als eine ehrwürdige Gestalt aus vergangenen Zeiten. Als er mit überholten Methoden und veralteten Messgeräten die Breite der Wolga zu bestimmen versucht und dabei eine halbe Stunde lang Berechnungen vor sich hin murmelt, sehen ihm die Kollegen »respektvoll zu. Das sei, sagte Wolodin zu Rose, als erlebte man eine Reise in der Zeit, als wäre man in ein Geschichtsbuch versetzt, so erhaben sei es. Ihm [Humboldt] sei zum Weinen!« (275) Im Zuge der technischen Errungenschaften wird dieser Heros der Wissenschaft sogar von der breiten Masse abgelöst: Hatte Humboldt bei seiner Überfahrt des Ozeans die Ankunft des Schiffes anhand seiner Messungen erstaunlich präzise vorhergesagt und sich so zum »großen Navigator« (289, 299) gekrönt, so kommt jetzt »jeder Laie« mit einem Harrison-Chronometer »um die Erdkugel«, wie der Kapitän des Dampfschiffes Eugen erklärt. »Also sei, fragte Eugen, die Zeit der großen Navigatoren vorüber? Kein Blight mehr, kein Humboldt? […] Sie sei vorbei, antwortete der Kapitän schließlich, und werde nie wiederkehren.« (299) Zwar hat die ältere Generation die Pionierarbeit geleistet, aber die Betonung des Textes liegt vor allem auf der intellektuellen Wachablösung, auf der Vergänglichkeit (»nie wiederkehren«) beziehungsweise permanenten Veränderung jeder Ordnung. 148 Vgl. Marc Chraplak, »Ein postmoderner historischer Roman? Menippeische Satire und karnevalistische Tradition in Daniel Kehlmanns ›Die Vermessung der Welt‹ (2005),« Weimarer Beiträge 61, 4 (Dez., 2015): 485-509, hier: 495-498.
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Auf diese Relativität einer jeden (intellektuellen) Ordnung oder wissenschaftlichen Leistung hatte Humboldt im vorigen Kapitel selbst schon hingewiesen: »Man dürfte die Leistungen des Wissenschaftlers nicht überschätzen, […] ihm folgten andere, die mehr, und wieder andere, die noch mehr wüßten, bis schließlich wieder alles versinke.« (291) Und Gauß, der nicht verschmerzen kann, dass er von seinem »schwachen Erfinder in ein seltsam zweitklassiges Universum gestellt« (282) worden ist – so Kehlmann ironisch über seine auktoriale Allmacht –, kommt schon ganz am Anfang des Romans über die grundsätzliche Kontingenz des Seins ins Grübeln: »Seltsam sei es und ungerecht, sagte Gauß, so recht ein Beispiel für die erbärmliche Zufälligkeit der Existenz, daß man in einer bestimmten Zeit geboren und ihr verhaftet sei, ob man wolle oder nicht. Es verschaffe einem einen unziemlichen Vorteil vor der Vergangenheit und mache einen zum Clown der Zukunft.« (9) Wie Marc Chraplak bemerkt, erinnert das Motiv des Clowns, das im Kontext der Verkehrung intellektueller Hierarchien eingeführt wird, an die von Michail Bachtin untersuchte volkstümliche Lachkultur.149 Nach Bachtin öffnet das Lachen die Welt auf eine neue und befreiende Weise: Es »drückt die fröhliche Relativität einer jeden Ordnung, Gewalt und Hierarchie aus«150 und »dekouvriert die vermeintliche ›Notwendigkeit‹ […] als eine relative und beschränkte.«151 Solche karnevalistischen Elemente, die eine satirische Verkleinerung des vermeintlich Großen durchführen, gibt es im Roman viele: Goethe wird als »Esel« (158), Humboldt als »Idiot« (36) beschrieben, Kant erscheint als sabbernder Greis, der »Wurst und Sterne« (97) verlangt, als ihm Gauß seine Vermutungen über den gekrümmten Raum darlegt, Aguirres des Wahnsinnigen Selbstkrönung zum Imperator (111) erinnert an den Karnevalsritus der närrischen Krönung, und häufig ist im Roman von idiotischen Figuren wie »Dummköpfen« (186, 281), »Wirrköpfen« (218), »Toren« (218) und »Narren« (219) die Rede. Dieser karnevalistischen Lektüre hat Kehlmann in Interviews und in den Göttinger Poetikvorlesungen Diese sehr ernsten Scherze152 selbst Vorschub geleistet. Mit der programmatischen Vermischung von Ernst und Scherz sowie seinem häufig wiederholten Diktum vom ›verrückten‹ oder ›wahnsinnigen Historiker‹ scheint sich der Autor wie in der karnevalistischen Tradition auf spielerische Weise gegen den einseitigen Ernst der offiziellen (Erinnerungs-)Kultur zu kehren: Das Buch »beginnt […] wie ein historisches Sachbuch, bis es dann plötzlich kippt, weil natürlich Dinge berichtet werden, die überhaupt nicht mehr sachbuchhaft, sondern romanhaft und frei erfunden sind. Es sollte so klingen, wie ein seriöser Historiker es schreiben würde, wenn er plötzlich verrückt geworden wäre.«153 Bereits im zweiten Satz des Romans – »Selbstverständlich wollte er [Gauß] nicht dorthin« – streift der Text das Image eines Sachbuchs ab, das über ein Treffen zwischen Humboldt und Gauß 1828 in Berlin berichten wird, und
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Ebd., 497. Bachtin, Literatur und Karneval, 51. Ebd., 28. Für diesen Titel hat sich Kehlmann, so erklärt er in den Poetikvorlesungen, auf den letzten Brief Goethes bezogen. Darin bezeichnet Goethe sein Stück Faust II als »jene sehr ernsten Scherze«. »Eine bessere Wendung für das Wesen der Kunst«, so fährt Kehlmann fort, »wurde nie gefunden.« Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze, 40. Kehlmann, »Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker«.
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ver-rückt Kehlmanns Position aus der des faktentreuen Historiografen in diejenige des erfindungsfreudigen Erzählers. Für Kehlmann ist das spielerische Experimentierfeld der Literatur und besonders des Romans der Ort schlechthin, wo die vermeintlichen Evidenzen und starren Konventionen des offiziellen Diskurses gebrochen werden können. So schreibt er in Bezug auf Die Vermessung der Welt in seinem Essay »Wo ist Carlos Montúfar?«: »Immer schon hat die Gattung des Romans, wirksamer vielleicht als irgendeine andere, bestehende Meinungen untergraben – und eine der wirksamsten Arten, das zu tun, besteht darin, sich die Vergangenheit neu zu erzählen und von der offiziellen Version ins Reich erfundener Wahrheit abzuweichen.«154 (12) Kehlmanns Geschichte(n)-Schreiben ist alles andere als monumentalisierend; stattdessen durchlöchert er die Vergangenheit mit der Kategorie des ›Möglichen‹, die die Normativität des offiziellen Geschichtsdiskurses ins Wanken bringt. Sein Roman zeugt vom Möglichkeitssinn im Sinne Robert Musils,155 Geschichte wird bei ihm im Modus des ›wunderbaren Konjunktivs‹ im Sinne Uwe Timms (um-) geschrieben, und zwar buchstäblich: Der ganze Roman ist im Modus des Konjunktivs verfasst.156 Timms Begriff impliziert das ›so-könnte-es-gewesen-sein‹ und zugleich das subversiv-utopische ›es-könnte-auch-anders-sein‹.157 Der uralte Baum, nach dem das Schlusskapitel betitelt ist und auf den Eugen während eines Zwischenstopps auf Teneriffa stößt, steht aber gerade nicht für Veränderlichkeit, sondern für Unvergänglichkeit und Monumentalität. Es scheint sich dabei um denselben Baum zu handeln, den auch Humboldt dort Jahre zuvor gesehen hat: Als sich Eugen kurz im Schatten ausruht, hat er »für einen Moment geglaubt, ein anderer zu sein oder niemand« (301).158 [meine Herv.] Als Humboldt den Baum damals erblickte, heißt es: »Der Baum war riesenhaft und wohl Jahrtausende alt. Er war hier gewesen noch vor den Spaniern und vor den alten Völkern. Er war dagewesen vor Christus und Buddha, Platon und Tamerlan. Humboldt horchte an seiner Uhr. Wie sie, tickend, die Zeit in sich trug, so wehrte dieser Baum die Zeit ab: eine Klippe, an der ihr Fluß brach.«
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Kehlmann, »Wo ist Carlos Montúfar?,« 12. Darauf hat die Kritik mehrmals hingewiesen, siehe z.B. Mark M. Anderson, »Der vermessende Erzähler. Mathematische Geheimnisse bei Daniel Kehlmann,« in text + kritik, Hg. Arnold, 58-67, hier: 65; Gunther Nickel, »Von ›Beerholms Vorstellung‹ zur ›Vermessung der Welt‹. Die Wiedergeburt des Magischen Realismus aus dem Geist der modernen Mathematik,« in Daniel Kehlmanns ›Die Vermessung der Welt‹,« Hg. ders., 151-168. Zugleich kann man argumentieren, dass die Verwendung der indirekten Rede eine (den wissenschaftlichen Diskurs nachahmende) Distanz aufrechthält, die sich der Identifizierung und Heroisierung widersetzt. Julia Schöll, »›Chaos und Ordnung zugleich‹ – zum intra- und intertextuellen Verweissystem in Uwe Timms Erzähltexten,« in (Un-)erfüllte Wirklichkeit. Neue Studien zu Uwe Timms Werk, Hg. Frank Finley, Ingo Cornils (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2006), 127-139, hier: 139. Solche Inception-artigen Szenen, in denen sich die Figuren zwischen Traum und Wirklichkeit befinden, gibt es im Roman viele. Im Kapitel »Der Garten« kann Gauß zum Beispiel das Gefühl nicht loswerden, »daß er jene Wirklichkeit, in die er gehörte, um einen Schritt verfehlt hatte.« (185) Weil sich der Baum auf Teneriffa in einem ähnlichen Garten befindet, scheint der »andere«, der Eugen zu sein glaubt, auf den Vater hinzudeuten, während mit »niemand« Humboldt gemeint ist. Auf diese Weise scheint es am Ende des Romans zu einer Verjüngung und Synthese von Gauß und Humboldt in Eugen zu kommen.
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(47) Indem Eugen aus dem Schatten des Baumes tritt und seine Reise nach Amerika fortsetzt, wird der Generationenwechsel sowie der befreiende Abschied von der Kulturund Bildungsnation vollzogen: »Wie leicht alles wurde, wenn man aufbrach.« (298) Der Abschied zielt aber nicht auf die ›Vernichtung‹ dieses Erbes, sondern richtet sich gegen die Erstarrung seiner Exponenten in monumentalen Leitbildern. Eugen tritt einfach aus dem Schatten des uralten Baumes, fällt ihn aber nicht. Und als er seinem Vater früher bei der Arbeit als Landvermesser half, hat er ihn einmal gefragt, »ob sie ihm nicht leid täten, diese Bäume seien so alt und hoch, sie spendeten so viel Schatten und hätten so lange gelebt.« (191) Angesichts der Herabsetzung der Heroen der Wissenschaft in Die Vermessung der Welt lässt sich dann, wie Chraplak argumentiert, vielleicht übertragen, was Bachtin über die Karnevalslegenden aussagt: »[D]as ambivalente Karnevalslachen verbrennt alles Schwülstigste und Verknöcherte, aber vernichtet den wirklich heroischen Kern der Gestalt nicht.«159 So kritisiert der Roman vor allem eingerostete Vorstellungen von nationaler Identität. In diesem Sinne ist das Ende des Romans aufschlussreich: So wie der Karneval den Übergang feiert und nicht das, was der Übergang jeweils bringt,160 bricht auch der Text in diesem transitorischen Moment, im Generationenwechsel und mit der Überfahrt nach Amerika ab und widersetzt sich so Vorstellungen von Vollendung und Vollkommenheit.
»Übermacht der Fiktion«161 Die Konstruktion einer stabilen Identität wird aber schon im ersten Teil der Rahmenerzählung in ihrer fiktionalen Verfasstheit aufgedeckt. Die feierlich inszenierte Begrüßung zwischen Humboldt und Gauß stellt sich als eine Meta-Szene heraus, die sich einerseits gegen die Erstarrung der Identität richtet und andererseits die damit einhergehenden poetologischen Strategien des Textes sichtbar macht: »Humboldt erstarrte. Das sei Herr Daguerre, flüsterte er, ohne die Lippen zu bewegen. Ein Schützling von ihm, der an einem Gerät arbeite, welches den Augenblick auf eine lichtempfindliche Silberjodidschicht bannen und der fliehenden Zeit entreißen werde. Bitte auf keinen Fall bewegen! Gauß sagte, er wolle nach Hause. Nur einen Augenblick, flüsterte Humboldt, fünfzehn Minuten etwa, man sei schon recht weit fortgeschritten. […] Gauß stöhnte und riß sich los. […] Daguerre stampfte mit dem Fuß auf. Jetzt sei der Moment für immer verloren. Wie alle anderen, sagte Gauß ruhig. Wie alle anderen. Und wirklich: Als Humboldt noch in derselben Nacht […] die belichtete Kupferplatte mit einer Lupe untersuchte, erkannte er darauf gar nichts. Und erst nach einer Weile schien ihm ein Gewirr gespenstischer Umrisse darin aufzutauchen, die verschwommene Zeichnung von etwas, das aussah wie eine Landschaft unter Wasser. Mitten darin eine Hand, drei Schuhe, eine Schulter, der Ärmelaufschlag einer Uniform und der untere Teil eines Ohres. Oder doch nicht?« (17) Michail Bachtin, Probleme der Poetik Dostoevskijs, aus dem Russischen von Adelheid Schramm (Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein,1985), 149; Chraplak, »Ein postmoderner historischer Roman?,« 498. 160 Bachtin, Literatur und Karneval, 51. 161 Kehlmann, »Wo ist Carlos Montúfar?,« 27. 159
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Durch die Erwähnung des Mediums der Fotografie lenkt diese humoristisch in die Länge gezogene Begrüßungsszene die Aufmerksamkeit auf die permanenten Inszenierungsmechanismen, die mit dem Entwurf von Identität einhergehen. Während Humboldt in einer unbeweglichen Pose ›erstarrt‹, reißt Gauß sich los und unterbricht dadurch den »großen Moment für Deutschland« (15), der Daguerre zufolge jetzt »für immer verloren« (17) sei. Es gelingt Daguerre nicht, diesen wichtigen Augenblick »der fliehenden Zeit [zu] entreißen«, was die Relativität und Vergänglichkeit jeder (nationalen) Ordnung in den Vordergrund stellt. »Als Humboldt die Kupferplatte später untersucht, kann er nur ein »Gewirr gespenstischer Umrisse«, eine »verschwommene Zeichnung« unterscheiden. Es findet also keine Fixierung oder Stilllegung, sondern eine Auflösung statt. Ein Bild des ›Ganzen‹ ergibt sich nicht.162 So wie Humboldt nichts anderes als eine unscharfe und fragmentierte Zeichnung entdecken kann, so sind auch die beiden fiktionalen Forscherbiografien episodisch und skizzenhaft angelegt.163 Der erzählerische Blick kommt – darauf verweist nicht zuletzt die anachronistische Einbettung der Fotografie164 – aus einer anderen Zeit und entwirft ein Bild, in dem Fakt und Fiktion »verschwommen« werden. Der Roman präsentiert sich als unabgeschlossener und fragmentarischer Entwurf zweier Lebensläufe, der sich an historische Personen orientiert, diese aber zugleich mit den Mitteln der Fiktion verfremdet. Tatsächlich verzichtet die Begrüßungsszene durch ihre überspitzte Inszenierung programmatisch auf die Illusion von Unmittelbarkeit und Authentizität, die dem Medium der Fotografie zu eigen ist. Der Text stellt immer wieder seine Fiktionalisierungs- und Inszenierungsmechanismen auf spielerische Weise zur Schau, indem Humboldt und Gauß ihren fiktionalen Status reflektieren.165 Als Feinde des Erzählens und der Kunst im Allgemeinen greifen die beiden Wissenschaftler ihren Erfinder gleichsam an. So erscheint es Humboldt als ein »albernes Unterfangen, wenn ein Autor, wie es jetzt Mode werde, eine schon entrückte Vergangenheit zum Schauplatz wähle« (27) und wettert Gauß gegen das Unrecht, dass »jeder Dummkopf in zweihundert Jahren sich über ihn lustig machen und absurden Unsinn über seine Person erfinden könne.« (9) »Bühnenbilder etwa, die nicht verbergen wollten, daß sie aus Pappe seien, […] Romane, die sich in Lügenmärchen verlören, weil der Verfasser seine Flausen an die Namen geschichtlicher Personen binde«, seien, darüber sind sich beide Wissenschaftler einig, wirklich »abscheulich«. (221)
162 Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 199. 163 Ebd., 199. 164 Mit den 15 Minuten Belichtungszeit ist der Text seiner erzählten Zeit weit voraus, wie Grabbe bemerkt. Zwar war das grundlegende Prinzip der Fotografie 1828 bereits erfunden, aber noch 1826 brauchte der Franzose Joseph Nicéphore Nièpce, der Verfasser des allerersten Fotos, eine achtstündige Belichtungszeit. Ebd., 197-198. 165 Auch Figuren in anderen Romanen, so etwa Beerholm in Beerholms Vorstellung (1997), David Mahler in Mahlers Zeit (1999), Julian in Der fernste Ort (2001) und Leo Richter und Rosalie in Ruhm (2009) sind sich ihrer Fiktionalität durchaus bewusst und erahnen, erfunden zu sein. Demzufolge argumentiert Ina Ulrike Paul, dass Kehlmanns Selbstverständnis als Autor dem des »alter deus, des anderen Gottes als allmächtigen Gegenübers seiner literarischen Figuren« gleichkommt. Ina Ulrike Paul, »Autorfunktion, Autorfiktion. Schriftstellerfiguren bei Daniel Kehlmann,« Gegenwartsliteratur. Ein germanistisches Jahrbuch 16, Schwerpunkt: Daniel Kehlmann (2017): 77-99, hier: 89.
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
4.3
Coda: Humboldt in der DDR. Christoph Heins Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert (1980)
Spätestens seit der ›Metabiografie‹ des Wissenschaftshistorikers Nicolaas Rupke über Alexander von Humboldt ist deutlich geworden, dass jede Zeit ihren eigenen Humboldt hat.166 Historische Figuren sind immer auch Projektionsflächen für die Interessen, Hoffnungen, Aspirationen und Ängste der Gegenwart, ihre Biografien ein Spiegel der Zeit der Biograf*innen. Wie Rupke in seiner Studie darlegt, galt Humboldt bis zur Reichsgründung 1871 vor allem als ein liberaler Freigeist (trotz seiner Position als Kammerherr am preußischen Königshof), im wilhelminischen Zeitalter wurde er zum leidenschaftlichen Patrioten und – zusammen mit Goethe – zum Aushängeschild der nationalen Kultur erklärt (trotz seines Kosmopolitismus), im ›Dritten Reich‹ fungierte er als Galionsfigur der nationalsozialistischen Kulturpolitik, die ihn sogar in die arische Ahnengalerie einreihte (trotz seines Antirassismus und seiner Ablehnung des Antisemitismus). Im 21. Jahrhundert ist Humboldt nicht nur eine Ikone der Umweltschutzbewegung, sondern auch ein internationaler Netzwerker und damit ein früher Wegbereiter des globalen Informationszeitalters.167 Betrachtet man die facettenreichen (und oft auch widersprüchlichen) Humboldt-Konstruktionen im Laufe der Zeit, dann ist es Rupke zufolge aber der Humboldt der DDR, der am meisten ins Auge springt. Als Gegner des Kolonialismus und Antisemitismus und Anhänger der Werte der Französischen Revolution – ein Ereignis, das in der DDR als Vorbote der sozialistischen Revolutionen im 20. Jahrhundert gewürdigt wurde – erklärte man den Naturforscher zu einem der »besten Söhne und Töchter« (Erich Honecker) des Arbeiter-und-BauernStaates.168 Aufgrund seiner Bemühungen um die Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Bergarbeiter während seiner frühen Karriere als Bergbauinspektor im Dienste der preußischen Regierung machten ihn DDR-Biografen zum marxistischen Klassenkämpfer avant la lettre.169 Humboldt sei kein lebensfremder Intellektueller, sondern ein historischer Materialist. Sein empirischer Ansatz spiegele sich im Verhältnis zu den Bergarbeitern, indem auch er in die Grube fährt und sich so denselben Gefahren wie die Bergarbeiter aussetzt.170 Wie wichtig Humboldt für die sozialistische Selbstlegitimierung des Staates war, machen nicht zuletzt die Eckdaten 1959 und 1969 deutlich. Diese markieren nicht nur den 200. Geburtstag und 100. Todestag Humboldts, sondern auch den zehnten und zwanzigsten Geburtstag des sozialistischen Staates.171 Beide Angelegenheiten wurden in offiziellen Zeremonien aufs Engste miteinander verschränkt. So erklärte Otto Grotewohl, der erste Ministerpräsident der Deutschen Demokratischen Republik, 166 Nicolaas A. Rupke, Alexander von Humboldt. A Metabiography (Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2005). 167 Ebd, 8. 168 »Was ist uns von Humboldt geblieben?,« 3sat, 2009, https://www.3sat.de/page/?source=/ard/send ung/133973/index.html (abgerufen 28.01.2019). 169 Rupke, Alexander von Humboldt, 120. 170 Séan Allan, »Kosmopolitische Fiktionen. DEFA und die Globalisierung der europäischen Aufklärung,« in DEFA international. Grenzüberschreitende Filmbeziehungen vor und nach dem Mauerbau, Hg. Michael Wedel et al. (Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2013), 50. 171 Ebd., 49.
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1959: »Wir machen wahr, was Humboldt erträumte.«172 Damit warf sich die DDR, in Abgrenzung zu ihrem westlichen Widerpart, als die rechtmäßige Erbin des preußischen Wissenschaftlers auf. Eine Reihe von öffentlichen Ereignissen veranschaulicht diese kulturpolitische Aneignung: etwa die Umbenennung der Friedrich-WilhelmsUniversität zur Humboldt-Universität 1949, die Verleihung einer Humboldt-Medaille für herausragende Beiträge zur Wissenschaft, die Ausstellung »Alexander von Humboldt, sein Erbe in der Deutschen Demokratischen Republik« und der jahrelange Umlauf von Humboldt-Briefmarken und -Geldscheinen.173 In der Brieferzählung Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert (1980) des ostdeutschen Schriftstellers Christoph Hein spielt die Humboldt-Figur auf ihre Revalorisierung als Vertreter des ›anderen‹ Preußens an: Mit milder Selbstironie bezeichnet sich Heins Humboldt als einen »mufflige[n] Saurier in der neudeutschen PreussenScene.«174 Betrachtet man die literarische Produktion, dann gibt es in der DDR zwei thematisch verwandte Theaterstücke, in denen Alexander von Humboldt als literarische Randfigur auftritt: Guevara oder Der Sonnenstaat (1975) von Volker Braun und Humboldt und Bolívar oder Der Neue Continent (1980) von Claus Hammel. Den historischen Hintergrund beider Stücke bilden die Bemühungen der DDR, aus Humboldt einen geistigen Waffenbruder des südamerikanischen Freiheitskämpfers Simón Bolívar und einen Wegbereiter einer sozialistischen Solidarität zwischen dem Ostblock und den kolonisierten Ländern der Dritten Welt zu machen. Vor allem seit dem Staatsstreich Augusto Pinochets in Chile 1973 wurde die Verbindung zu Bolívar ein wichtiger Bestandteil der Humboldt-Konstruktion in der DDR.175 Während in Hammels Stück zahlreiche Figuren – von Humboldt und Bolívar über Napoleon bis zu Quasimodo – die historischen Wurzeln der südamerikanischen Revolutionen und die Zukunft Südamerikas diskutieren, kreist die zentrale Handlung von Guevara oder Der Sonnenstaat um die bolivianische Kampagne Che Guevaras, der als »blutiger Clown«,176 als »Diktator, nur ohne Volk«177 und »Don Quijote«178 dargestellt wird. Diese Handlung wird durch drei Zwischenspiele unterbrochen, in denen ein Archäologe namens Hugo Bumboldt und der Philosoph Denis Bedray (gemeint ist wohl Régis Debray, der französische Theoretiker der südamerikanischen Revolutionen in den 1960er und 1970er Jahren) als lächerliche Vertreter eines blutleeren Eurozentrismus aufgeführt werden. Die südamerikanische Realität nehmen sie gar nicht war: Bumboldt interessiert sich nur für die Vergangenheit – »ich interessiere mich nicht für lebende Menschen«179 –, während Debray einen leeren Idealismus verkörpert. Am Ende zeigt Braun das inhärent Barbarische der ›zivilisierten‹ Welt, in-
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Zitiert nach ebd., 49. Rupke, Alexander von Humboldt, 106, 117, 111. Christoph Hein, »Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert,« in Einladung zum Lever Bourgeois, Hg. ders. (Berlin/Weimar: Aufbau, 1980), 104-183. Das Werk wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert. Rex Clark, Oliver Lubrich (Hg.), Transatlantic echoes, 26. Volker Braun, Guevara oder der Neue Continent (Wiesbaden: Drei Lilien, 1975), 51. Ebd., 50. Ebd., 63. Ebd., 9.
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
dem er das Stück bis in die Groteske treibt: Bumboldt erschießt Debray und frisst ihn auf. Die ersten Schritte als literarische Hauptgestalt macht Humboldt allerdings nicht auf dem südamerikanischen Kontinent, sondern in Russland. Der biografische Humboldt reiste 1829 einige wenige Monate durch Russland und Sibirien in Begleitung von den Naturforschern Gustav Rose und Christian Gottfried Ehrenberg und seinem Kammerdiener aus Berlin, Johann Seifert, der in Russland als Jäger auftritt. Die Russlandreise findet in keinem der am Anfang dieses Kapitels genannten Werken Erwähnung; nur Kehlmann schenkt dieser Expedition am Ende seines Romans kurz Beachtung. In Die russischen Briefe des Jägers Johann Seifert, der letzten Erzählung aus dem Prosaband Einladung zum Lever Bourgeois (1980) von Christoph Hein, schreibt Johann Seifert aus Russland 23 Briefe an seine Frau Mila. Die Briefe erreichen ihre Adressatin nicht, so weiß der Leser und vermutet auch der immer verzweifeltere Seifert. Die Briefe berichten kaum über Humboldts wissenschaftliche Leistungen und Forschungsergebnisse, sondern generieren vielmehr ein anekdotenreiches Porträt des inzwischen 59-jährigen Forschers aus der Perspektive eines Engvertrauten. Sie artikulieren zudem bittere Klagen über die nur mühsam vorangehende Forschungsreise und machen dem Heimweh ihres Verfassers nach Frau und Tochter auf pathetische Weise Luft, was komische Effekte bewirkt. Seufzer wie »Mögen mich die kalmuekkischen Stechfliegen zu Tode quälen, sterben werde ich allein an Deinem Schweigen« (108) sind gang und gäbe, werden aber von Seiferts »Princen« als »homerische Klagen, würdig der weimaraner Equipe« verspottet; ein Gleiches habe er selbst »von einem Wieland und Göthe gehört«. (118) Darüber hinaus berichtet Seifert über die unaufhörlichen offiziellen Empfänge, an denen sein Herr nur ungern teilnimmt, adressiert dessen politische Überzeugungen und Meinungen über die soziale Lage Russlands, Humboldts Ablehnung des Antisemitismus und dessen vermeintliche Homosexualität. Gegen Ende kreist die Erzählung immer mehr um die heimlichen Bemühungen des russischen Begleiters Herrn von Menschenin, Seifert als Spion Humboldts zu gewinnen. Das scheint ihm schließlich auch gelungen zu sein: Im letzten Brief erfahren wir, dass Humboldt und sein Gefolge nach wochenlangem Aufschub endlich nach Hause dürfen; Seifert – seine Finger sind komplett wund geschrieben – hat also doch den »JudasBrief« (158) über Humboldt verfasst. Die Briefe werden im Vorwort eines fiktiven Herausgebers mit den Initialen C.H. in einem den akademischen Stil karikierenden Ton als vorläufige Auswahl für eine historisch-kritische Ausgabe präsentiert und sind ihrerseits in einem holprigen, hin und wieder kolloquialen Stil mit eigenartiger Rechtschreibung verfasst. So verweist Seifert in den Briefen immer wieder auf Humboldt als »meinen preussischen Princen Gumplot«, eine Bezeichnung, die in einer leicht abgewandelten Version historisch belegt ist.180 Zwar ist dem Herausgeber zufolge der wissenschaftliche Wert der Briefe durch die »mangelnde Sorgfalt der Umschrift« (104) zur Zeit der Herausgabe, das heißt im Jahre 1977, beschränkt. Aber weil die langjährige Transkriptorin der nicht näher beschriebenen »Zentralen Forschungsstelle« das Rentenalter erreicht hatte, entschloss man sich, 180 Als Humboldt auf seiner Russlandexpedition in Gruben nach Diamanten suchte, hielt man das für ein närrisches Unternehmen. Einer der begleitenden Kosaken nannte ihn darum »den verrückten preussischen Prinzen Humplot«. Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur,« 258.
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die Briefe in dieser »fragwürdige[n] Gestalt« für ein breites Publikum zugänglich zu machen. (104) Die Originalbriefe befinden sich in einem »heillosen Zustand der Zerstörung« (107), weshalb verschiedene Textstellen durch allerlei Beschädigungen unlesbar geworden sind. Die Briefe wurden zunächst in Russland abgefangen, drei Jahre später von der Petersburger Geheimpolizei den preußischen Kollegen übergeben und 1946 im Archiv der Gestapo aufgefunden. Weil sie damals als unbedenklich und wertlos klassifiziert wurden, entdeckte man sie erst 30 Jahre später erneut: Man fand sie, als Makulatur geklebt, hinter der Tapete einer Wohnung in der Berliner Tieckstraße. Damit spielt der Text auf die Abhörpraktiken der Stasi an. In der Hoffnung, auch in den benachbarten Wohnungen »ähnliche Schätze« (107) zu entdecken, dringt die Forschungsstelle in diese Häuser ein, um die Tapeten von den Wänden zu entfernen. Am Ende des Vorwortes fügt der Herausgeber noch hinzu, dass die Forschungsstelle einige notwendige Korrekturen vornehmen musste. Ob das am mangelhaften Zustand der Briefe liegt oder daran, dass die Briefe an einigen Stellen doch bedenklich sind, bleibt dahingestellt. Festzuhalten ist aber, dass schon im Vorwort zeitübergreifende Analogien zwischen den autokratischen Regierungen Russlands, Preußens und der DDR vorzufinden sind, insofern es sich um eine Verletzung der Privatsphäre entweder durch die Verletzung des Briefgeheimnisses oder durch Hausdurchsuchungen handelt. Heins Novelle rückt insbesondere die Frage nach der Position des Intellektuellen in diesen autokratischen Systemen in den Vordergrund. Humboldt erscheint in den Briefen Seiferts als aufgeklärter und systemkritischer Denker in der Tradition der Französischen Revolution, der seine politischen Überzeugungen aber für sich behält und sich mit der politischen Macht arrangiert, um seine wissenschaftliche Arbeit nicht zu gefährden. Darin gleicht er der Hauptfigur der ersten Erzählung des Prosabandes, dem Dichter Jean Racine, der im absolutistischen Frankreich des Louis XVI lebt und arbeitet. Anders als bei Kehlmann wird Humboldt in Seiferts Briefen zunächst als antinationalistischer Kosmopolit porträtiert: »[E]r sei, habe er nur eine LandesGrentze ueberschritten, unfähig, weiterhin ein Deutscher zu sein […]. Er sei, wenn er sich auch nicht dazu verstehe, auf sein Vaterland zu verzichten, keinesfalls ein Vaterländler.« (110-111) Diese transnationale Offenheit spiegelt sich auch in seinen Auffassungen über das »Andere« und das »Fremde«. (139) Damit meint Humboldt jene Minderheiten – seien es nun Frauen, Juden, Gelehrte, »NichtNormale« oder Ausländer – über deren einschließende Ausschließung sich das »MittelMass« erhebe und sich eine Gruppe oder Gemeinschaft erst als solches definiere: »Ein Mensch, eine Minderheit muss für das heillose Vaterland sterben, damit dieses seine UnThaten, seine Schuld erklären könne. Als Schuld der Anderen. Immer seien es die Frauen, die Juden, die Gelehrte, die NichtNormale, immer heißen sie daher schmutzig, schmierig, unrein. So erhebe sich das MittelMass. Es denunziere, um unbeflekkt zu sein. Es schlage die Frau, um männlich zu werden. Es trete den Ausländer, um sich als Herr zu erheben. Es denunziere die Vernunft, um seinen gesunden Geisth darzuthun.« (140) Dieses Plädoyer für Toleranz und Solidarität überzeugt Seifert allerdings nicht: »[V]erwaschene WeiberWeisheit und kraftlose Weichheit Alles« (140), so tobt er seiner Frau gegenüber, was könne man bloß gegen den »gesunden Hass« (140) auf die Juden ein-
4. Figurationen von Alexander von Humboldt
zuwenden haben? Humboldts Diener vertritt so die Position des (mikro-)aggressiven Spießbürgers; er ist ungebildet, borniert, leicht entflammbar und verliert sich gelegentlich in misogynen Äußerungen und antisemitischen Tiraden, die sich vor allem gegen einen eingebildeten Liebeskonkurrenten in Berlin richten. Er stellt sich aber auch als jemand dar, der im Gegensatz zu seinem Herrn über gesunden Menschenverstand verfügt. Als Humboldt die Ehe mittels einer parodistischen Verkehrung von Kants berühmter Definition von Aufklärung als »Weg in eine selbstverschuldete Unmündigkeit« (146-147) bezeichnet und sein Junggesellentum damit erklärt, dass er während seines Lebens nur die Wissenschaft »gefreit« (146) habe, staunt Seifert darüber, »wie wunderlich es doch sei, dass bei einem wohlgebildeten und geisthigen Menschen in den Dingen des gesunden Menschenverstandes so viel UnNatur herrschen könne.« (149) Tatsächlich ist Humboldt der Meinung, dass die Natur bezwungen werden soll: »[W]o wir ihr unterworfen sind, bleiben wir thierisch.« (150) Demnach vernachlässigt auch Heins Humboldt die natürlichen Bedürfnisse des Körpers; schlafen und essen tut er wie Kehlmanns Humboldt nur wenig. (155) Humboldts Ablehnung der Ehe und der Fortpflanzung entspringt seiner Kritik am preußischen Schulsystem, das übrigens von seinem Bruder Wilhelm gegründet worden ist.181 Die preußischen Schulen verfahren Humboldt zufolge »mit diesen wehrlosen Geschöpfen kaum anders […] als Prokrustes mit seinen Gästen. Kleine Individuen voller Begabungen, Phantasien und ThatenLust, berstend von Einfällen, selbstbewusst und sensibel […]; sie werden in Schulen gegeben, die sie nicht als Erwachsene, sondern verwachsen verlassen.« (162) Nach einigen Schuljahren tauchen die »vielversprechenden Knospen« wieder auf, aber sie wirken jetzt auf jeden so, »als seien sie mit kochendem Wasser abgebrüht. Die Blühte sei zerstört. Und fruchtlos bleiben sie, das aber mit Fleiss.« (163) Humboldt schildert hier das Bild einer verzerrenden und verstümmelnden preußischen Erziehung, die alles Natürliche und Lebendige abstumpft, bis nur noch ein unpraktischer Formalismus übrig bleibt: »Mit Facta ueberfüttert, aufgebläht von unverdaubaren LehrStoffen, unpraktisch gemacht für das gewöhnliche Leben, dabei eithel und aufgeblasen durch ein AllerwelthWissen, kurzum, predestinirt für den Beamten, so erscheine nach der SchulProcedur die eben noch rosige Hoffnung.« (162) Die Erziehung zur Unmündigkeit und Unselbständigkeit erinnert an Heinrich Manns Untertanen produzierende Erziehungsmaschine des Wilhelminischen Kaiserreichs und verweist zugleich auf das Schulsystem der DDR, wo die Schüler*innen mit politischen Phrasen und leeren Formeln ernährt werden. Diese stumpfe Gleichförmigkeit werde in Preußen – und, so ist mitzudenken, in der DDR – von einem »verschämten Princip, nehmlich dem vorgeblichen GemeinWohl« (173), dem sogenannten preußischen Sozialismus, getragen: »Man gibt ieder Niedertracht einen verborgenen, hoeheren, gleichsam socialistischen Sinn, worin sie ihr GegenTheil bedeute. Der deutsche SpiessBürger wird zur Persönlichkeit, Preussen die eintzig normale Nation; sein Producte der NormalMensch, der
181
Auch Kehlmann äußert sich in den Göttinger Poetikvorlesungen durchaus kritisch gegenüber dem Gründer des preußischen Schulsystems, dem er eine »sadistische Grundveranlagung« zuschreibt. Kehlmann, Diese sehr ernsten Scherze, 43.
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seine Unselbstendigkeit im Denken und Handeln als Brüderlichkeit begreiffen darf und gemeinnüzzig, und dessen Sociëtat sich in einen reissenden Wolf verwandle, wann immer er die Stallung seiner Normalität gefährdet sieht.« (173) Nach der Wiedergabe dieser empörten Anklage fügt Seifert trocken hinzu: »Dann widerrief Gumplot Alles, lobte den erfreulichen und wohlthätigen Eindrukk, den die anhebende Gleichheit auf ihn mache.« (173) Immer wieder wird Humboldt als ein Intellektueller dargestellt, der seiner wissenschaftlichen Arbeit wegen weittragende Kompromisse mit der Regierung eingeht. Dabei thematisiert der Text mehrmals die eigentliche Inkommensurabilität seiner liberalen, der Französischen Revolution entsprungenen Ideen einerseits und seiner opportunistischen Position als Kammerherr am preußischen Hof andererseits: »Sans culottes« fühle sich Humboldt »sans souci«. (135) Der »deutsche[…] Robbespierre« (111) und »preussische[…] HofSansculott[…]« (115), der »rötheste Jacobiner« (122) und »Republicaner in Sanssoucci« (134) lässt sich diese Zwischenposition gefallen: »ein wenig FreiGeistherey sei erlaubt, wo die Epauletten correct sizzen.« (122) »Die unheilvolle preussische Politik nehme er nicht wahr, zu der verworrenen Wirthschaft aeussere er sich nicht, um seiner Arbeith nachgehen zu können.« (135) Zu oft habe der jüngere Humboldt erlebt, dass ihm kritische Äußerungen von den Regierungen nicht in Dank abgenommen wurden und seine Forschungsarbeit darunter gelitten hat: Weil sein »Essai politic« (120) über die Amerikareise nicht nur Spanien, sondern auch Sanssouci und London verstimmt habe, sei seine geplante Indienfahrt von der Ostindischen Kompanie hintertrieben worden. Deshalb habe er vor dem Antritt der Russlandreise dem russischen Hof, der seine Expedition finanziert und das Gefolge mittels Spitzel und bewaffneter Kosaken überwacht, schriftlich versichert, die gesellschaftlichen Einrichtungen und politischen und sozialen Angelegenheiten in Russland außer Acht zu lassen. Aus diesem Grund liest Humboldt auch Seiferts Briefe durch. Er muss den Hitzkopf mehrmals zur Vorsicht und Moderation ermahnen. (120) So wird der beobachtete Humboldt selbst zum Beobachter. Humboldt seinerseits ist ein Meister der Selbstzensur; immer wenn seine Briefe eine Staatsgrenze überqueren, werden sie geöffnet und kopiert. (121) Diese Vorsicht hat ihm aber nichts genützt: Am Ende der Brieferzählung weiß der Leser, dass Seifert unter zunehmendem Druck der russischen Regierung den von Menschenin verlangten Bericht über Humboldts Äußerungen zur gesellschaftlichen und politischen Lage des Landes verfasst hat. Die Frage, ob man als Intellektueller abseits der politischen Entwicklungen stehen bleiben darf, wurde in Deutschland schon mehrmals aufgeworfen. Thomas Mann beantwortete sie in Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) dezidiert mit einem ›Ja‹; Geist und Politik grenzte er sogar als per definitionem unvereinbar voneinander ab: »Geist ist nicht Politik: man braucht als Deutscher, nicht schlechtes neunzehntes Jahrhundert zu sein, um auf Leben und Tod für dieses ›nicht‹ einzustehen.«182 [Herv. i.O.] Politisches Engagement sei für den Intellektuellen deshalb nicht nur nicht wünschenswert, sondern verübe auch einen ›Verrat‹ am Geist. Auch in der DDR stand die Position des Intellektuellen zur Diskussion. Sollte er sich mit den politischen Verhältnissen arrangieren,
182
Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch, 2001), 51.
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um seine intellektuelle Existenz und Arbeit nicht zu gefährden, oder sei er prinzipiell zum (geistigen) Widerstand verpflichtet, auch wenn dies ein Berufsverbot mit sich bringe? Hein macht diese Debatte zum Gegenstand seiner Novelle, ohne aber zu einer Lösung oder Antwort zu kommen. Vielmehr deutet er auf die Aporien und Ambivalenzen hin, die mit der Position des Intellektuellen in einem autokratischen System einhergehen, und befragt damit auch seine eigene Schriftstellerexistenz. Die HumboldtFigur dient ihm also nicht dazu, die philosophische Tradition der Aufklärung und Humboldts Position in dieser Bewegung zu valorisieren, wie etwa John Pizer in einer der spärlichen Analysen von Die russischen Briefe, denen er Kehlmanns kritische HumboldtDarstellung entgegensetzt, argumentiert.183 Vielmehr thematisiert Hein mittels Humboldt die schwierige Position des Intellektuellen in einem Obrigkeitsstaat. Das absolutistische Russland und das Preußen der Restaurationszeit fungieren dabei als historische Folie, um Probleme der Gegenwart des Autors zur Sprache zu bringen.
183
John Pizer, »Skewering the Enlightenment. Alexander von Humboldt and Immanuel Kant as fictional characters,« Atlantic Studies 7, 2 (2010): 127-142.
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5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«. Friedrich Christian Delius’ Der Königsmacher (2001) The one duty we owe to history is to re-write it. – Oscar Wilde, The Critic as Artist1
Wider den historischen Roman Seit ihrer Popularisierung durch die Romane Walter Scotts am Anfang des 19. Jahrhunderts ist die Gattung des historischen Romans der Kritik der Trivialisierung, Verkitschung und Entstellung der Geschichte ausgesetzt.2 In seinem Essay »Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans« (1935) schildert Lion Feuchtwanger, selbst Verfasser erfolgreicher historischer Romane, die geläufigen Vorwürfe gegen diesen Gattungsbegriff wie folgt: »Das Wort historischer Roman erweckt heute peinliche Assoziationen. Man denkt an Ben Hur, an den Grafen von Monte Christo, an gewisse historische Filme, man hat die Vorstellung: Abenteuer, Intrigen, Kostüm, dicke, bunte Farben, pathetisches Gerede, Vermengung von Politik und Liebe, spielerische Rückführung großer Ereignisse auf kleine, persönliche Passionen.«3 An dieser Vorstellung hat sich heute wenig geändert. In ähnlichen Worten wie Feuchtwanger prangert die Büchner-Preisträgerin Felicitas Hoppe, die mit Pigafetta (1999) und Johanna (2006) gleich zwei historische Romane und mit ihrem Erzählband Verbrecher und Versager (2004) fünf fiktionale Porträts historischer Personen vorlegt, die eskapistischen Sehnsüchte, historischen Verzerrungen und die hinter Kostümen und Kronleuchtern lauernde Kitschgefahr des historischen Romans an: »In seiner trivialsten Form allerdings ist er [der historische Roman] nichts als ein Kostümfest, ein Fake, Vorspiegelung falscher Tatsachen, unter dem Motto: Lassen Sie sich in die Vergangenheit entführen! Eine Art biedermeierlicher Eska-
1 2 3
Oscar Wilde, »The Critic as Artist,« in ders., Intentions (London: Methuen, 1891), 13. Stephanie Catani, Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur (Tübingen: Narr Francke Attempto, 2016), 159. Lion Feuchtwanger, »Vom Sinn und Unsinn des historischen Romans,« in ders., Centum Opuscula. Eine Auswahl, Hg. Wolfgang Berndt (Rudolstadt: Greifenverlag, 1956), 508-515, hier: 508.
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pismus, ein sicherer, von der Gegenwart abgetrennter Raum, historisch möbliert. Und scheinbar allwissend.«4 Offensichtlich ist jeder fiktionale Text, der historische Themen zum Gegenstand hat, im 20. und 21. Jahrhundert suspekt.5 Autor*innen historisch-fiktionaler Texte, die, wie Hoppe und Feuchtwanger, literarischen Anspruch erheben, distanzieren sich daher mit Nachdruck vom Etikett ›historischer Roman‹,6 das heute meistens nur noch in geschnörkelten Buchstaben die glitzernden Buchumschläge nostalgisch-sentimentaler, mit Sex und Abenteuer gewürzter Geschichten schmückt. Um sich von diesem anrüchigen Genre abzugrenzen, führt Hoppe sogar einen neuen Gattungsbegriff ein: »Ich behaupte, es gibt eine Art historischen Gegenwartsroman – so nenne ich Romane, die komplementär zum historischen Roman versuchen, eine Figur aktuell zu machen, also aus der Vergangenheit in unsere Zeit zu versetzen, indem sie so tun, als lebte diese historische Gestalt heute.«7 Auch Daniel Kehlmann lehnt die Gattungsbezeichnung des historischen Romans entschieden ab, nach eigener Aussage »eingeschüchtert von all den Trivial-Fällen, die da lauern«,8 sowie von der hartnäckigen, gar von der Literaturwissenschaft gestellten Frage, »wie es um die Fakten [steht]«.9 Wie im vorigen Kapitel schon erwähnt wurde, bezeichnet Kehlmann Die Vermessung der Welt daher nicht als historisch, sondern – ähnlich wie Hoppe – als einen »Gegenwartsroman, der in der Vergangenheit spielt.« Trotz dieser Zurückhaltung der Gegenwartsautor*innen gegenüber dem historischen Roman kann von einer wahren »Konjunktur« historischer Stoffe in der Literatur des ausgehenden 20. und besonders des beginnenden 21. Jahrhunderts gesprochen werden, wie Stephanie Catani in ihrer Habilitationsschrift Geschichte im Text (2016) darlegt.10 Diese Tendenz lässt sich gerade auch jenseits der sogenannten Trivialund Unterhaltungsliteratur beobachten, wie schon ein kurzer Blick auf die BüchnerPreisträger*innen des letzten Dezenniums verdeutlicht. Autor*innen wie Marcel Beyer (2016), Felicitas Hoppe (2012), Friedrich Christian Delius (2011), Reinhard Jirgl (2010) Walter Kappacher (2009) und Martin Mosebach (2007) haben sich in ihren Texten alle mit historischen Themen auseinandergesetzt. Dabei beschränken sie sich nicht auf die Geschichte des Nationalsozialismus, sondern erzählen auch von der (viel) ferner zurückliegenden Vergangenheit. So widmet sich Hoppe in ihren »historischen 4 5 6
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Felicitas Hoppe, »Auge in Auge. Über den Umgang mit historischen Stoffen,« Neue Rundschau 1 (2007): 56-69, hier: 63. Catani, Geschichte im Text, 13. Hugo Aust, »Vom Nutzen des historischen Romans für das zwanzigste Jahrhundert,« Zagreber Germanistische Beiträge, Beiheft 8: Tendenzen im Geschichtsdrama und im Geschichtsroman des 20. Jahrhunderts, Hg. Marijan Bobinac, Wolfgang Düsing, Dietmar Goltschnigg (2004): 21-32, hier: 24; Catani, Geschichte im Text, insbesondere 165ff. Hoppe, »Auge in Auge,« 63. Kehlmann, »Ich wollte schreiben wie ein verrückt gewordener Historiker«. »Denn wer glaubt, hier etwas über Alexander von Humboldt, den berühmten SüdamerikaReisenden, und Carl Friedrich Gauß, den großen Mathematiker, zu erfahren, der sollte sich in Acht nehmen. […] Sprechen wir von der Basis eines historischen Romans: Wie steht’s um die Fakten?«. Wolfgang Griep, »Der Kehlmann-Kanal,« DIE ZEIT, 20. April, 2007, https://www.zeit.de/online/200 7/16/L-Kehlmann (abgerufen 11.07.2019). Catani, Geschichte im Text, 38-39.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
Gegenwartsromanen« Pigafetta und Johanna dem gleichnamigen venezianischen Abenteurer Antonio Pigafetta, der 1519 an der ersten Weltumseglung teilnahm, und der französischen Nationalheldin Johanna von Orléans. Delius, der sich in seinen Romanen immer wieder mit neuralgischen Punkten der deutschen Bundesrepublik und des wiedervereinigten Deutschlands auseinandersetzt, erzählt in Der Königsmacher (2001) die Geschichte einer unehelichen Königstochter vor dem Hintergrund der napoleonischen Kriege. Walter Kappacher veröffentlicht mit Der Fliegenpalast (2009) einen historischen Künstlerroman über den österreichischen Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal. Der 2001 erschienene Roman Der Nebelfürst Martin Mosebachs schließlich ist im wilhelminischen Deutschland um die Jahrhundertwende angesiedelt. In den historisch-fiktionalen Texten der Gegenwart wird nicht einfach Geschichte erzählt. Vielmehr ist ihr entscheidendes Bindeglied das hohe Maß an Selbstreflexivität, das neben der Ebene der histoire eine Metaebene einführt, die das Erzählen von Geschichte thematisiert und problematisiert. Diese Verschiebung des Fokus auf die Ebene des discours macht die Leser*innen auf den Prozess der Fiktionalisierung aufmerksam und enthält somit ein illusionsstörendes Potenzial. Sie rückt den Konstruktionscharakter der erzählten Geschichte in den Blick und reflektiert damit den Mimesis-Begriff als durchaus ästhetische Kategorie. Auf diese Weise echoen diese Texte auch zeitgleiche epistemologische und methodische Fragen und Probleme der Historiografie und Geschichtstheorie.11 Seit dem linguistic turn, der eine der Sprache vorgängige Geschichte
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Diese inzwischen eingebürgerten gattungstheoretischen Überlegungen zum historischen Roman wurden zum ersten Mal systematisch von Ansgar Nünning in Bezug auf die historischen Romane der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im angloamerikanischen Kontext ausgearbeitet. In seiner 1995 erschienenen, zweibändigen Habilitationsschrift Von historischer Fiktion zu historiografischer Metafiktion unterscheidet er fünf Typen des historischen Romans: den dokumentarischen historischen Roman, den realistischen historischen Roman, den revisionistischen historischen Roman, den metahistorischen Roman und die historiografische Metafiktion. Auf der einen Seite dieses Spektrums situiert Nünning jene Texte, die auf ungebrochene Weise von historisch verbürgten Fakten erzählen. Auf der anderen Seite befinden sich diejenigen Romane, die durch ihr hohes Maß an Selbstbezüglichkeit die Aufmerksamkeit auf das ›Wie‹ der Geschichtsvermittlung lenken. Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, Band 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans (Trier: WVT, 1995). Der Begriff ›historiografische Metafiktion‹ wurde zum ersten Mal von der Literaturtheoretikerin Linda Hutcheon verwendet, die ihn wie folgt definiert: »By this I mean those well-known and popular novels which are both intensely self-reflexiv and yet claim to historical events and personages. […] Its theoretical self-awareness of history and fiction as human constructs (historiographic metafiction) is made the grounds for its rethinking and reworking of the forms and contents of the past.« Linda Hutcheon, A Poetics of Postmodernism. History, Theory, Fiction (New York/London: Routledge, 1988), 5. In der Angloamerikanistik wurde der Begriff schnell zum einflussreichen Schlagwort. In der germanistischen Literaturwissenschaft setzte er sich dagegen erst später durch. Wichtige Monografien in diesem Zusammenhang sind die Dissertation Robin Hauensteins und die Habilitationsschrift von Stephanie Catani. Robin Hauenstein, Historiographische Metafiktionen. Ransmayr Sebald, Kracht, Beyer (Würzburg: Königshausen & Neumann, 2014); Catani, Geschichte im Text. Während Hutcheon, Nünning und Hauenstein die histor(iograf)ische Metafiktion als spezifisch postmoderne Form historisch-fiktionalen Erzählens betrachten, verortet Catani die Gattung ausdrücklich jenseits des Postmoderne-Begriffs. Vgl. Catani, 41. Für einen Forschungsüberblick zur Gattung des historischen Romans: Catani, 19-41.
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in Frage stellt, und dem ihn weiterführenden narrative turn verbinden die Geschichtswissenschaften die Erforschung historischer Fakten mit einer selbstkritischen Befragung der historiografischen Darstellung.12 Aufgrund solcher konstruktivistischen Befunde, die mit der Einsicht einhergehen, dass Fakten zugleich das Resultat komplexer Selektions- und Interpretationsverfahren sind, treten Literatur und Historiografie, Fakten und Fiktion in ein neues Konkurrenzverhältnis.13 Dabei steht der Literatur die besondere Möglichkeit zur Verfügung, das auf der Ebene der histoire Erzählte gleichzeitig auf der Ebene des discours zu reflektieren und problematisieren.14 Das kann sie in expliziter Form machen, indem sie metafiktionale und metahistoriografische Kommentare in den Text einfügt, oder aber implizit, das heißt durch erzähltechnische Verfahren, die die Konstruiertheit, Pluralität und Subjektivität der dargestellten Geschichte in der Erzählstruktur spiegeln. Eine komplexe Struktur gehört deshalb zur Signatur der historisch-fiktionalen Texte der Gegenwart: Pluralisierende Verfahren wie Multiperspektivität, (widersprüchliche) Mehrstimmigkeit, Verschränkung unterschiedlicher Zeit- und Raumebenen, Mehrsträngigkeit der Handlungsebenen, Collage verschiedener Textsorten und mise en abyme stellen die Unverfügbarkeit historischer Eindeutigkeit und die Unmöglichkeit einer kohärenten Geschichtserzählung heraus. Zugleich führen sie auf diese Weise, geradezu performativ, eine Möglichkeit vor, Geschichte zu erzählen, nämlich in ihrer grundsätzlichen Brüchigkeit und ihren multiperspektivischen Auffächerungen. Literatur erweist sich so als Ort schlechthin, an dem die Unsicherheit der Geschichte und Vergangenheit sowie das Konkurrenzverhältnis zwischen Fakten und Fiktion verhandelt werden kann.15 Im Licht dieser einführenden Anmerkungen zur Gattung des historischen Romans ist der 2001 erschienene Roman Der Königsmacher von Friedrich Christian Delius besonders interessant. Denn die Bedenken, die andere Autor*innen in Essays und Poetikvorlesungen gegen diese Gattung erheben, verhandelt Der Königsmacher literarisch. Im Mittelpunkt der Geschichte steht der 41-jährige Schriftsteller Albert Rusch, ein »altgewordener Jungautor«,16 der sich nach eigener Aussage am Tiefpunkt seiner Karriere befindet. Als Debütant war er für seinen Roman Fasching mit Elvis 1985 von der Literaturkritik hochgelobt worden, danach ging es Schritt für Schritt bergab. Mit seinem letzten Romanprojekt zur deutschen Einheit, Die Fähre von Caputh, erlebte er eine als ›traumatisch‹ (317) erfahrene »Pleite«. (20) Jetzt will der verkrachte Schriftsteller um jeden Preis wieder in die verkaufsträchtigen Charts gelangen. Diesmal versucht Rusch sein Glück aber nicht mit einem aktuellen Thema, sondern sucht »das Heil in den sicheren Gefilden der Vergangenheit«. (20) Den historischen Stoff findet er in seiner eigenen Familiengeschichte vor. Er hat nämlich entdeckt, dass er der Nachfahre einer illegitimen Tochter des Prinzen von Oranien und späteren Königs Willem I. der Niederlande ist; über ihn
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Catani, Geschichte im Text, 456. Ebd., 11. Ebd., 456. Ebd., 13. Friedrich Christian Delius, Der Königsmacher, 2. Auflage (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2012 [2001]), 20. Der Roman wird ab hier in dieser Ausgabe mit Seitenangabe im Text zitiert.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
stammt er sogar direkt vom preußischen Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. ab. Die Geschichte der unehelichen Königstochter Wilhelmine oder Minna erzählt der Roman auf einer zweiten Handlungsebene. Minna wird von Pflegeeltern zu Pflegeeltern weitergegeben, gegen ihren Willen mit Carl von Jasmund, dem ältesten Sohn ihrer letzten Pflegeeltern, verheiratet und stirbt im Alter von 24 Jahren, ohne je ihre Herkunft erfahren zu haben. Mit diesem ›tragisch schönen‹ Stoff für eine »Frauenstory« (27) will Rusch nun »wuchern« (81) und »wirtschaften«. (163) So alternieren in Der Königsmacher zwei in sich bruchstückhafte Erzählstränge: Der eine spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und umfasst jene Vorentwürfe, Versuche und Variationen des noch opulent auszuschmückenden, sentimentalen historischen Romans. Die andere Handlungsebene spielt in der Gegenwart und berichtet aus der Perspektive des rückblickenden Icherzählers Rusch über dessen Ringen um symbolisches wie ökonomisches Kapital im marktabhängigen Literaturbetrieb. »There are rich times for historical fiction« (127), so spornt ihn seine Verlegerin zum Fertigstellen des Manuskripts an. Die Erzählebene der Gegenwart verfolgt also auch die Genese des fiktiven Romanprojektes. Nach und nach verliert Rusch aber sein Interesse an der Geschichte der illegitimen Königstochter. Seine Energien fließen immer mehr in die möglichst medienwirksame Selbstinszenierung und Vermarktung der eigenen Person als Spross des preußischen Königsgeschlechts. Als »wiederauferstandene[r] Oranier« (274), als »Königsenkel« (257) und »Preußenprinz« (245) avanciert Rusch blitzschnell zum Medienstar. In Talkshows und Expertenrunden entpuppt er sich zum feurigen Trommler für Preußens Glanz und Gloria und zum Apologeten preußischer Tugenden, die er für die heutige Zeit vermarkten will. Doch nach dem kometenhaften Aufstieg folgt rasch der ruhmlose Fall. Nicht nur wird der neue Preußen-Trend schon schnell zum Überdruss. Im Getriebe des multimedial aufgeblähten ›Preußenjahres 2001‹, das Rusch selbst ›erfunden‹ (242) hat, verfällt er dem Historienwahn so sehr, dass er, angekettet an einem Denkmal der Königin Luise von Preußen im Berliner Tiergarten, den Verstand verliert. Eine »akute schizophrene Psychose« (314) lautet die Diagnose. Aber sogar aus seiner »Luisen-Aktion« (315) schlägt Rusch Profit. Denn nach einem kurzen Aufenthalt in der Psychiatrie erhält er einen reichlich dotierten, auf sechs Jahre befristeten Arbeitsvertrag: Als lebendes Museumsstück in einem privaten Preußenmuseum sitzt er zufrieden hinter schalldichtem Glas und schreibt dort auf Anraten seines Psychiaters, Dr. N., die Geschichte seiner Selbstkrönung nieder, die er 300 Jahre nach der Selbstkrönung des ersten preußischen Königs Friedrich I. vorgenommen hat. Auch jetzt kann er sich der »Droge Ruhm« (318) aber nicht völlig entziehen. Denn dieser Bericht erfüllt nicht nur therapeutische Zwecke, sondern soll veröffentlicht werden. Allerdings nicht unter seinem eigenen Namen, sondern dem eines anderen Autors, einem gewissen »F.C.D.«, wie es im vorangestellten Vorwort heißt, der als Ruschs Stellvertreter die anstrengenden Rituale des Literaturund Medienbetriebs vollziehen soll. Die erzählerische Pointe von Der Königsmacher liegt darin, dass Delius’ Roman die Voraussetzungen, die er dem historischen Roman zuschreibt – Kitsch und Sentiment, konventionelles Erzählen und holzschnittartige Figuren – gerade nicht erfüllt. Vielmehr vergegenwärtigt er die oben angesprochenen erzählstrukturellen und selbstreferentiellen Innovationen, die die historisch-fiktionale Literatur der Gegenwart in Wechselwirkung mit dem zeitgleichen Geschichtsdiskurs besonders seit den 1990er Jahren auf-
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weist. Die folgende Textanalyse wird in einem ersten Schritt zeigen, wie Der Königsmacher mit der Gattung des historischen Romans abrechnet. Das macht er mittels satirischer Übertreibung, durch erzähltechnische Verfahren, die die Erzählkohärenz aufbrechen, und durch eine skeptische Haltung gegenüber der Erkennbarkeit geschichtlicher Fakten. Aber nicht nur der traditionelle historische Roman wird verspottet; auch Eigentümlichkeiten anderer historiografischer Diskurse wie die des akademischen Diskurses des (Kunst-)Historikers oder des Romantypus der sogenannten historiografischen Metafiktion werden der Lächerlichkeit preisgegeben. In einem zweiten Schritt führt die Analyse vor, wie Der Königsmacher den nach der deutsch-deutschen Vereinigung entstandenen Geschichtsboom und besonders den »Preußen-Hype« (289) zum Gegenstand des Spottes macht. Delius erweist sich hier als Chronist und Seismograf der deutschen Mentalitätsgeschichte: Er verhandelt den Kurswechsel angesichts der preußischen Geschichte von Ablehnung zu Aneignung im Zeichen eines neuen, unverkrampften Patriotismus literarisch. Diese grillenhafte Diskursstruktur Preußens verknüpft der Roman nicht zuletzt mit der wetterwendischen Dynamik eines Medienbetriebs, in dem man im einen Moment in, im anderen Moment schon wieder out ist. Zugleich stellt der Roman die mythologisierenden Verfahren heraus, die für eine Aktualisierung und ›Verlebendigung‹ Preußens notwendig sind, nämlich die Prinzipien der bricolage und des synthetisierenden Ausgleichs der Widersprüche im Sinne Claude Lévi-Strauss’.17 Am Beispiel des opportunistischen Ruschs, der für jede Bevölkerungsgruppe – politisch links wie rechts, progressiv wie konservativ, Frauen und Männer – ein maßgeschnittenes Preußen zusammenzubasteln versucht sowie ›allround‹-Preuß*innen wie Königin Luise (machtvoll und charmant, fest und zart, klug und schön, Politikerin und Mutter usw.) »für die Welt von heute« (288) vermarkten will, werden beide mythologisierenden Prinzipien auf die Spitze getrieben. Schließlich wird in einem dritten Schritt gezeigt, wie die positive Hinwendung zu Preußen mit einer Wiederkehr monarchischer Phantasien verknüpft wird. Diese sind im Roman nicht nur Ausdruck einer nach höfischem Klatsch gierenden, voyeuristischen (medialen) Öffentlichkeit, sondern gewinnen nach dem Mauerfall als Ausdruck eines Unbehagens gegenüber der Demokratie sowie eines komplexloseren Umgangs mit der nationalen Geschichte an Prägnanz.
Ein »historischer Anti-Roman« Das Erfolgsrezept für einen historischen Roman, so wird Rusch von seiner Lektorin aufgeklärt, enthält ein vertrautes, sogar bewusst stereotypes Figurenarsenal, stimmungsvolle, weitläufig geschilderte Tableaus vivants, die die Gemüter der Leser*innen nostalgisch machen, und eine ordentliche Portion Sex und Intrigen: »Stell dir einen Film vor, Breitwand, schreib Breitwand, Genrebilder, hab keine Scheu vor nostalgischen Schilderungen. Die schöne Tänzerin, der galante Prinz, das ungleiche Liebespaar. Die derben Sprüche der Bäckersleute, Sex im Palais, Spaziergänge unter den Linden, Hoftratsch, die Schreie des Kindes. […] Die Räder der Kutschen
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Lévi-Strauss, Das wilde Denken; Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude-Lévi-Strauss, Hg. Adelbert Reif (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980), 266.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
auf schlammigen Wegen, […] mecklenburgische Sommerlandschaften, Jungmädchenträume mit Wetter, viel Wetter.18 […] Stör dich nicht daran, dass alle Figuren irgendwie bekannt, die Szenen dir schon vertraut sind, wenn du sie schreibst. Genau das macht den Erfolg.« (143-144) Für dieses »mecklenburgische ›Vom Winde verweht‹« (89) hält die Lektorin auch eine bestimmte Darstellungsform in ihrem literarischen Vorratsschrank bereit. Sie unterrichtet Rusch wie folgt: »Ich würde dem Exposé folgen und in der Chronologie bleiben. Keine Experimente, wenig Rückblenden, keinen umständlichen Krimi über die Entdeckung der Story. Im Mittelpunkt immer das arme Kind-Mädchen-Frauenzimmer. Versuch es so konventionell wie möglich.« (89) [Herv. i.O.] Von der Literaturkritik als »historische[r] Anti-Roman«19 etikettiert, entspricht Delius’ Roman den Erwartungen der Lektorin gerade nicht. Das verdeutlicht schon das selbstreflexive Spieglungsverfahren des Buches im Buch, die Thematisierung der Textentstehung im Text, die den Konstruktionscharakter des auf der Ebene der histoire Dargestellten in den Vordergrund stellt und die Illusion des Erzählten stört. Kaum dass sich die Leser*innen in die Minna-Story eingefühlt haben, kommt der profilierungssüchtige Schriftsteller Rusch dazwischen, der die Geschichte in die Richtung der Zeit- und Mediensatire umlenkt. Auch die Geschichte der illegitimen Königstochter, die uns in 164 schlichten Szenen präsentiert wird, erfüllt die von der Verlegerin geschilderten Ansprüche des breit angelegten historischen Romans keineswegs. Die Szenen schwanken formal zwischen minimalistisch entworfenen Roman- und Drehbuchskizzen, die Rusch nach eigener Angabe später noch »in jede gewünschte Richtung ausbauen« (13) könne. Diese Rohfassung enthält knappe Dialoge und kurze Sätze; die Schauplatzbeschreibungen und Handlungsabläufe werden elliptisch dargeboten. Eine Bettszene zwischen dem Prinzen von Oranien und seiner Mätresse, der Bäckerstochter und Berliner Tänzerin Marie Hoffmann, wird zum Beispiel schlicht mit dem Wort »Zärtlichkeiten« (12) angedeutet. Vereinzelt schieben sich andere Darstellungsformen wie der innere Monolog, die Charakterstudie oder doch das weitläufige, auktoriale Erzählen dazwischen. Diese Formen sind aber nur spielerische Versuche oder, der Struktur einer musikalischen Komposition imitierend, »Variation[en]« (84) des schon dargestellten Themas. So wird eine Szene zwischen dem Kronprinzen Willem und seiner Gattin Wilhelmine zunächst als knappe Dialogfassung komponiert, um sie danach, vorangegangen durch die selbstreflexive Notiz »oder lieber so:« (29), zu einem üppig ausstaffierten Tableau umzudirigieren. Die Dialoge werden beibehalten, aber jetzt werden Blicke (»von langen Wimpern verschattet«) von der
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Ein literaturwissenschaftliches fun fact: Delius’ schrieb seine Dissertation über »den ideologischen Gebrauch eines Kunstmittels im Poetischen Realismus«, nämlich das Wetter. Friedrich Christian Delius, Der Held und sein Wetter. Ein Kunstmittel und sein ideologischer Gebrauch im Roman des bürgerlichen Realismus (Göttingen: Wallstein, 2011), Klappentext. Tilman Krause, »Bastel dir einen Bestseller! F.C. Delius hat einen historischen Anti-Roman geschrieben,« Die Welt, 6. Okt., 2001, https://www.welt.de/print-welt/article479718/Bastel-dir-einen -Bestseller.html (abgerufen 11.07.2019). Cornelia Staudacher spricht sogar von einer »RomanParodie«. Cornelia Staudacher, »Preußens Gloria in den Fängen der Bewusstseinsindustrie,« Stuttgarter Zeitung, 1. Feb., 2001, https://www.fcdelius.de/buecher/koenigsmacher.html#rez397 (abgerufen 11.07.2019).
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auktorialen Erzählinstanz interpretiert, Gesten (stets »vielsagend«) gedeutet und das Aussehen des Ehepaars detailreich beschrieben; auch wird übermäßig viel geseufzt. (28) Die nachdrücklich hervorgehobene Nullfokalisierung wird dabei als Pastiche der traditionellen, ins 19. Jahrhundert zurückverweisenden Darstellungskonventionen des historischen Romans eingesetzt und parodiert dessen Prämissen von historischer Objektivität und Erkennbarkeit der Fakten. Zudem weist die Auffächerung eines einzigen Faktums in unterschiedliche Darstellungsformen auf die Pluralität von Geschichte sowie auf die diskursive Beschaffenheit jeder Vergangenheitsdarstellung hin. So lenkt Delius’ Roman nicht nur die Aufmerksamkeit auf die Fiktionalität der im Text erzählten Minna-Geschichte, sondern adressiert auch geschichtstheoretische Fragestellungen. Schon ganz am Anfang des Textes wird die Möglichkeit, die Vergangenheit adäquat wiederzugeben, radikal in Frage gestellt, oder besser: Die Vergangenheit wird als das zweifelhafte und fragmentarische Produkt eines von fiktionalen, imaginären und medialen Strategien gelenkten (oder manipulierten) Repräsentationsprozesses aufgefasst: »Nichts ist fiktiver als die Vergangenheit. Wie die Vorstellung auch immer gesteuert wird, sie bleibt eine Vorstellung. […] Was vergangen ist, wirkt so oder so wie ein Filmstreifen: Bekannte Bilder mit neuen Bildern geschnitten, die auch nur eine geschnittene Mischung aus alten Bildern sind.« (13-14) Jenseits der Fiktion der Geschichte, die aus alten und neuen aber im Grunde genommen immer schon vorgefertigten Bildern zusammengesetzt wird, sind die historischen Fakten niemandem unmittelbar zugängig, so suggeriert diese Textstelle. Die Vergangenheit ist immer ein heterogenes und fragmentarisches Konstrukt, das sich aus verschiedenen Narrativen und Bildern zusammensetzt. Man kann – wie es die Lektorin verlangt – das Spiel mitspielen und homogenisierende Erzählungen hinzufügen, oder aber auf die unvermeidliche Konstruiertheit und Performativität der Geschichte aufmerksam machen, wie es Der Königsmacher tut. Der Rat der Lektorin, »Breitwand« zu schreiben und vorzugsweise mit bekannten Bildern zu arbeiten, wird im obigen Zitat gleichsam zu einer geschichtstheoretischen Reflexion umgedeutet. Die grundsätzliche Konstruiertheit der Vergangenheit führt zu einer Reproduktion sich schon längst verselbstständigter Bilder, die nur noch, als wären sie Versatzstücke, neu kombiniert oder in einer scheinbar neuen Form präsentiert werden können. Dabei betont der Vergleich der Vergangenheit mit einem Filmstreifen das Prinzip der Montage sowie die Idee, dass die Vergangenheit einem subjektiven Selektionsprozess unterliegt: Der Filmemacher kann bestimmte Szenen auslassen, während der Zuschauer die Möglichkeit hat, den Film bis zur nächsten Szene vorzuspulen oder sich eine Szene mehrmals anzuschauen. Im Hinblick auf die deutsche Geschichte bedeutet dies in Delius’ Roman, dass man den Nationalsozialismus überschlägt und sich die Episode über das Königreich Preußen nochmals ansieht. Die Auffassung, dass die Vergangenheit der fragmentarische Effekt immer schon vorgefertigter Bilder ist, wird nicht nur durch metahistoriografische Kommentare reflektiert, sondern auch vom Text vorgeführt. Am Anfang des Romans gibt es einen von Rusch skizzierten Vorentwurf der berühmten Schlacht bei Jena und Auerstedt, die sich bruchstückhaft durch den Traum des Kronprinzen Willem zieht. Rusch zufolge lasse
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
sich dieses »Schlachtengemälde« später »leicht mit blutigen und brutalen Details bereichern« (13), wobei die Wortwahl »Gemälde« schon andeutet, dass die Vergangenheit weniger durch die historischen Fakten als durch ihre Repräsentation und Rezeption bestimmt ist: »Traumbilder: Gewehre, Bajonette, Kürasse liegen weggeworfen am Feldrand – überall Verwundete, die nicht aufhören zu schreien – mit blutenden Köpfen, abgehauenen Armen, Bauchwunden – in den Gräben verlassene Kanonen und Munitionswagen – verbündete Soldaten, Preußen und Sachsen, prügeln sich um verschimmeltes Kommissbrot – Franzosen von rechts und links und von vorn rücken mit Bajonetten an – gezückte Säbel, Todesschreie, Kanonendonner – ein kleiner Trupp der Preußen irrt auf dem Schlachtfeld umher – Gemetzel, Gedrängel neben Pferdekadavern – Wimmern, Heulen, Jammern, Flüche von allen Seiten – die Armee völlig zerrieben, keiner kämpft, wer noch nicht tot ist, rennt und flieht – Leichen, überall Leichen – ein Franzose mit wilder Frisur sticht zu: solche Bilder könnten durch den Traum eines Generals ziehen, der mit 40 000 Preußen und Sachsen gegen Napoleons Armee verloren hat.« (11-12) Wenn wir die Vergangenheit darzustellen versuchen, greifen wir auf Versatzstücke zurück, die von jeher auf der Bühne der Geschichte zu sehen waren, so suggeriert die Häufung von Requisiten (Gewehren, Bajonetten, Kürassen, Kanonen, Munitionswagen und Säbeln) in diesem Zitat. Zudem beziehen wir uns auf ein stereotypes Figurenarsenal: Verwundete und Verstümmelte, sich prügelnde Soldaten, Pferdekadaver, einen Franzosen mit wilder Frisur. Die Darstellung der historischen Ereignisse als »Traumbilder« sowie die Verwendung des Konjunktivs »könnten« im letzten Satz unterstreichen überdies, dass wir über dasjenige, was einmal war, nur spekulieren können. Das Zitat erinnert an eine Textstelle im Roman Austerlitz (2001) von W.G. Sebald, in der der Protagonist Austerlitz an seinen ehemaligen Geschichtslehrer André Hilary zurückdenkt. Mit seinen anschaulichen und detailreichen Schilderungen der napoleonischen Ära und vor allem der Schlacht bei Austerlitz schlägt Hilary die Schüler in den Bann. Der Geschichtslehrer reflektiert aber auch über die Unmöglichkeit, die Vergangenheit adäquat darzustellen: »Wir alle, auch diejenigen, die meinen, selbst auf das Geringfügigste geachtet zu haben, behelfen uns nur mit Versatzstücken, die von anderen schon oft genug auf der Bühne herumgeschoben worden sind. Wir versuchen, die Wirklichkeit wiederzugeben, aber je angestrengter wir es versuchen, desto mehr drängt sich uns das auf, was auf dem historischen Theater von jeher zu sehen war: der gefallene Trommler, der Infanterist, der gerade einen anderen niedersticht, das brechende Auge eines Pferdes, der unverwundbare Kaiser, umgeben von seinen Generalen, mitten in einem erstarrten Kampfgefühl. Unsere Beschäftigung mit der Geschichte, so habe Hilarys These gelautet, sei eine Beschäftigung mit immer schon vorgefertigten, in das Innere unserer Köpfe gravierten Bildern, auf die wir andauernd starrten, während die Wahrheit irgendwoanders, in einem von keinem Menschen noch entdeckten Abseits liegt.«20
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W.G. Sebald, Austerlitz, 3. Auflage (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2006), 109.
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Die Verfahren des emplotments, die Hilary anderswo für die Ausarbeitung des rohen historischen Stoffes zu einer fiktionsverwandten historischen Erzählung verwendet,21 sind in diesem Zitat abwesend; diese narrativen Strategien werden durch die diskontinuierliche Aufzählung gerade problematisiert. Auch Ruschs Manuskript kommt über die skizzenhafte »Rohform« (13), die sich aus Aufzeichnungen, Vorentwürfen und Versatzstücken imaginierter Dialoge zusammensetzt, nicht hinaus. Sein ursprüngliches Vorhaben, in späteren Fassungen die »Figuren aus[zu]malen, Gesichter [zu] beschreiben und Blicke [zu] deuten, […] die Kostüme ausführlicher zu schildern, die Zimmer mit schmückenden Worten wohnlicher einzurichten, die Gebäude farbiger zu gestalten« (13), realisiert er nicht. Somit füllt die Fiktion die Lücken der Geschichte nicht auf, sondern stellt sie gerade heraus. Die unfertige Rohfassung von Ruschs Manuskript untergräbt die Idee einer histori(ografi)schen Plotstruktur, auf die das Ende des Romans nochmals explizit, mittels metahistoriografischer Kommentare, Bezug nimmt. Rusch fügt seinem Text, gleichsam als »Finale«, noch »ein paar Sätze […] zu für die Leserinnen und Leser, die wissen wollen: Was ist aus Wilhelmine und Carl geworden?«. (318) Damit möchte er offenbar den Erwartungen der sich nach closure sehnenden Leser*innen erfüllen. Wenn sie sich ein Happy End erhofft hätten, werden sie aber enttäuscht: Minna stirbt im Alter von 24 Jahren, Carl wird ein Trunkenbold und Schürzenjäger, das verschuldete Gut müssen die Jasmunds letztendlich verkaufen; 1901 geht es in den Besitz der Königin Wilhelmina der Niederlande über, die es ihrem Gemahl Prinz Henrik von Mecklenburg schenkt. Dazu heißt es: »Als wolle die Muse Klio beweisen, dass alle Kreise sich schließen: Von Henrik war weiter oben die Rede, jener Prinzgemahl, der bei seinen Treibjagden als Vergewaltiger durch die niederländischen Dörfer zog.« (319) Auch wenn Rusch dies lakonisch, anscheinend ohne eine Spur von Ironie bemerkt, ist diese Hinzufügung doch vor allem eine parodistische Subversion der Geschichte als Plot. Klio, die Muse der Geschichtsschreibung, die, so wissen wir spätestens seit Hayden White, ›auch dichtet‹,22 schließt zwar den narrativen Kreis, greift in dieser Bewegung aber jenes gewalttätige Motiv auf, das Rusch in seinem »mecklenburgischen Vom Winde verweht‹« (89) bewusst ausgelassen hatte: »Nein, bleib bei deinem Thema«, so verwarnte er sich, als er die Geschichte von diesem mecklenburgischen Prinzen Henrik, der zum Vergewaltigen ausritt, über seinen Freund H. aus Amsterdam vernahm. »[B]leib bei deinem Willem, verlier dich nicht in den Irrgärten der Geschichte. Wenn du jedem funkelnden Skandal, jeder Vergewaltigung, jedem krummen Detail, nachgehst, wirst du dich kaputt21
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Im Hinblick auf die Narrativität der Historiografie haben die theoretischen Überlegungen Hayden Whites immer noch kanonischen Status, auch wenn die These von der genuinen Verwandtschaft zwischen Literatur und Historiografie kontrovers diskutiert wird. Vgl. Hayden White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe (Baltimore/London: Johns Hopkins University Press, 1973); Hayden White, »Der historische Text als literarisches Kunstwerk,« in Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Hg. ders. (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986), 102-122. Vor allem sein Entwurf einer allgemeinen Poetik und Tropologie des historischen Diskurses stößt in den Literatur- und Geschichtswissenschaften auf Widerstand. Für eine knappe Zusammenfassung der Kritikpunkte: Catani, Geschichte im Text, 96-100. Hayden White, Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses (Stuttgart: Klett-Cotta, 1986).
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recherchieren und nie zu Geld kommen und den Roman nie zustande bringen!« (111) Die vollzogene ›Schließung‹ löst beim Lesepublikum vor allem Unbehagen und Irritation aus.
»Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben« Bis jetzt sind wir davon ausgegangen, dass Albert Rusch dieses Buch, das sich aus dem unfertigen Manuskript und dem autobiografischen Bericht des Schriftstellers zusammensetzt, geschrieben hat. Das wird vom Icherzähler am Ende der Geschichte anhand eines Zitats Pontius Pilatus’ auch hervorgehoben: »Ich werde mich zurückziehen, […] und über diesen Bericht und den unfertigen Bestseller nur sagen: »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.« (318) [Herv. i.O.] Auch im dem Buch vorangestellten Vorwort wird Rusch nachdrücklich als der eigentliche Autor präsentiert, der seinen Freund F.C.D. darum gebeten hat, seine Geschichte vorläufig unter dessen Namen herauszugeben: »Dies Buch hat Albert Rusch geschrieben, von der ersten bis zur letzten Seite.« Der Grund, der für dieses Verwirrspiel um Herausgeber- und Autorschaft im Vorwort angeführt wird, ist die Tatsache, dass Rusch noch immer »den Schutz vor der Öffentlichkeit braucht.« Damit wird zugleich auf die Aporie des medienschüchternen oder -kritischen Autors hingedeutet, dessen Schriftstellerexistenz von der Öffentlichkeit abhängig ist. Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die Schleichwerbung, die der Icherzähler in den Text einschmuggelt: »(Außerdem werden in Kürze meine gesammelten Aufsätze in Buchform vorliegen, Sinnlichkeit im Preußenkleid.)« (238) [Herv. i.O.] Eine Suche nach dieser Aufsatzsammlung im World Wide Web ergibt übrigens als Treffer eine Website mit »geschmackvoller Pornografie«.23 »Nach langem Zögern« habe F.C.D. dann doch dem Drängen seines Freundes nachgegeben, »obwohl seine Schreibweise in vielem völlig anders ist als meine.« Wenn diese Bemerkung zumindest eigenartig ist, macht sich der vermeintliche Herausgeber danach durchaus suspekt: »Was mich trotzdem bewogen hat, Albert Ruschs Bericht veröffentlichen zu helfen, will ich hier nicht ausführen.« Warum verschweigt F.C.D. im Vorwort bewusst die Gründe, die ihn dazu veranlasst haben, Ruschs Text herauszugeben? Versucht er etwa selbst Profit aus dem »Boom der historischen Romane« (127) zu schlagen und auf der Preußenwelle mitzureiten, indem er den ›Fall Rusch‹ in einen Roman verarbeitet? Mit anderen Worten: Ist F.C.D. nicht nur der Herausgeber, sondern auch der eigentliche Autor des Buches und handelt es sich somit um Pseudo-Memoiren? Die Unsicherheit über die Autorschaft und die Authentizität des Textes wird erstens durch textimmanente Signale angedeutet. In Minnas Bücherschrank finden sich die Ossian Poems, die der schottische Schriftsteller James McPherson seinen Zeitgenossen bekanntlich als aufgefundene Fragmente eines verloren gegangenen keltischen Epos präsentiert hat, sowie Übersetzungen von Shakespeare, dessen Identität bis heute unsicher ist. (139) Zwar versucht der Icherzähler den Anschein von Aufrichtigkeit und Offenheit zu erwecken anhand von Geständnissen wie: »Nie wieder 1439 Exemplare!, das ist, offen gesagt, die einfachste Antwort auf die Frage, warum ich mich in die Geschichte von
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Willem und Marie verbissen habe« (19) oder »Meine Notate aus dieser Zeit sind verräterisch, aber da ich hier einen ehrlichen Bericht über die Untiefen meiner Höhenflüge zu verfassen versuche, kann ich solche Texte nicht verschweigen« (293); zugleich ist er aber der Prototyp eines unzuverlässigen Erzählers.24 Er will Informationen mehrmals nicht »preisgeben« (27, 315), verwendet fingierte und abgekürzte Namen (seine Freundin nennt er Jutta, seine Lektorin Karla Peschken, den Freund aus Amsterdam H.) oder Beinamen (der Schweizer Freund Schoppe) und widerspricht sich manchmal selbst. So behauptet er, sein Vater heiße Günther Rusch (53), während im dem Text vorangestellten Stammbaum von einem Georg Rusch die Rede ist. Auch erweist er sich in den Notizen für den Minna-Roman manchmal als gendersensibel, zum Beispiel wenn er kritisch bemerkt, dass einer gewissen Hofdame intimer Verkehr mit dem König nachgesagt wird, aber nicht umgekehrt dem König mit der Hofdame (104); in seinem Bericht zeigt er sich allerdings öfters als frauenfeindlich.25 Frustriert schreibt er seine in eine Sackgasse geratene Schriftstellerkarriere den jungen und attraktiven Autorinnen zu: »Frauen, die schreiben, haben es leichter, besonders wenn sie jung sind und mit raffinierten Fotos in die unschlagbare Aura der Attraktivität aufsteigen. Selbst wenn sie schon so alt sind wie ich […] greifen [die männlichen Kritiker] ihnen mit lobenden Superlativen unter die Röcke, während die weiblichen Kritiker darin wetteifern, ihr Einfühlungsvermögen in die weibliche Seele vorzuführen«. (81-82) Ruschs Kritik gilt unverkennbar dem Phänomen des sogenannten literarischen Fräuleinwunders, eines in sich schon latent frauenfeindlichen weil verniedlichenden und also herabsetzenden Begriffs, mit dem zunächst die Literaturkritik und danach auch die Literaturwissenschaften eine Generation von Autorinnen andeuten, die in den 1990er Jahren mit ihren gegenwartsbezogenen Schreibweisen »hohe Auflagen erzielen, neue Lesekreisen erreichen und auch von der etablierten Literaturkritik überschwänglich begrüßt werden.«26 Darüber hinaus gibt es in Ruschs Bericht selbstreflexive Beobachtungen der eigenen Unwissenheit sowie offen eingestandene Erinnerungslücken: »Ich [sehe] heute alles nur schemenhaft wie einen blassen Traum vor mir. In meiner Erinnerung hat sich alles überlagert und verwischt«. (269) Das deutlichste Merkmal der Unzuverlässigkeit des Icherzählers ist allerdings die fortschreitende Identifizierung mit seinen königlichen Ahnen und der damit einhergehende Selbstverlust, der in einer schizophrenen Psychose kulminiert.
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Zum Konzept des unzuverlässigen Erzählens in historisch-fiktionalen Texten der Gegenwart: Ansgar Nünning (Hg.), Unreliable Narration. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, unter Mitwirkung von Carola Surkamp und Bruno Zerweck (Trier: WVT, 1998) sowie Catani, Geschichte im Text, insb. 245-266. Das unzuverlässige Erzählen bezeichnet Catani in Anlehnung an Nünning als den »zentrale[n] Baustein metafiktionaler historischer Texte« (245) und als »besonderes Strukturprinzip historiographischer Metafiktion«. (249) Selbstverständlich soll ein Autor nicht mit seinem Werk und also der schreibende Icherzähler nicht mit der Minna-Geschichte gleichgesetzt werden. Der angedeutete Widerspruch kann aber daher als bedeutungsvoll gelten, weil die gendersensible Anmerkung an dieser Stelle noch nicht literarisch verarbeitet worden ist. Sie ist Teil der Vorarbeit und Recherche des Schriftstellers, die doch nicht (ganz) von der Person zu trennen ist. Leonard Herrmann, Silke Horstkotte, Gegenwartsliteratur. Eine Einführung (Stuttgart: J.B. Metzler, 2016), 66.
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Die Unsicherheit über Autorschaft und Authentizität wird zweitens paratextuell fortgesetzt. Sie spiegelt sich zunächst im Buchcover. Die Abbildung zeigt einen Teil des Gemäldes Bildnis der Königin Luise von Preußen, wobei nur das Dekolleté der Königin zu sehen ist. Die Identität des Malers ist unsicher, wie auch im Impressum angedeutet wird: Das Gemälde ist »Niklas Lauer zugeschrieben« (der eigentlich Nikolaus Lauer heißt). Weiter dehnt sich die Ungewissheit über die Identität von F.C.D. auf Delius’ Website aus, insofern der Autor die von der Literaturkritik und Literaturwissenschaft über ihn erstellten Porträts unter dem Titel »Vermutungen über FCD« subsumiert.27 Dieses Verwirrspiel zwischen dem realen Autor Friedrich Christian Delius und dem fiktiven Autor, sei dieser nun der angebliche Herausgeber F.C.D. oder doch Albert Rusch selbst, wird auch im Text hervorgerufen, indem das literarische Werk des Icherzählers Analogien zu Delius’ Œuvre aufweist. Wenn von einem Roman über die BrokdorfDemonstration 1977 die Rede ist, in dem der Icherzähler seine eigenen Erfahrungen zum Ausgangspunkt genommen hat, könnte man an Delius’ Roman Amerikahaus und der Tanz um die Frauen (1997) denken, in dem der Autor seine Teilnahme an einer AntiVietnam-Demonstration im Jahre 1966 in Berlin literarisch verarbeitet hat, sowie an seine Romantrilogie zum ›Deutschen Herbst 1977‹. Der Roman zur deutschen Einheit, den der Icherzähler verfasst hat, erinnert an Delius’ Erzählung Die Birnen von Ribbeck (1991). Dieses Verwirrspiel zwischen realem und fiktivem Autor scheint funktioniert zu haben: Nicht nur wird der im Vorwort erwähnte F.C.D. von der Literaturkritik und der (spärlichen) Sekundärliteratur mit dem realen Autor Friedrich Christian Delius gleichgesetzt; auch muss Delius in Interviews immer wieder Fragen beantworten wie: »Halten Sie sich für einen erfolglosen Schriftsteller?«28 , »Wie viel Friedrich Christian Delius schlummert denn in dieser Figur [Albert Rusch]?,29 und sogar »Herr Delius, lieben Sie Luise?«.30 Drittens wird die Verwirrung um Autorschaft und Authentizität des Textes durch die außertextuelle Wirklichkeit hervorgerufen. Zum einen spitzte sich zwei Jahre vor dem Erscheinen von Der Königsmacher sowie dem von F.C.D. herausgegebenen Buch, das auf den 21. März 2001 datiert ist, die Binjamin Wilkomirski-Affäre zu, dessen ›Zeugenbericht‹ über den Holocaust als ein fingierter enttarnt wurde.31 Zum anderen kommt im Jahre 2000 der Publizist Sebastian Haffner, der im Roman gleich zweimal erwähnt wird,
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https://www.fcdelius.de/vermutungen/ (abgerufen 11.07.2019). Moritz Müller-Wirth, »Die beiläufige Enthüllung eines Stammbaums. Wer verbirgt sich hinter Albert Rusch, der Hauptfigur im jüngsten Roman des Autors Friedrich Christian Delius?,« DIE ZEIT, 6. Dez., 2001, https://www.zeit.de/2001/50/Die_beilaeufige_Enthuellung_eines_Stammbaums (abgerufen 11.07.2019). Dirk Hanke, »Rich times for historical fiction,« Gespräch anlässlich der Uraufführung von Der Königsmacher, Oldenburgisches Staatstheater, Okt., 2003, https://www.fcdelius.de/gespraeche/gespr aech_oldenburg.html (abgerufen 11.07.2019). Christian Eger, »Ich bleibe ein fröhlicher Skeptiker,« Kölner Stadtanzeiger, 10. Okt., 2001, https://ww w.fcdelius.de/gespraeche/gespraech_koelnstadt.html (abgerufen 11.07.2019). Benjamin Wilkomirski [Pseudonym von Bruno Dösekker], Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948 (Frankfurt a.M.: Jüdischer Verlag, 1995). Zur Kontroverse vgl. z.B. Irene Diekmann, Julius H. Schoeps (Hg.), Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein (Zürich: Pendo, 2002).
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mit seinem 1939 niedergeschriebenen und postum herausgegebenen Bericht Geschichte eines Deutschen (2000) über seine Jugend in Deutschland ins Gerede. Einige Historiker warfen Haffner vor, seine persönlichen Erinnerungen teilweise erfunden und Meinungen im Nachhinein geändert zu haben, um eine Hellsichtigkeit vorzutäuschen, über die er damals gar nicht verfügt habe.32 Wenn wir also von der Möglichkeit ausgehen, dass sich F.C.D. nur für den Herausgeber ausgibt, in Wirklichkeit aber den Bericht selbst verfasst hat, ist es plausibel, dass damit eine Kritik an jene voyeuristische Sucht nach Authentizität geübt wird, durch die die Leser*innen und der Literaturbetrieb »offenbar so blind geworden sind, dass sie auf das simulierte Zeugnis eines Binjamin Wilkomirski hereinfallen konnte[n]«,33 wie es Sigrid Weigel in ihrer Laudatio auf Norbert Gstrein zur Verleihung des Johnson-Preises 2003 formuliert. Der letzte Satz des Herausgeberberichts, mit dem F.C.D. das (ausdrücklich erwähnte) Fehlen von Gründen für die Veröffentlichung des Manuskripts beiseiteschiebt, scheint jedenfalls auf diese sensationshungrige und dadurch blindgläubige Haltung der Leser*innen hinzudeuten: »Wer diese Geschichte zu lesen beginnt, wird solche Begründungen ohnehin bald vergessen.«
Questen und Krimis Die Figur des Herausgebers kommt häufig in historischen Romanen vom Typus der historiografischen Metafiktion vor.34 Die Herausgeberfiktion in Der Königsmacher kann als (selbst-)ironischer Kommentar zu diesem historisch-fiktionalen Diskurs angesehen werden, denn auch andere Eigentümlichkeiten dieses Romantyps werden im Text parodiert. In historiografisch-metafiktionalen Romanen spürt gewöhnlich eine Figur in der Gegenwart einem Ereignis aus der Vergangenheit nach. Diese Figur versucht auf detektivartige Weise das Geschehene anhand von Dokumenten wie Akten, Tagebüchern und Briefen zu rekonstruieren, wobei die Rekonstruktionsprobleme meistens explizit aufgezeigt werden. Es wundert also nicht, dass in diesen Romanen »die Protagonisten in der Regel Historiker, Archäologen, Biographen, Archivare oder Hobbyforscher sind« und die Texte »fast immer […] als Quest-Erzählung angelegt«.35 Diese Quest-Erzählung wird in Der Königsmacher verspottet, indem die Lektorin Rusch aufs Herz drückt, »keinen 32
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Sebastian Haffner, Geschichte eines Deutschen. Die Erinnerungen 1914-1933 (Stuttgart/München: Pantheon, 2000). Das Buch führte von Dezember 2000 bis September 2001 die Spiegel-Bestsellerliste an. Vor allem der emeritierte Kunsthistoriker Jürgen Paul, der seine Verdächtigungen nach langem Hausieren in einem Gespräch mit Deutschlandradio Berlin äußern durfte, und der Historiker Henning Köhler zogen die Authentizität von Haffners Bericht in Zweifel. Henning Köhler, »Anmerkungen zu Haffner. Haffners postumer Bestseller ›Geschichte eines Deutschen‹ ist nicht historisch authentisch,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. Aug., 2001. Als Bilanz des Streits: Reinhard Mohr, Mathias Schreiber, Andreas Wasserman, Klaus Wiegrefe, »Historikerstreit. ›Macht damit was ihr wollt‹,« Der Spiegel, 20. Aug., 2001, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-19916362.html (abgerufen 11.07.2019). Sigrid Weigel, »Die hohe Kunst der Perspektive. Laudatio auf Norbert Gstrein,« in Internationales Uwe Johnson-Forum, Bd. 10, Hg. Carsten Gansel und Nicolai Riedel (Bern: Peter Lang, 2006), 151-158, hier: 154. Vgl. Nünnung, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 332. Jürgen Heizmann, »Metahistoriographische Fiktion in Christoph Ransmayrs ›Die Schrecken des Eises und der Finsternis‹,« Weimarer Beiträge 62, 3 (2016): 397-415, hier: 403.
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umständlichen Krimi über die Entdeckung der Story« (89) [Herv. i.O.] zu verfassen, während Rusch dies gerade wohl macht. Sehr genau erklärt er seiner Freundin Jutta, wie die privaten Akten und das Testament des Königs Willem I., die die königliche Herkunft Minnas und also auch die seinige beweisen können, zunächst zum Großvater und letztendlich zu ihm gelangt sind. Dabei ist es für die Leser*innen schwer, den Überblick über die länger als 150 Jahre dauernde Odyssee der Akten zu bewahren, die etliche Male aus Trümmerhaufen und vor dem Sperrmüll gerettet worden sind. Auch die vielen fernen und näheren Verwandten, Archivare und pensionierten Hobbyforscher, die dabei ins Spiel kommen, erschweren die Übersicht. Die Quest-Erzählung historiografisch-metafiktionaler Romane wird auch dadurch parodiert, dass Rusch dieses turbulente Schicksal der Akten als »schönen Krimi von Zufällen« (40-41) bezeichnet. Damit nimmt Der Königsmacher zugleich die Gattung des Melodramas, die sich durch eine Häufung von Zufälligkeiten kennzeichnet, ins Visier. Der verwickelte ›Plot‹ dieses spannenden Krimis wird mittels Rusch‹ einem Cliffhanger eines Soaps ähnelnden Kommentars »Fortsetzung folgt« (44) verspottet. Während Rusch das nicht ironisch meint, fungiert Jutta hier als ironische Gegenstimme, indem sie ihm immer wieder mit höhnenden Einwänden ins Wort fällt: »Nun kommt zufällig der Archivar des Fürsten Wied vorbei…«, erzählt Rusch, und Jutta reagiert: »Wie Archivare so sind, zufällig…« (42), oder Rusch: »Etwa ein Dutzend Menschen bestimmten Wilhelmines Schicksal, von allen gibt es…«, darauf Jutta: »Schon wieder Schicksal […], so oft hab ich das Wort noch nie von dir gehört.« (63) Was in Ruschs Quest-Erzählung zudem auffällt, ist die Thematisierung der eigenen Unwissenheit, die mit seiner detailversessenen Entdeckungsgeschichte kontrastiert. Auf Juttas Fragen, warum der König nach seiner Abdankung wieder nach Berlin zurückgekehrt war und die Akten mitgenommen hat, weshalb die sowjetische Behörde die Dokumente nach dem Zweiten Weltkrieg gerade nach Neuwied schickte oder wie sein Großvater auf die Familiengeschichte der unehelichen Königstochter reagiert hat, lautet Ruschs Standardantwort »Ich weiß es nicht« (41, 42) oder »keine Ahnung«. (42, 63) Die Geschichte der Vorfahrin bleibt »sagenumwoben« (64), obwohl die »Fülle des Materials, geordnet in verschiedenen Aktenbündeln«, beeindruckend ist: »[V]on allen gibt es Briefe oder Notizen, bis hin zu Abrechnungen über die Kosten ihrer Strümpfe, Kragen und Kämme.« (63) So stellt der Roman die Möglichkeit, die Vergangenheit wahrheitsgetreu zu rekonstruieren, radikal in Frage. Eine solche Rekonstruktion ist schon durch die mediale und narrative Verfasstheit der Vergangenheit unmöglich, so suggeriert der Text. Die Geschichte kann nur teilweise aufgeklärt werden, denn, so behauptet Rusch, »es ist wie mit den Stasi-Akten: Es sind eben Akten, das ist eine eigene Textsorte, weil bestimmte Interessen durchschlagen und immer mal wichtige Kleinigkeiten fehlen.« (43) Nicht nur macht Rusch auf diese blinden Flecken der Familiengeschichte aufmerksam, sondern er füllt sie auch mit Vermutungen und Phantasien aus. Nach seinem ersten Fernsehauftritt als Nachfahre der preußischen Könige denkt er an den Großvater und bildet sich den Moment ein, als mit dem Brief des Archivars über die uneheliche Königstochter »die Vergangenheit über ihn herfiel«. (232) Er stellt sich die Freude des Großvaters vor, als jener »dunkle[…] Punkt[…] in der Familiengeschichte« (232) endlich aufgeklärt wurde (232) sowie dessen erschütternde Erkenntnis, dass [d]as ganze Leben
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ganz anders [hätte] laufen können«. (234) Somit erhält das Geheimnis der Familiengeschichte phantomatische Züge. Wie der Psychoanalytiker Nicolas Abraham im Hinblick auf das Phantom darlegt, sind es »nicht die Gestorbenen […], die uns heimsuchen, sondern die Lücken, die aufgrund von Geheimnissen anderer in uns zurückgeblieben sind« und die wir mittels unserer Einbildungskraft in der Gestalt des Phantoms »vergegenständlichen«.36 Als »Erfindung der Lebenden« sei das Phantom, mit den Worten Sigrid Weigels, das »Produkt unserer Phantasie – also Fiktion.«37 Abraham zufolge wird das phantomatische Familiengeheimnis »innerhalb von Familien von einer Generation an die nächste unbewusst weitergereicht«.38 In Ruschs Familie werden die »Bruchstücke« der »sagenumwoben[en]« »Geschichte der Vorfahrin […] nur im engsten Familienkreis und unter Erwachsenen leise weitererzählt.« (64) Diese phantomatische Lücke münzt Rusch bewusst zur Marktlücke um: »Die gleiche Geschichte, die den einen erschüttert hat, wird vom andern mit einem Marketing-Konzept geadelt. Irgendwann wird, wie üblich, das Leid zum Wirtschaftsfaktor.« (235)
»Preußen-Pop« Rusch interessiert sich allerdings immer weniger für sein ursprüngliches Romanprojekt. Stattdessen fließen seine Energien in die möglichst medienwirksame Selbstinszenierung und die »Direktvermarktung der eigenen Person« (191) als preußischen Königssprosses: »Die alten Preußen mussten die Hauptsache meiner Arbeit werden, die Preußen und ich, das ist der einzige Weg aus dem Elend der Misserfolge! Die Geschichte der armen Minna ist nicht so wichtig, wichtig bin erst mal ich und sonst niemand!« (186) Konkreter Anlass für diesen Umschwung ist eine Autorenlesung, zu der Rusch in Göttingen eingeladen worden ist. Während er in einem kleinen, Bankrott erklärten Buchladen einer Handvoll nur mittelmäßig interessierter Leute aus seinem Misserfolg Die Fähre von Caputh vorliest, liest am gleichen Abend im Audimax der »populäre Jungautor« Herr von F., der sich leicht als Benjamin von Stuckrad-Barre entschlüsseln lässt. »Rappelvoll, mehr als tausend Plätze, und in den Türen standen sie noch, die halbe Uni war da« (187), so begeistern sich vier später hereingekommene Leute, die der Lesung des Jungautors beigewohnt haben. Schwärmend erzählen sie, »wie von F. sein Publikum unterhalte und provoziere, sehr witzig, sehr schlagfertig, obwohl er eigentlich nichts zu sagen habe.« (187) Rusch befindet sich zunächst im »Schock« (191): »Alles Selbstbewusstsein war dahin, ich sah mich am Boden, vernichtet. Da half kein König mehr.« (185) Dem »Göttinger Schock« (189) folgt aber schon schnell die »Göttinger Erleuchtung« (189, 191) und die »Göttinger Wende« (189, 191): »Als Spross der alten Preußenkönige musst du deine Abstammung vermarkten! Dein verstecktes Von raushängen lassen! Mit dem Soldatenkönig wuchern! Mit König Wil36 37
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Nicolas Abraham, Aufzeichnungen über das Phantom. Ergänzungen zu Freuds Metapsychologie,« Psyche 8 (Aug., 1991): 691-698, hier: 692. Sigrid Weigel, »Familienbande, Phantome und die Vergangenheitspolitik des GenerationsDiskurses: Abwehr von Herkunft und die Sehnsucht danach,« in Leben und Lebenskunst am Beginn des 21. Jahrhunderts, Hg. Wilhelm Schmid (Paderborn: Wilhelm Fink, 2005), 133-152, hier: 137. Abraham, »Aufzeichnungen über das Phantom,« 691.
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lem die Charts stürmen! Nicht das Buch bringt den Erfolg, sondern dein Name! Nicht die Qualität zählt, nicht mal die Qualität deines Bestsellers, sondern allein deine Präsenz in den Medien! Inszenierung statt Inhalt! Nicht fiction, sondern action! Was du sagst, ist egal, Hauptsache, du wirst gefragt, was du sagst! Keine originelle Idee, kein genialer Plan, und doch die radikale Abkehr von meinem altmodischen Autorenbild.« (189) Mit Ruschs Wende vom »altmodischen« Schriftsteller zum Medienstar verschiebt sich auch der Fokus auf die zitierten theoretischen Diskurse. Reflektierte der Roman am Anfang vor allem über die Form des historischen Romans, so wird nun der in den 1990er Jahren aufkommende literatursoziologische Diskurs in den Vordergrund gerückt, der in Pierre Bourdieus Theorie des literarischen Feldes seinen wichtigsten Exponenten hat.39 Rusch ist nicht mehr an der Frage interessiert, welche Form sich am besten für das Romanprojekt eigne, sondern klügelt Strategien aus, mit denen er sich im sozialen Raum symbolisches wie ökonomisches Kapital erwerben kann. Als im Schloss Oranienburg eine Ausstellung über die engen Beziehungen zwischen Holländern und Preußen und über die Oranientochter Luise Henriette, die Gemahlin des Großen Kurfürsten, vorbereitet wird, nutzt Rusch seine Chance, »sich als Erbe und Nachfahre zu outen«. (213) In einem Artikel über das Reiterstandbild des Großen Kurfürsten im Schlosshof Charlottenburg, der als Aufmacher der Wochenendbeilage einer überregionalen Zeitung erscheint, posaunt er seine königlich-preußische Abstammung in 200.000 Exemplaren in die Welt. Wie Rusch bei von F. feststellen konnte, ist der Erfolg weniger vom Inhalt als vom richtigen Ton und Stil abhängig: »Ein paar Fakten und Thesen sammeln und zuspitzen, aus den Biographien brauchbare Details und Anekdoten fischen, viel mehr war nicht zu tun. […] Alles war eine Frage des Stils. Burschikos und herzhaft, flott und ein wenig belehrend für die ahnungslosen Zeitgenossen. Alles war erlaubt, nur nicht der getragene, fast unterwürfige Stil, mit dem fast die ganze Preußen-Literatur verpestet war.« (219) Dementsprechend verwendet Rusch für seinen Artikel einen intimen und schnoddrigen Ton; das Reiterstandbild redet er per du, mit »Alter« oder »Opa« (216) an. Damit fordert er den Großen Kurfürsten nicht nur dazu auf, buchstäblich vom Sockel abzusteigen (»Komm mal runter von deinem Pferd, […]. Kannst dir ein bisschen die Beine vertreten«, 216 [Herv. i.O.]), sondern auch symbolisch. Dieser als Provokation gemeinte Artikel bedeutet den Startschuss für Rusch‹ steile Medienkarriere. Was ihn gerade ›fernsehgeeignet‹ (259) macht, ist die Tatsache, dass er die »Werte des Adels und des Preußentums in lockeren Sätzen« vertritt und sie mit »frechen These[n]« quotentauglich macht. (245) In Talkshows, Fernsehdebatten und Expertenrunden avanciert Rusch mit seiner Parole »mehr Preußen kann Deutschland nicht schaden« (245) zum Spezialisten für deutsche Geschichte, zum »PR-Mann für Preußen« (257) und, wie »die geschätzte Frankfurter Zeitung schreibt«, zum »Vertreter einer neuen Branche: des Preußen-Pop.« (246) [Herv. i.O.] In den Streitgesprächen zum Thema »Preußische Tugenden gestern und heute« (226),
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Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, aus dem Französischen von Bernd Schwibs, Achim Russer (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1999).
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»Welche Traditionen braucht Berlin?« (242) oder »Braucht Preußen Säulen?« (278) lauert Rusch auf Effekt und zielt darauf, seine »Gegner« (226) oder »Kontrahenten« (269) (nicht: Gesprächspartner) mit polemisch zugespitzten Thesen immer wieder zu provozieren. Ironischerweise wird Delius ein Jahr nach der Erscheinung von Der Königsmacher von Der Tagesspiegel als »Experte« für preußische Geschichte interviewt zum »Thema: Soll ein gemeinsames Bundesland den Namen Preußen erhalten?«40 Die Zeitung fragt damit nach Delius’ Meinung zum kontroversen Vorschlag des Potsdamer Sozialministers Alwin Ziel, Berlin-Brandenburg nach der Fusion in Preußen umzutaufen. Mit dem Begriff »Preußen-Pop« setzt sich der Roman auch mit der (diffusen) Gattung der Popliteratur auseinander, die sich in den 1990er und 2000er Jahren herausbildet. Während sich Popautoren wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Christian Kracht oder Rainald Goetz im postideologischen und postgeschichtlichen Zeitalter nach 1989/1990 für eine radikale Gegenwartsbezogenheit entscheiden, die sie in ihren Texten unter anderem durch Verweise auf Moden, Markennamen und Lebensstile konstruieren, will Rusch dieses Vakuum gerade mit Identitätsangeboten aus der nationalen Geschichte füllen. Was er von den Popautoren übernehmen will, ist lediglich ihre schnoddrige Pose und vor allem ihre ostentative Selbstinszenierung in den Medien: »[E]s geht gar nicht um diese Texte, sondern der Autor ist das Ereignis, der um den Text herum sein Marketing betreibt oder betreiben lässt.« (190) Im Übrigen skizzieren Rusch und sein Freund Schoppe ein durchaus negatives Bild der Popliteratur: »Diese Texte schaffen keine Welten mehr, sondern bewegen sich in einer vorgeformten Welt, im Dschungel der Waren, ohne Zweifel, ohne Skepsis, und versuchen mit einer ziemlich dämlichen Ironie komische Effekte zu erzielen.« (190) Damit echot der Roman die häufig ablehnenden Stimmen und zuweilen bissigen Invektiven der etablierten Literaturkritik, die diese Texte als »Packungsbeilagen zum Bestehenden« und deren Verfasser als »Helden der Posen und der Bekleidungsindustrie« schmähen.41 Ironischerweise reproduziert Rusch durch seinen selektiven Umgang mit der Popliteratur – er übernimmt den Ton und die Selbstinszenierung, aber nicht den Inhalt – die erzähltechnischen Verfahren der bricolage und des Samplings, die viele Popromane, allen voran die des DJ-Autors Thomas Meinecke, kennzeichnen.
Grabbeltisch Für das »Produkt Preußen« (203) gibt es Rusch zufolge einen riesigen Absatzmarkt. Um Preußen wieder ›Pop‹ zu machen, brauche man es nur ein wenig zu »entstauben« (172) und in einer neuen Form zu präsentieren, es gleichsam ›gegen den Strich‹ zu lesen, wie Gilbert Merlio diesen Aktualisierungsversuch in Bezug auf Oswald Spengler genannt hat: »Man muss es ein bisschen entrümpeln, ein bisschen polieren, in schmissige Formeln bringen und neu auf den Markt werfen. Nicht als Antiquität, sondern als heutiges Produkt«. (204) Der Königsmacher führt auf hyperbolische Weise vor, wie
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Gregor Dotzauer, »Zum Thema: Soll ein gemeinsames Bundesland den Namen Preußen erhalten?,« Der Tagesspiegel, 22. Feb., 2002. Iris Radisch, »Mach den Kasten an und schau,« DIE ZEIT, 14. Okt., 1999, https://www.zeit.de/1999/4 2/199942.l-aufmacher_.xml (abgerufen 11.07.2019).
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eine solche Aktualisierung immer auch eine strategische Manipulation der Geschichte impliziert. Der opportunistische Rusch verwendet Preußen als Chiffre, die er den jeweiligen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechend nach Herzenslust umdeuten kann. Durch diese Multi-Einsetzbarkeit hat das Produkt Preußen ein »enormes Kundenpotential«. (203) Im preußischen Thesaurus finden alle, links wie rechts, progressiv wie konservativ, historische Versatzstücke nach ihrem Geschmack, mit denen sie sich ein maßgeschneidertes Preußen oder Anti-Preußen zusammenbasteln können: »Die preußische Geschichte ist eine riesige Truhe, aus der jeder Gebildete, Halbgebildete oder Achtelgebildete sich etwas Glanzvolles oder Schauriges, Fortschrittliches oder Reaktionäres, Gutes oder Böses greifen kann. Die Truhe gibt so viel her, dass man jede These vertreten, sich aus dreihundert Jahren sein Preußen oder Anti-Preußen selbst basteln kann. Eine Schatztruhe für Argumente und Anekdoten, die niemals leer wird.« (260) Die Vokabel ›basteln‹ erinnert an das Prinzip der bricolage im Sinne Claude LéviStrauss’, auf das übrigens auch Sebald im Hinblick auf seine Kombination von Textund Bildmaterialien hinweist.42 In La pensée sauvage (1962) verwendet der französische Anthropologe den Begriff, um das für das mythische oder ›wilde‹ Denken charakteristische Verfahren der Neuanordnung, Rekombinierung und Umdeutung schon vorhandenen Materials zu bezeichnen.43 In Bezug auf die preußische Geschichte bedeutet dies, dass aus der Fülle der historischen Begebenheiten unterschiedliche und konkurrierende ›Bastler‹ bestimmte semantische Merkmale und Traditionsstränge selektieren, um sie dann auf neue Weise zusammenzusetzen. Die Beliebigkeit, mit der die Chiffre Preußen eingesetzt werden kann, wird anhand von Ruschs Biografie vorgeführt. Er pariert die Frage einer Moderatorin, wie er seinen Aufruf zur Neudefinierung des Pflicht-Konzeptes mit seiner linken BrokdorfVergangenheit in Einklang bringe, wie folgt: »Da sehe ich nämlich überhaupt keinen Widerspruch. Links und konservativ, woher wollen Sie wissen, ob das nicht das Gleiche ist. Wir haben nämlich nie aus Eigeninteresse, sondern aus Pflichtgefühl demonstriert, Pflicht gegenüber der Natur, der Umwelt, gegenüber unsern Mitmenschen und ihrer Gesundheit und so weiter. ›Wir haben die Erde von unsern Kindern nur geliehen‹, das ist eigentlich ein urpreußischer Satz.« (231) In diesem Zitat verdichten sich einige rhetorische Strategien, die auch den spenglerschen Diskurs in Preußentum und Sozialismus prägen. Zunächst versucht Rusch den Widerspruch zwischen zwei scheinbar inkompatiblen Begriffen, links und konservativ, aufzuheben. Bedeuten für Spengler »altpreußischer Geist und sozialistische Gesinnung […] ein und dasselbe« (4), so sind auch für Rusch links und konservativ kei-
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»Ich arbeite nach dem System der Bricolage – im Sinne von Lévi-Strauss. Das ist eine Form von wildem Arbeiten, von vorrationalem Denken, wo man in zufällig akkumulierten Fundstücken so lange herumwühlt, bis sie sich irgendwie zusammenreimen.« Sigrid Löffler, »Wildes Denken.« Gespräch mit W.G. Sebald. Profil 16, 19. April, 1993, 106. Lévi-Strauss, Das wilde Denken.
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neswegs widersprüchlich. Diese These versucht Rusch dann anhand der Leitvokabel ›Pflicht‹ offenzulegen. Der an sich formalistische, aber traditionell mit rechten Standpunkten aufgeladene Pflichtbegriff entkoppelt Rusch von dessen geläufigen Konnotationen, um ihn dann mit traditionell ›linken‹ Themen zu verknüpfen. Dementsprechend führt Rusch den Gründungssatz der Grünen, »Wir haben die Erde von unsern Kindern nur geliehen«, auf seine »eigentlich[e]«, das heißt »urpreußische« Bedeutung zurück. Dabei kann er sich auf die überindividuelle Dimension des preußischen Pflichtbegriffs beziehen. Ruschs Mangel an historischem Bewusstsein, den ihm einer seiner Kontrahenten vorwirft, verschärft sich am Ende der Sendung noch durch einige anachronistische Spekulationen: Nicht nur hätten der Große Kurfürst und der Soldatenkönig die Brokdorf-Demonstranten verstanden; auch hätte sich Friedrich der Große gewiss am Anti-Atom-Protest beteiligt. Die rhetorischen Strategien, mit denen Rusch seine Teilnahme an der Brokdorf-Demonstration als »preußisch motiviertes Bekenntnis« (246) umzudeuten versucht, haben den gewünschten Effekt; nach eigener Angabe wird diese Umdeutung von der Mehrheit der Zuschauer*innen und Leser*innen gerade als Beleg für seine »Geradlinigkeit und Ehrlichkeit« (246) wahrgenommen. Im postideologischen Medienzeitalter sei Ruschs ideologische Position dem Publikum aber sowieso egal, so erklärt ihm sein Freund Schoppe: »Konservative Ansichten ziehen nicht mehr, progressive auch nicht. In Wirklichkeit laden sie dich ein, weil du nicht langweilig bist.« (262)
Der kriegsscheue Soldatenkönig Rusch träumt davon, Preußen für jede gesellschaftliche und politische Gruppe attraktiv zu machen. Er will Preußen mit anderen Worten »diskurskompatibel« (258) machen, wie ein Fernsehmitarbeiter ihn einmal genannt hat. Die Vokabel entstammt dem literatursoziologischen Diskurs und bedeutet »thematisch und stilistisch den Regeln und Erwartungen eines bestimmten Diskurses entsprechen.«44 Die Rückbesinnung auf Preußen möchte Rusch als Lösung für die unterschiedlichsten Probleme der Gegenwart anbieten. Der Plan hat Erfolg. In den Debatten über die Gewalt der jungen Rechten gilt er »im Handumdrehen« als »Experte«, nachdem er einmal die These aufgestellt hat, »Rechtsradikalismus [müsse] man auf die preußische Art bekämpfen, mit gesundem Patriotismus wie in den USA, mit Härte und mit Erziehung zu den lange verlachten Sekundärtugenden.« (260) Die These erinnert an den kontroversen Essay »Anschwellender Bocksgesang« (1993) von Botho Strauß. Darin plädiert Strauß, der in den 1970er Jahren selbst als ›linker‹ galt und sich mit diesem Essay zum Sachwalter einer neuen Rechten aufzuwerfen scheint, für eine neue »Verbindung zu Prinzipien der Entbehrung und des Dienstes oder zu anderen sogenannten preußischen Tugenden«45 als pädagogisches Kontrastprogramm zur »herrenlose[n] (und widerstandlose[n]) Erziehung«46
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Siegfried J. Schmidt, »Die Erwartbarkeit des Unerwarteten. Paradoxien und Schematisierungen im Medienprozess,« in Paradoxien des Journalismus. Theorie – Empirie – Praxis. Festschrift für Siegfried Weischenberg, Hg. Bernard Pörksen, Wiebke Loosen, Armin Scholl (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2008), 313-326, hier: 319. Ebd., 205. Ebd., 207.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
der »von uns verwahrloste[n] Kinder«,47 wie er neonazistische Jugendliche verharmlosend nennt. Die größte Resonanz erzielt Rusch tatsächlich im konservativen Lager, wie er nach seinem ersten Fernsehauftritt bemerkt. Deshalb möchte der Marktstratege jetzt »auch die andere Hälfte, die eher sozialdemokratisch, grün und liberal geprägten Geister, erreichen und provozieren.« (236) Als Gleitmittel fungiert der »Reformkönig« Friedrich Wilhelm I., der als Soldatenkönig und strenger Vater des späteren Friedrichs II. zwar »den schlechtesten Ruf hatte«, aber dessen »Verdienste nicht genug betont und gepriesen werden [konnten]«. (237) Rusch bezeichnet den als »Geizhals« bekannten König als »ersten richtigen Finanzpolitiker in Europa« und »Genie der Ökonomie«. Weiter sei er ein »vorbildlicher Gesundheitspolitiker« und Sozialpolitiker gewesen, außerdem ein Muster an Toleranz durch seine progressive Flüchtlingspolitik sowie ein Menschenrechtsaktivist avant la lettre. (237) »Trotz seiner Leidenschaft für Soldaten« habe er keineswegs Eroberungen bezweckt, er sei ganz im Gegenteil »ein kriegsscheuer und friedliebender Monarch wie kein zweiter in Preußen« gewesen. (237) Gewappnet mit dieser Liste ›progressiver‹ und ›reformatorischer‹ Maßnahmen bastelt sich Rusch nun einen sozialdemokratischen Soldatenkönig zusammen, den er zum Leitbild der neuen Regierung macht: »Warum der Kanzler den Soldatenkönig als Vorbild braucht« heißt der Artikel, in dem Rusch der »Herrschaft von König Friedrich I. beziehungsweise Kanzler Kohl«, die sich durch »Prunksucht, Korruption und selbstgefälligen Untätigkeit« auszeichne, die »frische[n] Kräften« der neuen Bundesregierung (gemeint ist das Kabinett Schröder I) gegenüberstellt. (237)
Legendenzertrümmerung Beim Artikel über Friedrich Wilhelm I. springen gleich drei Sachen ins Auge. Erstens fällt Ruschs gezielt polemische Haltung auf. Der zukünftige Medienstar liebt die pointierte Formulierung und vereinfacht komplexe Sachverhalte mit spielender Leichtigkeit. Er präsentiert sich als Legendenzertrümmerer, der seine betont unkonventionelle Haltung mit einer Rhetorik des wirklichen Bescheid-Wissens verknüpft. In Wahrheit sei der Soldatenkönig ein Pazifist, »nur ein paar Historikern« (237) seien die Verdienste dieses verrufenen Königs bekannt. Ruschs Polemik ist also auch gegen die etablierte Geschichtswissenschaft gerichtet. Diese Merkmale sind typisch für den Diskurs der ›populären Geschichtsschreibung‹48 à la Joachim Fest, dessen 1973 erschienene HitlerBiografie bis 2006 eine Auflage von 800.000 Exemplaren erzielte,49 und Sebastian Haffner, dessen Buch Preußen ohne Legende (1979) auch explizit im Roman erwähnt wird. Letzteren nimmt Rusch als »Adjutant[en]« (101) in Anspruch, um sein eigenes Preußenbild zu »entstaub[en]«. (172) Der selbsterklärte Legendenzerstörer Haffner habe Rusch »ein bequemes Klischee nach dem andern auf elegante Weise aus dem Kopf gefegt. Kritisch
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Strauß, »Anschwellender Bocksgesang,« 204. Für den Begriff der ›populären Geschichtsschreibung‹ sowie ihre Merkmale: Wolfgang Hardtwig, »Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert,« in Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Hg. Wolfgang Hardtwig, Erhard Schütz (Stuttgart: Franz Steiner, 2005), 11-32. Ebd., 20, Fußnote 44.
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und nüchtern, jedes Für und Wider präzise und unparteiisch ausleuchtend, so zog dieser Haffner mich auf die Seite der alten Preußen.« (101-102) Nicht nur verfängt sich Rusch hier in Selbstwidersprüchen – der Adjutant sei unparteiisch, er schreibe elegant aber auch nüchtern –, auch der reale Publizist zeigt sich in seinem Preußen ohne Legende alles andere als sachlich und neutral. Die überaus anschauliche Schreibweise, der bewusst polemische Ton und die vielen Ausrufezeichen zeugen formell von Haffners hohem Grad an emotionaler Bindung mit seinem Forschungsgegenstand. Der preußische Staat sei nicht nur ein »Kunstgebilde«,50 das sich aus verstreuten Landesteilen zusammengefügt habe, sondern auch ein »Kunstwerk«.51 Ferner beschreibt Haffner die deutsche Reichsgründung unter Preußens Führung als »einen triumphalen Selbstmord«.52 Die offizielle Auflösung Preußens durch die alliierte Besatzungsbehörde in Berlin 1947 bezeichnet er als »Leichenschändung«.53 Im Anschluss daran stellt er den preußischen Staat immer wieder als einen Organismus dar. Dieser sei im Laufe der Jahrhunderte aus verschiedenartigen deutsch-slawischen Kolonialgebieten »zusammengewachsen« (ein Widerspruch in sich), habe mit der Französischen Revolution eine »Krise« erlebt und 1871 mit seinem »lange[n] Sterben« begonnen.54
Geschichtsklitterung: der Soldatenkönig Schröder und der Picasso von Wusterhausen Zweitens – und eng mit dem Diskurs der populären, außerakademischen Geschichtsschreibung verbunden – fällt beim Artikel über den Soldatenkönig Ruschs Hang zur Analogisierung und Geschichtsklitterung auf. Wie Reinhart Koselleck darlegt, hat die Vorstellung, dass das Studium der Geschichte auf das Entdecken von Analogien »zur Erkenntnis ähnlich gearteter Fälle der Zukunft«55 zielt, im 18. Jahrhundert ihre Kredibilität verloren, weil man den Verlauf der Geschichte dann nicht mehr als Wiederholung ähnlicher Verhältnisse, sondern als nicht-zirkuläre Struktur auffasste.56 Rusch versucht aber gerade mit Blick auf die Zukunft analoge Konstellationen in der Vergangenheit aufzuspüren. Er empfiehlt den Zeitgenossen die nach einer Ära des Prunkes in Preußen eingeführte Sparpolitik des Soldatenkönigs als zukunftsträchtiges Handlungsmuster. Die preußische Geschichte erfüllt hier also eine Orientierungsfunktion für die Gegenwart und Zukunft. Rusch spürt, dass sich die Leute nach der korrupten Prunkherrschaft des Bundeskanzlers Helmut Kohl nach Tugenden wie Sparsamkeit und Unbestechlichkeit sehnen, und daraus möchte er (ironischerweise) Profit schlagen. In einer Kolumne über die reale Preußenkonjunktur im heutigen Deutschland führt Delius diese »Sehnsucht« nach einer unbestechlichen Politik, die in den letzten Jahren durch 50 51 52 53 54 55
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Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, 2. Auflage (Hamburg: Gruner + Jahr, 1999), Klappentext, 22. Ebd., 22. Ebd., 23. Ebd., 21. Ebd., Klappentext. Reinhart Koselleck, »Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte,« in Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, 3. Auflage (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1995), 38-66, hier: 41. Ebd., 53.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
die nicht ablassenden Korruptionsskandale des »Mafiaboss[es]« Kohl in Deutschland gefehlt habe, als eine der Hauptgründe von Preußens gegenwärtiger Popularität an: »Es gibt sie noch, die Sehnsucht nach einem unbestechlichen, sparsamen, selbstbewussten Staat. Preußen liefert Maßstäbe, wird also gebraucht, auch 2002.«57 Beim Vergleich zwischen König Friedrich I. beziehungsweise Bundeskanzler Kohl und Friedrich Wilhelm I. beziehungsweise dem neuen Bundeskanzler (Schröder) ist das tertium comparationis noch einsichtig. Dagegen sind die Parallelisierungen, die Rusch in einem späteren Artikel zwischen Friedrich Wilhelms malerischen Tätigkeiten und den unterschiedlichsten modernen Kunstströmungen zieht, ganz abstrus. In dem Aufsatz »Der Picasso von Wusterhausen« (247), der erneut als eine »hübsche Provokation« (248), dieses Mal der Kunstszene gemeint ist, entdeckt Rusch den preußischen König als »großen Naive[n]«, als »Avantgardist[en]« und »Realist[en]«. (248) In dessen Gemälden schimmere mal die Hand eines rätselhaften Surrealisten, mal die eines frühen Picassos durch, noch ein anderes Mal habe er »wohl das erste sozialkritische Gemälde« (249) im 18. Jahrhundert verfasst, so oder so habe er die Malerei auf »unerhört[e]« Weise ›revolutioniert‹. (248) Ruschs Verfahren erinnert an die Kritik Fredric Jamesons an jenem historischen Eklektizismus, den der Literaturtheoretiker als zentralen Baustein des Postmodernismus oder der »kulturellen Logik des späten Kapitalismus«58 erkennt. Jameson definiert diesen postmodernen Umgang mit der Geschichte als »random cannibalization of all the styles of the past, the play of random stylistic allusion, and in general […] the increasing primacy of the ›neo‹.«59 Rusch führt diese »arbiträre Kannibalisierung« und Anhäufung unterschiedlicher ästhetischer Stile gleichsam in umgekehrter Richtung vor: nicht neo-, sondern proto-. Mit den richtigen rhetorischen Strategien kann anscheinend jeder als »Vorläufer« (249) oder Avantgardist irgendwelcher Strömung oder irgendwelchen Stils betrachtet werden. Nachdem Ruschs Aufsatz veröffentlicht worden ist, beginnen die Feuilletons tatsächlich den verkannten König »als schrilles Genie neu zu bewerten.« (250) Das ist umso witziger, da die vermeintlich sozialkritischen oder naiven Gemälde, die Rusch mit dem »bestürzend ehrlich[en] (249) »Blick der Narren, Kinder und Irren«(248) vergleicht, in aller Wahrscheinlichkeit nur das Werk eines Pfuschers sind. Das jedenfalls schimmert in Ruschs Bericht durch, wenn er das Selbstporträt des Königs beschreibt: »[B]estürzend ehrlich das Gemälde ›Bohnenkönig‹, nach einer holländischen Vorlage: ein trauriger Fettwanst, ein Fresser, wie auch er einer gewesen ist, mit Falten und schiefem Blick und einer lächerlichen Krone.« (249) Diesen Ausschnitt könnte man zugleich als eine höhnische Bemerkung an den oft spekulierenden oder hineininterpretierenden Diskurs des Kunsthistorikers auffassen, der auch an anderen Textstellen zitiert und mit Metakommentaren problematisiert
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Friedrich Christian Delius, »Preußen wozu?,« Das Plateau 67 (Okt., 2001): 2-3, hier: 3. Die Kolumne ist auch online verfügbar über Delius’ persönliche Website: https://www.fcdelius.de/widerreden/ wider_preussen.html (abgerufen 11.07.2019). Fredric Jameson, Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism (Durham: Duke University Press, 1991). Ebd., 18.
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wird. Rusch beschreibt zum Beispiel sehr detailliert zwei Bilder der Caroline von Jasmund, Minnas letzter Pflegemutter. Das erste Bild, auf dem die jüngere Caroline zu sehen ist, gewährt Einblick in ihren Charakter, so scheint es: »Der geschlossene, fast verkniffene kleine Mund verrät: Die hat einen Willen, die ist so schnell nicht kleinzukriegen, die kämpft.« (168) Aber schon im nächsten Satz wird diese Interpretation problematisiert: »Oder sieht das nur, wer ihre spätere Geschichte kennt? Was sagt ein Bild mehr als ein Bild?« (168) Auch die Beschreibung des zweiten Bildes, das die gealterte Caroline von Jasmund darstellt, wird durch eine scheinbar beiläufige metadiskursive Bemerkung untergraben: »Grübchen, Doppelkinn und die mit gestreckten Fingern gefalteten Hände, da könnte, wer spekulieren mag, das Teuflische in diesem Großmütterchen entdecken wollen.« (169) [meine Herv.]
Verklärung und Synthese Der dritte Punkt, der beim Artikel über den Soldatenkönig auffällt, ist die Tatsache, dass Ruschs Versuch zur Aktualisierung und Neuverwertung der Geschichte auch mit der Verharmlosung ihrer Schattenseiten einhergeht. Der Soldatenkönig solle doch vor allem »gepriesen« werden »– bei allen seinen Fehlern, Schwächen, Prügeleien und Sadismen.« (237) Dabei ist der Gedankenstrich bedeutungsvoll: Er unterstreicht, dass Rusch die negativen Seiten billigend in Kauf nimmt. Die Verharmlosung kann auch in die Ausblendung alles Negativen übergehen; Rusch macht diese Aussparung sogar zum Programm. Das wird deutlich bei seinem Besuch an Schlüters Reiterstandbild des Großen Kurfürsten im Schlosshof Charlottenburg, das er in seinem ersten Artikel »Elf Küsse für den Großen Kurfürsten« beschreiben möchte. Das Reiterstandbild löst bei Rusch anfangs einen »irritierenden Widerspruch« (214) aus: Mit den Sandalen, die der Kurfürst nach römischem Vorbild an den nackten Beinen trägt, wäre er im öden Brandenburg nicht weit gekommen, »noch weniger passte die prächtige Perücke auf den Kopf des nachgebildeten Römers«. (214) Vor allem aber versteht Rusch nicht, warum »der weitsichtigste, toleranteste und weiseste Fürst, den Brandenburg bis dahin gehabt hatte, mit vier halbnackten Sklavenfiguren abgebildet war.« (215) Rusch lässt sich dadurch aber nicht abschrecken. Er nimmt sich vor, »alles Negative, was über ihn zu sagen wäre, aus[zu]sparen, jetzt galt die Regel: erst bejahen, loben, jubeln, später differenzieren.« (216) Was gerade noch als »irritierender Widerspruch« galt, gleicht Rusch in seinem Artikel zu einer allesumfassenden Synthese aus, die Gegensätze und Spannungen integriert. Jeder Kuss ist für einen anderen Aspekt des Großen Kurfürsten bestimmt: ein Kuss für den »klugen Ehemann«, einer für den »Staatsmann«, für den »Kunstmäzen und Bücherfreund«, den »Surrealisten« usw., schließlich ein Kuss für den »Opa«, wie es in familiärem Ton heißt. Diese unterschiedlichen Aspekte erweisen sich nicht als gegensätzlich; vielmehr ist der Große Kurfürst als ›Trickster‹-Charakter im Sinne von Lévi-Strauss angelegt, der von Anfang an die Gegensätze integriert und, mit den Worten Rolf Parrs, »lediglich mal zur einen mal zur anderen Seite seiner Ganzheit hin tendiert.«60 60
Rolf Parr, »›Das ist unnatürlich, schlimmer: bürgerlich‹ – Königin Luise im Film,« in Zeitdiskurse. Reflexionen zum 19. und 20. Jahrhundert als Festschrift für Wulf Wülfing, Hg. Roland Berbig, Martina Lauster, Rolf Parr (Heidelberg: Synchron – Wissenschaftsverlag für Autoren, 2004), 135-164, 151.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
Der irritierende Widerspruch kann aber doch nicht gänzlich beseitigt werden. Der Artikel erscheint mit einem auffälligen Farbfoto, das die schmutzige, grünlich oxydierte und mit Taubenkot »weißgrau bekackte« (224) »Fratze«(215) des Großen Kurfürsten näher heranholt. Rusch ist zufrieden, findet diese Kombination »erfreulich obszön«. (224) Das Foto weist aber auch darauf hin, dass die negativen, dreckigen Seiten der Geschichte nicht so problemlos zu entsorgen sind, wie Rusch anfänglich hofft. Man kann das Reiterdenkmal nicht einfach ›polieren‹ oder ›entstauben‹; das Grün frisst das Bronze an und »entstellt« (215) die Gesichtszüge des Kurfürsten, der Taubenkot setzt sich fest und wuchert fort. Der Zersetzungsprozess veranschaulicht erstens, dass auch diejenigen Projekte, die eine überzeitliche Monumentalität beanspruchen, allmählich vergehen oder angegriffen werden und zweitens, dass die Vergangenheit die Gegenwart heimsucht, nicht goldumrandet oder bronziert, sondern in ihren dreckigen und ekligen Resten, die hier als Oxidation oder Taubenkot ihren Niederschlag finden. Ruschs Ziel, die Vergangenheit zu verlebendigen, die Könige zu »erweck[en]« (92), indem er einfach den Staub – in seiner Leblosigkeit Metapher der reinen Vergangenheit – abwischt, muss also fehlschlagen. Am Ende wird Rusch, der die preußische Geschichte »aus den Nischen der Museumläden [befreien]« (204) wollte, selbst als Kuriosum, als »Urururururururenkel des Soldatenkönigs, Schriftsteller, Erfinder des Preußenjahres 2001« (316) im Museum ausgestellt. Seinem Reanimierungsversuch ist von Anfang an der Hauch der Musealisierung eingeschrieben. Das Romanende ist zudem als Kritik am wetterwendischen Literaturbetrieb und den prekären Arbeitsumständen des Schriftstellers zu lesen. Mit einem sechsjährigen Arbeitsvertrag und einem sicheren Einkommen war Ruschs »Zukunft [nie] so gesichert wie heute.« (316) Erst jetzt, da er keine finanziellen Sorgen mehr hat, kann der Schriftsteller seinem eigentlichen Beruf nachgehen, nämlich Bücher schreiben.
Miss Luise von Preußen Trotz seiner Aktualisierungsversuche findet Rusch das größte Potenzial, Preußen wieder ›pop‹ zu machen, weder beim Großen Kurfürsten, noch beim Soldatenkönig, sondern bei der »Mädchenkönigin« (285) Luise von Preußen. Sie sei »die einzige Figur im Hohenzollernhaus, die ein Leitbild für heute wäre, attraktiv für Männer wie für Frauen.« (288) Der einfachen Bäckerstochter und Tänzerin Marie Hoffmann und deren Tochter Minna schenkt Rusch keine Beachtung mehr. Die Abstammung von der Ururururgroßtante Königin Luise vermag Ruschs »Größenwahn« (22) und Eitelkeit mehr zu befriedigen. Luises Anziehungskraft gründet in ihrer Fähigkeit, Widersprüche in ihrer Person zu versöhnen; durch diese Eigenschaft seien Männer und Frauen aus allen Zeiten von ihr »hingerissen« (290): »Nie waren Macht und Charme glücklicher vereint« (286), schwärmt Rusch; »[e]s war die Sinnlichkeit im Preußenkleid, die einzigartige Versöhnung des preußisch Festen mit dem Venus-Zarten. Luises Erotik und der Militarismus, ein größerer Gegensatz war nicht möglich.«61 (290) »Keiner«, so heißt es 61
Diese Kombination des »preußisch-Festen« und des »Venus-Zarten«, von Militarismus und Erotik erregt tatsächlich die (sexuelle) Phantasie, so macht der Titel eines 2013 erschienenen Romans von Otto Kurt Dieter Hesser deutlich: Zwischen Totenkopf und Venushügel. Erotische Abenteuer eines preu-
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weiter, »ob weiblich, ob männlich, ob preußenkritisch oder preußenfreundlich, wusste irgendeinen nennenswerten Makel an ihr zu finden«, sie sei Rusch zufolge einfach »vollkommen«. (286) Um den Ausgleich aller Widersprüche anschaulich zu machen und Luises Potenzial als heutigen »Star« zu exemplifizieren, greift Rusch auf aktuelle Medienfiguren zurück: »Du hast allen etwas zu sagen, allen etwas zu bieten, du musst nur entdeckt, als moderne Frau modelliert, vorgestellt werden als emanzipierte Dame, als kluge Patriotin, als präfeministische Feministin und als schönste Königin aller Zeiten. Du bist einmalig, die bist wie Lady Diana und Claudia Schiffer und Alice Schwarzer und Jutta Limbach in einer Person. Du warst ein Star – und sollst endlich wieder ein Star werden!« (288-289)62 Weiter wird Luises Lächeln mit dem legendären Lächeln der Mona Lisa verglichen (292), ihr Diadem auf der Grabskulptur im Mausoleum im Schlosspark Charlottenburg mit dem gezackten Kranz der Freiheitsstatue (287). Als Tote, die dort gleichsam »wartet […], geweckt und wach geküsst zu werden« (287), erinnert sie an das bekannte Prinzessinnenmärchen Dornröschen. Solche Analogien lassen sich ad libitum fortführen – auch außerhalb des Textes. Anlässlich des 200. Todestages Luises 2010 gab es in Berlin zum Beispiel drei große Ausstellungen über »Miss Preußen«, die als »Working Mum«, »It-Girl« und »Fashion Victim« gefeiert wurde und auf diese Weise vermutlich an ein jüngeres Publikum appellieren sollte.63 DIE ZEIT machte die Königin in einem 2018 erschienenen Porträt sogar zu einem »MeToo«-Opfer Napoleons, als sie die berühmte Begegnung zwischen Luise und Napoleon in Tilsit nach der preußischen Niederlage bei Jena und Auerstadt adressierte. Zwar betont Rusch im obigen Zitat, dass Luise heute deshalb so anschlussfähig sei, weil sie so viele Facetten in einer Person abdecke: sie sei emanzipiert, klug, patriotisch, präfeministisch und schön. Wenn er sie aber als »Leitbild der modernen Frau« (289) wiederauferstehen lassen möchte, ist es doch ein sehr spezifisches Frauenbild, auf das er abzielt, nämlich eine durchaus passive Frau, allerdings mit einer frivolen Seite. Der erste Aspekt lässt sich an den Luisendenkmalen, auf die im Text Bezug genommen wird, ablesen. Das erste Denkmal ist die ursprünglich in Marmor angefertigte Statue
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ßischen Husaren. Der Roman wird angepriesen als »die preußische Antwort auf ›Shades of Grey‹.« Otto Kurt Dieter Hesser, Zwischen Totenkopf und Venushügel. Erotische Abenteuer eines preußischen Husaren (Amsterdam/Neckenmarkt: united p.c., 2013). Dabei sind die konkreten Personen, mit denen Luise von Preußen assoziiert wird, eher willkürlich. Hauptsache, sie verkörpern als Ensemble die facettenreiche Gestalt der preußischen Königin. In einem 2010 erschienenen Artikel in DIE ZEIT heißt es dementsprechend: »Ein bisschen Frivolität, Liebe, Treue und Engagement: Luise ist Sissi, Scarlett O’Hara und Lady Diana in einer Person.« Andreas Austilat, »Preußens Topmodel,« DIE ZEIT, 18. März, 2010, https://www.zeit.de/2010/12/B erlin-Koenigin-Luise (abgerufen 11.07.2019). Der Vergleich mit Lady Diana ist in Aufsätzen über Luise von Preußen übrigens gang und gäbe. Dafür ist schon der geteilte Titel »Queen of hearts« oder »Königin der Herzen« verantwortlich, den die eine sich selbst verlieh, der anderen von August Wilhelm Schlegel gegeben wurde. Christina Tillman, »Ihre Königliche Freiheit. Was vom Mythos übrig bleibt. Eine Berliner Ausstellung feiert Königin Luise zum 200. Todestag,« Der Tagesspiegel, 5. März, 2010, https://www.tagessp iegel.de/kultur/koenigin-luise-ihre-koenigliche-freiheit/1713200.html (abgerufen 11.07.2019).
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
des Bildhauers Erdmann Encke im Berliner Tiergarten, die 1880 im Beisein des deutschen Kaisers feierlich enthüllt wurde. Die Königin hält den Blick gesenkt, das Hochrelief des Sockels zeigt Abschieds-, Heimkehr-, Verwundetenpflege- und Trauerszenen aus den napoleonischen Kriegen, die die Position der Frau im Krieg thematisieren. Dieses »Nationaldenkmal«, für das alle Deutschen spenden konnten, sei nach Birte Fürster »Ausdruck für den Ort von Frauen in der symbolischen Repräsentation der Nation«.64 Die (männlichen) Mitglieder des Denkmalkomitees lobten Luise in ihren Reden immer wieder wegen ihrer ›weiblichen‹ Passivität, die der deutschen Frau zum Vorbild dienen sollte. So betonte der Historiker Heinrich von Treitschke, durch dessen ganzes Werk sich eine konservative, frauenfeindliche Geschlechternorm zieht,65 die von Luise auf ideale Weise verkörperte deutsche beziehungsweise preußische »Frauenart«, die »in schamhafter Stille«66 zum Ausdruck komme: »Ganz deutsch, ganz preußisch gedacht ist das alte Sprichwort, das jene Frau die beste nennt, von der die Welt am wenigsten redet. […] Es ist der Prüfstein ihrer Frauenhoheit, dass sich so wenig sagen läßt von ihren Thaten.«67 Auch der Historiker Theodor Mommsen hob in der Berliner Akademie der Wissenschaften Luises lobenswerte Passivität hervor. Sie verdanke ihre Berühmtheit nicht ihrer »Thaten«, sondern ihrem »Wesen und Sein«.68 Das andere im Text erwähnte Luisendenkmal ist der von Christian Daniel Rauch entworfene Marmorsarkophag mit einer darauf ruhenden Skulptur Luises in dem für sie errichteten Mausoleum im Schlosspark Charlottenburg. Wie Anke Gilleir in einem Aufsatz über Inge Müller hervorhebt, wird im männlichen künstlerischen und literarischen Diskurs seit der Aufklärung die tote Frau mythisiert; der tote Frauenkörper wurde sogar zur »Allegorie der Weiblichkeit schlechthin«.69 Auf diese Weise fällt die verstorbene Frau zwar nicht der Vergessenheit anheim, wird aber wohl als »erinnertes Objekt«70 vom männlichen Diskurs vereinnahmt (und so zum Opfer eines zweiten, symbolischen Gewaltaktes). Diese These gewinnt hier insofern an Relevanz, als Luises früher Tod von nationalistischen Dichtern als Opfertod für die deutsche Sache und nachträglich zum Auslöser des Untergangs Napoleons imaginiert wird.71 In seinem Gedicht Vor Rauchs Büste der Königin Luise (1812) beschreibt Theodor Körner die Königin auf ihrem Grabmal als Schlafende, die am »Tag der Freiheit und der Rache« als »deutsche
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Birte Fürster, Der Königin Luise-Mythos. Mediengeschichte des ›Idealbilds deutscher Weiblichkeit‹ 18601960 (Göttingen: V&R unipress, 2001), 143. Vgl. Ute Planert Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität (Göttingen: Vandenhoeck & Rubrecht 1998), 36ff. Heinrich von Treitschke, »Königin Luise. Vortrag gehalten am 10. März 1876 im Kaisersaale des Berliner Rathauses,« in Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Kap. 8, 9. Auflage (Leipzig: Hirzel, 1923). Online verfügbar über: Projekt Gutenberg – DE, https://gutenberg.spiegel.de/buch/ausgewahlte-schriften -erster-band-6970/8 (abgerufen 11.07.2019). Ebd. Theodor Mommsen, »Königin Luise. Vortrag gehalten am 23. März 1876 in der Berliner Akademie der Wissenschaften,« Preußische Jahrbücher 37 (1876): 430-437, hier: 432. Anke Gilleir, »›Ophelia, die der Fluss nicht behalten hat. Inge Müller im Gedächtnis‹,« in Literatur im Krebsgang, 109-124, hier: 112. Ebd., 112. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 257.
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Frau« und Schutzengel für die Nation erwachen soll.72 Auch Rusch stellt die tote Königin als Schlafende dar, die darauf wartet, von ihrem »Preußenprinz« (245) wachgeküsst zu werden, um sie dann strategisch als Leitbild für die Gegenwart in seinen medialen Preußen-Diskurs einzupassen. Das passive Frauenbild, das hier entworfen wird, ist aber auch mit einer frivolen Seite herausgeputzt. Denn Luises »Anmut, Würde, Natürlichkeit« – Vorzüge, die auch Treitschke und Mommsen ausgiebig rühmten – wären Rusch zufolge nie derart gepriesen worden ohne ihre Schönheit, ihre Schönheit allerdings nicht ohne ihren »königlichen Busen«, mit dem sie den Berliner Hof zum Schwindeln brachte. (290) Ihre »prächtigen Brüste«, die sich hinter dem tief ausgeschnittenen Dekolleté verbergen, machen sie zu einem »Pin-up-Girl« und zur »attraktivste[n] Mutter des Landes«. (291) Sogar die Assoziation mit einem Pornostar drängt sich auf; Rusch vergleicht seinen troubadourähnlichen »Luisendienst« nämlich mit den auf »virtuelle Damen« gerichteten »Gefühlen und sexuellen Bedürfnissen« anderer Männer. Zudem glaubt man nach einem Fernsehauftritt, dass Rusch über Luise, gelegentlich in Gesellschaft der Schwester Frederike, phantasiert, wenn er sich befriedigt. Ruschs Luise ist also passiv und aufreizend, eine Mutter, aber mit sexueller Anziehungskraft. Ist dies also das »Leitbild der modernen Frau«? Kategorie: naughty school girl oder MILF? Tatsächlich wird in Der Königsmacher ein einseitiges, auf Dichotomien basierendes Geschlechterbild entworfen. Der Unterschied dient dabei als Voraussetzung und Begründung von Geschlechterhierarchien. Damit schließt der Text an das sich im 18. Jahrhundert herausbildende Zweigeschlechtermodell an, das Männern und Frauen aufgrund der natürlichen Differenz unterschiedliche Eigenschaften und Fähigkeiten, Rechte, Pflichten und gesellschaftliche Positionen zuschrieb und Frauen so von den Gleichheits- und Freiheitsansprüchen der Aufklärung ausschließen konnte.73 Während Frauen in den privaten Bereich verbannt wurden, agierten Männer ›naturgemäß‹ im öffentlichen Bereich. Rusch schreibt diese geschlechterspezifische Trennung zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich fort, insofern er seinen Plan, sich möglichst medienwirksam zu inszenieren, als die »männliche Lösung«, die emsige Arbeit am historischen Roman dagegen als das weibliche »Rezept« bezeichnet (191), eine Vokabel, die das klischeehafte Bild der Frau am Herd evoziert. Mit dieser geschlechterspezifischen Aufteilung bezieht sich der Text auf die sich in den 1990er Jahren herausbildenden Kategorien des literarischen Fräuleinwunders und der sich als (hyper-)maskuline Bastion erweisenden Popliteratur.74 Die essenzialistische Logik wird aber zugleich unterminiert oder zumindest problematisiert, indem der 72 73 74
Theodor Körner, »Vor Rauschs Büste der Königin Luise,« in Leier und Schwert (Berlin: Nicolai, 1814), 6. Andrea Maihofer, Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz (Frankfurt a.M.: Ulrike Helmer, 1995), 31-32. Die Texte des Popautors und selbsterklärten Feministen Thomas Meinecke zitieren allerdings immer wieder den feministischen und konstruktivistischen Gender-Diskurs. Besonders im Roman Tomboy (1998) stehen die Figuren für gewisse Typen des von Judith Butler proklamierten gender trouble, z.B. einen Tomboy, eine Cross-Dresser*in und eine Butch-Lesbier*in. Wie Meinecke in Essays, Interviews und Autorenlesungen immer wieder erklärt, zielt er darauf ab, die dichotomische Struktur männlich-weiblich zu denaturalisieren und destabilisieren.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
Text Männlichkeit mit Selbstinszenierung und Performance verknüpft. Auf diese Weise ebnet der mit Posen und Rollen verbundene Mediendiskurs einer konstruktivistischen Interpretation von Geschlecht den Weg. So zitiert und verschränkt der Roman zwei Diskurse, die in den 1990er Jahren populär wurden, nämlich den schon erwähnten literatursoziologischen Diskurs sowie den konstruktivistischen Gender-Diskurs, der seinen Ausgangspunkt in den Veröffentlichungen Judith Butlers, allen voran Gender Trouble, hat.75 Für Butler sind Identitäten, besonders Geschlechteridentitäten, nicht an einem natürlichen Zustand gebunden. Sie seien stattdessen der performative Effekt kultureller und gesellschaftlicher Bezeichnungs- und Normierungsverfahren. Diese Regulativen können Butler zufolge dort unterminiert werden, wo Geschlechteridentität spielerisch oder parodistisch aufgeführt wird, zum Beispiel im Crossdressing oder der Travestie. Auch in Der Königsmacher ist einmal von Crossdressing die Rede, wenn sich im Schlafzimmer Wilhelms I. eine Dame als Napoleon verkleidet hat und »dessen Pose nachahmt.« (69) [meine Herv.] Nicht nur wird Männlichkeit hier als Performance dargestellt, die über Kleidung und bestimmte Gesten und Haltungen konstruiert wird. Auch geraten die heterosexuellen Normen ins Wanken, indem der immer wieder als Frauenjäger dargestellte König in dieser Szene homosexuelle Phantasien hegt. Während Rusch generell ein zweigeschlechtliches, heteronormatives und frauenfeindliches Geschlechterbild reproduziert, wird dieses also mehrmals vom Text auf punktuelle Weise gestört. Durch die Anwesenheit konkurrierender Geschlechterdiskurse weist der Roman Parallelen mit der ausführlich zitierten Novelle Das Marmorbild (1819) von Joseph von Eichendorff auf. Die Szene, in der Luises Marmorstatue im Berliner Tiergarten Rusch ganz und gar in den Bann reißt, ist eine fast wörtliche Übernahme der Szene, in der Florios Bezauberung durch das heidnische Venusbild beschrieben wird. Die Erzählung vom jungen Dichter Florio, der am Ende die keusche und christliche Bianca der verführerischen und heidnischen Venus vorzieht, bestätigt auf den ersten Blick die heteronormativen, bürgerlichen Geschlechterkategorien. Unterschwellig wird Florios normalisierende Entscheidung aber ständig von nicht-normativen Geschlechterrollen durchlöchert, zum Beispiel durch die homoerotischen Gefühle des jungen Dichters für den Minnesänger Fortunato oder durch Biancas Crossdressing am Ende der Erzählung. Wie Martha B. Helfer argumentiert, erzählt Das Marmorbild »von der diskursiven Formierung des männlichen Subjekts,«76 indem nicht eine traditionelle weibliche Muse, sondern der männliche Spielmann Fortunato Florio die künstliche Inspiration gewährt. Das Zitieren von Eichendorffs Das Marmorbild kann also kaum als nur ein postmodernes oder popliterarisches Spiel betrachtet werden. Die Texte weisen aufgrund der Gleichzeitigkeit von normativen und nicht-normativen Geschlechterkategorien bedeutungsvolle inhaltliche Übereinstimmungen auf.
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Judith Butler, Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity (New York: Routledge, 1990). Martha B. Helfer, »The Male Muses of Romanticism: The Poetics of Gender in Novalis, E.T.A. Hoffmann, and Eichendorff,« The German Quarterly 78, 3 (2005): 299-319, hier: 314, https://www.jstor.or g/stable/30039412 (abgerufen 11.07.2019).
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Preußische Phantasmen
Preußen-Diskurs im Wandel Delius erweist sich mit Der Königsmacher als Chronist und Seismograf der (bundesrepublikanisch-)deutschen Mentalitätsgeschichte,77 insofern er Rusch über den gewandelten Preußen-Diskurs reflektieren sowie die Gründe für den gegenwärtigen PreußenHype darlegen lässt. Ein Nicht-Deutscher, der Schweizer Freund Schoppe, fungiert als Resonanzboden. Schoppe ist der Einzige, mit dem Rusch »unbefangen« über das nationale Reizthema Preußen sprechen kann: »Alle Deutschen wichen, wenn ich das Thema anzutippen wagte, entsetzt zurück, als hätte ich die Pest, oder bekamen den seligverklärten Blick, der mich sofort abschreckte.« (172) Rusch betritt dieses »Schlachtfeld von Meinungen, wie sie kontroverser nicht denkbar sind« (101), mit offenem Visier; flankiert von seinem »Adjutanten« (101) Haffner profiliert er sich als aufgeklärten Mythenzertrümmerer und Querdenker, der es als Einziger wagt, das Thema Preußen zu berühren. Seine eigene gewandelte Einstellung zu Preußen beschreibt er gleichsam als eine Wende von Mythos zu Logos. Auch er habe seit der Schulzeit alles, was mit Preußen assoziiert wurde, »instinktiv« und pauschalisierend abgelehnt, er habe damals »genauso reagiert, wie die Leute heute: Vorsicht, Preußen-Pest!«. (172) Jetzt aber lasse er sich nichts mehr vormachen, sondern »eigne mir alles selber an.« (173) Was der Autodidakt dabei Neues gelernt hat, ist exemplarisch für den gewandelten Preußen-Diskurs um die Jahrtausendwende. Zwar bezieht sich Rusch noch auf den »Januskopf«, das heißt das militärisch-philosophische Doppelgesicht Preußens, das besonders seit der (auch im Text erwähnten, 243) großen Preußen-Ausstellung in WestBerlin 1981 den öffentlichen Preußen-Diskurs prägte,78 aber er interpretiert den Hybriditätstopos so, wie er auch im Preußen-Diskurs um 2000 (um-)gedeutet wird. Wie Claudia Breger darlegt, ist an die Stelle von der preußischen Doppelnatur die »These von der historischen Spaltung Preußens« [Herv. i.O.] getreten, wobei die Epoche Friedrichs II., in der sich das Wesen Preußens entfaltet habe, verstärkt als Erbe herangezogen wurde.79 Danach habe der Verfall beziehungsweise die Pervertierung des Preußentums begonnen, die im imperialistischen Machttheater des Kaisers Wilhelm II. gipfele.80 Rusch ist ein exemplarischer Vertreter dieses gewandelten Preußen-Diskurses. Auch er trennt die guten Zeiten von den schlechten Zeiten;81 sein Preußen, das heißt 77
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Delius setzt sich in nahezu allen seinen Texten mit neuralgischen Punkten der Bundesrepublik und später des wiedervereinigten Deutschlands auseinander. Der Sonntag an dem ich Weltmeister wurde (1994) bezieht sich auf das »Wunder von Bern«, das heißt den Sieg der deutschen Fußballelf 1954, der der Nation ein ›Wir-sind-wieder-wer‹-Gefühl gewährte. Amerikahaus und der Tanz um die Frauen (1997) fängt die Aufbruchsstimmung ein, die es gab, bevor es zu den ideologischen Verhärtungen von 1968 kam. Ein Held der inneren Sicherheit (1981), Mogadischu Fensterplatz (1987) und Himmelfahrt eines Feindes (1992) setzen sich mit dem Terror der RAF und dem ›Deutschen Herbst 1977‹ auseinander. Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus (1995) bezieht sich auf die Erfahrungen der deutschen Teilung, während Die Birnen von Ribbeck (1991) die deutsch-deutsche Vereinigung in den Mittelpunkt der Erzählung rückt. Vgl. Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, 450. Ebd., 452. Ebd., 453. Die Anspielung auf die Seifenoper »Gute Zeiten, schlechte Zeiten« macht Rusch auch, wenn er erklärt, warum er sich in die Minna-Geschichte verbissen hat: »Einmal den Schnee einer Kutschfahrt
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
das Preußen, von dem er abstamme, sei der moderne und fortschrittliche Staat vor 1815, nicht das spätere reaktionäre und nationalistische Preußen. Wie im öffentlichen Preußen-Diskurs kulminiert dieses »böse« Preußen für Rusch in die Herrschaft Wilhelms II.: »[D]er dümmste, eitelste, neurotischste und aggressivste Monarch, den Preußen je hatte […] Kein König hat so gegen die preußischen Tugenden verstoßen wie Wilhelm der Zweite. Dem hätte man im Namen des Soldatenkönigs und des Alten Fritz den Prozess machen sollen. Ein übler Chauvinist, ein Verräter am Preußentum …« (279) Ruschs historische Spaltung der preußischen Geschichte führt das Prinzip der bricolage nochmals vor Augen – Preußen ist nur ›zum halben Preis‹ zu erwerben. Zudem ist die Spaltung Ausdruck der selektiven Amnesie einer durchaus vergangenheitsbesessenen Gegenwart. Das fortschrittliche Preußen findet Rusch zufolge allein in den modernen USA einen würdigen Konkurrenten, natürlich nur dann, wenn man die Abschlachtung der Indianer und der Sklaverei »vergisst«. (173) An ein historisches Bewusstsein appelliert Rusch aber schon, wenn er die Staats- und Kriegspolitik oder die harten Bräuche im Militär des ›guten‹ Preußens verteidigt. Die Könige haben einfach »nach den Ideen ihrer Zeit« gehandelt, und mit dem »Prügeln und Kujonieren« sei es anderswo nicht besser gewesen. (173) Auch hier erweist sich Rusch als Exponent des öffentlichen Preußen-Diskurses um die Jahrtausendwende, der David Clark zufolge dazu neigt, den sogenannten preußischen Militarismus relativierend als »Variante eines europäischen Phänomens«82 zu betrachten. Anno 2000 bezeichnet Frank Göse Friedrich II. aufgrund seiner Scheinlegitimation des Präventivkriegs sogar – vorschnell – als »Kind seiner Zeit«.83 Rusch erfühlt, dass seine Unbefangenheit gegenüber der preußischen Geschichte auch bei anderen Leuten gut ankommen könnte. Wenn er am Gendarmenmarkt seine »Marktstudien« treibt, bemerkt er, dass nicht nur die Touristen »entspannt« »aufatmen«, sondern auch die »eiligen Städter« die Schritte bremsen. (197) Dieses entspannte Verhältnis zur preußischen Geschichte, das »Gefühl, mit dem Alten einverstanden zu sein« (197), es gar mit »Stolz« (198) betrachten zu können, möchte Rusch demzufolge anbieten. Der Verzicht auf das Politische ist für die Vermarktung von Preußen ein wichtiges Kriterium; Rusch fokussiert lediglich auf die »Pracht« (197) der Schlösser und die »ansichtkartenbunte[…]« (198) Schönheit des klassizistischen »Ensemble[s]« (197) auf Unter den Linden. Er stellt bei den Menschen allerdings mehr als touristische Unbefangenheit gegenüber Preußen fest. In den Museumsläden, wo Leute von allen Altersstufen ein »kleine[s] Stück Preußen« (202) mit nach Hause nehmen, gelangt er zu der Anschauung, dass die Besucher*innen mehr wollen »als Preußen zum Anfassen. Sie suchen Sinn. Da kommt ein tiefes Bedürfnis nach Vorbildern, nach Werten, nach einer gesicherten Vergangenheit zum Vorschein.« (203) Die zahlreichen Gadgets im Museumladen – Büsten und Bildnisse Friedrichs des Großen oder der Königin Luise,
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auf holprigen Wegen genossen, schon verfing ich mich in dem Wunsch, möglichst viel von meiner Realität abzustreifen und die guten schlechten alten Zeiten zu vergolden.« (102) Clark, »Preußenbilder im Wandel,« 315. Frank Göse, »Friedrich der Große: Vom Werden eines Mythos,« in Preußen. Geschichte eines Mythos, 46-65, hier: 48.
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Preußische Phantasmen
Zinnsoldaten, Porzellanfiguren, Seidentücher, Tabaksdosen usw. – bekommen auf diese Weise den Charakter von »Reliquien« (202) oder »Devotionalien« (301) und machen so wenigstens eine Randbemerkung zur These Jean-François Lyotards, der Kapitalismus komme ohne Großerzählung aus.84 Im Kontext des Niedergangs der métarécits und der Religion fungieren die feilgebotenen preußischen Nippsachen und Repliken als Ersatz, der die dadurch entstandene »innere Leere« der Menschen ausfüllen oder zudecken soll: »Ganz Deutschland«, so erklärt ihm Schoppe, »hungert nach Sinn, auf geradezu hysterische Weise, und wer keine Religion oder sonstige Ideologie hat, fühlt die innere Leere und so weiter.« (262) Dabei ist die Vokabel »ganz« in »ganz Deutschland« wichtig, denn sie rückt die »innere Leere« in den Kontext der nationalen Identitätsdefizite, die besonders nach der deutsch-deutschen Vereinigung offen hervortraten. Tatsächlich will man Rusch immer dort hören, »wo die Probleme der deutschen Selbstfindung verhandelt« (260) werden. Nach Schoppe sei es Ruschs Stärke, die identitäre Lücke, »die allgemeine Orientierungslosigkeit als Marktlücke entdeckt zu haben.« (262) Diese Lücke fülle Rusch mit seinem »aufgeklärten Patriotismus«. (262) Offensichtlich sehnt sich Deutschland nach einem entspannten und komplexloseren Umgang mit der nationalen Geschichte. Besonders nach der Wiedervereinigung verlangen die Deutschen Schoppe zufolge nach einer nationalen Vergangenheit, die ihnen nicht »nur das Gruseln lehrt.« (243) Statt ihre nationale Identität aus »verlorene[n] Weltkriege[n], Verbrechen, Not und Niederlagen« (243) zu gewinnen, wollen die Deutschen »an eine schönere Geschichte erinnert werden« (203). Das bedeutet so viel wie ein ›Schlussstrich‹ unter der nationalsozialistischen Periode zu ziehen oder diese Episode einfach aus dem kollektiven Gedächtnis zu streichen: »Das wollen die Leute hören, nicht immer Nazi-Schuld und Nazi-Angst. Du lässt diese Epoche einfach aus, von der sie die Schnauze voll haben.« (262) Die Nation, auf die sich die Berliner Republik durch den Rückgriff auf die »schönere« preußische Geschichte beziehen will, ist die Kulturnation, die für die unpolitische und also unschuldige Komponente nationaler Identität einstehen soll.85 Für deren Wiederaneignung hat der Regierungsumzug von Bonn nach Berlin den Vorschub geleistet, so suggeriert der Text: »Wo, wenn nicht hier, suchen sie Geschichte zum Aufrichten, zum Genießen, zum Träumen« (203), fragt Rusch rhetorisch. Im historischen Zentrum Berlins können die Menschen, umgeben von der (rekonstruierten) Grandeur der preußischen Gebäude und Kulturschätze – Lindenoper, Zeughaus, Alte Bibliothek, Lustgarten, Tiergarten, den Bildern in den Museen usw. (198) –, die Geschichte »genießen« oder damit »träumen«. Dieser Traum kann ein rückwärtsgewandter, eskapistischer sein, mit dem man dem »Dreck der Gegenwart« (102) für einen Moment entkommt, oder aber ein zukunftsorientierter, mit dem man sich »aufrichten« (128) kann. Offenbar löst der Anblick von Preußens Glanz und Gloria nach Jahren von Geschichtsaskese ein ›Wirsind-wieder-wer‹-Gefühl aus. Für Rusch selbst fungieren die Gebäude als phantasmatische Projektionsflächen für seine narzisstischen Phantasien über Macht und Größe, die der kompensatorische Ausdruck seines hartnäckigen »Minderwertigkeitsgefühl[s]«
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Jean-François Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (Wien: Passagen, 1999). Breger, Szenarien kopfloser Gewalt, 466.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
(183, vgl. 227) sind. So sieht er alles, was »königlich preußisch« ist, »mit verliebten Augen« an; sein Blick »spiegelt« sich in den klassizistischen Bauwerken auf Unter den Linden. (197) »Ich hob ab«, so gesteht Rusch später, »und schwebte wie ein beschenkter Erbe durch Berlin und Potsdam.« (198)
»Wir ersticken an unseren Freiheiten«: Königsphantasien und Demokratiemüdigkeit Spätestens hier wird deutlich, dass die positive Hinwendung zu Preußen mit einer Renaissance monarchischer Vorstellungen und Phantasien verknüpft ist. Wie Breger in ihrer Studie über Königsfiguren in der deutschsprachigen Literatur und Kultur des 20. Jahrhunderts darlegt, sind der Preußen-Diskurs und der monarchische Diskurs auf Engste miteinander verschränkt. Die generelle Distanzierung von Preußen nach 1945, die aufgrund der Inanspruchnahme Preußens durch die nationalsozialistische Kulturpolitik erfolgte, und sein Aufstieg nach der deutsch-deutschen Vereinigung verlaufe parallel mit der imaginären Absetzung der Könige als Figuren autoritärer Herrschaft und deren Thronbesteigung in den 1990er Jahren.86 Rusch staunt, wie »allgegenwärtig« (200) die Könige und Königinnen in Berlin sind. Straßen, U-Bahnstationen, ganze Stadtviertel sind nach ihnen benannt. Die Zeitungen berichten jeden Tag über neue Anschaffungen und Restaurierungen in den Schlössern. Überall, »im Fernsehen, im Internet, in der Werbung, in Buchhandlungen, in Prospekten, auf Bierflaschen und in den Foyers der großen Hotels« werden sie »lebendig gehalten«. (200) Sogar (oder gerade) dort, »wo sie fehlten«, suchen sie die Gegenwart auf widerspenstige Weise heim und »spuken« in der Mitte Berlins herum. (200) Wie die heißen Debatten um die Rekonstruktion des Berliner Schlosses zeigen, »ärgerten und erregten [sie] die ganze Stadt«. (200) »Obwohl längst entmachtet und begraben«, sind sie also »nicht totzukriegen.« (201) Wie Breger darlegt, bedeutet das Ende der Monarchen keineswegs das Ende der Königsphantasien. Allerdings sei das »moderne ›Königswesen‹« zum »›Gespensterwesen‹«87 geworden. Der Hinweis auf die Berliner Stadtschlossdebatte und die von den preußischen Königen und Königinnen hinterlassene »skandalöse Leere in der Mitte der Stadt« (202) verbindet den monarchischen Diskurs mit der schwierigen Identitätssuche der Berliner Republik. Mit seinem »Monarchen-Marketing« will Rusch dem allgemeinen ›Schrei‹ »nach Orientierung, Werten und Hilfen« entgegengekommen. (204) »Wir ersticken an unseren Freiheiten«, so paraphrasiert Schoppe das Klagelied der Deutschen, die sich nach »Halt und Gewissheit« sehnen. (262) Die neuen Freiheiten und die Auflösung von symbolischen wie territorialen Grenzen nach der deutsch-deutschen Vereinigung werden nicht als Chance, sondern als Faktor der Verunsicherung erlebt. Galt die im ersten Teil dieser Arbeit besprochene Denkfigur der ›Freiheit in Gehorsam‹ als »autoritäre Reformulierung des aktivistischen liberalen Freiheitsideals«,88 dann stellt Schoppe dieses
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Ebd., 15, 19. Breger deutet darauf hin, dass die reale Abdankung des Kaisers 1918 keineswegs mit einer imaginären Absetzung der Herrschafts- und Königsfiguren einherging. (15) Ebd., 10-11. Stiewe, »Der ›Dritte Humanismus‹,« 247.
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Freiheitsideal umgekehrt als Zwang dar. Die Freiheiten führen nicht zur Emanzipation des Individuums, sondern beschränken gerade dessen Entfaltung. Insofern erinnert Schoppes These an die autoritären Phantasien Botho Strauß’, die er in »Anschwellender Bocksgesang« im Kontext der Erziehung äußert, die aber zweifelsohne auch politisch zu interpretieren sind: »Ich habe keinen Zweifel, daß Autorität, Meistertum eine höhere Entfaltung des Individuums befördert bei all denen, die sich zu verpflichten imstande sind, als jede Form der zu frühen leichtgemachten Emanzipation.«89 Auf den hier von Strauß evozierten ›autoritären Charakter‹, der sich nach Erich Fromm an Macht und Gehorsam orientiert und sich durch die »Flucht« beziehungsweise »Furcht vor der Freiheit« kennzeichnet,90 nimmt Der Königsmacher an einer unten noch zu besprechenden Textstelle explizit Bezug. (121) Konnte Schoppes Satz »Wir ersticken an unseren Freiheiten« im Kontext des Kapitalismus noch als Entscheidungsstress interpretiert werden, dann wird diese ›Qual der Wahl‹ anderswo unverkennbar in den politischen Bereich gerückt. Die monarchischen Sehnsüchte nach dem Mauerfall erscheinen dann als Ausdruck eines »Unbehagen[s] an der Demokratie«,91 die als politische Organisationsform der Freiheit gilt. Mehrere Textbeispiele erläutern dies. So spricht Rusch von seinem »Königsspleen« (150), wobei ›Spleen‹ nicht einfach ein Synonym für ›Eigenart‹ oder ›Grille‹ ist, sondern auch die Bedeutung des englischen Wortes spleen miteinbezieht, einer Kombination von romantischer Sehnsucht und Weltschmerz. Dieses Gefühl von Unzufriedenheit angesichts der Wirklichkeit entwickelt sich zur Nausea, die ihre konkrete Form in Ruschs Demokratiemüdigkeit findet: »Die verbittert geführten Meinungskämpfe der Politiker und Medienritter wurden mir von Tag zu Tag gleichgültiger«, was ihn dazu veranlasst, eskapistisch in die Vergangenheit »abzutauchen«. (101) Weiter hegt Rusch autoritäre Herrschaftsphantasien, die sich auch als Ausdruck seines Narzissmus – die Diagnose fällt mehrmals (163, 198, vgl. auch 173, 227) – und als Kompensation seiner eigenen Machtlosigkeit und jahrelangen »Missachtung« (227) erkennen lassen. Wenn er von seinem Amsterdamer Freund H. drei Postkarten mit drei Regenten namens Willem erhält, identifiziert er sich mit Wilhelm I., dessen Herrschaft er zuvor als extrem autoritär und antiparlamentarisch beschrieben hat (vgl. 41): »Der Vater wirkte fett, töricht und debil, der Sohn ehrgeizig, militärisch und debil. Ich hatte Glück, unter allen drei Willems sah mein Willem am besten aus, männlich, souverän.« (89) Rusch zufolge sind diese antidemokratischen Königsphantasien ein kollektives Phänomen. Jeder ›sehne‹ sich nach Monarchen, sei von ihnen »geprägt«, obwohl man das im demokratischen Deutschland nicht laut sagen dürfe: »Niemand will das wahrhaben, dass die Leute […], dass ganz Deutschland seit Jahrhunderten von Fürsten, Königen und Kaisern geprägt worden ist, nur in den letzten paar Jährchen seit 1918 nicht. Aber die 89 90
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Strauß, »Anschwellender Bocksgesang,« 207. Erich Fromm, Escape from Freedom (New York: Farrar and Rinehart, 1941). Im Deutschen erschien das Werk als Die Furcht vor der Freiheit, aus dem englischen von Liselotte Mickel, Ernst Mickel (Zürich: Steinberg, 1945). Als Ausdruck eines »Unbehagen[s] an der Demokratie« deutet Breger die neue Königsdramatik von Botho Strauß (Ithaka, 1996) und Peter Handke (Zurüstungen der Unsterblichkeit, 1997) sowie die damit einhergehende »Wiederkehr autoritärer Phantasmen heroischer Prägung«. Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, 19, 415-449.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
Prägung sitzt tiefer, als wir meinen, die romantische Sehnsucht nach schönen und weisen, milden oder wilden Monarchen sitzt tiefer, als jeder Demokrat zugeben darf.« (81) Rusch profiliert sich hier als derjenige, der sagt, was alle denken, es aber im politisch korrekten Deutschland nur nicht auszusprechen wagen. Ruschs Aussage erinnert an einen Satz aus Delius’ Erzählung Die Flatterzunge (1999). In dieser als Tagebuch komponierten Erzählung hat ein Mitglied des Orchesters der Deutschen Oper Berlin bei einem Gastauftritt in Israel eine Hotelrechnung nachts mit ›Adolf Hitler‹ unterschrieben. Delius greift damit eine wahre Begebenheit auf, die sich 1997 ereignet hat und in der Presse heftig diskutiert wurde. Delius geht in dieser Erzählung der Frage nach, was jemand, der kein Antisemit ist, zu einer solchen nächtlichen Entgleisung führt. Der Musiker notiert: »Steckt nicht in jedem von uns, nicht nur uns Deutschen, der Bruchbruchteil eines Nazis, auch wenn wir noch so demokratisch, noch so prosemitisch, noch so aufgeklärt sind?«.92 Und irgendwann passiere es dann irgendwem, kaum anders als bei einem »Hustenreiz«93 im Konzert; »irgendjemand schreibt seinen Namen da hin, irgendein Adolf in mir schreibt seinen Adolf da hin, auf meinen Zettel, mit meiner Handschrift.«94 Auch wenn die Texte sehr unterschiedlich sind, gibt es doch strukturelle Ähnlichkeiten. Während der Musiker in einem Augenblick nächtlicher Idiotie entgleist, erlebt Rusch eine »akute schizophrene Psychose«. (314) Und ähnlich wie der Musiker »irgendein Adolf in mir« hat, den er zunächst wie jeder Deutscher und NichtDeutscher unterdrückt hat, der dann aber wie beim Hustenanfall herausbricht, »regt« sich und »wächst« bei Rusch »der König in mir« (53), den auch jeder Demokrat heimlich in sich trägt. Beide Texte stellen die Frage nach einem verdrängten Verlangen nach Autorität, das potenziell in jedem von uns haust, und laden so zu Selbsterforschung ein. Diese autoritären und monarchischen Phantasien echoen einen internationalen Trend, der in den 2010er und 2020er Jahren noch anschwillt, so macht ein kurzer Blick auf die heutigen politischen Präferenzen in Europa oder den USA deutlich. Nach einer Umfrage des flämischen öffentlich-rechtlichen Senders VRT zieht zum Beispiel ein Viertel der flämischen Jugendlichen zwischen 18 und 23 Jahren eine Autokratie einer Demokratie vor.95 Weiter inszenieren sich republikanische Staatschefs manchmal als moderne Monarchen oder knüpfen zumindest an monarchische Traditionen an. Dies ist nicht nur der Fall beim absolutistisch regierenden Zaren Wladimir Putin. Auch der »republikanische König«96 Emmanuel Macron bezieht sich im Amt auf eine »königliche
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Friedrich Christian Delius, Die Flatterzunge (Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1999), 76. Ebd., 77. Ebd., 131. Ivan De Vadder, »Kwart van jonge ›nieuwe‹ stemmers verkiest autoritaire leider boven democratie,« VRT NWS, 1. Okt., 2018, https://www.vrt.be/vrtnws/nl/2018/10/01/first-voters/ (abgerufen 11.07.2019). Peter Giesen, »Koning Macron zal meer dan ooit een band met zijn volk moeten smeden,« De Volkskrant, 23. Juli, 2018, https://www.volkskrant.nl/columns-opinie/koning-macron-zal-meer-dan -ooit-een-band-met-zijn-volk-moeten-smeden∼b6c34e5d/ (abgerufen 11.07.2019).
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Preußische Phantasmen
Symbolik«,97 wie zahlreiche Medienberichte betonen. Innerhalb des ersten Jahres seiner Amtszeit empfing Macron dreimal am ehemaligen absolutistischen Königshof von Versailles: den russischen Präsidenten Putin, Senatoren und Abgeordnete und Wirtschaftsführer.98 Der Regierungsstil des immer wieder als ›Präsidenten der Reichen‹ titulierten Staatschefs, der auf Parlament und Gewerkschaften nur wenig Rücksicht nehme, setze sich aus einer Kombination von »Manager- und Monarchen-Stil« zusammen, so diagnostiziert der Politologe Jerome Sainte-Marie.99 Es verwundert daher nicht, dass bei Pariser Protesten ein Jahr nach Macrons Amtsantritt Königssymbole ein wiederkehrendes Motiv in den Straßen der französischen Hauptstadt bildeten, wie zum Beispiel ein in Gold gerahmtes Porträt des Königs Ludwig XVI. mit Macrons Gesicht. Der Bildtext: »14 mai 2017, restauration de la monarchie«. Weiter trugen sie eine lebensgroße Puppe aus Papiermaschee mit sich, die Macron mit Krone und in Anzug darstellte. Der Manager-König zeigte dem Volk grinsend den Mittelfinger, während Geldscheine aus seiner Brusttasche hervorguckten.100
»Königswahn« und »Schlossfieber« Der König in Rusch regt sich so sehr, dass er immer weiter abhebt. Die zunehmende Identifikation mit den preußischen Monarchen, die anfangs nur den Forschungsgegenstand für die Minna-Geschichte bildeten, führt zu einem fortschreitenden Selbstverlust, wobei Rusch letztendlich in schizophrene Halluzinationen abgleitet. Behauptete er anfangs noch, dass alles nur ein ironisches »Spiel« (225) sei, driftet er »fast gegen [s]einen Willen« (53) in seinen pathologischen »Königswahn« (178) ab. Seit er sich mit der preußischen Geschichte befasst, kann er sich nicht mehr gegen sein »Schlossfieber« (149) wehren. Die Schlösser machen ihn »verrückt«, lösen ein »Jucken im Hirn«, ein »Knistern« aus. (148) Als preußischer Königsspross sieht er sich als deren rechtmäßigen Eigentümer oder »Anteilseigner«. (198) Diese Schlossphantasien sind bei Rusch nichts anderes als die größenwahnsinnige Version kleinbürgerlicher Besitzgedanken sowie der Ausdruck seiner sozialen Frustrationen: »Mir steht ein besserer Platz im Leben zu als dieser!« (54), ruft Rusch aus, der sich als erfolgloser Schriftsteller nur eine Zweizimmerwohnung im vierten Stock, ohne Fahrstuhl und in einem Hinterhaus leisten kann. »Ein Nachfahre eines Königs, dachte ich, anfangs mit aller Ironie, gehört in
Bastien Bonnefous, Solenn de Royer, »Emmanuel Macron, un an de présidence impérieuse,« Le Monde, 5. Mai, 2018, https://www.lemonde.fr/emmanuel-macron/article/2018/05/05/emmanuel-m acron-sur-la-voie-royale_5294636_5008430.html (abgerufen 11.07.2019). 98 Georg Blume, »Der Präsident und sein Rüpel,« Der Spiegel, 21. Juli, 2018, https://www.spiegel.de/p olitik/ausland/frankreichs-praesident-macron-skandal-um-leibwaechter-benalla-weitet-sich-aus-a -1219553.html (abgerufen 11.07.2019). 99 Danny Leder, »Macron, eine Kombination aus König und Manager,« Kurier, 7. Mai, 2018, https://ku rier.at/politik/ausland/macron-eine-kombination-aus-koenig-und-manager/400031731 (abgerufen 11.07.2018). 100 Fotostrecke »Frankreich: ›14 Mai 2017, Wiederherstellung der Monarchie‹,« Der Spiegel, https://www .spiegel.de/fotostrecke/emmanuel-macron-proteste-in-frankreich-fotostrecke-160545.html (abgerufen 11.07.2018).
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5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
ein Vorderhaus, gehört in einen Fahrstuhl, das ist das Mindeste. Und wenn schon kein Schloss, dann wenigstens den Blick auf ein Schloss!«. (54) Mit diesen Schlossphantasien knüpft Delius an eine Debatte an, die nach der deutsch-deutschen Vereinigung entstand und neuerdings wieder von den Medien aufgegriffen wurde: die Zurückforderung durch das Haus Hohenzollern von Kunstwerken und Immobilien, die nach dem Zweiten Weltkrieg unter der Parole »Junkerland in Bauernhand« von der DDR beschlagnahmt beziehungsweise enteignet worden waren. Im Juli 2019 sickerte eine Liste mit den Rückgabeforderungen des Prinzen Georg Friedrich, des Ururenkels Wilhelms II., in Der Spiegel und Der Tagesspiegel durch, über die der Prinz von Preußen schon seit 2014 mit der deutschen Behörde verhandelt. Außer tausenden Objekten aus Berliner und Brandenburger Museen wie Möbeln, Gemälden, Plastiken und Briefen fordert Georg Friedrich im Namen des Hohenzollernhauses auch das unentgeltliche Wohnrecht im Schloss Cecilienhof in Potsdam oder in zwei anderen Schlossvillen.101 Nach der deutsch-deutschen Vereinigung kehrten viele der nach Kriegsende in den Westen geflohenen großen Adelshäuser wie die Finckensteins, Arnims und Marwitzs als Rückkäufer, Unternehmer oder Lokalpolitiker in die heimatliche Mark Brandenburg zurück.102 Der Schriftsteller und ›märkische Forscher‹103 Günter de Bruyn schildert in seiner zwischen Sachbuch und Roman schwankenden Familiengeschichte Die Finckensteins. Eine Familie im Dienste Preußens (1999) mit persönlicher Betroffenheit die Zerstörungen des Landgutes der Finckensteins in der DDR und den Wiederaufbau durch den alten Grafen, den die vom wirtschaftlichen Zusammenbruch bedrohten Madlitzer 1990 um Hilfe baten. Was die Offiziere und hohen Beamten ›im Dienste Preußens‹ auszeichne, so der Leitgedanke des Buches, sei ihr kulturelles Bewusstsein; die märkischen Schlösser seien echte Musenhöfe. De Bruyns Preußen ist demzufolge nicht das militärische, sondern das kulturelle Preußen, das er von der Mark Brandenburg her mit lokalpatriotischer Neugier sondiert. Ruschs Verwandlung vom Schriftsteller zum Königsspross erfolgt bezeichnenderweise vor einem Spiegel. Rusch stellt sich mit dem ›briefmarkengroßen‹ (90) Porträt Wilhelms I., das er von seinem Freund H. als Postkarte empfangen hat, vor den Spiegel und späht nach Ähnlichkeiten. Die Übereinstimmungen zwischen dem zunächst Thorsten Metzner, »Hohenzollern erheben Ansprüche auf tausende bedeutende Kunstwerke,« Der Tagesspiegel, 13. Juli, 2019, https://www.tagesspiegel.de/berlin/streng-geheime-verhandlungen-h ohenzollern-erheben-ansprueche-auf-tausende-bedeutende-kunstwerke/24587204.html (abgerufen 04.08.2019). 102 Gustav Seibt, »Die Rückkehr der Krautjunker,« Süddeutsche Zeitung, 24. Aug., 2011, https://www .sueddeutsche.de/leben/adel-in-deutschland-die-rueckkehr-der-krautjunker-1.1134320 (abgerufen 11.07.2019). 103 Märkische Forschungen (1978) heißt ein satirischer Roman de Bruyns, in dem der ideologisierte Wissenschaftsbetrieb der DDR Zielscheibe des Spottes ist. De Bruyn hat sich der Geschichte der Mark Brandenburg schon vor Die Finckensteins gewidmet, zum Beispiel in Mein Brandenburg (1993), in dem er sich im Stil Theodor Fontanes auf Spurensuche durch die märkische Kulturlandschaft begibt. De Bruyns gesamtes Spätwerk ist der preußischen Kulturgeschichte gewidmet. Beispiele sind Preußens Luise. Vom Entstehen und Vergehen einer Legende (2001), Unter den Linden (2003), Als Poesie gut. Schicksale aus Berlins Kunstepoche 1786 bis 1807 (2006), Die Zeit der schweren Not. Schicksale aus dem Kulturleben Berlins 1807-1815 (2010) und Gräfin Luise. Eine Lebens- und Liebesgeschichte (2010). 101
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gemalten, dann fotografierten und in verkleinertem Maßstab wiedergegebenen Porträt und Ruschs eigenem, spiegelverkehrtem Gesicht seien unvorstellbar groß: »Nase, Stirn, Augenbrauen, Gesichtsform, sogar der Mund und die Falten um den Mund, fast alles war ähnlich.« (89) »Wir waren beinah Doppelgänger, im Gesicht sehr ähnlich, und schon mehr als Doppelgänger.« (91) In dieser Szene ist es auffällig, dass Rusch nur für den ersten, natürlichen Körper des Königs ein Auge hat und nicht für dessen zweiten, das heißt unsterblichen und mit Insignien der Macht ausgestatteten Körper. Für Rusch existiert diese Spaltung einfach nicht; die königliche Gewalt und Größe sind dem ersten Körper des Königs gleichsam von Natur aus angeheftet. Rusch erbt diese Potenz demzufolge automatisch. Darüber hinaus wird der natürliche Körper des königlichen Vorfahren als vollkommen dargestellt, indem Rusch den Königskörper – wie den mythischen Gott Hermaphroditos oder auch Dionysos – als zweigeschlechtlich imaginiert. In der griechischen Mythologie galt die Zweigeschlechtlichkeit bekanntlich als Sinnbild der Harmonie und Ganzheit. Rusch zufolge wird der auf dem Porträt deutlich sichtbare Hodensack »exakt in der Mitte des Bildes« von einer »tiefe[n], dunkle[n] Falte« geteilt, und wirkt so »wie eine weibliche Spalte in einem prächtigen Venushügel«. (91) Auch in dieser Szene wird das damalige Zweigeschlechtermodell gestört. Zudem denkt Rusch die Insignien der Macht – »Degen, Orden, Schärpe und Krone«(89) – ausdrücklich weg. Das ist nicht verwunderlich, denn es sind die »Erbinformationen« (91), die Rusch in seine medienwirksame Rolle des Königssprosses erheben. Es sind aber ebenfalls die Gene, die für seine Schizophrenie verantwortlich sind. Auch bei seiner Urgroßmutter wurde Schizophrenie festgestellt, wie an einer anderen Textstelle eher beiläufig erwähnt wird. (234) Das vor dem Spiegel evozierte Doppelgänger-Motiv gilt als Präfiguration der schizophrenen Psychosen oder »Spaltungen« (274) seiner Persönlichkeit. Diese Pathologie zeigt sich am deutlichsten dann, wenn Rusch glaubt, er habe in seiner Beschaffenheit des »Prinz[en] von Oranien« (270) mit einer Dame namens Marie Hoffmann geschlafen. »Du kriegst deine Marie wieder«, so hat Rusch seinem liebe[n] Uropa« (92) tatsächlich vor dem Spiegel versprochen. Als Nachkomme des angebeteten Königs Wilhelm I. wird der erfolglose Schriftsteller vermeintlich zum Frauenmagneten, mit dem jede Frau schlafen will. Wenn Rusch aber am nächsten Tag bei dieser Frau anzurufen versucht, stellt sich heraus, dass es keine Dame namens Marie Hoffmann gibt. Damit greift Delius einen Topos des magisch-realistischen Romans auf. Hat Rusch nur über Sex phantasiert oder hat er doch mit einer Frau geschlafen, die ihn dann einfach mit einer falschen Telefonnummer abwimmeln wollte? Diese Frage wird nicht gelöst. Beide Möglichkeiten unterminieren das im Text aufgebaute Klischee des souveränen Mannes und der von ihm abhängigen Frau. Zudem deutet diese Szene auf noch eine andere Pathologie hin, an der Rusch außer Schizophrenie und Narzissmus, auf den die Spiegel-Szene deutlich anspielt, leidet. In seiner Phantasie hat er mit einer seiner Urmütter geschlafen. Auf diesen Ödipus-Komplex alludiert Rusch am Ende seines Berichtes: »Ich war Luise verfallen, […] weil ich ein Ideal brauchte, eine gekrönte Größe, eine unerreichbare Geliebte (aus welchen trüben Gründen der Mutter- oder Schwesterbindung, will ich hier nicht offenlegen).« (291) Von allen besprochenen Texten tritt das Phantasma Preußen in Der Königsmacher am anschaulichsten hervor, insofern die Beschäftigung und zunehmende Identifizierung mit Preußen und dessen Königen und Königinnen zu schizophrenen Halluzinationen des Protagonisten führt.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
Gute Könige, schöne Königinnen und Stammbaumklettern Die Wiederkehr monarchischer und adliger Phantasien ist nicht nur Ausdruck eines Unbehagens an der Demokratie, sondern zeugt ebenfalls von einem entspannteren Umgang mit der nationalen Geschichte. Schon die Vermarktung der Königsfiguren weist auf diese komplexlosere Haltung hin. Dabei wird ihnen jede Spur von autoritärer Gewalt abgestreift, um sie so gleichsam als Figuren anderer, ›guter alter‹ oder unschuldiger Herrschaftsformen zu verkaufen:104 Auf »das Produkt Gute Könige, das Produkt Schöne Königinnen wartet ein enormes Kundenpotential« (203), erkennt Rusch. Als »absolut unproduktiv« bezeichnet er dagegen die »primitive Abwehrhaltung gegen den Adel«, die von den 68ern ausgehe und im Skandalroman Mitteilung an den Adel (von Elisabeth Plessen) ihren exemplarischen Niederschlag finde. (204) Während sich die Protagonistin Augusta in Plessens Roman von den Ketten der sozialen Bindungen des Adels zu befreien versucht, kettet sich Rusch – buchstäblich – an die Tradition und hofft sich so sozial zu emanzipieren. Und während Augusta Berlin als Schauplatz der antiväterlichen Studentenbewegung, der Streiks und Demonstrationen entdeckt, ist Ruschs neu sondiertes Berlin das Berlin der Vorväter und der Tradition. Auch wenn Rusch selbst nur einige Monate auf dem Bildschirm zu sehen war, hat er dem deutschen Adel doch eine neue mediale Präsenz gewährt.105 Nach Ruschs Entglei104 Wie Breger darlegt, gab es diese Verschiebung zu unschuldigen Königsfiguren schon in der Bundesrepublik der 1950er Jahre, wobei die Sissi-Filme von Ernst Marischka nur den Höhepunkt einer »Königsfilmwelle« bildeten. Für diese »imaginären recastings« nationaler Identität besetzen ausdrücklich nicht-preußische Könige, und vor allem Königinnen die Rollen. Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, 16-17. 105 Neuerdings gibt es auch einen Trend, bei dem sich nicht-adlige Stars und Pop-Ikonen als König*innen inszenieren. In einem Artikel in DIE ZEIT über den 2018 herausgebrachten Musikclip »Apeshit« von Béyoncé und Jay-Z spricht Lars Weisbrod sogar von einer »dynastische[n] Wende im Pop«. Lars Weisbrod, »Die dynastische Wende im Pop,« DIE ZEIT, 18. Juni, 2018, https://www.zeit.de/kultur/m usik/2018-06/beyonce-jay-z-album-everything-is-love (abgerufen 11.07.2019). In diesem Clip, den Béyoncé und Jay-Z im Pariser Louvre, der früheren Residenz der französischen Königen und Königinnen, aufgenommen haben, inszeniert sich das schwarze ›power couple‹ als ein modernes königliches Ehepaar. Sie stellen sich als Anschauungsobjekte und Prunkstücke im Museum aus, indem sie die Meisterwerke der europäischen Kunstgeschichte in selbstbewussten Posen imitieren. Ihr Ziel ist es, die Abwesenheit des schwarzen Körpers sichtbar zu machen. Ihre Selbstkrönung lässt sich so als eine Mimikry im Sinne Homi Bhabhas begreifen. Für eine Analyse des Clips siehe z.B. Maha El Hissy, »Bey and Jay, or, The New Royal Hip-Hop/Pop. Béyoncé’s and Jay-Z’s Politics and Aesthetics of Self-Portrayal,« COLLATERAL. Online Journal for Cross-Cultural Close Reading, Collision 32 (Juni, 2019), https://www.collateral-journal.com/index.php?collision=32 (abgerufen 11.07.2019). Ein anderes Beispiel einer königlichen Selbstinszenierung durch eine heutige Pop-Ikone ist der Musikclip »Look what you made me do« von Taylor Swift. In diesem Video inszeniert sich Swift als eine moderne Cleopatra auf einem von Schlangen umgebenen goldenen Thron. Auch präsentiert sie sich als eine Pop-Variante – Grammy, Bling-Bling-Kleider – der Prinzessin Diana: Das Video zeigt einen Auto-Crash, wobei die Paparazzi – mitschuldig: »look what you made me do« – die sich noch in Sexy Posen windende Frau im Auto sensationshungrig fotografieren. Der Unterschied zwischen diesen royalistischen Selbstinszenierungen und früheren popkulturellen Königsfiguren, wie sie zum Beispiel von Madonna (der »Queen of Pop«) oder Elvis Presley (dem »King of Rock ›n Roll«) vertreten werden, kann darin gesehen werden, dass sich die heutigen Stars ausdrücklicher auf königliche Ikonografien und Insignien beziehen.
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sung versuchen »einige andere Nachkommen der Könige und Kaiser, sich dem Trend anzupassen«. (304) Die Populärste unter ihnen ist Miranda von V., die bei ihren Fernsehauftritten nicht nur von ihren blonden Haaren profitiert, sondern auch vom unverkrampften Patriotismus, der die allgemeine gesellschaftliche Stimmung seit Kurzem prägt: »Weil sie eine der Schönsten war und nebenbei stolz, eine Deutsche zu sein, durfte sie nun im Scheinwerferlicht begründen, weshalb Hitler mit dem Bau der Autobahn doch auch Gutes getan habe, weshalb ein unverkrampftes Verhältnis zur Tradition nötig sei usw.« (305) Diese geänderte Haltung gegenüber dem deutschen Adel im Zuge eines unbefangenen Patriotismus wird anhand von Ruschs persönlichem Wandel exemplifiziert. Erneut stellt Rusch seine Wende als einen Weg von Mythos zu Logos vor, darauf deutete schon die Bezeichnung der allgemeinen anti-adligen Stimmung der 68er als »primitiv« (204) hin. Auch ihm sei damals die »geschlossene[…] Welt« (160) des Adels, vor allem der angeberische »Kleinstolz auf die Abstammung«, von dem er selbst jeden Sonntagnachmittag Zeuge war, »peinlich und lächerlich« und überdies »verdächtig« gewesen. (162) Denn seit die Nationalsozialisten die »Ahnenforschung zur Ideologie erhoben und für ihre Verbrechen benutzt« haben, war für Rusch »alles diskreditiert«; »ein unsichtbares Hakenkreuz [lag] über der illustren Reihe«. (162) Tatsächlich wurde der Adelsbegriff von den Nationalsozialisten vereinnahmt. Wie Eckart Conze in seinem Aufsatz »Adel unter dem Totenkopf« darlegt, prägte er vor allem das elitäre Selbstverständnis der SS (und nicht der Massenbewegung der SA) sowie deren völkisch-rassistische Gesellschaftsvorstellungen.106 Dafür griff die SS auf den Neuadelsdiskurs zurück, der sich schon seit dem 19. Jahrhundert herausbildete und besonders in der Weimarer Republik virulent wurde.107 Der Neuadelsdiskurs bezog sich nicht auf den historischen Geburtsadel, der spätestens nach 1918 politisch keine bedeutende Rolle mehr spielte.108 ›Adel‹ avancierte stattdessen zu einem »Suchbegriff«,109 mit dem über den »Neubau«110 der deutschen Gesellschaft nachgedacht wurde. Obwohl das Neuadelskonzept diffus und vielförmig war, war die politische Stoßrichtung immer antidemokratisch und autoritär angelegt111 und oft auch völkisch-biologistisch beladen.112 Wie Conze argumentiert, gab es kaum ein Neuadelskonzept der 1920er und frühen 1930er Jahre ohne »Züchtigungsimperativ«.113 Auch erblickten viele Adlige grundsätzliche Übereinstimmungen zwischen einerseits dem spezifischen Familienund Abstammungsbewusstsein des Adels, dessen Heirats- und Reproduktionspolitik
106 Eckart Conze. »Adel unter dem Totenkopf. Die Idee eines Neuadels in den Gesellschaftsvorstellungen der SS,« in Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Hg. Eckart Conze, Monika Wienfort (Köln: Böhlau, 2004), 151-176, hier: 152. 107 Ebd., 153. Siehe zum Neuadelsdiskurs vor allem die grundlegenden Monografien von Stephan Malinowski und Alexandra Gerstner: Malinowski, Vom König zum Führer; Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhundertwende und Nationalsozialismus (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2008). 108 Conze, »Adel unter dem Totenkopf,« 154. 109 Ebd., 154. 110 Oswald Spengler, Neubau des Deutschen Reiches (München: C.H. Beck, 1924). 111 Conze, »Adel unter dem Totenkopf,« 155. 112 Ebd., 160. 113 Ebd., 161.
5. Von »Preußen-Pest« zu »Preußen-Pop«
auf die Erhaltung des adligen Namens und der Sippe zielt, und andererseits völkischen Prinzipien wie Reinhaltung des Blutes und der Rasse, Auslese und Zuchtwahl.114 Dementsprechend nahmen viele Adelsorganisationen die Voraussetzung des reinen Blutes schon in den 1920er Jahren in ihre Gesetzesparagrafen auf. Conze weist im Anschluss daran auf eine Textstelle aus dem sogenannten Eisernen Buch Deutschen Adels Deutscher Art (EDDA) hin, die alle Adligen zu einer Ahnenprobe aufrief und die ›judenfreien‹ Stammbäume danach publizierte.115 Die SS eignete sich die völkisch beladenen Neuadelsmodelle der Weimarer Republik dann in vulgarisierter Form an. Sie machte die theoretische Debatte über die elitäre Gestaltung der Gesellschaft zum realen Programm, das sie bis 1939 in Deutschland und danach weit über die deutschen Grenzen hinaus umsetzte.116 Mit ihrem rassenhygienischen Ahnen- und Familienkult zielte die SS darauf hin, den Züchtigungsimperativ zur Herausbildung einer neuen gesellschaftlichen Elite in der Realität durchzuführen.117 Im »Lebensborn e.V.« fand dieser Familienkult seinen perversen Höhepunkt.118 Rusch lässt sich durch diese dunkle Episode der Ahnenforschung und Familienpolitik aber nicht mehr abschrecken. Er sei doch nicht für die Missstände der Nationalsozialisten verantwortlich? Bloß der Nazis wegen solle er sich doch nicht den Spaß der Ahnenforschung verderben lassen?: »Soll ich mir das verkneifen, nur weil die Nazis uns die Faszination an den Ahnen versaut und verpestet haben?«, fragt er Schoppe rhetorisch; »Und selbst wenn du Recht hast, wenn die Fingerfahrten auf den Stammlinien nur ein Sport für den autoritären Charakter sind, mir gefällts.« (121) Auch hier erweist sich Delius als Seismograf gesellschaftlicher Entwicklungen, denn tatsächlich gibt es um die Jahrtausendwende auch jenseits adliger Kreise einen riesigen Ahnenmarkt im Internet. »Die lange Zeit verpönte Familienforschung hat den Durchbruch zum Volkssport geschafft und ist nach Sex zum größten Markt im Internet geworden«,119 so eröffnet Der Spiegel sein vierteiliges Dossier »Die Ahnen sind online« (2001). »Jedem seine Dynastie«,120 so titelt DIE ZEIT und bespricht in diesem Artikel den enormen Markt der Ahnenforschungssoftware, die aus den USA nach Deutschland herüberkommt. Der Spiegel macht sogar auf eine Fachzeitschrift mit dem Titel Computergenealogie aufmerksam sowie auf Volkshochschulen, die spezielle Lehrgänge für Web-Ahnenforscher anbieten.121 Wie der Trendbeobachter Rusch notiert: Adel […] ist keine Frage der Ideologie oder des Stolzes, nicht einmal des Blutes, sondern muss eine Marke werden, ein Produkt.« (205)
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Ebd., 159. Ebd., 157. Ebd., 165. Ebd., 171. Siehe zum Lebensborn e.V. z.B. Georg Lilienthal, Der »Lebensborn e.V.«. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik (Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 2003). 119 Jochen Bölsche, »Weihnachten unterm Stammbaum,« Der Spiegel, »Die Ahnen sind online, Teil 1,« 24. Dez., 2001, https://www.spiegel.de/netzwelt/web/die-ahnen-sind-online-teil-1-weihnachten-un term-stammbaum-a-173834.html (abgerufen 11.07.2019). 120 Detlef Borchers, »Bulkware: Jedem seine Dynastie,« DIE ZEIT, 18. Juli, 1997, https://www.zeit.de/19 97/30/bulk30.txt.19970718.xml (abgerufen 11.07.2019). 121 Bölsche, »Weihnachten unterm Stammbaum.«
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Damit sich alle Kreise schließen Abschließend kann man folgern, dass sich der ›historische Gegenwartsroman‹ Der Königsmacher als ein kulturelles Archiv der 1990er Jahre erweist. Der Text bezieht sich auf ein Konglomerat von Diskursen und Phänomenen, die sich nach der deutsch-deutschen Vereinigung herauszubilden begannen: Geschichtsboom und Preußen-Hype, Popliteratur und Fräuleinwunder, Literatur- und Medienbetrieb, konstruktivistische Gendertheorie, autoritäre und monarchische Phantasien, neues rechtes Denken usw. Das Prinzip der bricolage, das Der Königsmacher besonders im Hinblick auf Preußen in den Mittelpunkt stellt, ist somit nicht nur Thema, sondern auch grundlegendes Textverfahren des Romans. Dass der Text auf diese Weise gerade das macht, was er kritisiert, mag irritieren. Es entspricht aber auch, so könnte man argumentieren, Delius’ Verständnis von Literatur, deren Aufgabe er darin sieht, Widersprüche nicht glattzubügeln, sondern zuzuspitzen.122 Gerade diese irreduzible Mehrdeutigkeit, die sich einer ideologischen Vereinnahmung widersetzt, betrachtet Delius als die Besonderheit von Literatur.
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Christian Frankenfeld, »Friedrich Christian Delius’ Poetik des Utopischen: Wider die ›Ja-NeinMensch-Maschine‹,« in Poetologisch-poetische Interventionen. Gegenwartsliteratur schreiben, Hg. Alo Allkemper, Norbert Otto Eke, Harmut Steinecke (Paderborn: Wilhelm Fink, 2012), 161-184, hier: 167.
6. Das Berliner Schloss: Mythologisches Relikt in einer mythenarmen Zeit Nichts heilt, dachte sie. Nicht wirklich. Der Schmerz bleibt, und keine Wunde schließt sich. Und dann? – Thomas Hettche, Nox1
Deutschlands leere Mitte Als der konservative Publizist und Hitler- und Speerbiograf Joachim Fest fast zeitgleich mit der Feier der deutschen Wiedervereinigung den notorisch gewordenen Essay »Denkmal der Baugeschichte und verlorenen Mitte Berlins. Das Neue Berlin, Schloß oder Parkplatz? Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses« am 3. November 1990 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichte, löste dies ein gewaltiges, sich über viele Jahre hinziehendes und auch heute keineswegs verstummtes Medienecho aus.2 Ganz, als erfüllte er ein allgemeines Verlangen, plädierte Fest für den Wiederaufbau des im Auftrag des SED-Chefs Walter Ulbricht 1950 gesprengten Berliner Schlosses und setzte sich damit an die Spitze der sogenannten kritischen Rekonstruktionsbewegung. Anders als der Name vermuten lässt, scheint diese in ihren städtebaulichen Plänen vor allem für den Bezirk Mitte eine zweite Gründerzeit heraufbeschwören zu wollen, die die palimpsestartige Heterogenität Berlins in eine homogene museale Kulisse umformen soll:3 »Das Stadtbild verlangt an dieser Stelle einen Raumkörper, der die beziehungslosen Bauteile um den Lustgarten wieder verklammert. […] Ernst zu nehmen sind die sowohl in Berlin selber als auch weit darüber hinaus inzwischen laut gewordenen Stimmen, die für einen Wiederaufbau des Schlosses plädieren.«4 1 2
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Hettche, Nox, 117. Dieses Kapitel erschien in einer leicht abgewandelten Fassung in Arcadia 54, 2 (2019): 257-278. Es wurde 2018 geschrieben und bezieht sich auf damals laufende Diskussionen sowie auf meinen eigenen Besuch der ›Humboldt-Box‹ im Juni 2017. Faktische Updates (bis Juli 2021) werden besonders in den Fußnoten vorgenommen. Assmann, Geschichte im Gedächtnis, 133; Huyssen, »The Voids of Berlin,« 62, 71. Joachim Fest, »Denkmal der Baugeschichte und verlorenen Mitte Berlins. Das Neue Berlin, Schloß oder Parkplatz? Plädoyer für den Wiederaufbau des Schlüterschen Stadtschlosses,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Nov., 1990.
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Ein Jahr später stellte sich der »Nestor der deutschen Architekturkritik«5 und Preußen-Fan Wolf Jobst Siedler auf die Seite Fests, ebenfalls mit einem epochemachenden Essay unter dem an Kafkas Schloss-Roman6 erinnernden Titel »Das Schloß lag nicht in Berlin – Berlin war das Schloß«7 und mit einer ebenso aufrüttelnden Sprache. Siedler übernimmt nicht nur Fests schon im Titel zentral gestellte elegische Trauerarbeit an der ›verlorenen Mitte‹. Er schreibt auch die ›Mitte‹ beziehungsweise das ›Herz‹ Berlins metonymisch zur Mitte der neuen ›Berliner Republik‹ um.8 Mit »Melancholie und Resignation«9 plädiert der Verfasser von Abschied von Preußen (1991) und Der Verlust des alten Europa (1996) für den Wiederaufbau des Berliner Schlosses, das kryptisch aufzubewahren scheint, was nicht (mehr) zugängig ist: »Keine Wiederherstellung wird das […] Vernichtete wiedergewinnen können, […] und wenn man tausend Einzelteile findet, die man in den Neubau einfügt. Aber es gibt keine andere Möglichkeit, die Stadt als Stadt zu retten«.10 »Ich glaube nicht, daß ein moderner Bau in der Lage ist, diese Lücke zu füllen.«11 Tatsächlich ist die Rhetorik der ›verlorenen‹ oder ›leeren Mitte‹ der deutschen Hauptstadt der zentrale Topos, um den die Stadtschlossdebatte kreist.12 Wie Dieter Hildebrandt bemerkt, war der Platz zwischen den beiden Spreearmen aber zunächst gar nicht so ›leer‹, sondern wurde zum Teil durch die klotzige Glaskonstruktion des Palastes der Republik eingenommen,13 die trotz heftigen Protestes vieler Palastfreunde zwischen 2006 und 2008 zugunsten der barocken Fassaden des Hohenzollernschlosses abgerissen wurde. Merkwürdigerweise ist es aber fast immer nur dieser ehemalige Schlossplatz, der in den urbanen Gestaltungsdebatten als ›leer‹ oder »kaputt« bezeichnet wird: »Berlin ist ohne das Schloß kaputt. Wenn man aus den Linden kommt, fällt man in ein Loch«.14 5 6
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Wolf Jobst Siedler, Phoenix im Sand. Glanz und Elend der Hauptstadt (München: Goldmann, 2000), Klappentext. Vgl. Kafka, Das Schloss (Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld, 2014 [1926]), 2: »Dieses Dorf ist im Besitze des Schlosses, wer hier wohnt und übernachtet, wohnt und übernachtet gewissermaßen im Schloß.« Wolf Jobst Siedler, »Das Schloß lag nicht in Berlin – Berlin war das Schloß,« in Abschied von Preußen (Berlin: W.J. Siedler, 1991), 122-137. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 12. »Es herrscht totale Wüste. Die Architekturkritiker Buddensieg und Siedler streiten über den Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses,« Interview mit Wolf Jobst Siedler und Tilmann Buddensieg, Der Spiegel 51, 14. Dez., 1992, 195-206, hier: 195, https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682 595.html (abgerufen 12.03.2018). Wolf Jobst Siedler, »Das Schloß soll wieder her! Die Stadt braucht ihren architektonischen Mittelpunkt,« Merian Extra. Hauptstadt Berlin, 13. Sept., 1991, 80-98, hier: 98. 11»Es herrscht totale Wüste«, 195. In ihrer Analyse der in der Stadtschlossdebatte verhandelten Königsphantasien bezeichnet Breger »die ortlose Mitte der künftigen Berliner Republik« als »zweifellos ein[en] zentrale[n] Topos der Debatte.« Breger, Szenarien kopfloser Herrschaft, 459. Dieter Hildebrandt, »Das Schloss und seine Fluchten,« in Das Berliner Schloss. Deutschlands leere Mitte (München: Carl Hanser, 2011), 9-15, hier: 11. Ilka Piepgras, »Wenn man aus den Linden kommt, fällt man in ein Loch. Das Plädoyer prominenter Protagonisten für die Renaissance des Berliner Stadtschlosses titulieren Gegner als pure ›Gemütspflege‹,« Berliner Zeitung, 9. April, 1992.
6. Das Berliner Schloss
Die Verbissenheit und Leidenschaft, mit der die Rekonstruktionsdebatte von Historiker*innen, Politiker*innen, Journalist*innen und Bürger*innen angefacht wurde und wird, zeigt, dass es sich dabei keineswegs um eine rein ästhetische oder städtebauliche Formfrage handelt, auch wenn uns der Gründer des Fördervereins Berliner Schloss e. V., der Hamburger Kaufmann Wilhelm von Boddien, die Debatte dezidiert als eine unpolitische vorspiegelt: »Mir geht es nämlich nicht um Politik, sondern um Ästhetik.«15 Sie ist vielmehr symptomatisch für die schwierige Identitätssuche der neuen Berliner Republik, in der Berlin als Stadt der ehemaligen Teilung und Bühne des Mauerfalls zur »Repräsentantin der ›ganzen Nation‹« avancierte.16 Für diese »Wiedererfindung der Nation«17 brachte der neue Nationalstaat kaum neue Selbstbilder hervor, sondern bezog sich – nach einer Epoche nationaler Geschichtsaskese, für die die architektonische Schmucklosigkeit der ehemaligen bundesrepublikanischen Hauptstadt Bonn exemplarisch war – auf die vermeintlich integrative Kraft tradierter Bilder aus den Schatzkammern Preußens, die schon durch den Regierungsumzug in die preußisch-deutsche Metropole Berlin angeboten wurden.18 In diesem Sinne ist die Rekonstruktion des Berliner Schlosses zugleich ein Projekt zur Schaffung eines »Symbol[s] für die Einheit«,19 so Günther de Bruyn, eines »Wahrzeichen[s] des wiedervereinigten Deutschlands […], in dem sich die Berliner Republik […] wird erkennen können.«20 Wie Andreas Huyssen argumentiert, ist der Rückgriff auf die ›lange‹ deutsche Geschichte nicht als Fin de Siècle-Syndrom oder Merkmal postmodernen Pastiches wahrzunehmen, sondern vielmehr als Symptom jener in die Krise geratenen Zeitstruktur, die der Epoche der Moderne eigen war und sich durch festen Fortschrittsoptimismus, creatio ex nihilo-Phantasien und einen utopischen Glauben an ein Telos der Geschichte kennzeichnete.21 Nicht Beschleunigung und Flüchtigkeit, sondern ein Verlangen nach Kontinuität und Stabilität, nicht die rasenden Zeiger einer immer mehr staccato tickenden Uhr, sondern der Wunsch nach einer reizlosen Zone als Refugium gegen das ›jetzt jetzt jetzt‹ scheinen die zugrunde liegenden Motive für den Wiederaufbau des monumentalen Schlosses zu sein. Dieses Verlangen äußert sich in den Kommentaren im Gästebuch der Humboldt-Box,22 in der Besucher*innen die Fortschritte der Rekonstruktion verfolgen können, aber vor allem unablässig aufgefordert werden, ihre ›Bürgerpflicht‹ zu erfüllen, das heißt zu spenden. Nicht nur versuchen sie kritzelnd und 15 16 17 18 19 20
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Zitiert nach Gisela Karan, Der Palast muß weg, weg, weg! (Berlin: Spotless, 1994), 80. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 187-188. Assmann, Geschichte im Gedächtnis, 180. Ebd., 111, Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 187. Anna-Inés Hennet, Die Berliner Schlossplatzdebatte im Spiegel der Presse (Berlin: Verlagshaus Braun, 2005), 43. Andreas Kilb, »Ein Schloss für Humboldt,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25. März, 2008, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/berlin-ein-schloss-fuer-humboldt-1510839.html (abgerufen 12.03.2018). Andreas Huyssen, »Introduction. Time and Cultural Memory at Our Fin de Siècle,« in Twilight Memories, 1-12, hier: 6; Andreas Huyssen, »Present Pasts: Media, Politics, Amnesia,« in Present Pasts, 1129, hier: 27. Die Humboldt-Box wurde Dezember 2018 geschlossen und Anfang 2019 abgebrochen. Die hier verwendeten Zitate aus dem Gästebuch der Humboldt-Box stammen aus der Periode Januar-Mai 2017 (Einsicht am 1. Juni 2017).
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krakelnd dem Zahn der Zeit zu entkommen – auch ein frivoler Krähenfuß ist immerhin ein vitales Lebenszeichen, das den Verfasser außerdem, und vielleicht ungewollt, zum Mitglied einer kommunikativen Gemeinschaft macht.23 Vor allem aber zeugen die Kommentare von diesem dur désir de durer (Paul Eluard), indem sie immer wieder den Wunsch ausdrücken, zu werden, was man immer schon gewesen ist. Diese Futur IIStruktur, so argumentiert die Philosophin Aukje van Rooden mit Walter Benjamin und Jacques Derrida in ihrer 2010 veröffentlichten Dissertation über Jean-Luc Nancy, bildet die grammatische und temporale Struktur des Mythos.24 Indem versprochen wird, dass etwas ›(immer so) gewesen sein wird‹, wird eine transhistorische Beständigkeit, eine überzeitliche Gemeinschaft geschaffen, die den von Kontingenz bestimmten Verlauf der Geschichte verschleiert.25 »Die nachfolgenden Generationen werden es uns danken!«, jubelt ein ›Kreuzberger‹ im Gästebuch; »Was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen«, prophezeit ein gewisser Bernd Thomsen mit Goethes Faust. Nicht weniger ominös fasst es das ehemalige CDU-Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses Klaus-Rüdiger Landowsky in Worte: »Wenn man nicht weiß, wo man herkommt, weiß man nicht, wohin man will.«26 Der langjährige Protest gegen den Bau der sogenannten Einheitswippe auf dem Schlossplatz – andere sprachen gar von einer ›Obstschale‹ oder ›Bundesbanane‹ –, die die friedliche Revolution des 9. Novembers 1989 symbolpolitisch aufbereiten soll, ist exemplarisch für dieses Verlangen nach geschichtlicher Kontinuität und den Rückgriff auf die lange deutsche Geschichte: »Berlin bekommt das Denkmal, das keiner will«,27 titelt die Welt 2017.28 Gegenüber 16 Prozent, die sich nach einer Umfrage für das Denkmal Bürger in Bewegung entschlossen hatten, entschieden sich 43 Prozent für einen vereinfachten Wiederaufbau der preußischen Säulenkolonnaden, die dort bis zu ihrem Abriss nach dem Zweiten Weltkrieg gestanden hatten.29 Die Stadtschlossdebatte lässt sich zudem als Ausdruck eines neuen Patriotismus verstehen, der nach einer Zeit der Geschichtsenthaltung oder aber intensiven Vergangenheitsbewältigung darauf abzielt, komplexlos, ja stolz sogar, in die ›eigene‹ Geschichte ›heimkehren‹ zu können. Anders als der von Norman Foster entworfene Reichstag,
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Vgl. Arne De Winde, »›Bedankt, Fernand!‹ – De kunst van het gastenboek,« rekto:verso 76, 1. Juni, 2017, https://www.rektoverso.be/artikel/bedankt-fernand--de-kunst-van-het-gastenboek (abgerufen 12.03.2018). Aukje van Rooden, L’Intrigue dénouée. Politique et littérature dans une communauté sans mythes (Würzburg : Ergon, 2010), 10. Ebd., 10. Klaus-Rüdiger Landowsky, interviewt von Arne Riepe am 6. März 2007, in Palast der Republik. Politischer Diskurs und private Erinnerung, Hg. Alexander Schug (Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2007), 266-269, hier: 267. Marcel Reich, »Einheitswippe. Berlin bekommt das Denkmal, das keiner will,« Die Welt, 2. Juni, 2017, https://www.welt.de/kultur/article165175784/Berlin-bekommt-das-Denkmal-das-keiner-w ill.html (abgerufen 12.03.2018). Der Bau der Einheitswippe hat am 19. Mai 2020 begonnen. Rainer Haubrich, »Nur 16 Prozent der Bürger wollen die Einheitswippe,« Die Welt, 28. Mai, 2017, https://www.welt.de/politik/deutschland/article165019564/Nur-16-Prozent-der-Buerger-wolle n-die-Einheitswippe.html (abgerufen 12.03.2018).
6. Das Berliner Schloss
dessen collagenartige Zusammenführung der wilhelminischen Prunkfassaden mit einer hypermodernen Glaskuppel die unauflösbare Spannung zwischen einer imperialen Vergangenheit einerseits und einer auf Transparenz und Offenheit zielenden demokratischen Gegenwart andererseits verkörpert, oder das Jüdische Museum des Architekten Daniel Libeskind, das mit seinen verzerrten Formen, unterbrochenen Linien und Leerstellen die diskontinuierliche und dissonante Geschichte Berlins geradezu räumlich weiterschreibt,30 problematisiert die detailgetreue Rekonstruktion des Berliner Schlosses das Verhältnis zur nationalen Vergangenheit keineswegs, sondern simuliert eine lückenlose geschichtliche Kontinuität. »Deutschland sollte seine Hauptstadt mit Glanz und Gloria zurückbekommen«, schreibt Ralf Weisse Tue am 14. Februar 2017 im virtuellen Gästebuch des Fördervereins Berliner Schloss e. V.31 »Etwas mehr Patriotismus würde Deutschland gut tun«, findet auch Alexander K Thu: »Es gibt in meinen Augen keinen Grund dafür, die Preußen für die Verbrechen der Nationalsozialisten zu bestrafen.«32 Die Verwendung des bestimmten Artikels ›die‹ unterstreicht den vereinfachenden und homogenisierenden Umgang mit der komplexen preußischen Geschichte, die so zum phantasmatischen, großenteils ahistorischen Identitätskonstrukt avanciert.
Projektionsfläche Die Stadtschlossdebatte ist nicht nur aufschlussreich für die geschichtspolitische Frage, an welche Bilder der neue Nationalstaat in einer Zeit der Globalisierung anknüpfen möchte. Immerhin gibt es zahlreiche andere Beispiele, die Preußens Comeback nach der deutschen Vereinigung belegen können, entweder als ›tugendhaftes‹ Antidot zum vermeintlichen Werteverfall, der politischen Korruption und dem Verlust kollektiver Identität, oder aber als Emblem für eine liberale und tolerante Politik.33 Die Debatte ist auch besonders geeignet für eine Analyse der imaginären Mechanismen und Fiktionalisierungsstrategien, mit denen sich ein (nationales) Gemeinwesen überhaupt erst als solches konstituieren kann: »Allein damit sich eine Ansammlung von Individuen als kollektiver Agent begreifen kann, um sich überhaupt institutionsfähig zu machen,
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Vgl. Andreas Huyssens Analyse des Jüdischen Museums in Berlin, dessen ›diskontinuierlicher Architektur‹ er die homogenisierenden Zielsetzungen der kritischen Rekonstruktionsbewegung entgegensetzt. Huyssen, »The Voids of Berlin,« besonders: 66-71. Eine andere Interpretation bietet Rolf J. Goebel in seinem anregenden Aufsatz »Berlin’s Architectural Citations: Reconstruction, Simulation, and the Problem of Historical Authenticity«. Goebel bezeichnet das Berliner Schloss zusammen mit u.a. dem Reichstag, dem Jüdischen Museum, dem Sony Center am Potsdamer Platz und den Friedrichstadt-Passagen als postmodernes »architekturales Zitat«, das die Idee historischer Linearität selbstbewusst unterbricht. Grund dafür sei vor allem die Inkongruenz zwischen den barocken Fassaden und der für moderne Zwecke genutzten Innenseite. Rolf J. Goebel, »Berlin’s Architectural Citations: Reconstruction, Simulation, and the Problem of Historical Authenticity,« PMLA 118, 5 (Okt., 2003): 1268-1289, https://www.jstor.org/stable/1261464 (abgerufen 12.03.2018). Ralf Weisse Tue, Gästebuch. Förderverein Berliner Schloss e. V., Eintrag am 14. Februar, 2017, http s://berliner-schloss.de/aktuelle-infos/gaestebuch/ (abgerufen 12.03.2018). Alexander K Thu, ebd., Eintrag am 14. Februar, 2017, https://berliner-schloss.de/aktuelle-infos/gae stebuch/ (abgerufen 12.03.2018). Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947, 12.
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ist eine Reihe von schöpferischen ästhetischen Prozeduren erforderlich«,34 so Albrecht Koschorke in Der fiktive Staat (2007). Politik und Ästhetik sind also keineswegs, wie der Schlossbefürworter Boddien behauptet, voneinander zu trennen, sondern bedingen sich wechselseitig. »Es müssen Vorstellungen von Einheit und Ganzheit geschaffen werden«, so Koschorke weiter, »über deren Vermittlung die Beteiligten erst rückwirkend zu einem Selbstverständnis, zu einem Eigenbild finden.«35 Nicht nur eignet sich Architektur an sich schon besonders dafür, solche Bilder der Einheit zu vermitteln. Als »Anschauungsobjekt« transformiert das Schloss die Komplexität des preußischen Erbes »in eine bildhafte Vagheit und Oberflächlichkeit«, die gerade die Voraussetzung für vielfältige Identifikations- und Projektionsstrategien ist, wie Grabbe argumentiert.36 Auch demonstrieren die spezifischen Rekonstruktionsbedingungen – nur die Schlossfassaden werden detailgetreu wiederaufgebaut – die trügerische und verführerische Kraft des politischen Imaginären: So wie die richtungsweisenden Begriffe einer politischen Ordnung wie ›Nation‹ oder ›Gemeinschaft‹ an sich bedeutungsleere Signifikante sind und mit dem nationalen Imaginären erst gefüllt werden müssen, um wirkungsvoll zu werden,37 so verheißt das Schloss als »leeres Zeichen«38 (FAZ) paradoxerweise Bilder der Ganzheit und »Fülle«,39 jener fehlenden Positivität, die eine Gemeinschaft als notwendige Fiktion beständig von sich selbst entwerfen muss, um überhaupt Bestand zu haben. Diese Diskrepanz zwischen Leere und (trügerischer) Fülle weist zudem interessante Parallelen zu Franz Kafkas 1926 postum veröffentlichten Romanfragment Das Schloss auf. Während K. beim entfernten Anblick von Schloss und Schlossturm an den Kirchturm seiner Heimatstadt denken muss, der »bestimmt, ohne Zögern, geradewegs«40 in die Höhe ragt, verliert das Schloss im Näherkommen allmählich seine festen Konturen. Zunächst »deutlich umrissen« erweist es sich bei näherer Betrachtung als »nur ein recht elendes Städtchen, aus Dorfhäusern zusammengetragen, […] der Anstrich war längst abgefallen und der Stein schien abzubröckeln.«41 Der Schlossturm hat »etwas Irrsinniges«; seine Mauerzinnen »[zackten sich] unsicher, unregelmäßig, brüchig, wie von ängstlicher oder nachlässiger Kinderhand gezeichnet«,42 in den Himmel. Das anfangs fest umrissene Bild zerfällt in ein Wirrwarr von unklaren Linien und Strichen. Fungiert das Schloss zunächst als eine Identität generierende (»Heimatstadt«) Projektionsfläche, die »[i]m ganzen […] K.‹s Erwartungen [entsprach]«, so wird diese iden-
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Koschorke, Lüdemann, Frank, Matala de Mazza, »Vorwort,« in Der fiktive Staat, 11. Ebd., 11. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 191. Philipp Sarasin, »Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der imagined communities,« in Politische Kollektive. Die Konstruktion nationaler, rassischer und ethnischer Gemeinschaften, Hg. Ulrike Jureit (Münster: Westfälisches Dampfboot, 2001), 22-45, hier: 27. Mark Siemons, »Berliner Symbolpolitik. Stadt der leeren Zeichen,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Juni, 2017, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/berliner-symbolpolitik-stadt-der-lee ren-zeichen-15035423.html (abgerufen 12.03.2018). Siedler bezeichnet das Schlossareal als »Ort der Fülle«. Siedler, Das Schloss soll wieder her!«, 91. Kafka, Das Schloss, 15. Ebd., 14. Ebd., 15.
6. Das Berliner Schloss
tifizierende Bewegung schon schnell gestört: »Aber im Näherkommen enttäuschte ihn das Schloß.«.43 Ist K. anfänglich völlig auf das Schloss fixiert (»Nichts sonst kümmerte ihn.«44 ), so zerbröckelt das Schloss-Phantasma im Näherkommen und stellt sich als »irrsinniges« Hirngespinst heraus. Um die gemeinschaftsstiftende Illusion von Einheit und Ganzheit aufrechtzuerhalten, verwenden die Schlossbefürworter eine ästhetisch-mythologische, sogar religiöse Sprache, die einen Wahrheitsanspruch erhebt, indem sie Vorstellungen der (verlorenen) Ursprünglichkeit, Kontinuität und Synthese wie auch Begriffe wie ›Gesamtkunstwerk‹, ›Sünde‹ und ›Versöhnung‹ in den Vordergrund rückt. Mit diesem mythologischen Vokabular versuchen sie die bedrohliche Kontingenz der Geschichte zu bewältigen, das Ganze als Ganzes zu denken: kein offenes Ende, sondern ein überschaubares Plot. Im Gegensatz zur geläufigen Behauptung, dass Preußen »politisch tot«,45 da »der Mythos zu blass geworden«46 sei, wird hier anhand der Stadtschlossdebatte noch einmal vorgeführt, dass Preußen ein Beispiel des mythologischen Rests in unserer angeblich mythenarmen, postfundamentalistischen Gesellschaft ist.
Sei dabei! Schon ein kurzer Einblick in die zahllosen Zeitungsberichte, Feuilletons, Essays, Podiumsgespräche und Interviews macht deutlich, dass es in der Debatte eine Konstante gibt: In einer Zeit der politischen und existentiellen Obdachlosigkeit soll das Schloss als zentraler Ort der Identifikation fungieren, an dem nicht nur die Nation, sondern auch der einzelne Bürger ›sich finden‹ kann.47 Nicht nur wird das Schloss zum »Gesinnungsprüfstand«48 der Berliner Republik erklärt; der Anblick der barocken Fassaden soll auch dem nach Sinn lechzenden Individuum einen vertrauten Orientierungspunkt in »den massenhaft entstandenen, modernen Quartieren der Mitte der Stadt«49 bieten können. Unermüdlich regt uns darum Boddien im monatlichen Berliner Extrablatt des Fördervereins Berliner Schloss e. V. dazu an, uns am »Spenden-Countdown« zu beteiligen. Die Spendenaktion ›Herkules‹ – »neu!« – braucht »jetzt«, in diesem »gewaltige[n],
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Ebd., 14. Ebd., 14. Klaus von Beyme, »Preußen als Kulturnation,« in Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, Hg. Christian Jansen, Lutz Niethammer, Bernd Weisbrod (Berlin: Akademie Verlag, 1995), 189-203, hier: 200. Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, 223. Münkler argumentiert zudem, dass es nach 1989 keine politischen Mythen mehr gebe; sie seien von Schlagzeilen und Werbekampagnen abgelöst worden: 477ff. Roland Barthes, »Stadtzentrum, leeres Zentrum,« in Das Reich der Zeichen, aus dem Französischen von Michael Bischoff (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981), 47-50, hier: 47. Klaus Hartung, »Eine Stadt hofft auf Heilung,« DIE ZEIT, 19. Juli, 2001, https://www.zeit.de/2001/3 0/Eine_Stadt_hofft_auf_Heilung (abgerufen 12.03.2018). Wilhelm von Boddien, »So weit sind wir jetzt: Das Berliner Schloss – Humboldt Forum ist im Bau,« Förderverein Berliner Schloss e. V., https://berliner-schloss.de/aktuelle-infos/wo-stehen-wir-heuteder-sachstand/ (abgerufen 12.03.2018).
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anstrengende[n] Schlussspurt«, noch 520 Spenden von jeweils 500 €, die ›Spendengemeinschaft 70 Jahre Schloss-Sprengung‹ sucht für das ›Fama Portal IV außen‹ nur noch 420 Mäzene, und mit einer großzügigen Spende von 9000 € kann man sich der stolzer Besitzer des ›Widderkopf[es] mit Girlande‹ nennen – »wohlan denn!«.50 Zudem kann man den ganzen Fassadenkatalog über die Website des Fördervereins durchblättern und sich so »ein ganz auf Sie zugeschnittenes, individuelles Fassadenelement sichern«,51 alles natürlich steuerlich abzugsfähig. Für 20 € können Besucher*innen der Humboldt-Box einen Punkt auf ›ihren‹ Maquettenbaustein kleben und sich für diese Tat mit einer Spendenmedaille belohnen – für 29,90 €, »ein Muss für alle Schloss-Fans«. All diese Spendenaktionen sollen es ermöglichen, das Schloss »auch zu Ihrem Schloss« zu machen – sogar Kinder werden aufgefordert, ›sich ihr Schloss zu malen‹52 – und in diesem historischen Augenblick »dabei« zu sein:53 »Machen Sie Geschichte!«54 Die Schlossrekonstruktion scheint so zunächst eine Projektionsfläche für Phantasien über (vergangene) Macht und Größe zu bilden. Tatsächlich träumen viele Besucher*innen der Humboldt-Box im Gästebuch von einem gegenwärtigen »Spree-Athen« durch die Rückkehr des »größten Barockbaus nördlich der Alpen« oder hoffen durch das Schloss mit anderen europäischen Metropolen wie Rom oder Paris konkurrieren zu können. Die zu Kauf angebotenen individuellen Fassadenelemente erweisen sich in dieser Hinsicht als Fetische, die einen vermeintlich verloren gegangenen Zustand ersetzen sollen, auch wenn die offenkundige Teilnahme am kapitalistischen Spiel der PreußenVermarktung den auratischen Bann einer wiederzubelebenden heroischen Vergangenheit zu unterwandern droht. Als in sich selbst geschlossene Ornamente, die das Fehlen eines ›Kerns‹ kaschieren, erinnern die feilgebotenen Kapitelle, Frontons und Arkaden vage an die überfüllte Theaterbühne des von Walter Benjamin beschriebenen deutschen Trauerspiels. So wie die exzessive Häufung von Bühnenrequisiten im bürgerlichen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts die zurückgezogene göttliche Transzendenz zurückzuholen sucht, sollen die Fassadenelemente des Schlosses die vermeintliche identitäre Leere füllen. Zudem zielt die oben skizzierte ›gemeinsame‹ Schlossrekonstruktion darauf hin, eine inklusive Gemeinschaft von »Schloss-Freunden« entstehen zu lassen – FundraisingDinners und Benefizabende (mit Eintrittskarte) festigen die Freundschaftsbande –, die einen partizipatorischen Kontrapunkt gegen existierende politische und institutionelle Gemeinschaftsformen, Globalisierung und postdemokratische Tendenzen bildet.55 Mit der auf den ersten Blick widersprüchlichen Vorstellung des preußischen Schlosses 50 51 52 53 54 55
Berliner Extrablatt. Neueste und gründliche Informationen zum Bau des Humboldt Forums in der Gestalt des Berliner Schlosses 87 (April, 2017): 56, 59. Boddien, »So weit sind wir jetzt«. Humboldt Forum 1, Juni 2017, 32. Bernd Wolfgang Lindemann, »Wie Original ist das Original? Wie rekonstruiert ist die Rekonstruktion? Das Portal IV des Berliner Schlosses,« Berliner Extrablatt 87: 12-17, hier: 17. »Ihre Spende macht es möglich,« Förderverein Berliner Schloss e. V., https://www.secure.berlinerschloss.de/ (abgerufen 12.03.2018). Vgl. Bart Philipsen, »Vijftig jaar na Publikumsbeschimpfung, een pleidooi voor afstand,« rekto:verso 76, 1. Juni, 2017, https://www.rektoverso.be/artikel/vijftigjaarnapublikumsbeschimpfun geenpleidooivoorafstand (abgerufen 12.03.2018).
6. Das Berliner Schloss
als »Schloss der Demokratie«, das ein »Wir-Gefühl« vermitteln soll,56 greift Boddien clever das postdemokratische Klagelied über die vermeintliche Kluft zwischen Bürgern und Politikern auf, das auch im Gästebuch immer wieder angestimmt wird. Die Politiker*innen werden zwar von den Bürger*innen legitimiert, letztere fühlen sich aber nicht mehr von ihnen repräsentiert. Boddien lässt keine Gelegenheit aus, um auf diese Spaltung hinzuweisen. Ihm zufolge steht in der erhitzten Debatte um die bauliche Organisation des Schlossumfeldes die »kurzsichtige Überheblichkeit vereinzelter« (sprich: linksorientierter, ›politisch korrekter‹) »Politikerinnen und Politiker« im schroffen Gegensatz zum »bürgerschaftliche[n] Engagement« der Berliner,57 die letztendlich doch die ›souveränen Bauherren‹58 seien. Der Freundeskreis des Berliner Schlosses hört dagegen wohl auf die Nöte und Wünsche der von der Politik ausgeschalteten Bürgerklasse. Jedes ›Infobrett‹ in der Humboldt-Box über noch laufende Diskussionen wie die Gestaltung der Schlossumgebung (mit oder ohne Neptunbrunnen, mit oder ohne ›Rossebändiger‹) oder der Kuppel (mit oder ohne Kreuz) wird mit der – allerdings rhetorischen – Frage, »Was sagen Sie dazu?« abgeschlossen. Mit dieser populistischen Strategie, die auch von der heutigen Generation twitternder Politiker*innen taktisch eingesetzt wird, versuchen die Schlossfreunde eine verschwörerische Nähe, die Illusion eines selbstverständlichen und nicht-hinterfragbaren Konsenses wachzurufen. Solche ›inklusiven‹ und ›partizipatorischen‹ Erzählungen über eine konfliktlose Gemeinschaft Gleicher tun aber dem öffentlichen Raum Gewalt an, kolonisieren ihn mit latenten Wir-Sie-Projektionen.59 Denn mit einem auf die preußischdeutsche Vergangenheit ausgerichteten Identitätsangebot wird denjenigen der Zugang verweigert, die diese Geschichte nicht als die ›ihrige‹ betrachten können, wie Beate Binder argumentiert.60 Was für eine Gemeinschaft soll sich hier formieren, die ihre Identität aus einer Schlossfiktion herleitet? Ist ein Schloss nicht per definitionem ›verschlossen‹, da nur eine sehr beschränkte soziale Gruppe Zutritt hat? Boddien behauptet im Programm des Fördervereins allerdings das Gegenteil: »Das Schloss wird die Bürger mit dem Wiederaufbau der Stadt versöhnen, findet doch jeder nun seine bauliche Heimat«61 in Berlin. Es ist genau diese Ausblendung der fundamentalen Differenz und Kontingenz einer Gemeinschaft zugunsten eines repräsentativen Narrativs, die die latente Gewalt der politischen Ordnung ausmacht. Damit der grundsätzlich performative und fiktionale Ursprung des ›Wir‹ nicht ontologisch festgeschrieben und letztendlich vergessen wird, ist es wichtig, die diskursive und rhetorische Verfasstheit einer solchen ›evidenten‹ Gemeinschaftsform zu ermitteln und entwirren.
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Lothar Heinke, »Die aktuelle Frage: Chancen für das Schloß?,« Der Tagesspiegel, 1. Feb., 1993, zitiert nach Anna-Inés Hennet, »Die Berliner Schlossplatzdebatte. Die Geschichte einer Identitätssuche,« in Schug, Palast der Republik, 54-66, hier: 58. Manfred Rettig, »Das Humboldt-Forum und sein Umfeld – eine Vision?,« Berliner Extrablatt 87, 32. Lothar Heinke, »Schloß im Kopf,« Der Tagesspiegel, 19. Sept., 1994, zitiert nach Hennet, »Die Berliner Schlossplatzdebatte,« in Schug, Palast der Republik, 54-66, hier: 59. Vgl. Philipsen, »Vijftig jaar na Publikumsbeschimpfung, een pleidooi voor afstand«. Beate Binder, »›Städtebau ist Erinnerung‹. Zur kulturellen Logik historischer Rekonstruktion,« in Palast der Republik, 179-191, hier: 189. Boddien, »So weit sind wir jetzt«.
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»Eine Wunde wird geschlossen« Tropen und Metaphern sind nie neutral, geschweige denn unschuldig,62 obgleich ihre Bildhaftigkeit oft derart evident erscheint, dass wir diese gar nicht mehr wahrnehmen. Sie sind nicht nur linguistische Phänomene, sondern können auch als Denkwerkzeuge betrachtet werden, als mentale Repräsentationen, die das Gemeinwesen vorstellbar und diskursiv verfügbar machen.63 In diesem Sinne ist es vielsagend, dass in der Debatte um das Berliner Schloss der Schlossplatz von allen Akteuren immer wieder als ›leere Mitte‹, als ›ortlos‹, ›unvollkommen‹ und ›kaputt‹ imaginiert wird. Das ›Loch‹, das durch den Abriss des Palastes der Republik 2008 tatsächlich als Baulücke entstand, aber – wie Grabbe bemerkt – bereits davor die »ideologische Leerstelle«64 repräsentierte, die der ungenutzte Palast der Republik nach Auflösung der DDR verkörperte, soll durch den Wiederaufbau des Schlosses ›gefüllt‹ oder ›geschlossen‹ werden und so den metaphorischen Schlussstein der schwierigen deutschen Identitätssuche bilden: Mit dem Berliner Schloss wird »die letzte, große teilungsbedingte Lücke im Stadtbild Berlins geschlossen sein«,65 so heißt es im Programm des Fördervereins Berliner Schloss e. V. Auch der (emotionale, gar pathetische) Abschlussbericht der Internationalen Expertenkommission Historische Mitte zeugt von diesem Hang nach Ganzheit, Schließung und Vollendung: »So ist es an der Zeit, den Kreis zu schließen und ein vor fünfzig Jahren, in einer drückenden Notzeit begonnenes Aufbauwerk zu Ende zu führen«.66 Im wiederaufgebauten »Ensemble« von Zeughaus, Universität, Friedrichsforum, Neuer Wache, Altem Museum, Dom und Neuem Museum ›fehle‹ nur noch das Schloss;67 der Wiederaufbau wäre die Vollendung und Bekrönung der historisierenden Vereinheitlichung der Mitte Berlins. Zwar wäre auch das ›Kreisen um die Leere‹68 produktiv, insofern es die grundsätzliche Unabschließbarkeit jeder Identitätssuche aufzeigen würde, aber gerade diese nicht-abschließbare Bewegung soll durch den Wiederaufbau stillgelegt,69 der Riss durch das Schloss ausgefugt werden. Denn diese Leere ist bedrohlich, ja »unerträglich«;70 die Schlossbefürworter*innen spüren sie geradezu am eigenen Körper. Sie ist eine »totale Wüste«71 (Siedler), »bauliche 62 63
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Vgl. Friedrich Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge. Ein Essay, Aphorismen, Notate und Briefe, Hg. Steffen Dietzsch (Frankfurt a.M./Leipzig: Insel Verlag, 2000 [1873]). Stefan Krammer, Sabine Zelger, »Tropen des Staates. Eine Einleitung,« in Tropen des Staates. Literatur – Film – Staatstheorie 1918-1938, Hg. Stefan Krammer, Wolfgang Straub, Sabine Zelger (Stuttgart: Franz Steiner, 2012), 9-16. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 215. Boddien, »So weit sind wir jetzt«. Internationale Expertenkommission Historische Mitte Berlin, Abschlussbericht (Berlin: Bundesministerium für Verkehr-, Bau- und Wohnungswesen und Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, April, 2002), 44, https://schlossdebatte.de/wp-content/uploads/2008/06/1_expertenkommission_b ericht_2002.pdf (abgerufen 13.03.2018). Ebd., 6, 30, 44. Barthes, »Stadtzentrum, leeres Zentrum,« 47. Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 218. Rainer Haubrich, »Wir sind das Schloss,« Die Welt, 4. Juli, 2002, https://www.welt.de/print-welt/ar ticle398007/Wir-sind-das-Schloss.html (abgerufen 12.03.2018). »Es herrscht totale Wüste,« 195.
6. Das Berliner Schloss
Wunde«72 (Boddien), »elende Brache«,73 ein »Vakuum«, das »mit Leben gefüllt« werden soll,74 eine »riesige Parkplatzödnis«, ein »würgende[r] Mangel«, eine »deutsche Wunde«, eine »gähnende brutale Asphaltleere im Herzen der Stadt« (Matussek).75 Diesem Schreckbild der Leere und Fragmentation, das die Psychoanalyse als die urmenschliche Angst des zerstückelten Körpers kennt, wird – nach den Regeln des lacanschen Spiegelstadiums – die Vorstellung des Körpers beziehungsweise »Schlosskörpers«76 als heile, integrative Ganzheit entgegengesetzt: »Eine Wunde wird geschlossen«,77 titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung, als 2007 der Baubeginn des Berliner Schlosses verkündet wird, und drückt damit die Hoffnung auf einen wiederhergestellten Stadt- und Gemeinschaftskörper aus. »Jetzt konnte es jeder am eigenen Leib spüren, wie dieser Kubus plötzlich die verstreuten Bausteine der Berliner Mitte zusammenführte«,78 heißt es in Die Welt. Auch der 16-jährige Domchorknabe Elias Alexander Schockel spürt, dass »da was [fehlt]« und sehnt sich im Berliner Extrablatt ungeduldig die »Vollendung« der historischen Mitte Berlins durch das Schloss herbei. Erst wenn es diese erleichternde »Vollkommenheit« gebe, könne er sich mit dem Stadtbild »identifizieren«.79
Das Ganze als Ganzes denken Hinter diesen Vorstellungen von Ganzheit und Vollkommenheit verbergen sich hochaktuelle politische Ängste. Denn indem man das »Ganze als Ganzes«80 denkt, versucht man die Unübersichtlichkeit der hochkomplexen Wirklichkeit zu bewältigen und dasjenige, was nicht zum picture perfect passt, zu verdrängen. Im Kontext dieser Ganzheitsvorstellungen ist es bedeutungsvoll, dass man das Schlossareal mehrmals als architektonisches »Gesamtkunstwerk«81 bezeichnet. Dabei wird der seit dem Nationalsozialismus anrüchige Begriff von seiner politischen und ideologischen Konnotationen gelöst. Gerade durch den Hinweis auf die Ästhetik kann auf die politische Komplexität der Debatte verzichtet werden. Das Argument der Schönheit wischt gleichsam die Spuren autoritärer Gewalt vom königlichen Bau ab. Zudem entspricht die Charakterisierung des Schlosses als ›Gesamtkunstwerk‹ dem Phantasma der totalen Spannungslosigkeit, der restlosen Totalität. In der Debatte geht es nicht nur um die Rekonstruktion des
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Boddien, »So weit sind wir jetzt«. Haubrich, »Wir sind das Schloss«. Internationale Expertenkommission, Abschlussbericht, 30. Matthias Matussek, »Das Schloß als Symbol,« Der Spiegel 29, 13. Juli, 1998, 158-164, hier: 158, 161, h ttps://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7937888.html (abgerufen 12.03.2018). Haubrich, »Wir sind das Schloss«. »Eine Wunde wird geschlossen,« Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. April, 2007, https://www.faz. net/aktuell/feuilleton/debatten/berlins-stadtschloss-eine-wunde-wird-geschlossen-1434220.html (abgerufen 12.03.2018). Haubrich, »Wir sind das Schloss«. Elias Alexander Schockel, »Vollkommenheit. Vom Staats- und Domchor Berlin bis zum königlichen Schloss. Die Entwicklung aus den Augen eines Domchor-Sängers,« Berliner Extrablatt 87, 40. Assheuer, »Weltverdüsterungspathos.« »Schloss-Simulation 1993/1994,« Förderverein Berliner Schloss e. V., https://www.berliner-schloss. de/das-historische-schloss/die-schloss-simulation-1993-1994/ (abgerufen 12.03.2018).
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Schlosses an sich, sondern um ein weites Feld: Ohne die ›Rückkehr‹ des Neptunbrunnens (von den Schlossbefürworter*innen entschieden ›Schlossbrunnen‹ genannt), des Schlüterdenkmals des Großen Kurfürsten von Charlottenburg und der sogenannten Rossebändiger sei das Schloss nicht vollständig: »Sie gehören zusammen« und »brauchen« sich wechselseitig, damit die ›Schlossfreiheit‹ wieder eine »Fassung« bekommt.82 »Sonst fasert sie aus«,83 und werde zu einer »Steinwüste«,84 die gerade durch ihre zersetzende Formlosigkeit als bedrohlich empfunden wird. Auch die Nutzung der Innenseite des Schlosses, die lange Zeit eine untergeordnete Rolle gespielt hat und erst 2002 mit den Empfehlungen der Expertenkommission auf die politische Tagesordnung gesetzt wurde, entspricht diesem Verlangen nach Ganzheit und Synthese. Im sogenannten Humboldt Forum sollen die außereuropäischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die wissenschaftsgeschichtlichen Sammlungen der Humboldt-Universität und die Bestände der Zentral- und Landesbibliothek zusammenkommen.85 Im Geist des preußischen Entdeckungsreisenden Alexander von Humboldt soll so »in der Mitte der Hauptstadt, auf dem zentralen Schlossplatz […] die Welt als Ganzes«86 erforscht werden. Ziel des Humboldt Forums ist es, »wirklich alles ein[zu]schließen« um so – paradoxerweise – »die Vielfalt der menschlichen Kulturen [zu] würdigen«.87 Dieser enzyklopädische Hang zur Vereinheitlichung und Synthetisierung entspricht aber nicht nur einem neutralen theoretischen Interesse, so wissen wir spätestens seit den Arbeiten Michel Foucaults zu Wissen und Macht.88 Die Verschränkung einer homogenisierten Wissensordnung mit einer auf imaginäre Kohärenz und Hegemonie hinzielenden politischen Ordnung ist beim Humboldt Forum nicht einmal ein verhohlenes Programm. Mit diesem kulturpolitischen Projekt »besinnt sich Deutschland auf seine Tradition als Kulturnation und baut darauf das Fundament für seine Zukunft«,89 so behauptet der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Hermann Parzinger 2008. Mit diesem Hinweis auf die Kulturnation versucht Parzinger eine unpolitische und unbescholtene Komponente nationaler Identität heraufzubeschwören.90 Dass das Leitbild der Kulturnation seit der zweiten Hälfte 82
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»Appell an den neuen Berliner Senat und das Abgeordnetenhaus von Berlin,« Förderverein Berliner Schloss e. V., 19. Sept., 2018, https://berliner-schloss.de/blog/appell-an-den-neuen-berliner-senat-u nd-das-abgeordnetenhaus-von-berlin/ (abgerufen 12.03.2018). Ebd. »Plädoyer für den Schlossbrunnen,« Förderverein Berliner Schloss e. V., 15 Sept., 2016, https://berli ner-schloss.de/blog/plaedoyer-fuer-den-schlossbrunnen/ (abgerufen 12.03.2018). Die Eröffnung des Humboldt Forums fand am 16. Dezember 2020, wenn auch bedingt durch die Corona-Pandemie nur virtuell, statt. »Tor zur Welt. Editorial,« Humboldt-Forum, 2. »Das Humboldt-Forum ist ein Ort der Debatte,« Humboldt-Forum, 4. Foucault, Überwachen und Strafen; Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit 1 (Suhrkamp: Frankfurt a.M., 1983); vgl. auch De Winde, Maes, Philipsen, »StaatsSachen oder Die Sache des Staates. Zur Einführung,« 8. Hermann Parzinger, »Ein museales Jahrhundertprojekt. Das Humboldt-Forum nimmt Form an. Es soll das historische Zentrum Berlins in einen Ort der Weltkulturen verwandeln,« Süddeutsche Zeitung, 28. Juli, 2008, 1-8, hier: 2, https://schlossdebatte.de/wp-content/uploads/2008/09/parzing er_humboldtforum.pdf, (abgerufen 12.03.2018). Vgl. Breger, Szenarien kopfloser Gewalt, 466.
6. Das Berliner Schloss
des 19. Jahrhunderts für den politischen und kolonial bedingten Kampf Deutschlands eingesetzt wurde, oder die Forschungsreisen Alexander von Humboldts auch als Teil des kolonialen Systems betrachtet werden können, wird aber nicht problematisiert,91 im Gegenteil. Mit der Ganzheitsformel des Humboldt Forums »Die Welt in der Mitte Berlins« werden die starren Kategorien von Zentrum versus Peripherie, wir versus sie, hier versus dort weitergeschrieben und durch die gegenüberliegende Museumsinsel auch städtebaulich reinszeniert. Der Schlossbefürworter Boddien seinerseits verschleiert dies unter der Maske des interkulturellen Dialogs: »Die Museumsinsel […] zeigt unsere kulturhistorischen Wurzeln. Dazu gesellen sich im Schloss die Kunst und die Kulturen der außereuropäischen Einflusssphäre. Damit erhalten die Besucher eine grundlegende Information darüber, warum sich Kultur in diesem Teil der Welt so und nicht anders entwickelt hat. Sie […] lernen, die Menschen dort viel besser zu verstehen.«92 Das »so und nicht anders« sowie die binäre Aufteilung zwischen Besucher*innen »in diesem Teil der Welt« und »d[en] Menschen dort« drücken aber vielmehr die Idee einer Kluft als die eines kulturellen Austausches aus. »Die Menschen dort« erscheinen in Boddiens Statement als ein exotisches Kuriosum, dessen Bräuche, Gebrauchsgegenstände und Schätze, die außerdem zum Teil mittels Raub erworben worden sind,93 sich die Museumsbesucher*innen vom Nabel der Welt her anschauen können.
Phantomschmerz Das (post-)moderne Verlangen nach Ganzheit und Synthese ist immer auch ein Verlangen nach (verlorenen) Wurzeln. In diesem Sinne verspricht die Rekonstruktion des Berliner Schlosses die Wiedergewinnung eines Urzustandes, der Vertrautheit evozieren soll. Wenngleich die vielen Schloss-Fluchten früherer Bewohner der Idee des geschichtlichen Heimkehrens ironisch entgegenstehen,94 verkündet der Förderverein Berliner
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Parzingers Nichtbeachtung der kolonialen Vergangenheit hat sich inzwischen allerdings geändert. Anfang 2019 plädierte er für die Einrichtung eines ›Raumes der Stille‹, der die Besucher*innen des Humboldt Forums dazu einlädt, dem deutschen kolonialen Erbe zu gedenken. Damit wurde aber wieder eine neue Diskussion angefacht: Soll man diese Debatte im Stillen führen, oder aber lautstark und in aller Öffentlichkeit? Wilhelm von Boddien, interviewt von Jan Bartknecht am 22. Februar 2007, in Schug, Palast der Republik, 229-233, hier: 232-233. Im Programm des Humboldt Forums lesen wir, dass »Kolonialismus und Kolonialität ein Kernthema unserer Programmarbeit [ist]. Die Auseinandersetzung mit postkolonialen Stimmen und Perspektiven steht hier ebenso im Zentrum wie die Entwicklung einer methodischen Praxis für einen dauerhaften und transparenten Reflexionsprozess über das Fortwirken kolonialer Praktiken. [Herv. i.O.] https://www.humboldtforum.org/de/kolonialismus-und-kolonialitaet/ (abgerufen13.07.2021) Viele Historiker*innen sind jedoch der Meinung, dass die Politik die Chance verspielt hat, sich klar zum Kolonialismus und zur deutschen Gewaltgeschichte zu positionieren und Raubkunst zurückzugeben. Vgl. Hildebrandt, »Das Schloss und seine Fluchten.« Die berühmteste Schloss-Flucht war zweifelsohne der gescheiterte Fluchtversuch nach England von Friedrich II. und dessen Freund Hermann von Katte. Auf Befehl des Vaters musste Friedrich der Exekution seines Freundes zusehen. Der Schriftsteller Michael Roes machte dieses Ereignis zum Gegenstand seines 2017 erschienen Romans Zeithain (Frankfurt a.M.: Schöffling).
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Schloss e. V., dass »jeder nun seine bauliche Heimat im alt-neuen Berlin [findet].«95 Das preußische Schloss sei ja der »Ursprungsbau«,96 der jetzt »zu Ende«97 gebaut werden soll. In diesem mythologischen Kreislauf der Geschichte zählt der Palast der Republik kaum mit. Er sei nur ein ephemeres, oberflächliches Phänomen, sogar die »Sünde«,98 mit der die goldene Zeit verloren gegangen ist. Sobald aber die Stücke wieder »an ihre[m] angestammten Platz«99 stehen – »Aber hallo … wo sonst!«100 –, wird es ›Versöhnung‹101 geben. Dann wird die »Entleerung« und der »Bedeutungsverlust« des Ortes beendet, der »verlorene[…] Stadtraum«102 wiederhergestellt sein und der »genius loci«103 wiederauferstehen können. Die Rekonstruktion der Schlossfassaden lindert gewissermaßen den Phantomschmerz einer vermeintlich ruhmreichen, aber nicht näher spezifizierten preußischen Vergangenheit, in der man noch ›jemand‹ war. Diese ›kontrapräsentische‹ Erzählung eines in der Zukunft wiederherzustellenden verlorenen Paradieses entlarvt Jean-Luc Nancy als mythologischen mastercode des westlichen Denkens.104 Wichtigster Repräsentant dieser Denktradition ist laut Nancy, dessen eigenes Denken über Gemeinschaft um Begriffe wie Kontingenz, Performativität, Relationalität und ›singuläre Pluralität‹ kreist, der Philosoph Jean-Jacques Rousseau. So wie ihr messianisches Pendant versucht die nostalgische Erzählung, die nicht einfach rückwärtsgewandt, sondern vielmehr gestaltend für die Gegenwart ist, dem Lauf der Geschichte eine logische Richtung zu unterschieben, die nicht-hinterfragbar ist. Mythos und Logos schließen sich demzufolge nicht aus, sondern implizieren sich gegenseitig: Mythos ist dasjenige, was die Welt als Ganzes strukturiert und ordnet, ihr nicht nur Sinn, sondern auch Logik und Kausalität gewährt. So dissimuliert die mythologische Erzählung nach Nancy die fundamentale Kontingenz jeder Gemeinschaftsform, verschleiert ihre Konstruiertheit und Fiktionalität, indem sie das, was historisch geworden ist und also auch anders hätte sein können, ontologisch festschreibt und als
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Boddien, »So weit sind wir jetzt«. Jürgen Spiegel, E-Mail an die Arbeitsgruppe des Palastarchivs am 2. Februar 2007, »EgoDokumente zur Abrissdebatte,« in Schug, Palast der Republik, 298-313, hier: 300. Das Projekt Palastarchiv entstand Anfang 2006 im Rahmen der Seminarreihe ›Angewandte Geschichte‹ am Lehrstuhl für Neuere Geschichte des Instituts für Geschichtswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin. Ziel des Projekts war es, eine »Überlieferungslücke zu schließen«, die die »fehlende Subjektivität« der zahlreichen Quellen betraf. Zum einen wurden politische Akteure interviewt, die die Perspektive »von oben« repräsentieren sollten; zum anderen wurde diese mit einer Perspektive »von unten« ergänzt, indem über Berliner Medien ein Aufruf gestartet wurde, Meinungen zur Frage Palast oder Schloss an die Arbeitsgruppe des Palastarchivs zu senden. Ebd. 207-208. Gästebuch, Humboldt-Box, Berlin (Einsicht am 1. Juni 2017). Janina Heppner, E-Mail an die Arbeitsgruppe des Palastarchivs am 26. Februar 2007, »EgoDokumente zur Abrissdebatte,« in Schug, Palast der Republik, 298-313, hier: 309. Marc Schnurbus, »Die Hermenpilaster des Portal V,« Berliner Extrablatt 87, 10-11, hier: 11. Gloria-Brigitte Brinkman, Gästebuch, Humboldtbox (Einsicht am 1. Juni 2017). Boddien, »So weit sind wir jetzt«. Internationale Expertenkommission, Abschlussbericht, 31. Broschüre der ›Gesellschaft Historisches Berlin‹, ohne Datierung, ca. 2002, zitiert nach Binder, »›Städtebau ist Erinnerung‹, 188. Jean-Luc Nancy, »Le mythe interrompu,« in La communauté désœuvrée (Paris : Bourgois, 1986), 108174; van Rooden, L’Intrigue dénouée, 100.
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notwendig präsentiert. In diesem Sinne ist eine Gemeinschaft selbstimmunisierend und auf Selbsterhaltung bedacht.105 Ständig wird sie Nancy zufolge als ein in sich geschlossenes ›Werk‹, das seine Vollendung und Erfüllung lediglich in sich selbst findet, verstanden. Vollendung kann aber in Destruktion münden: Das Trugbild einer vollkommenen Identität, das »absolut [setzt], was nur relativ, weil relational gedacht werden kann«,106 gipfelt Nancy zufolge im Nazi-Mythos, in dem sich die Erzählung von gemeinsamen Wurzeln zur Fiktion der arischen Rasse entwickelte.107 Die faschistische Figur des Ariers ist also nicht irrational, sondern eben die restlose Erfüllung der Logik des Mythologischen. Das mythische Denken wurde im Nazismus an seine äußersten Grenzen gedrängt, nicht weil altnordische Erzählungen wiederbelebt wurden, sondern weil eine Schließungsfigur produziert wurde, die nicht nur das deutsche Volk repräsentieren sollte, sondern als Archetypus des Menschen schlechthin galt.108 Die Frage ist dann, ob es einen Ausweg aus dieser selbstimmunisierenden Logik, aus dem scheinbar hermetisch abgeschlossenen Plot dieser Gemeinschaftsfiktion gibt. Damit zielt Nancy keineswegs auf eine nihilistische Verneinung jeder Form des Zusammen- oder ›Mit-Seins‹,109 denn diese würde die verabsolutierende Tendenz der identitären Schließung in gespiegelter Weise reproduzieren, die Grundlosigkeit der Gemeinschaft zum archimedischen Punkt machen. Gemeinschaft im Sinne Nancys ist stattdessen ebenso »unausweichlich wie unabschließbar«.110 Ziel Nancys ist es, das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und ihrer Repräsentation neu zu reflektieren, Gemeinschaft auf eine radikal andere Weise zu denken, die nicht eine Figur als wahr und notwendig präsentiert, aber auch nicht ins dialektische Gegenteil der absoluten Figurund Sinnlosigkeit umschlägt.111 Dazu soll der Mythos nicht so sehr vernachlässigt, sondern die Logik des Mythologischen unterbrochen werden, nicht im Sinne einer benjaminschen ›Vernichtung‹, sondern gleichsam von innen her.112 Nancy spricht deshalb lieber von einer ›Interruption‹ oder auch ›Dislokation‹ des Mythos als von ›Entmythologisierung‹. Wie kann man aber verhindern, dass sich eine solche Unterbrechung nicht wieder in der Logik des Mythologischen verstrickt? Wie kann man eine Identifikation zustande bringen, die der Gefahr des Totalitarismus entrinnt, eine Figur ohne festumrissene Konturen zeichnen?113 Ist es mit anderen Worten möglich, Mythos, wie Nancy beabsichtigt, ohne -logie zu denken?114
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Ebd., 13, 9. Bedorf, »Jean-Luc Nancy,« 150. Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy, Le mythe Nazi (La tour d’Aigues : L’Aube, 1991). Marie-Eve Morin, Jean-Luc Nancy (Cambridge: Polity, 2012), 90. ›Mit-Sein‹ bildet einen ontologischen Schlüsselbegriff im Denken Nancys. Vgl. Morin, Jean-Luc Nancy, insb.: 36-43. Bedorf, »Jean-Luc Nancy,« 152. Aukje van Rooden, »›Zoiets als literatuur‹. Nancy over de taak van de literatuur in de huidige tijd,« in Jean-Luc Nancy. De kunst van het denken, Hg. Ignaas Devisch, Peter De Graeve en Joost Beerten (Kapellen: Pelckmans, 2007), 77-100, hier: 81-84. Ebd., 84. Ebd., 85. Van Rooden, L’Intrigue denouée, 95.
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Schlosssimulation Dass eine Gemeinschaft auf »regulativen Fiktionen«115 gründet, die aber nicht öffentlich als solche erkannt werden dürfen, führt die sogenannte Schlosssimulation von 1993 vor, die damals sogar die hartnäckigsten Schlosskritiker*innen milder zu stimmen schien. Auf 40 Kunststoffleinwänden von 5x30 Metern malte die französische Großbildkünstlerin Catherine Feff einen Teil der Schlossfassaden nach und hängte sie an einer Gerüstkonstruktion ortsgetreu auf, damit die Simulation »täuschend echt«116 aussehen würde. Weil der Palast der Republik etwa die Hälfte des Schlossareals einnahm, wurde zudem ein riesiger Spiegel an der angrenzenden Frontseite des Palastes angebracht, um »die Illusion vollkommen [zu] machen«117 und das Schloss so »in das Bewusstsein der Menschen [zurückzuholen].«118 In diesem Sinne war die 15 Monate sichtbare SchlossAttrappe das, was die französische Bezeichnung ›une attrape‹ eigentlich bedeutet, so bemerkt Hildebrandt: »eine Falle, in der momentane Faszination dauerhaft gefesselt und umstrickt wurde.«119 Tatsächlich schlug durch die Schlosssimulation die öffentliche Meinung in Richtung Befürwortung der Rekonstruktion um:120 Das »Fetzen Tuch war wie eine Luftspiegelung, die jedem Spaziergänger am Lustgarten eine merkwürdige Sehnsucht ins Herz senkte: Aha, so also könnte es aussehen. Schön.«121 Als reines Anschauungsobjekt ist die Schlosssimulation in der Lage, kollektive Emotionen anzureizen und etwas zu zeigen, das bis dann kaum vorstellbar war: »Es war diese physische Erfahrung des Stadtraums mit dem Schlosskörper, das sinnliche Erlebnis der auf Leinwand gemalten barocken Fassaden, […] die damals auch Schlossskeptiker nachdenklich machten.«122 Auf diese Weise zeigt die Schlosssimulation, als eine »realexistierende[…] Fata Morgana«,123 dass es die Gemeinschaft nicht einfach gibt, sondern sich über Bilder, zu denen sie sich in Beziehung setzt, »als Eines inszeniert«124 [Herv. i.O.] und mittels ästhetischer Strategien ›erfunden‹ und ständig reinszeniert werden muss. Das Fake-Schloss stellt die Gemeinschaft also in ihrer nicht-abschließbaren Konstruiertheit und Fiktionalität aus, als work in progress, was durch die Kunststoffleinwände noch betont wird. Nicht nur deutet schon der Vorhang auf die theatrale und performative Dimension der Gemeinschaft hin. Die Metapher des Webens und des Strickens, veranschaulicht durch die meterhohen Polyesterbahnen, ist auch die Metapher der Fik-
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Koschorke, »Macht und Fiktion,« 77. »Eine Wunde wird geschlossen«. »Wille und Masse,« Der Spiegel 26, 28. Juni, 1993, 68-72, hier: 68. Wilhelm von Boddien, interviewt von Jan Bartknecht am 22. Februar 2007, in Palast der Republik, 239-233, hier: 232. 119 Hildebrandt, »Das Schloss und seine Fluchten,« 10. 120 Hennet, Die Berliner Schlossplatzdebatte im Spiegel der Presse, 67ff. 121 Matussek, »Das Schloß als Symbol,« 160. 122 Haubrich, »Wir sind das Schloss«. 123 Heinke, »Schloß im Kopf,« zitiert nach Hennet, »Die Berliner Schlossplatzdebatte,« in Schug, Palast der Republik, 54-66, hier: 58. 124 Koschorke, Lüdemann, Frank, Matala de Mazza, Der fiktive Staat, 62; Grabbe, Deutschland – Image und Imaginäres, 1.
6. Das Berliner Schloss
tionalisierung par excellence, über die das konstitutive Verhältnis zwischen Politik und Ästhetik, Gemeinschaft und Fiktion, lesbar wird.125 Das Interessante ist aber, dass diese fiktionale Dimension in der Stadtschlossdebatte völlig ausgeblendet wird. Jeder weiß, dass es sich bei diesem Mantel um eine imaginäre Investitur, um eine leere Kulisse handelt, aber trotzdem ›glaubt‹ man lieber an diese gemeinschaftsbildende Fiktion, strickt fleißig daran mit, statt die narzisstische Kränkung zu akzeptieren. »Je sais, mais quand même…«, lautet nach Jacques Lacan die Formel des Fetischisten.126 Sowie in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider die Aufdeckung der Nacktheit des Kaisers sozial folgenlos bleibt127 – die Kammerherren tragen die Schleppe, »die gar nicht da« ist, einfach weiter, während der Kaiser sogar noch stolzer paradiert128 –, wird auch die Schlosssimulation als »sozialer Fetisch«129 intakt gehalten. Zwar ist die Installation von 1993 (sowie die tatsächliche Fassadenrekonstruktion) nur eine ornamentale Projektionsfläche, ein trompe l’oeil, der Identität vorspiegelt, aber dieses ›als ob‹ wird in einem kollektiven Glaubensakt verleugnet, die performative Selbstinszenierung wird dissimuliert und zu einer Wahrheit, Notwendigkeit, einem ›nicht anders als so‹ umgeformt, damit die Gemeinschaft überhaupt Bestand haben kann.130 »Die Wahrheiten sind Illusionen, von denen wir vergessen haben, daß sie welche sind«,131 so können wir mit Friedrich Nietzsche zusammenfassen.
Verhüllter Reichstag Wenn das Berliner Schloss auf diese Weise die mythologische Struktur unserer heutigen Gesellschaft darstellt, kann sie durch ein anderes monumentales Kunstwerk in Berlin vielleicht unterbrochen werden: den 1995, nach einer Lobbyarbeit von mehr als 20 Jahren realisierten Verhüllte Reichstag des Künstlerduos Christo und Jeanne-Claude. Dessen mühseliges Zustandekommen vergleicht Boddien gern mit seiner gelungenen Schlosssimulation: »Das Windspiel an den Fassaden, die Schloßfreiheit, das ist viel mehr als Popkunst. Da können Sie Herrn Christo einpacken.«132 14 Tage lang, vom 24. Juni bis zum 7. Juli, faszinierte das mit 100.000 Quadratmetern silbrig glänzendem Kunststoff verhüllte und mit blauen Seilen umschnürte Gebäude mehr als 5.000.000 Besucher*innen. Zwar gab es manche Kritiker*innen, die das Duo der mythischen Verblendung 125 126
De Winde, Maes, Philipsen, »StaatsSachen oder Die Sache des Staates. Zur Einführung,« 10. Darauf deutet Susanne Lüdemann in ihrer Analyse des Märchens Des Kaisers neue Kleider hin. Susanne Lüdemann, »Fetischismus,« in Frank et al., Des Kaisers neue Kleider, 187-196, hier: 192. 127 Ebd.,189. 128 »›Er hat ja gar nichts an!‹ rief zuletzt das ganze Volk. Das kränkte den Kaiser, denn ihm schien es, als ob sie recht haben könnten. Aber er dachte bei sich: ›Die Prozession muß ich schon noch aushalten.‹ Und so trug er sich noch stolzer, und die Kammerherren gingen und trugen die Schleppe, die gar nicht da war.« Hans Christian Andersen, »Des Kaisers neue Kleider,« in Andersens Märchen, in neuer Übersetzung von L. Tronier-Funder, mit einer Einleitung von Prof. Edvard Lehmann, mit Illustrationen von Vilhelm Pedersen und Axel B. Kleiner, Bd. 1 (Kopenhagen/Berlin/Malmö: Gefion, 1930), 189-195, hier: 195. 129 Lüdemann, »Fetischismus«, 191. 130 De Winde, Maes, Philipsen, »StaatsSachen oder Die Sache des Staates. Zur Einführung,« 13, 17. 131 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge, 16. 132 »Wille und Masse,« 8-69.
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verdächtigten. Indem die Künstler das kolossale Gebäude in eine monumentale Skulptur transformierten, verwandelten sie ein historisches Monument in ein mythisches ›Gesamtkunstwerk‹, so lautete die Kritik.133 Wie auch Andreas Huyssen argumentiert, ist dieser Vorwurf aber eine Komplexitätsreduktion, die gerade dasjenige reproduziert, was sie kritisiert.134 In einer eigenartigen Dialektik von Verbergen und Enthüllen, Verschleiern und Entblößen macht der verhüllte Reichstag gerade dasjenige sichtbar, was die politische Ordnung dissimuliert, nämlich die fundamentale Kontingenz, die prinzipielle Nacktheit ihres Ursprungs: »Der Kaiser hat ja gar nichts an!«. Gerade die Verhüllung des Reichstags ist in der Lage, vermeintliche ›Evidenzen‹ – dem etymologischen Ursprung nach aufs Engste mit Visualität und Verbildlichung verknüpft – zu stören und ihre unterschwelligen Ambivalenzen aufzuzeigen. Die übertriebene Theatralität, mit der das Kunstwerk seine Repräsentations- und Inszenierungsmechanismen, die »Performance der Fiktionalität«,135 ausstellt, unterbricht spielerisch jede identifizierende Bewegung und macht die Illusion von Unmittelbarkeit unmöglich. Anders als die Schlosssimulation, die gleichsam als Antitheater im Sinne Rousseaus diese vierte Wand zu durchbrechen sucht, präsentiert sich der Verhüllte Reichstag selbstbewusst als künstlerische Intervention im öffentlichen Raum, als unecht und temporär statt authentisch und ewig. Der Ort also, wo diese Fiktionalisierungsprozesse im Herzen des Politischen am besten zu beobachten sind, so zeigt der Verhüllte Reichstag, ist die Kunst. Während weder in der Politik noch im Recht die fiktionale Verfasstheit des Gemeinschaftsgebildes wirklich reflektiert wird, sei es, so Koschorke in Anlehnung an Derrida, ein Privileg des »funktionsentlasteten« Diskurses der Kunst, auf diesen blinden Fleck aufmerksam zu machen.136 Während die Existenz politischer und sozialer Systeme gerade durch diesen ›Latenzschutz‹137 gesichert wird, verfügt die Kunst, als spielerisches Experimentierfeld, über eine Reihe von ästhetischen Verfahren, die diese vermeintlichen Evidenzen und Konventionen potenziell unterbrechen – oder aber fortschreiben,138 wie die Schlosssimulation von Catherine Feff zeigt. Indem der Verhüllte Reichstag seine Fiktionalität spielerisch zur Schau stellt, leistet das Kunstwerk Widerstand gegen die mythologische Idee von Schließung und Vollendung, gegen monolithische und verknöcherte Vorstellungen von Identität. Es macht, als deregulierende Fiktion, das radikal offene Ende der Gesellschaft sichtbar, ihre unvorhersehbaren Plot-Wendungen und multiperspektivischen
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Andreas Huyssen, »Monumental Seduction: Christo in Berlin,« in Present Pasts, 30-48, hier: 35. Huyssen, »Monumental Seduction,« 35. Van Rooden, L’Intrigue dénouée, 318. Koschorke, »Macht und Fiktion,« 80. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1984), 456-459. Achim Geisenhanslüke macht in Bezug auf Michel Foucaults Literaturverständnis auf diese Ambivalenz aufmerksam, die allerdings auch auf die Kunst im Allgemeinen zutrifft. Einerseits scheint sie als fiktionale Form »von dem Zwang befreit zu sein, die Wahrheit zu sagen« und so einen Gegendiskurs zu bilden, in der unterschiedliche Variationen und alternative Möglichkeiten durchgespielt werden können. Andererseits kann sie selbst als das »Ergebnis einer diskursiven Praxis« betrachtet werden, die »nicht anders als andere Wissensformen wesentlich auf Macht und Wahrheit bezogen ist.« Geisenhanslüke, Die Sprache der Infamie, 23.
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Erzählpositionen, und öffnet so einen Bereich außerhalb der oben beschriebenen Logik des Mythologischen. Es führt, als kurzlebiges, »antimonumentales Monument«,139 gerade die fundamentale Kontingenz und grundsätzliche Unabschließbarkeit der Gemeinschaft vor Augen. Der Verhüllte Reichstag bildet vielleicht die Erzählung unserer postfundamentalistischen Gesellschaft schlechthin, indem das Kunstwerk nicht eine Figur, sondern die irreduzible Heterogenität und Möglichkeitsvielfalt der Gemeinschaft durch die Performance der Fiktionalität als Ausgangspunkt nimmt.
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Huyssen, »Monumental Seduction,« 46.
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Schluss
Ziel dieser Arbeit war es, das komplexe Nachleben des preußischen Phantasmas in deutschen Texten des 20. und 21. Jahrhunderts aufzuzeigen. In einer Reihe von Fallstudien, die sich von den 1910er Jahren bis in die Gegenwart erstrecken, verfolgte die Arbeit die diskursive Vielfalt des preußischen Phantasmas, das sich aus einem Gewirr von Motiven, Narrativen, Ideologemen und weiteren Phantasmen zusammensetzt, die sich verschieben und verzweigen, kombiniert und neukombiniert werden. Dieses Prinzip der bricolage geht nicht nur mit einer Bedeutungswucherung, sondern auch mit einer produktiven Dekonstruktion von Bedeutungen einher. Aus den unterschiedlichen Analysen lässt sich schließen, dass Preußen im 20. und 21. Jahrhundert eine Chiffre, eine leere Hülle geworden ist, die gerade in dieser Beschaffenheit die phantasmatische, identitätsstiftende Projektionsmaschinerie ankurbelt, indem sie diese Leere mit attraktiven Bildern der Ganzheit auszufüllen oder zu überspannen versucht. Wie die vielen Reformulierungen, Wiederholungen und Neubelebungen veranschaulichen, fungiert Preußen als eine ahistorische Projektionsfläche, die den jeweiligen zeitgenössen Bedürfnissen gemäß umgedeutet und von unterschiedlichen Gruppen angeeignet werden kann. Diese Multi-Einsetzbarkeit wird in Friedrich Christian Delius’ satirischem Roman Der Königsmacher auf die Spitze getrieben, indem der Protagonist im Rahmen des neuen Preußen-Hypes nach 1990 für jede gesellschaftliche und politische Gruppe ein maßgeschneidertes Preußen zusammenbastelt. Tatsächlich ist Preußen vieles – oft auch Widersprüchliches – zugleich. Fungiert Preußen in den Schriften der Konservativen Revolution als eine antidemokratische Kampfansage an Deutschland, so sind in Carl Zuckmayers Theaterstück Der Hauptmann von Köpenick und Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt Preußen und Deutschland nahezu Synonyme, ja ist ›preußisch‹ dasjenige, was ›deutsch sein‹ auszeichnet. Für den Entwurf ihres Deutschlandbildes beziehen sich beide Schriftsteller auf preußische ›Tugenden‹ und Narrative, die sie im Gewand der Satire ad absurdum führen oder zum ›Gräuelmärchen‹ umschreiben. Grenzt Oswald Spengler seinen auf soldatischen Klischeemotiven basierenden preußischen Machtstaat ausdrücklich von der Kulturnation ab, so bezieht sich die Berliner Republik im Kontext eines komplexloseren, ›aufgeklärten‹ Patriotismus auf die vermeintlich unpolitische Kulturnation. Gilt Preußen in den Texten von Spengler und Ernst von Salomon als Emblem für das Erziehungskon-
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Preußische Phantasmen
zept der (Selbst-)Zucht, das ein pädagogisches Kontrastprogramm zum bürgerlichen Bildungssystem darstellt, so wird Preußen ab den 1980er Jahren gerade als Hort von Aufklärung und Bildung heraufbeschworen. Besonders nach 1990 wird die preußische Kulturnation als unbescholtene Komponente nationaler Identität beansprucht, wie die Analyse der Stadtschlossdebatte gezeigt hat. Auf diese De-Politisierung nimmt Kehlmann vor dem Hintergrund der Nationenbildung im frühen 19. Jahrhundert und des Kolonialismus kritisch Bezug. Auch Delius, der wie Kehlmann auf die Stadtschlossdebatte anspielt, setzt sich in Der Königsmacher mit dieser De-Politisierung kritisch auseinander, indem er auf satirische Weise vorführt, wie die Marktstudien der opportunistischen Hauptfigur Albert Rusch lediglich die Pracht und Schönheit der preußischen Schlösser und Gebäude berücksichtigen; die Vermarktung schöner, ›unschuldiger‹ Königsfiguren kann aber auch als Ausdruck eines allgemeinen Unbehagens an der Demokratie und eines unterschwelligen Verlangens nach Autorität betrachtet werden. Ausgangspunkt dieser Arbeit war es nicht nur zu untersuchen, welche Bilder und Motive des preußischen Phantasmas weiterverarbeitend ›beerbt‹ werden, sondern auch wie. Im Zentrum der Mikroanalysen standen immer wieder die performativen Projektionsmechanismen, mittels derer die Illusion einer geschlossenen, homogenen nationalen Identität konstruiert, potenziell aber auch gebrochen wird, wenn diese Fiktionalisierungsstrategien als solche hervortreten. Der Logik des Performativen entsprechend sollen sie dissimuliert werden, das heißt sich hinter ihre phänomenologische Evidenz zurückziehen, damit die Illusion von (historisch verbürgter) Identität aufrechterhalten wird. Indem das Phantasma mittels performativer Mechanismen konstruiert wird, ist es aber von Anfang an vom Einsturz bedroht. Die performativen Mechanismen können auf unterschiedliche Weisen sichtbar (gemacht) werden, so geht aus den Analysen hervor. Zu unterscheiden ist zwischen Texten, deren dekonstruktiver Kern erst von einer Lektüre herausgearbeitet wird, und solchen, die die Dekonstruktion des Phantasmas bereits selbst inszenieren. Die Texte von Spengler und Salomon sowie die Debatte um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses sind Beispiele der ersten Kategorie, während die parodistischen (Meta-)Texte von Kehlmann, Delius und Zuckmayer der zweiten Kategorie angehören. Von wesentlicher Bedeutung für die Analysen war dabei die Gleichzeitigkeit beziehungsweise Ambivalenz von Montage und Demontage, Affirmation und Dekonstruktion der preußischen Phantasmen, die in Marsden Hartleys in der Einführung besprochenem Gemälde Portrait of a German Officer und der War Motif -Serie exemplarisch zum Ausdruck kommen. Hartleys auf den ersten Blick ästhetisierende und glorifizierende Darstellungen des preußischen Militarismus werden zugleich dekonstruiert, indem die ständige Reinszenierung von auratischen militärischen Objekten sie als leere Ornamente entlarvt. Was Hartleys Bilder als Wunschbild projizieren, wird sofort entstellt. Dabei ist es vor allem die Materialität des Kunstwerkes, oder was man in Bezug auf literarische Texte unter Literarizität versteht, die das Potenzial hat, die Fiktion einer monolithischen Identität zu unterbrechen. In Spenglers weltanschauungsliterarischem Essay Preußentum und Sozialismus ist es gerade diese Literarizität, die das vermeintlich lückenlose Gedankengebäude durchlöchert. Die Analyse hat gezeigt, wie Spenglers rhetorische Übersystematisierung zu einer permanenten Modifizierung und Verschiebung seiner vermeintlich ultimativen Ka-
Schluss
tegorien und Definitionen führt, was letztendlich deren phantasmatischen Charakter entlarvt. Spenglers rigorose Logik ist bei näherer Betrachtung eine exzessive A-Logik. Trotzdem fand die nationalistische Jugend in dieser Erziehungsschrift ihre ideologische Munition; Ernst von Salomon strickte Spenglers Staatsfiktionen (scheinbar) ungebrochen weiter. Auch Salomons Schriften, die sich an Spenglers preußischem Sozialismus orientieren, sind durch die Gleichzeitigkeit von Affirmation und Dekonstruktion geprägt. Die Lektüre von Die Geächteten deckte besonders die ambivalente Dynamik von Grenzüberschreitung und Grenzziehung, Entgrenzung und (Re-)Stabilisierung in Bezug auf den Körper des soldatischen Mannes sowie die Nation auf, die sich gemäß einem anthropogeografischen Grenzgefühl wechselseitig konstituieren. Dabei stellte sich heraus, dass die anscheinend fixe Position zwischen fest und fließend, begrenzt und grenzenlos alles andere als fixiert ist, sondern im Text ständig umgepolt wird. Die Analyse von Die Kadetten hat dargelegt, wie die Demontage des herkömmlichen Vatermodells der Konstruktion eines neuen Herrschafts- und Staatsmodells dient, das auf männerbündischen, ›preußisch-sozialistischen‹ Strukturen basiert und organologische Staatsfiktionen mit machttechnologischen Phantasmen im Erziehungskonzept der (Selbst-)Zucht verschmilzt. Der Roman zeigt aber auch die Brüchigkeit solcher scheinbar vollkommenen Staats- und Gemeinschaftsfiktionen auf, indem der Icherzähler mit seinem albernen Kinderreim auf ein verdrängtes Reales hinweist, das nicht restlos zu sublimieren ist. Dieser ›Rest‹ ist nichts anderes als das zu verdrängende transgressive Leben sowie die ihm innewohnende Verwesung, die die imaginäre Geschlossenheit der Körpermaschine beziehungsweise des Kadettenkorps auflockert und mit ihrer im Innern lauernden Alterität konfrontiert. Auch die im letzten Kapitel besprochene »täuschend echte Schlosssimulation« führt die ambivalente Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Unterbrechung des Phantasmas vor Augen. Das Fake-Schloss führt vor, dass es die Gemeinschaft nicht einfach gibt, sondern dass sie sich über Bilder, zu denen sie sich in Beziehung setzt, als Eines inszeniert. Zugleich ziehen sich die performativen Mechanismen, auf die auch der theatralische Vorhang der Schlosssimulation aufmerksam macht, hinter eine vermeintliche Wahrheit (täuschend »echt«) oder Notwendigkeit zurück. Das Trugbild einer geschlossenen nationalen Identität stellt sich also in ihrer Konstruiertheit aus, wird aber auch kollektiv als »sozialer Fetisch« intakt gehalten. Darüber hinaus korrigiert die Analyse der emotional geführten Debatte um das Berliner Schloss die Idee, dass dem Nachleben des preußischen Phantasmas eine Art Teleologie innewohnt, das heißt eine geschichtliche Entwicklung, in der das Phantasma immer bewusster rezipiert und letztendlich nur noch in dekonstruktiven Meta-Erzählungen verarbeitet wird. Auch die Texte, die die Dekonstruktion des Phantasmas bereits selbst inszenieren, werden von der Ambivalenz von Affirmation und Demontage geprägt. Zuckmayers dramatisches ›deutsches Märchen‹ Der Hauptmann von Köpenick demonstriert nicht nur die blendende Macht einer preußischen Uniform, die die staatliche Ordnung (re-)produziert, sondern unterläuft sie auch, indem das Stück den Uniformtaumel mittels Maskeraden, Mimikry und Fetischierungen auf parodistische Weise in seiner Fiktionalität und Theatralität zeigt. Der Betrug des falschen Hauptmannes wird zwar für die Zuschauer*innen als Beweis für den failed state erkennbar, aber die Figuren auf der Bühne
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betrachten den Staatsstreich lediglich als den Beweis des reibungslosen Funktionierens der staatlichen Strukturen. Die bloßgelegten regulativen Fiktionen, die eine Gemeinschaft erst konstituieren, werden am Ende des Dramas wieder zu einer natürlichen, die Kontingenz ausblendenden (Schein-)Normalität festgeschrieben. Auch in Kehlmanns und Delius’ metafiktionalen ›historischen Gegenwartsromanen‹ ist diese Ambivalenz von Affirmation und Dekonstruktion präsent. In Die Vermessung der Welt werden starre Vorstellungen von Identität immer wieder unterlaufen, indem der Roman seine Repräsentations- und Inszenierungsmechanismen offen zur Schau stellt. Der Text rückt aber auch anschlussfähige nationale Stereotypen und Gemeinplätze in den Vordergrund, die die Komplexität des preußisch-deutschen Erbes in eine bildhafte Oberflächlichkeit transformieren und so gerade die Voraussetzung für die illusorische Stilllegung der Identifikations- und Projektionsmechanismen bilden. In Delius’ Roman Der Königsmacher tritt die verführerische Macht des Phantasmas am deutlichsten hervor, insofern Rusch‹ Beschäftigung und allmähliche Identifizierung mit Preußen in einen halluzinatorischen Königsrausch mündet. Es ist jedoch bemerkenswert, dass der Roman das mythisierende Prinzip der bricolage, das heißt das Verfahren der Neuanordnung, Rekombination und Umdeutung schon vorhandenen Materials, nicht nur dekonstruktiv erkundet, sondern auch als grundlegendes Textverfahren verwendet. Die diskursive Struktur des Textes scheint so zu affirmieren, was der Roman thematisch kritisiert. Neben dieser Dynamik von Figuration und gleichzeitiger Defiguration kennzeichnet sich das Phantasma durch die Illusion von Ganzheit, die – so wurde den Analysen als Hypothese vorangestellt – die Funktion hat, eine vermeintliche identitäre Leere auszufüllen oder zu überspannen. Dies erwies sich als eine wichtige Strategie, Widersprüche und Komplexitäten auszublenden oder zu kaschieren. Spenglers und Salomons beabsichtigteVersöhnung der zwei scheinbar inkommensurablen Begriffe ›Preußentum‹ und ›Sozialismus‹ ist nur ein Beispiel dieser synthetisierenden Komplexitätsreduktion, die in Der Königsmacher durch die Vermarktung von allround-Preuß*innen satirisch auf die Spitze getrieben wird. Hinter dem Phantasma der totalen Spannungslosigkeit, der restlosen Totalität verbergen sich hochaktuelle politische Ängste. Der Versuch, das ›Ganze als Ganzes‹ zu denken um die als bedrohlich erfahrene Kontingenz der Wirklichkeit zu bewältigen, geht immer auch mit dem Ausschluss des nicht zu integrierenden Anderen einher. Bei Spengler, der »alle große Fragen des Seins« einzuschließen verspricht, geht der Drang nach Restlosigkeit mit einem Bedürfnis nach Begrenzung in Zeiten progressiver Entgrenzung einher, das auch heute spürbar ist, so zeigt zum Beispiel der Rückgriff auf Spengler durch die Anti-Islambewegung Pegida. Spenglers Vorstellung eines homogenen Wir basiert auf identitätsstiften Feindbildern und Grenzziehungen. Seine absoluten Abschottungen sind bei näherer Betrachtung aber äußerst brüchig; sie rufen eine Schwellenangst hervor, die unablässig äußere und innere Feinde produziert. Wie bei Spengler kommt Salomons phantasmatisches Verlangen nach Ganzheit und Totalität besonders in seinen autoritativen Staatsfiktionen zum Ausdruck. Salomons preußisch-sozialistischer Staat ist ein durchorganisierter, männerbündisch-militärischer Führerstaat, in den sich das Individuum restlos eingliedern soll. Dieser Selbstverlust wird mit der paradoxen Denkfigur ›Freiheit in Gehorsam‹, die an Theoreme der preußisch-deutschen Aufklärung, besonders an eine ideologisch bedenkliche Varian-
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te von Kants kategorischem Imperativ anknüpft, als freiwillig imaginiert. Die vertikalhierarchische Machtstruktur des elitären Zukunftsstaates wird nach dem Prinzip des preußischen Sozialismus mit dem Anschein egalitärer Züge durchsetzt, während der Abrichtungsprozess als lebendiger Naturprozess verbildlicht wird. Zuckmayers Der Hauptmann von Köpenick deckt die (selbst-)destruktiven Züge auf, die diesem Ideal der totalen (Staats-)Gemeinschaft inhärent sind. Wilhelm Voigts homonyme Verwechslung von ›alle‹ als einer ›Gesamtheit‹ einerseits und als ›erschöpft‹, ›aufgebraucht‹ andererseits veranschaulicht, dass die Gewalt einer identitären Schließungsfigur potenziell so erschöpfend ist, dass sie letztendlich implodiert. In der Logik seines Gesprächspartners Friedrich Hoprecht gipfelt die Einordnung des Individuums in das Kollektiv in Selbstaufopferung. Wie Salomons Icherzähler in Die Kadetten skizziert der Staatsdiener Hoprecht die Konturen jener kadavergehorsamen Todesgemeinschaft, die Leben (erst wertvoll) macht, indem sie es in den Tod stößt. Hoprecht spricht zwar die Sprache der Staatsbürgerschaft und der Universalität – wer ein Mensch sein will, der muss sich einordnen beziehungsweise unterordnen –, spricht damit aber auch denjenigen die Existenzberechtigung ab, die nicht ›gedient‹ haben und also nicht ›dazu‹ gehören. Auch Kehlmanns Alexander von Humboldt treibt ein Drang nach Ganzheit und Synthese, was mit dem Ausschluss beziehungsweise der Verdrängung des nicht zu integrierenden Anderen einhergeht. Dies wird besonders deutlich, wenn der preußische Entdeckungsreisende in Südamerika auf Phänomene stößt, die sich nicht einfach durch das aufgeklärte Cogito systematisieren und beherrschen lassen. Während Die Vermessung der Welt dieses homogenisierende Verlangen nach Ordnung und Harmonie vor dem Hintergrund des Kolonialismus kritisiert, schreibt das Humboldt Forum in Berlin dieses Verlangen ungebrochen weiter. Ziel des Humboldt Forums ist es, im Geist des preußischen Gelehrten »die Welt als Ganzes« zu erforschen und »wirklich alles einzuschließen«. Auch der Diskurs um den Wiederaufbau des Berliner Schlosses zeugt von einem Verlangen nach Ganzheit. Die zentrale Rhetorik der ›verlorenen‹ oder ›leeren Mitte‹ verdeutlicht, dass die Rekonstruktion des Schlosses als ›Gesamtkunstwerks‹ eine identitäre Leere zu füllen hat; der Wiederaufbau soll einen vermeintlichen Urzustand wiederherstellen. Diese Leere wird zudem als Marktlücke entdeckt, so zeigen die feilgebotenen Fassadenelemente oder Spendenmedaillen in der Humboldt-Box sowie die Marktstudien Albert Rusch‹ in Der Königsmacher. Die Tatsache, dass mit einem auf die preußischdeutsche Vergangenheit ausgerichteten Identitätsangebot auch sehr vielen Menschen der Zugang zum Schloss verweigert wird, wird durch die quasiinklusive und partizipatorische Rhetorik der ›Schlossfreunde‹ maskiert. Das phantasmatische Verlangen nach Ganzheit bezieht sich nicht nur auf die Nation, sondern auch auf den Körper. Aus den Analysen ging hervor, dass sich Nation und Körper oft wechselseitig konstituieren. Wie in der Einführung vorausgesetzt wurde, enthält das Phantasma eine körperlich-affektive, oft auch (homo-)erotische Bedeutungsschicht, die sich in Bezug auf Preußen als besonders produktiv herausgestellt hat. So wie die Figuration des Staates immer vom Angsttraum der Staatslosigkeit, die sich auf das Formlose oder die Ungestalt bezieht, beherrscht wird, so wird auch die Vorstellung des geschlossenen, gepanzerten, uniformierten Körpers strukturell von
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Auflösungs- und Zerstücklungsphantasien heimgesucht. Diese Angst wird, besonders nach dem Ersten Weltkrieg, auf eine genderspezifische Weise erlebt. In den Texten von Spengler und Salomon geistern weiblich codierte Vielfalt und Fragmentierung als wahre Schreckbilder, die das am männlichen Körper verhandelte Ideal der Härte auf individueller und nationaler Ebene aufzulösen drohen. Diese Angst ist heute in rechten Kreisen wieder virulent. Die dekonstruktive Lektüre von Salomons Texten rückte die Brüchigkeit des phantasmatisch gepanzerten Körpers in den Vordergrund. Sie zeigte, wie das Produktionsprinzip des soldatischen Mannes von einer ambivalenten Dynamik von Grenzüberschreitung und Grenzziehung, Zerstücklung und Ganzheit gesteuert wird. Sie deckte zudem die rhetorischen Strategien auf, mit denen Salomons Icherzähler den (allzu)menschlichen und dadurch instabilen Körper mit einem undurchdringlichen Panzer ausstattet. Sowohl in Die Geächteten als auch in Die Kadetten stellte sich die Ästhetisierung und Sublimierung des Krieges, der unverbrüchlich mit der Konstruktion soldatisch-männlicher Identität verbunden ist, als eine zentrale Strategie dar, um die Illusion eines undurchdringlichen und unverletzlichen Körpers aufrechtzuerhalten. Beide Romane lassen zwischen diesen rhetorischen Abwehrreflexen aber auch einen (verdrängten) Rest des widerspenstigen, unbeherrschten Lebens selbst durchschimmern, der das Phantasma für einen winzigen Augenblick unterbrechen kann. In Die Geächteten versucht der Icherzähler die Realität seines organischen, sterblichen Körpers durch ein Bündnis mit den destruktiven Kräften der modernen Maschinenwelt zu überspielen, bis zu dem Punkt, dass schießen eine ejakulatorische Erfahrung wird. Die Suggestion eruptiver männlicher Körperlichkeit widerspricht jedoch der Vorstellung eines streng abgegrenzten Körpers oder Korps. In Die Kadetten schildert der Icherzähler, wie der allzumenschliche, sich nach (mütterlich codierter) Wärme sehnende Körper in der Verwandlungs- und Wiedergeburtsmaschine der Kadettenanstalt rituell umgebaut und neumontiert wird. Die Meta-Szene mit dem üblen Geruch lässt aber ein verdrängtes Reales entkommen, das sich wie eine dunkle Wolke über der angeblich wiederhergestellten Kadettengemeinschaft zusammenzieht. In Der Hauptmann von Köpenick wird die Illusion des geschlossenen Körpers von der militärischen Uniform inszeniert, der eine entscheidende Bedeutung innerhalb männlicher Identitätsbildungen und militärischer Disziplinierungsverfahren zukommt. Die Uniform bringt den natürlichen Körper in Form und überschreibt ihn mit einem zweiten, politischen Körper, der im Theaterstück als die »bessere Haut« imaginiert wird. Auf diese Weise wird der Abtötungsprozess der totalen Körperdisziplinierung, wie bei Spengler und Salomon, mit der Illusion von Leben gefüllt. Das ist paradox, weil die Materialität des bloß Lebendigen doch gerade eine Bedrohung für die soldatisch-männliche Identität darstellt. Der Uniformstoff wird im Stück sogar mit Pferdehaut verglichen, was an das besonders in konservativ-revolutionären Kreisen populäre, mit hippologischen Metaphern veranschaulichte Konzept der Zucht erinnert, das notgedrungen immer auch einen (verdrängten) Rest unkontrollierbarer, tierischer Natur miteinbezieht. Dieses unkontrollierte Leben blitzt im Schlussbild von Der Hauptmann von Köpenick wieder auf. Der gepanzerte Körper hat einem Körper platzgemacht, der sich vor Lachen nicht beherrschen kann, der »zuckt, schüttert und wankt«. Die organische Verschmelzung von Körper und Uniform sowie vestimentärer und staatlicher Ordnung wird im
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Stück aber auch von der Uniform selbst als trügerische Fiktion entlarvt. Trotz aller rhetorischen Prägnanz bleibt die Uniform ein Kostüm, das von Figur zur Figur beliebig weitergegeben wird; die Uniform schafft es nicht, im funktionalen Sinne Uniform zu sein. So unterbricht die Maskerade die Illusion eines mit sich selbst identischen Ganzen. Auch in Die Vermessung der Welt und der Debatte um das Berliner Schloss fungiert der Körper als eine Projektionsfläche für Ganzheitsphantasien. Kehlmann macht Alexander von Humboldt zum homme machine, der den Körper diszipliniert und zum reinen Instrument macht, um die ›Logik‹ seines wohlgeordneten Weltbildes durch Selbstversuche zu bestätigen. In der Stadtschlossdebatte werden Körper und Nation diskursiv miteinander verknüpft. Dem psychoanalytischen Schreckbild des zerstückelten Körpers, das in Wendungen wie »deutsche Wunde« evoziert wird, setzen die Schlossbefürworter die Vorstellung eines heilen oder geheilten »Schlosskörpers« entgegen, der metonymisch für die wiedervereinigte deutsche Nation steht: »Eine Wunde wird geschlossen.« Der Leitbegriff dieser Studie erwies sich als eine gewinnbringende Perspektivierung für die Frage nach nationaler Identität. Die eigensinnige Diskursstruktur des Phantasmas erlaubte es, eine breite Vielfalt an Analyseobjekten in die Untersuchung einzubeziehen. Dadurch konnte die Studie immer wieder Seitenwege gehen, die neue Schlaglichter auf das zentrale, in der Germanistik augenscheinlich bereits gründlichst erforschte Forschungsthema warfen. Darüber hinaus stellte sich die ambivalente Struktur des Phantasmas als eine gesellschaftlich relevante Perspektive heraus, um über Gemeinschaft und Identität nachzudenken, gerade in Zeiten, in denen illusorische Stilllegung, Fixierung und Schließung in Bezug auf Identitäten immer salonfähiger wird. In dieser Hinsicht versteht sich diese Arbeit auch als einen offenen Reflexionsraum, um das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und ihrer Repräsentation anders zu denken, jenseits dichotomischer Deutungen und festgeschriebener ›Wahrheiten‹.
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Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung September 2021, 128 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2
Klaus Benesch
Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter März 2021, 96 S., Klappbroschur, Dispersionsbindung 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2
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Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., Dispersionsbindung, 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1
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Literaturwissenschaft Achim Geisenhanslüke
Der feste Buchstabe Studien zur Hermeneutik, Psychoanalyse und Literatur Januar 2021, 238 S., kart. 38,00 € (DE), 978-3-8376-5506-3 E-Book: PDF: 37,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5506-7
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Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 12. Jahrgang, 2021, Heft 1 Juni 2021, 226 S., kart., Dispersionsbindung, 4 SW-Abbildungen 12,80 € (DE), 978-3-8376-5395-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5395-7
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