Postskriptum Peter Szondi: Theorie des Dramas seit 1956 9783839438190

How is drama related to its potential enactment - and is the writer really absent in his or her play? Kai Bremer explore

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German Pages 302 Year 2017

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Table of contents :
Inhalt
I. In weiter Ferne, so nah: 1956
II. „Literatur muss dem Theater Widerstand leisten.“ Inszenierung, Aufführung, Theater und Drama
III. Literaturtheoretische Implikationen der Theorie des modernen Dramas
IV. Episierung und die Ausweitung der Spielräume (1956 bis Anfang der 70er Jahre)
V. Aufstieg und Niedergang der Postdramatik? (Mitte der 70er Jahre bis zur Gegenwart)
VI. Versuch über das Pathos
VII. Literaturverzeichnis
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Postskriptum Peter Szondi: Theorie des Dramas seit 1956
 9783839438190

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Kai Bremer Postskriptum Peter Szondi

Lettre

Kai Bremer (PD Dr. phil.), geb. 1971, ist akademischer Rat am Institut für Germanistik der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist Autor von »nachtkritik.de« und war bis Anfang 2017 Vorstandsmitglied der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft. Neben zahlreichen Publikationen zur Gegenwartsliteratur (insbesondere zu Lyrik und Dramatik) hat er zur Frühen Neuzeit und zur Philologiegeschichte und -theorie gearbeitet.

Kai Bremer

Postskriptum Peter Szondi Theorie des Dramas seit 1956

Habilitationsschrift zur Erlangung des akademischen Grades eines habilitierten Doktors im Fachbereich 5 Sprache, Literatur, Kultur der Justus-Liebig-Universität Gießen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2017 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3819-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3819-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. RUDOLF VON JHERING: GEIST DES RÖMISCHEN RECHTS (1852)

Eine theoretische Arbeit hingegen: sich über die Dinge beugen, sich mit der Überlegenheit des Erkennenden ein Urteil über sie bilden und mit diesem Urteil selbstsicher aufzutreten – dazu mußte ich schon über ein für die Überzeugung anderer nötiges Mehr an Überzeugung verfügen. IMRE KERTÉSZ: FIASKO (1988)

sag ich doch, das drama, sie dramaqueen RENÉ POLLESCH VIA TWITTER AN KAI BREMER (17.7.2012)

Inhalt

I.

In weiter Ferne, so nah: 1956 | 9

II.

„Literatur muss dem Theater Widerstand leisten.“ Inszenierung, Aufführung, Theater und Drama | 17

III.

Literaturtheoretische Implikationen der Theorie des modernen Dramas | 37 Szondis Voraussetzungen | 37 Episierungsthese vs. offene und geschlossene Form? | 51 Diesseits und jenseits der ‚Lösungsversuche‘ | 55 Perspektiven | 75

1. 2. 3. 4. IV.

Episierung und die Ausweitung der Spielräume (1956 bis Anfang der 70er Jahre) | 85

1.

Die staatsverordnete Krise der Episierung und die Reaktionen | 85 Reaktion 1: den Realismus episieren | 89 Reaktion 2: Realismus und dokumentarische Dramatik | 93 Reaktion 3: Gegenrealismus | 96 Ich-Dramatik: Subjektivierung und die Anwesenheit des Autors im Drama | 101 Sinn ohne Handlung? | 105 Absurde Dramatik als Verlusterfahrung | 105 Groteske Dramatik: uneigentliche statt aussichtslose Welt | 107 Die Gesellschaft ad absurdum führen: Metatheatralität und Komik | 110 Bitterer Karneval | 110 Lachen im Angesicht des totalen Schreckens | 112 Den Realismus ad absurdum führen | 117

2. 3.

4.

V.

1.

Aufstieg und Niedergang der Postdramatik? (Mitte der 70er Jahre bis zur Gegenwart) | 127 Die Grenzen der Episierung | 127 Surrealisierung statt Antiillusionismus | 128

Die Ausweitung der Tableaux-Texte: Radikalisierung und Pluralisierung | 135

2.

3.

4.

5. 6.

VI.

Ich-Dramatik: Anwesenheit des Autors und Rückkehr des Mitleids | 143 Tragischer Biographismus | 145 Ausdifferenzierung des Ichs | 152 Medialisierung des Dramas? | 167 „Der Idiot mit der Videokamera“ als dramatische Figur | 170 Medialisierung des Raums | 181 Dramatische Selbstreflexivität | 184 Dramatische Kommentierung | 184 Dramatische Strukturanalysen | 190 Metadramaturgie | 193 Widerstand gegen die Episierung | 200 Das Aufbegehren der Illusion: Wertschätzung des Dialogs und der Umgang mit dem Spielraum | 212 Das „Raumproblem“ der Dramentheorie | 215 Utopische Raum-Spiele | 221 Alles wie immer? Handlung, Raum... | 226 ... und Zeit? | 240 Neue Substantialität statt Neodramatik | 243 Versuch über das Pathos | 255

VII. Literaturverzeichnis | 271 1. Dramen | 271

2.

Sonstige Literatur, Essays und Sekundärliteratur | 274

I. In weiter Ferne, so nah: 1956

Statt eines Schlußwortes Die Geschichte der modernen Dramatik hat keinen letzten Akt, noch ist kein Vorhang gefallen. So ist, womit hier vorläufig geschlossen wird, in keiner Weise als Abschluß zu nehmen. Für ein Fazit ist die Zeit so wenig gekommen wie für das Aufstellen von neuen Normen. Vorzuschreiben, was modernes Drama zu sein hat, steht seiner Theorie ohnehin nicht zu. Fällig ist bloß die Einsicht in das Geschaffene, der Versuch seiner theoretischen Formulierung. Ihr Ziel ist der Aufweis neuer Formen, denn die Geschichte der Kunst wird nicht von Ideen, sondern von deren Formwerdung bestimmt. Dramatiker haben der veränderten Thematik der Gegenwart eine neue Formenwelt abgerungen – wird sie in der Zukunft Folgen haben? Wohl enthält alles Formale, im Gegensatz zu Thematischem, seine künftige Tradition als Möglichkeit in sich. Aber der historische Wandel im Verhältnis von Subjekt und Objekt hat mit der dramatischen Form die Überlieferung selber infrage gestellt. An ihrer Stelle kennt eine Zeit, der Originalität alles ist, bloß die Kopie. So wäre, damit ein neuer Stil wieder möglich sei, die Krise nicht nur der dramatischen Form, sondern der Tradition als solcher zu lösen.1



Mit diesen Sätzen endet Peter Szondis Theorie des modernen Dramas aus dem Jahr 1956. Dieses Schlusswort erwägt die Möglichkeit, vielleicht sieht es sogar die Notwendigkeit, die (Theorie-)Geschichte der Dramatik fortzuschreiben. Auf Szondis Studie aufbauend, wird das vorliegende Buch zwei weitere ,Akte‘ in der Entwicklung des Dramas darlegen, die sich seitdem ereignet haben. Dieses Anliegen ist doppelt riskant, weil der Verfasser erstens damit versucht, Szondis Überlegungen fortzuschreiben. Er weiß um die Tradition, in die

1

Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880-1950), in: ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 9-148, hier S. 147.

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er damit tritt, und damit um die Unmöglichkeit, diesem Anspruch gerecht zu werden. Er hat sich entschieden, trotzdem so zu handeln, weil er Szondis Buch als Auftrag begreift, das Drama als artifizielle Ausdrucksform2 der je eigenen Gegenwart zu betrachten und dieser wiederum verstehbar zu machen.3 Seit Szondis schmaler Dissertation hat niemand versucht, den nächsten ,Akt‘ zu schreiben – zumindest nicht so zu schreiben, wie es eben durch Szondi notwendig geworden ist: als theoretische Annäherung an die historische Produziertheit eines wesentlichen Kunstgegenstands der Gegenwart. Eben darin liegt das zweite Risiko des Unterfangens. In Abwandlung eines Satzes Heiner Müllers über Brecht kann man sagen: Über Szondi zu sprechen, ohne ihn zu kritisieren, heißt, ihn zu verraten. Das vorliegende Buch wird von Szondi ausgehen, indem es auf ihn zurückgeht. Am Anfang des Buches steht, nach einer knappen Rekapitulation wesentlicher Dimensionen dessen, was im Folgenden als ,Drama‘ begriffen wird, eine Relektüre der Theorie des modernen Dramas, die auf eine kritische Überprüfung von Szondis historischen Positionen und Kategorien und eine wissenschaftsgeschichtliche Einbettung zielt. In Auseinandersetzung damit wird nicht nur die weitere historische Entwicklung des Dramas dargelegt, sondern auch dessen weitere literaturtheoretische Erörterung. Wenn man in zeitgenössische literatur- oder theaterwissenschaftliche Forschungen blickt, kommt rasch der Eindruck auf, das Drama sei am Ende, wobei dieses Ende sich recht undramatisch ereignet zu haben scheint.4 Weder ist das Drama in der Katastrophe5 tragisch untergegangen, noch scheint seine letztgültige Form gefunden zu sein. Vielmehr – so könnte man meinen – ist es unspekta-

2

Mit Szondi wird bewusst von ,Form‘ und nicht von ,Gattung‘ gesprochen, da dieser Begriff literaturtheoretisch vielfältig problematisch ist – zumal für das neuere Drama: vgl. Norbert Otto Eke: Der Verlust der Gattungsmerkmale: Drama nach 1945, in: Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte. Hg. v. Peter W. Marx. Stuttgart, Weimar 2012, S. 310-322.

3

Vgl. ähnlich auch Martin Esslin: Die Suche nach neuer Form im Theater, in: ders.: Jenseits des Absurden. Wien 1972, S. 13-19.

4

Ausnahmen bestätigen die Regel, sehr anregend für die folgenden Überlegungen war Lutz Ellrich: Das Drama als Form. Anschauung, Dialog, Performance, in: Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie. Hg. von Oliver Kohns, Claudia Liebrand. Bielefeld 2012, S. 39-55.

5

Zur Begriffsgeschichte von ‚Katastrophe‘ vgl. Olaf Briese, Timo Günther: Katastrophe. Terminologische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Archiv für Begriffsgeschichte 51 (2009), S. 155-195.

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kulär abgetreten und hat dem neuen Helden ‚theatraler Text‘ die Bühne überlassen. Schon die ironische Markierung dieses Narrativs deutet an, dass es in diesem Buch bezweifelt wird. Insgesamt beansprucht das Buch Gültigkeit bis in die Gegenwart bzw. jüngste Vergangenheit, indem es die Dramatik der ersten zwei Jahrzehnte seit dem Fall der Mauer mitberücksichtigt. Dass dabei die deutsche Literatur den Schwerpunkt bildet, ist weniger dem disziplinären Hintergrund des Verfassers geschuldet, sondern der Überzeugung, dass die deutschsprachige Dramatik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vielfach Vorreiterin in formaler Hinsicht gewesen ist. Insgesamt aber kann ein Buch, das sich auf Szondi beruft, seinem sich selbst gestellten Anspruch nur gerecht werden, wenn es komparatistisch angelegt ist.6 Es beansprucht also Gültigkeit für die europäische Dramatik. Nichtsdestotrotz unterliegt die Auswahl der Beispiele selbstverständlich den Lese- und Theatererfahrungen des Verfassers.7 Die Geschichte des Dramas in den letzten fünfzig Jahren wird im vorliegenden Buch in zwei formgeschichtliche Abschnitte unterteilt, die in Anlehnung an Szondis Schlusswort als ,Akte‘ begriffen werden. Der erste ,Akt‘ beginnt Mitte der 50er Jahre, weniger weil die Theorie des modernen Dramas im Spätsommer 1956 erschien, sondern weil am 14. August desselben Jahres Brecht gestorben ist. In den Dramen nach dieser Zäsur wird die Kategorie des Verstehens zunehmend brüchig, die Botschaft geht verloren. Das mündet in einen zunehmend radikaleren Bruch mit etablierten Formen und in die Kritik des Verstehens (etwa im absurden Theater) oder in immer radikalere Episierung als Widerstand gegen den Realismus (vor allem dem des Sozialismus). Dieser Bruch in der Dramatik korreliert mit dem Bedeutungsverlust des Textes für das Theater bzw. der schon früher einsetzenden Autonomisierung des Theaters vom Drama, die Hans-Thies Lehmann auf den Begriff des ‚Postdramatischen Theaters‘ gebracht hat.8 Bruch

6

Gert Mattenklott: Peter Szondi als Komparatist, in: Vermittler. H. Mann / Benjamin / Groethuysen / Kojève / Szondi / Heidegger in Frankreich / Goldmann / Sieburg. Deutsch-französisches Jahrbuch 1 (1989), S. 127-141.

7

Szondi erörtert seine Auswahlkriterien nicht weiter, er erklärt vielmehr, dass er die „Entwicklung an ausgewählten Beispielen zu erfassen“ versuche; Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 15.

8

Vgl. Hans-Thies Lehmann: Postdramatisches Theater. 2. Aufl. Frankfurt/M. 2001. Abzugrenzen sind die folgenden Überlegungen damit zugleich von den Ausführungen von Birgit Haas, die ihre Kritik an Lehmann durch Analyse konkreter Aufführungszahlen zu stützen versucht hat, statt zu bedenken, dass unterschiedliche disziplinäre

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wie Bedeutungsverlust in diesem Sinne kennzeichnen die Dramen- wie Theatersituation seit den späten 60er, frühen 70er Jahren. Analog beginnt die Literaturwissenschaft die Hermeneutik zu hinterfragen – Szondi selbst ist dafür vielleicht das beste Beispiel. In den Jahren nach der Theorie des modernen Dramas wird er sich von einer Hermeneutik gadamerscher Prägung immer weitergehend distanzieren und versuchen, eine Hermeneutik im Rückgriff auf Schleiermacher zu entwickeln und dabei wiederholt auch die Dekonstruktion berühren.9 Bei der theoretischen Erörterung, wie sich die Dramatik nach 1956 entwickelt, wird dabei möglichst auf Wertungen verzichtet. So werden Dynamiken nicht mit Szondi als Ausdruck einer ‚Krise‘ begriffen. Vielmehr wird das Drama als eine literarische Ausdrucksform betrachtet, die in Verbund mit dem Theater permanent die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft sucht.10 Dementsprechend ist es obsolet, bestimmte literaturgeschichtliche Phasen als Krisen-Zeiten zu beschreiben. Die Dramatik seit den 90er Jahren als Beispiel für eine Krisen-Literatur zu begreifen, würde zudem vor dem Hintergrund ihrer Entwicklung kaum überzeugen. Schließlich erfuhr sie insbesondere durch die Förderung junger Autoren in den 1990er Jahren einen regelrechten Boom.11 Es wird zu überprüfen sein, wie sich die junge Dramatik zur Dramatik radikalen Experimentierens in den 70er und 80er Jahren verhalten hat. Dass die Antworten darauf nicht eindeutig, son-

Zugriffe unterschiedliche Ergebnisse zeitigen können; vgl. Birgit Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama. Wien 2007, S. 11-22. 9

Vgl. Peter Szondi: Über philologische Erkenntnis, in: ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 263-286. Eine umfassende Darlegung und Klärung von Szondis Hermeneutik-Verständnis bzw. dessen Entwicklung kann hier nicht erbracht werden, obwohl sie nicht nur in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht dringend benötigt wird. Grundlegend dafür neben dem genannten Aufsatz Peter Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute, in: ders.: Schriften II. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 106-130; ders.: Celan-Studien, in: ebd., S. 319-398, bes. S. 326f.; ders.: Einführung in die literarische Hermeneutik. Hg. v. Jean Bollack, Helen Stierlin. Frankfurt/M. 1975.

10 Erste Ansätze dazu bei Michaela Reinhardt: TheaterTexte – Literarische Kunstwerke. Untersuchungen zu poetischer Sprache in zeitgenössischen deutschen Theatertexten. Berlin 2014. 11 Zu den aktuellen Entwicklungen dieses insgesamt weiterhin anhaltenden (wenn auch seinerseits nicht unproblematischen) Booms vgl. Andreas Englhart, Artur Pelka (Hg.): Junge Stücke. Theatertexte junger Autorinnen und Autoren im Gegenwartstheater. Bielefeld 2014.

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dern vielfältig sind, versteht sich. Zudem wird zu prüfen sein, wie sich die neuste Dramatik zu primär philosophischen und weniger literaturwissenschaftlichen Kategorien verhält, die vielleicht schon seit der Antike, zumindest aber seit Hegel die Auseinandersetzung mit der Dramatik berührt haben – also in erster Linie zu Pathos und dem Tragischen. Mit dieser das Buch abschließenden Frage wird nicht nur den Bogen zurück zu den Anfängen der europäischen Dramentheorie geschlagen. Die Studie vollzieht zugleich den für Szondis Werk zentralen Bogen vom Drama zum Tragischen, weswegen die dafür einschlägigen Studien seit Szondis Versuch über das Tragische12 auch erst am Ende des vorliegenden Buches berücksichtigt werden. Da das Tragische viel weniger an bestimmte Formen gebunden ist, als gemeinhin angenommen wird (wie wir sehen werden), schien dem Verfasser des Vorliegenden dieses Vorgehen geboten – nicht zuletzt auch deswegen, weil die notwendig umfassenden Vorüberlegungen in den Kapiteln II und III sonst noch mehr Raum eingenommen hätten. Das eingangs zitierte Schlusswort der Theorie des modernen Dramas legt die Vermutung nahe, Szondi habe eine Geschichte der Dramatik vom ausgehenden 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts erzählen wollen. Dem ist nicht so. Es geht in der Theorie des modernen Dramas nicht um die Rekonstruktion einer Literaturgeschichte, sondern um die „Historisierung des Formbegriffs“.13 Sich dem anschließend, erzählt auch das vorliegende Postskriptum keine Geschichte des Dramas. Vielmehr untersucht es Beispiele der Formentwicklung, um diese historisch zu begreifen. Methodisch, das wird sich rasch zeigen, weichen die beiden Bücher voneinander ab, wobei sich diese Differenz zunächst aus der historischen Distanz ergibt. Der Verfasser des Postskriptums14 war noch nicht auf der Welt, als Szondi starb. Wenn auch erst deutlich nach dem Erscheinen der Theorie des modernen Dramas so hat sich dieser mit dem Poststrukturalismus doch intensiv befasst (und zwar mit der Dekonstruktion und weniger mit der Diskursanalyse Foucaults).15 Er hat diese Auseinandersetzung in Deutschland maßgeblich angeregt, indem er Derrida, mit dem er befreundet war, und de Man, dessen Nachfolger in Zürich er werden sollte, Ende der 60er Jahre nach Berlin zu Seminaren

12 Peter Szondi: Versuch über das Tragische, in: ders.: Schriften I. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 149-260. 13 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 12. 14 Literarischer hat Ginka Steinwachs mit den Initialen Szondis gespielt: Ginka Steinwachs: P.S. und: der weißen Woche Dienstag – Dokumentart (ca. 1969), in: Nach Szondi. Hg. von Irene Albers. Berlin 2016, S. 332-337. 15 Vgl. bes. Szondi: Celan-Studien.

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einlud.16 Die Dekonstruktion zu berücksichtigen, das lässt sich mit dem grundlegend hermeneutischen Konzept von Szondis Theorie also durchaus in Verbindung, wohl aber nicht in Einklang bringen. Der Verfasser der vorliegenden Studie geht davon aus, dass sie ihrer Vorgängerin nur gerecht wird, wenn sie ihre Analyse am Gegenstand orientiert und im Sinne von Szondis Hermeneutik auf Erkenntnis und nicht auf Wissen zielt: „Das philologische Wissen hat seinen Ursprung, die Erkenntnis, nie verlassen, Wissen ist hier perpetuierte Erkenntnis – oder sollte es doch sein. [...] Das philologische Wissen darf also gerade um seines Gegenstands willen nicht zum Wissen gerinnen.“17 Im Unterschied zur Dramatik zur Zeit Szondis ist allerdings der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Studie von der Erfahrung des Poststrukturalismus und der Auseinandersetzung mit diesem elementar geprägt. Dementsprechend werden Methoden und Theorien berücksichtigt, die heute üblicherweise der Narratologie sowie der Kulturwissenschaft zugerechnet werden;18 konkret und in erster Linie: Autorschafts- sowie Performanztheorien. Szondis Buch kennt zwei Autoritäten: Adorno und Brecht. Adorno ist für die theoretischen Überlegungen einschlägig wie kein anderer. Um das zu zeigen und um die Konsequenzen daraus zu ziehen, wird im Folgenden immer wieder auch wissenschaftsgeschichtlich argumentiert. Brecht als Autorität für Szondis Überlegungen zu begreifen, mag zunächst überraschen, weil ihm nur eins der neun Kapitel im Teil „Lösungsversuche“ der Theorie des modernen Dramas vorbehalten ist. Durch die Zentralstellung der Episierungsthese aber, so wird zu zeigen sein, ist Brecht für den Rest der Theorie des modernen Dramas konstitutiv. Das vorliegende Buch nimmt das Vorgehen und Anliegen seines Vorbilds auf und schreibt es fort, indem es ebenfalls je von einer Autorität für theoretische Fragen ausgeht und eine zentrale Gestalt für die Entwicklung des Dramas annimmt. Szondi ist wesentlich für die folgenden theoretischen Überlegungen – das ergibt sich aus der Anlage und wird nach dem bisher Ausgeführten kaum überraschen. Heiner Müller wird zentral für die Überlegungen zur Dramatik. Dazu bietet er sich an, weil er sein erstes Drama, Der Lohndrücker, just 1956 beginnt und in einer Phase der Desorientierung der DDR-Dramatik schreibt. Müller ist dementsprechend der Autor, der wie kein anderer weite Teile der Dramatik von Brechts

16 Vgl. Christoph König: Engführungen. Peter Szondi und die Literatur. Marbach 2004, S. 68 u.ö. Zur Geschichte der AVL an der FU Berlin Irene Albers (Hg.): Nach Szondi. Berlin 2016. 17 Szondi: Über philologische Erkenntnis, S. 265f. 18 Eine Übersicht bei Uwe Wirth (Hg.): Kulturwissenschaft. Eine Auswahl grundlegender Texte. Frankfurt/M. 2008.

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Tod bis heute begleitet hat und außerdem wie kein anderer für die Fortsetzung bzw. Fortführung von Brechts Episierung steht, ohne dass er diese schlicht wiederholt hat. Wenige Worte zum Umfang und zur Genese der vorliegenden Studie: Das Postskriptum ist deutlich länger als die Theorie des modernen Dramas, weil das vorliegende Buch seine Aufgabe unter anderem darin sieht, den wissenschaftsgeschichtlichen Rahmen von Szondis Buch zu rekonstruieren und damit zum theoretischen Verständnis des Dramas beizutragen. So schreibt es Szondis Studie nicht nur fort, sondern akzentuiert seinen Zugriff neu. Das Postskriptum ist also Kommentar und Fortsetzung. Das mag den Umfang rechtfertigen. Szondis Prägnanz und seiner Tendenz zum exemplarischen Argumentieren bleibt es verpflichtet, wird es aber nicht erreichen. Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich, dass der Verfasser die vorliegende Studie als selbständiges Werk begreift. Gleichwohl hat er sich erlaubt, aus eigenen Publikationen Ab- und Ausschnitte unterschiedlicher Länge zum Teil wörtlich, zumeist aber zusammenfassend zu übernehmen. Da diese Textteile zudem überarbeitet, aktualisiert und in die hier nun vorliegende Gestalt gebracht wurden, war es dem Verfasser nicht einfach möglich, diese Textteile wie Texte Dritter zu behandeln und kenntlich zu machen. Deswegen weise ich auf diese Arbeitsweise an dieser Stelle hin; im Literaturverzeichnis sind die Aufsätze, für die das gilt, mit einem Stern hinter meinem Namen gekennzeichnet. Erste Ideen und Thesen, die ich auf Tagungen und in Publikationen präsentiert habe, wurden mit zahlreichen Menschen diskutiert, denen ich dafür zu großem Dank verpflichtet bin: Carlo Barck (†), Sibylle Baumbach, Natalie Driemeyer, Ulrike Haß, Thomas Irmer, Stephan Kraft, Kristin Schulz, B.K. Tragelehn, Daniel Weidner und Harald Wolff. Als Autor von zunächst Theater heute, dann und bis heute von nachtkritik.de hatte ich das große Glück, zahlreiche Uraufführungen und deutsche Erstaufführungen besuchen zu dürfen, was die vorliegenden Überlegungen in vielfältiger Weise angeregt hat. Vor allem aber den kritischen, fordernden wie weiterführenden Diskussionen mit Uwe Wirth und Christoph König verdankt das vorliegende Buch seinen Abschluss, den beide zudem gemeinsam mit Annette Simonis als Gutachter im Habilitationsverfahren an der JLU Gießen begleitet haben. Gewidmet ist das Buch meiner Tochter Rebekka.

II. „Literatur muss dem Theater Widerstand leisten.“ Inszenierung, Aufführung, Theater und Drama

Die Funktion der Literatur sei es, „dem Theater Widerstand zu leisten“.1 Das meinte Heiner Müller in einem Interview. Er hat dies als Regisseur geäußert, denn es heißt im Gespräch weiter: „Nur wenn ein Text nicht zu machen ist, so wie das Theater beschaffen ist, ist er für das Theater produktiv, oder interessant.“2 Auffällig an dem Zitat ist weniger Müllers funktionale Festlegung und sein kategorischer Zugriff auf den Text aus der Theaterperspektive als vielmehr, dass er den Begriff des Dramas vermeidet. Müller spricht vom Text, der für das Theater geschrieben ist, nicht vom ‚Drama‘. Die Ursache dafür dürfte der Umstand sein, dass ‚Dramen‘ gemeinhin als für die Bühne ‚gemacht‘ gelten. Wenn Texte dem Theater Widerstand leisten sollen, sind ‚Dramen‘ uninteressant, weil sie diesen Widerstand nicht leisten. Wenn auch diese Einschätzung gewiss nicht von allen Regisseuren geteilt wird, so ist Müllers Sprachgebrauch gegenwärtig gleichwohl typisch für die meisten Gegenwartsdramatiker und Literaturwissenschaftler. Um das Wort ‚Drama‘ wird ein Bogen gemacht, neben ‚Stücken‘ oder ‚Theatertexten‘ wird von ‚theatralen Texten‘ gesprochen. Hintergrund dieser Begrifflichkeit ist die

1

Heiner Müller: „Literatur muss dem Theater Widerstand leisten“. Gespräch mit Horst Laube, in: Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Hg. v. Joachim Fiebach. Berlin 2003, S. 299-313, hier S. 302. Zu Müllers Selbstinszenierungen in Interviews vgl. Torsten Hoffmann: Die Ausschaltung der Einschaltung des Autors. Autokritische Selbstinszenierungen in Interviews von Heiner Müller und W.G. Sebald, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Typologie und Geschichte. Hg. v. Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser. Heidelberg 2011, S. 313-340.

2

Müller: „Literatur muss dem Theater Widerstand leisten“, S. 302.

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Aufwertung der Aufführung gegenüber dem dramatischen Text auf dem Theater, weswegen es geboten scheint, diesen Prozess zunächst zu rekapitulieren, bevor eine weitergehende Klärung vorgenommen wird, was im Folgenden unter ‚Drama‘ verstanden wird. Im Deutschen etabliert sich ‚Inszenierung‘ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Fachterminus des sich professionalisierenden Theaterbetriebs. Der Begriff ist eine Lehnübersetzung von „la mise en scène“. Die französische Wendung ist allerdings nicht wesentlich älter, sie kommt im frühen 19. Jahrhundert auf.3 ‚Inszenierung‘ ist in dieser Zeit ein Begriff der konkret auf die Bühne (lat. scena) bezogen ist.4 Das wird bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts betont, indem synonym von ‚Scenik‘ gesprochen wird. Auch steht neben dem entsprechenden Verb ‚inszenieren‘ alternativ ‚szenieren‘.5 Mit ‚Inszenierung‘ ist damit sowohl der Realisierungsprozess vor der Aufführung als auch diese selbst gemeint. Damit zielt der Begriff auf eine Theaterpraxis, die deutlich älter ist als er selbst. Es ist davon auszugehen, dass schon die Vorbereitung der Tragödienaufführungen für die großen Dionysien mehrere Monate in Anspruch nahm. Trotzdem wird mit dem Neologismus ‚Inszenierung‘ nicht lediglich nachgeholt, was seit mehr als 2000 Jahren theatrale Praxis ist. Der Begriff ist Symptom des einsetzenden Autonomisierungsprozesses des Theaters gegenüber dem Drama als literarischer Kunstgattung.6 Er bezieht sich wie „mise en scène“ zunächst ausschließlich auf die Transformation des literarischen Dramas in literarisches Theater. Wesentlich dafür war die Aufwertung dessen, was in der Folgezeit zunehmend Aufgabe des Regisseurs werden sollte: die Einführung von Leseproben, Vermittlung grundsätzlicher Stückkenntnis an die Schauspieler, Planung der Bühnendekoration, Choreographie auf der Bühne sowie Proben der Deklamation

3

Vgl. André Veinstein: La Mise en Scène théâtrale et sa Condition esthétique. 3. Aufl. Paris 1992, S. 11.

4

Vgl. Friedrich Kluge: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearb. v. Elmar Seebold. 24., durchges. u. erw. Aufl. Berlin, New York 2002, S. 901; Hans Schulz, Otto Basler: Deutsches Fremdwörterbuch. Weitergef. v. Institut f. dt. Sprache. Bd. 4. Berlin, New York 1978, S. 697-699; Joseph Kiermeier-Debre: Inszenierung, in: Reallexikon d. dt. Literaturwissenschaft. Bd. 2. Hg. v. Harald Fricke. Berlin, New York 2000, S. 154-156; Patrice Pavis: Inszenierung, in: Theaterlexikon. Hg. v. Manfred Brauneck, Gerard Schneilin. 3. vollst. überarb. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 441-443.

5

Schulz, Basler: Deutsches Fremdwörterbuch, S. 699.

6

Vgl. Reinhardt: TheaterTexte, S. 21ff.

I NSZENIERUNG , A UFFÜHRUNG , T HEATER UND D RAMA

| 19

und Gestik. Wichtiger Wegbereiter für diese Aufwertung der Realisierungspraxis war Goethe während seiner langjährigen Leitung des Weimarer Hoftheaters (1791-1817).7 Die Ansprüche an die theatrale Praxis haben sich Mitte des 19. Jahrhunderts insoweit etabliert, als dass die Inszenierung als ‚Scenik‘ die Aufwertung zur Kunsttechnik erfährt.8 Das bedeutet allerdings nicht, dass zu diesem Zeitpunkt die Aufführung bereits als eigenständiges Kunstwerk beurteilt wird. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts setzt sich dieses Verständnis endgültig durch. Die Aufmerksamkeit gilt weiterhin primär den technischen Fragen der Inszenierung. Auch wird Mitte des 19. Jahrhunderts meist nach der Zwei-WeltenTheorie zwischen der ästhetisch-ideellen Welt des Dramas und der realen Bildgebung durch die Aufführung unterschieden. Das verweist zugleich darauf zurück, dass in begriffsgeschichtlicher Hinsicht für „mise en scène“ die Wendung „mettre sur scène“ wegbereitend war, auf die erstmals 1765 in Diderots Salons im Hinblick auf die Malerei zurückgegriffen wird. Damit ist ‚Inszenierung‘ Ausdruck für das dialektische Verhältnis von Drama und Theater: Das Wort, das wie vielleicht kein anderes seit Beginn des 20. Jahrhunderts den eigenständigen Kunstcharakter des Theaters repräsentiert und reklamiert, wurde ein knappes Jahrhundert zuvor gebildet, gerade um das vermeintlich weniger Kunstfertige des Theaters gegenüber dem Drama zu betonen. Max Scheler hat diesem Umstand bereits 1916 Rechnung getragen und nicht nur zwischen ‚Regisseurtheater‘ und ‚Dichtertheater‘ unterschieden, sondern bereits eine ‚Verwandlung‘ des letzteren ins erstere angenommen.9 Abweichend vom ursprünglichen Wortgebrauch werden gegenwärtig mittels des Begriffs analytisch sowohl künstlerische als auch nicht-künstlerische Inszenierungen10 wie etwa politische Ereignisse und herrschaftliche Feste in den Blick genommen. Doch ist das sprachlich unpräzise. Stattdessen unterscheidet Erika Fischer-Lichte zwischen Inszenierung und Aufführung (diese als Ergebnis jener). ‚Inszenierung‘ wird damit auf die Phase der „Planung, Erprobung und Festlegung von Strategien“11 beschränkt. Diesem in den Theaterwissenschaften

7

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/M. 2004, S. 320; vgl. auch Walter Hinck: Goethe – Mann des Theaters. Göttingen 1982.

8

Franz von Akáts: Kunst der Scenik in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht. Wien, Leipzig 1841.

9

Vgl. Max Scheler: Krieg und Aufbau. Leipzig 1916, S. 291.

10 Martin Seel: Inszenierung als Erscheinenlassen. Thesen über die Reichweite eines Begriffs, in: Ästhetik der Inszenierung. Hg. v. Josef Früchtl, Jörg Zimmermann. Frankfurt/M. 2001, S. 48-62. 11 Fischer Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 327.

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weitgehend etablierten Sprachgebrauch folgt die vorliegende Studie. Ein weiter Inszenierungsbegriff – wie er etwa in der kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft etabliert ist – wird im Folgenden nicht zugrunde gelegt, weil er einerseits rasch zu Missverständnissen führen könnte und weil der Verfasser zudem einem weiteren Ausfasern des Inszenierungsbegriffs keinen Vorschub leisten möchte. Aus diesem konzentrierten Inszenierungsbegriff erwächst zugleich die Möglichkeit, ebenso ‚Theater‘ eng zu fassen. Das ist nicht selbstverständlich. Schließlich eignet sich kaum ein Wort besser als ‚Theater‘, um damit umfassende metaphorische und philosophische Konzepte zu verbinden.12 Das wird insbesondere durch Ralf Konersmanns Untersuchung zum „Welttheater als Daseinsmetapher“ deutlich.13 Dort reflektiert er in Anlehnung an Hans Blumenberg das Verhältnis von Theoriesprache und Metaphorizität, wobei Konersmann grundlegend annimmt, dass jene ohne diese gar nicht existieren kann. Er verdeutlicht seine Überlegungen anhand der Rollenmetaphorik der modernen Soziologie (Goffmans zumal). Damit gewinnt er den Ausgangspunkt, um grundsätzlich über die Dimensionen des Begriffs der ‚Rolle‘ in der auf die Gesellschaft bezogenen Philosophie nachzudenken.14 Damit liefert Konersmann eine Interpretation der Metapher. Deswegen scheint es für die vorliegenden Überlegungen angebrachter, ‚Theater‘ unmetaphorisch und schlicht als Institution zu begreifen, die eine Inszenierung und sodann eine Aufführung ermöglicht.

12 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 9. Aufl. Bern, Tübingen 1978, S. 146-152; Richard Alewyn, Karl Sälzle: Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste in Dokument und Deutung. Hamburg 1959; Wilfried Barner: Barockrhetorik. Untersuchungen zu ihren geschichtlichen Grundlagen. Tübingen 1970, S. 86-131; Franz Link, Günter Niggl (Hg.): Theatrum Mundi. Götter, Gott und Spielleiter im Drama von der Antike bis zur Gegenwart. Berlin 1981; Martin Euringer: Zuschauer des Welttheaters. Lebensrolle, Theatermetapher und gelingendes Selbst in der frühen Neuzeit. Darmstadt 2000. 13 Ralf Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik. Frankfurt/M. 1994, S. 84-168. Selbstverständlich ist Konersmanns ontologischer Zugriff nicht notwendig der einzige. Für die Theaterwissenschaft entschieden weiterführender, da von der Aufführung und dem Ereignis ausgehend, ist Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters. München 2008, S. 45-143; literaturwissenschaftlich einschlägig Tine Koch: Das Leben ein Spiel, die Welt ein Theater? Spielformen des Welttheaters in den dramatischen Werken Samuel Becketts und Thomas Bernhards. Heidelberg 2012, bes. S. 34-74. 14 Ähnlich operiert Euringer: Zuschauer des Welttheaters.

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Dass andererseits das metaphorische theatrum-Konzept und die Institution Theater (und auch die Institution Theaterwissenschaft) notwendig miteinander in Verbindung stehen, hat Hans-Christian von Herrmann betont. Exemplarisch zeigt er durch die Analyse von Calderóns El gran teatro del mundo den „theologische[n] Fluchtpunkt“15 des theatrum mundi auf: Vordergründig wird die Theatralität der Welt als „endloses Spiegelspiel zwischen Welt und Bühne“ thematisiert; wesentlich aber ist die Eucharistie, die „kein inszeniertes Schauspiel, sondern eine reale (Ver-)Wandlung“16 ist. Calderón hat seinem Auto sacramentale das Attribut alegórico gegeben und rekurriert damit auf eine der drei Deutungsmöglichkeiten des sensus spiritualis. Das inszenierte Welttheater wird nicht mehr nur auf seine religiöse Grundlage zurückgeführt, das Drama selbst ist Auslegung der Heiligen Schrift und damit Auslegung des Letztgültigen in der Welt. Eben dieses Spiegelspiel zwischen Welt und Bühne wird bis heute von Drama und Theater reklamiert, weswegen die Reduktion von ‚Theater‘ auf seinen institutionellen Gehalt immer zwingend vorläufig bleibt und vom Theater selbst unterlaufen wird, wenn es politischen Anspruch formuliert – soll sagen: wenn es Gültigkeit jenseits seiner selbst verlangt. Wie sehr dies nicht nur für das Theater, sondern auch für das Drama gilt, wird sich aus den folgenden Ausführungen ergeben. Wir werden sehen, dass Theater und Drama selbst dort, wo sie beanspruchen, absurd oder dekonstruktivistisch zu sein (und also auf direkte Referenz verzichten), Weltbezug haben und Aussagen und Deutungen über die Welt formulieren. Deswegen ist eine Auseinandersetzung mit dem Drama, die auf das Verstehen verzichten möchte, zum Scheitern verurteilt. In den einleitenden Überlegungen wurde betont, dass das Vorliegende nicht nur in dramentheoretischer Hinsicht Szondi folgt, sondern auch seinen an Schleiermacher geschulten hermeneutischen Überlegungen. Szondi lehnt eine auf Einfühlung und Verstehen der Autorintention setzende Hermeneutik ab17 und deutet Schleiermacher dahingehend, dass es diesem um die „Geschichtlichkeit der Phänomene“18 gegangen sei. Konkret wird das mit Blick auf die Interpretation, die Szondi in eine grammatische und eine technische unterscheidet. Beide sind seinem Dafürhalten nach „sowohl vom historischen Index als auch von der Gattung des zu interpretierenden Werkes be-

15 Hans-Christian von Herrmann: Das Archiv der Bühne. Eine Archäologie des Theaters und seiner Wissenschaft. München 2005, S. 68-76, hier S. 75. 16 Ebd., S. 76. 17 Vgl. Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute, S. 115f. 18 Ebd., S. 127.

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stimmt“.19 Die Form historisch zu verstehen, ist also Voraussetzung für die Interpretation des einzelnen Kunstwerks. Damit betont Szondis Analyse von Dramatik deren Kunstcharakter. Er hat das in den Vorlesungen zur literarischen Hermeneutik (im Unterschied zur philosophischen Diltheys) betont: Sprechen wir von literarischer Hermeneutik statt von philologischer, so nicht zuletzt darum, weil die Auslegungslehre, die wir im Sinn haben, von der überlieferten Hermeneutik der Klassischen Philologie sich darin wird unterscheiden müssen, daß sie den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in einer Würdigung, die auf die Auslegung folgt, berücksichtigt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst macht.

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Die einleitend formulierte Feststellung, die Auswahl der Dramen sei subjektiv, ist also vor diesem Hintergrund zu begreifen. Die Texte sind nicht willkürlich ausgewählt, sondern aufgrund von ästhetischen Überlegungen des Verfassers. Diese können hier jedoch ihrerseits nicht umfassend dargelegt werden und erschließen sich (so bleibt zu hoffen) während der Lektüre des Buches. Zugleich wirft der Hinweis auf die ästhetische Qualität der Dramen die Frage nach deren gesellschaftlicher Verankerung und ihrer Präsentation im Theater auf, weil Dramatik eine auf gesellschaftliche Teilhabe zielende Form der Literatur ist. Diese Teilhabe wird in Erinnerung gerufen, wenn für das Drama der Konflikt Voraussetzung und Kriterium ist. Die Frage nach dem Konflikt im Drama, zumindest wenn diesem ein politischer Kern zugesprochen wird, unterliegt historischen Veränderungen und kommt nicht ohne die Berücksichtigung des Kontextes aus.21 Zugleich wird in der Dramentheorie davon ausgegangen, dass der politische Kern wesentlicher Motor für die Weiterentwicklung des Dramas ist, was aber nicht heißen muss, dass das Drama schlicht politische Entwicklungen abbildet, sondern vielmehr in einem dialektischen Austauschprozess mit seiner Umgebung steht. Schon Georg Lukács hat deswegen die Abstraktheit dieses Prozesses betont: Aus diesen Lebensformen, aus ihrer Beziehung zueinander und zu der dramatischen Form können die wichtigsten Stilprobleme des neuen Dramas abgeleitet werden: aus der Abstraktheit des das Leben beherrschenden Prozesses (weil wir doch im Drama, so wie im ei-

19 Ebd., S. 130. 20 Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik, S. 13. 21 Vgl. auch Hans-Thies Lehmann: Wie politisch ist postdramatisches Theater? Warum das Politische im Theater nur die Unterbrechung des Politischen sein kann, in: ders.: Das Politische schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2002, S. 11-21.

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genen Leben die Welt aus der Perspektive nur eines Menschen ansehen können) die Abstraktheit des dramatischen Konflikts; aus der sich andern Tatsachen brechenden Ideologie (denn die Tatsachen sind es, die wir primär wahrnehmen können) die allem Frühern gegenüber stärker gewichtiger gewordene, konkrete Bedeutung des Hintergrundes, des Milieus.

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Dabei muss das Drama keine eindeutige Position beziehen oder gar den Konflikt lösen im Sinne einer Schlichtung oder Entscheidung. Lukács indirekt bestätigend, geht Szondi davon aus, dass zumindest dem klassischen europäischen Drama eine Affinität zum Konflikt eigen ist: Der Mensch ging ins Drama gleichsam nur als Mitmensch ein. Die Sphäre des ‚Zwischen‘ schien ihm die wesentliche seines Daseins; Freiheit und Bindung, Wille und Entscheidung die wichtigsten seiner Bestimmungen. Der ‚Ort‘, an dem er zu dramatischer Verwirkli23

chung gelangte, war der Akt des Sich-Entschließens.

Indem Szondi das Sich-Entschließen-Müssen und die Position des Subjekts ,zwischen‘ zwei Positionen betont, individualisiert er die Kategorie Konflikt und setzt sie ins Verhältnis zum Dialog. Das Präteritum (Szondi hat den überwiegenden Teil seiner Studie im Präsens verfasst) zeigt jedoch, dass er nicht davon ausgeht, dass seine Feststellung bis in die Gegenwart gültig sein muss. Deswegen steht zu vermuten, dass ihm der Konflikt als Kategorie des Dramas problematisch wurde. Zweifel am Konflikt als notwendiger Kategorie für die Dramentheorie hat eindeutig Volker Klotz formuliert. In Geschlossene und offene Form im Drama beschränkt er den Konflikt zwar nicht auf die geschlossene Form, aber er vermag ihn nur generalisierend zu fassen: Äußerer Kampf der Gegner, innerer Kampf des Gewissens und der Leidenschaften in klarer, übersichtlicher Gegnerschaft – das ist die eigentliche Begebenheit des geschlossenen

22 Georg Lukács: Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas. Hg. v. Franz Bender. Darmstadt, Neuwied 1981, S. 71. 23 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 16; vgl. Rainer Nägele: Text, History and the Critical Subject. Notes on Peter Szondi’s Theory and Praxis of Hermeneutics, in: boundaries 2 11/3 (1983), S. 29-42, bes. S. 31-33; Oliver Kohns: Die Auflösung des Dramas als Form des Sozialen (Peter Szondi, Gottfried Keller), in: Gattung und Geschichte. Literatur- und medienwissenschaftliche Ansätze zu einer neuen Gattungstheorie. Hg. von dems., Claudia Liebrand. Bielefeld 2012, S. 57-78.

24 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Dramas, Kampf, Duell mit einem erkannten, profilierten Gegner, nach festen Spielregeln, die Grundfigur des dramatischen Geschehens.

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Eindeutig eine fragwürdige Kategorie ist der Konflikt in der gegenwärtigen Dramenanalyse. Manfred Pfister hat festgehalten, dass „wohl ein Gutteil der dramatischen Weltliteratur“ „keine Konfliktstruktur aufweise[] oder deren Konfliktstruktur sich nicht unmittelbar inhaltlich auf die realen gesellschaftlichen Konflikte beziehen“25 lasse. Um den Konflikt auszugrenzen, greift Pfister dabei zu einer Hilfskonstruktion, indem er meint, dass bei den meisten Dramen der Konflikt „unmittelbar“ nicht gegeben sei. Als Beispiel nennt er Warten auf Godot. Doch stellt das nicht die übrigen zahlreichen Dramen infrage, die ohne Konflikt auskommen. Wenn das Drama ohne Konflikt existieren kann, kann es dann nicht trotzdem sein, dass der Konflikt Motor bei der Weiterentwicklung der dramatischen Formen bleibt? Für diese Annahme spricht, dass gerade bei formbewussten und um eine neue Formsprache bemühten Dramatikern und Theatermachern der Konflikt weiterhin zentral ist. So hat Lehmann in einer Untersuchung des Theaters Schleefs gezeigt, wie sehr in diesem das antike Prinzip des Agons konstitutiv ist: „Insofern läuft die Darstellung des tragischen Konflikts (dessen Substanz, wie gesagt, immer das Individuum-Werden ist) über den performativen Akt des Theaterspiels und der Theaterversammlung selbst, über die Erzeugung eines realtheatralen Konfliktverhältnisses darin.“26 Heiner Müller hat wiederholt ein Bekenntnis zum Konflikt abgelegt: „Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an gar nichts.“27 Allerdings muss man sich an diesem Punkt vergegenwärtigen, dass es im Drama und auf dem Theater letztlich um zweierlei Formen des Konflikts geht. Müller meint den gesellschaftlichen Konflikt, der durch das Theater ausgelöst wird. Was Lehmann über das Theater Schleefs schreibt, bezieht sich hingegen auf den Konflikt auf der Bühne, also beispielsweise auf den Konflikt zwischen zwei Figuren. Aufgrund der Konzentration des Vorliegenden auf das Drama wird deswegen im Folgenden unter Konflikt ausschließlich der dramati-

24 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. 4. überarb. Aufl. München 1969, S. 29, Herv. im Original. 25 Manfred Pfister: Das Drama. 11. Aufl. München 2001, S. 32. 26 Hans-Thies Lehmann: Theater des Konflikts. [email protected], in: ders.: Das Politische schreiben. Berlin 2002, S. 186-205, hier S. 196. 27 Heiner Müller: „Ich glaube an Konflikt. Sonst glaube ich an gar nichts.“ Heiner Müller im Gespräch mit Sylvère Lotringer, in: Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Hg. v. Joachim Fiebach. Berlin 2003, S. 314-327.

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sche Konflikt verstanden. Dass dieser seinerseits gesellschaftliche Konflikte auslösen und/oder repräsentieren kann, versteht sich; doch ist das nicht zentral für formgeschichtliche Überlegungen. Daher sollte die Literaturwissenschaft vorsichtig mit der allzu raschen Verabschiedung des Konflikts sein. Vielleicht konstituiert er das Drama nicht, unwesentlich scheint er ihm jedoch ebenso nicht zu sein. Daher geht die vorliegende Studie trotz der skizzierten Tendenz davon aus, dass die formale Weiterentwicklung des Dramas aus dem Anliegen resultiert, einen Konflikt zu verhandeln. Beansprucht dieser wiederum Gültigkeit über das Dargestellte hinaus oder repräsentiert er eine gesellschaftliche Konfliktformation, muss davon ausgegangen werden, dass dem Konflikt im Drama eine politische Dimension eigen ist. Neben dem Konflikt gilt vielfach Inszenierbarkeit als Merkmal des Dramas. Martin Esslin hat versucht, das Drama von der Aufführung her zu begreifen und es zudem anthropologisch als Ausdruck des menschlichen Spieltriebs zu verstehen.28 Das Problem, das aus diesem Ansatz entsteht, ist zunächst die Ausgrenzung von ‚Dramen‘, die dezidiert nicht für die Aufführung gedacht sind – etwa Lesedramen, wobei eingeräumt werden muss, dass diese intentionale Dimension für Esslin keine Einschränkung bedeutet, weil sie nicht gegen die Machbarkeit der Inszenierung an sich spricht. Das größere Problem von Esslins Argumentation ist die Theaterpraxis, ganz unterschiedliche literarische Texte als Ausgangspunkt für Inszenierungen zu nehmen. Polemisch formuliert: Wurde durch Klaus Michael Grübers epochale Hölderlin-Inszenierung 1975 Empedokles zu einem Drama?29 Esslin hat das selbst kritisch erörtert: Die gefilmte Version eines Bühnenstücks, ob von Pinter oder Shakespeare, ist selbstverständlich immer noch Drama. Aber ist ein Film, der auf einem Originaldrehbuch basiert, Drama? Oder ein Sketch im Fernsehen? Oder der Zirkus? Ist ein Musical Drama? Oder Ballett? Oder das Puppentheater? Ich persönlich bin überzeugt davon, daß alle diese verschiedenen Formen von ‚Kunst‘ oder ‚Unterhaltung‘ ihrem Wesen nach Drama sind, zu30

mindest einen wesentlichen Bestandteil des ‚Dramatischen‘ enthalten.

28 Martin Esslin: Was ist ein Drama? Eine Einführung. München 1978. 29 Vgl. Friedemann Kreuder: Formen des Erinnerns im Theater Klaus Michael Grübers. Berlin 2002, S. 111-129. 30 Martin Esslin: Die Zeichen des Dramas. Theater, Film, Fernsehen. Reinbek bei Hamburg 1989, S. 29.

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Esslin begründet dem ersten Eindruck nach phänomenologisch – ähnlich wie es vor ihm Emil Staiger getan hat. Während dieser aber im Kern ontologisch argumentiert – und damit weniger poetologisch als philosophisch –,31 verbleibt Esslin auf der im engeren Sinne literaturtheoretischen Ebene und erklärt Mimesis zum Kern des Dramatischen: „Drama ist unter den abbildenden Künsten einzigartig, weil es die ‚Wirklichkeit‘ darstellt, indem es wirkliche Menschen und oft auch wirkliche Gegenstände benutzt, um sein erfundenes Universum zu schaffen.“32 Jenseits dessen, dass die Dramatik der Moderne nicht zwingend mimetisch konzipiert ist, ist Esslins Begriff des Dramatischen in letzter Konsequenz von der Aufführung her gedacht und eignet sich damit nicht, um das Drama als eine literarische Form zu begreifen. Zuvörderst hat Athanas Natew sich um das Drama als literarische Form und damit um eine Fortführung der Überlegungen Szondis bemüht. Er ist über die Frage nach der dramatischen Situation und dem dramatischen Dilemma zum Konflikt als Kern des Dramatischen zurückgekehrt. Für ihn ist damit das Politische wesentlich für das Dramatische. Gleichzeitig hat der Konflikt eine Art Stellvertreter-Funktion: Mit anderen Worten, auch in seinem ‚Mikro‘-Aspekt ist der Konflikt, den wir dramatisch nannten, ein Ausdruck umfassender gesellschaftlicher Widersprüche. Sie treten sowohl bei den ‚repräsentativen‘ Persönlichkeiten zutage, wie auch in der Dramatik anscheinend unbedeutender Figuren.

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Natew verbindet das Moment des Politischen mit dem der Handlung, durch die der Konflikt zum Ausdruck kommt – wobei sich diese sowohl in der Umwelt als auch im Inneren der Figur ereignen kann.34 Den eigentlichen literarischen Kern macht er im Zwischenaufzug aus, durch den der Rezipient gezwungen werde, „aktive Vorstellungen in sich“ zu entwickeln, durch die sowohl sein Denken als auch seine Gefühle engagiert werden. Mehr noch – auch seine immanente Einstellung zur Welt wird davon betroffen, und er unterzieht sie einer zwanglosen Prüfung. Er könnte das Verhalten von Brechts Galilei nicht als Ganzes begreifen ohne Einsatz seiner ureigensten moralischen, politischen, philosophischen und anderen Ansichten und Stimmungen, mögen sie sich für ihn selbst auch noch gar nicht endgültig

31 Zu Staigers Position vgl. das folgende Kapitel. 32 Esslin: Die Zeichen des Dramas, S. 29. 33 Athanas Natew: Das Dramatische und das Drama. Berlin 1971, S. 48. 34 Vgl. ebd., S. 58-67.

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herauskristallisiert haben. Damit beginnt die eigentliche künstlerische Wirkung des Dramas.

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Natew begründet das Drama letztlich durch seine Wirkung auf den Rezipienten, vornehmlich den Theaterbesucher.36 Seine Gleichsetzung von gesellschaftlicher und künstlerischer Wirkung denkt das Drama aber nicht als autonomes, literarisches Kunstwerk. Das aber verteidigt das Vorliegende – und zwar in erster Linie, indem es den historischen Wandel des Dramas untersucht und dadurch seine Vitalität belegt. Ein Beispiel mag das veranschaulichen. Szondi nennt zwei Kriterien, die das Drama kennzeichnen. Zunächst: „Der Dramatiker ist im Drama abwesend.“37 Im Zusammenhang der vorliegenden Äußerungen muss nicht gezeigt werden, dass diese Feststellung Szondis lediglich für das Drama seit der Neuzeit gültig (und nicht etwa für das des Mittelalters und der Frühen Neuzeit) und also historisch in ihrem Absolutheitsanspruch zweifelhaft ist.38 Wir werden sehen, dass auch in der Postmoderne diese Behauptung wieder brüchig wird (insbesondere bei Heiner Müller und Sarah Kane). Die Abwesenheit des Autors eignet sich daher nicht zum ahistorischen Kriterium, um ein Drama zu bestimmen, aber hervorragend, um die Formgeschichte der letzten 50 Jahre zu beschreiben. Dann: Die von Szondi zentral verankerte Absolutheit des Dramas (kein Bezug zum Außerhalb seiner selbst und zum Publikum sowie ‚Unsichtbarkeit‘ des Spielcharakters) wird problematisch.39 Das zeigen Szondis Studien zu Brecht und Piscator, und das gilt ebenso für die Dramatik des späten 20. Jahrhunderts. Das heißt zunächst schlicht: Es gibt keine stabilen, überzeitlichen Kriterien für das Drama. Wie aber kann mit diesem Sachverhalt umgegangen werden? Es zeichnet die Theaterwissenschaft aus, dass sie sich der Frage nach dem Drama zuletzt intensiver gestellt hat als die Literaturwissenschaft. Jene hat schon Mitte der 80er Jahre festgestellt, wie sehr die Kriterien des Dramas im Fluss sind. Hans-Thies Lehmann hat deswegen vorgeschlagen, dem Drama keine wesentli-

35 Ebd., S. 93. 36 Herausgefordert wird ein solcher Ansatz zumal, wenn es berechtigte Zweifel gibt, ob das Publikum überhaupt notwendige Voraussetzung für das Kunstwerk ist; vgl. Nick Zangwill: Kunst und Publikum, in: Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Hg. v. Stefan Deines, Jasper Liptow, Martin Seel. Frankfurt/M. 2013, S. 316-358. 37 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 17. 38 Vgl. Kai Bremer: Literatur der Frühen Neuzeit. Paderborn 2008, S. 58-67. 39 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 17f.

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che Wirkung für das zeitgenössische Theater zuzusprechen und terminologisch das Attribut ‚postdramatisch‘ etabliert und radikale Bühnentexte ausschließlich als „theatralisch“ begriffen.40 Lehmann hat sich dabei zudem die Mühe gemacht, den Text-Begriff kritisch zu erörtern.41 Neuere literaturwissenschaftliche Überlegungen zum Status des Dramas folgen Lehmanns Linie oder verabschieden das ,Drama‘ gleich ganz,42 während überzeugende Ausdifferenzierungen die Ausnahme sind.43 Die Literaturwissenschaft übernimmt damit ein theaterwissenschaftliches Vorgehen, ohne zu reflektieren, ob es den Anforderungen der eigenen Disziplin gerecht wird. Das ist nicht zuletzt deswegen fragwürdig, weil schon innerhalb der Theaterwissenschaft

40 Hans-Thies Lehmann: Theater der Blicke. Zu Heiner Müllers Bildbeschreibung, in: Dramatik der DDR. Hg. v. Ulrich Profitlich. Frankfurt/M. 1987, S. 186-202. Für vergleichsweise ‚textferne‘ Performances und Festivals zeigt sich, wie fruchtbar Lehmanns Überlegungen sein können: Miriam Drewes: Theater als Ort der Utopie. Zur Ästhetik von Ereignis und Präsenz. Bielefeld 2010, doi: https://doi.org/10.14361/ 9783839412060. 41 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Just a word on a page and there is the drama. Anmerkungen zum Text im postdramatischen Theater, in: Theater fürs 21. Jahrhundert. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2004, S. 26-33. 42 Gerda Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext. Aktuelle Bühnenstücke und ihre dramaturgische Analyse. Tübingen 1997; Hanna Klessinger hat 2015 – die im Folgenden dargelegte literaturwissenschaftliche Kritik an dem Begriff damit schlicht ignorierend – gar behauptet, ,postdramatisch‘ habe sich in der Literaturwissenschaft inzwischen durchgesetzt; vgl. Hanna Klessinger: Postdramatik. Transformationen des epischen Theaters bei Handke, Müller, Jelinek und Goetz. Berlin, Boston 2015, S. 3f. Michaela Reinhardt, deren Überlegungen zum literarischen Status des dramatischen Textes dem Vorliegenden sehr nahe sind, spricht schon im Titel von ,Theatertexten‘ statt von ,Dramen‘; vgl. Reinhardt: TheaterTexte. Zum Teil wird in neueren literaturgeschichtlichen Darstellungen die Dramatik gar nicht berücksichtigt: Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung. Köln, Weimar, Wien 2010. Lehmann hat selbst mit seinen Überlegungen zur Tragödie nahegelget, dass das ‚Postdramatische’ das ‚Dramatische’ ablöst, wenn er vom „Dreischritt der prädramatischen, dramatischen und postdramatischen Gestalt der Tragödie“ spricht; vgl. Hans-Thies Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater. Berlin 2013, S. 18. 43 Teresa Kovacs: Drama als Störung. Elfriede Jelineks Konzept des Sekundärdramas. Bielefeld 2016, doi: https://doi.org/10.14361/9783839435625. Sie zeigt zugleich, wie produktiv für die Analyse von Gegenwartsdramatik die Auseinandersetzung mit Szondi sein kann.

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Lehmanns Vorgehen nicht unwidersprochen geblieben ist. So hat Hans-Peter Bayerdörfer daran erinnert, dass das Verhältnis von Drama und Theater eben nicht in eine Richtung verläuft, sondern wechselseitig ist: Vielseitige innovative Konsequenzen ergeben sich daraus, dass sich solche Texte zwar auf unterschiedlichen Wegen von traditionellen dramatischen Formen ablösen, aber ihrerseits verstärkt an avancierte Textmodelle der Dramengeschichte des 20. Jahrhunderts wieder 44

anknüpfen.

Diese Feststellung stellt die Praxis infrage, ob die Einsicht, dass die Kriterien des Dramas instabil sind, gleich dazu führen sollte, das ,Drama‘ in Gänze zu verabschieden. Lehmann hat wiederholt angedeutet, dass einige ‚postdramatische‘ Texte ebenso als ‚vordramatisch‘ bezeichnet werden können.45 Wenn dieser Impuls aufgenommen wird, müsste aus ihm gefolgert werden, dass ausschließlich die literarische Ausdrucksform der europäischen Neuzeit als ‚Drama‘ verstanden wird, die mit der Klassik ihren Höhepunkt hat und spätestens Ende des 19. Jahrhunderts in die ,Krise‘ gerät. Das Drama wäre dann in Frankreich etwa 250 Jahre lebendig gewesen, in Deutschland annähernd 150 Jahre. In England hätte es in erster Linie im puritanischen Lesedrama in Blüte gestanden. Um die Konsequenzen einer solch widersinnigen Argumentation klar zu benennen: Der Antike wäre das Drama – folgte man dieser Argumentation – weitgehend fremd! Deswegen geht die vorliegende Studie nicht von einem formal engen, sondern von einem ostentativ pragmatischen Dramenbegriff aus. Als ‚Drama‘ werden literarische Texte verstanden, die zum Zeitpunkt der Produktion einen Theater-Bezug kennen und ihn auch für Rezipienten kenntlich machen. ‚Dramen‘ sind meist Voraussetzung oder (weit seltener) Folge einer Inszenierung und dienen nicht primär dazu, die Inszenierung zu dokumentieren (im Unterschied z.B. zu Protokollen von Probengesprächen). Gleichwohl wird das Drama in Gestalt

44 Hans Peter Bayerdörfer: Vom Drama zum Theatertext? Unmaßgebliches zur Einführung, in: Vom Drama zum Theatertext. Zur Situation der Dramatik in Ländern Mitteleuropas. Hg. v. dems. Tübingen 2007, S. 1-14, hier S. 4; vgl. auch Theresia Birkenhauer: Zwischen Rede und Sprache, Drama und Text: Überlegungen zur gegenwärtigen Diskussion, in: ebd., S. 15-23; dies.: Die Zeit des Textes im Theater, in: Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Hg. v. Stefan Tigges. Bielefeld 2008, S. 247261, doi: https://doi.org/10.14361/9783839405123-022; weniger überzeugend, aber mit ähnlicher Stoßrichtung Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 45-73. 45 Vgl. Lehmann: Theater der Blicke, S. 186f.

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der Lektüre unabhängig von der Aufführung rezipiert. Die Lektüre wird dadurch ermöglicht, dass das Drama in Textform entweder von einem Verlag oder direkt vom Dramatiker46 den Lesern zur Verfügung gestellt wird. Dadurch kann wiederum Anreiz zur Inszenierung gegeben werden. Die konstitutive Rezeption des Dramas bleibt aber die Lektüre, wobei diese eine voraussetzungsreiche Lektüre in dem Sinne ist, dass in ihrem Vollzug in der Regel die Möglichkeit der Inszenierung berücksichtigt wird. Die Inszenierung als zweite Form der Rezeption ist damit üblich, aber nicht notwendig.47 Wie zentral der Modus Lektüre für die Beschäftigung mit dem Drama bis heute ist, belegen aktuelle literaturwissenschaftliche Studien.48 Die Literaturwissenschaft bedenkt im Umgang mit theatralen Ereignissen bis heute oft nicht, dass Inszenierungen und Aufführungen nicht notwendig durch ein Drama konstituiert sein müssen. Die Theaterwissenschaft fragt nach Kategorien, die für die Textanalyse marginal sein können. Fischer-Lichte hat anhand der Beispielanalyse von Marina Abramović’ Performance Lips of Thomas und der dabei sich ergebenden Überforderung des Publikums durch den Konflikt zwischen künstlerisch normativer und ethisch normativer Rahmung zentrale Kategorien in der Ästhetik des Performativen und damit für die theaterwissenschaftliche Analyse von Aufführungen entwickelt.49 Die Abramović-Performance war eine Ereignis, bei dem die klare Trennung von künstlerischem Subjekt und Objekt unterlaufen wurde.50 Das ist ein für die Ästhetik des Performativen zentrales Phänomen und zeitigt zahlreiche weitere Folgen für die kunsttheoretische Analyse. Sie kann zudem jede Performance zu einem herausragenden künstlerischen Erlebnis machen. Das gilt auch für Inszenierungen von Dramen. Bei der Beurteilung des Zusammenspiels von Drama und Inszenierung in der Aufführung wird nicht selten

46 Wenn im Folgenden vom Dramatiker die Rede ist, schließt das nicht nur Dramatikerinnen mit ein. Damit sind zugleich auch Dramatiker-Kollektive gemeint, die gemeinsam einzelne Dramen produzieren. Im Hinblick auf die folgenden Überlegungen ist es unerheblich, ob der Text von Einzelpersonen oder Kollektiven verfasst wurde. 47 Zum Zusammenhang von Lektüre und Aufführung aus theaterwissenschaftlicher Sicht vgl. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 214-231; zum Zusammenhang von Lektüre und Performanz vgl. Erika Fischer-Lichte: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 134-145. 48 Mögliche Perspektiven benennt Franziska Schößler: Augen-Blicke. Erinnerung, Zeit und Geschichte in Dramen der 90er Jahre. Tübingen 2004, S. 21-27. 49 Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 9-22. 50 Vgl. ebd., S. 19f.

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übersehen (zumal von den Freunden der sogenannten Werktreue),51 dass das künstlerische Erlebnis, das bei einer Aufführung entsteht, primär Verdienst der Inszenierung ist und nicht das des Dramas. So banal diese Feststellung zunächst anmuten mag, sie führt zugleich vor, wie plausibel Lehmanns These ist, dem Drama seinen zentralen Status in Bezug auf das Theater abzusprechen. Damit ist jedoch noch nichts über das Drama selbst gesagt. Während die rein performativen Aspekte von Inszenierung und Aufführung von den Theaterwissenschaften untersucht werden, kann die Literaturwissenschaft zumindest dort mit guten Gründen ihr Wissen und ihre Kompetenz ins Feld führen, wo vom Drama ausgegangen wird. Zugleich ergibt sich daraus eine Schwierigkeit. Der Kompetenz der Theaterwissenschaften für die Analyse von Aufführung und Inszenierung entspricht der der Literaturwissenschaften bei der Untersuchung des Dramas. Für die folgenden formalen Überlegungen zentral ist die Frage, wie das Hoffen auf oder Wissen um eine Aufführung die Produktion des Dramas prägt, weil davon ausgegangen wird, dass sich dieses Hoffen und Wissen in der Form niederschlägt. Produktionsästhetisch macht es sich die Literaturwissenschaft üblicherweise leicht: Entweder berücksichtigt sie die potentielle Inszenierung nicht oder sie bezieht sich auf eine konkrete Aufführung, meist die Erstaufführung. Wie sich hingegen die Perspektive ,Inszenierung‘ konkret in das Drama eingeschrieben hat, wird kaum erörtert. Das muss es, wie das ausgeführte Verständnis von ‚Drama‘ deutlich gemacht hat. Deswegen sollte neben die theaterwissenschaftliche Frage nach der Inszenierung ein zweites, dezidiert literaturwissenschaftliches Fragen nach inszenatorischen Momenten im Drama treten. Angenommen wird, dass während der Produktion den meisten Dramen ein implizites Inszenierungskonzept zugrunde liegt. Diese Annahme speist sich aus dem seit der Rhetorik bekannten Umstand, dass es einen erheblichen Unterschied macht, ob ein Text die letzte und einzige Stufe der öffentlichen Rezeption ist oder aber nur eine mögliche und in der Regel nicht letzte und vor allem nicht die öffentlichkeitswirksamste. Ähnlich wie der Rhetor beim Erstellen seiner Rede berücksichtigt, dass die letzten beiden Produktionsstufen auf die Performanz zielen (memoria, pronuntiatio bzw. actio), kann sich der Dramatiker zumindest Szenen oder Momente bei der Ausgestaltung seines Stücks imaginieren. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass manche Dramatiker bestimmte Regisseure für Erstaufführungen bevorzugen oder im Gespräch erklären, dass sie sich beim Schreiben vorgestellt

51 Vgl. dazu den klugen wie irenischen Beitrag von Christopher Balme: Werktreue. Aufstieg und Niedergang eines fundamentalistischen Begriffs, in: Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt. Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 2008, S. 43-50.

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hätten, dass die Figur X von Schauspielerin Y gespielt werde. Versucht man dieses Phänomen literaturwissenschaftlich zu fassen, ergibt sich notwendig, den Begriff ,Inszenierung‘ für die Literaturwissenschaft zu nutzen. Um dies terminologisch transparent zu machen, wird im Folgenden von ,dramaturgischer Inszenierung‘ gesprochen, wenn innerhalb eines Dramas konzeptionelle oder formale Aspekte freigelegt werden, die potentiell Konsequenzen für die Bühnenarbeit zeitigen. Wird im Folgenden hingegen lediglich von ,Inszenierung‘ gesprochen, meint dies das oben eingeführte Verständnis der Theaterwissenschaften.52 Das ist übrigens auch aus theaterwissenschaftlicher Sicht sinnvoll. FischerLichte hat überzeugend ausgeführt, dass für das Performative u.a. Unvorhersehbarkeit eine wichtige Kategorie ist.53 Für die Aufführung von Dramen, von „verkörperten Texten“,54 gilt das hingegen nur eingeschränkt. Wer ein Trauerspiel besucht, wird sich nicht wundern, wenn der Titelheld am Ende stirbt. Das Drama stellt Forderungen an die Inszenierung, die nicht einfach hintergehbar sind. Deswegen ist der Stellenwert des Dramas innerhalb der Aufführung ein anderer als der der anderen Voraussetzungen und Bestandteile einer Aufführung wie Körper, Raum, Licht oder Klang. Wenn ein Drama inszeniert wird, nimmt es die Stellung eines primus inter pares innerhalb der Inszenierung ein. Es gibt den Titel, wird bearbeitet, gesprochen und erfährt eine Transmedialisierung55 in der Aufführung. Dieser Hinweis veranschaulicht zugleich, dass ,dramaturgische Inszenierung‘ produktionsästhetisch zu verstehen ist. Es geht also nicht darum zu bestreiten, dass auch der Akt des Lesens sowie darin getätigte Sprechakte performative Ak-

52 ,Dramaturgische Inszenierung‘ beschreibt damit eine Dynamik, die Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 321ff., mit dem Begriff ,Texttheatralität‘ zu fassen versucht hat. Da ihre Wortwahl nahelegt, als existiere diese Dynamik nur in den von ihr untersuchten, angeblich ,nicht mehr dramatischen Theatertexten‘, wird hier eine Begrifflichkeit eingeführt, die deutlich zu machen versucht, dass jedes Drama, das einer Aufführung zugrunde liegt, den Inszenierungsprozess maßgeblich beeinflusst, was an sich selbstredend banal ist. 53 Fischer-Lichte: Performativität, S. 75-85. 54 Ebd., S. 135. 55 Anders als Pfister wird hier nicht von den Möglichkeiten der Textpräsentation ausgegangen, was bei Pfister dazu führt, dass die Aufführung in seinem dramenanalytischen Modell mitberücksichtigt wird; vgl. Pfister: Das Drama, S. 24-30; vgl. auch Andreas Höfele: Drama und Theater. Einige Anmerkungen zur Geschichte und gegenwärtigen Diskussion eines umstrittenen Verhältnisses, in: Forum Modernes Theater 6 (1991), S. 3-23.

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te sind.56 Nur muss klar bleiben, dass dies ein rezeptionsästhetischer Zugriff ist, während das hier Dargelegte das Drama produktionsästhetisch begreift. Die dramaturgische Inszenierung ist also ein auktorialer Akt. Gleichwohl geht es im Vorliegenden nicht darum, dem Autorwillen das Wort zu reden. Es wird nicht einmal angenommen, dass dramaturgische Inszenierungen immer bewusst erfolgen. Mit dem Hinweis auf das inszenatorische Potential des Dramas wird lediglich betont, dass der Text die Inszenierung vielfach in Anspruch nimmt. Behauptet wird hingegen nicht, das Zusammenspiel von Drama und Aufführung sei durch dramaturgische Inszenierungen weitgehend normiert und festgelegt. Schließlich ist das Drama dem Theater vor allem literarisches Material, das Aufführungen ermöglicht und das sich dessen bewusst ist. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, wird ergänzend der Begriff des ,Spielraums‘ in die Dramenanalyse eingeführt. Überlegungen dazu finden sich in der germanistischen Barockforschung.57 Neben ihrem Spielraum-Begriff existiert – von der germanistischen Forschung weitgehend unberücksichtigt – der Wolfgang Isers, der ihn ebenfalls mit Hilfe der barocken Literatur, genauer: anhand bukolischer Barock-Romane, entwickelt hat. Im frühneuzeitlichen Roman habe sich, so Iser, ein Spielraum ergeben, wo doppelsinnig erzählt wird. Das habe zur Folge, dass nicht eine logozentristische, binäre Opposition zwischen den beiden Welten des Romans (etwa vermeintliche ‚Realität‘ vs. Maskenspiel) bestehe; „statt dessen spielen sie [die beiden Welten des Romans] ineinander.“58 Der Spielraum ist deswegen ein Zwischenraum mit fließenden Grenzen zwischen den beiden Wel-

56 Vgl. Fischer-Lichte: Performativität, S. 134-145. 57 Wilfried Barner: Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren, in: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Tl. 1. Hg. v. Helmut Laufhütte. Wiesbaden 2000, S. 33-67; Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004; Stefanie Stockhorst: Reformpoetik. Kodifizierte Genustheorie des Barock und alternative Normenbildung in poetologischen Paratexten. Tübingen 2008. Ein solcher poetologischer Spielraumbegriff ist ferner abzugrenzen vom theatergeschichtlichen; vgl. Friedemann Kreuder: Spielräume der Identität in Theaterformen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010; auch in literaturwissenschaftlichen Studien, die für das vorliegende einschlägig sind, taucht der Begriff manchmal auf, allerdings ohne dass er weitergehend reflektiert wird, vgl. Koch: Das Leben ein Spiel, die Welt ein Theater?, S. 102105. 58 Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt/M. 1993, S. 129; anregend durch die Vorgehensweise Ben de Bruyn: Wolfgang Iser. A Companion. Berlin, New York 2012.

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ten. Und eben hier – im Moment des Zwischenraums – liegt eine wesentliche Analogie zum germanistischen Spielraum-Begriff, der ebenfalls einen Zwischenraum zwischen fester Norm einerseits und Normverletzung andererseits untersucht. Wesentlich für den hier zu etablierenden Spielraum-Begriff ist seine „Möglichkeitsvielfalt“,59 die von vornherein der Inszenierung zentrale künstlerische Entscheidungen überantwortet und damit dramaturgischen Inszenierungsvorschlägen gegenübersteht. Die Kriterien Dialog, Konflikt, Absolutheit und Abwesenheit des Autors sind für das Drama nicht zwingend. Doch zeigt sich immer wieder, dass sie wesentliche Bezugsgrößen des dramatischen Schreibens bleiben.60 Wenn, wie Heiner Müller meint, „Literatur […] dem Theater Widerstand leisten“ muss, gilt dieser Anspruch zumal für das Drama. Man muss ihn nicht obligatorisch fassen. Aber so wie für die Literaturwissenschaft klar ist, wie sehr das Drama sich angesichts der Theaterreformen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weiterentwickelt hat (Szondi belegt das in den Kapiteln zu Brecht und Piscator), so wird das Theater nicht an der Einsicht vorbeikommen, dass es weiterhin zahlreiche Impulse dem Drama verdankt. Angesichts der Geschichte des Dramas der Neuzeit scheint es auf jeden Fall unangemessen, einen über mehr als zwei Jahrtausende etablierten Begriff samt des dahinter stehenden literarischen Konzepts zu verabschieden, nur weil auf den Bühnen Europas sich Performer ein Publikum erarbeitet haben, weil Dramaturgen Romane in bühnenfähige Texte umwandeln und weil Dramatiker vielfach nicht mehr bereit sind, das immer gleiche dramatische Konflikt-Dreieck in immer neuen Dialogen zu gestalten. Theaterkünstler haben es bis heute schwer, sich gegen die Macht des Dramas durchzusetzen. Die wohl nicht zuletzt daraus resultierende Begriffspolitik der Theaterwissenschaft ist verständlich und im Hinblick auf disziplinäre Fragestellungen plausibel, aber literaturwissenschaftlich nicht überzeugend.61 In der Literaturwissenschaft wurde und wird das nur selten reflektiert. Stattdessen wird oft ein Bogen um den Begriff ‚Drama‘ gemacht. Gründe dafür lassen sich nur schwer finden. Sie dürften in erster Linie gesellschaftlicher Natur sein. Zwar findet das Theater weiterhin sein Publikum, nicht selten ein sehr junges. Gleich-

59 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 137. 60 Das bestätigen übrigens auch Überlegungen, die zum Status des Gegenwartsdramas von Dramaturgen vorgelgt werden und wurden; vgl. etwa Dagmar Borrmann: Mehr Drama!, in: Theater heute 12 (2003), S. 32-35. 61 Vgl. Eke: Der Verlust der Gattungsmerkmale.

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wohl aber sind unter den Literaturwissenschaftlern, zumindest nach Eindruck des Verfassers, gegenwärtig selten Theatergänger. Beschäftigt man sich dann einmal aus wissenschaftlichen Gründen mit einem Drama, werden recht unkritisch fehlende eigene Erfahrungen durch theaterwissenschaftliche Forschungen ersetzt, ohne die disziplinären Differenzen zu berücksichtigen. Sollte dem so sein, so steht es nicht um das Drama schlecht. Dann führt das vielmehr vor, wie schlecht es in der Literaturwissenschaft um die Kenntnis des Dramas und des Theaterbetriebs bestellt ist. .

III. Literaturtheoretische Implikationen der Theorie des modernen Dramas

1.

S ZONDIS V ORAUSSETZUNGEN

Seit Aristoteles haben die Theoretiker der dramatischen Dichtung das Auftreten epischer Züge in diesem Bereich an den Pranger gestellt. Wer aber heute die Entwicklung der neueren Dramatik darzustellen versucht, kann sich zu solchem Richteramt nicht mehr berufen 1

fühlen […].

Schon mit dem ersten Satz hat Szondi sein Thema gefunden: die Episierung. Und schon mit dem ersten Satz hat er ein anderes Thema erledigt: Emil Staigers Literaturtheorie. In Grundbegriffe der Poetik (zuerst 1946) orientiert sich der Zürcher Ordinarius an der Goetheschen Gattungstrias. Er widmet sich zunächst der Lyrik, dann der Epik und schließlich der Dramatik. In seiner Wesensbestimmung des Dramas geht es in erster Linie darum zu zeigen, dass das ‚wahre‘ Drama nicht episch sein kann. Ausgehend vom Pathos, grenzt er es zunächst von der Lyrik ab. Dabei geht es ihm nicht um formale Aspekte: Die Sprache des Pathos könnte leicht mit der lyrischen Sprache verwechselt werden. Ähnlich wie der lyrisch Gestimmte steht auch der pathetisch Erregte manchmal als einzelner da und gibt in unmittelbaren, oft nur gestammelten Worten seine Bewegung kund. Im Drama verwandelt sich der regelmäßige Vers des Dialogs auf Höhepunkten des Pathos nicht selten in kompliziertere Gebilde, die äußerlich von lyrischen Strophen kaum zu unterscheiden sind […].

2

1

Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 11.

2

Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. 6. Aufl. Zürich, Freiburg/Br. 1968, S. 144; zu Staiger als Ausgangspunkt sowie zu Szondis formtheoretischen Überlegungen an sich

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Staiger fasst das Pathos über Kategorien der Innerlichkeit des literarischen Textes, wenn er deren ‚äußerliche‘ Gemeinsamkeit anerkennt. Die ‚innere‘ Differenz zwischen Lyrik und pathetischer Dramatik mache die Konzentration aus, die mit dem Theaterbau korrespondiere: „Sinnvoll schließt der Rahmen der Bühne eine solche Dichtung ein. Mit einem Wort: sie konzentriert.“3 Das verweist in Staigers Poetik auf eine zweite Kategorie, auf das ‚Problem‘. Mit seiner Wortwahl umgeht er den Begriff des Konflikts und stabilisiert eine apolitische Deutung des Dramas. Zugleich bemüht er sich, durch das ‚Problem‘ die ‚Spannung‘ und damit das ‚Dramatische‘ insgesamt zu beschreiben: Damit sind wir so weit, zu begreifen, warum die beiden Möglichkeiten des spannenden Stils, die pathetische und die problematische, sich so gern vereinen. Das Pathos drängt vorwärts wie das Problem. Jenes will, dieses fragt. Wollen und Fragen aber sind eins in einer futurischen Existenz, die, je nach Temperament und Kraft, sich mehr zu dem oder jenem entscheidet. Und wenn die Fragen eines Problems allzu abstrakt zu werden drohen, so, daß nur die raffinierteste Kunst den Anteil des Publikums sichern kann, so zwingt das Pathos zur Sympathie und drängt die Fragen nicht dem Geist, sondern dem Herzen des 4

Hörers auf.

Auf diese Weise grenzt Staiger Dramatik zugleich von der Epik ab. Er unternimmt diesen Brückenschlag, indem er dem ‚dramatischen Menschen‘ ein ‚Voraus-Sein‘ attestiert, das sein Sein in der Welt entschieden bestimme und zumindest für die idealisierte Lyrik und Epik in dieser Weise nicht gelte. Dass seine Überlegungen Idealisierungen sind, räumt Staiger also ein. Entscheidend ist an diesem Schwenk im Hinblick auf Szondi nicht die Tendenz zur Idealisierung. Just am argumentativen Umschlagpunkt beruft sich Staiger auf Heidegger – und zwar zuvörderst auf Vom Wesen des Grundes. Ergänzend merkt er zudem an: „In Sein und Zeit ist der Weltbegriff noch nicht eindeutig bestimmt.“5 Für unseren Zusammenhang ist dabei nicht die Frage entscheidend, ob Staiger tatsächlich seine Kategorien durch Heidegger gewonnen hat. Bernhard Böschenstein hat überzeugend nachgewiesen, dass dem nicht so ist und dass sie vielmehr auf eini-

vgl. Sabine Schneider: Entschleunigung. Episches Erzählen im Moderneprozess, in: Gattungs-Wissen. Wissenspoetologie und literarische Form. Hg. v. Michael Bies, Michael Gamper, Ingrid Kleeberg. Göttingen 2013, S. 246-264, bes. 249-252. 3

Ebd., S. 165.

4

Ebd., S. 171.

5

Ebd., S. 172, Anm. 53.

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gen idealtypischen Interpretationen aufbauen.6 Ob Szondi das klar war, lässt sich nicht entscheiden. Er arbeitet sich an Staigers Anspruch gleichwohl ab und hält fest: Nach dieser Veränderung in den Grundlagen der Poetik blieben der Wissenschaft drei Wege offen. Sie konnte der Auffassung sein, daß die drei Grundkategorien der Poetik mit ihrem systematischen Wesen ihr Daseinsrecht eingebüßt hatten: daher ihre Vertreibung aus der Ästhetik bei Benedetto Croce. In diametralem Gegensatz dazu stand die Bestrebung, sich vom historisierten Grund der Poetik, von den konkreten Dichtungsarten, auf Zeitloses zurückzuziehen. Von ihr zeugt […] die Poetik E. Staigers, welche die Gattungsbegriffe in verschiedenen Seinsweisen des Menschen verankert, letztlich in den drei „Extasen“ der Zeit. Daß diese Umbegründung die Poetik in ihrer Ganzheit verändert, im besonderen in ihrem Verhältnis zur Dichtung selbst, zeigt die notwendige Ersetzung der 7

drei Grundbegriffe ‚Lyrik‘, ‚Epik‘, ‚Dramatik‘ durch ‚lyrisch‘, ‚episch‘, ‚dramatisch‘.

Mit diesem Umschlag vom Substantiv zum Adjektiv verbindet sich bei Staiger eine Ontologisierung seiner Poetik. Er nennt die Wesenszüge des lyrischen, epischen und dramatischen Dichters und verknüpft Heideggers Philosophie auf diese Weise mit seiner produktionsästhetischen Literaturtheorie.8 Christoph König hat darauf hingewiesen, wie sehr Staigers Bemühen um die Versöhnung von Heideggers Philosophie und ontologisierter Poetik nicht einer gewissen Ironie entbehrt, weil Heideggers philosophische Voraussetzungen seit der ‚Kehre‘ sich verändert haben. Szondi hat eben diesen Punkt früh erkannt. Schon im Sommersemester 1951 hat er ihn in einem Seminar von Theophil Spoerri thematisiert und das inhumane Potential von Heideggers Denken benannt.9 So sehr Szondi also um die Differenzen zwischen Heidegger und Staiger im Detail weiß, so sehr sieht er auch, dass letztlich zwischen diesen beiden die Schnittmenge der Ge-

6

Bernhard Böschenstein: Emil Staigers Grundbegriffe: ihre romantischen und klassischen Ursprünge, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945. Hg. v. Wilfried Barner, Christoph König. Frankfurt/M. 1996, S. 268-281.

7

Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 12f.

8

Vgl. Staiger: Grundbegriffe der Poetik, S. 174f.; vgl. dazu Michael Thomas Taylor: „Überhaupt noch einmal lesen zu lernen“. Emil Staiger und Martin Heidegger, in: Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Hg. v. Barbara Hahn. Würzburg 2007, S. 121134; Werner Wögerbauer: Emil Staiger (1908-1987), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts. Hg. v. Christoph König, Hans-Harald Müller, Werner Röcke. Berlin 2000, S. 239-249.

9

Vgl. König: Engführungen, S. 19-21.

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meinsamkeiten überwiegt. Staigers Einfühlung ist für Szondi vom gleichen Grundgestus geprägt wie Heideggers Philosophie – durch die Entscheidung der Veräußerung des Kunstwerks aus dem Humanen. Für Szondi ist sie deswegen inhuman. Und noch ein zweiter Aspekt kennzeichnet Staigers Zugriff auf die Literatur, der sich von dem Szondis kategorisch unterscheidet: „Keineswegs geht es Staiger darum, zeitgenössische Literaten nur von ihrem Kurs abzubringen, sondern es geht ihm vor allem um deren Zerstörung.“10 Diese Hinweise erlauben es, die Theorie des modernen Dramas als ein Emanzipationsdokument zu lesen – und zwar im doppelten Sinne: Zunächst leistet Szondi nicht einfach nur eine theoretische Erörterung des Dramas. Er deutet die Gegenwartsdramatik als „Lösungsversuche“ für die „Krise des Dramas“ im späten 19. Jahrhundert und wertet dadurch die neuere Literatur gegenüber der älteren auf. Szondis intellektuelle Leistung besteht dabei insbesondere darin, dass er die sich Staiger widersetzende Bewertung literaturtheoretisch absichert. In diesem Sinne ist die Theorie des modernen Dramas die Emanzipation eines Doktoranden von seinem Doktorvater. Viel wichtiger aber ist, dass die Theorie des modernen Dramas die Emanzipation der Germanistik von der Werkimmanenz insgesamt repräsentiert wie vielleicht kein anderes Buch, wie Eberhard Lämmert klar gemacht hat: Dichtung als Dichtung zu behandeln und endlich als die Sache selbst zu nehmen: so lautete die Devise zur Befreiung von schlechten Diensten der Vergangenheit und metaphysischem Geraune der Gegenwart, und das klang nach neuer und nüchtern wahrgenommener Wissenschaftlichkeit.

11

Szondi setzt nicht auf direkte Konfrontation. Vielmehr stellt er seine Überlegungen als eine alternative, dritte theoretische Herangehensweise zu denen von Croce und Staiger aus: Eine dritte Möglichkeit aber bestand im Ausharren auf dem historisierten Boden. Sie führte in der Nachfolge Hegels zu Schriften, die eine historische Ästhetik nicht nur der Dichtung entwerfen, zu G. Lukács Die Theorie des Romans, W. Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, Th. W. Adornos Philosophie der neuen Musik. Hegels dialektische

10 Yvonne Wübben: Propaganda, polemisch. Zur Aktualität von Emil Staigers Stilkritik, in: Klassiker der Germanistik. Local Heroes in Zeiten des Global Thinking. Hg. v. Petra Boden, Uwe Wirth. Bielefeld 2006, S. 60-72, hier S. 64. 11 Eberhard Lämmert: Peter Szondi. Ein Rückblick zu seinem 65. Geburtstag, in: Poetica 26 (1994), S. 1-30, hier S. 6.

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Konzeption des Form-Inhalt-Verhältnisses wurde hier fruchtbar gemacht, indem man die Form etwa als „niedergeschlagenen“ Inhalt auffaßte. Die Metapher drückt mit dem Festen und Dauernden der Form zugleich ihren Ursprung im Inhaltlichen aus, also ihre Aussagefähigkeit.

12

Im Folgenden geht Szondi von der Möglichkeit aus, dass die inhaltliche Aussage in Widerspruch zur Form gerät – mit dem Ergebnis, dass eine „Dichtungsform geschichtlich problematisch“ werden kann.13 Wie mutig nicht nur vor dem Zürcher Universitätshintergrund, sondern insgesamt angesichts des Zeitgeistes diese Entscheidung für Hegel und seine Nachfolger war, lässt sich denken.14 In der auf Innerlichkeit und Einfühlung in das Kunstwerk setzenden Atmosphäre innerhalb der Literaturwissenschaft Mitte der 50er Jahre war dieses Vorgehen gewagt und nachgerade die Entwicklungen im kritischen Diskurs vorwegnehmend.15 Szondi konnte das freilich nicht ahnen, auch wenn er sich mit Ivan Nagel, seinem langjährigen Freund, seiner avantgardistischen Stellung bewusst war.16 Peter Suhrkamp hat in den Verhandlungen mit Szondi die Verwendung des Begriffs ‚Dialektik‘ kritisiert. Szondi erwiderte am 30.11.1955: Ich bin durchaus Ihrer Meinung, sehr verehrter Herr Dr. Suhrkamp, dass das Wort heute nur mit grösster Vorsicht zu gebrauchen ist. Andererseits kann eine Untersuchung, die ihre Methodik, und so ihre Einsichten, der Hegelschen Dialektik verdankt, darauf ebensowenig verzichten als ein Buch über Kierkegaard oder Heidegger auf das Wort ‚existentiell‘.

17

12 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 13. 13 Ebd. 14 Vgl. König: Engführungen, S. 24f. 15 Möglicherweise sogar in Teilen auf den linguistic turn vorverweisend, vgl. Michael Hays: Drama and Dramatic Theory: Peter Szondi and the Modern Theater, in: boundaries 2 11/3 (1983), S. 69-81, hier S. 71: „What Szondi has in mind here seems to be the possibility of a semiotic analysis of the signifiying structures which organize the dramatic performance as a whole.“ 16 Vgl. etwa die Briefe 6, 10, 11 von Szondi an Nagel in: Peter Szondi: Briefe. Hg. v. Christoph König, Thomas Sparr. Frankfurt/M. 1993; vgl. auch Manfred Durzak: Peter Szondi ein Gelehrtenleben in Briefen, in: Literatur und Demokratie. Festschrift für Hartmut Steinecke zum 60. Geburtstag. Hg. v. Alo Allkemper, Norbert Otto Eke. Berlin 2000, S. 313-325. Dagegen in der erforderlichen Deutlichkeit Christoph König: Invidia, in: Mitteilungen. Marbacher Arbeitskreis für Geschichte der Germanistik 17/18 (2000), S. 8f. 17 Szondi: Briefe, S. 63.

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Aus diesen zwei Sätzen spricht nicht nur das Bewusstsein, wie sehr Szondi mit der Theorie des modernen Dramas Staiger entgegentritt. Es macht zugleich deutlich, wie sehr Szondi positiv von den Möglichkeiten einer „Einsicht“ überzeugt ist, die er aus seiner Methode zu gewinnen sucht. Das wirft zwei Fragen auf: Wie intensiv war Szondi mit Hegels Dialektik und Ästhetik letztlich vertraut? Und: Eignen sie sich tatsächlich zum Gewinn von Einsichten wie die, zu denen Szondi zu gelangen versuchte? Szondi entstammte einem intellektuellen jüdischen Milieu, in dem Kenntnis von Hegels Philosophie und generell Wissen über den deutschen Idealismus selbstverständlich war, zumal Szondis Mutter Lili über ihren Bruder Lászlo Radványi locker mit dem Kreis um Lukács und Balázs in Verbindung stand. Wie tief die weiteren Kenntnisse gehen, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Auf jeden Fall hatte sich Ivan Nagel im Studium ausführlich mit Hegel befasst und war dementsprechend für Szondi (wie auch sonst) ein zuverlässiger Gewährsmann.18 Auffällig ist weiterhin, wie Szondi über Adorno, Benjamin und Lukács einerseits und Hegel andererseits schreibt: Die Bücher jener drei werden im Haupttext mit Titel genannt, dann aber nicht weiter erörtert. Die Überlegungen zu Hegels Dialektik gehen diesen Nennungen voraus. Aus der Wissenschaft der Logik leitet er seine Überlegungen zur Dialektik von Form und Inhalt ab, um so die „Historisierung des Formbegriffs“ zu begründen.19 Nachdem Szondi seine methodischen Überlegungen ausgeführt hat, wendet er sich ein zweites Mal Hegel zu und rekapituliert, ausgehend von den Vorlesungen zur Ästhetik, den Status des ‚Zwischen‘ im Drama, das Verhältnis des Menschen zu seinen Mitmenschen und seiner Mitwelt. In der Theorie des modernen Dramas kommen an keiner Stelle Zweifel auf, ob es der richtige Weg ist, die Dialektik von Form und Inhalt geschichtsphilosophisch zu perspektivieren. Szondis Vorlesungen zu Poetik und Geschichtsphilosophie zeigen, dass dieser Konnex seinen weiteren literaturtheoretischen Überlegungen nicht mehr zugrunde liegt. Szondis Kritik an Hegel bezieht sich hier einmal auf dessen Symbolbegriff. Paul de Man hat diese Kritik aufgenommen und durch eine gewagte Allegorisierung der Überlegungen Hegels gezeigt, dass Literaturtheorie und -erfahrung nicht miteinander in Verbindung stehen.20

18 Vgl. Szondi: Briefe, Nr. 2, S. 18-22. 19 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 12. 20 Paul de Man: Zeichen und Symbol in Hegels Ästhetik, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Aus d. Amerikan. v. Jürgen Blasius. Hg. v. Christoph Menke. Frankfurt/M. 1993, S. 39-58.

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Für unseren Zusammenhang ist aber Szondis zweiter Kritikpunkt an Hegel weit entscheidender. Er zielt auf die Frage nach dem Status der Sprache in der Ästhetik. Szondi hält Hegels Ästhetik für begrenzt. Das liege insbesondere an seiner „unzureichende[n] Auffassung vom Wesen der Sprache“.21 Angesichts eines solch radikalen Urteils gerät retrospektiv das gesamte Fundament der Theorie des modernen Dramas und damit jeder Versuch, sich geschichtsphilosophisch mit Kunst auseinanderzusetzen, in Gefahr – und also zugleich die Möglichkeit einer politischen Perspektivierung des untersuchten ästhetischen Gegenstandes. Szondi scheint dieses Problem erkannt zu haben, er hat dafür aber keine Lösung gefunden. Auch darauf hat de Man Bezug genommen. Er hat auf der „kritischen Potenz des ästhetischen Urteils“22 bestanden und damit vehement einer endgültigen Disjunktion zwischen ästhetischer und philosophischer bzw. politischer Kritik widersprochen (was seinerseits wiederum ein exklusiver Grundgestus ist). De Mans Überlegungen gehen in einer Philologie der Buchstäblichkeit auf,23 die Szondis späteren hermeneutischen Überlegungen nah ist, auch wenn er anders als de Man niemals sein hermeneutisches Fundament aufgegeben hat.24 Der im vorhergehenden Kapitel dargelegte Zusammenhang von dramatischem Konflikt und dessen Bezug auf die Gesellschaft hat seine Entsprechung in der theoretischen Erörterung des Dramas. Auch wenn Szondi seine eigenen theoretischen Voraussetzung in der Theorie des modernen Dramas später problematisch geworden sind, so gilt das gleichwohl nicht für die literaturtheoretischen Einsichten in den Text und die Formwerdung und damit auch nicht für den politischen Kern dieses Vorgehens,25 sondern ausschließlich für daraus potentiell ab-

21 Peter Szondi: Poetik und Geschichtsphilosophie I. Hg. v. Senta Metz, Hans-Hagen Hildebrandt. Frankfurt/M. 1974, S. 396. 22 Paul de Man: Hegel über das Erhabene, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Aus d. Amerikan. v. Jürgen Blasius. Hg. v. Christoph Menke. Frankfurt/M. 1993, S. 59-79, hier S. 79. 23 Vgl. Paul de Man: Phänomenalität und Materialität bei Kant, in: ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Aus d. Amerikan. v. Jürgen Blasius. Hg. v. Christoph Menke. Frankfurt/M. 1993, S. 9-38. 24 Vgl. Szondi: Schleiermachers Hermeneutik heute; dazu Nägele: Text, History and the Critical Subject; Eberhard Lämmert: Theorie und Praxis der Kritik. Peter Szondis Hermeneutik, in: Literaturwissenschaft als kritische Wissenschaft. Hg. v. Michael Klein, Sieglinde Klettenhammer. Wien 2005, S. 77-99. 25 Vgl. Nägele: Text, History and the Critical Subject, bes. S. 40f.

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leitbare Wahrheitspostulate. Das betrifft die Frage nach Szondis Methode. Rainer Nägele hat dazu in einer Diskussion Anfang der 80er Jahre festgehalten: Szondi’s method is not so much a „theory“ but rather, what I would call a reflective praxis. A reflectiv praxis, however, which does not fall prey to those dangers of the reflective philosophy Mr. Frank [Manfred Frank] has criticized in his paper: a reflective move which believes in its full self-appropriation. Szondi’s reflective moves constantly point towards their own limits, that difference, that negativity which is the center his texts circum26

scribe.

Dieses Verständnis von ‚Theorie‘ als einer reflektierenden Praxis der Lektüre literarischer Kunstwerke führt dazu, im Zentrum von Szondis Theorie keinen ‚harten‘ Theoriekern anzunehmen. Gleichzeitig macht es umso notwendiger, sich ergänzend neben der Auseinandersetzung mit Hegel Szondis andere drei Gewährsleute – Adorno, Benjamin und Lukács – zuzuwenden und zu überlegen, welche Impulse von ihnen ihren Niederschlag in der Theorie des modernen Dramas gefunden haben und wie sich Szondi zu ihnen verhält. Erst dadurch wird deutlich werden, weswegen es berechtigt ist, Szondis Vorgehen im Sinne Nägeles als eine ‚reflektierende Praxis‘ zu begreifen und fortzuführen. Szondi nennt sie in der chronologischen Reihenfolge ihres Wirkens. Zugleich macht er damit erneut den politischen Rahmen seiner Studie deutlich und stellt sich implizit Staiger entgegen. Außerdem wird mit den drei an den dezidiert biographischen Rahmen erinnert. Wie erwähnt, war Lukács’ Werk Szondi früh durch die Familie seiner Mutter zugänglich. Hinzu kam, dass Ivan Nagel mit 16 Jahren in Budapest aufmerksam die Vorträge und Veröffentlichungen des materialistischen Literaturtheoretikers verfolgte. Nagel dürfte es auch gewesen sein, der Szondi Ende der 40er Jahre erneut auf Lukács aufmerksam machte.27 Szondi zitiert eingangs der Einleitung Die Theorie des Romans (zuerst 1920) und den Aufsatz Zur Soziologie des modernen Dramas,28 der auch das zweite Kapitel in der Entwicklungsgeschichte des modernen Dramas ist. Aus Lukács Überlegungen vermochte Szondi zweierlei zu gewinnen: einerseits eine Konkretisierung der Formüberlegungen und andererseits Grundlegungen zur Episierungsthese – deswegen war auch die Roman-Theorie für ihn einschlägig. Lukács’ Form-Dialektik markiert im Spektrum der literaturwissenschaftlichen Positionen letztlich eine extreme, indem er meint, aus der Form Rück-

26 Dokumentiert in: boundaries 2 11/3 (1983), S. 46. 27 Vgl. König: Engführungen, S. 25f. 28 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 31.

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schlüsse auf das Soziale ableiten zu können. Eben diese These wurde in der Theorie des Romans generalisiert und mit dem Drama in Verbindung gebracht. Damit war die Episierungsthese Szondis grundlegend vorbereitet: Das historische Problem von Leben und Wesen, das für das griechische Drama ein formendes Apriori war und deshalb nie als Gegenstand zur Gestalt ward, wird so in den tragischen Prozeß selbst hineingezogen; es zerreißt das Drama in einander völlig heterogene Hälften, die nur durch ihr gegenseitiges Negieren und Sichausschließen miteinander verbunden sind: also polemisch und – die Grundlagen gerade dieses Dramas störend – intellektualistisch. Und die Breite des Fundaments, das so aufgezwungen ist, und die Weite des Weges, den der Held in seiner eigenen Seele zurücklegen muß, bis er sich als Helden findet, widerstreiten der formgeforderten Schlankheit des dramatischen Aufbaus, nähern es den epischen Formen an; geradeso wie der polemische Akzent des Heldentums (auch in der abstrakten Tragödie) eine Überwucherung von rein lyrischer Lyrik zur notwendigen Folge hat.

29

Auf der anderen Seite des Meinungsspektrums stehen die erklärten Gegner der Form-Dialektik. Entschiedenen Widerspruch dagegen formulierte von Szondis Gesprächspartnern Bernhard Böschenstein. Ihm antwortete Szondi am 11.9.53: Die Form-Inhalt-Konzeption, die ich (mit Hegel als Ursprung) auf Grund der Adornoschen Musikphilosophie in die Dramaturgie einzuführen und auszuarbeiten versuchte, ist Ihnen noch nicht klar geworden. Ich möchte hier keine Erklärung versuchen, denn wenn Sie auch nach der Lektüre des theoretischen Mittelteils […] nicht sehen, wie ich es meine, dann muss ich den Anfang wohl klarer und ausführlicher wiederschreiben. Sie schreiben: „Die Form ist nicht aussagefähig, sie ist eine Realisierungsweise der Aussage.“ Gerade 30

gegen diese Ansicht möchte ich ankämpfen.

Für Szondi hat die Form also eine eigene Aussagekraft. Mit diesem Brief positioniert er sich daher nicht nur gegenüber Böschenstein. Zugleich belegt der Brief, dass letztlich nicht Lukács, sondern vielmehr Adorno sein wesentlicher theoretischer Gewährsmann war. Szondi hatte Nagel früh Thomas Manns Doktor Faustus geschenkt; 1949 hatten sie zusammen Die Entstehung des Doktor Faustus gelesen.31 Damit war

29 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. 3. Aufl. Darmstadt, Neuwied 1976, S. 35. 30 Szondi: Briefe, S. 28. 31 Vgl. König: Engführungen, S. 23f.

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der Name Adorno nicht nur präsent, sondern wesentlich verankert. Von dieser Lektüre ausgehend, lag es thematisch nahe, sich Adornos erster nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur erschienenen Studie, der Philosophie der neuen Musik, zuzuwenden. Szondi und Nagel waren beide HolocaustÜberlebende. Für sie war es mutmaßlich eine Herausforderung, als sie Adornos Vorrede gelesen haben: „Es muß zynisch erscheinen, nach dem, was in Europa geschah und was weiter droht, Zeit und geistige Energie an die Enträtselung esoterischer Fragen der modernen Kompositionstechnik zu verschwenden.“32 Trotz dieses moralischen Selbst-Widerspruchs gegen sein Vorhaben sieht Adorno gute Gründe, die Untersuchung vorzunehmen, weil sich selbst in der zeitgenössischen Musik, die doch eigentlich den Menschen „Asyl vor dem Druck der grauenvollen Norm“ verheiße, das „Erzittern“ und die „Starre“ der gesellschaftlichen Situation Raum verschaffe.33 Für Szondi lag mit der Philosophie der neuen Musik ein Werk vor, das wesentliche strukturelle Analogien zu seinem eigenen Vorhaben bot. Auch das Drama stand für den Anspruch, durch die Aufführung den Menschen Ablenkung, wenn nicht gar Entlastung vom Alltag zu bereiten. Szondi generalisierte Adornos These, dass alle „Formen der Musik […] niedergeschlagene Inhalte“ seien: „Was einmal Zuflucht suchte bei der Form, besteht namenlos in deren Dauer. Die Formen der Kunst verzeichnen die Geschichte der Menschheit gerechter als die Dokumente.“34 Entsprechend dieser These war es zunächst möglich, wertungsgeschichtliche Kategorien außen vor zu lassen. Sodann forderte Adornos Dialektik zu einer analytischen Hinwendung zu zeitgenössischen Kunstformen auf, denn nur sie versprach Aufschluss über die Folgen historischer Umstände für die Form bzw. auf die Frage, wie die Form geschichtlich problematischen werden kann und sich darauf hin verändert, um gegenwärtige Widersprüche aufzulösen. Adornos Dialektik stellte nicht etwa die ästhetische Analyse infrage, sie machte sie zumindest für Szondi und Nagel überhaupt erst möglich. Freilich gibt es einen Unterschied zu Adorno – und erst recht zu Lukács: Während diese ihre Analyse explizit zeitdiagnostisch einbetten, beschränkt sich Szondi auf die Formanalyse:

32 Vgl. Theodor W. Adorno: Philosophie der neuen Musik. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1975, S. 10f. 33 Ebd., S. 11. 34 Ebd., S. 47; die Reflexion über diese Passage in Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 13; vgl. dazu auch König: Engführungen, S. 25.

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Darum verbleibt es [das ‚hier Vorgelegte‘, also die Theorie des modernen Dramas, K.B.] innerhalb der Ästhetik und versagt sich die Ausweitung zu einer Diagnose der Zeit. Die Widersprüche zwischen der dramatischen Form und den Problemen der Gegenwart sollen nicht in abstracto aufgestellt werden, sondern im Innern des konkreten Werks als technische, das heißt als ‚Schwierigkeiten‘ erfaßt werden.

35

Diese Äußerung lässt erahnen, dass Szondi sich längst nicht derart affirmativ zu Lukács und Adorno verhält, wie es die Nennung seiner Gewährsmänner zunächst vermuten lässt. So entschieden er einerseits Böschenstein widerspricht, so wenig entschieden folgt er andererseits den Überlegungen zur Form-Dialektik. Dass die latente Vorsicht gegenüber einer all zu harschen Rückbindung der Form-Überlegungen an soziologische Aussagen nicht klarer zum Ausdruck kommt, dürfte mutmaßlich strategische Gründe haben. Schließlich musste es Szondi darum gehen, seine Position nicht schon im Vorhinein zu problematisieren, damit sie gegenüber seinem Doktorvater Staiger stabil blieb. Nagel jedoch hat diesen theoretischen Spagat früh erkannt und gegenüber Szondi bereits im Oktober 1954 formuliert: Ich verstehe Dein Widerstreben gegen das soziologische oder philosophische Theoretisieren, das ausserhalb Deines Gebiets liegt: aber lass mich einfach feststellen, was daraus folgt. Es ist leider die Diagnose unsrer gemeinsamen Situation, die bei mir vielleicht noch nicht akut geworden ist, weil ich noch nichts Grösseres geschrieben. – Wir sind nicht mehr sicher genug, um ein umfassendes Bild von den Sachen zu haben, wir wagen die Theorie nicht (wie sie Lukács zum Ueberfluss gewagt hat, wie aber auch Adorno sie noch gerade wagt), und wissen gleichzeitig, dass es auf etwas anderes ankommt als auf die Exploration von literaturwissenschaftlichen Belangen.

36

Derart entschieden wie Nagel hat Szondi ihre theoretische Position nicht thematisiert. Der Hinweis des Freundes, er habe bisher ‚nichts Größeres‘ geschrieben, dürfte wesentlich sein. Nagel ist sich seiner Position bewusst, nur ist er nicht in der fatalen Lage, sich festlegen zu müssen – anders als Szondi. Vor diesem Hintergrund gewinnt Szondis wiederholt vorgenommener Hinweis auf Benjamins Trauerspielbuch eigene Brisanz. Es fällt zunächst auf, dass in den Briefen Adorno an die Seite von Lukács in die Tradition Hegels gestellt wird. Benjamin dagegen nimmt in den Briefen lange keine derart systematische Position ein. So schreibt Szondi Nagel am 4.9.1953: „Ich habe kürzlich Benja-

35 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 13. 36 Szondi: Briefe, S. 54.

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mins Trauerspiel-Buch wieder gelesen. Quel livre! Und wie grossartig ist der Barock! Ich bin augenblicklich in die Gedichte des John Donne vernarrt.“37 Szondi äußert sich über den Ursprung des deutschen Trauerspiels wenig reflektiert und mehr als Liebhaber. Eine Einbettung in die eigenen theoretischen Überlegungen zeichnet sich nicht ab. Wie erklärt sich vor diesem Hintergrund aber die Nennung Benjamins neben Lukács und Adorno in der Theorie des modernen Dramas?38 Szondi gilt als wesentlicher Vermittler Benjamins insbesondere an der Freien Universität Berlin.39 Zentral sind seine beiden Aufsätze Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin40 und Benjamins Städtebilder.41 Das muss betont werden, um den Stellenwert der Auseinandersetzung mit dem Trauerspielbuch in der Theorie des modernen Dramas zu vergegenwärtigen. Es war Mitte der 50er Jahre nicht selbstverständlich, in einer Qualifikationsarbeit auf Benjamin zu verweisen. Daran änderte noch die von Adorno besorgte zweibändige Ausgabe der Schriften 1955 wenig.42 Dass Benjamin nicht nur mit der Dramatik des Barock vertraut war, sondern auch mit der seiner Zeit,43 dürfte Szondi kaum be-

37 Szondi: Briefe, S. 25. 38 Man findet hier Positionen markiert, die (mit selbstverständlich anderen Gewährsleuten, aber auf Hegel zurückgehend) auch in der DDR diskutiert wurden; vgl. etwa Heiner Müller: „Eine andere Frage [...] ist, wie man jetzt, wenn man von Hegel ausgeht, den Woyzeck einordnen würde. Das ist sicher eine Grenzfrage. Für mich ist es keine Grenzfrage. Eine Ästhetik, die das nicht erfassen kann, interessiert mich nicht – das heißt nicht, daß mich Hegel nicht interessiert.“ Helmut Baierl, Peter Hacks, Rainer Kerndl u.a.: Zur Kritik der Hegelschen Dramentheorie. 18. Dezember 1972, in: Berlinische Dramaturgie. Dramatik I. Hg. v. Thomas Keck, Jens Mehrle. Berlin 2010, S. 751, hier S. 22. 39 Vgl. Sonja Boos: Verspätet: eine jüdische Arche legt an. Peter Szondi liest Walter Benjamin, in: Im Nachvollzug des Geschriebenseins. Hg. v. Barbara Hahn. Würzburg 2007, S. 99-120. 40 Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen. Über Walter Benjamin, in: ders.: Schriften II. Hg. von Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 275-294. 41 Peter Szondi: Benjamins Städtebilder, in: ders.: Schriften II. Hg. von Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 295-309; vgl. auch Kai Bremer: Szondis Trauerspielbuch? Zur programmatischen Benjamin-Rezeption in den Vorlesungen zum bürgerlichen Trauerspiel, in: Weimarer Beiträge 62 (2016), S. 199-211. 42 Walter Benjamin: Schriften. 2 Bde. Hg. v. Theodor W. Adorno. Frankfurt/M. 1955. 43 Dazu grundlegend Patrick Primavesi: Kommentar, Übersetzung, Theater in Walter Benjamins frühen Schriften. Frankfurt/M. 1998.

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wusst gewesen sein. Ob er gar Benjamins Überlegungen zum epischen Theater intensiv rezipiert hat,44 lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Stattdessen ist die frühe Beschäftigung mit Benjamin Ausdruck einer jüdischen Solidarität, die auch Adorno und Lukács gilt und die unter Szondis jüdischen Freunden, Celan etwa und Bollack, verbreitet war. Das Bewusstsein dafür ging vielen Lesern Szondis zu seinen Lebzeiten, aber auch bis heute, ab. Für sie ist Szondi mit der Dissertation gewissermaßen philologischer Trendsetter, die Symbolik seiner Beschäftigung mit Benjamin wird ignoriert.45 Aber zudem und in erster Linie nahm Szondi in inhaltlicher Hinsicht Bezug auf Benjamin: An ihm dürfte Szondi anders als an den beiden anderen Gewährsmännern primär der literaturhistorische Zugriff interessiert haben. Schließlich hatte Benjamin mit seiner Studie gegen einen klassischen, überzeitlichen Trauerspielbegriff angeschrieben und dadurch indirekt die Historizität der Form freigelegt (das „Problematischwerden der geschichtsfremden Gattungsbegriffe der Poetik“).46 Zugleich dürfte Benjamins Allegorie-Begriff mit seinen philosophischen Voraussetzungen potentielle literaturtheoretische Vorbildfunktion für Szondi gehabt haben. Dass das Trauerspielbuch nichtsdestotrotz weniger literaturhistorische Rekonstruktion einer Epoche ist als vielmehr eine Rekonstruktion der durch die Form zum Ausdruck kommenden Weltanschauung, hat Szondi deutlich gesehen – gerade das dürfte ihn aufgrund seines Interesses an der Form/Inhalt-Dialektik interessiert haben. Während die Konsequenzen aus der Form/Inhalt-Dialektik in Auseinandersetzungen mit der Theorie des modernen Dramas meist gezogen werden, werden die aus der Benjamin-Rezeption sich ergebenden Konsequenzen (obwohl mit jenen eng verwandt) nur selten bedacht. Dabei hat insbesondere die Rezeption des Trauerspielbuches für Szondis weitere Überlegungen wesentliche Bedeutung. Das gilt besonders für das Kapitel I. „Das Drama“. Szondi setzt mit einer dezidiert literaturhistorischen Verortung ein: „Das Drama der Neuzeit entstand in der Renaissance.“47 Die folgenden Überlegungen sind, das ist aufgrund der Prägnanz der Formulierungen nicht immer eindeutig, nur vor diesem historischen Hintergrund zu verstehen. Wenn Szondi, wie schon zitiert, schreibt, dass das Drama

44 Walter Benjamin: Was ist das epische Theater?, in: ders.: Aufsätze. Essays. Vorträge. Gesammelte Schriften II/2. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schwepenhäuser. Frankfurt/M. 1991, S. 519-539. 45 Zur Position Szondis als Trendsetter, der zugleich ‚zwischen den Stühlen‘ sitzt vgl. Boos: Verspätet, S. 105-113. 46 Szondi: Hoffnung im Vergangenen, S. 292. 47 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 16.

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„absolut“ sei und der Dramatiker „im Drama abwesend“, gelten diese Aussagen angesichts der zuvor vorgenommenen Bezugnahme auf Benjamin und damit vor dem Hintergrund einer entschiedenen Historisierung der Form. Jede Lektüre von Szondis Vorüberlegungen, die seine Aussagen im ersten Kapitel absolut setzt oder überzeitlich begreift, ist abzulehnen. Vielmehr arbeitet er in diesem Kapitel I. mit derart thetischen Formulierungen, um die in der neueren Dramatik einsetzenden Formänderungen präzise darstellen zu können. Voraussetzung für die Formänderungen ist die These von der Krise des Dramas. Argumentativ entscheidend ist dafür Szondis Betonung des Dialogs48 als konstitutives Moment des Dramas, wodurch er einerseits eine Korrespondenz zwischen der dialektischen Methodik und ihrem Gegenstand herstellt und andererseits die ,Krise‘ des Dramas vorbereitet: Die Ganzheit des Dramas schließlich ist dialektischen Ursprungs. Sie entsteht nicht dank dem ins Werk hineinragenden epischen Ich, sondern durch die je und je geleistete und wieder ihrerseits zerstörte Aufhebung der zwischenmenschlichen Dialektik, die im Dialog Sprache wird. Auch in dieser letzten Hinsicht also ist der Dialog Träger des Dramas. Von 49

der Möglichkeit des Dialogs hängt die Möglichkeit des Dramas ab.

Szondi verwendet den Begriff ,Drama‘ in diesem letzten Satz ausschließlich vor dem Hintergrund plausibel, wenn er hier vom Drama der Moderne ausgeht, wenn also nicht ‚das‘ Drama gemeint ist, sondern eine seiner historischen Erscheinungsformen. Die dort zu beobachtenden Tendenzen der Episierung erschüttern nicht die Möglichkeiten des Dramas ‚als solchem‘, sondern ausschließlich eine bestimmte historische Erscheinungsform. Wertungsperspektiven oder gar Verfallsnarrative lassen sich mit der Historisierung Szondis nicht in Einklang bringen.

48 In der vorliegenden Untersuchung wird der Begriff ‚Dialog‘ insgesamt undifferenziert diskutiert. Dialogizität in literarischen Werken, erst recht der ‚Dialog‘ zwischen Interpret und Werk ist inzwischen vielfach kritisiert worden; vgl. grundlegend Renate Lachmann: Dialogizität und poetische Sprache, in: Dialogizität. Hg. v. ders. München 1982, S. 51-62; Gabriele Schwab: Die Subjektgenese, das Imaginäre und die poetische Sprache, in: ebd., S. 63-84; Colin B. Grant: Kritik der Dialogizität. Jenseits der Asymmetrien literarischer Kommunikation. Siegen 1997. Da andererseits der Begriff in dramentheoretischen und -analytischen Kontexten als einigermaßen stabil und eingeführt gelten kann, scheint es dem Verfasser geboten, ‚Dialog‘ nicht durch andere oder verschiedene, ausdifferenzierte Kategorien aufzugeben. 49 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 20.

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2.

E PISIERUNGSTHESE

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VS .

OFFENE UND GESCHLOSSENE

F ORM ?

Ähnlich wie die Werktreuen auf dem Drama als Voraussetzung der Inszenierung beharren, verhält sich die Dramentheorie, wenn sie primär Formtheorie ist und die Inszenierung nur randständig behandelt. Im Unterschied dazu geht die jüngere literaturwissenschaftliche Forschung zum Gegenwartsdrama immer wieder auf Inszenierungen ein. Sie arbeitet dabei exemplarisch, weswegen nur selten generalisierende Feststellungen getroffen werden.50 Szondi geht grundlegend anders vor: Da die Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selber wegführt, ist bei ihrer Betrachtung ohne einen Gegenbegriff nicht auszukommen. Als solcher stellt sich ‚episch‘ ein: es bezeichnet einen gemeinsamen strukturellen Zug von Epos, Erzählung, Roman und anderen Gattungen, nämlich das Vorhandensein dessen, was man das ‚Subjekt der epischen Form‘ oder das ‚epische Ich‘ genannt hat.

51

Szondi bezieht sich mit diesem Satz einerseits (etwas ungenau zitierend) auf Lukács’ Theorie des modernen Romans52 und andererseits auf Robert Petsch’ Wesen und Formen der Erzählkunst. Dieses Buch war erstmals 1934 und dann 1942 bei Niemeyer in Halle in der Buchreihe zur Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte erschienen. Anders als Staigers Einfühlungshermeneutik setzt Petsch in seinen Überlegungen nicht nur einen Schwerpunkt auf kategorial grundlegende Wesensbeschreibungen der drei Gattungen, sondern betont zudem den völkischen Aspekt des Erzählens: Das entspricht durchaus unserer deutschen Erzählweise seit den Tagen des deutschen Idealismus, die sehr tief in unserem völkischen Wesen verwurzelt ist und dauernd von ihm bestimmt wird. Der deutsche Darsteller der Erzählkunst hat in der Gegenwart das besondere Glück, vor einer sehr hohen und mannigfaltigen Entfaltung [sic!] völkischer Geistesart in erzählender Form zu stehen.

53

50 Vgl. etwa Schößler: Augen-Blicke. 51 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 15. 52 Lukács: Theorie des Romans, S. 40f. 53 Robert Petsch: Wesen und Formen der Erzählkunst. 2., vermehrte Aufl. Halle/S. 1942, S. 5, Hervorhebungen im Original.

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Eingedenk des politischen wie literaturtheoretischen Bewusstseins, das ansonsten aus den Überlegungen Szondis spricht, kann sein Verweis auf Lukács und den 1945 aus politischen Gründen aus dem Dienst der Universität Hamburg entlassenen Petsch nur dahingehend verstanden werden, dass er die beiden Pole der Erzähltheorie (ebenfalls politisch wie literaturtheoretisch) nennt, um Konsens über das Attribut ‚episch‘ herzustellen und eine Kategorie vorzulegen, die seine weiteren Überlegungen leiten wird und welche damit ihrerseits als stabil gilt. Lukács wie Petsch meinen dabei letztlich nichts anderes als den Erzähler bzw. ein Aussagesubjekt der Erzählung. Derartige Erzählinstanzen sieht Szondi vor, wenn er die Darstellung vom Dialogischen zum Epischen sich entwickeln sieht. Auffällig ist dabei zunächst die Annäherung von Epik und Dramatik als solcher, denn sie ist auch ein Kennzeichen des zweiten wesentlichen literaturtheoretischen Buches dieser Jahre, Käte Hamburgers Die Logik der Dichtung (1957). Sie erklärt: Daß Epik und Dramatik auf Grund ihres mimetisch-fiktionalen Charakters zusammengehören, ist […] von der Literaturtheorie deshalb nicht gern betont worden, weil die spezifischen ästhetisch-technischen Eigenschaften der beiden Formen dadurch verdunkelt werden könnten. Daß aber auch für das epische Dichten der Mimesis-Trieb das Primäre ist, nicht aber das Erzählen selbst als eigens ins Auge gefaßte Bewußtseinshaltung und Situation, ist die strukturelle Einsicht des Aristoteles, die durch die Zeiten hindurch zu wenig 54

beachtet worden ist.

Hamburger versucht den Antrieb des epischen wie dramatischen Schreibens darzulegen, sie arbeitet einer Gattungsanthropologie vor. Ihre Logik der Dichtung ist eine Logik der Dichtungsproduzenten. Szondi dagegen ist von Beginn an an der Logik des Produziertseins interessiert. Der Unterschied ist wesentlich: Hamburger geht es um Produktionsästhetik. Für Szondi ist der Autor eine randständige Größe. Ihn interessiert die Notwendigkeit zur formalen Veränderung. Anschaulich wird das in seiner Auseinandersetzung mit Brechts Theorie des Epischen Theaters,55 die Szondi zentral hält für die „Lösungsversuche“ (so der Titel von Kapitel IV), die seit der ‚Krise‘ des Dramas im späten 19. Jahrhundert entwickelt worden seien. Brecht ergänzend, geht Szondi sodann auf Piscators Theaterpraxis vor 1933 ein.56 Das Material, das diesen beiden Kapiteln zugrunde liegt, ist theatertheoretischer Natur. Es sind nicht die Lehrstücke oder die Heilige

54 Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. München 1987, S. 173. 55 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 105-110. 56 Vgl. ebd., S. 99-105.

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Johanna, die im Zentrum stehen. Szondi argumentiert u.a. mit dem Kleinen Organon für das Theater, in dem der Begriff des Dramas marginal ist. Brecht hat die Theaterpraxis im Blick und wendet sich lediglich einmal ausführlich der Dramentradition zu – mit einem energischen Abgrenzungsgestus: „Und jene Katharsis des Aristoteles, die Reinigung durch Furcht und Mitleid, oder von Furcht und Mitleid, ist eine Waschung, die nicht nur in vergnüglicher Weise, sondern recht eigentlich zum Zwecke des Vergnügens veranstaltet wurde.“57 Konkret realisiert wird dieser Anspruch von Brecht durch die Durchbrechung der mimetischen Dramatik, indem er auf diegetische Verfahren setzt. Da für Szondi das klassische Drama dialogisch war und da er ,episch‘ als Gegenbegriff dazu eingeführt hat, folgert er, dass sich das Drama vom Dramatischen fortbewege. Von ähnlicher Position aus diagnostizieren Hamburger und Szondi also entgegengesetzte Bewegungen. Bei jener entwickelt sich die Diegese auf die Mimesis zu, bei diesem tendiert die Mimesis zur Diegese. Szondi operiert weitgehend mit Setzungen, die Episierungsthese wird zu Beginn der Studie vorgestellt, auch in einzelnen Kapiteln entwickelt, nicht aber aus der Anschauung des Materials gewonnen. Szondi argumentiert deduktiv, wobei er sich in den Einzelanalysen der „Lösungsversuche“ nicht der Mühe unterzieht, die Episierungsthese weitergehend zu bestätigen oder gar zu beweisen. Er hätte sich sonst nicht auf theaterpraktische Ausführungen Brechts und Piscators beziehen können, sondern auf literarische eingehen müssen. In den übrigen Kapiteln der Theorie des modernen Dramas dominiert im Gegensatz zu den beiden zu Brecht und Piscator die Analyse von Dramentexten, aus denen Kriterien für die Theorie gewonnen werden; wir werden darauf noch eingehen. Szondi führt die Überlegungen zum literarischen Text und die zur Theaterpraxis damit eng aneinander, was wichtig für seine Gesamtargumentation ist, weil er die Episierungsthese ansonsten nur in der programmatischen Einleitung des Buches vorstellt, wo sie zentral ist. Die Episierungsthese ist weitgehend unbestritten – über die Grenzen der Literaturwissenschaft hinaus.58 Szondis Studie führt vor, wie nah sich in der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung Drama und Theater kommen können und dass ihr Verhältnis keineswegs als Einbahnstraße betrachtet werden muss. Allerdings geht Szondi ausschließlich auf theatertheoretische Texte ein. Die Inszenierung des Dramas interessiert ihn hingegen nicht. Er berücksichtigt also den theo-

57 Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater, in: ders.: Schriften 3. Werke 23. Hg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller. Berlin, Weimar, Frankfurt/M. 1993, S. 65-97, hier S. 67. 58 Vgl. Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 41-43.

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retischen Theaterdiskurs und dessen Auswirkungen auf das Drama, nicht aber die umgekehrte Richtung der Einflussnahme. Ein derart im Hinblick auf die Theaterpraxis gleichwohl offenes literaturwissenschaftliches Verfahren wird sich erst im späten 20. Jahrhundert durchzusetzen beginnen.59 Während durch die Episierung die Geschlossenheit der Handlung fraglich wird, gilt das nach Szondi für die beiden anderen aristotelischen Kategorien Raum und Zeit in anderer Weise. Das liegt seines Erachtens an der dialektischen Struktur des Dramas: Die zeitliche Zerrissenheit der Szene ist gegen das Prinzip der absoluten Gegenwartsfolge gerichtet, da jede Szene ihre Vorgeschichte und Folge (Vergangenheit und Zukunft) außerhalb des Spieles hat. So werden die einzelnen Szenen relativiert. […] Das (gesagte oder ungesagte) ‚Nun lassen wir drei Jahre verstreichen‘ setzt das epische Ich voraus. Ähnliches im Räumlichen begründet die Forderung nach Einheit des Ortes. Die räumliche Umgebung muß (wie die zeitliche) aus dem Bewußtsein des Zuschauers ausgeschieden werden. […] Zudem setzt die räumliche Zerrissenheit (wie die zeitliche) das epische Ich 60

voraus.

Volker Klotz hat in der seit der Theorie des modernen Dramas vielleicht wichtigsten Studie zur Dramentheorie, Geschlossene und offene Form im Drama (zuerst 1960), die These vertreten, Szondi sei es ausschließlich um eine der beiden dramatischen Formen gegangen, nämlich um die offene. Für Klotz ist Szondis Episierungsthese damit weitgehend erledigt: Durch knappe, prägnante Einzelanalysen der europäischen Dramatik seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts liefert P. Szondi eine Theorie des modernen Dramas, in der er an vielen Einzelzügen den Wandel des Subjekt-Objekt-Verhältnisses aufweist. Sein Rückblick 61

auf die Voraussetzungen, die uns interessieren, ist instruktiv, doch zu kursorisch.

Klotz hat seine Überlegungen in Fortsetzung der Überlegungen Wölfflins und von Walzels Tektonik bzw. Atektonik der offenen bzw. geschlossenen Form der Dramatik entwickelt.62 Der Vorteil dieses Verfahrens gegenüber Szondis Theoriebildung liegt auf der Hand. Zunächst entledigt Klotz’ Formanalyse sich des politischen Anliegens,

59 Vgl. etwa Schößler: Augen-Blicke. 60 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 19. 61 Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 20. 62 Vgl. ebd., S. 17-21.

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bzw. das wissenschaftliche Verfahren verortet die Politik ausschließlich thematisch, während das wissenschaftliche Verfahren politisch neutralisiert wird, indem die Formanalyse weitgehend Stilanalyse ist. Gleichzeitig mutet sein Vorgehen in literaturgeschichtlicher Hinsicht überzeugender an, weil es von der Existenz verschiedener dramatischer Formen ausgeht. Die Folge dieser Annahme ist außerdem in historischer Hinsicht überzeugend. Vermeintlich undramatische Formen wie das barocke Trauerspiel oder Brechts epische Dramatik bilden selbständige Bereiche, sie sind eigenständig neben der geschlossenen, vermeintlich klassischen Bauform. Auf diese Weise wird die offene Form von Beginn an aufgewertet, klassizistischen Werturteilen wird die Voraussetzung entzogen. Die eigentliche Leistung von Klotz besteht jedoch darin (und das wird oft übersehen), dass er die aristotelischen Kategorien Handlung, Raum und Zeit für beide dramatische Bauformen zu retten vermag, indem er sie jeweils kritisch thematisiert. Trotz dieser Stärke von Klotz’ Verfahren vermag Geschlossene und offene Form im Drama im Hinblick auf die Episierung nicht zu überzeugen. Szondi nimmt eine allgemeine Tendenz zur Episierung an. Klotz hingegen beschränkt diese weitgehend auf das offene Drama, das „zur charakterisierenden Totalität, Totalität der dargestellten Menschen und der dargestellten Welt“,63 neige. Wenn Szondis These richtig ist, ist Klotz’ Beschränkung der Episierung auf die offene Form falsch, weil Episierung eben nicht an offen und/oder geschlossen gebunden ist, sondern eine historische Entwicklung innerhalb der Formgeschichte des Dramas an sich markiert. Wir werden sehen, dass eben diese Beschränkung der Episierung auf die offene Form sich nicht bestätigen lässt. Klotz hätte das übrigens Ende der 50er Jahre erkennen können, wenn er wie Szondi ergänzend zu den klassischen Stücken etwa moderne amerikanische Dramatik berücksichtigt hätte. Diese Feststellung bestätigt aber nicht zwingend Szondis These. Sie wird zu überprüfen sein – und zwar nicht nur im Hinblick auf ihre Gültigkeit für die Dramatik nach 1956, sondern auch im Hinblick darauf, ob radikale Episierung letztgültiges telos ist oder eine unter verschiedenen formalen Möglichkeiten.

3.

D IESSEITS

UND JENSEITS DER

‚L ÖSUNGSVERSUCHE ‘

Angesichts der vorausgehenden Überlegungen mag der Eindruck entstehen, dass Szondis Theorie ausschließlich der Episierungsthese gewidmet ist. Dem ist nicht so. Szondi nennt insgesamt neun „Lösungsversuche“ (Teil IV), die im Anschluss

63 Ebd., S. 107.

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an die „Rettungsversuche“ (Teil III) nach der „Krise des Dramas“ im 19. Jahrhundert (Teil II) vorliegen. Die „Lösungsversuche“ reichen zeitlich von der expressionistischen Dramatik bis zu Thornton Wilders und Arthur Millers Dramatik – also bis zur Dramatik der frühen 50er Jahre. Die Dramatik bzw. das Theater von Brecht und Piscator sind nur zwei der neun „Lösungsversuche“. Szondi wertet einige Male. So eröffnet er das erste Unterkapitel zur „IchDramatik (Expressionismus)“ folgendermaßen: Die erste bedeutende [Hervorhebung von K.B.] dramatische Richtung des neuen Jahrhunderts und bis heute die einzige, zu der sich eine ganze Generation bekannte, fand ihre Antwort auf die Krise des Dramas, der sie entsprang, nicht selber, sondern übernahm sie von jenem großen Einzelgänger, der sich in den letzten Jahren des alten vom Drama am weitesten entfernt hatte.

64

Doch auch wenn sich solche knappe Wertungen wiederholt finden lassen, so schwingt sich Szondi trotzdem nicht dazu auf, eindeutige Perspektiven für die Zukunft oder gar Prognosen über die weitere Entwicklung der Dramatik abzugeben. Was er allerdings mit diesem Einsatz behauptet, ist zweierlei: a. Es zeichnet sich eine zunehmende Pluralisierung und Mischung der dramatischen Ausdrucksformen ab; ‚Generationenbekenntnisse‘ wie der Expressionismus scheinen ausgedient zu haben. b. Neben der Episierung kündigt sich eine zweite Tendenz an – nämlich die, im Drama ‚Fragmente der Lebensgeschichte‘65 zu integrieren. Ausgangspunkt dafür ist für Szondi Strindberg, auf den er mit dem obigen Zitat anspielt. Diese Tendenz wird von Szondi als Reflex auf die „Dialektik der Individuation“ begriffen, die Adorno in Minima Moralia dargelegt hat.66 Die expressionistische Dramatik avanciert so zu einem Idealfall der modernen Dramatik, weil sie sowohl mit Techniken der Episierung arbeitet als auch diese Dialektik in Szene setzt. Damit wird neben dem Dialogischen das zweite, davon jedoch gänzlich unabhängige Grundprinzip des klassischen Dramas angegriffen: die Abwesenheit des Autors. Was sich bei Strindberg ankündigt, wird im Expressionismus konkret. Der Dramatiker stiftet nicht mehr Aussprache.67 Seine Erfahrung der Individuation artikuliert sich in seinen Dramen in der „Abstraktheit und Leere

64 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 98. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. ebd., S. 98f. 67 Vgl. ebd., S. 17.

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des Einzelnen“.68 Zudem, und das hat Szondi nicht weiter ausgeführt, wird im Drama des Expressionismus das Verhältnis von Zuschauer und Drama bzw. Theater durch antimimetische Techniken relativiert. Besonders deutlich wird das in Ernst Tollers Hoppla, wir leben, wenn den Szenen (und nicht Akten) ‚Filmische Zwischenspiele‘ zwischengeschaltet werden, die Toller nicht präzise bestimmt: „Großstadt 1927 / Straßenbahnen / Autos / Untergrundbahnen / Aeroplane“.69 Die im ersten Kapitel des vierten Teils (Kap. 10) sich andeutende Tendenz, antimimetische Momente, die durch Einsatz neuer medialer Möglichkeiten sich eröffnen, nicht als eigene Kategorie zu thematisieren, ist typisch für das Kapitel zu den ‚Lösungsversuchen‘. Szondi nennt sie, führt sie aber nicht als eigene Kategorie. In den folgenden Unterkapiteln zu Piscator, Brecht und auch zur Montage-Dramatik Ferdinand Bruckners (Kap. 11-13) behandelt er ausführlich die Episierung, wie wir gesehen haben. Den Einsatz neuer medialer Techniken fasst er nun endgültig als ein Moment der Episierung auf. Er schreibt über Piscators Inszenierung von Der sichtbare Mensch: Durch die erwähnten drei künstlerischen Entdeckungen, welche die Kamera produktiv ins Bild einbeziehen, die Modifikationen des Gegenübers von Kamera und Objekt für die Bildgestaltung fruchtbar machen und die Abfolge der Bilder nicht nur durch das reale Geschehen, sondern in der Montage auch durch das Kompositionsprinzip des Regisseurs bestimmen lassen, hört der Film auf, photographisches Theater zu sein, und wird zur eigenständigen Bilderzählung. Er ist nicht mehr die technische Wiedergabe eines Dramas, sondern eine autonome epische Kunstform.

70

Fragwürdig ist diese Unterordnung der Medialisierung unter die Episierung, weil ein für sich genommen unepisches Verfahren, das vielfach wie im TollerBeispiel nichts erzählt, sondern ausschließlich zeigt, zugunsten der Episierung vereinnahmt wird. Die Ausführungen zum Medieneinsatz in der Dramatik seit den 1990er Jahren werden das Verhältnis von Episierung und Medialisierung zu überprüfen haben. Dass Szondi die Medialisierung nicht als eigenständig begriffen hat, mag daran gelegen haben, dass seine Theaterkenntnis wesentlich vom Spielplan des Zürcher Schauspielhauses in den frühen 50er Jahren geprägt war. Der Einsatz

68 Ebd., S. 99. 69 Ernst Toller: Hoppla, wir leben. Ein Vorspiel und fünf Akte. Nachw. v. Ernst Schürer. Stuttgart 1980, S. 21. 70 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 103.

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von bildgebenden und akustischen Medien stand hier nicht im Zentrum (Brecht war 1948 nach Berlin gegangen); amerikanische, psychologisierende well-made plays bildeten einen Schwerpunkt. Zudem war der Medien-Einsatz nur in wenigen Häusern möglich und wurde beispielsweise von Brecht selbst als eine Technik neben anderen begriffen, die der Verfremdung Vorschub leisten sollte. Als Beispiele für das Nebeneinander von Ich-Dramatik und Episierung führt Szondi im Anschluss die Dramen an, die in erster Linie um jene kreisen, selbst wenn sie nicht frei von epischen Elementen sind (Kap. 14-18). An erster Stelle geht er auf Luigi Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor (UA 1920, Erstdruck 1921) ein, wofür dieser 1934 den Nobelpreis erhielt. Nachdem er die Frage nach dem Ich im Drama gestellt und gezeigt hat, wie virulent sie ist, beschränkt er sich nicht darauf die Frage zu untersuchen, sondern versucht, sie ins Verhältnis zur Episierung zu setzen: „Als Kritik des Dramas ist Sei personaggi in cerca d’ autore kein dramatisches, sondern ein episches Werk. Wie aller ‚epischen Dramatik‘ ist ihm thematisch, was sonst die Form des Dramas konstituiert.“71 Szondi hat Schwierigkeiten, das dramatische Verfahren Pirandellos, konkret dessen Umgang mit dem Autor, in den Griff zu bekommen.72 Über die Gründe dafür kann nur gemutmaßt werden. Ein Grund könnte sein, dass in dem Drama Formelemente nebeneinander stehen, die in der deutschen Dramengeschichte sukzessive einander ersetzt haben. Zu denken ist an die Anklänge an die Commedia dell’arte.73 Das lässt sich schon am typisierten Personal festmachen und am auf Situationskomik zielenden Dialog: (Der Direktor und die Sechs Personen gehen über die Bühne und verschwinden. Die Schauspieler bleiben ziemlich verblüfft zurück und schauen einander an.) Der erste Darsteller: Meint er [der Direktor] das im Ernst? Was hat er vor? Der jugendliche Darsteller: Das ist doch heller Wahnsinn! Ein dritter Schauspieler: Will er uns ein Stück improvisieren lassen, so unverhofft? Der jugendliche Darsteller: Sicher! Wie die Spieler der Commedia dell’arte! 74

Die erste Darstellerin: Hach, wenn er glaubt, daß ich mich zu solchen Späßen hergebe...

71 Ebd., S. 122. 72 Vgl. im Unterschied dazu Martin Esslin: Pirandello: Meister der nackten Maske, in: ders.: Jenseits des Absurden. Wien 1972, S. 50-56. 73 Vgl. Catherine Arturi Parilla: A Theory for Reading Dramatic Texts. Selected Plays by Pirandello and Garcia Lorca. New York, Washington 1995, S. 35f. 74 Luigi Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor. Aus dem Ital. übers. v. Annika Makosch, Nachw. v. Hanspeter Plocher. Stuttgart 1995, S. 55. Vgl. dazu Friedrich Müller: Kunst und Wirklichkeit im Drama Pirandellos, in: Der Dramatiker Pirandello.

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Die Improvisationskunst der Commedia dell’arte wird mit dieser Szene nicht nur zum Gegenstand der Unterhaltung. Die Schauspieler lehnen diese Darstellungsweise als antiquiert ab, bzw. sie betrachten sie als künstlerische Demütigung und Unterforderung. Ihr Protest ist Folge des Ansinnens vom Theaterdirektor, der im Gegensatz zu ihnen die Improvisation nicht kategorisch ausschließt. Wichtig ist nun, dass der Direktor von Pirandello durchaus nicht als eine künstlerisch unterentwickelte Figur angelegt ist, auch wenn seine ‚Schauspieler‘ sich dahingehend äußern. So meint zum Beispiel die erste Darstellerin: „Aah! Ich bin wirklich nicht hier, um für die da [die sechs Personen] den Hanswurst zu spielen!“75 Neben der Commedia dell’arte rekurriert das Stück durch die Vater-Figur, also den zentralen Antagonisten der Schauspieler, auf das Bürgerliche Trauerspiel. Zunächst bezieht er sich auf die aristotelische Kategorie der Wahrscheinlichkeit.76 Dann betont er seine Empathiefähigkeit: „Sehen Sie, mein Mitleid, mein tiefes Mitleid für diese Frau (deutet auf die Mutter) ist von ihr als die unmenschlichste aller Grausamkeiten aufgefaßt worden.“77 Die Pointe der Figurenkonstellation ist, dass das erklärte Mitleid seinerseits inszeniert ist, dass es also durch die weitere Handlung bloßgestellt wird und so seinerseits als pervertiertes Ideal gebrandmarkt wird. Mittels dieses Sarkasmus’ gelingt es Pirandello, einzelne Bausteine der Dramenästhetik drameninhärent zu thematisieren und auf ihr Potential für die Gegenwartsbühne zu befragen. Fluchtpunkt der Auseinandersetzung mit dem Bürgerlichen Trauerspiel ist dessen illusionistischer Anspruch, den Szondi, ohne dies zu explizieren, als Gegenentwurf zur Episierung und damit zum erklärten Antiillusionismus Brechtscher Prägung betrachtet:78 „So sehr wird hier [im Stück] Theater als Nachahmung der Wirklichkeit genommen, daß es an der nicht aufzuhebenden Differenz zwischen der wirklichen und der theat-

Hg. v. Franz Norbert Mennemeier. Köln 1965, S. 19-61; Francis Fergusson: Aktion und Theater: Sechs Personen suchen einen Autor, in: ebd., S. 86-96; Rainer Zaiser: Das Avantgardetheater Pirandellos: Ein Autor auf der Suche nach der Dramenästhetik der Moderne, in: Pirandello zwischen Avantgarde und Postmoderne. Hg. v. Michael Rössner. Wilhelmsfeld 1997, S. 13-25. 75 Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor, S. 74. 76 Ebd., S. 31: „Der Vater (verletzt und sanft): Oh, Herr Direktor, Sie wissen genau, das Leben ist voller zahlloser Verrücktheiten, die unverschämterweise nicht einmal wahrscheinlich wirken müssen, weil sie einfach wahr sind.“ 77 Ebd., S. 41; vgl. ebd., S. 43. 78 Dabei berücksichtigt Szondi nicht, dass Pirandello hier vielmehr auf die romantische, gleichwohl bürgerliche bzw. anti-bürgerliche Ironie etwa Tiecks zu beziehen ist, denn auf die aufklärerische Dramatik Lessings.

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ralischen Szenerie, zwischen der ‚Person‘ und dem Schauspieler zu scheitern verurteilt ist.“79 Szondi sieht also, dass das Stück konventionell gebaut ist. Er konstatiert, dass formanalytisch nichts dafür spricht, es der episierenden Dramatik zuzurechnen. Trotzdem weist er es dieser schließlich zu. Das gelingt ihm mittels einer Hilfskonstruktion, indem er einen konkreten Sinn des Stücks benennt, die „Kritik des Dramas“, die er als thematisch und damit episch versteht. Einmal davon abgesehen, dass Szondi damit seinen eigenen formanalytischen Anspruch unterläuft, spricht aus dieser Feststellung Unverständnis für das Stück. Pirandello geht es zunächst nicht um die Kritik im Sinne von Ablehnung, sondern um ironisierende Auseinandersetzung mit der romantischen Theaterund Dramentradition, wie sie maßgeblich von Tieck entwickelt wurde, dem sich Szondi später zugewandt hat.80 In diesem Sinne ist das Stück eine Liebeserklärung an die Bühnenkunst, also eine Form der poetischen Selbstreflexion, die in der Lage ist, über sich selbst zu lachen, weil sie weiß, dass komisches Theater nicht schlechtes Theater sein muss. Szondi erkennt diesen selbstreflexiven, ironischen Impuls nicht. Diese Art des Umgangs mit dem Theater zielt auf eine Wirkung, die sich mittels des planen Dualismus illusionistisch vs. desillusionistisch bzw. aristotelisch vs. antiaristotelisch kaum fassen lässt, der letztlich Szondis Episierung kennzeichnet. Er übersieht, dass es eine dritte Möglichkeit gibt, mit der Illusion umzugehen und die ihrerseits selbstreflexiv sein kann, wie Martin Schenkel ausgehend von Lessings Mitleidspoetik u.a. für Pirandello gezeigt hat: Im Gegensatz zur Lyrik und zur epischen Gattung verfügt das Drama aufgrund seiner essentiellen Bindung an die Präsentation über die Möglichkeit, die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum zu gestalten. Die verschiedenen Formen der Korrelation zwischen Darstellungs- und Rezeptionsraum, zwischen den ontologischen Ebenen der Fiktion und Realität lassen sich wirkungspsychologisch mit den Begriffen ‚Illusion‘ und ‚Desillusion‘ strukturieren. Illusion und Desillusionierung bilden die Pole der Bandbreite möglicher Wechselbeziehungen zwischen der Bühne und dem Publikum. Unter dem Aspekt strukturalistisch-polarer Begriffsbildung definiere ich den Begriff der ‚Anti-illusion‘ [sic!] als einen systemtransgredierenden Begriff, d. h. er bezeichnet eine Korrelation zwischen dem Bühnen- und Zuschauerraum, welche die Grenzen des traditionellen Theatermechanismus offenlegt und überschreitet.

79 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 121. 80 Vgl. Peter Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie. Mit einer Beilage über Tiecks Komödien, in: ders.: Schriften II. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 11-31, bes. S. 25-31.

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Diesen fundamentalen Distanzstrukturen des Dramas entsprechend, unterscheide ich drei Typen der poetologischen Selbstreflexion im Drama bzw. der poetischen Dramenreflexion: erstens den illusionistischen, zweitens den desillusionistischen und drittens den antiillusionistischen.

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In diesem Sinne ist Pirandellos Stück antiillusionistisch: Ähnlich dem theatrum mundi thematisiert es den theatralen Charakter der Realität. Anders als bei diesem widmet es sich mittels der Spiel-im-Spiel-Anlage der Bühnenrealität. Es ist also ein Metadrama, in dem die Unterscheidung zwischen Bühnenrealität und darin existierender Fiktion als Störung dramaturgisch inszeniert wird, indem die Figuren der Bühnenrealität als auch die des darin dargestellten Spiels miteinander sprechen und nicht nur untereinander, sondern eben auch miteinander in Konflikt geraten.82 Die Pirandello-Forschung hat sich bemüht, den sprachphilosophischen Kern des Dramas zu betonen und die Abhängigkeit Pirandellos von der romantischen Dramatik insbesondere Tiecks gezeigt bzw. deren Weiterentwicklung.83 Kaum berücksichtigt wurde dabei aber, dass Pirandello mit seinem Metadrama zudem

81 Martin Schenkel: Lessings Poetik des Mitleids im bürgerlichen Trauerspiel Miss Sara Sampson: poetisch-poetologische Reflexionen. Mit Interpretationen zu Pirandello, Brecht und Handke. Bonn 1984, S. 21 (Hervorhebungen im Original). 82 Vgl. Rainer Zaiser: Themen und Techniken des Dramatikers Luigi Pirandello im französischen Theater der fünfziger und sechziger Jahre. Ein Vergleich mit ausgewählten Stücken von Jean Anouilh, Eugène Ionesco, Jean Genet und Samuel Beckett. Frankfurt/M., Bern u.a. 1988, S. 85-140; vgl. ders.: Das Avantgardetheater Pirandellos. 83 Vgl. Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie, S. 25-31; Johannes Thomas: Das Genie und seine Seiten (unter Berücksichtigung der Frage nach der Theatralisierung der Wirklichkeit usw.) in: Theatralisierung der Wirklichkeit und Wirklichkeit des Theaters. Hg. v. Michael Rössner, Frank-Rutger Hausmann. Bonn 1988, S. 1-16; Ulrich Schulz-Buschhaus: Die Konkurrenz der Wirklichkeiten in Pirandellos Theatertrilogie, in: ebd., S. 33-47; Monika Schmitz-Emans: Verkehrte Welten – Überlegungen zur Modellfunktion des dramatischen Spiels in der Romantik und bei Pirandello, in: ebd., S. 84-104; Marianne Kesting: Die Fiktionalität der Realität und ihre Inszenierung – Pirandello und Gombrowicz, in: ebd., S. 105-121; Birgit Wagner: Ist das Leben selbst theatralisch? Bemerkungen zu Antonio Gramsci als Kritiker Pirandellos, in: ebd., S. 139-148; vgl. auch Müller: Kunst und Wirklichkeit im Drama Pirandellos; Marianne Kesting: Pirandello, Beckett und die kopernikanische Wende des Bewußtseins, in: Pirandello und die Naturalismus-Diskussion. Hg. v. Johannes Thomas. Paderborn, München 1986, S. 63-71.

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eine Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Dramatik eben nicht nur führt, indem er statt eines illusionistischen oder eines desillusionistischen einen antiillusionistischen Weg wählt, sondern indem er außerdem seine Figuren über das Verhältnis von Dramatik und Theater just zu dem Zeitpunkt reflektieren lässt, da es sich fundamental ändert, wie wir bei den einleitenden Überlegungen zum Begriff der Inszenierung schon gesehen haben. Der Theaterdirektor, der in erster Linie Regisseur ist, ist eine Figur, die zu Beginn des Stücks vom Primat des Textes ausgeht: Der erste Darsteller (zum Theaterdirektor): Entschuldigen Sie, aber muß ich mir wirklich eine Kochmütze aufsetzen? Der Theaterdirektor (durch die Bemerkung aufgebracht): Ich denke schon! Wenn es da so 84

steht! (Er zeigt auf das Manuskript.)

Den werktreuen Regisseur im Direktor erkennt der Vater der sechs Personen, die einen Autor suchen und von denen dementsprechend kein Drama existiert: Ich wundere mich über ihre Ungläubigkeit! Sind die Herrschaften es vielleicht nicht gewohnt, Personen, die ein Autor geschaffen hat, eine nach der anderen lebendig hier heraufkommen zu sehen? Womöglich, weil dort (zeigt auf den Souffleurkasten) kein Manuskript liegt, in dem wir vorkommen?

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Das gipfelt im Ansinnen des Vaters an den Direktor, selbst zum Autor zu werden: Der Direktor: Lassen wir das, lassen wir das jetzt beiseite! – Sie werden verstehen, lieber Mann, daß ohne Autor... – Ich könnte sie da an jemanden verweisen... Der Vater: Aber nein, verstehen sie doch, Sie sollen es sein! Der Direktor: Ich? Aber was reden Sie da? Der Vater: Ja, Sie, Sie! Warum nicht? Der Direktor: Weil ich noch nie Autor gewesen bin! Der Vater: Könnten Sie es denn nicht jetzt sein? Das ist nicht schwierig. So viele tun das! Ihre Arbeit wird dadurch leichter, daß wir alle hier lebendig vor Ihnen stehen. Der Direktor: Aber das reicht nicht! Der Vater: Wieso reicht das nicht? Indem Sie sehen, wie wir unser Drama vorleben... […]

84 Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor, S. 27. 85 Ebd., S. 34.

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Der Direktor (steigt, neugierig geworden, wieder auf die Bühne): Nun… fast bin ich versucht… einfach aus Spaß… Man könnte ja wirklich ausprobieren.

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Man kann die Versuchung des Direktors durch den Vater als Allegorie auf den modernen Theaterbetrieb begreifen, als Allegorie auf das Regisseurtheater (im Sinne der oben zitierten Opposition Schelers) insgesamt, weil die Figuren, die der Phantasie entsprungen sind, nicht durch einen dramatischen Text vermittelt werden müssen. Sie überantworten sich dem Regisseur. Die Regie wird zur maßgeblichen Instanz, während das Drama zu einem Text wird, der im Verlauf der Inszenierung entsteht und in erster Linie dokumentarischen Charakter hat, um den Stand der Proben zu sichern und um damit ein Fortkommen der Proben zu gewährleisten. Dass Szondi diese Dimension des Stücks nicht beachtet, mag daran liegen, dass er die Autonomisierung des Theaters vom Drama nicht zur Kenntnis genommen hat und ganz auf das Drama konzentriert war. Eine Pointe des Stücks ist, dass es sehr wohl einen Autor kennt. Er tritt durch die ausführliche Vorrede in Erscheinung. Szondi hat auf diesen Umstand folgendermaßen hingewiesen: Die Frage heißt, warum die sechs Personen „auf der Suche nach einem Autor“ sind, warum nicht Pirandello ihr Autor geworden ist. Als Antwort darauf berichtet der Dramatiker, wie einst die Phantasie ihm sechs Personen ins Haus brachte. Er aber lehnte sie ab, denn er sah in ihrem Schicksal keinen höheren Sinn, der ihre Gestaltung gerechtfertigt hätte. Erst die Hartnäckigkeit, mit der sie nach dem Leben begehrten, ließ Pirandello diesen höheren Sinn entdecken, aber es war nicht mehr der von ihnen gemeinte. An die Stelle des Dramas ihrer Vergangenheit setzte er das Drama ihres neuen Abenteuers: die Suche nach einem anderen Autor. Nichts berechtigt die Kritik, diese Erklärung in Zweifel zu ziehen, doch kann ihr auch nichts verwehren, daneben eine andere zu setzen, die sie dem Werk selber entnimmt und die seine Entstehung dem Zufall entreißt, um ihr historische Bedeutung zu 87

geben.

Szondi deutet mit dieser Einschränkung an, dass er der Vorrede nicht vertraut, sondern von einer Art Finte oder einem ironischen Spiel Pirandellos mit den Rezipienten ausgeht. Beispiele für derartige Vorreden-Rahmungen sind aus der Romantik bekannt – hier freilich nicht nur in der Dramatik wie der Tiecks, son-

86 Ebd., S. 53f. 87 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 116f., Hervorhebung im Original.

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dern ebenso in Romanen und oftmals als Herausgeberfiktion.88 Gegen Szondis Zweifel spricht allerdings die Ernsthaftigkeit, mit der das Vorreden-,Ich‘ betont, es habe die sechs Personen schließlich wieder in meine Phantasie aufgenommen, ohne sie jedoch den Augen der Zuschauer zu entziehen. Ich habe ihnen also auf der Bühne durch diese Bühne selbst meine Phantasie beim Schaffensprozeß vorgeführt. Der plötzliche und unkontrollierbare Wechsel einer Erscheinung von einer Wirklichkeitsebene auf eine andere ist ein Wunder von jener Art, die der Heilige vollbringt, der sein Standbild in Bewegung versetzt, das in diesem Moment nicht mehr aus Holz oder Stein ist.

89

Unabhängig von der hier propagierten – erneut romantischen, kunstreligiösen90 – Schöpferidee muss man sich fragen, welchen Status die Vorrede hat. Ihr ist die „Möglichkeitsvielfalt“91 eigen, die Iser im barocken, europäischen Roman identifiziert hat: Ist sie eine Art Selbstverständigung, eine Selbstvergewisserung? Oder hat sie – entschieden darüber hinausgehend – grundlegend poetologischen Charakter? Und: Wie bestimmt man das Verhältnis von Vorrede und dramatischem Text zueinander? Für Szondi (und die meisten Literaturwissenschaftler nach ihm) ist klar: In der Vorrede spricht der Autor Pirandello (je nach Deutung mal ironischdistanziert, mal verliebt-konkret) über sein Werk. Eine zweite Möglichkeit wird dagegen in der Regel nicht erwogen – nämlich die, dass in der Vorrede ein fiktiver Autor spricht, vielleicht sogar der, nach dem die sechs Personen suchen, wodurch sich der literarische Status der Vorrede allerdings fundamental veränderte. Für diese zweite Deutung sprechen einige Indizien: Das Ich in der Vorrede wird weder durch ein Datum noch durch andere Hinweise konkretisiert. Wir erfahren über dieses Ich, dass es sich als Dichter begreift und dass es eine „kundi-

88 Vgl. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008; vgl. dazu auch ders.: Rahmenbrüche, Rahmenwechsel. Nachwort des Herausgebers, welches aus Versehen des Druckers zu einem Vorwort gemacht wurde, in: Rahmenbrüche, Rahmenwechsel. Hg. v. Uwe Wirth. Berlin 2013, S. 15-57. 89 Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor, S. 16f. 90 Vgl. Ernst Müller: Kunstreligion und ästhetische Religiosität. In den Philosophien von der Aufklärung bis zum Ausgang des deutschen Idealismus. Berlin 2004; Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. 91 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 137.

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ge Magd“, die Phantasie, habe, die ihm vor längerer Zeit „eine ganze Familie ins Haus“ geführt habe.92 Jenseits seiner Auseinandersetzungen mit der Phantasie wissen wir von ihm nur, dass es nicht nur Dramen, sondern auch Prosa schreibt und dass es Dantes Göttliche Komödie kennt – ein Hinweis von geringem Informationswert. Eindeutig fiktionalisiert ist die Vorrede, da die Magd ‚Phantasie‘ vorgestellt wird, die bei dem Ich seit „vielen Jahren – und doch, so scheint es, erst seit gestern –“ im Dienst steht. Zugleich bleibt sie nicht unkonkret, sondern wird ausführlich personalisiert: Ein wenig verächtlich und spöttisch ist sie, und wenn sie auch Lust hat, sich schwarz zu kleiden, wird niemand bestreiten wollen, daß es auf eine eigenwillige Art geschieht, und niemand wird darum glauben, daß sie stets alles mit Ernst machte und auf nur eine Weise. Sie fährt mit einer Hand in die Tasche und zieht eine Narrenkappe hervor, rot wie ein Hahnenkamm, stülpt sie sich über den Kopf und macht sich davon. Heute hierhin, morgen dorthin. Und sie macht sich einen Spaß daraus, mir Leute ins Haus zu schleppen, damit ich Novellen, Romane und Theaterstücke aus ihnen mache; es sind die unzufriedensten Leute der Welt, Männer, Frauen, Kinder, die in Geschehnisse verwickelt sind, aus denen sie keinen Ausweg mehr finden, die gescheitert sind in ihren Plänen, betrogen in ihren Hoffnungen, und der Umgang mit ihnen kostet natürlich oft große Mühe.

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Nachdem die personalisierte Phantasie vorgestellt ist, wird ein Konflikt zwischen ihr und dem Ich erzählt. Die Handlung, die die Phantasie dem Ich präsentiert, wird ein „abgelehntes Drama“,94 weil das Ich sich der Phantasie nicht ergibt, sondern ihr dadurch Widerstand leistet, dass es einen Text über dieses Drama geschrieben hat, wie es am Ende der Vorrede erklärt. Die Vorrede schließt aber nicht mit dieser Feststellung, sondern mit einer deutlichen Distanznahme zum zuvor Geschilderten: Indessen hat ohne ihr Wissen [dem des dramatischen Personals, K.B.] der Dichter während der ganzen Zeit gleichsam von ferne ihrem Versuch zugeschaut und darauf gewartet, 95

aus ihm und über ihn sein Werk zu schaffen.

Dadurch, dass in diesem letzten Absatz der Vorrede anders als bisher das Ich nicht mehr explizit wird, verändert sich die Perspektive auf das Geschilderte. Es

92 Pirandello: Sechs Personen suchen einen Autor, S. 3. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 18. 95 Ebd., S. 19.

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wirkt wie eine doppelte Distanznahme: Zum einen wird ungewiss, wer spricht. Zum anderen wird in diesem letzten Absatz zeitlich Distanz zum rekapitulierten Entstehungsprozess eingeführt, so dass am Anfang und am Ende der Vorrede die zeitliche Einordnung des Textes entschieden destabilisiert wird. Das heißt im Umkehrschluss, dass das auf die Vorrede folgende Drama (das auch paratextuell durch ein weiteres Titelblatt und das Personenverzeichnis abgegrenzt ist) keinen Präsenzanspruch hat (es wird re-präsentiert), sondern in erster Linie dokumentarischen Charakter: Es ist das Produkt eines ,Dichters‘, von dem der Leser seinerseits nicht weiß, ob er Fiktion ist. Die Vorrede bestätigt damit im Literarischen, was Erich Kleinschmidt generell festgestellt hat: Literarische Autorschaft erweist sich somit erkenntnistheoretisch als ein kollektives Sprechen, für das eine konkrete Verortung weder sinnvoll noch möglich ist. […] Die narrativen Masken werden nur pronominal gewechselt, wodurch unterschiedliche Effekte erzielt werden, ohne daß sich etwas an der Referenzlosigkeit änderte, durch die Fiktion von der 96

Wirklichkeitsaussage getrennt wird.

An dieser Stelle ist es unumgänglich, die sich in Sechs Personen suchen einen Autor ergebenden verschiedenen Ebenen der Autorschaft zu differenzieren, um die bisher vorliegenden Befunde zu ordnen. Offenkundig spielt Pirandello mit einem Konzept von Autorschaft, wie es sich in der neuzeitlichen europäischen Literatur herausgebildet hat und wie es Roland Barthes in Der Tod des Autors theoretisch kritisiert hat.97 Argumentativer Ausgangspunkt von Barthes, der – wie wir noch sehen werden – ein exzellenter Kenner seiner zeitgenössischen Theaterkultur und insbesondere Brechts war, ist die Opposition von performendem Erzähler (etwa dem Schamanen) und geniehaftem Autor.98 Aus dieser Opposition leitet er die These ab: „Die Sprache kennt ein ,Subjekt‘, aber keine

96 Erich Kleinschmidt: Autorschaft. Konzepte einer Theorie. Tübingen 1998, S. 127; vgl. hierzu auch die künstlerische Seite berücksichtigend: Felix Philipp Ingold, Werner Wunderlich (Hg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. St. Gallen 1995; darin für unseren Zusammenhang besonders einschlägig: Gabriele Brandstetter: Inter-Aktionen. Tanz – Theater – Text, in: ebd., S. 125-133. 97 Roland Barthes: Der Tod des Autors, in: Texte zur Theorie der Autorschaft. hg. u. kommentiert v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 185-193. 98 Vgl. ebd., S. 186.

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,Person‘.“99 Hier zeigt sich zudem, wie sehr Barthes’ Überlegungen von seinen Theaterkenntnissen beeinflusst sind, denn er fährt fort: Die Abwesenheit des Autors (man könnte hier mit Brecht von einer wirklichen ,Distanzierung‘ sprechen: der Autor wird zu einer Nebenfigur am Rande der literarischen Bühne reduziert) ist nicht nur ein historisches Faktum oder ein Schreibakt, sondern verwandelt den modernen Text von Grund auf.

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Die Analogie zur Vorrede von Sechs Personen suchen einen Autor ist bemerkenswert. In der Forschung wird die Vorrede behandelt, als spreche aus ihr die ,Person‘ Pirandello. Das zeigt sich schon daran, dass die Vorrede als eine in der Vergangenheit getätigte Äußerung betrachtet wird. Eben das ist nach Barthes die Funktion des Autors: „Der Autor – wenn man denn an ihn glaubt – wird immer als Vergangenheit seines eigenen Buches verstanden.“101 Damit wird der Text gerade mit der interpretatorischen Kategorie zu fassen versucht, die er selbst unterläuft. Zwar spricht hier explizit ein ,Ich‘. Doch ist man gut beraten, es mit Barthes als das Subjekt der Vorrede zu interpretieren. Dementsprechend können für das Drama drei Äußerungsebenen angenommen werden, die voneinander zu unterscheiden sind. Zunächst gibt es a. den empirischen Autor (hier den Nobelpreisträger Pirandello), b. eine Instanz, die ich in Anlehnung an Barthes den dramaturgischen Autor nennen möchte (dem Ich der Vorrede) und schließlich c. die verschiedenen Sprecherinstanzen im Drama selbst.102 Diese können ihrerseits unterschiedlich realisiert sein. Üblicherweise geschieht dies durch Figurenrede. In der postmodernen Dramatik ist dies jedoch nicht zwingend, wie wir noch sehen werden. Ziel dieser Dreiteilung der Autorinstanz ist es, der von Foucault in seinem Aufsatz mit Beckett aufgeworfenen Frage („Wen kümmert’s, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert’s, wer spricht.“)103 gerecht zu werden, weil diese

99

Ebd., S. 188.

100 Ebd., S. 189, Hervorhebung im Original. 101 Ebd. 102 Angeregt wurde dieser Dreischritt von Jörg Schönert: Empirischer Autor, Impliziter Autor und Lyrisches Ich, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko. Tübingen 1999, S. 289-294. 103 Michel Foucault: Was ist ein Autor, in: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hg. v. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko. Stuttgart 2000, S. 198-229, bes. S. 202.

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Frage für wesentliche Teile der Dramatik sowohl für die dramaturgische Inszenierung als auch für die weitere Formentwicklung an sich entscheidend wird. Zugleich führt diese Dreiteilung vor, dass ein ,Autor‘ auf drei Äußerungsebenen an sich möglich ist. Schließlich ist neben dem empirischen und dem dramaturgischen Autor auch eine Figur im Drama möglich, die von sich behauptet, Autor des Stücks zu sein, oder der durch den Nebentext oder durch andere Figuren zugeschrieben wird, Autor des Stücks zu sein. Eine solche Sprecherinstanz begreife ich entsprechend der vorgenommenen Unterscheidung als dramatischen Autor. Auf der literaturwissenschaftlichen Ebene kann sich der Interpret darauf beschränken, das Neben- und Ineinander von Vorrede und dramatischem Text darzustellen und als Potenzierung der metadramatischen Dimension zu begreifen. Komplizierter gestaltet sich der Umgang im Hinblick auf die Aufführung. Es sollte deutlich geworden sein, dass eine Aufführung, die Sechs Personen suchen einen Autor umfassend gerecht werden möchte, die Vorrede berücksichtigen kann (wenn nicht gar muss) – und zwar gerade nicht, indem sie sie im Programmheft abdruckt. Denn auf diese Weise würde die Vorrede gerade als das markiert, was sie mutmaßlich nicht ist, nämlich als peritextuelle Darlegung der Intention. Das heißt mit anderen Worten, dass die Vorrede Teil der Aufführung sein sollte. Wie dies zu geschehen hat, wird allerdings nicht geregelt. Die Vorrede sollte also nicht als Problem, sondern alternativ als Aufforderung begriffen werden, den sich daraus ergebenden Spielraum im oben skizzierten Sinne zu gestalten, der sich im Fall von Sechs Personen suchen einen Autor aus dem Ineinanderspielen von Vorrede und dramatischem Text ergibt. Damit wird zugleich der wesentliche Bruch mit dem klassischen Drama offenbar, den Szondi zwar indirekt zeigt, der aber nicht weiter von ihm thematisiert wird: die von Szondi, wie ausgeführt, erklärte Abwesenheit des Dramatikers im klassischen Drama, die bei Pirandello durch die Vorrede zwar nicht aufgehoben, aber doch relativiert wird. In theaterpraktischer Hinsicht leistet der Spielraum damit Entscheidendes. Dort, wo er auf der literarischen Ebene ein vielfältiges fiktives Spiel ermöglicht, nötigt er der Regie auf, die literarische Imagination zu konkretisieren. Der durch die Vorrede des Stücks geschaffene Spielraum ist eine ,Stelle‘,104 die durch die Inszenierung zu besetzen ist, ohne dass der dramatische

104 Vgl. Wolfgang Braungart, Joachim Jacob: Schöne Stellen. Oder: Wo das Verstehen beginnt. Göttingen 2012. Im Hinblick auf die Inszenierung ist die ,Stelle‘ im Drama freilich eine ,Leerstelle‘, wie sie Wolfgang Iser in Auseinandersetzung mit Ingarden entwickelt hat: „Leerstellen indes bezeichnen weniger eine Bestimmungslücke des intentionalen Gegenstandes bzw. der schematisierten Ansichten als vielmehr die Be-

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Text die Art und Weise der Besetzung festlegt; er lässt verschiedene Möglichkeiten der Besetzung nicht nur zu, er fordert sie regelrecht.105 Doch ermöglicht Pirandellos Stück nicht nur, den Autorbegriff im Drama auszudifferenzieren. Es vervielfältigt zudem die Möglichkeiten, im Drama „Ich“ zu sagen. Es ist deswegen nur konsequent, wenn Szondi sich im Anschluss an Pirandello und in Ergänzung zur expressionistischen Ich-Dramatik dem Monologue intérieur zuwendet. ‚Monolog‘ bzw. ‚monologisch‘ muss hier jedoch nicht heißen, dass nur eine Figur spricht. Ebenso kann Dramatik gemeint sein, in der die Figuren in erster Linie für sich sprechen, was Szondi mit einem Rückblick auf die Dramatik Hebbels veranschaulicht. Dieser Rekurs geht freilich von einem ‚starken‘ Monolog-Begriff aus, so dass es geboten scheint, zunächst zu klären, was ‚Monolog‘ dramengeschichtlich und -theoretisch heißt. Szondi meint damit eine längere dramatische Rede zur Darstellung des Innenlebens der dramatischen Figur.106 Er unterscheidet nicht zwischen der Selbstrede in Anwesenheit Dritter und dem Monolog, der sich in äußerer Einsamkeit ereignet. Das mag daran liegen, dass sich im Deutschen dafür keine zwei Begriffe eingebürgert haben, während sich in zahlreichen europäischen Nationalsprachen dieser Trennung folgend oftmals zwei Begriffe finden lassen (engl. soliloquy bzw. monologue; ital. soliloquio bzw. monologo). Das Deutsche dagegen, das Monolog nicht direkt aus dem Lateinischen, sondern aus dem Französischen entlehnt hat, ist nicht derart präzise – der deutsche Alternativterminus ‚Selbstgespräch‘ ist nicht eindeutig von ‚Monolog‘ abgegrenzt. Ursache könnte sein, dass der Begriff im Vergleich zu anderen europäischen Sprachen erst spät Eingang ins Deutsche fand: 1756 verwendete ihn Friedrich Nicolai im Briefwechsel über das Trauerspiel mit Lessing und Mendelssohn.107 Dieser Zusammenhang deutet

setzbarkeit einer bestimmten Systemstelle im Text durch die Vorstellung des Lesers. Statt einer Komplettierungsnotwendigkeit zeigen sie eine Kombinationsnotwendigkeit an.“ Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 284. 105 Anregend dazu Patrice Pavis: Der Metatext der Inszenierung, in: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. u. komm. v. Klaus Lazarowicz, Christopher Balme. Stuttgart 2000, S. 349-354. 106 Zur ersten Orientierung vgl. Horst Spittler: Darstellungsperspektiven im Drama. Ein Beitrag zu Theorie und Technik dramatischer Gestaltung. Frankfurt/M., Bern u.a. 1979, S. 48-99. 107 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Briefwechsel über das Trauerspiel, in: ders.: Werke 1754-1757. Werke 3. Hg. v. Conrad Wiedemann. Frankfurt/M. 2003, S. 662-736, hier S. 666.

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an, dass mit dem Begriff zuvörderst eine Redeform des Dramas gemeint ist. Doch kann er auch in der Prosaliteratur, vor allem im Roman, in Erscheinung treten (‚innerer Monolog‘). Nicht zuletzt deswegen ist er für Szondi einschlägig. Das Drama kennt neben dem Monolog und der Selbstrede weitere Spielarten des monologischen Sprechens, etwa das Beiseite-Sprechen oder Auf- und Abtrittsreden. Szondi nennt sie, bemerkt aber: Die Aussage des à part unterscheidet sich nicht wesentlich von der Aussage des Zwiegesprächs, sie kommt nicht aus einer tieferen Schicht des Subjekts und ist nicht etwa die innere Wahrheit, vor der sich der Dialog als Lüge des Außen erweist.

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Szondis inhaltliche Bestimmung korrespondiert mit der literaturgeschichtlichen Einschätzung, dass die monologischen Sprechweisen ein Phänomen der neuzeitlichen Dramatik sind. Sie gelten als in der antiken Dramatik zumindest weit weniger entwickelt, faktisch herrscht in der Altphilologie keine Einigkeit, ob in der griechische Dramatik Monologe überhaupt existierten.109 Doch auch wenn bei Euripides und in der lateinischen Dramatik, insbesondere in den Tragödien Senecas und den Palliata-Komödien, der Monolog Einzug hält, wird er doch erst in der Dramatik der Neuzeit endgültig etabliert. Es ist deswegen begriffsgeschichtlich signifikant, dass der wohl berühmteste Monolog der Literaturgeschichte („to be or not to be“) am Beginn der Neuzeit steht. Literaturgeschichtliche Bezugspunkte bot die Antike dagegen schon – etwa in Gestalt der Prologe in der lateinischen Dramatik und der großen Affektreden der Tragödie wie in der Medea des Euripides. Der zweite Ursprung des Monologs ist das aus der Scholastik stammende soliloquium, das primär ein religiöses Anliegen verfolgt wie die Soliloquios amorosos de un alma a Dios (1626, ‚Liebesmonologe einer Seele an Gott‘) von Lope de Vega. Seinen literaturtheoretischen Niederschlag findet das aber erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass der Monolog grundlegend in der Gefahr steht, der zentralen aristotelischen Kategorie der Wahrscheinlichkeit zu widersprechen. Doch erst Gustav Freytag fundiert die Bedeutung des Monologs für die Dramatik theoretisch und verankert ihn in der Moderne, wobei er deutlich zwischen Aufklärung und Klassik trennt:

108 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 123. 109 Wolfgang Schadewaldt: Monolog und Selbstgespräch. Untersuchungen zur Formgeschichte der griechischen Tragödie. Berlin 1926.

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Die Monologe geben dem Helden der modernen Bühnen Gelegenheit, in vollkommener Unabhängigkeit von einem beobachtenden Chor sein geheimes Empfinden und Wollen dem Publikum bekannt zu machen. […] Gelungene Monologe sind allerdings Lieblinge des Publikums geworden. In den Dramen Schillers und Goethes werden sie von dem heranwachsenden Geschlecht gern vorgetragen. Lessing hätte, auch wenn er mehr als den Nathan in unseren Jamben geschrieben hätte, schwerlich diese Art von dramatischen Wir110

kungen gesucht.

Freytag fasst eine Entwicklung zusammen, die eng an das Aufkommen der Natürlichkeit als zentraler dramenästhetischer Kategorie geknüpft ist. Der Monolog dient nicht wie im 17. Jahrhundert dazu, Affekte auszudrücken. Er bietet nun Einfühlung ins Seelenleben der Figuren. Im 18. Jahrhundert entstehen deswegen erste Dramen, die ausschließlich monologisch verfasst sind, etwa Jean-Jacques Rousseaus Monodrama Pygmalion (1762). Als ein solches geplant war zunächst auch Goethes Faust. Der hier die radikale Vereinsamung des Titelhelden zum Ausdruck bringende Eröffnungsmonolog legt davon beredt Zeugnis ab. Sein episches Pendant findet sich in den Romanen der Zeit (etwa in Wilhelm Meisters Wanderjahren oder Moritz’ Anton Reiser, in dem bezeichnenderweise über Hamlets Monolog reflektiert wird). Doch existiert daneben weiterhin der extrovertierte Monolog. Er versucht, das Publikum durch die Vortragsweise zu affizieren, und findet sich deswegen vor allem in politisch motivierten Dramen wie Schillers Wilhelm Tell. Der Monolog ereignet sich hier wegen des notwendigen Publikums nur als Selbstrede im oben skizzierten Sinne. Diese beiden wesentlichen Spielarten des Monologs bleiben in der Dramatik und dem Roman des frühen 19. Jahrhunderts bestehen. Mit der „Krise des Dramas“, also quasi in direkter Folge von Freytags Lob des Monologs, wird er jedoch fragwürdig, was bereits die Zeitgenossen wahrgenommen haben. So diagnostizierte der Theaterkritiker Alfred Kerr den „Wegfall des Monologs“ im Naturalismus.111 Das Problematischwerden des Monologs verschärft sich mit der modernen Sprachskepsis und radikalen Vereinzelung. Der Monolog ist endgültig nicht mehr die einzige Art, mit der Gedanken ausgedrückt werden, die es sonst nicht werden dürfen. Im Monolog werden Gedanken genannt, die gegenüber den Mitmenschen nicht formuliert werden können: „Eugene O’Neills neunaktiges Drama Strange Interlude (1928) zeichnet auf diese Weise nicht nur die Gespräche seiner Helden auf, sondern fortlaufend auch deren innere Gedanken, die sie

110 Gustav Freytag: Die Technik des Dramas. Neubearb. Berlin 2003, S. 175 u. S. 177. 111 Alfred Kerr: Technik des realistischen Dramas, in: ders.: Essays. Hg. v. Hermann Haarmann, Klaus Siebenhaar. Berlin 1991, S. 5-23, hier S. 7.

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dem anderen nicht mitteilen können, weil sie einander fremd sind.“112 Szondi interessiert an dieser dramatischen Form die Frage, wie der Abbruch des Dialogs dahingehend gerettet werden kann, dass es nicht zu einem Abbruch der Handlung kommt und damit zu einem Abbruch des Dramas überhaupt. Er betont die epischen Momente des Stücks, die zwischen den Monologen gewissermaßen die Handlung überbrücken. Darüber hinaus aber, und das scheint Szondi in dieser Entschiedenheit nicht gesehen zu haben, ergibt sich im sprachskeptischen Monolog ein performativer Widerspruch, der das gesamte Vorhaben eines solchen Stücks infrage stellt. Denn der Monolog signalisiert zwar die NichtAusdrucksfähigkeit der Figur gegenüber den Mitfiguren als Spiegelbild der modernen gesellschaftlichen Sprachlosigkeit und Vereinsamung. Gleichzeitig aber behält die Figur ihre Ausdrucksmöglichkeit gegenüber dem Publikum und damit das Stück seinen ‚Sinn‘ – denn ‚psychologische Einsicht‘113 verwehrt das Stück seinen Rezipienten nicht. Es ist vielmehr ein Zwischenschritt, der von Tschechow ausgeht, hin auf dem Weg zu einem Drama, das nur noch ein „Apparat“ ist, der „die äußeren und inneren Reden registriert, welche ihm die Menschen im unfreien Raum genetischer und psychischer Gesetze liefern.“114 Die drei Lösungsversuche, die Szondi alternativ zum Monologue intérieur anbietet, gehen das Problem der Vereinsamung weniger widersprüchlich an, indem sie von vornherein Vermittlungsmöglichkeiten zwischen die Bühnenfigur und die Rezipienten fügen. In Thornton Wilders Our Town ist es die Figur des Spielleiters, in The Long Christmas Dinner das Ineinander-Fügen von 90 Heiligabenden in einen Festabend und schließlich in Arthur Millers Death of a Salesman „die Beschäftigung des Menschen mit sich selber und mit der erinnerten Vergangenheit, die erst nach der Aufhebung des dramatischen Formprinzips als solche in Erscheinung zu treten vermag.“115 Szondi kann anhand dieser Beispiele zeigen, dass die Geschlossenheit und mit ihr die drei aristotelischen Einheiten als zentrale dramatische Kategorien erledigt sind – nicht nur im epischen, antiaristotelischen Theater Brechts: Keine Schauspielertruppe [Szondi spielt hier auf Hamlet an, K.B.] tritt auf: die Gestalten können wortlos zu Schauspielern ihrer selbst werden, denn der Wechsel von aktuellzwischenmenschlichem Geschehen und vergangen-erinnertem ist im epischen Formprinzip verankert. Dadurch sind die dramatischen Einheiten aufgehoben, und zwar im radi-

112 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 126. 113 Vgl. ebd. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 145.

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kalsten Sinn: die Erinnerung bedeutet nicht nur die Vielzahl von Ort und Zeit, sondern Verlust ihrer Identität schlechthin.

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Pirandello bildet in Szondis Theorie damit eine Art Gelenkkopf zwischen epischem Theater und Ich-Dramatik. Den Anlass aber zu diesen beiden wesentlichen Formentwicklungen der Dramatik seit dem Expressionismus haben nach Szondi beide offenbar gemeinsam: Es ist die Vereinzelung des Menschen in der Moderne. Erste Reaktionen auf die Erfahrung der Vereinzelung und auf die Unmöglichkeit gegenseitigen Verstehens kündigen sich nach Szondi allerdings bereits früher an. In den ‚Rettungsversuchen‘ thematisiert er diese Entwicklungen im Kapitel zu den Konversationsstücken, das vergleichsweise abstrakt ist – als erstes Beispiel nennt er Hofmannsthals Der Schwierige.117 Das zweite Beispiel ist Warten auf Godot, was gleich mehrfach bemerkenswert ist. Zunächst führt es vor Augen, wie sehr Szondi bemüht ist, die Dramatik bis zur Gegenwart zu erfassen. Sodann spricht daraus eine Einordnung, die angesichts der Wirkungsgeschichte von Becketts Stück überrascht. Indem Szondi das Drama als Konversationsstück versteht, sieht er in ihm keinen ‚Lösungsversuch‘. Beckett ist bei Szondi früh gescheitert: „Aussage eignet nur noch der Negativität: dem Sinnlos-Automatischen der Rede und der Unerfülltheit der dramatischen Form.“118 Szondi ist damit nicht nur einer der ersten Exegeten von Warten auf Godot. Er perspektiviert das Stück auf die Kategorie, für die es wie wohl kein anderes Drama der letzten fünfzig Jahre gestanden hat, auf das Absurde, ohne den Begriff selbst fallen zu lassen.119 Da Warten auf Godot im Folgenden erneut diskutiert wird, indem die Überlegungen von Valentin Temkine zu Warten auf Godot berücksichtigt werden,120 übergehen wir einstweilen Becketts Drama. Jenseits dessen bleibt festzuhalten, dass die vier letzten Kapitel einerseits um das Ich und andererseits um dessen Stellung in der Zeit und um die Erfahrung des Todes kreisen. Deswegen stellt sich ferner die Frage, ob Szondi am Ende

116 Ebd., S. 143. 117 Vgl. ebd., S. 80-83. 118 Ebd., S. 83. 119 Durchgesetzt hat sich der Begriff erst einige Jahre später; vgl. Huguette Delye: Samuel Beckett ou La philosophie de l’absurde. Aix-en-Provence 1960; und dann durch Martin Esslin: Le théâtre de l’absurde. Paris 1963. 120 Vgl. François Rastier: Warten auf Valentin Temkine, in: Pierre Temkine: Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte. Hg. v. Denis Thouard, Tim Trzaskalik. Berlin 2008, S. 43-94.

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seiner Dissertation nicht noch ein zweites großes Thema der zeitgenössischen Philosophie berührt, ohne es explizit zu machen: das Verhältnis von Sein und Zeit. Immerhin ist Erfahrbarkeit des Todes eine wesentliche Herausforderung, der sich Heidegger gestellt hat:121 Der Grund der Unmöglichkeit, Dasein als seiendes Ganzes ontisch zu erfahren und demzufolge in seinem Ganzsein ontologisch zu bestimmen, liegt nicht in einer Unvollkommenheit des Erkenntnisvermögens. Das Hemmnis steht auf seiten des Seins dieses Seienden. Was so gar nicht erst sein kann, wie ein Erfahren das Dasein zu erfassen prätendiert, 122

entzieht sich grundsätzlich der Erfahrbarkeit.

Für Heidegger stellt sich die Frage nach den Möglichkeiten der Erfahrbarkeit des Todes oder zumindest der Teilhabe daran. Entscheidender Argumentationspunkt ist für ihn, dass mit dem Ende des Daseins dieses umschlägt in zweierlei: zum einen in ein „Nur-noch-vorhandensein“ bzw. ein „Unlebendiges“, das aber „‚mehr‘ als ein lebloses materielles Ding“ ist, und zum anderen der „Verstorbene“, der „Gegenstand des ‚Besorgens‘ in der Weise der Totenfeier, des Begräbnisses, des Gräberkultes“ ist.123 Das schließt das Mitsein der Hinterbliebenen bei dem Toten nicht aus. Der dabei für Heidegger wesentliche Punkt ist, dass ontologisch Teilhabe am Tod nicht möglich ist, dass also ein psychologisierendes Partizipieren am Tod nicht möglich ist, weil „Vertretbarkeit“ nicht möglich ist.124 Damit formuliert er zugleich eine Absage an Stellvertreter-Konzepte, die Einblicke in das Dasein versprechen: „Im ‚Enden‘ und dem dadurch konstituierten Ganzsein des Daseins gibt es wesensmäßig keine Vertretung. Diesen existen-

121 Selbstverständlich ist hier im Hinblick auf das Thema nicht nur Heidegger einschlägig, sondern etwa auch Kierkegaard, was Szondi selbst auch bewusst gewesen ist; vgl. etwa den Brief an Peter Suhrkamp vom 30.11.1955, in: Szondi: Briefe, S. 6065, bes. S. 63. Ausführlich hat sich Szondi mit Kierkegaard erst im Hinblick auf das Tragische befasst, vgl. Szondi: Versuch über das Tragische, S. 185-188. Dass hier konzentriert auf Heidegger eingegangen wird, ist der ideengeschichtlichen Argumentation geschuldet, dass sich Szondi (wie gezeigt) immer auch zu Staigers Poetik verhält, die sich ihrerseits (wie ebenfalls erwähnt) intensiv mit Heidegger auseinandersetzt. 122 Martin Heidegger: Sein und Zeit. 17. Aufl. Tübingen 1993, S. 236 (Hervorhebungen im Original). 123 Ebd., S. 238, Hervorhebung im Original. 124 Ebd., S. 239.

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zialen Tatbestand verkennt der vorgeschlagene Ausweg, wenn er das Sterben Anderer als Ersatzthema für die Analyse der Ganzheit vorschiebt.“125 Eine Absage an Stellvertreter-Konzepte sieht Szondi in The Long Christmas Dinner und Death of a Salesman. Bei Wilder wird laut Szondi das „Stillstehen der Zeit“126 thematisiert, weswegen diesem allegorisch ein schwarzes Tor gegenübergestellt wird, so dass er das Stück als „profanes Mysterienspiel von der Zeit“127 interpretiert. Für Miller betont Szondi den scharfen Kontrast zwischen dem erinnernden Zwiegespräch und dem ‚Requiem‘ von Linda Loman, das die Unmöglichkeit des Verstehens nach dem Ende eines Daseins vor Augen führt. Allerdings sind das nicht mehr als Indizien, die für die Möglichkeit sprechen, Szondi habe hier ein zweites großes Thema der Philosophie wirken gesehen. Da ihn ideengeschichtliche Rekonstruktionen, die im Fall der genannten Dramatiker kaum möglich gewesen wären, nicht interessierten, musste es ihm sowieso nicht um die direkte Auseinandersetzung mit Heidegger gehen. Schließlich hätte das aus Sicht Szondis zu einer Abwertung der behandelten Dramen führen müssen, denn er wusste um Heideggers Kehre,128 so dass eine explizite Auseinandersetzung eine eigene Studie hätte werden müssen. Wenn man jedoch trotz aller Mutmaßungen die letzten Kapitel in der Theorie des modernen Dramas als implizite Auseinandersetzung mit der Philosophie von Sein und Zeit in der Dramatik liest, muss Szondi attestiert werden, dass er sich dem Thema dezent gestellt hat und so einer direkten Annäherung aus dem Weg gegangen ist. Die Konfrontation mit Heidegger suchte er erst in den Hölderlin-Studien.129

4. P ERSPEKTIVEN Szondis Ziel, die „Historisierung des Formbegriffs“, führt ihn zum Problem von Form und Inhalt, das er mit Adorno dialektisch mit der Form als ‚niedergeschlagenem Inhalt‘ zu lösen versucht. Seine theoretische Leistung besteht nicht nur in der Ausführung dieses Gedankens, sondern ebenso in seiner kritischen Traktierung. Schließlich bestehe die Möglichkeit, „daß die inhaltliche Aussage zur formalen in Widerspruch gerät.“ Aus dieser „Antinomie“ könne resultieren, dass

125 Ebd., S. 240. 126 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 138. 127 Ebd., S. 139. 128 Vgl. den Brief an Karl Keréni vom 26.9.1955, in: Szondi: Briefe, S. 58f. 129 Vgl. Peter Szondi: Hölderlin-Studien, in: ders.: Schriften I. Hg. von Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 261-412.

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„eine Dichtungsform geschichtlich problematisch“ werde.130 Das hat nicht nur Folgen für die Gegenwart, sondern ebenso für die Zukunft, wie Szondi abschließend andeutet: „Dramatiker haben der veränderten Thematik der Gegenwart eine neue Formenwelt abgerungen – wird sie in Zukunft Folgen haben?“131 Nimmt man diesen Impuls auf, muss gefragt werden, wie die Episierung sich im Drama weiterentwickelt hat. Szondi legt die Vermutung nahe, die Episierung könne nicht als abgeschlossen betrachtet werden und werde also mittel- bis langfristig wirkungsmächtig bleiben. Da er aber die Dialektik dieser Wirkungsmacht deutlich aufzeigt, stellt sich ferner die Frage, ob die Episierung nicht auch „geschichtlich problematisch“ werden kann. Zudem gilt es, die weiteren Dimensionen der formalen Entwicklung des Dramas seit den fünfziger Jahren in den Blick zu nehmen – und zwar sowohl die, die sich indirekt aus der Theorie des modernen Dramas ergeben, als auch die, die erst aus der Lektüre der Dramen folgen, die nach Szondis Buch erschienen sind. Eben an diesem Punkt entsteht allerdings ein methodisches Problem. Szondis Überlegungen funktionieren mittels eines Kurzschlusses, indem er theatertheoretische Ausführungen und die Dramenanalysen gleich behandelt. Dass das in der Auseinandersetzung mit der Theorie des modernen Dramas bisher nicht weiter bemerkt wurde, dürfte eine historische Ursache haben. Brecht war Regisseur seiner eigenen Dramen, so dass er inhaltliche Anliegen, Formfragen und theoretische Überlegung einander annäherte. Wenn man sich mit Lehmann die Ursprünge des Postdramatischen Theaters im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts gerade bei Brecht und Piscator vergegenwärtigt, erlauben deren theoretische Überlegungen zum epischen Theater nicht zwingend Rückschlüsse auf die Dramatik allgemein. Szondi interpretiert jedoch so, als sei dies der Fall. Wenn der Umgang des Theaters mit dem dramatischen Text zumindest teilweise durch Distanzierung gekennzeichnet ist, existiert nicht zwingend ein Konsens über ein gemeinsames Anliegen von Drama und Theater. Zumindest dem Theater wird dann möglicherweise nicht etwa nur eine bestimmte „Dichtungsform“, also etwa eine bestimmte dramatische Spielart, „geschichtlich problematisch“, sondern gegebenenfalls das Drama an sich. Diese Situation steht im Widerspruch zum nichtakademischen Umgang mit Drama und Theater. Auch wenn es in Kultur und Politik offenbar von Zeit zu Zeit zum guten Ton gehört, gegen das Regietheater132 zu polemisieren,133 so darf

130 Alle Zitate bei Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 12f. 131 Ebd., S. 147. 132 Der Begriff ‚Regie-Theater‘ bzw. ‚Regietheater‘ ist bisher nicht weiter begriffsgeschichtlich untersucht. M.E. ließe sich zeigen, dass er in den letzten ca. 20 Jahren ei-

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trotzdem nicht übersehen werden, dass wesentliche theaterästhetische Impulse von der Regie ausgehen und Zuschauer offensichtlich großes Interesse an Inszenierungen namhafter Regisseure haben. Zugleich suggeriert die Kritik am Regietheater ein Desinteresse des Theaters am Drama, was ebenfalls schlicht falsch ist. Die Gegenwartsdramatik hat seit Mitte der 90er Jahre einen massiven Aufschwung erfahren. Sieht man von wenigen Ausnahmen wie Norbert Otto Eke oder Franziska Schößler ab, hat dies die Literaturwissenschaft jedoch nicht zur Kenntnis genommen und die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Gegenwartsdramatik weitgehend der Theaterwissenschaft überlassen. Manche Gegenwartsdramatiker verstehen sich als Materialgeber für die Regie, wenn sie das Spiel mit dem und die Weiterentwicklung vom Text durch die Inszenierung einfordern. Manchmal entsteht der Dramentext auch erst im Verlauf der Proben. Wie in vielen Generationen zuvor sind Dramatiker als Dramaturgen (Marius von Mayenburg und John von Düffel) oder als Regisseure ihrer eigenen Texte (René Pollesch, Falk Richter oder Fritz Kater, der regelmäßig von seinem alter ego Armin Petras uraufgeführt wird) tätig,134 was ein weiterer Grund für die theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Gegenwartsdrama sein dürfte. Doch schließt das die Literaturwissenschaft nicht vom Gegenstand aus, sondern fordert sie vielmehr heraus, sich im Dialog mit der Theaterwissenschaft und -praxis eine eigene Meinung zu bilden.

nem deutlichen Bedeutungswandel unterlag: Während unter Regie-Theater Ende der 1990er Jahre etwa die dramaturgisch fundierte Theaterarbeit eines Peter Stein oder einer Andrea Breth verstanden wurde, werden deren Arbeiten heute kaum mehr unter dem Begriff subsumiert. Gegenwärtig wird darunter vielmehr Theaterarbeit verstanden, die sich gegenüber dem dramatischen Text weitgehend unabhängig verhält; weiterführende Überlegungen zum Begriffswandel sollten ausgehen von Thomas Zabka, Adolf Dresen: Dichter und Regisseure. Bemerkungen über das RegieTheater. Göttingen 1995. Zur ersten Orientierung sehr hilfreich: Ortrud Gutjahr (Hg.): Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt. Würzburg 2008. 133 Vgl. Horst Köhler: Grußwort von Bundespräsident Horst Köhler anlässlich der Schillermatinee im Berliner Ensemble, in: http://www.bundespraesident.de/Shared Docs/Reden/DE/Horst-Koehler/Reden/2005/04/20050417_Rede.html [zuletzt abgerufen am 24.1.2014]; Daniel Kehlmann: Die Lichtprobe, in: http://www.fronline.de/spezials/kehlmann-rede-im-wortlaut-die-lichtprobe,1473358,2725516.html [zuletzt abgerufen am 24.1.2014]. 134 Vgl. Karin Nissen-Rizvani: Autorenregie. Theater und Texte von Sabine Harbeke, Armin Petras/Fritz Kater, Christoph Schlingensief und René Pollesch. Bielefeld 2011.

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Lehmann hat in Postdramatisches Theater ausgeführt, dass das Epische Theater und weitere experimentelle Theaterformen der ersten Jahrhunderthälfte für die Ästhetik des Theaters nicht revolutionär waren: „Dagegen kommt es im Zuge der Verbreitung und dann Allgegenwart der Medien im Alltagsleben seit den 1970er Jahren zum Auftreten einer neuen vielgestaltigen theatralen Diskursform, die […] als postdramatisches Theater bezeichnet wird.“ 135 Doch gilt das analog auch für das Drama? Nach Szondi ist die Episierung zentral für das moderne Drama. Um das zu belegen, geht er (wie gezeigt) von Piscator und Brecht aus. Für die Entwicklung des Epischen Theaters war nach Piscators eigener Meinung die Aufführung von Alfons Paquets Fahnen entscheidend. Für diese Inszenierung wurden rechts und links der Bühne Tafeln angebracht, auf die ein das Bühnengeschehen begleitender Text projektiert wurde, der „die Lehre der Handlung zog“.136 In den folgenden Arbeiten baute Piscator den Tafeleinsatz aus. In Gewitter über Gottland wurden erstmals Filme gezeigt. Hinzu traten Mitte der 20er Jahre Projektionskulissen, die zwar zunächst statische Bilder (Zeichnungen von George Grosz etwa) zeigten, die aber grundsätzlich die Voraussetzung für Filmbilder boten. Die eingesetzten Bilder erfüllten primär das Anliegen des Kommentars. Sie wurden literaturwissenschaftlich als episch klassifiziert, was ferner ein Indiz dafür ist, dass die im 19. Jahrhundert einsetzende Autonomisierung des Theaters vom Drama zu diesem Zeitpunkt keineswegs abgeschlossen ist. Szondi hat festgehalten, dass Piscators Reformen „die dramatische Form selbst [betreffen]: sie sind gegen ihre Absolutheit gerichtet.“137 Dem Einsatz von verschiedenen Bildmedien ist bei Piscator nicht nur ein politisches und pädagogisches Anliegen eigen, sondern ein ästhetisches, das von ihm in seinen theoretischen Reflexionen nur gestreift wird. Das liegt daran, dass Piscator sich für das Drama nur am Rande interessiert. Es ist ihm Material. Entsprechend der politischen Anliegen Piscators und Brechts ist zwar die Episierung wichtig, ihr Einsatz orientiert sich aber primär an der gewünschten Wirkung. Sie ist dieser also untergeordnet. Das gilt unabhängig davon, ob ein epischer Text gezeigt oder gesprochen wird, ob Einzelbilder oder bewegte Bilder zu sehen sind. Maßgeblich ist das Aufbrechen der illusionären Rezeptionserfahrung. Für die Dramenästhetik ist jedoch die Frage nach der Art der Episierung nicht untergeordnet. Sie ist entscheidend, um die ,Krise des Dramas‘ zu über-

135 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 22f. 136 Vgl. Erwin Piscator: Das Politische Theater. Faks. d. Erstausg. 1929. Berlin 1968, S. 53-59, hier S. 58. 137 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 101.

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winden, und verändert so das Drama der Moderne grundlegend. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie eine Beschäftigung mit dem Drama aussehen kann, die einerseits Formfragen berücksichtigt, sich andererseits darauf aber nicht beschränken will und davon ausgeht, dass sie etwas zum Verständnis der Potentiale, die im Drama im Hinblick auf die Inszenierung angelegt sind, beitragen kann.138 Im Idealfall ergäbe sich daraus ein Dialog zwischen zwei Disziplinen (Literatur- und Theaterwissenschaft), die sich an sich gar nicht fern stehen, faktisch aber nur selten miteinander sprechen. Im Hinblick auf den Zeitraum zwischen der Theorie des modernen Dramas und heute bedeutet das zunächst, dass ein besonderes Augenmerk auf die Dramatik seit den 70er Jahre gelegten werden muss, um zu klären, ob und wie sich die von Lehmann diagnostizierten Veränderungen im Theater in der Dramatik niedergeschlagen haben. Das darf aber nicht einseitig geschehen, indem in den Dramen nach Reflexen auf derartige Entwicklungen gesucht wird. Ergänzend muss nach der theatralen Verfasstheit gefragt werden: Inwieweit prägt das Drama die Inszenierung? Wie legt es sie fest? Versucht es das, unterlässt es das oder nimmt es sie in die Pflicht? Diese Fragen scheinen Dramen von der Analyse auszuschließen, die während oder im Anschluss an eine Inszenierung geschrieben worden sind. Doch ist das nur vordergründig so. Denn Dramen, die erst nach der Inszenierung geschrieben wurden, sind meist nicht rückblickend orientiert, sondern in die Zukunft. Sie dienen weniger der Dokumentation des künstlerischen Schaffensprozesses als vielmehr als Inszenierungsanreiz.139 Die Fragen gehen von der Annahme aus, dass dem dramatischen Text eine Poetik eigen ist, die für die Inszenierung eine eigene Logik konstituiert: Das Drama ist eine Voraussetzung, die maßgeblich den Konstruktionsprozess der Inszenierung prägt. Es gibt der Inszenierung einen Rahmen, innerhalb dessen sie sich bewegen kann.140 Dabei benennt es zugleich Spielräume im skizzierten Sin-

138 Synchron und strukturalistisch analysierend versucht dies auch Pfister: Das Drama. Dass die vorliegende Studie im Unterschied dazu kein primär systematisierendes, sondern formgeschichtlich erklärendes Anliegen verfolgt und dabei literaturtheoretische wie dramen- bzw. theaterkritische Diskurse berücksichtigt, sollte deutlich geworden sein. 139 Pollesch ist ein Sonderfall, der hier nicht erörtert wird. 140 Dass die hier vorgenommenen Überlegungen anschlussfähig sind an die kulturwissenschaftliche Rahmenforschung, liegt auf der Hand. Die Funktion des Dramas als Rahmen für die Inszenierung ist strukturell vergleichbar mit dem, was Uwe Wirth im Hinblick auf performative Rahmungen als „konzeptionellen (impliziten) Deutungsrahmen“ bezeichnet (Wirth: Rahmenbrüche, Rahmenwechsel, S. 45).

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ne. Wenn vom Drama und seiner Poetik sowie der daraus resultierenden Logik der Inszenierung gesprochen wird, kann das freilich als Versuch der Reliterarisierung des Theaters oder als eine Vorrangstellung des Dramas gegenüber der Aufführung missverstanden werden, in die die Kritik am Regietheater rasch abzudriften droht – etwa wenn es als Demokratisierung des Geniekonzepts diskreditiert wird.141 Dieser Polemik muss hier nicht weiter begegnet werden. Denn das Drama kann zwar die Logik der Inszenierung konstituieren. Inszenierungen an sich einzugrenzen, vermag es selbstverständlich aber nicht. Statt sich in Theaterkritik zu versuchen, sollten sich Textwissenschaftler vielmehr die Frage stellen, wie Dramentexte verfasst sind, und dadurch einen Beitrag zu einer interdisziplinär argumentierenden Ästhetik des Dramas und der Inszenierung leisten.142 Um die Logik der Inszenierung zu verstehen, sollte von der Inszenierung ausgegangen werden und nicht vom Drama. Eine Inszenierung ist ein diffiziler Code theatraler Zeichen.143 Legt man etwa Fischer-Lichtes etablierte Semiotik zugrunde, können sprachliche (linguistische und paralinguistische) und kinesische (mimische, gestische sowie proxemische) theatrale Zeichen differenziert werden,144 die ihrerseits primär an die optische und die akustische Wahrnehmung des Publikums adressiert sind und die im Sinne von Peirce alle drei Zeichenarten umfassen können (ikonisch, indexikalisch und symbolisch). Die dramatischen Zeichen sind dagegen als sprachliche Zeichen in einem Text realisiert. Dieser Unterschied ist an sich banal. Entscheidend ist, wie diese Zeichen in sich zu differenzieren sind. Normalerweise unterscheidet die Dramenanalyse zwischen Sprech- und Nebentexten. Beide Texttypen können grundsätzlich in alle sprachlichen und kinesischen theatralen Zeichen überführt werden, wobei die Überführung von Sprechtexten in kinesische Zeichen zugleich als Eingriff in den

141 Vgl. Rüdiger Bubner: Demokratisierung des Geniekonzepts, in: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hg. v. Josef Früchtl, Jörg Zimmermann. Frankfurt/M. 2001, S. 77-90. 142 Vgl. Josef Früchtl, Jörg Zimmermann: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens, in: Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens. Hg. v. dens. Frankfurt/M. 2001, S. 9-47. 143 Vgl. Esslin: Die Zeichen des Dramas. 144 Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters. 3 Bde. Tübingen 1983. Ein in vielerlei Hinsicht überzeugendes, freilich kaum diskutiertes Gegenmodell hat Franz Wille entwickelt. Hier ist nicht der Ort, seine Überlegungen zu diskutieren; vgl. Franz Wille: Abduktive Erklärungsnetze. Zur Theorie theaterwissenschaftlicher Aufführungsanalyse. Frankfurt/M., Bern, New York 1991.

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Text interpretiert werden kann: Wenn etwa ein im Text geäußertes „Nein“ einer Figur in der Aufführung durch Kopfschütteln geäußert wird, mag dies als Streichung wahrgenommen werden und nicht als Überführung, obgleich das Anliegen der Äußerung allgemein verständlich realisiert ist. Aus einer Aussage des dramatischen Textes können also mehrere theatrale Zeichen resultieren. Wenn Sprecher A sagt: „Ich gehe!“, ist die naheliegende Inszenierung ein linguistisches Zeichen. Die Macht des Dramas liegt nun darin, dass es implizit mit einem Satz ein umfangreiches Arsenal von weiteren theatralen Zeichen fordert. Der Satz selbst kann gestrichen werden und in ein wütendes Aufstampfen samt Abgang übersetzt werden. Das ist grundsätzlich unproblematisch, weil der Satz „Ich gehe!“ die Erwartung weckt, dass auf die vom Schauspieler formulierte Äußerung ein proxemisches Zeichen folgt. Der Satz „Ich gehe!“ kündigt einen Abgang an und erzeugt eine Erwartungshaltung. Das linguistische Zeichen erzwingt ein weiteres theatrales Zeichen, das seine Entsprechung im Text hat. Es kann eine Erwiderung (B: „Bitte bleib!“) sein oder ein Nebentext, der etwa ein proxemisches Zeichen erwarten lässt wie die Regieanweisung „Ab.“ Die Macht des Textes besteht darin, dass die Aussage des Satzes gilt, solange ihm nicht ausdrücklich durch den folgenden Text widersprochen wird. Daneben gibt es die Möglichkeit, dass das zweite Zeichen im Widerspruch zum ersten steht. Das kennen wir aus Warten auf Godot: Wladimir: Also? Wir gehen? Estragon: Gehen wir! Sie gehen nicht von der Stelle.

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Wladimir und Estragon beschließen zu gehen, doch die erwartete Handlung bleibt aus – dieser performative Widerspruch ist eine Schlüsseltechnik für die Absurdität des Stücks.146 Entscheidend für die aus dem Drama resultierende Logik der Inszenierung ist nun, dass besonders die Sprech-, aber auch die Nebentexte über enorme Autorität verfügen. Folgt in der Aufführung auf den Satz „Ich gehe!“ oder auf die Regieanweisung „Ab“ kein Abgang und fehlt ein Sprech- oder Nebentext, der dies lizensiert, bleibt die Forderung nach dem Abgang wirksam. Das absurde Drama

145 Samuel Beckett: Warten auf Godot. Frankfurt/M. 2006, S. 116. 146 Zum performativen Widerspruch durch die Herstellung einer double-bind-Situation vgl. Uwe Wirth: Vorbemerkungen zu einer performativen Theorie des Komischen, in: Performativität und Praxis. Hg. v. Dieter Mersch. München 2003, S. 153-174, bes. S. 164-173.

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ist deswegen auf der Textebene nicht absurd, sondern widersprüchlich. Die einzelnen Aussagen des Textes stehen weitgehend gleichberechtigt nebeneinander und verhalten sich paradox zueinander. Erst in der Inszenierung wird aus dem performativen Widerspruch Absurdität. Es handelt sich dabei um eine Wirkungsverschiebung. Die Aussagen des dramatischen Textes durchlaufen in ihrer Überführung in theatrale Zeichen eine Hierarchisierung – mit dem Ergebnis, dass im Verlauf der Inszenierung den linguistischen Zeichen eine größere Autorität eigen wird als den übrigen Zeichen. Nach der Aufforderung zu gehen, verstört das Verbleiben auf der Bühne und fordert die Interpretation des Rezipienten heraus. Der ausbleibende Abgang kann ihm als Absurdität, Inkonsequenz, Unachtsamkeit, Fehler, als elegant oder brachial inszenierte Pointe gelten. Die Beurteilung versucht der Zuschauer durch sein Vorwissen zu regeln. Dementsprechend ist es in vielen Fällen nicht treffend, wenn von Dekonstruktion auf dem Theater gesprochen wird. Vielmehr liegt eine Negation des geforderten Zeichens vor. Das heißt im Umkehrschluss, dass Bestrebungen des Theaters, den Primat des Dramas zu zerstören, erst erfüllt sind, wenn in der Aufführung den Forderungen des Textes nicht entsprochen wird, was aber de facto gar nicht möglich ist. Das Theater befindet sich in einem dialektischen Dilemma, weil der Negation ein hermeneutischer Akt vorausgeht, in dessen Verlauf versucht wird, den Text zu verstehen, was wiederum die Voraussetzung für die Negation ist. Das heißt in letzter Konsequenz nichts anderes, als dass sich das Theater solange nicht endgültig aus der Umklammerung des Dramas befreien kann, solange es einen dramatischen Text zur Voraussetzung hat. Nun gibt es gerade im absurden Theater ganz unterschiedliche Versuche, sich im dramatischen Text aus der Umklammerung der Sprache zu befreien, indem – wie in dem geschilderten Beispiel aus Warten auf Godot – versucht wird, „die Wörter leerlaufen zu lassen, als würden sie automatisch wuchern“,147 wie es Roland Barthes pointiert genannt hat. Daneben nennt Barthes die ‚tiefgefrorenen‘ Dialoge Adamovs und die Dramatik Ionescos, der die „Rationalität der Syntax“ beibehalten „und gleichzeitig die Rationalität der Botschaft“148 zerschlagen habe. Das strukturelle Problem dieser Varianten des gegen das Verstehen gerichteten Theaters ist, dass der Primat des Dramas gegenüber dem Theater

147 Roland Barthes: Das französische Avantgardetheater, in: ders.: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“ Schriften zum Theater. Dt. v. Dieter Hornig. Hg. v. Jean-Loup Rivière. Berlin 2001, S. 253-264, hier S. 260; vgl. dazu auch Wolfgang Asholt: „Les servitudes du théâtre d’avant-garde.“ Roland Barthes und das Gegenwartstheater, in: comparatio 8 (2016), S. 245-257. 148 Barthes: Das französische Avantgardetheater, S. 261.

I MPLIKATIONEN VON S ZONDIS T HEORIE

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dadurch nicht zerstört, sondern ironischerweise befestigt wird. Denn der ‚Verlust‘ an Botschaft geht im absurden Theater mit Intensivierung des Textes einher, weil der Text eine bestimmte Handlungsweise reklamiert und sie der Inszenierung aufzwingt. Im Hinblick auf die Autonomisierung des Theaters vom Drama sind Adamovs, Becketts und Ionescos Dramen vielleicht energischere Versuche, die Macht des Dramas zu verteidigen als alle anderen Stücke der Moderne (das wird im folgenden Kapitel zu klären sein). Dass diese Dramatik jenseits von Beckett gegenwärtig nur eine untergeordnete Rolle spielt, überrascht deswegen nicht – noch einmal Barthes: Die Subversion der Sprache führt letztlich zu einer Absurdität des Menschen. Das Problem liegt nun nicht darin, daß eine solche Absurdität schockierend ist […], sondern darin, daß es unmöglich ist, sie lange durchzuhalten: Der Mensch ist dazu verurteilt, etwas zu bedeuten. Und genauso ist die Avantgarde dazu verurteilt, der Sprache einen Sinn zu verleihen – oder zu verschwinden.

149

Wie schwer es ist, der normierenden Dynamik des Dramas zu entkommen, erfährt das Theater, wenn es sich weigert, die vom Drama eingeforderte Logik anzuerkennen. Die auf Negation zielenden Aufführungen wirken angesichts der Macht des Dramas oftmals provozierend oder Widerspruch erregend. Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, den Spielraum, den ein Drama weniger gewährt als vielmehr ermöglicht, zu begreifen und sich durch präzise Lektüre zu erschließen. Formveränderungen sind daher nicht notwendig als Reflexe auf Krisen bzw. als Rettungs- oder Lösungsversuche zu sehen. Sie haben außerdem die Funktion, den ästhetischen Dialog zwischen Bühne und Drama lebendig zu halten, indem sie einerseits Impulse, die von der Bühne ausgehen, aufnehmen und andererseits durch Formveränderungen Impulse an die Bühne geben. Episierung und mit ihr Medialisierung scheinen hierfür die entscheidenden Impulsgeber zu sein. Im Hinblick auf erstere muss die Frage gestellt werden, ob die Episierungstendenzen, die aus naheliegenden Gründen in desillusionistischer und antiillusionistischer Dramatik anzutreffen sind, ihren Weg auch in die illusionistische Dramatik finden. Szondis Hinweise zu Tod eines Handlungsreisenden scheinen das anzukündigen. Die Medialisierung bedarf insbesondere deswegen Aufmerksamkeit, weil sie einerseits von Szondi der Episierung untergeordnet wird, während Lehmann sie andererseits als Impuls betrachtet, der ab den 70er Jahren auf dem Theater wirkungsmächtig wird und der die Entkoppelung von

149 Ebd., S. 262.

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Drama und Theater verstärkt. Ob das auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht überzeugt, wird zu überprüfen sein. Ergänzend deuten sich mit der Dramatik bzw. in der Theorie des modernen Dramas zwei weitere Herausforderungen an die Form an: die zunehmende Anwesenheit des Autors im Drama und die Absurdität. Rückblickend scheint Pirandellos Sechs Personen suchen einen Autor für beide Entwicklungen wesentliche Vorstufe zu sein: Seine Aktualisierung der romantischen Ironie ist ein Vorbote des absurden Theaters. Und die von Szondi behauptete Abwesenheit des Autors im Drama wird von Pirandello zur Disposition gestellt. Zwar integriert er den Autor nicht in den Sprechtext, er verbannt ihn vordergründig in die Vorrede – doch schafft er gerade dadurch ein Stück, das der Entgrenzung der Dramatik des 19. Jahrhunderts Vorschub leistet. Wenn die Absurdität die „Rationalität der Syntax“ beibehält „und gleichzeitig die Rationalität der Botschaft“ (so Barthes) zerschlägt, muss die Form ebenfalls einer Rationalität folgen – nur welche ist das? Es ergibt sich hier eine Situation, die auch für Szondi Ausgangspunkt seiner Überlegungen war: Bewegt sich im Falle der Entsprechung von Form und Inhalt die inhaltliche Thematik gleichsam im Rahmen der formalen Aussage als eine Problematik innerhalb etwas Unproblematischem, so entsteht der Widerspruch, indem die fraglos-feststehende Aussage der Form vom Inhalt her in Frage gestellt wird. Diese innere Antinomie ist es aber, die eine Dichtungsform geschichtlich problematisch werden läßt, und das hier Vorgelegt ist der Versuch, die verschiedenen Formen neuerer Dramatik aus der Auflösung solcher Widersprüche zu erklären.

150

150 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 13.

IV. Episierung und die Ausweitung der Spielräume (1956 bis Anfang der 70er Jahre)

1.

D IE

STAATSVERORDNETE UND DIE R EAKTIONEN

K RISE

DER

E PISIERUNG

Szondis Theorie des modernen Dramas wirkt durch den Fluchtpunkt ‚Episierung‘ und durch die Dreiteilung in ‚Krise‘, ‚Rettungsversuche‘ und ‚Lösungsversuche‘, als habe sich Mitte der 50er Jahre zumindest die mittelfristige Weiterentwicklung des Dramas klar abgezeichnet. Das Aufkommen des absurden Theaters und der, deutlich früher, Einbruch der Autorschaft ins Drama lassen freilich erahnen, dass dem nicht so war. Doch traten nicht nur Formveränderungen hinzu, die die Entwicklung entschieden ausdifferenzieren sollten. Vor allem stand die Episierung vor einer Herausforderung, die nicht literarischer, sondern politischer Natur war. In der DDR war noch vor Brechts Tod am 14.8.1956 eine unübersichtliche dramenästhetische bzw. -theoretische Gemengelage entstanden, die durch den wiederkehrenden Versuch der Politik gekennzeichnet war, auf das literarische Leben Einfluss zu nehmen. Von offizieller Seite wurde der sozialistische Realismus faktisch zur Staatsästhetik erklärt. Diese Bevormundung der Literatur konnte zunächst kontrovers diskutiert werden (so auf dem 4. Schriftstellerkongress im Januar 1956). Wie bekannt, änderte sich das in Folge der Aufstände in Polen und Ungarn im Oktober, was konkrete Folgen für die Literaturtheorie mit sich brachte: Lukács, der zwischenzeitlich Minister in der ungarischen Revolutionsregierung war, wurde endgültig als Theoretiker verworfen.1

1

Vgl. zu den Hintergründen Wolfgang Emmerich: Kleine Literaturgeschichte der DDR. Erw. Neuausg. Köln 1996, S. 113-131. Die Distanznahme gegenüber Lukács änderte

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Mit der Festlegung auf den sozialistischen Realismus wurde de facto das Ende der Episierung verordnet – und zwar indirekt durch die Förderung der Produktionsdramatik und durch die Erbepflege, die einem vielfach einfältigen Klassizismus das Wort redete.2 Eine Form des Dramas wurde zur ästhetischen Norm erklärt, die – mit Szondi gesprochen und zumindest rückblickend – kaum als Lösungsversuch geeignet scheint. Ursache dafür ist, dass in der Produktionsdramatik der Dialog völlig unhinterfragt ist, dass der Konflikt zwischen Individuen zurücktritt und dass die skizzierten Tendenzen der Subjektivierung damit einhergehend und völlig naheliegend nicht zum Ausdruck kamen, so dass es nur eine Frage der Zeit war, bis die Produktionsdramatik problematisch werden musste – zumindest, wenn sie in Vergleich trat mit anderer, damals zeitgenössischer Dramatik. Das zeigte sich in den Jahren nach Brechts Tod. Immer wieder folgten auf vermeintliches Tauwetter Normierungsversuche und Indienstnahmen. Das mutet auch deswegen im Rückblick befremdend an, weil eine Mehrzahl der jungen DDR-Schriftsteller dem eigenen Staat aufgeschlossen gegenüberstanden, was sich insbesondere in der Lyrik äußerte.3 Die endgültige Indienstnahme der Literatur für den Sozialismus erfolgte mit dem berüchtigten 11. Plenum des ZK der SED 1965.4 Sinn und Form publizierte im Folgejahr ein Schwerpunktheft über die „Probleme der Dramatik“, das bezeichnend für diese Situation ist. Abgedruckt wurden vier Dramen bzw. Dramenausschnitte: Alfonso Sastres Im Netz,5

sich später wieder; vgl. Alexander Abusch, Helmut Baierl, Peter Hacks u.a.: Zur Realismustheorie von Georg Lukács. 13. März 1978, in: Berlinische Dramaturgie. Ästhetik. Bd. 3. Hg. v. Thomas Keck, Jens Mehrle. Berlin 2010, S. 81-151. 2

Der sozialistische Realismus war auch über den hier im Zentrum stehenden Zeitraum hinaus maßgebliche Ästhetik in der DDR; vgl. Alexander Abusch, Helmut Baierl, Peter Hacks u.a.: Zur Konzeption des sozialistischen Realismus 1934. 30. Januar 1971, in: Berlinische Dramaturgie. Ästhetik. Bd. 3. Hg. v. Thomas Keck, Jens Mehrle. Berlin 2010, S. 7-79; sowie Alexander Abusch, Helmut Baierl, Peter Hacks u.a.: Über sozialistischen Realismus heute. 5. Mai 1978, in: ebd., S. 153-229.

3

Vgl. Kai Bremer: „Such, Seele, das Land der Griechen.“ Versuch einer Typologie der Antiken-Rezeption der DDR-Lyrik, in: Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römisches Altertum in Gedichten von der Moderne bis zur Gegenwart. Hg. v. Stefan Elit, Kai Bremer, Friederike Reents. Remscheid 2010, S. 179-193.

4

Günter Agde (Hg.): Kahlschlag. Das 11. Plenum des ZK der SED 1965. Studien und Dokumente. Mit einem Beitr. v. Wolfgang Engler. 2., erw. Aufl. Berlin 2000.

5

Alfonso Sastre: Im Netz, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 539-598.

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Helmut Baierls Johanna von Döbeln,6 Alfred Matusches Van Gogh7 und Heiner Müllers Das Laken,8 das später eine Szene in Die Schlacht wird. Eröffnet wird der Band mit einem Beitrag von Kurt und Jeanne Stern über den spanischen Bürgerkrieg, der das erste Stück thematisch einführt.9 Anlass war der 30. Jahrestag des Kriegsbeginns. Das Stück ist konventionell gebaut und bekennt sich am Ende pathetisch zum Antifaschismus. In der Form schlägt sich das nicht nieder. Es folgen zwei Berichte über die Brecht-Schüler Benno Besson und Manfred Wekwerth.10 Beiden Beiträgen ist gemeinsam, dass sie die Bedeutung Brechts für die Gegenwart betonen und an seine erfolgreichen Aufführungen im Ausland erinnern. Dabei wird hervorgehoben, dass die Theaterarbeit beider BrechtSchüler ganz im Dienste des Sozialismus stehe. Über ihre Theaterästhetik erfährt der Leser aber nur andeutungsweise etwas. Noch ferner ist Brecht in den beiden Stücken – insbesondere in dem von Matusche, aber auch in dem von Müller. Es sind konventionell gearbeitete Dialoge einmal in Form eines Künstlerdramas, einmal in Gestalt einer Szene im Blankvers über Berliner Straßenschlachten am Ende des Krieges – episierende Momente sind nicht zu finden. Ein weiteres Thema des Hefts ist die Auseinandersetzung mit der Tradition – also mit der Erbepflege, die in einem Ausmaß strapaziert wird, das heute nur mehr erstaunen kann: „Den Alten und Shakespeare stehen Schiller und Brecht als ‚sentimentalische‘ Dichter gegenüber […].“11 Der einzige poetologische Beitrag stammt von Helmut Baierl, dessen Prominenz im Heft sich nicht zuletzt damit erklärt, dass er Mitte der 60er Jahre Dramaturg am Berliner Ensemble war und als parteikonform galt. Er führt aus: „Unter unseren Verhältnissen ist der große Widerspruch zwischen den Interessen des einzelnen und den Interessen der Gesellschaft generell aufgehoben.“ Bezeichnenderweise wird der Konflikt des einzelnen als

6

Helmut Baierl: Szenen aus Johanna von Döbeln, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 613-639.

7

Alfred Matusche: Van Gogh, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 683-724.

8

Heiner Müller: Das Laken, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 767f.

9

Kurt Stern, Jeanne Stern: Der Schlamm und die Lilien, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 533-538.

10 Armin Stolper: Gespräch über Besson, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 599-612; Helmut Baierl: Gesichtspunkte. Über die Arbeit von Manfred Wekwerth, in: ebd., S. 666-675. 11 Wilhelm Girnus: Deutsche Klassik und Shakespeare, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 725-735; Günter Hartung: Brecht und Schiller, in: ebd., S. 743-766, hier S. 766.

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„Rückschritt“ dem „Fortschritt der Gesamtheit“ gegenübergestellt.12 Das heißt zunächst, dass der Konflikt sein produktives Moment für das Drama einbüßen und zu einem retardierenden Moment würde. Mit Szondi gesprochen, zielen Baierls Überlegungen darauf, die ,innere Antinomie‘ aufzulösen und die Harmonie von Form und Inhalt zu postulieren. Baierl ist das klar: Gerade im Zusammenhang mit dem eben Gesagten, scheint mir, daß der dramatische Konflikt, der menschenbewegende Grundwiderspruch unserer Zeit bezogen werden muß aus den Verhältnissen in ihrer jetzigen Phase. Es muß der Dramatik möglich sein, hat sie als Hauptfeld den ruhigen Alltag vor sich (nicht die Bewegung der Straße), den Alltag bei uns als Sensation darzustellen, wie die Ruhe als Bewegung. Die alltägliche Arbeit der vielen als einmalige Heldentat. Das große Drama sollte, um groß zu sein, kleine Konflikte wendigeren Genres überlassen, vielleicht sogar in Briefform erledigen.

13

Baierl fordert, dass das Drama auf eine pathetische Glorifizierung des sozialistischen Alltags reduziert werden soll. Der sozialistische Realismus bildet nicht die Realität ab, sondern das Wunschdenken seiner Verfechter.14 Das Sinn und Form-Sonderheft ist ein Sammelsurium, in dem Probleme der Dramatik an keiner Stelle thematisiert, geschweige denn gelöst werden. Kein Ansatz passt zum anderen. Die Erbepflege widerspricht dem Aufbau-Pathos Baierls, der dramatische Lakonismus Müllers steht im Kontrast zum MärtyrerPathos Sastres. Nur eins scheint klar: eine produktive Pflege der BrechtTradition wird in keinem Beitrag propagiert, vielmehr wird er zum Klassiker kanonisiert, eine Auseinandersetzung mit seiner Dramatik und Poetik erfolgt nicht. So setzt sich das verordnete Ende der Episierung auch nicht durch. In der Dramatik und auf dem Theater werden Strategien entwickelt, die dem sozialistischen Realismus begegnen. Der politischen Forderung, den Sozialismus bzw. den gesellschaftlichen Fortschritt zum Objekt der Darstellung zu machen, begegnet die Dramatik ironisch. Sie hält ihm sein Postulat der Konfliktfreiheit der sozialistischen Gesellschaft als Illusion vor und stellt schließlich ihn und seine Dramatik mittels der Episierung fundamental infrage.

12 Helmut Baierl: Wie ist heutige Wirklichkeit auf dem Theater darstellbar, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 736-742, hier S. 742. 13 Ebd. 14 Dementsprechend wird in der den Band abschließenden, umfangreichen Kritik zu Dürrenmatts Meteor (Ernst Schumacher: Der Dichter als sein Henker, in: Sinn und Form 18 (1966), Sonderheft I, S. 769-779) die hinter dem Stück stehende nihilistische Philosophie als falsch widerlegt.

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Reaktion 1: den Realismus episieren Episierung stand in der DDR unter Formalismusverdacht, da sie sich der Natürlichkeitsästhetik des Realismus widersetzt. So überrascht es nicht, wenn episierende Dramatik, die sich dem Sozialismus zuwendet, nicht direkt nach Brechts Tod, sondern erst vergleichsweise spät erscheint. Konkret wird der Zusammenstoß von Produktionsdramatik und Episierung in Heiner Müllers Zement (1972). Der Fluchtpunkt dieses Dramas ist, dass die radikale Fortführung der Episierung endgültig das Dramatische im Sinne Szondis aufzulösen droht. Aus Sicht der Theorie des modernen Dramas ist die Radikalisierung der Episierung allerdings konsequent, weil damit einer um Natürlichkeit bemühten Ausdrucksästhetik erneut, wie schon von Brecht,15 eine Absage erteilt und der Sachverhalt betont wird, dass der dramatische Text nicht notwendig in sprachliche Zeichen überführt werden muss, sondern alternativ mittels kinesischer Zeichen realisiert werden kann. Es sind die sogenannten ‚Tableaux‘, die die Episierung radikalisieren. Ihnen ist mit dramenanalytischen Kategorien kaum beizukommen. Deswegen steht Zement vielfach am Beginn der in den einleitenden Überlegungen genannten Diskussionen um den nicht mehr ‚dramatischen‘, sondern nun angeblich ‚theatralen‘ Text.16 Die Tableaux unterbrechen oder beenden die Figuren-Dramaturgie. Sie gelten deswegen – etwa im Unterschied zum Chor am Ende eines Aktes – weniger als „Kommentar denn als Aufschub oder Fremdkörper“17. Das setzt freilich stillschweigend einen Dramenbegriff voraus, der nicht von der historischen Variabilität der Form und nicht von deren ästhetischer Fortführung ausgeht. Im Sinne Szondis entwickeln die Tableaux hingegen die Episierung weiter. Der Handlung nach ist Zement wie Müllers frühster Erfolg Der Lohndrücker ein Produktionsstück. Zement handelt vom Wiederaufbau eines zerstörten Zementwerks. Das Drama basiert auf dem gleichnamigen sowjetischen Roman von Fjodor Gladkow, der 1926 erschienen war. Entsprechend der Vorlage werden das Verhältnis der Figuren untereinander und so zugleich die zwischenmenschli-

15 Vgl. Roland Barthes: Die Aufgaben der Brechtkritik, in: ders.: „Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin.“ Schriften zum Theater. Dt. v. Dieter Hornig. Hg. v. Jean-Loup Rivière. Berlin 2001, S. 313-320, bes. S. 317319. 16 Vgl. Lehmann: Theater der Blicke. 17 Ulrike Haß: Traum, Sprache. Zukunft des Politischen, in: Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme. Hg. v. Christian Schulte, Brigitte Maria Meyer. Frankfurt/M. 2004, S. 241-253, hier S. 242.

90 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI

chen Konflikte eingeführt. Im Hinblick auf die Episierung ist bemerkenswert, dass die Szenen Überschriften tragen, die ganz unterschiedliche Bezüge haben. So wird zum Beispiel die zweite Szene mit „Heimkehr des Odysseus“18 betitelt; in ihr kommt die Hauptfigur Gleb Tschumalow aus dem Krieg nach Hause. Doch ist diese Überschrift eher ein zynischer Kommentar auf die Erwartungshaltung der Hauptfigur (und der Rezipienten) als eine Vorwegnahme der folgenden Handlung: Tschumalows Frau Dascha hat sich im Sozialismus etabliert und wartet nicht mehr auf den Gatten. Auch das gemeinsame Kind bietet ihr keinen Anlass, sich auf die Rückkehr ihres Mannes zu freuen, weil sie es ins Kinderheim gegeben hat. So ist das Stück von Beginn an eins, das die Ernüchterung im Sozialismus thematisiert und das die Referenz auf die Antike nutzt, um den Bruch mit dem Pathos des Mythos zu betonen und so dessen Verhältnis zur Emanzipation thematisiert.19 In diesem Sinne ist das Drama ein radikal realistisches Stück. Die Überschriften führen vor, dass die Heimkehrergeschichte keinem heroischen Skript folgt. Dieses Verfahren wird mit dem ersten Tableau-Text noch manifester. Auf einen Nebentext, der ankündigt, dass die Hauptfigur Tschumalow dem Ingenieur Kleist die Hände um den Hals legt und dieser zu schreien beginnt, folgt keine Anrede Tschumalows an Kleist. Vielmehr wird die Tötung Hektors durch Achill in der Ilias geschildert, aber nicht als Zitat, sondern als erzählende Zusammenfassung: In der Ilias erzählt der blinde Homer, wie vor viertausend Jahren der Grieche Achilles vor Troja Rache nahm für den Tod seines Freundes Patroklos an dem Trojaner Hektor, der ihn getötet hatte in der Schlacht. Achilles begann die Schlacht neu, die schon aufgehört hatte, indem er seine Soldaten vor sich hertrieb und alles totschlagen ließ, was nicht Hektor war, Trojaner und Griechen: Seine Suche war die Schlacht. […] Dann schleifte er [Achilles] den Toten um die belagerte Stadt. […] Den Rest überließ er der Familie des Trojaners, damit sie ihn begraben konnte, gegen eine Ladung Gold vom dreifachen Gewicht des Leichnams. […] Dann schleppten seine Soldaten sein Gold in seine Zelte. Lacht: Sind Sie erschrocken, Genosse Ingenieur.

20

18 Heiner Müller: Zement, in: ders.: Stücke 2. Werke 4. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2001, S. 379-467, hier S. 383. 19 Vgl. Gerhard Fischer: Zement, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart, Weimar 2003, S. 298-302, hier S. 299f. 20 Müller: Zement, S. 401f.

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Im Anschluss an den Tableau-Text wird die Figurenrede fortgesetzt. Signalisiert wird das durch den Zwischentext, der das Gespräch zwischen Tschumalow und Kleist mit einem Lachen und durch die Rückkehr zur Verssprache wieder aufnimmt. Noch in der gleichen Szene folgt ein zweiter Tableau-Text, der nun weder durch Einrückung noch durch einen Nebentext an den vorhergehenden Dialog angebunden wird und deutlich länger als der vorherige ist. Abermals handelt es sich um eine auf die griechische Mythologie bezugnehmende Erzählung, eine Wiedergabe der Prometheus-Geschichte mit einem säkularen Schluss: Prometheus, der den Menschen den Blitz ausgeliefert, aber sie nicht gelehrt hatte, ihn gegen die Götter zu gebrauchen, weil er an den Mahlzeiten der Götter teilnahm, die mit den Menschen geteilt weniger reichlich ausgefallen wären, wurde wegen seiner Tat beziehungsweise wegen seiner Unterlassung im Auftrag der Götter von Hephaistos dem Schmied an den Kaukasus befestigt, wo ein hundsköpfiger Adler täglich von seiner immerwachsenden [sic!] Leber aß. […] Weitere dreitausend Jahre dauerte der Abstieg zu den Menschen. Während die Götter das Gebirge aus dem Grund rissen, so daß der Abstieg durch den Wirbel der Gesteinsbrocken eher einem Absturz glich, trug Herakles seine kostbare Beute, damit sie nicht zu Schaden kam, wie ein Kind an seine Brust gebettet. An den Hals des Befreiers geklammert, gab Prometheus ihm mit leiser Stimme die Richtung der Geschosse an, so daß sie den meisten ausweichen konnten. Dazwischen beteuerte er, laut gegen den Himmel schreiend, der vom Wirbel der Steine verdunkelt war, seine Unschuld an der Befreiung. Es folgte der Selbstmord der Götter. Einer nach dem andern warfen sie sich aus ihrem Himmel auf den Rücken des Herakles und zerschellten im Geröll. Prometheus arbeitete sich an den Platz auf der Schulter seines Befreiers zurück und nahm die Haltung des Siegers ein, der auf schweißnassem Grund dem Jubel der Bevölkerung 21

entgegenreitet.

Wie und von wem dieser Tableau-Text gesprochen wird, wird nicht erklärt. Auch legt Müller sich nicht in den Hinweisen im Anschluss an das Stück fest, sondern bietet nur eine Möglichkeit der Realisierung an: „Den Text über die Rache des Achill kann der Darsteller des Tschumalow sprechen, der Darsteller des Kleist den über die Befreiung des Prometheus […].“22 Den Tableaux ist damit gemeinsam, dass ihnen eine eindeutige dramatische Sprecherinstanz fehlt. Wesentlich für diese manchmal kafkaesk anmutenden Texte ist weiterhin ihre „Traumsprache“,23 die entscheidend zur Fremdartigkeit des Tableau-Textes bei-

21 Ebd., S. 404-406. 22 Ebd., S. 466. 23 Haß: Traum, S. 243.

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trägt und im vorliegenden Beispiel durch den überraschenden Wechsel vom Präteritum des Hauptsatzes ins Präsens des Relativsatzes entsteht. Mit den Tableaux, in denen meist neben den mythischen Settings irreale Landschaften geschildert werden können, bricht Müller die Dramaturgie auf. In Zement fällt der Versuch, die Dramaturgie zu sprengen, jedoch moderat aus, weil ansonsten eine durchgängige Handlung mit einer klaren Konfliktstruktur existiert. Striche man die Tableaux, so läge mit Zement ein vergleichsweise konventionell verfasstes Drama über den Aufbau des Sozialismus vor. Doch bildet das Stück damit nur den Auftakt zu einer regelrechten Versuchsreihe zur Episierung, die Müller im Laufe der 70er und frühen 80er Jahre entwickeln wird. Zement nimmt deswegen innerhalb des Werks Müllers eine Schlüsselstellung ein, weil es einerseits die Produktionsdramatik fortführt und damit sich zu der Forderung nach sozialistischem Realismus verhält und weil es andererseits offensiv mit dem staatsverordneten Ende der Episierung bricht. Je nach Zugriffsperspektive kann Zement deswegen entweder als Endpunkt der frühen oder als Aufbruch in die formal-innovative Dramatik Müllers gedeutet werden.24 Ob es tatsächlich sinnvoll ist, beide Positionen gegeneinander auszuspielen, sei jedoch dahingestellt. Vielmehr ist die Radikalität, mit der Müller Anfang der 70er Jahre auf Episierung setzt, ohne seine Auseinandersetzung mit bzw. ohne seinen Widerstand gegen die Forderungen nach sozialistischem Realismus kaum zu verstehen. Ferner dominiert in Zement ein Gestus, der sich schon in Die Umsiedlerin findet. Entscheidend für deren frühneuzeitlich anmutende Komik ist (wie wir sehen werden), dass die „Freiheit des Lachens“, wie es bei Bachtin heißt,25 nur für eine zeitlich begrenzte Ausnahmesituation gilt, in der der Souverän zwar souverän bleibt, aber von seiner Souveränität keinen Gebrauch macht. Analog ist der mittels der Produktionsstücke formulierte Widerspruch durch ein systemstabilisierendes Moment gekennzeichnet, weil am Ende des Stücks die herrschende Ordnung vielleicht gerupft, aber doch wiederhergestellt ist. Die durch die Realität vorgenommene Rahmung bleibt bestehen. Der Inszenierung bieten die Tableaux eine gänzlich neue Art des Spielraums. Die Art und Weise, wie die Texte auf der Bühne umgesetzt werden, wird nicht festgelegt. Im ersten Beispiel aus Zement wird durch die Einrückung zumindest angezeigt, wer spricht. Zudem wird signalisiert, dass anders gesprochen werden soll, indem der Vers der Prosa weicht. Aber wie dieses Sprechen zu realisieren

24 Vgl. Fischer: Zement. 25 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Aus d. Russ. übers. v. Alexander Kaempfe. Frankfurt/M. 1990, S. 33.

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ist, thematisiert der Text nicht. Den Tableaux fehlen Angebote, wie sie in theatrale Zeichen überführt werden können. Ihre Einbettung in die restliche Dramaturgie lässt – wo gegeben – Mutmaßungen zu. Auch finden sich, wie erwähnt, Hinweise im Nachwort. Doch letztlich können die Tableaux aus dem Off, von einer Figur, von mehreren oder gar von allen Darstellern (etwa chorisch) gesprochen werden. Sie können auch als projektierter Text gezeigt werden. Die Tableaux ermöglichen einen Spielraum, weil in ihnen die Frage nach der Sprecherinstanz vollständig den Rezipienten bzw. der Regie überantwortet wird. Das Sprechen von der Figur abzukoppeln, ist dabei von eminent politischer Qualität, denn die „Ablösung des Sprechakts vom souveränen Subjekt begründet einen anderen Begriff der Handlungsmacht und letztlich der Verantwortung, der stärker in Rechnung stellt, daß die Sprache das Subjekt konstituiert und daß sich das, was das Subjekt erschafft, zugleich von etwas anderem herleitet.“26 So zielt mittels der Tableaux das Drama nicht mehr nur auf Desillusionierung, sondern auf Befreiung der Rezipienten von der Macht des Dramas. Reaktion 2: Realismus und dokumentarische Dramatik Seit rund 50 Jahren haben sich dokumentarische Formate auf dem Theater etabliert. Damit einhergingen und -gehen zahlreiche dramatische Texte, die versuchten und versuchen, den Bedürfnissen des Theaters nach dokumentarischem Material gerecht zu werden. Noch in der Theorie des modernen Dramas ist dokumentarische Dramatik nicht selbstverständlich. Das ist zu betonen, weil dokumentarisches Theater argumentativ hervorragend geeignet wäre, um die Episierungsthese zu stützen. Auch Wolf Gerhard Schmidt untersucht in Zwischen Antimoderne und Postmoderne,27 dieser so umfassenden wie insgesamt überzeugenden Darstellung der Dramen- und teilweise auch Theaterlandschaft nach dem 2. Weltkrieg, dokumentarische Dramatik nur ausgewählt. Das hierfür vielleicht wichtigste Stück, Peter Weiss’ Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen,28 wird von Schmidt nur punktuell berücksichtigt. Das dürfte nicht daran liegen, dass die ästhetische Beurteilung des dokumentarischen Theaters aus literaturwissenschaftlicher Sicht fragwürdig ist, wie

26 Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Aus d. Amerikan. v. Kathrin Menke, Markus Krist. Frankfurt/M. 2006, S. 31f. 27 Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne. Das deutsche Drama und Theater der Nachkriegszeit im internationalen Kontext. Stuttgart, Weimar 2009. 28 Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen. Reinbek bei Hamburg 1969.

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Schmidts Hinweise zu Kipphardt belegen. Mutmaßlich ist diese Unsicherheit der literaturwissenschaftlichen Dramenanalyse dem Umstand geschuldet, dass dokumentarisches Theater und mit ihm dramatische Texte, die dieser Theaterform zugrunde liegen bzw. sie bedienen, im aristotelischen Sinne als undramatisch begriffen werden. Manfred Pfister hat daher vorgeschlagen, im Hinblick auf offene dramatische Formen nicht von einer „kausale[n] Verkettung von Handlungen gegen Anwendungen“29 auszugehen, sondern ,Handlung‘ durch den Begriff ‚Geschehen‘ zu ersetzen. Pfisters Vorschlag überzeugt, weil er nicht nur der Idee, sondern auch dem Sprachgebrauch nach direkt auf Peter Weiss zurückgeht. Mit dem Begriff ‚Geschehen‘ bzw. ‚Geschehnis‘ grenzt sich Weiss vom Brechtschen Begriff der Fabel ab. Aus der Binnenperspektive der dramatischen Produktion betont Weiss die Differenz zwischen sich und Brecht: Das dokumentarische Theater verabschiedet die Fabel, es bekennt sich zur Realität, es kritisiert den fiktionalen Rahmen der dramatischen Produktion, wie die Notizen zum dokumentarischen Theater von Weiss aus dem Jahr 1968 zeigen. Zentral ist in ihnen der Begriff des Realismus, der schon in der einer Präambel gleichenden Vorrede aufgerufen wird. Ihn kennzeichnet Weiss, indem er eine Opposition zwischen Formen des Realismus30 und der erklärten Enthaltung von „jeder Erfindung“ aufbaut.31 Das ist zentral für die politische Intention des dokumentarischen Theaters, das Abbild der Wirklichkeit zu sein versucht.32 Dieses Abbildverständnis ist für Weiss nur vordergründig defizitär. Er räumt ein: „Das dokumentarische Theater, soweit es nicht selbst die Form des Schauspiels auf offener Straße wird, kann sich nicht messen mit dem Wirklichkeitsgehalt einer authentischen politischen Manifestation.“33 Dementsprechend ist das Ziel des dokumentarischen Theaters nicht direkte politische Agitation: Die Stärke des dokumentarischen Theaters liegt darin, dass es aus den Fragmenten der Wirklichkeit ein verwendbares Muster, ein Modell der aktuellen Vorgänge, zusammenzu-

29 Pfister: Das Drama, S. 322. 30 Peter Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, in: Manifeste europäischen Theaters. Grotowski bis Schleef. Hg. v. Joachim Fiebach. Berlin 2003, S. 67-73, hier S. 67: „Protokolle, Akten, Rubriken, statistische Tabellen, Börsenmeldungen, Abschlussberichte von Bankunternehmen und Industriegesellschaften, Regierungserklärungen, Ansprachen, Interviews, Äußerungen bekannter Persönlichkeiten, Zeitungsund Rundfunkreportagen, Fotos, Journalfilme und andere Zeugnisse der Gegenwart“. 31 Ebd., S. 68. 32 Vgl. ebd., S. 69. 33 Ebd.

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stellen vermag. Es befindet sich nicht im Zentrum des Ereignisses, sondern nimmt die Stellung des Beobachtenden und Analysierenden ein.

34

So überrascht es nicht weiter, wenn Weiss das dokumentarische Theater als wissenschaftlich fundiert versteht, als Medium zur Freilegung gesellschaftlicher und eben nicht mehr individueller Konflikte. Hier gleicht er Brecht. Dabei bekennt das dokumentarische Theater seine Parteilichkeit. Die ästhetischen Techniken zur Vermittlung dieser parteiischen Sicht auf die Gesellschaft sind vielfältig, sie können je nach Gegenstand, Aufführungsort und Anliegen variiert werden. Das dokumentarische Theater ordnet ästhetische Techniken den politischen Anliegen unter. Die Ästhetik der Stücke ist zudem konsequent im Hinblick auf ihre politischen Wirkungsweisen hin zu untersuchen – und diese lassen, so Weiss, Rückschlüsse auf die Intention des Dramatikers zu. Um diese These einordnen zu können, müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass im Drama nicht der empirische, sondern der dramaturgische Autor spricht. Die Ermittlung wird mit folgenden Anmerkungen eröffnet: Bei der Aufführung dieses Dramas soll nicht der Versuch unternommen werden, den Gerichtshof, vor dem die Verhandlung über das Lager geführt wurde, zu rekonstruieren. Eine solche Rekonstruktion erscheint dem Schreiber des Dramas ebenso unmöglich, wie es die Darstellung des Lagers auf der Bühne wäre.

35

Anders als bei Sechs Personen, wo sich der dramaturgische Autor in der Vorrede ironisch-distanziert äußert, spricht der dramaturgische Autor hier direkt und (dem Gegenstand angemessen) frei von jeder Komik im Nebentext, was die Rezeption nahelegt, diese Äußerung als eine des empirischen Autors zu identifizieren. Das dokumentarische Drama und mit ihm das auf ihm fußende Theater nutzen die Instanz des Autors, um zur Auseinandersetzung mit dessen politischen Interessen und Anliegen herauszufordern: Doch sollen im Drama die Träger dieser Namen nicht noch einmal angeklagt werden. Sie leihen dem Schreiber des Dramas nur ihre Namen, die hier als Symbole stehen für ein System, das viele andere schuldig werden ließ, die vor diesem Gericht nie erschienen.

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Indem der dramaturgische Autor explizit wird, wird die Subjektivität des Dramas vorgeführt, was sich nicht auf den Kunstcharakter des Dramas auswirken muss.

34 Ebd., S. 70. 35 Weiss: Die Ermittlung, S. 7. 36 Ebd., S. 8.

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Weiss bezweifelt ihn nicht, wie der Untertitel, Oratorium in 11 Gesängen, belegt. Auch ist der Sprechtext an sich durch entschiedene Abstraktionen und Zuspitzung gekennzeichnet. Deswegen muss ergänzend neben dem dokumentarischen Theater seine textuelle Entsprechung, das dokumentarische Drama, zur Kenntnis genommen werden, selbst wenn Weiss lieber vom dokumentarischen Theater spricht (und nur selten von „der dokumentarischen Dramatik“),37 um die Abkehr vom traditionellen Literaturtheater zu signalisieren. Für das Verhältnis von Text und Aufführung hat diese Abkehr Konsequenzen. Denn nun ist der dramatische Text nicht nur Voraussetzung der Inszenierung, sondern die Auseinandersetzung mit der politischen Meinung des empirischen Autors wird nahegelegt, indem ein dramaturgischer Autor spricht. Dieser behauptet, die Stimme des empirischen zu sein und mittels des Stücks Anklage zu erheben. So initiiert der Text seinerseits ein Rollenspiel – ein zweites Gerichtsspiel, in dem der dramaturgische Autor in der Anmerkung das „System“ anklagt und dadurch das Publikum auffordert, Richter zu spielen.38 Daraus ergibt sich für die Inszenierung zugleich der lessingsche Anspruch,39 das Publikum zum Richter zu machen. Um diesem Anliegen gerecht zu werden, wählt Weiss eine Formsprache, die ,undramatisch‘ erscheinen mag, de facto aber das aufklärerische Potential des Dramas mittels Episierung aktualisiert. Reaktion 3: Gegenrealismus Die nachbrechtische Episierung hat einen erklärten Gegner: die dramatische Handlung. Anders als Brecht zielt jene nicht mehr auf deren Unterbrechung, sondern auf deren Verabschiedung. In Peter Handkes Publikumsbeschimpfung wird das explizit Gegenstand des Sprechtextes: „Das ist kein Drama. Hier wird keine Handlung wiederholt, die schon geschehen ist. Hier gibt es nur ein Jetzt und ein Jetzt und ein Jetzt.“40 Indem im Sprechtext ‚Drama‘ ganz auf die Kategorie ‚Handlung‘ konzentriert, wenn nicht gar reduziert wird, wird etwas dem Theaterzuschauer bzw. Leser des Dramas Neues behauptet. Mit der Betonung der ‚Handlungswiederholung‘ wird dabei Mimesis nicht nur abgelehnt, sondern

37 Weiss: Notizen zum dokumentarischen Theater, S. 68. 38 Vgl. zu den historischen Vorläufern und Varianten des dokumentarischen Theaters Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 641-645. 39 Vgl. Wolfgang Kröger: Das Publikum als Richter. Lessing und die „kleineren Respondenten“ im Fragmentenstreit. Wiesbaden 1979. 40 Peter Handke: Publikumsbeschimpfung, in: ders.: Die Theaterstücke. Frankfurt/M. 1992, S. 7-41, hier S. 23.

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indirekt kritisiert, da ‚Nachahmung‘ (und damit faktisch das Theater diderotscher bzw. lessingscher Prägung) zu bloßer ‚Wiederholung‘ diskreditiert wird (allerdings ohne dass markiert wird, ob dieser Akt ironisch oder polemisch zu verstehen ist). Gleichwohl beschränkt sich Publikumsbeschimpfung nicht auf reine Zerstörung der Illusion, sondern vielmehr auf Herstellung einer GegenIllusion. In Publikumsbeschimpfung wird nämlich nicht nur Handlung abgelehnt, das Verhältnis von Darstellern und Rezipienten der Darstellung wird verkehrt, bzw. ihre Verkehrung wird behauptet: Sie stellen etwas dar. Sie sind jemand. Hier sind Sie etwas. Hier sind Sie nicht jemand, sondern etwas. Sie sind eine Gesellschaft, die eine Ordnung bildet. Sie sind eine Theatergesellschaft. Sie sind eine Ordnung durch die Beschaffenheit ihrer Kleidung, durch die Haltung ihrer Körper, durch die Richtung ihrer Blicke.

41

Zunächst erfolgt kaum mehr als die bekannte Durchbrechung der vierten Wand. Die Sprecher auf der Bühne wenden sich direkt an das Publikum – eine Technik, die Mitte der 60er Jahre kaum mehr innovativ war. Während jedoch übliche Formen der Durchbrechung der vierten Wand das Verhältnis von Darstellern und Rezipienten nicht ändern, nimmt Handke ergänzend dazu eine Verkehrung vor: Es wird behauptet, dass diejenigen, die auf der Bühne sind, kein Drama spielen, während zugleich denjenigen, die vor der Bühne sitzen, erklärt wird, dass sie etwas darstellen. Dies sich vergegenwärtigend, ist der Titel des Stücks nicht konsequent. Beschimpft wird von der Bühne die Gruppe von Menschen, denen die Sprecher auf der Bühne das Publikum-Sein zumindest absprechen, da sie zu Darstellern erklärt werden. Handkes Metadrama unterläuft damit permanent die Grenzen zwischen Illusionsbildung und Antiillusionismus und konstruiert so eine Gegenrealität, die nicht darauf zielt, auf gesellschaftliche Entwicklungen und Missverhältnisse hinzuweisen und in diesem Sinne aufzuklären. Es schürt stattdessen Zweifel an der Verlässlichkeit der Aussagen. In der Forschung wird dieser Punkt vielfach nicht präzise gesehen. So betont June Schlueter: „Once the role reversal has been achieved, the speakers can concentrate on their ultimate goal, which is to make the audience aware of the fact that it is an audiance and as such has the primary obligation of consciousness.“42

41 Ebd., S. 25. 42 June Schlueter: The Plays and Novels of Peter Handke. Pittsburgh 1981, S. 21, Hervorhebung im Original.

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Und Michael Linstead hält fest: „His [Handkes] method is a concentration on words, which, through their contradictions and mode of presentation, allow no chance for a plot or individual story to be constructed.“43 Wie wenig diese Beobachtungen hinreichend sind, dürfte das zuletzt angeführte Zitat aus Handkes Stück veranschaulichen. In Publikumsbeschimpfung geht es weniger darum, dem Publikum seinen Status als Publikum zu vergegenwärtigen, sondern das Verhältnis von Darstellern und Publikum zu verkehren. Indem die Sprecher auf der Bühne im Sprechakt das Publikum zu Darstellern machen, führen sie zwei Betrachtungsebenen ein (statt der sonst üblichen einen Betrachtungsebene). Durch die Herstellung einer Gegenrealität im Sprechakt überkreuzt sich das Verhältnis von Sender und Rezipient: Wenn im Parkett die Darsteller sitzen, stehen auf der Bühne Zuschauer. Hinzu tritt eine zweite Ebene der Betrachtung; denn da das Publikum zum Darsteller qua Sprechakt gemacht wird, wird es zugleich aufgefordert, sich quasi als Beobachter zweiter Ordnung zu sich selbst ins Verhältnis zu setzen, sich selbst bei seiner Selbstdarstellung zu betrachten. Indem das Drama die theatrale Rezeptionssituation zu berücksichtigen behauptet, kann diese Dynamik und das Ineinander von Gattungs- und Institutionenkritik in der Inszenierung akzentuiert werden, was seinerseits durch den Wortwitz des Stücks potenziert wird. Deswegen ist es befremdlich, wenn in der Handke-Forschung Publikumsbeschimpfung teilweise der dramatische Status abgesprochen wird. Rolf Günter Renner etwa nennt das Drama einen „Essay“44 und fordert, es als „Text“ zu sprechen.45 Was in solchen Forderungen zum Ausdruck kommt, ist jedoch einzig und allein ein Dramen- und Theaterverständnis, dessen zentrale Bezugsgrößen illusionistische Dramatik, Einfühlung und vermeintlich realistische Charaktere sind. Angesichts seines radikalen Antiillusionismus und seiner Metatheatralität46 ist das nicht überzeugend. Die Publikumsbeschimpfung immanente Ästhetik ist als eine ganz auf die Fabel verzichtende Form dramatischer Episierung zu begreifen, die Brecht nicht nur weiterentwickelt, sondern entschieden variiert.47 Schließlich

43 Michael Linstead: Outer World and Inner World. Socialisation and Emancipation in the works of Peter Handke, 1964-1981. Frankfurt/M., Bern, New York 1988, S. 39. 44 Rolf Günter Renner: Peter Handke. Stuttgart 1985, S. 34. 45 Ebd., S. 35. 46 Zur Metatheatralität an sich und zumal bei Handke vgl. Sibylle Baumbach, Ansgar Nünning: An Introduction to the Study of Plays and Drama. Stuttgart 2009, S. 170f. 47 Deswegen ist Renner: Peter Handke, S. 36 zuzustimmen, wenn er mit Blick auf Publikumsbeschimpfung festhält: „So begründet sich in der Tat aus dem Antitheater ein neues Theater; die Publikumsbefreiung bleibt aus, weil das Stück dem verhaftet bleibt,

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grenzt Handke die emotionale Beteiligung des Publikums während der Aufführung nicht aus (anders als Müller in Zement, hier wird die direktere BrechtNachfolge erkennbar). Handke versucht, das Theaterverständnis ironisch zu brechen, was die Rezipienten nicht nur verstehen, sondern woran sie sich zudem erfreuen (dürfen/sollen). Publikumsbeschimpfung zielt, wenn überhaupt, nur am Rande auf die Gesellschaft außerhalb des Theaters und referiert stattdessen entschieden auf seine gemeinsamen Voraussetzungen: das Theater und die Literatur.48 Wolf Gerhard Schmidt geht in Zwischen Antimoderne und Postmoderne von einer weiterhin fundamentalen Zweiteilung der Dramatik aus: von aristotelischillusionistischer und episch-distanzierender Dramatik. Wie zweifelhaft eine solche Zweiteilung nach dem Tod Brechts wird, haben die vorausgehenden Überlegungen verdeutlicht.49 So unterschiedlich Zement, Die Ermittlung und Publikumsbeschimpfung sind – sie bauen alle auf Techniken auf, die ihren entscheidenden Impuls Brecht verdanken. Sie wollen desillusionistisch oder antiillusionistisch wirken und vermeiden figurenbezogene Einfühlung. Gleichwohl ist damit das Mitleid nicht erledigt. In Weiss’ dokumentarischem Drama soll es provoziert werden, ohne dass es die Ratio verhindert.50 Dies gelingt, da der epische Bericht entschieden auf die Ebene der Figurenrede verlagert wird, wodurch Handlung weitgehend zum Erliegen kommt. Ihrem Anliegen entsprechend, ist die Form konsequent desillusionierend. Ebenfalls desillusionierend verfährt

wogegen es rebelliert, das Spiel gegen die dramatischen Mittel ist an keiner Stelle eines ohne diese, entzieht sich nirgends den Voraussetzungen des Theaters.“ 48 Vgl. Pfister: Das Drama, S. 327-330. 49 Die bereits wiederholt diskutierte Frage, inwieweit zeitgenössische Theatertexte als ‚Dramen‘ zu bezeichnen und zu begreifen sind, muss an dieser Stelle nicht fortgeführt werden. Ein auf Dialogizität basierendes Dramenverständnis könnte sich beispielsweise auf Käte Hamburger berufen: „Unter dem Gesichtspunkt der Ordnung der Dichtungsgattungen kommt es weder auf den jeweiligen Stil noch auf die prinzipielle Mächtigkeit der Erzählfunktion an, das äußere und innere Dasein der Gestalten in anderer, umfassenderer Weise zur Darstellung bringen zu können als das Drama, sondern primär nur auf die spezifisch fiktionale Funktion der Erzählfunktion als solcher. Denn der sprachlogische Ort des Dramas im System der Dichtung ergibt sich allein aus dem Fehlen der Erzählfunktion, der strukturellen Tatsache, daß die Gestalten dialogisch gebildet sind.“ Hamburger: Die Logik der Dichtung, S. 174. 50 Vgl. auch Martin Esslin: Peter Weiss: Dramatiker jenseits von Brecht und Beckett, in: ders.: Jenseits des Absurden. Wien 1972, S. 147-153.

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Müller, der allerdings im Unterschied zu Weiss auf episierende Verfahren zurückgreift, die die Figurenrede verhindern bzw. unterbrechen.51 Mit Handkes Sprechstück schließlich wird der Welt außerhalb des Theaters der Rücken gekehrt; das Publikum wird aufgefordert, seine eigenen Erwartungen zu ironisieren. Müller und Handke brechen beide mit dem Dialog, jener punktuell, dieser umfassend. Damit sind die hier vorgestellten Dramen zweifellos für die formale Entwicklung des Dramas von zentraler Bedeutung. Fragwürdig erscheint es hingegen, einzelnen von ihnen einen herausragenden Status zuzuschreiben. Wenn Hanna Klessinger davon spricht, dass die Uraufführung von Publikumsbeschimpfung 1966 als „Geburtsstunde der Postdramatik gelten“52 könne, reduziert das nicht nur die formale Vielfalt der Nachkriegsdramatik auf ein einzelnes Moment. Die Behauptung, dass hier etwas gänzlich Neues entsteht, ersetzt die formale Analyse durch ein kaum begründetes theaterkritisches Urteil, das seinen Ursprung im westdeutschen Theater-Diskurs hat. Der Blick auf das vermeintlich Innovative ersetzt die Analyse der historischen Produziertheit durch die Nacherzählung bestehender Narrative. Eine neue dramatische Form namens Postdramatik lässt sich auf diese Weise nicht begründen und eine solche Argumentation verhindert zugleich die formale Komplexität des dramatischen Diskurses in Gestalt von Gemeinsamkeiten und Differenzen wahrzunehmen. So unterschiedlich im Hinblick auf die Wirkungsabsichten die dargestellten episierenden Techniken sind, gemeinsam zielen sie darauf, Handlung zu verhindern, und gegen bloße Illusionierung. Doch anders als bei Müller schließen die beiden anderen Beispiele Affektprovokation beim Rezipienten nicht aus. Weiss’ Theater der Agitation gesteht sich ein, dass es nicht ausschließlich auf Brecht vertrauen darf, wenn es sein Publikum zum politischen Handeln bewegen will. Doch auch wenn Handke ebenfalls auf Affektproduktion setzt, so heißt das nicht, dass sich Weiss und Handke an diesem Punkt ähneln: Weiss setzt auf Schrecken im Angesicht des Dargestellten; Handke auf ein ironisches, antiillusionierendes Lächeln über sich selbst.

51 Vgl. auch Martin Esslin: Episches Theater, das Absurde und die Zukunft, in: ders.: Jenseits des Absurden. Wien 1972, S. 197-206. 52 Klessinger: Postdramatik, S. 101.

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2.

I CH -D RAMATIK : S UBJEKTIVIERUNG UND A NWESENHEIT DES A UTORS IM D RAMA

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DIE

Die bisherigen Hinweise zu Formen der Episierung, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts ankündigen und seit seiner Mitte ausdifferenzieren, könnten den Eindruck erwecken, dass sie die einzigen wesentlichen formalen Veränderungen des Dramas sind. Dass dem nicht so ist, kündigt die Theorie des modernen Dramas an. Wie dargelegt, nennt Szondi die expressionistische Ich-Dramatik, in der ein Ich sich fragmentiert zur Welt in Beziehung setzt, als ersten dramatischen Lösungsversuch für die Krise des Dramas.53 Damit ist neben der Episierung die zweite Herausforderung von Handlung und Dialog benannt: die Monologisierung bzw. Subjektivierung des Dramas, was in den Studien zur vermeintlichen Postdramatik bzw. zum nicht mehr dramatischen ‚Theatertext‘ bezeichnenderweise nur peripher berührt wird. Ergänzend zur Ich-Dramatik wird in der Theorie des modernen Dramas dem Monolog bzw. dem Monologue intérieur ein eigenes Kapitel gewidmet. Das ist dem Umstand geschuldet, dass sich der Monolog im modernen Drama gegenüber dem Dialog verselbständigt. Sei es als großartiger heroischer Monolog, sei es als Beiseite-Sprechen – der Monolog wird im klassischen und klassizistischen Drama meist benutzt, um retardierend und/oder spannungserzeugend zu wirken. Im modernen Drama dagegen hat sich die Situation, wie dargelegt, verändert. Indem Szondi betont, dass im monologischen Drama der „naturalistische Romancier“, „ein Erbe Zolas“, weiterlebe,54 veranschaulicht er zugleich etwas anderes. Die, die hier sprechen, sind Typen, Figuren und Charaktere; ihre Darstellung bleibt dem illusionistischen Repräsentationstheater verpflichtet. Vergegenwärtigt man sich diesen Sachverhalt, überrascht es nicht, wenn die ästhetische Weiterentwicklung des monologischen Dramas genau an diesem Punkt ansetzt. Wie bereits im vorhergehenden Kapitel erörtert wurde, reagiert die fortschreitende Episierung nicht nur auf die Gesellschaft außerhalb des Theaters, sondern auch auf das Theater selbst. Im Anschluss an Publikumsbeschimpfung publizierte Handke weitere sogenannte ‚Sprechstücke‘. Eins von ihnen, Selbstbezichtigung, ist dem ersten Eindruck nach ein einziger Monolog. Jeder, der ersten 16 Absätze, beginnt mit dem Personalpronomen „Ich“. Nun ist das ausschließlich monologische Drama in der Dramengeschichte an sich nichts Neues. Neben der Selbstrede in Anwesenheit Dritter, die Szondi primär vor Augen steht,

53 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 96-99. 54 Ebd.

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finden sich Monologe, die sich in äußerer Einsamkeit ereignen. Es wurde schon das aus der Scholastik stammende soliloquium erwähnt. Angesichts dessen ist das Aufkommen eines Stücks wie Selbstbezichtigung vielleicht vordergründig nicht überraschend. Vom alten, im Naturalismus problematisch gewordenen Monolog unterscheidet sich Selbstbezichtigung in zweierlei Hinsicht: Zum einen wird das Ich nicht durch eine Geschichte oder eine Handlung gerahmt. Zum anderen bleibt offen, ob das Ich, das hier spricht, ein Individuum, eine Gruppe oder ein Kollektiv ist. Handke hat zu dem Stück folgende Anmerkungen formuliert: Dieses Stück ist ein Sprechstück für einen Sprecher und eine Sprecherin. Es gibt keine Rollen. Sprecherinnen und Sprecher, deren Stimmen aufeinander abgestimmt sind, wechseln einander ab oder sprechen gemeinsam, leise und laut, mit sehr harten Übergängen, so 55

dass sich eine akustische Ordnung ergibt.

Doch darf aus diesen Hinweisen nicht abgeleitet werden, dass im Sprechtext eine klare Markierung von 2 Sprechern erfolgt. Der Sprechtext beginnt folgendermaßen: Ich bin auf die Welt gekommen. Ich bin geworden. Ich bin gezeugt worden. Ich bin entstanden. Ich bin gewachsen. Ich bin geboren worden. Ich bin in das Geburtenregister eingetragen worden. Ich bin älter geworden. Ich habe mich bewegt. Ich habe Teile meines Körpers bewegt. Ich habe meinen Körper bewegt. Ich habe mich auf der Stelle bewegt. Ich habe mich von einem Ort zum andern 56

bewegt. Ich habe mich bewegen müssen. Ich habe mich bewegen können.

Selbst wenn Handke einen Sprecher und eine Sprecherin fordert, markiert er trotzdem nicht, wann diese und wann jener spricht. Weder finden sich im Sprechtext Nebentexte, die das gemeinsame Sprechen regeln, noch ist klar, ob der Wechsel zwischen den Sprechern z.B. Satz für Satz oder Absatz für Absatz erfolgen soll. Letztlich evoziert der einleitende Nebentext nicht mehr als die Forderung, den Text mithilfe von zwei Stimmen zu inszenieren. Die konkrete Ausgestaltung dagegen stellt der Text der Regie anheim. Dieses Vorgehen lässt den Rückschluss zu, dass es Handke in erster Linie um die Provokation einer

55 Peter Handke: Selbstbezichtigung, in: ders.: Die Theaterstücke. Frankfurt/M. 1992, S. 57-78, hier S. 60. 56 Ebd., S. 61.

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Diskrepanz zwischen Text und Inszenierung geht. Denn durch die frappierende Dominanz des Personalpronomens „Ich“ auf der einen Seite und durch die Forderung nach zwei Stimmen für die Aufführung auf der anderen wird die Frage aufgeworfen, wer hier spricht: ein Ich (vielleicht mit gespaltener Persönlichkeit)? Zwei Ichs? Ein Kollektiv, dessen Individuen zu hören sind? Gleichzeitig wird, indem das Ich nicht in einem fiktiven Handlungsrahmen oder aber als selbst handelnd dargestellt wird, die Frage aufgeworfen, ob es anderweitig identifiziert werden kann. Das Ende des Stücks gibt auf diese Frage eine ambivalente Antwort: Ich bin nicht, was ich gewesen bin. Ich bin nicht gewesen, wie ich hätte sein sollen. Ich bin nicht geworden, was ich hätte werden sollen. Ich habe nicht gehalten, was ich hätte halten sollen. Ich bin ins Theater gegangen. Ich habe dieses Stück gehört. Ich habe dieses Stück gespro57

chen. Ich habe dieses Stück geschrieben.

Während Handke in Publikumsbeschimpfung auf die Überkreuzung von Darstellern und Publikum setzt, nivelliert er in Selbstbezichtigung die Grenzen zwischen den verschiedenen Gruppen im Theater. Die beiden Stimmen, die sprechen, sind Publikum, Darsteller und Autor. Dieses Vorgehen korrespondiert mit Pirandellos und Weiss’ dramaturgischem Autor (allerdings sagt dieser in Die Ermittlung nicht „Ich“). Diese Dramen markieren Möglichkeiten, mit der Abwesenheit des Autors im Drama zu brechen. Die einzige Bastion, die ein Ich, das der Rezipient mit dem empirischen Autor identifiziert bzw. identifizieren kann, nicht genommen zu haben schien, war der konkrete Sprechtext in Gestalt eines dramatischen Autors. Mit Selbstbezichtigung („Ich habe dieses Stück geschrieben.“) ist auch das hinfällig. Die Episierung verbündet sich mit der Ich-Dramatik. Gemeinsam führen sie die Subjektivierung des dramatischen Textes und damit auch Handlung und Dialog an ihre Grenzen. Wird ergänzend dazu auf die literarische Produziertheit des Dramas verwiesen, eröffnet sich ein Spielraum, der die Annahme, hier spreche der empirische Autor bzw. ein Schauspieler, der diesen repräsentiert, zwar keinesfalls notwendig macht, aber zulässt. Und gerade weil konventionellerweise von der Abwesenheit des Autors im Drama ausgegangen wird, fordert der letzte Satz von Selbstbezichtigung auf, den dramatischen Text als Äußerung des empirischen Autors zu deuten. In der Handke-Forschung sind die Konsequenzen, die sich aus seinen frühen Sprechstücken ergeben, in formgeschichtlicher Hinsicht nicht umfassend gese-

57 Ebd., S. 78.

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hen worden.58 Renner betont den sprachphilosophischen Aspekt: „Durch diesen grammatischen Reduktionismus versucht das Stück zu zeigen, daß sich jede individuelle Äußerung verändert, wenn sie sich den Regeln der Grammatik unterstellt.“59 Selbstbezichtigung wird Renner zu einer literarischen Vorwegnahme von Derridas Grammatologie (was diese unter- und jene überschätzt), ergänzt um einige Momente von Handkes Biografie: „Die vermeintlich persönliche Aussage, die in die Form des katholischen Beichtspiegels gebracht wird, sagt in Wahrheit nichts aus über eine bestimmte Person, ist allein das Subjekt der Sätze, das auf der Bühne vorgestellt werden soll.“60 Eine solche Deutung perspektiviert Handkes Stück ausschließlich im Hinblick auf dessen Intentionen und berücksichtigt dabei weder formgeschichtliche noch rezeptionstheoretische Aspekte – ein insbesondere in der älteren Handke-Forschung übliches Vorgehen.61 Dadurch wird aber nicht nur Handkes Dramatik auf ihren Autor reduziert. Indem das sprachphilosophische Moment von Selbstbezichtigung einseitig betont wird, gerät dessen innovatives dramatisches Formpotential in den Hintergrund. Die Monologisierung sowie die Subjektivierung des Dramas und das damit einhergehende spielerische Annähern der Sprecherinstanz(en) im Drama an den empirischen Autor kündigen an, dass nach dem Fall von Handlung und Dialogizität mittels der Episierung auch die Abwesenheit des Dramatikers im Drama zur Disposition steht.62 Gestärkt wird durch dieses Verfahren der Antiillusionismus, den wir zuvor in Publikumsbeschimpfung beobachten konnten.

58 Vgl. Ernst Wendt: Moderne Dramaturgie. Bond und Genet, Beckett und Heiner Müller, Ionesco und Handke, Pinter und Kroetz, Weiss und Gatti. Frankfurt/M. 1974, S. 70: „Der Text übernimmt die Form einer Beichte, einer Konfession und spielt in ihr die zu sprachlichen Hohlformen heruntergekommene, von Wörtern reglementierte Existenz der Zuschauer durch. Der Konflikt zwischen den Individuen und den Verboten wird im Sprach-Spiel durchexerziert und zugleich spielerisch überwunden, abgelegt [...].“ 59 Renner: Peter Handke, S. 37. 60 Ebd., S. 37f. 61 Vgl. June Schlueter: The Plays and Novels of Peter Handke, S. 31f.: „[...], the ‚I‘ of Self-Accusation is not intended to be autobiographical or even personal (despite the similarities between the concerns of this protagonist and those of the young Handke in the essay 1957). The ‚I‘ is rather the voice of a generalized human being; the progression from innocence to experience, from the undifferentiated world of childhood to the adult world of restraints, suggests the universal experience of everyone.“ 62 Zu den historischen Vorformen dieser Entwicklung und der Formvielfalt vgl. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 611-641.

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3.

S INN

OHNE

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H ANDLUNG ?

Absurde Dramatik als Verlusterfahrung Anders als in der etablierten Komödie,63 die nicht zuletzt darauf zielt, die strukturellen Widersprüche der Gesellschaft lächerlich und damit kenntlich zu machen, geht die Dramatik des absurden Theaters von der fundamentalen Absurdität der Welt aus. Teilt man diese Weltsicht, ist es nur konsequent, wenn gar nicht erst beansprucht wird, die Welt zu ändern oder gar zu verbessern. Ihr das vorzuwerfen, hieße letztlich nichts anderes, als ihr philosophisches Fundament zu missachten: „Das Theater des Absurden verzichtet darauf, über die Absurdität der menschlichen Existenz zu diskutieren; sie stellt sie einfach dar als konkrete Gegebenheit – das heißt: in greifbaren szenischen Bildern.“64 An dieser Stelle ist es freilich geboten, mit den dramentheoretischen Überlegungen kurz innezuhalten, um das Verhältnis von Absurdem und Realität weitergehend zu diskutieren, da es sich in den letzten Jahren zumindest im Hinblick auf Warten auf Godot verschoben hat. Pierre Temkine hat vor einigen Jahren begonnen, die Überlegungen seines Großvaters Valentin Temkine zu bündeln und in einem Interview auf den Punkt zu bringen. Seine zentrale (bis heute bedauerlicherweise nur punktuell diskutierte) These lautet, dass Wladimir und Estragon nicht etwa geschichtslose Figuren in einer absurden Welt sind, die keine Anbindung an das Außerhalb des Theaters hat, sondern dass die beiden Pariser Juden auf der Flucht vor den Nazis sind und auf einen Berufsschleuser im Niemandsland zwischen Frankreich und Spanien warten.65 Temkines Thesen sind, soweit sie der Verfasser zu überprüfen vermag, überzeugend. Die Frage ist, was sie im Hinblick auf die bisherigen Forschungen zum absurden Theater bedeuten. Schon früh hat Martin Esslin, auf Ionesco Bezug nehmend, betont, dass ‚absurd‘ in erster Linie als ‚ziellos‘ und „losgelöst von seinen religiösen, metaphysischen oder transzendentalen Wurzeln“66 zu begreifen ist. Absurdes Theater ist

63 Zur Tradition vgl. Martin Esslin: Das Theater des Absurden. Reinbek bei Hamburg 1965, S. 250-308; zur Problematik, die Komödie theoretisch zu fassen, vgl. Stephan Kraft: Zum Ende der Komödie. Eine Theoriegeschichte des Happyends. Göttingen 2011, passim. 64 Ebd., S. 15; Hervorhebung im Original. 65 Pierre Temkine: Warten auf Godot. Das Absurde und die Geschichte. Hg. v. Denis Thouard, Tim Trzaskalik. Berlin 2008. 66 Esslin: Das Theater des Absurden, S. 14.

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vielfach handlungsloses Theater. Dieser Umstand wird gerne übersehen, weil absurdes Theater mit geradezu clownesker Situationskomik arbeitet und deswegen Situationswechsel kennt.67 Die Handlungslosigkeit wird ihrerseits gepaart mit einem großen Motivreichtum, der im Fall von Warten auf Godot vor theologischen Anspielungen nicht Halt macht und deswegen die Frage nach dem Sinn des Dramas immer wieder provoziert. In dem Moment aber, in dem Handlung ausfällt, ist die Behauptung von Sinn nicht möglich. Ein Sein, das nur ist, hat keinen Sinn – es sei denn, sein Sinn wird aus seinen Existenzerfahrungen abgeleitet (wegen dieser Geworfenheit ist vielfach Becketts Nähe zum Existenzialismus betont worden).68 In Studien zu Becketts Endspiel wird bereits seit längerem das Elend der Welt betont, das seinerseits Voraussetzung ist für das Lachen, das kein Ergebnis der Komik ist, die aus gesellschaftlichem Widerspruch resultiert, sondern die einzig und allein dazu dient, den Schmerz angesichts des Elends zu sublimieren.69 Christoph Menke hat diesen Umstand auf den Punkt gebracht: Es sind „die Strategien der Komik, des Lächerlichmachens und -nehmens [...], die das Unglück hervorbringen. Das Endspiel ist ein Spiel vom Ende des Spiels; das Spiel vom Ende, vom Scheitern des Versprechens auf eine andere, befreite Praxis durch die Strategie des ästhetischen Spiels.“70 Das berücksichtigend, stellt sich die Frage, ob Endspiel im skizzierten Sinne zum absurden Theater zu zählen ist. Schließlich geht ihm damit jene Ziellosigkeit ab, die Warten auf Godot eigen ist. Wladimir und Estragon wären froh, wenn ihr Spiel endlich beginnen würde – egal, wie es auch endet. Man kann ihr Warten als Negativität begreifen, wie Szondi es tut. Dann ist es nur konsequent, Becketts Drama als Konversationsstück zu verstehen und ihm damit sein indirektes Scheitern als „Rettungsversuch“ zu attestieren. Vor allem aber muss es angesichts der Überlegungen von Temkine als ein absolutes Ausgeliefertsein gedeutet werden. Dann ist die Warten auf Godot zugrunde liegende Absurdität nicht Ausdruck einer philosophischen Theorie, sondern einer menschlichen Erfahrung – konkret der Judenverfolgung und ‑vernichtung durch die Nationalsozialisten. Daraus sollte nicht gleich gefolgert werden, dass Szondi in Becketts Drama einen Lösungsversuch hätte sehen können oder gar müssen. Aber die „Unerfülltheit der dramatischen Form“ muss

67 Vgl. ebd., S. 32f. 68 Vgl. ebd., S. 45f. 69 Vgl. Wendt: Moderne Dramaturgie, S. 46-53. 70 Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt/M. 2005, S. 201; vgl. auch Koch: Das Leben ein Spiel, die Welt ein Theater?, S. 163-167.

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nicht die Folge einer ‚Aushöhlung‘ der Konversation sein, wie Szondi meint.71 Sie kann auch Ausdruck einer Erfahrung absoluten Verlustes sein, wie Esslin betont hat:72 Wenn aber Becketts Verwendung der Sprache darauf abzielt, die Sprache als Medium begrifflichen Denkens oder als Mittel zur Kommunikation fertiger Antworten auf die Fragen des menschlichen Daseins abzuwerten, ist seine schriftstellerische Tätigkeit doch wieder ein Versuch, sich seinerseits verständlich zu machen, das Nicht-Mittelbare mitzuteilen. Sein Verhalten mag paradox erscheinen, es ist aber trotzdem sinnvoll. Beckett wendet sich gegen jene Leute, die in billiger und leichtgläubiger Selbstgefälligkeit meinen, ein Problem zu benennen, heiße schon, es zu lösen, säuberliches Formulieren und Klassifizieren seien Mittel, um das Dasein zu bewältigen. Solche selbstgefälligen Versuche sind von 73

vornherein zum Scheitern verurteilt.

Groteske Dramatik: uneigentliche statt aussichtslose Welt Becketts Drama der Verlusterfahrung verhält sich zum aristotelischen Dramenverständnis der Tragödie. Wie aber sind komische, etwa auf Pirandello zurückgehende Formen zu beurteilen?74 Eine Antwort liefert Ionescos Drama Die Nashörner. Hier reagieren mit dem Auftreten der ersten Nashörner in der vermeintlich realistischen Szene gleich zwei Figuren, der Logiker und Behringer, einerseits metatheatralisch-kommentierend (so jener), andererseits völlig inadäquat (so dieser). Behringer zu Hans: Ja, es scheint so, es war ein Nashorn! Das wirbelt Staub auf! Er zieht ein Taschentuch und schneuzt sich. Hausfrau: Das ist die Höhe! Hab’ ich eine Angst gehabt!

71 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 83. 72 Deswegen wäre bei der Beurteilung Warten auf Godot von Becketts anderen Dramen abzuheben, anders als dies üblicherweise getan wird; vgl. etwa Wendt: Moderne Dramaturgie, S. 59: „Beckett zeigt ein Modell, aus dem – pointiert gesagt – fürs Leben nichts, fürs Sterben viel zu lernen ist.“ 73 Esslin: Das Theater des Absurden, S. 65. 74 Vgl. zur Vorgeschichte Reinhold Grimm: Masken, Marionetten, Märchen. Das italienische Teatro grottesco, in: Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama. Hg. v. Willy Jäggi. Stuttgart 1962, S. 47-94.

108 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Händler zur Hausfrau: Ihre Tasche... Ihre Einkäufe... Der ältere Herr nähert sich der Hausfrau und bückt sich, um die am Boden liegenden Sachen aufzuheben. Er grüßt galant, indem er seinen Hut lüftet. Wirt: Nicht zu fassen... Kellnerin: Wirklich allerhand... Älterer Herr zur Hausfrau: Gestatten Sie, daß ich Ihnen behilflich bin? Hebt die Sachen auf. Hausfrau zum älteren Herrn: Ich danke Ihnen, mein Herr. Aber bitte, bleiben sie bedeckt! Oh, hab ich eine Angst gehabt! 75

Logiker: Die Angst ist irrational. Die Vernunft muß sie überwinden.

Anders als in Warten auf Godot wird die Handlung nicht durch die Ankündigung des Zukünftigen ausgesetzt, sondern kommentiert – eine Technik der Komödie. Gleichzeitig wird mittels der Sprache das Geschehen an eine vermeintliche Realität angebunden, wenn Behringer überlegt, ob die Nashörner einem Zirkus entlaufen sind.76 Formal bedeutet das: Die Handlung wird nicht absurd, sondern grotesk gestaltet. Diesen Eindruck unterstützt die dreiaktige Struktur, die der Komödie historisch betrachtet vielfach eigen war. Während in dieser jedoch die zeitweilig aus den Fugen geratene Realität abschließend wieder normiert wird, erfolgt in Die Nashörner keine solche Anpassung. Die in Nashörner verwandelten Menschen bleiben Nashörner, nur Behringer bleibt Mensch: Nun gut! Ich verteidige mich gegen alle Welt! Mein Gewehr! Mein Gewehr! Gegen alle Welt werde ich mich verteidigen, gegen alle Welt. Ich werde mich verteidigen. Ich bin der letzte Mensch. Ich werde es bleiben bis zum Ende! Ich kapituliere nicht!

77

Durch den Schluss bestätigt Ionesco das Groteske seines Stückes. Es verharrt im Abnormen und stellt das Normale nicht wieder her. Im Unterschied zur Dramatik Becketts arbeitet sich die groteske Dramatik nicht an der Aussichtslosigkeit der Welt ab, sondern stellt sie uneigentlich dar. Die groteske Dramatik ist deswegen anders als die absurde im Kern metaphorisch: Ionesco wollte hier [in Die Nashörner, K.B.] ein Bild finden für die Situation des Individuums in einer Welt seelenloser Konformisten – ob es sich dabei um die Anhänger totali-

75 Eugène Ionesco: Die Nashörner. Schauspiel in drei Akten. Aus d. Franz. v. Claus Bremer, H. R. Stauffacher. Frankfurt/M. 2009, S. 13. 76 Vgl. ebd., S. 17. 77 Ebd., S. 110f.

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tärer Systeme handelt oder um die sozialen Konformisten der WirtschaftswunderÖkonomien der sogenannten freien Welt.

78

Diesen Widerstand gegen den Konformismus steigert Ionesco in Die kahle Sängerin mittels der dem Stück inhärenten Zirkelstruktur.79 Im Unterschied zu Beckett wird die Existenz in ihrer Kreatürlichkeit nicht ausgestellt, sondern die Existenzen werden bloßgestellt.80 Dabei nähern sich beide vielfach an, wenn die Kreatürlichkeit etwa in dadaistischer Lautlichkeit zur Schau gestellt wird.81 Einher geht damit, dass diese Formen „auf den objektivierenden Impetus von Gestus und Kommentar (Sprecher, Song etc.) weitgehend verzichten.“82 Das absurde und das groteske Drama stellen sich der Philosophie ihrer Zeit.83 Das ist nicht selbstverständlich, sondern liegt an einer barock anmutenden Affinität zum Theater: „In dieser Wahrnehmung des Verhaltens liegt der Riss des modernen Existentialismus. Er bemerkt eine Differenz zwischen dem Sein des Menschen und einer Rolle, die er spielt.“84 Beckett und Ionesco überantworten das Bewusstwerden dieser Differenz gänzlich dem Rezipienten. Sich dies vergegenwärtigend, ist ihrer Dramatik in einem fundamentalen Sinne eine Wahlfreiheit eigen, da der Rezipient aufgefordert wird, sich zum Drama zu verhalten. Das mag ein Grund sein, weswegen sich Überlegungen zur ‚Postdramatik‘ mit der

78 Martin Esslin: Der Blick in den Abgrund. Das Groteske im zeitgenössischen Drama in Frankreich, in: Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama. Hg. v. Willy Jäggi. Stuttgart 1962, S. 95-122, hier S. 112. 79 Vgl. Eugène Ionesco: Die kahle Sängerin. Anti-Stück. Aus d. Franz. übers. v. Serge Stauffer. Nachw. v. Hanspeter Plocher. Stuttgart 1987, S. 47: „(Plötzlich bricht es ab. Die Bühne wird langsam wieder hell. Die Martins sitzen an der gleichen Stelle wie die Smith’s zu Beginn des Stückes. Das Ganze fängt von vorne an, die gleichen Sätze werden gesprochen, während der Vorhang langsam fällt.)“ 80 Vgl. auch Esslin: Das Theater des Absurden, S. 97-158. Gerade weil im Zentrum des absurden wie des grotesken Dramas die Existenz steht, muss fraglich bleiben, ob es gerechtfertigt ist, im Hinblick auf derartige dramatische Formen von einer „Poesie des Nichts“ zu sprechen, wie es Franzen getan hat; vgl. Erich Franzen: Formen des modernen Dramas. Von der Illusionsbühne zum Antitheater. München 1961, S. 120-143. 81 Vgl. dazu bspw. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 620-622. 82 Ebd., S. 611. 83 Esslin: Das Theater des Absurden, S. 309-337; vgl. auch Rüdiger Görner: Die Kunst des Absurden. Über ein literarisches Phänomen. Darmstadt 1999, S. 86-99. 84 Bernd Stegemann: Einleitung, in: Lektionen 1. Dramaturgie. Hg. v. dems. Berlin 2009, S. 9-41, hier S. 18.

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absurden Dramatik schwertun. Klessinger etwa macht Beckett immerhin zu einem „Vorbild und Zeitgenossen“ der ‚Postdramatik‘.85 Ionesco hingegen bleibt gänzlich unerwähnt,86 obwohl beispielsweise die Lautlichkeit seiner Stücke von dezidiert postdramatischer Qualität ist. Aber sie ist eben kein formales Kriterium eines literarischen Textes, so dass die absurde Dramatik Ionescos die Behauptung einer ‚Postdramatik‘ ad absurdum führt, da sie offenbar verhindert, Differenzen wahrzunehmen.

4.

D IE G ESELLSCHAFT AD ABSURDUM M ETATHEATRALITÄT UND K OMIK

FÜHREN :

Bitterer Karneval Früh ist die Andersgeartetheit von Genets Dramatik im Vergleich zu der Becketts oder Ionescos betont worden. Esslin etwa hat in den 60er Jahren festgehalten: „Genets dramatisches Werk ist im tiefsten Grunde ein sozialer Protest.“87 Dieser äußert sich in Gestalt permanenter Spiegelungen und Spiel-im-SpielSituationen, die zum Beispiel Die Zofen durchziehen: Claire: Es bleibt uns nur übrig, diese Leben weiterzuleben, das Spiel fortzusetzen. Solange: Unglückliche! Selbst das Spiel ist gefährlich. Ich bin sicher, wir haben Spuren hinterlassen. Durch deine Schuld. Wir hinterlassen jedes mal welche. Ich sehe eine Unzahl von Spuren, die ich niemals werde auslöschen können. [...] Alles wird uns anklagen. Der Abdruck deiner Schultern in den Vorhängen, mein Gesicht in den Spiegeln, das Licht, das an unsere Narrheiten gewöhnt war, das Licht wird alles gestehen. Alles ist verloren durch deine Ungeschicklichkeit.

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Die Anklage Solanges führt dazu, dass für einen Moment die gesellschaftliche Gleichstellung der beiden Zofen deutlich wird. Denn ihr Vorwurf gegen Claire ist Folge der Angst, die gnädige Frau könne nach Hause kommen und erahnen, dass die beiden Zofen nicht gearbeitet, sondern Dame und Zofe gespielt haben. Das Spiel ermöglicht Einsicht in die eigene gesellschaftliche Situation, doch er-

85 Klessinger: Postdramatik, S. 80-100. 86 Der im folgenden Kapitel behandelte Genet wird immerhin noch einmal erwähnt. 87 Esslin: Das Theater des Absurden, S. 186. 88 Jean Genet: Die Zofen, in: ders.: Alle Dramen. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 39-79, hier S. 57.

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möglicht es nicht ihre Veränderung. Ein Aufbegehren gegen die gnädige Frau wird erwogen, scheitert jedoch. Stattdessen kehren die beiden Zofen zu ihrem Spiel zurück, auch wenn dieses seinen Reiz verloren hat: Claire: (Legt sich auf das Bett der gnädigen Frau) Ich wiederhole. Unterbrich mich nicht mehr. Hörst du mich? Gehorchst du mir? (Solange nickt) Ich wiederhole. Meinen Tee! Solange: (Zögernd) Aber... Claire: Ich sage meinen Tee. Solange: Aber gnädige Frau... Claire: Gut, weiter. Solange: Aber gnädige Frau, er ist kalt. Claire: Ich trinke ihn trotzdem. Gib. (Solange bringt das Tablett.) Du hast ihn in das prächtigste und wertvollste Service gegossen...

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Gegen Ende changiert das Stück immer rascher zwischen den beiden Spielebenen und dieser Wechsel wird zudem thematisiert – bzw. zu ihm wird aufgefordert („Gut, weiter.“). Gleichzeitig kann Claire, die zuletzt die gnädige Frau spielt, ihre Rolle nicht durchhalten und kommentiert ihrerseits, um sich selbst zu bestätigen, dass sie im Moment der Aussprache die gnädige Frau spielt: Mehr als ein Spiel der Zofen wird es nicht geben, ein Ausbruch aus den gesellschaftlichen Hierarchien ist nicht vorgesehen. Genet arbeitet also mit Techniken, die aus dem absurden Drama bekannt sind, doch bleibt nicht mehr als frustrierte Einsicht in die Unabänderlichkeit der Gesellschaft: „So erkennen sie also voller Haß in dem Spiegel, den sie sich gegenseitig vorhalten, das verzerrte Spiegelbild der gesicherten Welt ihrer Herren, die sie verkehren, nachäffen und verabscheuen.“90 Die Dramatik Genets ist damit im eigentlichen Sinne nicht absurd oder grotesk – allein schon deswegen, weil sie nicht auf die Referenz verzichtet. Vielmehr führt Die Zofen in eine karnevaleske Situation ein, die metaphorisch mit Bachtin als „Feiertag“ begriffen werden kann: „Der Feiertag setzte gleichsam das ganze offizielle System mit allen seinen Verboten und hierarchischen Schranken zeitweilig außer Kraft. Für kurze Zeit trat das Leben aus seiner üblichen, gesetzlich festgelegten und geheiligten Bahn [...].“91 Die gesellschaftliche Hierarchie wird für die Zeit der Abwesenheit der herrschenden Dame konterkariert und überspitzt, gerade indem sie nicht außer Kraft gesetzt wird (etwa

89 Ebd., S. 79. 90 Esslin: Das Theater des Absurden, S. 166. 91 Vgl. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 33.

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durch fehlende Realitätsreferenz), sondern nachgeahmt wird. Das Spiel ist Kritik und zugleich Bestätigung der herrschenden Verhältnisse. Dem Theater des Absurden sehr verwandt, wird das vorklassische Komödienverständnis aktualisiert. Die Folge ist eine Aufwertung des Komischen im ästhetischen Diskurs, weil es hier nicht an das bloß Unterhaltende rückgekoppelt wird. Es erlaubt vielmehr zweierlei: a. Techniken des Komischen werden genutzt, um selbstreferentiell über Theatralität nachzudenken und künstlerisch eigene Formfragen zu thematisieren und dadurch zu kritisieren. Zugleich wird b. die traditionelle Verbindung aus ,ernsten‘ Themen und Tragödie im Kontrast zu ,leichten‘ Themen und Komödie durchkreuzt – ähnlich wie bei Dürrenmatt, auf dessen Komödientheorie wir am Ende dieses Kapitels IV zu sprechen kommen werden. Zuvor gilt es jedoch, die hier skizzierte Entwicklung auszudifferenzieren. Lachen im Angesicht des totalen Schreckens Wie wirkungsmächtig diese Neuakzentuierung innerhalb der Dramenästhetik gewesen ist (zumal außerhalb Deutschlands), verdeutlicht ein Beispiel aus der amerikanischen Bibel-Dramatik – einer Dramenform, die auf deutschsprachigen Bühnen wie im literaturwissenschaftlichen Diskurs traditionell eine periphere Rolle im Verhältnis zu ihrer internationalen Stellung einnimmt. Wie komplex diese Dramatik sein kann, lässt sich am zuerst 1958 publizierten Versdrama J.B. zeigen, für das Archibald MacLeish den Pulitzer-Preis erhielt.92 Wesentlich ist in J.B. der vielfache Bezug und die Auseinandersetzung mit der Spiel-im-Spiel-Anordnung, die das biblische Hiob-Buch kennzeichnet. Das signalisiert auch das Bühnenbild: Das Stück spielt in einem alten Zirkuszelt, in dem eine rohe Bühne steht und in dem zusätzlich in etwa 2 Metern Höhe ein Holzsteg angebracht ist. Eröffnet wird das Drama mit einem Prolog, in dem zwei alte, abgehalfterte Schauspieler, Mr. Zuss und Nickles, auftreten, die sich über das zu spielende Stück unterhalten und die Rollen vergeben. Mr. Zuss will Gott spielen, Nickels soll nach Zuss’ Willen den ‚Gegner‘ („opposite“)93 spielen, also Satan. Nachdem Nickels zunächst davon ausgeht, dass er die Rolle des Hiob übernehmen wird, wendet Mr. Zuss ein, dass es immer jemanden geben wird, der Hiob ist. Es wird also ostentativ die Aktualität der Hiob-Figur betont:

92 Vgl. Grover Smith: Archibald MacLeish. Minneapolis 1971. 93 Archibald MacLeish: J.B. A Play in verse. Boston 1956, S. 14.

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Mr. Zuss: Oh, there’s always Someone playing Job. Nickles: There must be Thousands! What’s that got to do with it? Thousands – not with camels either: Milions and milions of mankind Burned, crushed, broken, mutilated, Slaughtered, and for what? For thinking! For walking round the world in the wrong Skin, the wrong-shaped noses, eyelids: Sleeping the wrong night wrong city – London, Dresden, Hiroshima. There never could have been so many Suffered more the less.

94

„London, Dresden, Hiroshima“ – kaum einmal ist der trochäische Vierheber, der gemeinsam mit einem jambischen Vierheber das Stück dominiert, eingängiger als in diesem Vers. Auch metrisch betont MacLeish damit die Geschichte des jüngsten menschlichen Elends. Das Leiden wird unabhängig von einem Freund/Feind-Schema und in einer Klimax der Zerstörung thematisiert. Das Elend des Individuums wird in den Mittelpunkt gestellt und nicht die Frage der Schuld. Dadurch vorverweist der Prolog zugleich auf die Hiob-Problematik. Jenseits dieser Stelle referiert das Drama nur dezent auf zeitgenössische Ereignisse. Auch der vergegenwärtigende und mahnende Duktus, der dem Prolog zu Beginn eigen ist („Job is everywhere we go“),95 verliert sich allmählich. Das Spiel im Spiel wird weitergetrieben und mit theatralen Mitteln seinerseits reflektiert. Mr. Zuss und Nickles steigen über die Leiter auf den Steg und legen eine Gott- bzw. eine Satan-Maske an, um das Spiel zu eröffnen – dem biblischen Wortlaut gemäß („Whence comest thou?“ – „From going to and fro in the earth“; Hiob 1,7). Doch münden diese Worte nicht umgehend in ein Nachspielen der biblischen Handlung, sondern in ein unkontrolliertes Lachen, das von der von Nickles getragenen Satan-Maske ausgeht. Mr. Zuss ist entsetzt, fordert Licht, reißt sich die Gott-Maske ab und erklärt Nickles die Rolle. Mr. Zuss thematisiert das Rollenspiel und formuliert Spielregeln. Ausschließlich ein ernsthaftes Spielen sei der Szene angemessen: „Nobody told you to laugh like that. | What’s so funny? It’s

94 Ebd., S. 12. 95 Ebd., S. 13.

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irreverent. It’s impudent. | After all, you are talking to God.“96 Mr. Zuss wird so zu einem Vertreter einer ernsthaften, naturalistischen Spielweise. Nickles will mit seinem Gelächter aber keine karikierend-kommentierende, antimimetische Spielweise dem entgegensetzen, wie man für einen Augenblick vermuten könnte und wie es sich wegen der Spiel-im-Spiel-Situation anböte. Die metatheatrale Reflexion wird durch einen überraschenden Schwenk ins Unwahrscheinliche übersteigert: Die Satan-Maske hat ein Eigenleben. Ähnlich wie in einem HorrorFilm kann sich Nickels zunächst nur schmerzhaft der Satan-Maske entledigen. Dann stellt er fest, dass er selbst fürchterliche Dinge gesehen habe, die ihn niemals hätten lachen lassen, und dass die Maske selbst gelacht habe: „If you had seen what I have seen | You’d never laugh again!“97 Noch einmal werden die Voraussetzungen des Spiels thematisiert. Auch werden Lachen und Spiel angesichts des Schreckens in ein Wertverhältnis gesetzt. Im konkreten Angesicht des Schreckens ist kein Lachen und – so darf man ergänzen – auch kein Spiel möglich. In dieser moralischen Position klingt der alte protestantische Vorbehalt gegen das Theater an, aber zugleich auch das traditionelle Gegenargument gegen ihn. Denn der Prolog zeigt in actu, dass gerade das Theaterspiel für die Schauspieler wie für die Zuschauer geeignet ist, zu sich selbst und der Welt in Distanz zu treten. J.B. ist also durch eine kritische Distanznahme provozierende Antimimetik gekennzeichnet.98 Durch diesen Zugriff wird eine spezifische Lesart des biblischen Buchs propagiert: Offenbar nicht entscheidend ist die Frage nach dem Wahrheitsgehalt und der Wahrscheinlichkeit des Hiob-Buchs. Vielmehr wird, indem das reflexive und selbstreferentielle Moment der Rahmenhandlung betont wird, das Drama genutzt, um die Fragen, die das Buch Hiob aufwirft, zu veranschaulichen. Hiob avanciert zu einer modernen Figur, für die das fundamentale theologische Problem der Theodizee und ebenso Gott nicht aufgegeben werden. Der Prolog legt kein offensives Bekenntnis ab, auch fordert er nicht Glauben beim Publikum ein. Aber er schließt die Existenz Gottes nicht aus und setzt sie zumindest indirekt voraus, weil sich die Theodizee-Problematik ohne Gott gar nicht stellt. Unterstützt wird die Tendenz, Gottes Existenz nicht auszuschließen, durch eine ‚Stimme aus der Ferne‘ („a Distant Voice“), die sich am Ende des Prologs erstmals kurz vernehmen lässt, ohne dass eindeutig wird, wer spricht.

96 Ebd., S. 21. 97 Ebd. 98

Vgl. ergänzend Georg Langenhorst: Hiob unser Zeitgenosse. Die literarische HiobRezeption im 20. Jahrhundert als theologische Herausforderung. Mainz 1994, S. 290-294.

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Die Hiob-Binnenhandlung beginnt mit der ersten von insgesamt elf Szenen. Das Setting ist – den Tendenzen des Prologs entsprechend – aktualisiert. Hiobs Familie ist eine vermögende amerikanische Familie, die zu Erntedank vor einem prächtigen Truthahn sitzt. Von Hiobs Frömmigkeit, von der die Bibel berichtet, ist die Konvention geblieben und angesichts des materiellen Wohlstands die Gewissheit, von Gott auserwählt zu sein. Der Patriarch verkürzt das Vater unser zum zwei Verse langen Tischgebet: „Our Father which art in Heaven | Give us this day our daily bread.“99 Auch die Kinder scheinen wenig an Religion und Frömmigkeit interessiert zu sein. Hektisch sprechen sie das „Amen“ nach, um sich auf den Festbraten zu stürzen. Hiobs Frau Sarah beharrt dagegen auf der ernsthaften Einhaltung der Frömmigkeitsregeln und einer (regelrecht weberschen) Verdienstethik, die Hiobs Prädestinationslehre gegenübersteht.100 Anders als der Prolog im Himmel in Faust I ist der Prolog in J.B. nicht eine einmalige Szene, die allein durch die Präsenz einer Figur fortlebt (bei Goethe durch Mephisto). MacLeish eröffnet mit dem Prolog und der ersten Szene ein Wechselspiel zwischen der Hiob-Geschichte und den beiden Schauspielern mit den Masken. Dadurch durchbricht er die Geschlossenheit der Handlung und rahmt sie nicht nur wie Goethe. Zugleich wird ein Dialog mit der Bibel eröffnet, indem eine Vielzahl von strukturellen Analogien mit dem Hiob-Buch in das Drama integriert werden. Wie in der Bibel wird im Drama der Pakt zwischen Gott und Satan zweimal geschlossen. Das führt dazu, dass die Gott- und die Satan-Maske die Worte vom Anfang des zweiten Hiob-Kapitels sprechen, die mit der Bestätigung des Pakts schließen (Hiob 2,6): „Only | Upon himself | Put not forth thy hand!“101 Wieder erklingt die ferne Stimme. Einer Souffleuse gleich spricht sie der Gott-Maske das „Only“ vor, ehe diese zu den zitierten Versen ansetzt. Dadurch werden die Rahmen- und die Binnenhandlung immer enger aneinander geführt. Die bisherige Trennung der beiden Handlungsebenen wird zwar nicht endgültig aufgehoben. Aber ab der vierten Szene können Rahmen- und Binnenhandlung auch in einer Szene stattfinden. Auf diese Weise wird das im Drama eh schon komplizierte Ineinander der beiden Handlungsebenen verstärkt. In den folgenden Akten verliert Hiob seine Kinder sowie sein Hab und Gut. Auch treten die drei Freunde Elifas, Bildad und Zofar auf, die allerdings nicht bloße Zitate der Bibel, sondern moderne Figuren sind, da sie eine religiöse Antwort auf Hiobs Schicksal ausschließen. Ernüchternd leiten die drei Freunde aus

99

MacLeish: J.B., S. 25.

100 Vgl. Langenhorst: Hiob unser Zeitgenosse, S. 283-286. 101 MacLeish: J.B., S. 52.

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dem Befund des deus absconditus die Nicht-Existenz des Sündenfalls ab und bestreiten somit Gott: Bildad: Like dying flies Across the wall Of night... Eliphaz: and shriek... And that is all. Zophar: Without the Fall...

102

Hiob akzeptiert diese Antwort nicht, wendet sich direkt an Gott und bittet angesichts seiner Ausweglosigkeit diesen um eine Antwort. Die ‚ferne‘ Stimme spricht (verkürzt) die erste Rede Gottes aus dem Wettersturm (Hiob 38-39). Hiobs Freunde können die Stimme nicht hören, sie spüren lediglich das Unwetter und gehen. Sodann spricht die Stimme Hiob erneut an, wieder sind die Worte verknappt – nun aus dem zweiten Wettersturm (Hiob 40-41). Weiterhin folgt die Handlung der biblischen Erzählung. Zuletzt löst sich Hiob von der biblischen Wörtlichkeit – aber nur, um noch einmal das biblische Buß-Programm mit klaren Worten zu bestätigen: „I abhor myself... and repent...“.103 Die Nähe zur Vorlage wird erst in der vorletzten, zehnten Szene verlassen. Mr. Zuss und Nickles erörtern Gottes Handeln, indem Nickles erneut das Theodizee-Problem aufwirft („Job was innocent, you may remember...“).104 Wie zu Beginn wird dadurch mit der vorletzten Szene die Geschlossenheit des Dramas durchbrochen, indem nun im Dialog die theologische Frage, die hinter der Erzählung steht, thematisiert wird. Es scheint, als liefe das Drama auf eine abschließende Rahmung, die mit dem Prolog korrespondiert, hinaus. Auf der Bühne wird es dunkel. Aber dieses typische theatrale Schlusssignal bedeutet nicht das Ende des Stücks. Mr. Zuss fordert laut in die Dunkelheit der Bühne hinein: Lights! Ligths! That’s not the end of it. 105

Nickles: in the darkness Why isn’t that the end? It’s over.

Das ist die Voraussetzung, damit die metatheatralisch-reflexive Ebene mit der Binnenhandlung verschränkt werden kann. Hiob tritt aus der Handlungsimma-

102 Ebd., S. 127. 103 Ebd., S. 132. 104 Ebd., S. 140. 105 Ebd.

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nenz, die der Figur bisher eigen war, heraus und unterhält sich mit Mr. Zuss und Nickels. Hiob wird von Nickels angesprochen und hält diesen zunächst für Gott. Das führt zu einer Konfusion der Handlungsebenen: Nickels: J.B.! J.B.:

Let me alone.

Nickels: It’s me. J.B. shrugs. I’m not the Father. I’m the – Friend. J.B.:

I have no friend.

Nickels: Oh come off it. You don’t have to act with me.

106

MacLeish nutzt das metatheatrale Spiel nicht nur, um eine Reflexionsebene einzuführen, sondern um der Ungewissheit und der Unsicherheit Raum zu geben; J.B. stellt die Selbstreferentialität in den Mittelpunkt. Anders als in Warten auf Godot, an das das Stück wegen der beiden kauzigen Figuren Mr. Zuss und Nickles und wegen seiner Metatheatralität erinnert, ist die Sprache selbst nicht problematisch, sondern das Handeln der Menschen und das Heilsversprechen. Das zielt darauf, die Geschlossenheit aufzulösen. MacLeish verfremdet damit die Handlung antiillusionistisch. Hinzu treten metatheatrale Momente, die zu einer verwirrenden Selbstreferentialität führen. Gleichzeitig führt J.B. vor, was bereits das vorhergehenden Beispiel zu vermuten nahelegt, ohne dass es dort bereits erörtert wurde: Dramen, die wesentlich auf Techniken der Komödie setzen, neigen nicht zur Episierung. In ihnen dominiert weiterhin der Dialog. Den Realismus ad absurdum führen Diese Beobachtung macht es erforderlich, zu Heiner Müller zurückzukehren, namentlich zu seiner Umsiedlerin: Feld Ein Bauer mit Handwagen, darauf Grenzsteine. Ein Bauer mit Transparent JUNKERLAND IN BAUERNHAND. Ein Bauer mit roter Fahne, Beutler mit Papier. Ein Akkordeonspieler. Musik Beutler: Mach die Musik aus. In Durchführung der Verordnung, die Enteignung

106 Ebd., S. 144f.

118 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Von Junker- und Großgrundbesitz betreffend Der mit dem heutigen Datum abgeführt wird In Bauernhand – Bauer: mit Transparent: Red schneller, Bürgermeister. Beutler: Eins nach dem andern. Vor dem Leib die Predigt.

107

„Vor dem Leib die Predigt.“ Der Satz klingt nach einer alten protestantischen Weisheit, ganz so als käme er direkt aus Luthers Tischreden. Dieser Eindruck entsteht durch die Prägnanz und die strikte Hierarchie der Aussage: Erst die Predigt, dann das Abendmahl – diese Reihenfolge gilt für Protestanten seit der Reformation. Doch ist hier ja nicht vom Brotlaib die Rede, sondern vom körperlichen Leib.108 Müllers Umsiedlerin wird also mit einem doppelten Witz eröffnet: Zum einen wird der lutherische Duktus ironisch verkehrt und damit säkularisiert. Gleichzeitig ist der Wendung „Vor dem Leib die Predigt“ eine temporale Hierarchie eingeschrieben, die eine Machthierarchie symbolisiert. Indem Beutler sich mit einem Prediger vergleicht, stellt er seine Macht aus. Er ist derjenige, der das Wort führt und bestimmt, wie das Brot verteilt wird. Beutlers altertümelnd klingende Aussage führt vor, dass sich zwar die Machthaber geändert haben, dass trotzdem aber keine Gleichheit eingekehrt ist. Das Wortspiel ist ein pointierter Widerspruch gegen den Anspruch der DDR-Führung, dass die Arbeiter und Bauern in der DDR das Wort und damit die Macht haben. Doch beschränkt sich Müller in der Umsiedlerin nicht auf diese Form des Widerspruchs, sondern greift ergänzend zum performativen Widerspruch, um die Situation bloßzustellen. Das wird im Anschluss an die Eröffnungsszene deutlich: Beutler […] Zum Bauern mit der Fahne: Bück dich. Den Bauern als Schreibtisch benutzend. Fünf Hektar Bodenanteil hiermit An Kaffka, Erwin, Gutsarbeiter vorher Personen acht. 109

Bauer mit Transparent: Der steckt in meiner Haut.

107 Heiner Müller: Die Umsiedlerin oder das Leben auf dem Lande, in: ders.: Die Stücke 1. Werke 3. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2000, S. 181-287, hier S. 183. 108 Vgl. ferner Ljubinka Petrovic-Ziemer. Mit Leib und Körper. Zur Korporalität in der deutschsprachigen Gegenwartsdramatik. Bielefeld 2011. 109 Müller: Die Umsiedlerin, S. 183.

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Nun mag die Behauptung, hier liege ein performativer Widerspruch vor, zunächst überraschen. Wir kennen die Form des performativen Widerspruchs, der aus der Nicht-Identität von dramatischer Rede und Figurenhandlung resultiert. Am Beispiel von Warten auf Godot war das eingangs erläutert worden. Der Sprechakt ist dabei durch die dramatische Handlung gerahmt. Sprechakttheoretisch formuliert entsteht der performative Widerspruch durch die „intentionalen Rahmenbedingungen“,110 die nicht dem Sprechakt entsprechen. Dadurch kommt dessen Nichtgültigkeit zum Ausdruck. Die zweite, hier zu fassende Form des performativen Widerspruchs referiert auf das Außerhalb des Dramas. Bei diesem performativen Widerspruch liegt eine oft schwer zu greifende Nicht-Identität von dramatischer Handlung und Realität vor, die zudem von Rahmungen durch die Realität abhängig ist – sprechakttheoretisch verstanden von „institutionellen Rahmenbedingungen“.111 Der performative Widerspruch entsteht durch den Widerspruch zwischen dramatischer Handlung und Realität. In vorliegenden Fall wird auf das staatliche Postulat der von den Großgrundbesitzern befreiten Bauern angespielt. 1961 war das Befreiungspathos der frühen SBZ und DDR in guter Erinnerung, es widersprach dem vollzogenen politischen Wandel, der nicht mehr auf die Stärkung der Kleinbauern setzte, sondern seit 1959 auf die Kollektivierung der Landwirtschaft und den Aufbau von LPGs.112 Die Szene zeigt, was zuvor durch das Wortspiel ausgesprochen wird: Die Bauern stehen weiterhin unter der Knute, nun unter der der Funktionäre. Dieser Szene ist zudem ein intertextueller Verweis auf Kafkas Strafkolonie im wahrsten Wortsinn ‚eingeschrieben‘113 – durch den Namen der Figur wird an den Autor Kafka erinnert (wobei dieser freilich offensiv von Müller provinzialisiert wird: Kaff-ka!) und durch das in die Haut ritzende Schreiben an die Erzäh-

110 Vgl. Uwe Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, in: Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft. Hg. v. dems. Frankfurt/M. 2002, S. 9-60, hier S. 11; zur Intention aus theaterwissenschaftlicher Sicht vgl. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 164-171. 111 Wirth: Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität, S. 11. 112 Vgl. Hermann Weber: Die DDR 1945-1990. 2., überarb. u. erw. Aufl. München 1993, S. 53-55. 113 Kafkas In der Strafkolonie hat Müller nicht zuletzt wegen der radikalen Verbindung von Schrift und Gewalt immer wieder beschäftigt. 1992 verfasste er eine kommentierende Nacherzählung davon; vgl. Heiner Müller: In der Strafkolonie nach Franz Kafka, in: ders.: Die Prosa. Werke 2. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 1999, S. 132-135.

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lung. Deswegen sollte Beutlers Degradierung des Bauern zum Schreibtisch nicht als billiger Gag begriffen werden. Es ist ein überspitztes Beispiel dafür, dass im realexistierenden Bürokratismus alle Macht von dem ausgeht, der hinter dem Schreibtisch sitzt.114 „Vor dem Leib die Predigt.“ – mit diesem Satz wird aber nicht nur gegen die herrschende Politik opponiert. Er kann zudem als Widerspruch gegen die herrschende Praxis der DDR-Dramatik verstanden werden, wie sie in Baierls oben vorgestelltem Aufsatz explizit wird. Müllers sozialistische Komödie widersetzet sich dem. In ihr gilt die Oppositionsbildung zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit im Sinne Baierls nicht. Müller behält den Konflikt bei, wo Baierl ihn verabschiedet. Stattdessen macht Müller von der ersten Pointe an deutlich, dass die politische Führung nicht für die Gesamtheit steht, sondern für eine konkrete Machthierarchie – und diese Macht wird sowohl durch die Äußerungen wie die Handlungen der Figuren bloßgestellt bzw. verkehrt. Müllers Komik bedient sich dabei typisch karnevalesker Techniken im Sinne Bachtins, die auf die „Freiheit des Lachens“115 während des – metaphorisch gesprochen – ,Feiertags‘, also während der Zeit der Aufführung, zielt. Seine Sprache kennt nicht nur Wortwitz, sondern auch burleske Sprechweisen (‚Schnauze!‘, ‚Maul!‘, ‚Arschtritt‘) und antiquiert klingende Begriffe wie den in der Frühen Neuzeit wie heute auf Stigmatisierung zielenden, ehedem kirchenrechtlichen Terminus und hier zum Namen gewordenen „Ketzer“.116 Hinzu kommen Sätze, die vormodern klingen, wie etwa ein an den Soldatenkönig erinnernder Befehl („Dann halts Maul und räsonier nicht.“)117 oder Zoten: „Zeig mir ein Mausloch und ich fick die Welt.“118 Dieser Eindruck verstärkt sich durch sprechende Namen wie Beutler, Rammler, Treiber. Müller hat mit der Umsiedlerin also gewissermaßen ein sozialistisches Fastnachtsspiel vorgelegt. Es lebt vom

114 Müller wird die Korrelation Schreibtisch/Macht von nun an mehrfach variieren und mit Kafka-Bezügen verbinden – bald schon in Der Bau, noch in den 80ern in Wolokolamsker Chaussee IV. Zu Müllers Kafka-Rezeption und zu seiner Auseinandersetzung mit der klassischen Moderne vgl. Rainer Nägele: Klassische Moderne, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart, Weimar 2003, S. 149-156. 115 Vgl. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 33. 116 Zur frühneuzeitlichen Ketzer-Polemik vgl. Kai Bremer: Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert. Tübingen 2005, S. 158-161. 117 Müller: Die Umsiedlerin, S. 185. 118 Ebd, S. 252.

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| 121

Wortwitz, von der Typenhaftigkeit des Personals und von der Inversion der gesellschaftlichen Hierarchie. Müller setzt in der Umsiedlerin auf überzeitliche Komiktechniken, obwohl sein Setting seiner Zeit verhaftet ist. Er selbst hat dies in Krieg ohne Schlacht ähnlich beurteilt.119 Gleichzeitig fordert das Stück durch die intertextuellen Referenzen wie das Kafka-Beispiel heraus und ordnet es so in einen Kontext ein, der seine Literarizität signalisiert. Im Moment des Lachens wird der vermeintliche Realismus der Szene desillusioniert. Das gilt zumal am Ende des Dramas, das mit einer Art memento mori schließt: Flint:

Das Feld ging übern Bauern und der Pflug Seit sich die Erde umdreht in der Welt. Jetzt geht der Bauer über Pflug und Feld. Die Erde deckt uns alle bald genug.

120

Flint beharrt darauf, dass sich im Sozialismus etwas verändert hat. Das memento mori markiert die historische Differenz. Der Bauer sei „Jetzt“ mehr wert als seine Scholle und sein Gerät. Resignativ aber rahmt Müller diese Veränderung mit dem Hinweis auf die Sterblichkeit des Menschen, wodurch aller Fortschritt relativiert wird und das Stück eine melancholische Dimension erhält.121 Nikolaus Müller-Schöll hat deswegen die Umsiedlerin mit Benjamin in den Kontext einer Komik gestellt, die er als „Innenseite der Trauer“122 begreift. Müllers Komödie sagt Natürlichkeit oder Realismus entschieden ab. Das hat sie mit der frühneuzeitlichen Dramatik gemeinsam, mit Fastnacht- wie mit Trauerspiel. Zwar referiert sie auf die Wirklichkeit in der SBZ/DDR, aber sie ahmt diese in keiner Weise nach. Die Umsiedlerin will, anders als Baierl es im Sinn und Form-Aufsatz fordert, die „heutige Wirklichkeit auf dem Theater“ gerade nicht darstellen, sondern den Sozialismus desillusionieren. Um dies zu erreichen, greift das Drama nicht nur auf etablierte komische Techniken zurück, sondern

119 Vgl. Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Erw. Neuausg. Köln 1994, S. 337. 120 Müller: Die Umsiedlerin, S. 287; zum Verhältnis von Prosa und Vers in Müllers früher Dramatik vgl. Rainer Nägele: Heiner Müller: Laut und leise, in: Heiner Müller Sprechen. Hg. v. Nikolaus Müller-Schöll, Heiner Goebbels. Berlin 2009, S. 49-61. 121 Nikolaus Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart 2003, S. 82-88; Genia Schulz: Die Umsiedlerin/Die Bauern, in: ebd., S. 280-286. 122 Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske, S. 85.

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bedient sich zugleich ästhetischer Verfahren, die zeitgleich im absurden Theater präsent sind. In diesem Sinne leistet Müllers Komödie nicht nur ästhetisch und referentiell Widerstand, es vermittelt subkutan Ahnungen von dem, was jenseits der Mauer die Bühne interessiert. Das wird deutlich, wenn man sich Dürrenmatts Komödien vergleichend anschaut. Auch er benutzt Techniken, die seit alters her der Komödie eigen sind und im absurden und grotesken Drama neu funktionalisiert werden. Dürrenmatt nennt diese Welt „Wirklichkeit“ – man denke nur an die Schlusswendung der 21 Punkte zu den Physikern: „Die Dramatik kann den Zuschauer überlisten, sich der Wirklichkeit auszusetzen, aber nicht zwingen, ihr standzuhalten oder sie gar zu bewältigen.“123 Es ist deswegen nur folgerichtig, wenn er schon zuvor (in Punkt 10) Absurdität zu Gunsten der Geschichte ablehnt. Im Unterschied zu Müller zielt seine Komödienästhetik nicht auf eine im Kern trauernde Kritik, sondern auf das zynische, distanzierte Darstellen einer paradoxen Welt, der man ansichtig werden kann, die aber nicht zu ändern ist. Doch so sehr sich diese beiden Komödienmodelle dem ersten Eindruck nach gleichen (zumal bei beiden die Figuren die Handlung tragen und Episierung unwesentlich ist) und so sehr sie beide durch Referenz gekennzeichnet sind, müssen doch wesentliche Unterschiede zwischen beiden festgehalten werden. Der erste Unterschied zeigt sich im Umgang mit dem Grotesken: „Dürrenmatt bekennt sich zur Groteske als Spiegelbild einer grotesken Welt. [...] In der Idylle führt uns Dürrenmatt die groteske Welt vor.“124 Nun ist es zunächst wichtig, den hier von Klaus Völker verwendete Begriff des Grotesken angesichts dessen, was oben zu Ionesco dargelegt wurde, zu präzisieren. In Anlehnung an den romanischen Sprachgebrauch bezeichnet ‚grotesk‘ in der Dramenforschung in aller Regel das absolut Abnorme, wie es uns in Gestalt einer von Nashörnern bevölkerten Welt bei Ionesco entgegentritt. ‚Grotesk‘ im Sinne von ‚abnorm‘ sind bei Dürrenmatt hingegen nicht die Figuren, sondern deren Handlungen. Wo Ionesco, darin Brecht durchaus ähnlich, den Blick von außen auf das Bühnengeschehen provoziert und dadurch die distanzierte Reflexion sucht, dort besteht Dürrenmatt auf emotionale Teilnahme: „Das Tragische wird neu erlebt.“125 Empörung und die Einsicht, nicht handeln zu können, gehen Hand in Hand. Müllers Komik

123 Friedrich Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, in: ders.: Die Physiker. Komödie. Werke 7. Zürich 1985, S. 91-93, hier S. 93. 124 Klaus Völker: Das Phänomen des Grotesken im neueren deutschen Drama, in: Sinn oder Unsinn? Das Groteske im modernen Drama. Hg. v. Willy Jäggi. Basel, Stuttgart 1962, S. 9-46, hier S. 39. 125 Ebd.

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kennt diese Ohnmacht, doch ist sie bei ihm nicht absolut, sondern situativ. In Die Umsiedlerin ist weder die Welt aus den Fugen, noch ist das Handeln sinnlos. Die Komik entspringt der Spreizung zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sie ist gewissermaßen Situationskomik, während die Komik Dürrenmatts permanent ist. Der zweite Unterschied ergibt sich aus der Stellung des Zufalls. In Dürrenmatts Komödientheorie nimmt die Handlung die ‚schlimmstmögliche Wendung‘, die ihrerseits Ziel der dramatischen Geschichte ist.126 Müllers Komödie kommt, wie fast jede handlungsorientierte Dramatik, nicht ohne den Zufall aus. Aber der Zufall ist bei ihm nicht wie bei Dürrenmatt funktionalisiert. Man kommt an diesem Punkt vermutlich nicht daran vorbei anzuerkennen, dass die unterschiedlichen Herangehensweisen an die Komödie differenten gesellschaftlichen Voraussetzungen geschuldet sind. Wie schon Völker 1962 betont hat, schreiben Dürrenmatt und die ihm ästhetisch verwandten Dramatiker (und das heißt in erster Linie: die westeuropäischen Dramatiker) gegen die Idylle an: „Die Idylle wird gebraucht, damit sie zerstört werden kann.“127 Müllers Stoßrichtung ist eine andere. Er sieht sich von der Kulturpolitik aufgefordert, einen Realismus darzustellen, den er als Idylle begreift. Ihm kann es deswegen nur darum gehen, der Trauer Herr zu werden, die Folge des obrigkeitlichen Versuchs ist, die Utopie in eine Idylle zu verwandeln. Wolf Gerhard Schmidt hat die Entwicklung und ästhetische Ausdifferenzierung der in der Nachkriegszeit für das Theater so wesentlichen Komödie überzeugend produktionsästhetisch zwischen Differential- und Tangentialkomik unterschieden.128 Deswegen muss das hier nicht erneut vorgeführt werden. Für unseren Zu-

126 Vgl. Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, S. 91, Punkt 3: „Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ 127 Völker: Das Phänomen des Grotesken im neueren deutschen Drama, S. 46. 128 Vgl. Schmidt: Zwischen Antimoderne und Postmoderne, S. 475-502, zum Verständnis der Begriffe S. 475: „Im Gegensatz zur Tangentialkomik, die das Geschehen vom Standpunkt des marxistischen Narrativs aus betrachtet, geben die hier untersuchten Konzepte meist Antworten auf das ‚Ende der Ideologien‘ – selbst wenn man ältere Traditionen aktualisiert. Schwerpunkte und Ziele sind allerdings nicht deckungsgleich: Das Lachen kann anthropologisch, sozialkritisch, universalistisch und/oder defätistisch ausgerichtet sein. Um diese Pluralität von der strukturellen Einheitlichkeit sozialistischer Modelle abzusetzen, wird in Anlehnung an Iser vom Differentialdiskurs gesprochen, denn das Subjekt erscheint hier als Träger verschiedener Rollenentwürfe.“

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sammenhang wichtiger ist die Frage, wie all dies im Hinblick auf die Formgeschichte des Dramas zu beurteilen ist. Manch ein Theatergänger der 50er und 60er Jahre mag der Meinung gewesen sein, das Theater Brechts und Piscators sei ein Produkt des Zeitgeistes – nicht viel mehr als eine Mode. Am Ende dieser Jahrzehnte kündigt sich immer deutlicher an, dass die Episierung nicht nur ein wesentliches Moment des Dramas geblieben ist, sondern dass sie ihrerseits ausdifferenziert wird. Das zeigt sich zum einen an den Tableau-Texten Müllers, die anders als Zwischentexte Brechts die Handlung nicht nur unterbrechen, nacherzählen oder kommentieren, sondern eigenständige Geschichten erzählen und dadurch einen Spielraum ermöglichen, der der Dramatik Brechts fremd ist. Die Ausdifferenzierung der Episierung erfolgt aber noch an einer zweiten Stelle. Wie die Beispiele aus dem Werk Handkes zeigen, muss die Episierung nicht mehr unbedingt durch handlungsunterbrechende Prosatexte erfolgen. Ergänzend dazu kann sie dazu führen, dass der totgesagte Monolog wiederbelebt und weiterentwickelt wird zu einem dramatischen Text, in dem ausschließlich ein Ich spricht, das derart veranlagt sein kann, dass es die Rezipienten verführt, Ich und empirischen Autor gleichzusetzen. Gemeinsam ist diesen beiden Spielarten der Episierung, dass sie gegen die dramatische Handlung zielen. Szondi geht davon aus, dass es neben der Episierung Brechts eine zweite gibt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass hier Figuren sich gegenseitig berichten und erzählen, wodurch die Handlung minimiert wird.129 Diese Variante der Episierung wird ergänzt und ausdifferenziert; im absurden und grotesken Drama findet sie ihren idealen Ort. Auf der Bühne erliegt die Konversation zwar nicht, gleichwohl erlahmt die Handlung. Teilweise wird sie ganz verabschiedet. Was bleibt, ist das Gespräch, das zwar nicht frei von Referenz ist, diese jedoch nur indirekt evoziert. Um dies zu erreichen, ist Präzision in der Dialogführung not-

129 Prägnant zusammengefasst in: Peter Szondi: Der Mythos im modernen Drama und das Epische Theater. Ein Nachtrag zur Theorie des modernen Dramas, in: ders.: Schriften II. Hg. v. Jean Bollack. Frankfurt/M. 1978, S. 198-204, hier S. 198f.: „Während Brecht die Erzählstruktur u.a. durch Zwischentexte und Lieder herstellt, welche die Handlung unterbrechen und ‚verfremden‘, Pirandello durch die Zwischenschaltung der sechs ‚Personen‘, die ihr Leben, aus dem kein Stück wurde, den Schauspielern erzählen, damit es doch noch aufgeführt werde, betritt bei Wilder und bei Giraudoux das ‚epische Ich‘ die Bühne: als ‚producer‘, der die Szene arrangiert und mit Kommentaren versieht, in Our Town; als göttlicher Bettler, dessen epische Funktion komplexer ist, in Electre.“

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wendig – man denke an die performativen Widersprüche oder an die Spiel-imSpiel-Situationen. Da es fragwürdig scheint, diese Ausformung auf den gemeinsamen Nenner der Episierung zu bringen, wird im Folgenden der Begriff des episierenden Dramas enger gefasst. Ihr beiseite treten die Ich-Dramatik und eine Dramatik, die durch metatheatrale Techniken entschieden zur Selbstreflexivität neigt. Referiert die konversationsorientierte Dramatik dagegen auf gesellschaftliche Situationen, unterscheidet sie (so different die ästhetischen und politischen Anliegen Dürrenmatts, Genets oder Müllers sein mögen) sich von den drei zur Episierung neigenden dramatischen Formen im Umgang mit der Handlung. Auch wenn die episierende Dramatik die Handlung unterbricht, subjektiviert oder erlahmen lässt, heißt das keineswegs, dass die Handlung erledigt ist.

V. Aufstieg und Niedergang der Postdramatik? (Mitte der 70er Jahre bis zur Gegenwart)

1.

D IE G RENZEN

DER

E PISIERUNG

Wie die Ausführungen zu Zement gezeigt haben, hat die Radikalisierung der Episierung Auswirkungen auf den Zusammenhang zwischen Drama und Inszenierung, indem sie der Regie weitreichende Spielräume ermöglicht. Gleichzeitig wurde in den zwei Jahrzehnten nach Brechts Tod die Episierung ausdifferenziert. Daher steht zu vermuten, dass diese Entwicklung sich fortgesetzt hat. Nach Müllers Integration der Tableaux in Zement setzt eine Entwicklung ein, die in das mündet bzw. in dem ihren Ausdruck findet, was seit Lehmanns grundlegenden Ausführungen Postdramatisches Theater genannt wird. Er hat diese Entwicklung die „Entfremdung von Theater und Drama“1 genannt. Im Postdramatischen Theater sei der Text lediglich ein „gleichberechtigter Bestandteil“ innerhalb „eines gestischen, musikalischen, visuellen usw. Gesamtzusammenhangs“.2 Wenn also das Postdramatische Theater untersucht wird, kann dies ausschließlich die Analyse von Inszenierungen und Aufführungen meinen, wie zuvor bereits betont wurde. Die Literaturwissenschaft hat diese Entwicklung sporadisch verfolgt und kommt zu widersprüchlichen Ergebnissen. Poschmann diagnostiziert überzeugend u.a. die „Behandlung [des Dramas] als Material“, die „im Fragment- und (Zitat-) Collagecharakter der Texte“ vorweggenommen werde. Sie betont die „Rückkehr gebundener und rhythmisierter Verssprache; die Verdrängung des Wortes durch das Bild“ sowie die Umkehr von Haupt- und Nebentext.3 All diese

1

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 43f.

2

Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 73.

3

Poschmann: Der nicht mehr dramatische Theatertext, S. 35.

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Techniken sind aber ebenso auch in der Dramatik Brechts zu finden. Es stellt sich also die Frage, worin das im Hinblick auf die dramatische Form Neue dieser Entwicklung besteht, das zu der These berechtigt, neben „dem gewandelten Status des Textes im Theater“4 auch von einem gänzlich neuen Texttyp auszugehen. Wie einleitend erwähnt, hat Hans-Peter Bayerdörfer an diesem Befund Zweifel angemeldet: „Aber auch in dieser historischen Linie steht das Drama, wo es immer gestanden hat, an der kulturellen Nahtstelle und verbindet – wenn man es positiv wendet – Lese- und Aufführungstradition, Schriftkultur und performative Kultur, Sprache und Bühne.“5 Bayerdörfer schlägt vor, die Gattung Drama nicht einfach zu verabschieden, sondern vielmehr seine historische Weiterentwicklung anzunehmen. Neuere Studie wie etwa Klessingers Arbeit über Postdramatik nehmen diese Intervention bezeichnenderweise nicht zur Kenntnis. Im Unterschied dazu wird im Folgenden versucht zu zeigen, welche Spielarten episierender Dramatik sowohl in Gestalt der Tableaux als auch auf andere Weise sich seit den 70er Jahren entwickelt haben und warum sie besser als Ausdifferenzierung denn als Verabschiedung des Dramas bzw. als Ersetzung durch wie auch immer geformte Postdramatik begriffen werden sollten.6 Surrealisierung statt Antiillusionismus Kein Dramatiker der jüngeren deutschen Literaturgeschichte hat sich derart intensiv mit dem Surrealismus auseinandergesetzt wie Heiner Müller. Er hat sich – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise – mit surrealistischer bildender Kunst und Literatur befasst und diese für episierende Momente in seiner Dramatik zu funktionalisieren versucht. Die Intensität der Auseinandersetzung korrespondiert mit ihrer Dauer. Schon in den 50er Jahren finden sich bei Müller erste Hinweise auf den Protosurrealisten Lautréamont, was für die SurrealismusRezeption in Deutschland als außergewöhnlich früh gelten kann. Müller hat sein Interesse am Surrealismus zeitlebens nicht verloren. Trotzdem ist seine Surrea-

4

Ebd., S. 34.

5

Bayerdörfer: Vom Drama zum Theatertext?, S. 2.

6

Eine nach Meinung des Verf. literaturtheoretisch wenig tragfähige, für die praktische Analyse aber durchaus hilfreiche Position zwischen Poschmann und Bayerdörfer nimmt ein Christine Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne. Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende. Bielefeld 2012, S. 17-25.

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lismus-Rezeption bisher kaum erforscht worden.7 Dass sein künstlerischer Umgang damit in Phasen verlaufen ist, muss zunächst dargelegt werden, um sodann nach der Funktion des Surrealismus für seine Dramatik zu fragen. Frühste Erwähnung findet Lautréamont in einem Gedicht, das Müller in den 50er Jahren geschrieben und später in eine Erzählung einmontiert hat.8 Müller spielt in der zweiten Strophe des Gedichts auf die 13. Strophe im zweiten Gesang der Gesänge des Maldoror an, auf den Kampf der Haifischfrau mit den männlichen Haien und der abschließenden Vermählung zwischen der Haiin und Maldoror. Im Unterschied zur Vorlage kommt es bei Müller nicht zur Vermählung zwischen diesen, sondern zur Vermählung zwischen einer Blauwalfrau und einem Hai. Carlo Barck hat Müllers Lautréamont-Rezeption untersucht. Wichtig für die folgenden Überlegungen sind zwei Punkte: a. Müller konnte – wenn überhaupt – wenig Französisch. Deswegen war er auf Übersetzungen angewiesen. Dass er schon in den 50ern mit Lautréamont in Kontakt kam, ist bemerkenswert, weil zu dieser Zeit noch gar keine publizierten Übersetzungen der Gesänge Maldorors ins Deutsche vorlagen. Müller hatte in der ersten Hälfte der 50er Jahre von Eduard Zak, einem Österreicher, der als Redakteur beim Sonntag

7

Vgl. Francine Maier-Schaeffer: Utopie und Fragment. Heiner Müller und Walter Benjamin, in: Heiner Müller – Rückblicke und Perspektiven. Hg. v. Theo Buck, JeanMarie Valentin. Frankfurt/M. 1995, S. 19-37.

8

Vgl. Heiner Müller: Der Vater, in: ders.: Gedichte. Werke 1. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 1998, S. 41: „Der Vater 1. Ein toter Vater wäre vielleicht Ein besserer Vater gewesen. Am besten Ist ein totgeborener Vater. Immer neu wächst Gras über die Grenze. Das Gras muß ausgerissen werden Wieder und wieder das über die Grenze wächst. 2. Ich wünschte mein Vater wäre ein Hai gewesen Der vierzig Walfänger zerrissen hätte (Und ich hätte schwimmen gelernt in ihrem Blut) Meine Mutter ein Blauwal mein Name Lautréamont Gestorben in Paris 1871 unbekannt“ Vgl. auch Heiner Müller: Der Vater, in: ders.: Prosa. Werke 2. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 1999, S. 79-86.

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arbeitete, eine private Übersetzung erhalten. b. Lautréamonts Bedeutung für den Surrealismus hat Müller interessiert, weil der für ihn „im Ästhetischen von gleicher Bedeutung wie Trotzki im Politischen“ war. So formulierte er 1994 rückblickend.9 Die Engführung von Lautréamont und Trotzki ist an sich nicht weiter bemerkenswert. Sie geht auf Breton zurück, wird als das Bedürfnis nach tiefgreifenden Veränderungen verstanden10 und ist ein Topos der politischen Auseinandersetzungen mit dem Surrealismus. Müllers Vergleich sagt für sich nicht viel. Aber er macht deutlich, dass Müller an Lautréamont nicht einseitig ästhetisch interessiert war, sondern am Ineinander von Ästhetik und Politik – eine Verschränkung, die auf Benjamins Sürrealismus-Aufsatz rückverweist.11 1977 erschien Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Es ist eine szenische Auseinandersetzung mit der preußischen Geschichte und der Dialektik der Aufklärung. Das Stück schließt mit einem szenischen Lessing-Triptychon, das a. aus einer Überblendung der beiden Dramatiker Lessing und Müller, b. aus einer Verortung von Lessing, Emilia Galotti und Nathan auf einem Autofriedhof in Dakota (samt Pink Floyds Welcome my son, welcome to Machine) und c. aus einer pantomimischen Einhegung Lessings mit einer Lessingbüste samt abschließendem Schrei Lessings aus dem Inneren der Büste zusammengesetzt ist. Der mittlere Teil des Triptychons endet mit einem Tableau-Text der einer „Stimme (und Projektion)“ zugeordnet wird: STUNDE DER WEISSGLUT TOTE BÜFFEL AUS DEN CANYONS GESCHWADER VON HAIEN ZÄHNE AUS SCHWARZEM LICHT DIE ALLIGATOREN MEINE FREUNDE GRAMMATIK DER ERDBEBEN HOCHZEIT VON FEUER UND WASSER MENSCHEN AUS NEUEM FLEISCH LAUTREAMONTMALDOROR FÜRST VON ATLANTIS SOHN DER TOTEN

9

12

Karlheinz Barck: Roter Adler und Schwarzer Engel, in: Sire, das war ich. Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch. Hg. v. Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski. Berlin 2007, S. 85-94, hier S. 86.

10 Maurice Nadeau: Geschichte des Surrealismus. Reinbek bei Hamburg 1986, S. 101. 11 Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: ders.: Gesammelte Schriften II/1. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1977, S. 295-310. 12 Heiner Müller: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei. Ein Greuelmärchen, in: ders.: Stücke 2. Werke 4. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2001, S. 509-537, hier S. 535.

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| 131

Barck hat anhand dieses Zitats den Aspekt des Bösen betont, für das der Name Lautréamont stehe. Das überzeugt vor dem Hintergrund von Müllers früher Lautréamont-Rezeption. Schon Zak hat die Ästhetik des Bösen in den Gesängen des Maldoror hervorgehoben. Auch hat er sie bereits 1948 an die Judenvernichtung rückgebunden. Allerdings wendet Zak abschließend und vor allem Lautréamonts Dichtung ins ,Gute‘ an sich, zu dem sich der jung verstorbene Schriftsteller letztlich doch bekannt habe.13 Müller hat sich während der Vorarbeiten zu Leben Gundlings ausführlich mit der Möglichkeit der dramatischen Darstellung des Zivilisationsbruchs befasst, wie Nikolaus Müller-Schöll gezeigt hat.14 Allerdings hat Müller alle Hinweise auf das Thema schließlich verworfen, wie der Nachlass zeigt. Müller-Schölls Beobachtung und Barcks Hinweise erlauben die These, dass der Name Lautréamont für Müller das Böse repräsentiert. Das gilt für das Gedicht Der Vater, für die gleichnamige Erzählung und für Leben Gundlings. Müller hat mit dem Namen Lautréamont die eine wichtige Bedeutungsdimension des Surrealismus nach Benjamin assoziativ in seine Literatur zu integrieren versucht. Benjamin verbindet im „Kult des Bösen“15 und der „Rechtfertigung des Bösen“16 den Surrealismus mit Lautréamont. Müller führt diesen Gedanken literarisch fort. Anders als Zak hegt Müller das Böse nicht ein.17 Doch so sehr Müller also von Benjamin abhängig ist; in ästhetisch-formaler Hinsicht ergibt sich just mit Leben Gundlings eine zweite Funktion des Surrealismus für Müllers Werk. Er hat in seiner Autobiographie darauf hingewiesen: „Von der Methode her ist Gundling so etwas wie die Collageromane von Max Ernst, auch das gleiche Verhältnis zu den Vorlagen.“18 Max Ernst hat seine Arbeitsweise unter Rückgriff auf Lautréamont erläutert:

13 Vgl. Eduard Zak: Comte de Lautréamont, in: Sire, das war ich. Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch. Hg. v. Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski. Berlin 2007, S. 80f. 14 Nikolaus Müller-Schöll: Spartakus Lessing, in: thewis 10/08 (http://www. thewis.de/?q=node/45) [zuletzt aufgerufen am 17.3.2014]; vgl. ders.: Schreiben nach Auschwitz, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. HansThies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart 2003, S. 97-103. 15 Benjamin: Der Sürrealismus, S. 304. 16 Ebd., S. 305. 17 Im Unterschied zu Benjamin ist allerdings die dritte Dimension des Surrealismus – der Rausch – bei Müller unwesentlich. 18 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 268f.

132 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI ‚Die zufällige Begegnung von Nähmaschine und Regenschirm auf einem Seziertisch‘ (Lautréamont) ist heute ein allbekanntes, fast klassisch gewordenes Beispiel für das von den Surrealisten entdeckte Phänomen, daß die Annäherung von zwei (oder mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen wesensfremden Plan die stärkste poetische Zündung provoziert. […] Es zeigt sich dabei, daß, je willkürlicher die Elemente zusammentreffen konnten, um so sicherer eine völlige oder partielle Umdeutung der Dinge durch den überspringenden Funken der Poesie geschehen muss.

19

Müller überführt diese Collage-Technik in die Dramatik, indem er innerhalb der Mittelszene des Lessing-Triptychons in Leben Gundlings das Zusammentreffen von „wesensfremden Elementen“ in den Code der theatralen Zeichen überführt. Gerahmt ist die Szene durch zwei Projektionen, die zugleich gesprochen werden. In der ersten Projektion wird eine Handlung erzählt – samt eines platten Kalauers: AUS DEM PREUSSEN DES ZWEITEN FRIEDRICH GOLD IM STECHSCHRITT SILBER IM SPIESRUTENLAUF KOMMT LESSING NACH AMERIKA LAND DER KARTOFFEL DIE PREUSSEN GROSS MACHEN WIRD AUF EINEM AUTOFRIEDHOF IN DAKOTA BEGEGNET ER DEM LETZTEN PRÄSIDENTEN DER USA

20

Die Szene stellt einen Autofriedhof dar, auf dem in „Unfallposen“ tote Theaterfiguren und Filmstars liegen. Wie erwähnt, ist Pink Floyd zu hören. Die LessingFigur steht zusammen mit Emilia und Nathan; beide rezitieren ihre berühmten Monologe, während Lessing schweigt. Nachdem sich Lessings Figuren gegenseitig die Köpfe abgerissen haben, folgt, die Szene abschließend, die zweite, schon zitierte Projektion, die nur mehr aus Satzfetzen besteht und anders als die erste Projektion keine Handlung schildert. Insbesondere diese Mittelszene des Triptychons wird immer wieder als Beispiel für Müllers auf Zertrümmerung der dramatischen Struktur und der Dramentradition zielendes Schreiben angeführt. Dass diese Szene nichts mit einem Drama klassischer Bauweise zu tun hat, liegt auf der Hand. Entscheidend ist aber anderes. Müller arbeitet in der Szene mit Techniken, wie sie das Theater seit Brecht und vor allem Piscator kennt. Doch nutzt er diese Techniken nicht in deren Sinne. Im Unterschied zu ihnen verbindet sich Müllers Szene zu keinem

19 Max Ernst: Was ist Surrealismus?, in: Surrealismus in Paris 1919-1939. Hg. v. Karlheinz Barck. Leipzig 1990, S. 617-620, hier S. 618, Hervorhebungen im Original. 20 Müller: Leben Gundlings, S. 534.

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Ganzen, das sich auf eine konkrete Aussage konzentrieren lässt. Die Einzelmomente der Szene wirken willkürlich zusammengefügt. Das Drama wird kontrovers diskutiert wie kaum ein anderes von Müller. Das liegt an der Collage-Technik, die zu eklektischen Lesarten verführt. Wenn er das Stück auf die Collage-Techniken von Max Ernst bezieht und wenn gleichzeitig festzustellen ist, dass die Einzelmomente der Szene willkürlich zusammengefügt scheinen, muss eben diese ostentative Willkür als künstlerisches Prinzip ernst und von inhaltlichen Vereindeutigungen der Ausdrucksvielfalt Abstand genommen werden. Wegen des Titels der Szenenfolge – „Lessings Schlaf Traum Schrei“ – lässt sich die vorgestellte, mittlere Szene des Triptychons als Traum-Szene begreifen. Während die erste, monologische Szene „Schlaf“ um Lessings Theaterutopien kreist und ihn als letztlich gescheiterten Schriftsteller ausstellt, thematisiert die letzte Szene Lessings Einhegung durch die DDR-Erbepflege. Die mittlere Szene markiert also einen Zwischenraum zwischen dem Schlaf und der Karikatur der Realität. Max Ernst erklärt zum Traum: Wenn man also von den Surrealisten sagt, sie seien Maler einer stets wandelbaren Traumwirklichkeit, so darf das nicht etwa heißen, daß sie ihre Träume abmalen (das wäre deskriptiver, naiver Naturalismus) oder daß sich ein jeder aus Traumelementen seine eigene kleine Welt aufbaue, um sich in ihr gütlich oder boshaft zu gebärden (das wäre ‚Flucht aus der Zeit‘), sondern daß sie sich auf dem physikalisch und psychisch durchaus realen (‚surrealen‘), wenn auch noch wenig bestimmten Grenzgebiet von Innen- und Außenwelt frei, kühn und selbstverständlich bewegen, einregistrieren, was sie dort sehen und erleben, 21

und einregistrieren, wo ihnen ihre revolutionären Instinkte dazu raten.

Analog konzipiert Müller das Triptychon surrealistisch. Er arbeitet auf der Wortebene (Stichwort ‚Lautréamont‘), auf der Ebene der zentralen Einzelszene (Stichwort Collage-Technik) und schließlich auf der der Szenenkomposition (Stichwort ‚Traum als Zwischenraum zwischen Innen und Außen‘) mit surrealistischen Techniken und Bezugnahmen, die die Willkür zum Prinzip machen. Doch ist Leben Gundlings deswegen insgesamt ein surrealistisches Drama? Es besteht aus verschiedenen Szenen, die zum Teil zusammenhängen und locker durch das Band ‚Geschichte und Gegenwart Preußens‘ verknüpft sind. Das heißt, dass Müller sich zwar im gesamten Stück einer Technik bedient, die an die Collage erinnert. Aber nicht jede Collage ist surrealistisch, und außerdem stehen die ersten Szenen des Stücks über Friedrich den Großen entschieden in der Revue-

21 Ernst: Was ist Surrealismus?, S. 619.

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tradition, die für Germania Tod in Berlin einschlägig ist. Die künstlerische Leistung Müllers besteht darin, dass der Übergang von der revueartigen Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte nicht unvermittelt in die surrealistische Auseinandersetzung mit Lessing umschlägt, sondern dass dies sukzessiv passiert. Zwischen den beiden größeren Einheiten zur preußischen Geschichte und zu Lessing hat Müller eine Pantomime mit dem Titel „Heinrich von Kleist spielt Michael Kohlhaas“ einmontiert.22 In der reißt die Kleistfigur einer Kleist-, einer Frauen- und einer Pferdepuppe die Köpfe ab. Das steigert sich zu einer martialischen Zerstörung der Puppen. Schließlich wird die Szene mit einem grauen Tuch, das vom Schnürboden fällt, überdeckt. Auf dem Tuch breitet sich ein roter Fleck aus. Die Szene überführt das zuvor auf die historischen Realitäten Bezug nehmende Setting in eine Traumwelt, in der das literarische Werke der Figur (hier Kleist und sein Puppenspiel-Aufsatz) thematisiert und symbolisch zerstört wird. Ähnlich wie im folgenden Lessing-Triptychon stellt sich für die KleistPantomime die Frage, wer das Werk zerstört bzw. es zumindest überdeckt. Müller hat sich weiterhin der Collage-Technik bedient – etwa in Hamletmaschine –, und es finden sich auch einzelne Texte, die surrealistisch anmuten wie Der Mann im Fahrstuhl – eine Erzählung, die vor der Schlussszene in das Drama Der Auftrag einmontiert ist und mit einer Rimbaud-Paraphrase schließt: Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben.

23

Doch ist es für Der Mann im Fahrstuhl wie bei anderen Prosatexten Müllers letztlich nicht überzeugend möglich, ihre Auseinandersetzung mit dem Surrealismus nachzuweisen. Die für Müllers Werk zentrale dramatische Auseinandersetzung mit dem Surrealismus bleibt das Lessing-Triptychon. Anfang der 80er Jahre kam es jedoch durch die Kooperation mit Robert Wilson und die Beschäftigung mit Artaud zu einer zweiten, nun indirekten Rezeption des Surrealismus.24 Müller kannte nicht nur Aragons Begeisterung für Wilsons frühe Arbeiten, er hat

22 Müller: Leben Gundlings, S. 532f. 23 Heiner Müller: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, in: ders.: Stücke 3. Werke 5. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2002, S. 11-42, hier S. 33. 24 Vgl. Patrick Primavesi: Jenseits des Surrealismus? Antonin Artaud und die Entwicklung neuer Theaterformen mit einer Politik der Wahrnehmung, in: Surrealismus in der deutschsprachigen Literatur. Hg. v. Friederike Reents. Berlin, New York 2009, S. 187-204.

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zudem Artaud auf Lautréamont bezogen und beide als produktive „Störung“ betrachtet: In einem Aufsatz über Lautréamont – das hat mich mal sehr interessiert –, da war der Versuch einer Analyse der Geschichte der europäischen Linken, die eigentlich davon bestimmt ist, daß sie sich immer rationalistisch gegeben und artikuliert hat. Damit hat sie wesentliche Triebkräfte und Trends in der Geschichte, die vor allem für die Massenbewegungen sehr wichtig sind, der Rechten überlassen. Ich glaube, daß man von dieser Ratio25

nalisierung wegkommen muß. Und da ist Artaud eine sehr produktive Störung.

Leben Gundlings zielt mit dem Schluss auf eine Fragmentierung der Wahrnehmung und darauf, dass der Autor die Rezeption seines Werkes nicht mehr zu steuern versucht. Derart betrachtet, ist Leben Gundlings der Versuch, das Werk vom Autor zu befreien und zugleich vielfältige Spielräume zu ermöglichen. Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich Müller surrealistischer Techniken. Das heißt aber, dass Müllers Hinwendung zum Surrealismus ein Akt ist, dem keine eindeutige politische Aussage beigegeben werden kann. Dass eine solche Ästhetisierung trotzdem eine eminent politische Dimension haben kann, legt bereits Benjamins Sürrealismus-Aufsatz dar. Deswegen verfängt mit Blick auf Leben Gundlings auch kein schlichter Ästhetizismus-Vorwurf, weil der von der Trennung von Politik und Literatur ausgeht. Die Ausweitung der Tableau-Texte: Radikalisierung und Pluralisierung In den auf Leben Gundlings folgenden Jahren entwickelte Müller die Reduzierung des Dialogs und des Konflikts zwischen den Figuren weiter. Den Schlusspunkt markiert der in der rhetorischen Ekphrasis-Tradition stehende Text Bildbeschreibung (uraufgeführt 1985), der in vielfacher Hinsicht verstört, weil er nicht als ein zur Inszenierung geeigneter Text zu identifizieren ist. Der Text ist ein mehrere Seiten langer Satz, dem – dem Titel entsprechend – ein Bild vorausgeht, das beschrieben wird. Damit ist der Text zunächst Ausdruck für die Umkehrung des üblichen Inszenierungsprozesses vom Text zur Bildgebung. Das Bild selbst wurde von einer Studentin gezeichnet und erfüllt keine künstlerischen Ansprüche. Es dürfte auch kein künstlerisches Anliegen verfolgen. Der Erzähler be-

25 Heiner Müller: Einen historischen Stoff sauber abschildern, das kann ich nicht, in: ders.: Gesammelte Irrtümer. Interviews und Gespräche. Frankfurt/M. 1986, S. 31-54, hier S. 46.

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schreibt das Bild und lässt davon ausgehend weitreichenden Assoziationen Raum: „zwischen Baum und Frau weit offen das große einzige Fenster, die Gardine weht heraus, der Sturm scheint aus dem Haus zu kommen, in den Bäumen keine Spur von Wind, oder zieht die Frau den Sturm an, oder ruft ihn hervor mit ihrer Erscheinung“.26 Gegen Ende schweift der Sprecher vom Gegenstand ab und tritt ein in ein Selbstgespräch mit sich: wer ODER WAS fragt nach dem Bild, IM SPIEGEL WOHNEN, ist der Mann mit dem Tanzschritt ICH, mein Grab sein Gesicht, ICH die Frau mit der Wunde am Hals, rechts und links in den Händen den geteilten Vogel, Blut am Mund, ICH der Vogel, der mit der Schrift seines Schnabels dem Mörder den Weg in die Nacht zeigt, ICH der gefrorene 27

Sturm.

Bildbeschreibung irritiert, weil sich der Text während und nach der Lektüre nicht als Drama zu erkennen gibt. Das liegt am Fehlen von sprachlichen Zeichen, die signalisieren, dass sie in theatrale Zeichen überführt werden können. Es verwundert deswegen nicht, wenn Frank Hörnigk in der Heiner-MüllerWerkausgabe Bildbeschreibung im Band ‚Prosa‘ unterbringt. Dass das problematisch ist, ergibt sich aus der Rezeptionsgeschichte von Bildbeschreibung. Der Text wurde kurz nach der Fertigstellung von Ginka Tscholakowa inszeniert. Sie nahm damit Müllers knappen, am Ende von Bildbeschreibung folgenden Hinweis auf: „Die Handlung ist beliebig, da die Folgen Vergangenheit sind, Explosion einer Erinnerung in einer abgestorbenen dramatischen Struktur.“28 Mit seiner Absage an die Handlung, an die Basis des Dramas und seiner Diagnose der „abgestorbenen dramatischen Struktur“ erklärt Müller das Drama gewissermaßen für tot – in einem Text, in dem er immer wieder Hinweise auf das Ich einfließen lässt. Der Text wird in die europäische Dramentradition eingeschrieben, nur gibt er sich nicht damit zufrieden, die Ästhetik des Dramas weiterzuentwickeln, sondern er zielt darauf, das Drama selbst in Form einer endgültigen Über-

26 Heiner Müller: Bildbeschreibung, in: ders.: Die Prosa. Werke 2. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 1999, S. 112-119, hier S. 114; vgl. dazu Ulrike Haß (Hg.): Heiner Müller Bildbeschreibung. Ende der Vorstellung. Berlin 2005. 27 Müller: Bildbeschreibung, S. 119. 28 Ebd. Stephan Pabst hat deswegen überzeugend vom ‚äußersten Punkt der Entwicklung‘ des Dramas gesprochen, vgl. Stephan Pabst: Text-Theater. Zur Form der frühen Prosa Reinhard Jirgls, in: Text+Kritik 189 (1/2011, zu Reinhard Jirgel), S. 25-37, hier S. 29. Vgl. zu Bildbeschreibung auch die instruktiven Überlegungen bei Klessinger: Postdramatik, S. 195-204.

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bietungsgeste für erledigt zu erklären. Diesem Impuls Müllers folgend, wurde in der Forschung die kontinuierliche Reduzierung bzw. Verdrängung von dramatischen Kategorien von Zement bis Bildbeschreibung betont,29 was Hörnigk hätte berücksichtigen können. Deswegen sollte Bildbeschreibung als durchgängiger Tableau-Text ohne umgebenden Dialog verstanden werden, er ist das gesamte Drama. Ein solches Drama hat gegenüber dialogischen und handlungsorientierten Dramen nicht nur etwas verloren, sondern auch gewonnen. Der Tableau-Text büßt seinen Status als ‚Fremdkörper‘ im Drama ein. Dieser radikal episierte Dramentypus widersetzt sich, entschiedener als dies die Surrealisierung zu leisten vermag, dem Verstehen und damit dem kommentierenden Anliegen der Episierung Brechts. Die Tableaux, sowohl in Gestalt mythisierender Inhaltsangaben als auch in Gestalt surrealistischer Assoziationsfolgen oder der bloßen Bildbeschreibung, sperren sich zudem der Körperlichkeit des Theaters, indem sie die Frage nach dem Sprecher als elementarer Voraussetzung für die Inszenierung von Dialogen nicht beantworten. Bildbeschreibung stellt nicht mehr wie andere Dramen Müllers die Frage nach der Figurenrede, sondern löst sie auf. Auch werden dramenanalytische Kategorien wie Finalität, Konzentration und Absolutheit nicht nur punktuell aufgehoben. Sie sind nicht mehr gegeben. Bildbeschreibung behauptet den Tod des Dramas aus dem Geist der Episierung, was wiederum reflektiert wird. Denn dem Text ist eine Meta-Ebene über ‚Inszenierung‘ als Bildgebungsverfahren eigen, weil der Text durch sein Erzählverfahren einen ‚Schauraum‘, ein Theatron, öffnet.30 Wenn man sich vergegenwärtigt, welche Dramen Müller zwischen Zement und Bildbeschreibung geschrieben hat, wird ferner deutlich, dass seine Konzentration auf die Episierung einhergeht mit einer Auseinandersetzung mit dem Monolog. Wesentlicher Unterschied zwischen beiden bleibt das formale Kriterium, dass dieser von einer dramatis personae geäußert wird, während die Sprecherinstanz in den Tableaux unklar bleibt bzw. auf eine Instanz außerhalb der Handlung verlagert wird. Deswegen könnte mit Szondi die Meinung vertreten werden, radikale Episierung stelle die „Ganzheit des Dramas“31 infrage, denn er äußert eindeutig, dass „der Dialog Träger des Dramas“32 sei. Dem ersten Eindruck nach gibt es also nur zwei Möglichkeiten: Entweder wird Bildbeschreibung nicht als Drama begriffen oder Szondis These muss als widerlegt gelten.

29 Vgl. Lehmann: Theater der Blicke. 30 Vgl. ebd. 31 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 20. 32 Ebd.

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Wenn man hingegen Müllers weitere dramatische Arbeiten in den Blick nimmt und die anderer, auf Episierung setzender Dramatiker, fällt auf, dass in der Regel der Radikalität von Bildbeschreibung indirekt eine Absage erteilt wird. Müller selbst hat in den folgenden Jahren wieder konventionellere Theatertexte geschrieben, etwa die an der Lehrstück-Ästhetik geschulten Dramen Wolokolamsker Chaussee I-V. In ihnen werden zwar nicht ausdrücklich Sprecherwechsel markiert, gleichwohl finden sich dort dialogische Strukturen. Zudem muss überlegt werden, ob der antidramatische oder besser: antidialogische Gestus von Bildbeschreibung tatsächlich darauf zielt, das Drama für tot zu erklären, oder nicht vielmehr darauf, die Grenzen der Episierung künstlerisch zu erörtern. Für die hier vorgenommenen Formüberlegungen ist es dabei zweitrangig, was Müller selbst dabei gedacht hat und was in formaler Hinsicht seine Intentionen während der Arbeit an Bildbeschreibung waren. Entscheidend ist stattdessen die Frage, wie sich die Dramatik seit Müller dazu verhält. Der experimentelle Umgang mit der Episierung wird von Teilen der jüngeren Dramatik auf formaler Ebene fortgesetzt und in einen Pluralismus der Episierung überführt – und zwar besonders von Dramatikern, die an einem engen Austausch zwischen Drama und Theater interessiert sind und die Texte verfassen, die der Inszenierung Spielräume dadurch anbieten, dass sie tableauartige Prosablöcke im Drama unterbringen. Diese Texte reflektieren also implizit den dramenästhetischen Diskurs seit den 70ern und schreiben ihn fort. Dabei sind sie nicht durch die Form-Radikalität von Bildbeschreibung gekennzeichnet, sondern durch eine trotz ihrer Kürze beeindruckende Formvielfalt. Ein Beispiel dafür ist zeit zu lieben zeit zu sterben von Fritz Kater. Das Drama ist dreigeteilt und zwar prototypisch in einen Monolog, in einen dialogischen Mittelteil mit mehreren Szenen und Figuren sowie abschließend in einen epischen Text, der einige Merkmale der Tableaux hat. Der eröffnende Monolog wird konsequent aus der Perspektive eines jugendlichen Ich-Erzählers aus Berlin geschildert, der von seinen ernüchternden Erlebnissen und Erfahrungen berichtet: ich sage ich bin 16 habe meinen ausweis vergessen also was is matze zeigte seinen wir bekamen das bier im sternchen hatte schon 4 im haus berlin getrunken steinberg zeigte seinen linken unterarm auf dem drei narben in buchstabenform zu sehen waren bfc ich bin aber unioner sagte ich du schwein sagte matze und schlug mir auf die brust steinberg holte sein taschenmesser raus putzte es an der tischdecke ab arm her ich sagte schenk mir noch ein bier matze schüttete mir sein bier über den kopf bitte zu hause wachte ich auf der

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leuchturm an der badezimmertür in der wanne klebte blut auf meinem arm stand bfc mutter schrie ich mußte zum arzt wegen blutvergiftung

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Dominiert wird das interpunktionslose Staccato des Monologs von den Erinnerungen des Erzählers, wobei diese immer wieder durch einfache Formen der erzählten Rede unterbrochen werden. Dadurch eignet sich der Text zur Inszenierung – etwa indem er als Monolog vorgetragen wird und die Rede darin die Funktion eines Spiels im Spiel einnimmt. Alternativ wäre durch einen dramaturgischen Eingriff eine Dialogisierung des Textes auf einfache Weise möglich, da lediglich einige Nebenfiguren integriert werden müssten, die dann Teile der wörtlichen Rede als Sprechtext zugewiesen bekämen. Doch baut Kater in seinen Text gleich zwei ‚Verbote‘ für eine solche Umgestaltung ein. Zum einen steht über dem Text „eine jugend / chor“.34 Das kann als ein auf den Inhalt bezogener Titel sowie eine Anweisung verstanden werden, den Text durch einen Chor sprechen zu lassen, auch wenn sich im Weiteren keine Zeichen finden, die auf eine chorische Inszenierung hindeuten, was aber kein Ausschlusskriterium ist. Im Anschluss an den Monolog folgt der dialogische Mittelteil B, der mit „ein alter film / die gruppe“35 überschrieben und in 19 kurze Szenen unterteilt ist. Die Dialoge sind durch ähnlich einfache Sätze gekennzeichnet wie der Monolog. Zudem umkreisen sie thematisch die Probleme von Pubertierenden:36 im flur der schule ist es später nachmittag peter mußte wieder mal nachsitzen […] ina saß auf einem fensterbrett jeder mensch weiß im innersten welches tier er ist auch wenn er ein anderes sein möchte ina war eine krähe auf einem zaun […] adriana: hast du heute zeit wir könnten zu mir gehen meine eltern sind zwei tage verreist peter: sehr gern aber ich kann heute nicht ein anderes mal ina: bist du blöd oder was adriana sagte kein wort und doch wußte ina daß sie jetzt lieber wegflattern sollte adriana: aber heute wäre die gelegenheit gelegenheiten kommen nicht so schnell wieder

37

33 Fritz Kater: zeit zu lieben zeit zu sterben, in: ders.: Ejakulat aus Stacheldraht. Berlin 2003, S. 205-237, hier S. 207. 34 Ebd. 35 Ebd., S. 215. 36 Vgl. Christian Klein: Identitätsproblematiken in Fritz Katers zeit zu lieben zeit zu sterben, in: Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Hg. v. Stefan Tigges. Bielefeld 2008, S. 75-86. 37 Kater: zeit zu lieben zeit zu sterben, S. 220.

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Kater nähert in zeit zu lieben zeit zu sterben die Grenzen zwischen episierenden und dialogischen Passagen einander an. Dabei ist sein Fluchtpunkt nicht die Episierung des Dialogs oder seine Unterbrechung durch Prosapartien. In Teil B stehen Zwischentexte, die vielfach wie typische Nebentexte formuliert wären, stünden sie nicht im Präteritum. Allein schon durch die zeitliche Verschiebung reißt Kater den Dialog aus seiner dramatischen Gegenwart und fordert von der Inszenierung ein Moment, das dieser Verzeitlichung Rechnung trägt. Den Zwischentexten sind zudem Sätze eigen, in denen von der Situation der Szene abstrahierend ausgegangen wird, wie in der zitierten Reflexion über Inas Krähe-Sein. Kater gibt keine eindeutigen Anweisungen, wie dieser Teil zu inszenieren ist. Aber dass die Zeitlichkeit und mit ihr das Spiel um die Formen dramatischer Darstellung wesentlich sind, wird signalisiert, so dass sein Text an die Inszenierung die Forderung stellt, dieser Verzeitlichung gerecht zu werden. Das Thema des Dramas ist dabei verglichen mit den Themen im klassischen Drama oder dem der Moderne banal, was sich im Sprechtext widerspiegelt, der sich an der Umgangssprache orientiert. Das Spiel mit der Zeitlichkeit der Szenen ist angesichts der Sprache der Figuren wichtiges Indiz dafür, dass der Text nicht etwa einem Realismus verpflichtet ist. Der Text formuliert seine Logik auf der Ebene der Zeitlichkeit – gewissermaßen stellt er eine Aufgabe, die durch die Inszenierung eingelöst werden muss, um dem Text zu entsprechen. Wörtlichkeit auf der Ebene der Figurenrede ist dagegen weniger entscheidend. Das zeigt sich im letzten Teil C, der den Titel „eine liebe / zwei menschen“ trägt. In der nächsten Zeile folgt der Hinweis „gruppe / chor sind verschwunden oder sie können nicht mehr“.38 Was auch immer damit gemeint ist, das ‚Verschwinden‘ von Gruppe bzw. Chor korrespondiert mit dem folgenden Text, der durchgängig auktorial erzählt wird und als Szenario eine einfache, letztlich scheiternde Liebesgeschichte hat: er ging ihr hinterher traf sie in einer bar mit einem mann setzte sich daneben sie beachtete ihn nicht und lachte er wartete als es morgen wurde gingen sie zusammen nach hause sie legte sich ins bett sie sagte ich fühl nichts mehr es war ein irrtum ich liebe einen mann den du nicht kennst der mich nicht liebt es geht so seit jahren der mann in der bar war sein freund es tut mir leid es ist besser wenn du jetzt gehst

38 Ebd., S. 233. 39 Ebd., S. 237.

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Im Gegensatz zu den Tableaux Müllers fehlt dem Text das kafkaesk anmutende, oftmals an mythische Erzählungen erinnernde Setting. Außerdem unterbricht Teil C nicht wie in Zement den Dialog und verweist nicht über die Handlung hinaus. Stattdessen kreist er wie zuvor um das Thema ,alltägliche Liebe‘. Trotzdem gleicht das Setting in Teil C den müllerschen Tableaux, weil erneut das Verhältnis von Zeit, Darstellung und dramatischer Handlung verhandelt wird. Ulrike Haß hat darauf hingewiesen, dass eben dies eine zentrale Funktion der Tableaux ist.40 Die Traumsprache erfährt dabei eine Brechung ins Alltägliche, indem der Text am Ende des Dramas eine Situation schildert, deren Konstellation so stereotyp ist, dass sie nachgerade überindividuell und weniger eine Geschichte als eine Erinnerung an eine längst bekannte Geschichte, an einen Alltagsmythos gewissermaßen, zu sein scheint. Zusätzlich gleicht der Text den Tableaux Müllers, weil er wie diese keine Forderungen an die Inszenierung formuliert, in welche theatralen Zeichen der Text übersetzt werden soll. Auf formaler Ebene ist zeit zu lieben zeit zu sterben und zumal dessen dritter Teil ein Bekenntnis zur Episierung. Sie hat aber durch die thematische Anbindung an die Spuren einer dramatischen Handlung in den vorhergehenden Teilen und durch die Alltäglichkeit des Sujets ihr ostentativ provozierendes Potential eingebüßt. Katers Dramatik überführt die Episierung ins Private der dramatischen Figuren und entlässt sie damit in ihr Wissen um ihre Einsamkeit und ihre Sprachlosigkeit. Sogar ihre Individualität raubt er ihnen, da er den beiden ‚Protagonisten‘ keine Namen zugesteht, der Text kennt nur „er“ und „sie“. Doch wird dadurch nicht, anders als man meinen könnte, die Einfühlung als wichtiger Angriffspunkt der Episierung verabschiedet. Denn gerade in der Entpersonalisierung der Prosa ist die Frage an den Rezipienten versteckt, ob nicht auch er gemeint sein könnte. So heißt es, nachdem ‚er‘ ‚sie‘ verlassen hat: „auf der straße liefen kinder und eine kindergärtnerin an ihm vorbei sie sangen lieder die er nicht kannte“.41 Kater fängt die Einsamkeit in einem einzigen Satz ein, der wie das Schlussbild eines melancholischen Films wirkt.42 Derart ruft er immer

40 Vgl. Haß: Traum, Sprache, S. 242f. 41 Kater: zeit zu lieben zeit zu sterben, S. 237. 42 Dass das Stück „nach motiven des films time stands still von péter gothár“ konzipiert ist, darauf weist bereits das Titelblatt hin, vgl. Kater: zeit zu lieben zeit zu sterben, S. 205. Dem Drama ist damit neben dem hier Erörterten eine Auseinandersetzung mit der Medialität des Films eigen. Zudem erhält es durch diesen Hinweis einen politischen Subtext, weil der Film sich mit den Ereignissen des Ungarn-Aufstands 1956 befasst. All das kann im Rahmen der vorliegenden Erörterung nicht berücksichtigt werden.

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wieder Erinnerungen auf, die Mitleid provozieren können – ganz als wäre Mitleid ein Konzept, das es als Ahnung zu bewahren gilt. Dadurch vermag zeit zu lieben zeit zu sterben eine Wirkung zu evozieren, die wie keine andere wesentlich ist für die aristotelische Dramatik lessingscher Prägung. Kater hat mit zeit zu lieben zeit zu sterben ein Triptychon der dramatischen Formen verfasst, in dem drei ihrer Typen präsentiert und aufeinander bezogen werden. Dass dabei thematisch auf alltäglich anmutende Probleme von Jugendlichen und auf Beziehungskonflikte eingegangen wird, kommentiert das ursprüngliche Anliegen der Episierung. Mit Brecht und Piscator waren es die erklärten Gegner des Mitleids und der Einfühlung, die mit der Episierung die Krise des Dramas zu lösen versuchten. Sie stellten die auf Mitleid zielende Wirkungsästhetik Lessings zur Disposition. Unabhängigkeit der Inszenierung vom Text gewährleistete das aber nicht, sondern Unabhängigkeit von einer bestimmten Form der Darstellung, die unter dem Anspruch der Natürlichkeit stand, die ihrerseits die Inszenierung zu determinieren versuchte. Das der Episierung verpflichtete postmoderne Drama gewährt im Gegensatz dazu der Inszenierung Raum. Ihm ist eine Logik eigen, die der Inszenierung keine Anweisungen bei der Überführung in theatrale Zeichen gibt. Durch die Ablehnung realistischer Darstellungsweisen ermöglicht die Episierung der Inszenierung vielfältige Spielräume – jenseits des Realismus. Formgeschichtlich ist dieses Vorgehen nicht erstaunlich. Vielmehr werden die Umformierungen des Dramas durch Brecht und Piscator seit Anfang der 70er Jahre durch die immer radikalere Episierung (Müller) und durch ihre Pluralisierung (Kater) aufgenommen und weiterentwickelt. Die Episierung selbst wird damit ihrerseits einerseits historisiert und andererseits für an sich auf die Illusionierung bezogene Wirkungsweisen geöffnet. Zugleich wird durch ein Drama wie zeit zu lieben zeit zu sterben ein endgültiges Aufgehen des Dramas in der Episierung bestritten. Das zeitigt Folgen für das Zusammenspiel von Inszenierung und Drama. Dass dieses an jene mal konkrete Anweisungen mittels des Dialogs formuliert und dieses jener mal Spielräume ermöglicht, mag aus Sicht des Theaters als gewaltsamer Akt erscheinen. Doch gesteht das Drama der Inszenierung dadurch auch einen Mehrwert im Vergleich zu sich selbst zu. Schließlich kalkuliert die Episierung die körperliche Präsenz ein, deren Folge mit Hans Ulrich Gumbrecht als „Augenblicke der Intensität“43 begriffen werden kann. Die Anfang des 20. Jahrhunderts einsetzende Episierung hat sich zwar verändert, aber offensichtlich

43 Hans Ulrich Gumbrecht: Epiphanien, in: Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Hg. v. Joachim Küpper, Christoph Menke. Frankfurt/M. 2003, S. 203-222, hier S. 204.

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bleibt sie weiterhin wesentlich für das Drama. In diesem wird immer aufs Neue ein Wechselspiel organisiert, um Widerstand gegen eine Präsenzästhetik, die sich auf das Erleben des Besonderen beschränkt, zu formieren und zu formulieren sowie gleichzeitig dieser Präsenzästhetik Raum für den Ausdruck zu geben. So entwickelt sich eine Dramatik, die sich nicht mehr entweder für Illusionierung oder Desillusionierung oder Antiillusionierung entscheidet, sondern versucht, die Möglichkeiten im Umgang mit der Illusion direkt miteinander zu konfrontieren und so eine neue Ausdrucksvielfalt zu entwickeln. Offensichtlich gelingt das dem Drama, ohne dass es sich bisher darüber vergewissert hat, warum es derart verfährt. Vergewissert hat es sich dagegen seines Umgangs mit der Episierung selbst. Brechts Zugriff auf Drama und Theater lebte von der Sicherheit zu wissen, was richtig und was falsch ist. Diese Gewissheit ist der Gegenwart abhandengekommen. Wohl nicht zuletzt deswegen hat sich das Drama vom Selbstbewusstsein verabschiedet, das der Hintergrund von Brechts Epischem Theater war. Dem Drama ist nur mehr die Vereinzelung geblieben. Davon erzählt es, davon zu erzählen, fordert es die Inszenierung auf. Es ist angesichts dieser Entwicklung kein Ausdruck eines Formkonservativismus, wenn jüngere Dramatiker wie Kater ergänzend (oder, wie wir noch sehen werden, wieder bevorzugt) auf den Dialog setzen. Die Rückkehr zum Dialog dürfte schlicht der Einsicht geschuldet sein, dass die Episierung mit Bildbeschreibung einen Endpunkt erreicht hat. Nichtsdestotrotz bleibt sie wesentliches Mittel des Dramas seit der Moderne.

2.

I CH -D RAMATIK : A NWESENHEIT R ÜCKKEHR DES M ITLEIDS

DES

A UTORS

UND

In Kapitel IV wurde dafür plädiert, Episierung und Ich-Dramatik formal voneinander zu trennen, weswegen deren Weiterentwicklung nun separat untersucht wird. Ausgangspunkt bleiben Szondis Überlegungen aus der Einleitung der Theorie des modernen Dramas zum ‚epischen Ich‘: Da die Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selber wegführt, ist bei ihrer Betrachtung ohne einen Gegenbegriff nicht auszukommen. Als solcher stellt sich ‚episch‘ ein: es bezeichnet einen gemeinsamen strukturellen Zug von Epos, Erzählung, Roman und anderen Gattungen, nämlich das Vorhandensein dessen, was man das „Subjekt der epi44

schen Form“ [Lukács, K.B.] oder das „epische Ich“ [Petsch, K.B.] genannt hat.

44 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 15.

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Aus Szondis Hinweis wird ersichtlich, dass die Episierung im Drama nicht zwingend mit extradiegetischem Erzählen einhergehen muss. Diese Einschätzung dürfte ihre Ursache darin haben, dass ein Ich, das in einem Drama erzählt, nicht als ein Ich-Erzähler betrachtet wird, sondern als eine monologisierende Figur des Dramas. Deswegen wird im Folgenden zwischen episierender Dramatik und Ich-Dramatik unterschieden, auch wenn sich die Grenzen nicht immer klar ziehen lassen – nämlich immer dann nicht, wenn zwar ein Ich spricht, dies es aber nicht eindeutig als Figur tut. Wer den Monolog zu Beginn des erwähnten Lessing-Triptychons spricht, steht außer Frage: „Schauspieler liest: Mein Name ist Gotthold Ephraim Lessing. Ich bin 47 Jahre alt. Ich habe […].“45 Dieses Verfahren der eindeutigen Sprechermarkierung, die an Brecht geschult ist,46 variiert Hamletmaschine mit der bekannten Eröffnung: 1 FAMILIENALBUM Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rü47

cken die Ruinen von Europa.

Der knappe erste Teil der Hamletmaschine wird gemeinhin als Monolog begriffen. Das ist berechtigt, weil hier ein Ich spricht, das, wie im dramatischen Monolog üblich, über sich selbst nachdenkt. Allerdings ist dieses Verständnis nur bedingt überzeugend, weil in den folgenden vier Teilen jeweils eindeutig eine Figur benannt ist, die spricht (im 2. Teil Ophelia, im 3. Teil Ophelia, Hamlet und Stimme(n), im 4. Teil Hamlet und Hamletdarsteller und schließlich im 5. Teil wieder Ophelia). Hanna Klessinger hat deswegen überzeugend vom „Umsturz der Textinstanzen“48 gesprochen. Da Müller für den ersten Teil keine Sprecherinstanz nennt, lehnt er eine Entscheidung ab und überantwortet sie dem Rezipienten, konkret in der Inszenie-

45 Müller: Leben Gundlings, S. 533. 46 Müller variiert hier zugleich die „Vorstellung der Flieger“ aus Brechts Der Ozeanflug: „Ich bin 25 Jahre alt. | Mein Großvater war Schwede. | Ich bin Amerikaner [...].“ Vgl. Bertolt Brecht: Der Ozeanflug, in: ders.: Die Stücke in einem Band. Frankfurt/M. 1978, S. 227-234, hier S. 229. 47 Heiner Müller: Die Hamletmaschine, in: ders.: Die Stücke 2. Werke 4. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2001, S. 543-554, hier S. 545. 48 Klessinger: Postdramatik, S. 159, vgl. dazu auch das überzeugende Kapitel zur Hamletmaschine ebd., S. 159-165.

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rung dem Regisseur. Das heißt zunächst, dass Müller, indem er darauf verzichtet, die Sprecherinstanz zu benennen, einen Spielraum ermöglicht, weil nicht eindeutig ist, wer spricht, weswegen wiederum auch nicht gesagt werden kann, wer angesprochen wird. Dieser Umstand ist zugleich der wesentliche Unterschied zur Parabase, in der der antike Chor sich dem Publikum zuwendet und als Sprachrohr des realen Autors fungiert. Folgt man der Logik des Textes und Müllers sonst üblicher Auszeichnungspraxis in seinen Dramen, kann angenommen werden, dass der erste Teil von Hamletmaschine auf jeden Fall nicht einer Figur zugeordnet werden kann.49 Tragischer Biographismus In Hamletmaschine erweitert Müller nicht nur die Episierung, zugleich wird mit dem Stück die von Szondi betonte Abwesenheit des Autors im Drama, die Handke in den 60ern erfolgreich aufzulösen begonnen hat, endgültig erledigt. Müller experimentiert Mitte der 70er Jahre mit dieser Kategorie – und zwar zunächst in Leben Gundlings: Dem abschließenden Lessing-Triptychon ist eine eminent biographische bzw. autobiographische Dimension eigen, die wir schon kurz erwähnt haben. Müller selbst hat sie betont; die Forschung hat seine Hinweise gerne wiederholt.50 Wesentlich sind wenige biographische Parallelen zwischen Lessing und ihm: Beide wurden im Januar ‘29 in Sachsen geboren (1729 bzw. 1929); beide sind früh erfolgreiche Dramatiker, müssen sich als Kritiker durchschlagen und werden Dramaturgen; beide leben als Sachsen in Preußen (bzw. seinem Nachfolge-Rest), in einem autoritären Staat, der sich jeweils die Kunst dienstbar aneignet; und beide sind Beispiele für das Ideal des freien

49 Dass Müller in der epochalen Inszenierung Hamlet/Maschine (1990) diesen Part von Ulrich Mühe hat sprechen lassen und damit also von Hamlet bzw. vom Hamletdarsteller ändert an diesem textanalytischen Befund nichts. 50 Zur ersten Orientierung vgl. Wolfgang Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart, Weimar 2003, S. 129-131; Thomas Eckhardt: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: ebd., S. 239-243.

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Schriftstellers, das von Lessing entwickelt wurde,51 weswegen ihn Müller eine „Vorbildfigur“52 genannt hat. Doch gibt es es jenseits dieser Eckdaten kaum Parallelen zwischen Lessing und Müller im Alter von 47 Jahren (dieser schrieb den Text 1976). Müller konstruiert vielmehr die Parallelität. Das zeigt sich, wenn man bedenkt, was Müllers Text von Lessings Zeit seit der Hamburgischen Dramaturgie unterschlägt: In der Lessing-Forschung gilt diese Zeit als schwierig: „Das Wolfenbütteler Jahrzehnt steht innerhalb der Lessingrezeption bis heute unter eigentümlich ambivalenten Vorzeichen.“53 Der 47jährige Lessing lebte nicht mehr im preußischen Berlin, sondern im braunschweigischen Wolfenbüttel. Seit dem Scheitern des Hamburger Theaterprojekts, das in der Hamburgischen Dramaturgie seinen literaturund theaterkritischen Niederschlag gefunden hatte, war Lessing privat wie beruflich viel geglückt. Noch 1767 lernte er in Hamburg Eva König kennen, mit der er sich 1771 verlobte. Voraussetzung dafür war, dass Lessing 1769 in Wolfenbüttel die Stelle eines Bibliothekars angeboten wurde – ein Amt, das ihn finanziell unabhängig machte. Lessing hatte sich im Alter von 47 also vom Ideal des freien Autors verabschiedet. Auch war er als Dramatiker in dieser Zeit erfolgreich. Minna von Barnhelm wurde 1768 in Berlin uraufgeführt, Emilia Galotti nahm im Hochzeitsjahr 1771 Gestalt an und hatte im Folgejahr Premiere. Vor allem aber hatte Lessing im Alter von 47 noch nicht seinen Traum vom Theater ausgeträumt – anders als es Müller eingangs des Lessing-Triptychons LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI schreibt: „Ich habe […] einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt […]. Das ist nun vorbei.“54 Müller zitiert damit den berühmten Satz aus dem letzten Stück der Hamburgischen Dramaturgie, dass der „süße Traum, ein Nationaltheater […] zu gründen, […] schon wieder verschwunden“55 sei. Er unterschlägt Lessings eigene Einschränkung „hier in Hamburg“, was nicht unerheblich ist. Denn das Hamburger Projekt war zwar gescheitert. Aber erst im auf die Hochzeit folgenden Jahr 1777 lehnte Lessing die

51 Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 6. Aufl. München 1998, S. 103-106. 52 Vgl. Heiner Müller, Frank Feitler: Wer wirklich lebt, braucht weder Hoffnung noch Verzweiflung, in: Sire, das war ich. Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch. Hg. v. Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski. Berlin 2007, S. 288. 53 Barner, Grimm, Kiesel, Kramer: Lessing, S. 113. 54 Müller: Leben Gundlings, S. 533. 55 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke 1767-1769. Werke und Briefe 6. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt/M. 1985, S. 181-706, hier S. 690.

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Leitung des Mannheimer Theaters definitiv ab. Schon diese Hinweise dürften verdeutlichen, wie wenig die Engführung zwischen Lessing und Müller im Detail zu überzeugen vermag. Gleichwohl war Wolfenbüttel der Ort, der die erhoffte Meinungsfreiheit nicht brachte, wie der Fragmentenstreit zeigen sollte. Auch verschlechterte sich dort Lessings Gesundheitszustand. Er vereinsamte und sollte hier auch Frau und Kind verlieren. Gerade dieser letzte Punkt hat in der Müller-Forschung wiederholt für Aufmerksamkeit gesorgt. Der Tod von Lessings einzigem Kind und seiner Frau Eva König im Wochenbett wird gerne mit dem Selbstmord von Inge Müller in Verbindung gebracht. Emmerich schreibt im Müller-Handbuch: „Zugleich spielt dieser Monolog auf Lessings Verlust seiner geliebten Frau Eva König im Januar 1778 an (also zwei Jahre nach dem fiktiven Zeitpunkt der Lessing-Szene Müllers) […].“56 So reizvoll solche Vergleiche sind, man sollte vorsichtig damit sein: zum einen, weil Inge Müller Selbstmord beging und Eva König eines im 18. Jahrhundert gewöhnlichen Todes starb; zum anderen, weil es Lessings wie Müllers Auseinandersetzung mit dem Thema Tod auf ein individuelles, psychologisches Moment reduziert. Das hat Müller, wie erwähnt, durch zahlreiche Äußerungen selbst provoziert, etwa im zitierten Interview mit Frank Feitler oder, wie wir sehen werden, in Krieg ohne Schlacht. Das muss betont werden, weil der Biographismus der Forschung den Blick auf Müllers Auseinandersetzung mit Lessings Texten in Leben Gundlings versperrt hat. Wichtiges künstlerisches Kompositionsprinzip dieses Dramas ist, wie die vorgestellte Surrealisierung zeigt, die Collage. Wir haben es mit Lessing-Szenen zu tun, die über dessen Biographie hinausweisen, auf den Autor Müller hinweisen und zugleich ihre eigene Literarizität reklamieren. Ein Beispiel dafür ist der in Hamletmaschine wieder zitierte Satz57 „Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.“58 Der auf Hamletmaschine vorverweisende Lessing-Monolog wird im MüllerHandbuch als klassische Prosopopoiia begriffen, indem er mit einer Maske verglichen wird, durch die hindurch der Autor Müller spreche.59 Das scheint vordergründig plausibel – allerdings nur, wenn wir von den dargelegten Ebenen der Autorschaft ausgehen, wie sie im Vorliegenden entwickelt worden sind. Durch die Hinweise und Anspielungen auf die Biographie Müllers spricht durch die

56 Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing, S. 131. 57 Müller: Hamletmaschine, S. 547. 58 Müller: Leben Gundlings, S. 533f. 59 Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing, S. 131.

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Lessing-Maske nicht der empirische, sondern eben der dramaturgische Autor, den man Heiner Müller nennen mag, der jedoch mit dem empirischen Autor gleichen Namens nicht verwechselt werden darf. Das gilt zumal, weil in Leben Gundlings nicht nur versucht wird, die Grenze zwischen empirischem und dramaturgischem Autor unkenntlich zu machen, sondern auch die zwischen dramaturgischem und dramatischem Autor. Um dies zu zeigen, ist es erforderlich, sich die produktive Rezeption60 von Lessings Wie die Alten den Tod gebildet61 in Müllers Stück zu vergegenwärtigen. Hier geht Lessing grundlegend auf das Verhältnis von Tod und Schrecken in den Künsten ein: Gleichwohl ist es gewiß, daß diejenige Religion, welche dem Menschen zuerst entdeckte, dass auch der natürliche Tod die Frucht und der Sold der Sünde sei, die Schrecken des Todes unendlich vermehren mußte. Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte, ohne Offenbarung, schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauch62

te.

Die Pointe von Wie die Alten den Tod gebildet ist, dass erst mit der christlichen Offenbarung der Tod ein Ereignis des Schreckens geworden sei. Ohne Offenbarung sei dem Tod nichts Schreckliches eigen. Dass Lessings Studie für Müllers Stück wesentlich ist, legt zunächst der Aufbau des ersten Teils des Lessing-Triptychons nahe. Die beiden zentralen Begriffe der Szene sind „Schlaf“ und „Tod“. Um sie herum ist ein Isotopiengeflecht angelegt: Für das Wort „Schlaf“ sind das Wendungen und Worte wie „Augen schließen“, „Nacht“, „Schlafen ist gut“; für „Tod“ sind das unter anderem „Blut“, „vorbei“, „toter Fleck“, „Wüste“, „Sterben“, „tote Gäule“, „Hölle der Frauen“, „Der Tod ist eine Frau“ oder „Autofriedhof“. Und dass es hier um das

60 Diese Vorgehensweise hat ihre methodische Entsprechung in der Lessing-Forschung, vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973. 61 Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet, in: ders.: Werke 17671769. Werke und Briefe 6. Hg. v. Klaus Bohnen. Frankfurt/M. 1985, S. 715-778. Zur Rezeption dieses Textes auch in der jüngeren deutschen Literatur vgl. Wilfried Barner: Der Tod als Bruder des Schlafs. Literarisches zu einem Bewältigungsmodell, in: ders.: „Laut denken mit einem Freunde“. Lessing-Studien. Hg. v. Kai Bremer. Göttingen 2017, S. 195-211. 62 Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet, S. 778.

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Verhältnis von Schlaf und Tod geht, wird zudem durch die Thematisierung des Traums bei Lessing deutlich. Müller konstruiert dabei einen paradoxen Chiasmus, der Lessings Theaterutopie betont: Wenn Lessing schlief, träumte er nicht. Nur wenn er wach war, träumte er, nämlich vom Theater in Deutschland. Das hat sich in der Gegenwart der Szene grundlegend verändert. Lessings Sterben hat begonnen, er nähert sich dem Tod an, was metaphorisch durch eine Vergessensassoziation versinnbildlicht wird: „Vergessen ist Weisheit. Am schnellsten vergessen die Götter.“ Damit rekurriert Müller implizit auf den Fluss Lethe, aus dem die Verstorbenen trinken, damit sie vergessen und erst dadurch zu Toten werden. Den Abschluss der Szene bildet dann das Bruderpaar Schlaf und Tod: „Schlafen ist gut. Der Tod ist eine Frau“,63 womit die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tod und Geschlecht in Hamletmaschine und Medeamaterial pointiert vorweggenommen wird.64 Müller zielt mit dem Lessing-Triptychon auf Ähnliches wie Lessing, auf eine Befreiung. Gänzlich gleich ist diese Befreiung aber nicht. Müller denkt die Nähe zwischen Schlaf und Tod unabhängig von der Existenz Gottes. Das ist bei Lessing anders. Bei ihm ist die Existenz zumindest einer göttlichen Instanz Voraussetzung. Er denkt über Schlaf und Tod als Zustand nach. Müller dagegen geht es nicht um eine philosophische oder kunsttheoretische Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern um die Toten selbst. Beide Formen der Befreiung, die der Toten wie die des Todes, sind die beiden miteinander verwandten künstlerischen Utopien der beiden Dramatiker. Der Unterschied ist der, dass Lessings Befreiung primär ein ästhetisches, diejenige Müllers ein politisches Anliegen verfolgt. Nachdem dieser mit Philoktet Lessings Schmerzästhetik widerrufen hat,65 wendet er sich am Ende des Lessing-Triptychons grundlegend der Todesästhetik Lessings zu und führt ihr Scheitern vor Augen, das in einem Schrei – dem Laokoons? – seinen Schlusspunkt findet: „Die Kellner […] verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befreien. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei.“66 Lessings Befreiung von der Büste scheitert und damit

63 Müller: Leben Gundlings, S. 533. 64 Vgl. dazu Ulrike Haß: Die Frau, das Böse und Europa. Die Zerreißung des Bildes der Frau im Theater von Heiner Müller, in: Text + Kritik 73 (1997), S. 103-118. 65 Vgl. Manfred Schneider: Kunst in der Postnarkose. Laokoon Philoktet Prometheus Marsyas Schrei, in: Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme. Hg. v. Christian Schulte, Brigitte Maria Mayer. Frankfurt/M. 2004, S. 120-142. 66 Müller: Leben Gundlings, S. 535f.

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zugleich seine aufgeklärt-ästhetische ‚Befreiung vom Tod‘. Doch was meint das konkret? Auf was zielt Müllers ‚Befreiung der Toten‘ im Unterschied zu der Lessings? Wenn dieser in Wie die Alten den Tod gebildet dem Tod seinen Schrecken nehmen will, so ist das programmatisch zu verstehen. Lessing arbeitete Ende der 1760er Jahre an einer ‚Bändigung des Schreckens‘. Zuvor, in der Hamburgischen Dramaturgie, hatte er den Schrecken systematisch aus der Dramenpoetik auszugrenzen versucht und stattdessen die Furcht als wesentliche Kategorie der Tragödie neben dem Mitleid etabliert.67 Wie Lessing betont auch Müller ein auf sich selbst bezogenes Mitleid, da er auf sein Lessing-Stück eingeht: „Wenn ich aus Gundling zitiere, werde ich traurig, in dem Stück ist Mitleid. Mitleid mit allem, was da beschrieben wird.“68 Bemerkenswert an diesem vielfach zitierten Satz ist Müllers Perspektive auf das Stück. Er spricht nicht als empirischer Autor über seine Intention, sondern schlüpft in die Rolle des Rezipienten seines eigenen Dramas. Aus dieser Rezipientenposition heraus erklärt er Mitleid zu einer faktischen Wirkungskategorie von Leben Gundlings. Dramentheoretisch ist das Stück damit ein Kommentar zur durch Lessing kritisch vermittelten, aristotelischen Poetik. Dem Lessing-Triptychon ist eine wirkungsästhetische Dimension eigen, die auf eine Veränderung von Erfahrung zielt und die sich eines Mitleids bemächtigt, dem die kathartische Wirkung fehlt. In Leben Gundlings bricht die Erfahrung zusammen, dass es nicht die eine Geschichte gibt, sondern immer die Geschichten und dass neben der Heldengeschichte oftmals auch eine Mitleidsgeschichte existiert.69 Müller schreibt also – ganz in der Tradition Benjamins – gezielt gegen die normierende, materialistische Klassikerverehrung, die Lessing umfangreich zuteil wurde.70 Er verfasst ei-

67 Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 556f.: „Man hat ihn [Aristoteles] falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist […] die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können […]. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.“ Dass Lessings Übersetzung ihrerseits problematisch ist, ist hinlänglich bekannt; vgl. Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid, in: Hermes 83 (1955), S. 129-171. 68 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 270. 69 Zum geschichtsphilosophischen Hintergrund vgl. Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn u.a. 1989, S. 67-70. 70 Vgl. Barner, Grimm, Kiesel, Kramer: Lessing, S. 422-425.

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nen dramatischen Kommentar71 gegen die Tradition der Auslegung und bietet so einen alternativen Blick auf die Geschichte. Leben Gundlings zeigt die andere Seite des Klassikers Lessing – aber nicht im Sinne eines Gegenbilds oder einer Negativfolie, sondern in Form einer Mitleid erweckenden Figur, die sich jedem Versuch der zum steinernen Standbild tendierenden Klassikerverehrung widersetzt, indem sie den Blick frei gibt auf den Menschen. Das macht nach Lessings Meinung die Großen für das Trauerspiel geeignet. Aber Lessing äußert seine Überlegungen zum Trauerspiel nicht nur angesichts eines gänzlich anderen Erfahrungshorizonts. Sein Trauerspielbegriff im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai und im Tränenerfolg Miss Sara Sampson ist ein anderer als der Müllers, wie schon deren verwandter, aber eben keinesfalls gleicher Mitleidsbegriff zeigt. Mit Leben Gundlings kreist Müller um die Möglichkeiten der Tragödie.72 Anders als Lessing hat er sich nie der Mühe unterzogen, den Begriff ‚Tragödie‘ bzw. ‚Trauerspiel‘ zu fassen. Er lässt sich nur aus seiner schriftstellerischen Praxis erschließen. Müller schreibt für das Andere der Geschichte und für die Widersprüche und gegen ein Geschichtsbild und ein Tragödienkonzept der idealisierenden, stiftenden Heldenverehrung. In Leben Gundlings exerziert er das beispielhaft an Friedrich II., Kleist und Lessing durch – als „Befreiung der Toten“, die Müller selbst als „Benjamins Traum vom Kommunismus“ bezeichnet hat.73 Müllers Tragödienbegriff orientiert sich am Trauerspielbegriff Benjamins im Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925).74 Er legt mit Leben Gundlings eine Spielart tragischer Dramatik vor, die über ihr allegorisches Personal funktioniert und die frei von empfindsamer Katharsis ist.

71 Vgl. Patrick Primavesi: Theater des Kommentars, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart 2003, S. 45-52, bes. S. 46f. 72 Vgl. Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske. 73 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 364. Wichtig ist zudem, dass Müller mit dem Triptychon ‚Schlaf – Traum – Schrei‘ eine Dynamik aufnimmt, die Benjamin bereits im Passagen-Werk andeutet und geschichtsphilosophisch perspektiviert hat (auch wenn bei ihm das Moment des Schreis nicht verhandelt wird); vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk K [Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, anthropologischer Nihilismus, Jung], in: ders.: Gesammelte Schriften V/1. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M. 1982, S. 490-510. 74 Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt/M. 1978.

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Der Umgang mit Lessing geht dabei über die bloße Darstellung des Anderen, des Gegenbilds hinaus. Müller gibt dem in der DDR durch die Erbepflege mundtot gemachten Aufklärer seine Stimme als Schrei zurück. Was als eine direkt an das Mitleid des Theaterzuschauers adressierte Regieanweisung gedeutet werden kann, ist zugleich ein Verweis auf Lessings Ästhetik und auf die eigene. Dadurch gelingt es Müller, in doppelter Hinsicht die Möglichkeit des Tragischen zu reflektieren: Auf der Handlungsebene als tragische Groteske über das Mundtotmachen der klassischen Literatur und auf der Metaebene als Kommentar zum klassischen Tragödienkonzept. Indem Müller das Mitleid als zentrale Kategorie des Dramatischen betont, revitalisiert er das Tragische insgesamt. Was in Leben Gundlings oberflächlich wie eine biographische Überblendung zwischen Lessing und dem Autor erscheint, ist im Kern eine vielfältige Auseinandersetzung mit Lessings Dramenästhetik und seiner Tragik-Theorie mittels eines Dramas. Müller setzt mit dem Lessing-Triptychon die Auseinandersetzung mit dem Autor im Drama fort. Szondi ist mit Lukács davon ausgegangen, dass die Episierung ein ,episches Subjekt‘ in der Dramatik ermöglichen kann. Müllers Dramatik kennt im Unterschied dazu zwei Autorinstanzen, die innerhalb des dramatischen Textes aufeinander bezogen und ineinander verwoben werden – eben den dramaturgischen und den dramatischen Autor, wie im Folgenden noch deutlicher zu sehen sein wird. Szondi geht davon aus, dass diese „Entwicklung in der modernen Dramatik vom Drama selber“75 wegführe. Genauer wäre es, hier vom klassischen Drama zu sprechen, von dem sich die moderne und dann postmoderne Dramatik fortentwickelt. Zugleich aber entdeckt die Ich-Dramatik das Mitleid, das eine zentrale Wirkungskategorie eben des klassischen Dramas besonders in der Gestalt des bürgerlichen Trauerspiels war. Das ist ein provozierender Befund. Denn er deutet an, dass Katers von uns zuvor beobachtete Engführung von Mitleid und Episierung kein Sonderfall ist. Müller wie Kater stellen sich dem Mitleid als Wirkungskategorie, ohne dass sie die formale Weiterentwicklung des Dramas aufgeben. Ausdifferenzierung des Ichs In der auf Leben Gundlings zeitlich folgenden Hamletmaschine wird die Auseinandersetzung mit der Autorschaft ins Prinzipielle geführt. Zentral ist der Monolog des Hamletdarstellers:

75 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 15.

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In der Einsamkeit der Flughäfen Atme ich auf Ich bin Ein Privilegierter Mein Ekel Ist ein Privileg Beschirmt mit Mauer Stacheldraht Gefängnis Fotografie des Autors Ich will nicht mehr essen trinken atmen eine Frau lieben einen Mann ein Kind ein Tier. Ich will nicht mehr sterben. Ich will nicht mehr töten. Zerreißung der Fotografie des Autors.

76

Mit diesen Sätzen erweitert Müller die Möglichkeit, vom Autor im Drama zu sprechen, erneut. Hatte er in Leben Gundlings auf autobiographische Motive gesetzt, so nimmt er nun die seit Ende der 60er Jahre virulente Debatte um den Tod des Autors symbolisch mittels der „Zerreißung der Fotografie des Autors“ auf, ohne dabei in dem vermeintlich eindeutigen Nebentext eindeutig zu sein. Denn es wird nicht geklärt, wessen Fotografie zerrissen werden soll. Für Hamletmaschine einschlägig sind zunächst die Autoren Müller und selbstredend Shakespeare, der angesichts des genannten Bildmediums Foto aber kaum gemeint sein dürfte. Doch lässt das im Umkehrschluss die Vermutung zu, dass hier zwingend eine Fotografie Müllers zerrissen wird? Dafür spricht dem ersten Eindruck nach, dass im Nebentext der bestimmte Artikel gesetzt wird. Doch ist das tatsächlich hinreichend, um von einem Foto Müllers auszugehen? Ebenso ist es möglich, dass der bestimmte Artikel generalisierend gemeint ist – wie im Aufsatz von Barthes. Indem im Nebentext nur von ,dem‘ Autor gesprochen wird, dieser aber nicht benannt wird, wird ein Spielraum eröffnet, der sich dem virulenten Autorschaftsdiskurs stellt, ohne sich eindeutig zu positionieren. Verhalten muss sich hingegen die Regie, die durch den Nebentext aufgefordert wird, ein Foto zu zeigen, das als ,Autorfoto‘ zu identifizieren ist. Der generelle Impuls, der von diesem Nebentext ausgeht, hat dabei aber unabhängig von seinem Verständnis eine eigenartige Dynamik: Um die Fotografie zu zerreißen, muss sie bzw. der Autor zunächst eingeführt werden. Mit der Abwesenheit des Autors im Drama muss also gebrochen werden, um ihn wieder auszutreiben. Dieses Verfahren ähnelt ein wenig der Vertreibung des Hanswurst von der Bühne der Neuberin im Kontext der Gottschedschen Theaterreformen (wobei im Unterschied zum Autor nie mehr ernsthaft an der Rehabilitierung des Hanswursts gearbeitet wurde).

76 Müller: Die Hamletmaschine, S. 552.

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Im Hinblick auf den behaupteten Bedeutungsverlust des Dramas als Voraussetzung für Inszenierungen in der Postmoderne ist dieser Befund nicht zu unterschätzen: Sowohl durch die Episierung als auch durch die Ich-Dramatik wird das Drama insgesamt nicht abgeschafft, sondern zu einem Materialspender besonderer Art umgeformt. Es verliert seine Formspezifik im Dialog und provoziert zugleich einen veränderten Umgang mit dem dramatischen Text. Ein Beschreibungsmodell, das davon ausgeht, dass das Drama gewissermaßen das Opfer der Trennungsgeschichte vom Theater ist, greift also entschieden zu kurz. Vielmehr haben avantgardistische Texte wie die Müllers die Möglichkeiten nicht nur des Theaters, sondern auch des Dramas erweitert, indem es nun derart gestaltet werden kann, dass es die Regie nicht etwa festlegt, sondern sie vom Primat des Textes freimacht. Wie sehr Müller in der zweiten Hälfte der 70er Jahre mit dem Ich im Drama und dem Konzept der Autorschaft im dramatischen Text befasst war, zeigen seine auf Leben Gundlings und Hamletmaschine folgenden Stücke, die letztlich die vorliegenden Möglichkeiten, Ich-Dramatik unter den Voraussetzungen der Episierung zu ermöglichen, ausdifferenzieren. In Der Auftrag, der zwar thematisch der Hamletmaschine nahe ist, aber kaum formal,77 finden sich zwei Tableaux. Der zweite ist eine Art Epilog, der erste Text aber, der als Einzelerzählung und dann vor allem durch die Vertonung von Heiner Goebbels unter dem Titel Der Mann im Fahrstuhl bekannt ist, verhält sich zur dramatischen Handlung nicht eindeutig. Auch scheint es ihm zunächst anders als etwa den Tableaux in Zement an einem klaren, parabelhaften Bezug zur von ihm unterbrochenen Figurenrede zu mangeln: Ich stehe zwischen Männern, die mir unbekannt sind, in einem alten Fahrstuhl mit während des Aufstiegs klapperndem Metallgestänge. Ich bin gekleidet wie ein Angestellter oder wie ein Arbeiter am Feiertag. Ich habe mir sogar einen Schlips umgebunden, der Kragen scheuert am Hals, ich schwitze. Wenn ich den Kopf bewege, schnürt mir der Kragen den Hals ein. Ich habe einen Termin beim Chef (in Gedanken nenne ich ihn Nummer Eins), sein Büro ist in der vierten Etage, oder war es die zwanzigste, kaum denke ich darüber nach, schon bin ich mir nicht mehr sicher.

78

77 Vgl. Christian Klein: Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart, Weimar 2003, S. 189-193. 78 Müller: Der Auftrag, S. 27.

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Auf das Ich, das zu Beginn von Hamletmaschine über sein Hamlet-Gewesensein reflektiert, folgt ein Ich, das kafkaesk zunächst über sein Verhältnis zum Chef nachdenkt und schließlich, nachdem die Zeit außer Kontrolle geraten ist, aus dem Fahrstuhl tritt: „Ich verlasse den Fahrstuhl beim nächsten Halt und stehe ohne Auftrag, den nicht mehr gebrauchten Schlips immer noch lächerlich unter mein Kinn gebunden, auf einer Dorfstraße in Peru.“79 Erst mit diesem Ortswechsel, der der Schilderung eine überraschende Wendung verleiht, wird der Bezug des Tableau-Textes zum dramatischen Rahmen hergestellt. Sowohl in der rahmenden Figurenrede wie auch in diesem Prosablock geht es darum, dass ein Auftrag verloren gegangen ist und dass der ehedem Beauftragte sich unvermittelt der ganz und gar anders gearteten ‚dritten‘, also aus europäischer Perspektive unterentwickelten Welt gegenüber sieht. Dieser Konflikt zwischen Ich und der überraschend veränderten Umwelt wird im Text abschließend forciert: Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Landschaft, die keine andere Arbeit hat als [sic!] auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfe meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird 80

überleben.

Müller verfährt in Der Auftrag zunächst wie in Zement: Unvermittelt werden ‚Prosablöcke‘ in den Sprechtext einmontiert, ohne dass signalisiert wird, wer spricht, wodurch der Regie deutlich Spielraum gegeben wird. Im Unterschied zu Zement spricht hier nun aber ein Ich, und dieses Ich ist keins, das aus dem Text rekonstruiert werden kann. So wird auf textexterne Deutungsangebote zurückgegriffen. Eine solche Deutung hat Müller befördert, indem er ausdrücklich auf die autobiographische Dimension von Der Mann im Fahrstuhl hingewiesen hat: Die andere Erfahrung, die der Text aufnimmt, war mein Bittgang zu Honecker im Gebäude des Zentralkomitees, der Aufstieg mit dem Paternoster. In jeder Etage saß dem Pater-

79 Ebd., S. 30. 80 Ebd., S. 33.

156 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI noster gegenüber ein Soldat mit Maschinenpistole. Das Gebäude des Zentralkomitees war ein Hochsicherheitstrakt für die Gefangenen der Macht.

81

Der autobiographischen Mutmaßung und der psychologischen Lektüre hat Müller damit das Feld bereitet. Die Müller-Forschung hat dieses Angebot gerne angenommen – ähnlich wie im skizzierten Fall von Leben Gundlings. Entscheidend ist für die vorliegenden Fragen aber nicht der autobiographische Kern der Erzählung, sondern die Beobachtung, dass Müller mittels der Erzählung die von Szondi diagnostizierte Abwesenheit des Autors im Drama weiter auflöst, indem er einen aus der Ich-Perspektive geschilderten Prosatext mit deutlich autobiographischen Zügen in sein Drama einmontiert. Im Anschluss an Der Auftrag variiert Müller erneut sein Kreisen um die Möglichkeiten der Ich-Dramatik, indem er den Monolog radikalisiert, so dass dieser nicht mehr von einem Gedicht unterschieden werden kann. Dadurch wird die Abwesenheit des Autors im Drama zugleich ein weiteres Mal unterlaufen, da die Frage nach dem Sprecher des Textes virulent bleibt,82 wie nun zu zeigen ist. Der erste Teil von Müllers Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten liest sich wie eine lange Regieanweisung inklusive einer Beschreibung des Bühnenbildes: See bei Straußberg Verkommenes Ufer Spur Flachstirniger Argonauten Schilfborsten Totes Geäst DIESER BAUM WIRD MICH NICHT ÜBERWACHSEN Fischleichen Glänzen im Schlamm Keksschachteln Kothaufen FROMMS ACT CASINO Die zerrissenen Monatsbinden Das Blut Der Weiber von Kolchis

83

Der zweite Teil Medeamaterial bietet den Rest einer dramatischen Struktur durch den Dialog zwischen Jason und Medea. Der letzte Teil aber erlaubt keine Zuordnung zu irgendeiner Bühnenfigur, auch ist er nicht an eine Bühnenfigur adressiert. Der dritte Teil ist überschrieben mit „LANDSCHAFT MIT

81 Müller: Krieg ohne Schlacht, S. 298. 82 Heiner Müller: Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten, in: ders.: Die Stücke 3. Werke 5. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2002, S. 71-84. 83 Ebd., S. 73.

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ARGONAUTEN“. Es spricht deswegen mutmaßlich ein Ich, das entweder von dieser Landschaft erzählt oder das diese ist. Auf jeden Fall ist dieses Ich nicht ,dramatisch‘ zu nennen, weil es in keinen Dialog eingebunden ist. Doch auch ,episch‘ verfängt hier kaum, da der Text sehr artifiziell gestaltet ist – und zwar sowohl sprachlich als auch graphisch. Müller hat den Eindruck, dass diesem Text kaum mit üblichen Formvorstellungen beizukommen ist, dadurch gesteigert, dass er selbst in einer Nachbemerkung zum Drama diesen dritten Teil ,kollektiv‘84 genannt hat. Der Text ist damit entschieden paradox konzipiert, indem einerseits ein Ich spricht, andererseits aber diesem seine Individualität aberkannt wird. Der Text setzt folgendermaßen ein: Soll ich von mir reden Ich wer Von wem ist die Rede wenn Von mir die Rede geht Ich Wer ist das 85

Im Regen aus Vogelkot Im Kalkfell.

Dieses vorsichtige Tasten und Suchen nach der eigenen Existenz unter dem zur zweiten Haut gewordenen Kalkfell – Prometheus gleichend – mündet in ein Bekenntnis zum eigenen Ich ein, das nur als Wunde wahrgenommen werden kann – also in seiner Körperlichkeit.86 Und Schüsse knallten in meine torkelnde Flucht Ich spürte MEIN Blut aus MEINEN Adern treten Und MEINEN Leib verwandeln in die Landschaft MEINES Todes IN DEN RÜCKEN DAS SCHWEIN Der Rest ist Lyrik Wer hat bessre Zähne 87

Das Blut oder der Stein

Mit diesem Schluss, der seine Offenheit durch das Fehlen eines abschließenden Satzzeichens markiert, wird eine Formsprache etabliert, die im Modus des Dramas in Konkurrenz tritt zur Dramatisierung bzw. Episierung der Handlung. Sie setzt auf eine Vervielfältigung von Perspektiven: Zum einen geht es um das Ich,

84 Ebd., S. 84 die Anmerkung: „Wie in jeder Landschaft ist das Ich in diesem Textteil kollektiv.“ 85 Ebd., S. 80. 86 Vgl. Haß: Die Frau, das Böse und Europa. 87 Müller: Verkommenes Ufer, S. 83.

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das hinterrücks erschossen wird und den Übergang zum Tod bewusst erlebt. Dann geht es zweitens um die metaphorische Abstraktion dieses Todes, die durch die Komprimierung der Erschießung erreicht wird, wenn nicht etwa die Kugeln, sondern die Schüsse in die Flucht eindringen und nicht etwa in den Körper des Ichs. Drittens wird der Modus des Dargelegten autoreferentiell thematisiert und ins Verhältnis gesetzt zur dramatischen Tradition. Schließlich verhält sich das Drama zu Euripides’ Medea allein schon durch die Tendenz zum Monolog. Zugleich baut Müller mit dem Schluss („Der Rest ist Lyrik“) sowohl einen Verweis auf Hamlets letzte Worte ein als auch auf die hier gewählte lyrische Formsprache.88 Damit wird der Text von Müller offensiv in die Tradition der europäischen Dramatik gestellt, und gleichzeitig markiert er durch die Ersetzung von „Schweigen“ (in Hamlet) durch „Lyrik“ einen Bruch mit der Formtradition. Während sowohl bei Euripides wie auch bei Shakespeare die Frage „Wer spricht?“ klar beantwortet werden kann, ist dies für den vorliegenden Text nicht möglich. In Müllers Dramatik finden sich also drei Varianten, wie Autorschaft im Drama verhandelt werden kann. In Leben Gundlings und Hamletmaschine erprobt Müller die Möglichkeit, mit der Abwesenheit des Autors im Drama zu brechen, indem er offensiv Momente seiner Biographie in die Figurenrede integriert, da er auf Elemente der Biographie des empirischen Autors anspielt.89 Dann erprobt er die Integration eines ‚epischen‘ Ichs, das in Der Auftrag bzw. in Der Mann im Fahrstuhl zu fassen ist und das ebenfalls Züge des empirischen Autors trägt. Schließlich wendet er sich mit Medeamaterial gezielt der dramatischen Monologtradition zu, um das Ich des Monologs in eine Art ‚lyrisches‘ Ich zu überführen. Im Vergleich zu den ersten beiden Varianten, im dramatischen Text „Ich“ zu sagen, sind autobiographische Motive hier wenig konkret.90

88 Schlegels Übersetzung der letzten Worte Hamlets (Akt V, 2, Vers 310: „The rest is silence.“) unterschlägt wesentliche Bedeutungsnuancen: „Der Rest ist Schweigen.“; vgl. William Shakespeare: Hamlet, Prinz von Dänemark. Übers. v. August Wilhelm Schlegel, in: William Shakespeare: Tragödien. Werke 3. Darmstadt 2005, S. 475-583, hier S. 582. 89 Vgl. zum Ich im Drama auch Spittler: Darstellungsperspektiven im Drama, S. 108114. 90 Vgl. hierzu auch Francine Maier-Schaeffer: Episierung des Dramas? Der ‚Ich‘Monolog Landschaft mit Argonauten zwischen epischem Theater und (post)moderner écriture, in: Heiner Müller. Probleme und Perspektiven. Hg. v. Ian Wallace. Amsterdam, Atlanta 2000, S. 237-257.

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Was in diesem Ensemble der Brüche mit der Abwesenheit des Autors im Drama noch fehlt, ist ein lyrisch anmutendes Ich, das Momente der Biographie des empirischen Autors kennt und sie verarbeitet. Ein solches Ich findet sich in Sarah Kanes 4.48 Psychosis.91 Das Drama verweist schon durch den Titel auf die Biographie der Verfasserin, da 4:48 Uhr die Uhrzeit war, zu der Kane in den Monaten vor ihrem Suizid frühmorgens erwachte, wie sie wiederholt betonte.92 Das lyrisch anmutende Ich dieses Dramas erweitert damit die Ausdrucksmöglichkeiten der Ich-Dramatik. Das Stück ist weitgehend monologisch, unterbrochen von Sätzen, die mit Spiegelstrichen beginnen und die als Dialog zwischen einer/m PsychiaterIn und einer/m PatientIn gedeutet werden können; es können aber auch Gespräche zwischen Freunden oder Dialoge einer gespaltenen Persönlichkeit sein.93 In der ersten latent dialogischen Szene hat das Ich sich den Arm aufgeschnitten und fragt daraufhin den/die Andere/n, ob er/sie das ebenfalls schon gemacht habe. Das Ich beantwortet sich die Frage jedoch selbst: –

No. Far too fucking sane and sensible. I don’t know where you read that, but it does not relieve the tension. (Silence) Why don’t you ask me why? Why did I cut my arm?



Would you like to tell me?



Yes.



Then tell me.



ASK. ME. WHY. (A long silence)

94

Nicht zuletzt durch die direkt adressierten Fragen und Aufforderungen wirkt diese Passage dialogisch und also in einem sehr rudimentären Sinne dramatisch. Insgesamt überwiegt in dem Stück jedoch das monologisierende Ich, das sich als

91 Sarah Kane: 4.48 Psychosis, in: dies.: Complete Plays. Introduced by David Greig. London 2001, S. 203-245. 92 Vgl. zu den biographischen Hintergründen und zur ersten Orientierung Graham Saunders: „Love me or kill me“. Sarah Kane and the theatre of extremes. Manchester 2002, S. 109-118. 93 Lehmann: Just a word on a page and there is the drama, S. 28-30. 94 Kane: 4.48 Psychosis, S. 217.

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depressiv und suizidgefährdet ausweist: „I have become so depressed by the fact of my mortality that I have decided to commit suicide.”95 Zudem kreist das Ich von Beginn an um die Frage, welchen Status sein Bewusstsein in Bezug auf seinen Körper hat. Dabei ist der Stil räsonierend und metaphorisch, so dass der Hinweis auf den lyrischen Charakter des Ichs gerechtfertigt scheint: a consolidated consciousness resides in a darkened banqueting hall near the ceiling of a mind whose floor shifts as ten thousend cockroaches when a shaft of light enters as all thoughts unite in an instant of accord body no longer expellent as the cockroaches comprise a truth which no one ever utters

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Doch die sehnsuchtsvolle Suche des Ichs nach einem Einklang zwischen „mind“ und „body“97endet im Selbstmord – wie in Kanes eigenem Leben: Please don’t cut me up to find out how I died I’ll tell you how I died One hundred Lofepramine, forty five Zopiclone, twenty five Temazepam, and tewnty Melleril Everything I had Swallowed Slit Hung It is done

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Zuletzt, da der Körper schon tot sein muss, folgt ein letzter Nachklang des Ichs: „It is myself I have never met, whose face is pasted on the underside of my mind. please open the curtains”.99 Das metaphorische Ineinanderverfangensein von „mind“ und Körper wird zuletzt pars pro toto konkretisiert im markantesten Körperteil, dem Gesicht, wodurch das Stück einen theatralen Subtext gewinnt: Das neuzeitliche Theater, spätestens seit Diderot und Lessing, baut auf der „Syn-

95 Ebd., S. 207. 96 Ebd., S. 205. 97 Vgl. Birgit Haas: Gender-Performanz und Macht. (Post-)feministische Mythen bei Sarah Kane und Dea Loher, in: Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990. Hg. v. Birgit Haas. Würzburg 2005, S. 197-226, bes. S. 211f. 98 Kane: 4.48 Psychosis, S. 241f. 99 Ebd., S. 245.

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these von Individualität und Körper“100 auf, deren Auflösung vom postdramatischen Theater thematisiert und in Szene gesetzt wird.101 Müllers vorgestellte IchDramatik hat daran einen erheblichen Anteil. Kanes letztes Stück schreibt diesen Diskurs fort. In 4.48 Psychosis gewinnt das Subjekt in der Hinsicht Autonomie, als dass es selbst aktiv wird, indem es die Trennung seiner selbst vom Körper betreibt und durch den Suizid einleitet. Doch ist der Körper auf dem Theater nicht nur der Ort des Subjekts (das ist die Perspektive des modernen Dramas). Der Körper ist im Theater (zumal im postdramatischen) immer auch der von Anderen wahrgenommene, betrachtete Körper. In ihm nicht das Subjekt, sondern ausschließlich den Körper zu sehen – erst dieser Blick befreit das Ich tatsächlich.102 Doch kann das Ich diesen Blick nicht selbst erzwingen: „please open the curtains“,103 heißt es abschließend. So findet sich in Kanes Ich-Zentrierung eine Monologisierung, wie wir sie ähnlich von Handke kennen. Im Unterschied zu ihm arbeitet Kane allerdings illusionierend; der Rezipient wird ganz auf die Zerrissenheit des Ichs konzentriert und nicht ironisch-antiillusionierend auf seine Position als Theaterzuschauer wie bei Handke. Techniken wie Müllers Anbindungen der Monologisierung an die dramatische Tradition und seine wie Kanes biographische Aufladung des Ichs werden ebenso von Elfriede Jelinek genutzt, um den dramatischen Text von den formalen Vorgängern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu entfernen.104 Das wird besonders deutlich, wenn Jelineks frühe Dramatik mit ihrer neueren verglichen wird. Schon ihr erstes Stück, Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft, nimmt ostentativ Bezug auf die Dramatik der Moderne, namentlich auf Ibsen:

100 Haß: Die Frau, das Böse und Europa, S. 107. 101 Lehmann: Postdramatisches Theater, S. 361-370. 102 Damit ist 4.48 Psychosis außerdem eine dramatische Auseinandersetzung mit der Vorstellung vom ‚organlosen Körper‘ von Deleuze und Guattari, wobei Kane hier deutlich ‚subjektivistischer‘ zu verorten ist im Sinne von Slavoj Žižek: Körperlose Organe. Bausteine für eine Begegnung zwischen Deleuze und Lacan. Aus d. Engl. v. Nikolaus G. Schneider. Frankfurt/M. 2005, S. 162-169. 103 Kane: 4.48 Psychosis, S. 241f. 104 Vgl. Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek. Tübingen 1996.

162 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Nora: Ich bin keine Frau, die von ihrem Mann verlassen wurde, sondern eine, die selbsttätig verließ, was seltener ist. Ich bin Nora aus dem gleichnamigen Stück von Ibsen. Im Augenblick flüchte ich aus einer verwirrten Gemütslage in einen Beruf.

105

Im Vergleich zu Hamletmaschine zeigen sich bei Jelineks etwa zeitgleich entstandenem Stück (1977, UA 1979) zwei markante Unterschiede: Zum einen bricht sie nicht mit der Figurenrede, auch wenn ihre Nora über sich als Gegenstand von Ibsens Drama spricht. Zum zweiten setzt Jelinek nicht etwa durchgängig auf Monologisierung. Vielmehr ist ihr intertextuelles Metadrama weitgehend durch einen typischen Dialog gekennzeichnet, der gemäßigt erscheint, indem einerseits auf längere Monologe verzichtet wird und andererseits auf Stichomythie. Gemeinsam ist Hamletmaschine und Jelineks Nora dagegen die Thematisierung der Maskenhaftigkeit der Figuren, die als „Flachheit“ begriffen werden kann.106 Jelineks Konzentration auf das Maskenspiel bzw. ihre Offenbarung der personae Noras führt dazu, dass dieses Stück insgesamt weit stärker vereindeutigt als etwa Leben Gundlings oder Hamletmaschine. Dementsprechend nimmt Jelinek die Regie in die Pflicht, wie verschiedene Nebentexte zeigen. So heißt es vor dem Figurenverzeichnis: Das Stück spielt in den zwanziger Jahren. Man kann aber auch in den Kostümen ein wenig die vorkommenden „Zeitsprünge“ andeuten, vor allem die vorweggenommene Zukunft.

105 Elfriede Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft, in: dies.: Theaterstücke. Reinbek bei Hamburg 1992, S. 7-78, hier S. 9; vgl. dazu Kovacs: Drama als Störung, S. 14f. u.ö. 106 Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek. Theater des Nachlebens. 2. durchges. u. erw. Aufl. Paderborn 2007, S. 32: „Anstelle des Innenlebens einer Person präsentiert sie den Zitatcharakter der persona in der Rede; so demonstriert sie die im Drama latent gehaltene Rhetorizität der Figur als deren ,Flachheit‘. Während Ibsens Nora ihres Innenlebens verlustig geht und dabei zugleich von der Maskenhaftigkeit uneigentlichen Sprechens als dramatische Figur aufersteht, um im Dialog den Auszug aus dem Puppenheim als ihre eigene Menschwerdung zu proklamieren, tritt Jelineks NORA von Anfang an als nachlebende, rhetorisch entstellte Figur auf. Indem NORA etwas ausspricht, das sie nicht als Mensch sagen kann, knüpft Jelineks Arbeit an diejenige Ibsens an, um über sie hinauszugehen. Sie versetzt Ibsens Problem aus der von Szondi benannten intersubjektiven „Spähre des ,Zwischen‘“ in eine Redeszene jenseits der personalen Fiktion, die kein verborgenes Wesen mehr kennt und sich über den intertextuellen Raum auf Vorgängiges hin öffnet.“; vgl. auch Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität.

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Nora muß auf jeden Fall von einer akrobatisch geübten Schauspielerin gespielt werden, die auch tanzen kann. Sie muß die jeweils angeführten Turnübungen machen können, dabei ist es aber egal, ob es „professionell“ wirkt oder nicht, es kann also ruhig auch ein wenig ungeschickt aussehen, was sie macht. Eva muß immer ein wenig verzweifelt und zynisch wirken.

107

Jelinek formuliert keinen typischen Nebentext im Sinne einer konkreten Regieanweisung, keine explizite Inszenierungsvorgabe. Sie skizziert die gewünschte Wirkung ihres Textes und eröffnet deswegen gerade keinen Spielraum, der unterschiedliche Inszenierungsmöglichkeiten anbietet, indem er wesentliche Entscheidungen der Regie überlässt. Jelineks Nora legt einerseits die Maskenhaftigkeit der Figuren bloß, andererseits ist das Drama der klassischen Repräsentationsidee verhaftet. Es erstaunt deswegen, dass die jüngere Forschung in Nora Jelineks Bemühen um ein Theater des Nicht-Repräsentativen gesehen hat.108 Doch ist es letztlich nicht entscheidend, wann Jelinek die Frage nach den Möglichkeiten des Brechens mit der Repräsentation erstmals aufwirft und wann sie diese Überlegungen in ihren dramatischen Texten umzusetzen versuchte.109 Für das Moment der Monologisierung ist ihre Dramatik – neben der Müllers und Kanes – wesentlich, weil sie – anders als diese beiden – ihre Dramen zudem offensiv mit dem politischen Diskurs verknüpft: Einige schöne Knaben, die Gesichter zu einem ewigen Lächeln geschminkt, in kindlichen, pludernden Spielhöschen, umringen einen Mann, der ebenfalls den Mund zu einem zeitlos-ewigen Lächeln gemalt hat und zu den Knaben spricht. Den Mund nicht groteskclownhaft, sondern wirklich schön, aber etwas unheimlich, lächelnd, sie streuen dem Mann aus Körben Blütenblätter, die Knaben. Wenn es zu teuer ist, Knaben zu bekommen, kann man die Blütenblätter auch vom Schnürboden herunterwerfen lassen. Nein, Mädchen kann man nicht dafür nehmen. Der jeweils angesprochene Knabe wendet sich dem Sprecher des „Haidermonologs“ in schöner, nachdenklich-trauernder Pose zu, in der er eine Zeit lang erstarrt. Man kann es natürlich auch ganz anders machen. Es können auch alle 110

Lederhosen tragen, von mir aus. […]

107 Jelinek: Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte, S. 8. 108 Vgl. Lücke: Elfriede Jelinek, S. 109. 109 Vgl. dazu ebd., S. 109f. 110 Elfriede Jelinek: Das Lebewohl. (Les Adieux), in: dies.: Das Lebewohl. Berlin 2000, S. 7-35, hier S. 9.

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In Das Lebewohl, Jelineks aus Reden Jörg Haiders zusammenmontiertem Monolog, stellt sich die Frage, wer spricht, auf vielfältige Weise, wie schon Annuß betont hat.111 Jelinek bricht mit der Abwesenheit des Dramatikers im Drama, indem in dem eröffnenden Nebentext ostentativ ein Ich und damit eine Autorinstanz spricht, die wir dramaturgisch genannt haben. Es wird eine Art Reflexion über die Inszenierung eröffnet: nicht nur, dass das Ich der Regie Vorschläge macht, diese letztlich aber auch wieder verwirft: „Man kann es aber natürlich auch ganz anders machen.“ Dadurch, dass das Ich expressis verbis „schöne“ Knaben fordert, wird von Beginn des Textes an dieser subjektiviert, was wiederum einen Spielraum eröffnet. Schließlich kann man „schöne Knaben“ hier mindestens in dreifacher Hinsicht verstehen: Zunächst können damit Knaben gemeint sein, die die empirische Autorin Jelinek ‚schön‘ findet, die also ihrer Meinung nach diesem Attribut entsprechen. Dann ruft ‚schöne Knaben‘ wie selbstverständlich die Erinnerung an die Schönheitsideale der Antike und des Klassizismus auf. Schließlich ist den ‚schönen Knaben‘ eine homoerotische, vielleicht auch päderastische Dimension eigen. Schon der erste Satz der Regieanweisung wirft also Foucaults Frage auf: „Wer spricht?“ Dass die dramaturgische Autorinstanz auf die empirische Autorin verweist, ergibt sich aus der traditionellen Funktion von Nebentexten als Regieanweisung zu Beginn eines Dramas. Doch wie konkret der Zusammenhang zwischen empirischer und dramaturgischer Autorin zu begreifen ist, bleibt unklar. Jelinek ergänzt damit die Maskenhaftigkeit der Figuren um eine zweite Form der Maskenhaftigkeit. Die paratextuelle Rahmung des Dramas wird mittels einer einleitenden Orientierung genutzt, um Stabilität der Aussagen von vornherein zu unterlaufen.112 Damit destabilisiert Jelinek den autoritären Anspruch des Dramas, normativ für die Inszenierung zu sein, ihre Dramen intensivieren den Zusammenhang zwischen Text und Bühne. Im Nebentext artikuliert sich ein Ich, das Vorschläge formuliert und Alternativen anbietet, um so der Regie eine Art Gespräch anzubieten. Anders als es Lehmann für das Postdramatische Theater diagnostiziert hat, wird zumindest bei Jelinek der direkte Zusammenhang zwischen Text und Bühne nicht etwa aufgelöst. Stattdessen eröffnet Jelinek einen Monolog, der von Offenheit und Gesprächsbereitschaft gekennzeichnet ist und sich darum bemüht, nicht autoritär zu wirken. Damit hat Jelineks Dramatik eine andere Qualität als die von Müller und Kane. Jener nutzt die Möglichkeiten der Monologisierung und der Ich-Dramatik,

111 Vgl. Annuß: Elfriede Jelinek, S. 251. 112 Wie vielfältig bei Jelinek die Variationen der Sprecherinstanzen sind, hat hervorragend Annuß dargelegt, vgl. ebd., S. 138-141.

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um eine formale, aber eindeutig innerliterarische Kategorie zu destabilisieren, die Abwesenheit des Dramatikers im Drama. Kane nutzt die Monologisierung, um Fragen des Verhältnisses von Ich und Körper zu thematisieren. Anders als bei Müller wird nicht der Umgang mit der Biographie des Dichters in dramatischer Form verhandelt, sondern ausschließlich thematisch. Und die biographischen Bezüge werden von Kane auch nicht zu einem Maskenspiel wie bei der frühen Jelinek genutzt, sondern es geht der britischen Dramatikerin um die Repräsentation von Authentizität. Sie zielt auf das Bloßlegen eines Schicksals, das einerseits ganz und gar individuell ist, das andererseits durch die Inszenierung zu einer Angelegenheit vieler wird und dadurch ein Angebot zur Identifikation bietet und so die Voraussetzung für Mitleid schafft. Schließlich verhandelt das Stück auf’s Neue das alte Problem der Tragik, wie sich das Subjekt verhält, wenn es mit dem Außerhalb-seiner-selbst in Konflikt gerät und nicht in der Lage ist, diesen zu lösen. In diesem Sinne markiert Kane die Rückkehr des Tragischen in die Dramatik der Postmoderne. Wir werden am Ende der vorliegenden Studie erneut auf diesen Zusammenhang zurückkommen. Deswegen ist es andererseits aber nicht überzeugend, wenn in der Forschung Jelineks eigener Hinweis, Das Lebewohl sei eine Art Mischung aus Tragödie und Farce, unreflektiert wiederholt wird.113 Nur weil in den Text einige intertextuelle Bezüge auf die Orestie eingeschrieben sind, macht ihn dies nicht schon zu einer Tragödie. Vielmehr zielt Jelineks jüngere dramatische Auseinandersetzung mit der Monologisierung auf die performative Dimension des Dramas. Texte wie Das Lebewohl wissen anders als Nora um die Möglichkeit der Performanz, aber sie greifen nicht regulierend in die Inszenierung ein und ermöglichen so der Regie einen Spielraum, der die Inszenierung nur dahingehend umgrenzt, dass vorgeschlagen wird, welche Worte auf der Bühne gesprochen werden sollen. Doch selbst hier zeigt sich die ostentative Offenheit der Texte Jelineks, da sogar die Frage nach dem Sprecher des Sprechtextes betont in der Waage gehalten wird. Denn der Sprecher heißt ausdrücklich „Der Sprecher“. Jelinek verweigert sich damit der konventionellen Figurendramatik. Dass dieser Sprecher Jörg Haider repräsentieren kann, wird nur durch den Nebentext angedeutet, in dem das Drama einmal „Haidermonolog“114 genannt wird. Eine konkrete Rückbindung des Textes an ein historisches Ereignis erfolgt ansonsten nicht, auch wenn der Klappentext der Buchausgabe des Stücks die Information liefert: „In Elfriede Jelineks Theatermonolog Das Lebewohl (Les Adieux) rekapituliert Jörg Haider seinen Rückzug nach Kärnten, eine strategische Heimkehr, die die Inbesitznahme Ös-

113 Vgl. Lücke: Elfriede Jelinek, S. 123. 114 Jelinek: Das Lebewohl, S. 9.

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terreichs befestigen soll.“ Zwar spielt der Text mit diesen Informationen, doch tut er dies nicht auf eine eindeutige, gewissermaßen informativ-aufklärende Art und Weise, sondern indem Details aus Haiders Leben in Gestalt kleiner kabarettistischer Aperçus einmontiert werden: Knaben! Zu euch gehör ich, nicht wie ein Tier will ich gehalten sein, ich will hinaus. Jeder Sonne ihr eigenes Studio zum Scheinen, dies meine Forderung. Ich will das echte Licht, das reine, doch find ich es nicht, hilft mir das künstliche auch. Komm nur her da, hilf gegen den Feind, Licht.

115

Haiders immerwährender brauner Ski-Lehrer-Teint wird verballhornt. Doch vereindeutigt dies nicht den Text, sondern die Polyphonie des Textes wird gesteigert, weil die aufgerufene Assoziation umgehend von einer ganz neuen abgelöst werden kann, ohne dass der Übergang etwa mittels einer Konjunktion oder durch eine graphische Markierung signalisiert wird (der ganze Text ist ein ununterbrochener, absatzloser Block). Diese Assoziationsflut potenziert sich, indem innerhalb einzelner Sätze pathetische Wendungen (wie die zitierte Anrufung des Lichts) mit offenbar sinnlosen Nebensätzen kombiniert werden, was vielleicht an die Farce mit ihrer immer auch sexuellen Konnotation erinnern mag (wenn der Sprecher sich den Knaben zugehörig fühlt), vor allem aber an die Groteske mit ihrer Neigung zur Sinnlosigkeit. So heißt es im Anschluss an die zitierte Stelle: Das Dunkel will uns stürzen und unsren Boden sehen, doch den zeigen wir nicht, den dunklen Boden, in dem wir das Schweigen versenkten. Diese Verbrechen waren so entsetzlich verbrecherisch, das kann ich ohne Nachsicht sagen. Jetzt sprechen wir so und denken anders und wo anders, Sie sehen es nicht, aber wir denken auch, nur eben anders, herrlich, herrlich!

116

Die Polyphonie der Jelinekschen Dramatik setzt auf komische Elemente (und eben nicht auf tragische), weil nur so eine Distanznahme zum Text bzw. zu seinem Vortrag eingenommen werden kann. Im Sinne Judith Butlers geht es Jelinek darum, den grausamen Kern der hate speech ihres jeweiligen Gegenstandes (im Falle von Das Lebewohl also Haiders) bloßzulegen und durch ihre Dekontextualisierung ihre politische Potenz zu destabilisieren. Butler hat dieses Vorgehen insbesondere für künstlerische Verfahren vorgeschlagen, um so die hate speech

115 Jelinek: Das Lebewohl, S. 17. 116 Ebd.

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mittels Ästhetisierung zu entmachten.117 Das heißt im Umkehrschluss nichts anderes, als dass die Monologisierung im Drama nicht zwingend Subjektivierung oder Psychologisierung bedeuten muss. Das ist in erster Linie dem Umstand geschuldet, dass die vorgestellten Beispiele zugleich solche für die immer radikalere Episierung des Dramas bis in die Gegenwart sind. Die Episierung führt zu einer Ambivalenz der Aussage in dem Moment, da die Aussage nicht mehr konkrete Figurenrede ist. Die Antwort auf Foucaults Frage „Wer spricht?“ beantwortet nicht der Dramatiker, sondern die Regie.

3.

M EDIALISIERUNG

DES

D RAMAS ?

1929 meinte Alfred Döblin: „[I]ch habe seit langem die Parole: Los vom Buch, sehe aber keinen deutlichen Weg für den heutigen Epiker, es sei denn der Weg zu einer – neuen Bühne.“118 Döblins ‚Parole‘ macht unmissverständlich klar, dass nicht nur der Weg vom Drama zum Epischen führen kann, sondern auch umgekehrt. Die Tendenz zur Episierung hat auf dem Theater freilich seit Mitte der 90er Jahre eine Wendung genommen, die vielleicht das umzusetzen verspricht, was Döblin rund 60 Jahre zuvor gefordert hatte: den Weg des Romans auf die Bühne. Damit einhergeht eine exzessive Freude an medialen Ausdrucksformen, insbesondere an Videotechniken,119 so dass vielleicht gar Döblins Forderung nach der ‚neuen‘ Bühne realisiert ist. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie sehr Döblin etwa in Berlin Alexanderplatz die mediale Vielfalt und Polyphonie seiner Zeit einzufangen versucht hat und dadurch zumindest unvorbereitete Rezipienten überforderte, scheint es nicht abwegig, ihn als einen Vordenker von

117 Butler: Haß spricht, S. 159f.: „Die Möglichkeit, solche sprachlichen Ausdrücke in Formen der radikalen öffentlichen Fehlaneignung zu dekontextualisieren und zu rekontextualisieren, stellt den Boden der ironischen Hoffnung dar, daß die konventionelle Beziehung zwischen den Worten und dem Verwunden geschwächt und mit der Zeit sogar zerbrochen werden könnte.“ 118 Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks, in: ders.: Aufsätze zur Literatur. Olten, Freiburg/Br. 1963, S. 103-132, hier S. 132; vgl. auch Erich Kleinschmidt: Der Roman – eine „neue Bühne“. Zur Poetik des dramatischen Romans bei Alfred Döblin, in: Internationale Alfred Döblin-Kolloquien. Hg. v. Werner Stauffacher. Bern, Frankfurt/M., New York 1986, S. 307-322. 119 Auf die dahinter stehende Antwort auf die Frage „Was ist ein Medium“ kann hier nicht weiter eingegangen werden; vgl. dazu: Was ist ein Medium? Hg. v. Stefan Münker, Alexander Roesler. Frankfurt/M. 2008.

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Teilen der aktuellen Theaterkunst zu interpretieren (auch wenn er selbstverständlich die technischen Entwicklungen nicht zu antizipieren vermochte). Diese Art der ‚neuen Bühne‘ ist durch ein ‚Mehr‘ an Darstellungstechniken gekennzeichnet, durch das die medialen Veränderungen der Gegenwart nicht nur gespiegelt, sondern produktiv genutzt werden.120 Jens Roselt hat diesen Prozess ironisch auf die Wendung von der „fünften Wand“, der Leinwand, gebracht, die das Theater errichtet habe.121 Auf den Versuch, die vierte Wand zwischen Publikum und Bühne einzureißen und so die Distanz zwischen beiden aufzuheben, folgt die erneute Distanzierung – Ironie der Theatergeschichte oder gezielte Weiterentwicklung? Roselt beantwortet diese Frage eindeutig: Von dieser Inszenierungspraxis ausgehend kann das Verständnis von Medialität im Theater reformuliert werden: Theater wird nicht dadurch zu einem medialen Raum, dass man die Bühne mit Bildschirmen spickt oder mit Videoprojektionen zukleistert, sondern indem im Theater explizit dieses Verhältnis von Sehen und Gesehenwerden verhandelt wird. Medialität wäre also die Art und Weise, wie durch den Raum Wahrnehmungsordnungen 122

geschaffen werden.

Dieser Befund korrespondiert mit der Einschätzung von Diedrich Diederichsen, der in der Polemik Der Idiot mit der Videokamera123 eine einfache wie klare Position benannt hat: Theater selbst sei kein Medium, es bediene sich aber einer Vielfalt an Medien. Ferner gebe es gar keinen Grund, diese Medien abzulehnen – schließlich verzichte man auch nicht auf sprechende Schauspieler. Der ironische Hinweis auf das Medium Sprache stellt eine berechtigte Frage: Was ist gemeint, wenn von ‚den‘ Medien auf dem Theater gesprochen wird? Diederichsen hält fest, dass meist ausschließlich technische Medien gemeint seien, was aber terminologisch unsauber sei – eben weil sich das Theater von Anbeginn an ‚natürlicher‘, körperlicher Medien (Stimme, Mimik, Gestik) bedient hat. Technische Medien wären dann Ausdruck der Kultivierung des Theaters.

120 Vgl. Monika Wolfert: Theatertexte zwischen Medien und Revolution 1989-1996. Berlin 2004. 121 Jens Roselt: Intermediale Transformationen zwischen Text und Bühne, in: Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Hg. v. Stefan Tigges. Bielefeld 2008, S. 205-213. 122 Ebd., S. 208; vgl. dazu grundlegend Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 61-64. 123 Diedrich Diederichsen: Der Idiot mit der Videokamera. Theater ist kein Medium – aber es benutzt welche!, in: Theater heute 4/2004, S. 27-31.

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Im Gegensatz zu Diederichsen und Roselt verortet Christopher Balme Theater als „eines der ältesten Medien“, das „mehrere Medienwechsel, verschiedene Technologieveränderungen und zahlreiche Innovationsschübe überstanden“ habe.124 Balme umgeht mit dieser Festlegung das Problem, den Medienbegriff zu bestimmen. Letztlich zielen seine Überlegung auf einen doppelten Medienbegriff: einen, der das Medium Theater im Vergleich mit anderen (darstellenden) Medien vergleicht, und einen, der Medien auf der Bühne untersucht. Diederichsens Medienbegriff ist enger. Er beschränkt ihn auf Balmes zweite Dimension (Medien im Theater). Die erste (Theater als Medium) umgeht er, indem er an Debatten der Bildenden Kunst, an die aus dem Dadaismus und aus der neo-avantgardistischen Diskurstradition resultierende Diskussion um den Status von Kunst bzw. Nicht-Kunst anknüpft. Deswegen ist es nur konsequent, wenn Diederichsen „Theater und Bildende Kunst über symbolische und soziale Vereinbarungen als kulturelle Formate – und nicht als Medien – zu beschreiben“125 versucht. Dieses Theaterverständnis stellt die Frage nach den Ausdrucksformen des Theaters, nach der Theatersprache und damit auch nach dem Drama. Für die Literaturwissenschaft haben diese Überlegungen der Theaterwissenschaft und -kritik zunächst nur indirekt Konsequenzen. Künstlerische Verarbeitungen oder Weiterentwicklungen eines dramatischen Textes innerhalb der Inszenierung fallen nicht in ihren Kompetenzbereich. Doch steht zu vermuten, dass die Literaturwissenschaft an einem anderen Punkt gefordert ist. Sie muss die Frage stellen, wie sich die neuere Dramatik zu dieser Entwicklung verhält – ob sie sich ihr widersetzt, ihr Rechnung trägt oder Vorschub leistet. Denn in dem Moment, da der Einsatz von bildgebenden, technischen Medien sich im Dramentext niederschlägt, kann das Folgen für die Form und damit für die Ästhetik und Theorie des Dramas zeitigen. Es ist zunächst zu unterscheiden zwischen der Verwendung von Medien in der Literatur und dem Einfluss der Medien auf die Literatur. Dabei muss es aber nicht um den Nachweis gehen, dass neue Medien im Theater verwendet werden (wer diesen Nachweis für nötig erachtet, möge einfach an einem x-beliebigen Abend ins Theater gehen). Vielmehr muss die Frage gestellt werden, wie die Figuren im Drama und das Drama selbst mit den Medien umgehen. In diesem Sinne kann das Drama einen Beitrag zur Verständigung über Medien innerhalb der

124 Christopher Balme: Einführung in die Theaterwissenschaft. 2. Aufl. Berlin 2001, S. 147; vgl. auch ders.: Theater zwischen den Medien. Perspektiven theaterwissenschaftlicher Intermedialitätsforschung, in: Crossing Media. Theater – Film – Fotografie – Neue Medien. Hg. v. dems., Markus Moninger. München 2004, S. 13-31. 125 Diederichsen: Der Idiot mit der Videokamera, S. 29.

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Gegenwartskultur liefern. Relevanter als diese Partizipation am metamedialen Diskurs scheint allerdings die Frage nach der Intermedialität des Dramas – immerhin haben sich Drama und Theater neuen technischen Möglichkeiten seit der Antike nie verschlossen: Inwieweit führt die Medialisierung zu Veränderungen des Dramas? Verändert sich durch die Berücksichtigung neuer bildgebender Medien das Verhältnis zwischen Text und (bildgebender) Inszenierung? Ist schließlich der Umgang mit der Medialisierung als Weiterentwicklung des Dramas und seiner Spielräume zu beurteilen oder passt dieses sich lediglich an den technischen Standard seiner Zeit an? „Der Idiot mit der Videokamera“ als dramatische Figur Ein besonders erfolgreiches neueres Drama, in dem auf Videotechniken zurückgegriffen wird, ist Igor Bauersimas 2000 uraufgeführtes norway.today.126 Julie und August haben sich in einem Chatroom für Selbstmörder kennengelernt und sind nach Norwegen gereist, um sich gemeinsam von einem Felsvorsprung in einen Fjord zu stürzen. Ihre letzten gemeinsamen Stunden dokumentieren sie mit einer Videokamera. Sie nehmen u.a. die Abschiedsbotschaften an die Familien auf. Die Videokamera kann dabei sowohl in die Handlung integriert sein als auch für Verfremdungseffekte genutzt werden. Das kann gleichzeitig und mittels desselben Geräts geschehen: Julie: Ein Polarlicht! Das ist ein Polarlicht!... Die Kamera! Julie zurück ins Zelt. Sie kommt mit einer Videokamera wieder heraus und filmt die magische Erscheinung.

127

Dabei weckt sie Augusts Neugier auf den Film: „Zeig mal. Zeig mal, ob was drauf ist. Vielleicht kann man so ein Licht gar nicht filmen! August spult die Kassette zurück.“128 Der Nebentext fordert eine Verdoppelung des Blicks auf die Bühne: „Das Bild hinter Julie und August schwenkt vom Polarlicht in Richtung August. Wir sehen August nochmal die Worte sagen: ‚Wie groß ist ein Polarlicht?‘“129 Auf der Leinwand im Hintergrund wird der Schwenk gezeigt, den Ju-

126 Igor Bauersima: norway.today, in: ders.: norway.today. 3 Theaterstücke. Frankfurt/M. 2003, S. 7-62; vgl. dazu Nikolaus Frei: Die Rückkehr der Helden. Deutsches Drama der Jahrhundertwende (1994-2001). Tübingen 2006, S. 120-126. 127 Bauersima: norway.today, S. 38. 128 Ebd., S. 39. 129 Ebd., S. 39f.

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lie vom Polarlicht auf Augusts Gesicht macht. Dem Publikum soll ein Film gezeigt werden, der Bestandteil der Bühnenrealität ist, der sich aber an sich außerhalb dessen befindet, was dem Publikum einsichtig ist. Der kurze Film repräsentiert den Film, den die Figuren sehen. Im Text wird das dadurch unterstützt, dass August meint: „Ich seh ja völlig blöd aus. Völlig fake.“130 Der Film nähert die Wahrnehmung zwischen den Figuren und den Rezipienten an. Bauersima zielt mit der Integration der Videokamera also letztlich auf eine Distanzverringerung zwischen Figuren und Parkett. Dass Julie und August dann am Rand der Klippen hoch über dem Fjord immer wieder darüber sprechen, wie ‚wahnsinnig real‘ ihre Erlebnisse über dem Fjord sind, kündigt an, dass die Figuren den Umgang mit den Medien verhandeln. So thematisiert das Staunen im Angesicht der norwegischen Landschaft die sprachlichen Anpassungsschwierigkeiten, da die Wahrnehmung üblicherweise medial durchformt ist, weswegen die Realität so ‚wahnsinnig‘ beeindruckend werden kann. Bauersimas Erfolg mit norway.today dürfte aber jenseits dessen darin begründet liegen, dass er die Medienkritik mit dem Handlungsverlauf verknüpft. Morgengrauen. August kriecht aus dem Zelt. Er hat die Kamera dabei und geht auf den Abgrund zu. Er bleibt stehen. Dann filmt er das Panorama, macht dann einen langsamen Schwenk in den Abgrund, schließlich zoomt er hinunter. Dann macht er die Kamera aus. Julie kommt auch aus dem Zelt und bleibt neben August stehen. Sie wirkt etwas übernächtigt und ist angezogen, als ging’s zu einer Party. Sie trägt ein elegantes Kleid und Schuhe mit hohen Absätzen. […] Julie:

Los bringen wir’s zu Ende.

August:

Du zuerst. August macht ein paar Schritte vom Abgrund weg und richtet die 131

Kamera auf Julie.

Es kommt zu einer Auseinandersetzung, wie vorzugehen ist, um dem Film eine möglichst professionelle Wirkung zu verleihen: August:

Ja, aber nach diesem Schnitt kommt doch die Fortsetzung. Also es geht da weiter, wo wir aufgehört haben.

Julie:

Nein. Es geht ein wenig weiter weiter. Deshalb lach ich jetzt nicht mehr. Du darfst nicht unterbrechen. Okay? Nur ich darf unterbrechen. Okay?

August:

Okay.

130 Ebd., S. 40. 131 Ebd., S. 49f.

172 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Julie:

Okay...

August: Kamera läuft —— Julie:

Nachher kommt nichts mehr. —— Nachher kommt nichts mehr. Nachher ist Schluss. Nach dem Anfang kommt nichts mehr. —— Hörst du mich? —— Stell das Ding ab.

August: Was denn? Das war super gerade. Diese Stille. Du solltest mehr Pausen machen, die kommen super. Kamera aus Julie:

Es kommt nicht „Kamera läuft“. Nach „Okay“ kommt nicht „Kamera läuft“. Nach Okay komme ich.

August: Hab ich was gesagt? Julie:

Ja. Du hast gesagt: „Kamera läuft“. Aber das sehen ja alle, dass sie läuft, sonst würden sie dich nicht sagen hören: „Kamera läuft.“

August: Sei doch nicht so pingelig. Julie:

Ich bring mich doch nicht alle Tage um, verdammt. Ich will, dass das gut 132

kommt.

Durch den Streit über das Vorgehen kommen sich die beiden Figuren näher. Die erhoffte Wirkung mittels des Films auf die Angehörigen gerät aus dem Fokus, und stattdessen geht es ihnen immer mehr um gegenseitiges Verstehen und Überzeugen. Am Schluss gestehen sich beide ein, dass sie nicht mehr sterben wollen. August wirft die Kamera in den Abgrund, beide gehen gemeinsam ab. Die einleitenden Hinweise wie auch die Beispiele führen eine wesentliche Lücke in Szondis Überlegungen vor Augen: Fragen der Medialität werden nur am Rande berührt und zwar immer nur im Hinblick auf ihre verfremdende Funktion. Inwieweit sie hingegen die Formentwicklung betreffen, überlegt Szondi nicht. Um das zu erörtern, ist es geboten, sich zu vergegenwärtigen, wie Medialität im Drama realisiert werden kann. Eine überzeugende Typologie der Medialität in der Gegenwartsdramatik hat Jutta Wolfert vorgelegt. Sie geht von drei Typen aus: a. von der dramatischen Intermedialität, b. von der performativen Intermedialität und c. von der diskursiven Intermedialität. Der erste Typ – die in-

132 Ebd., S. 51f.

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trafiktionale Auseinandersetzung mit der medialen Gegenwart133 – kennzeichnet norway.today. Wolfert hat nachgewiesen, dass dramatische Intermedialität durch ein auf Dialog und Handlung setzendes Dramenverständnis gekennzeichnet ist.134 Das bestätigt Bauersimas Stück. Der Einsatz der Videokamera in norway.today ist Voraussetzung für eine dramatische Form der Medienkritik. Das Stück wirkt durch das symbolische Ende appellativ und kulturkritisch. Formgeschichtlich ist es nicht innovativ. Auch im 1999 publizierten Drama The Making Of von Albert Ostermaier wird die Videokamera eingesetzt.135 Es zielt, so wird einleitend erklärt, darauf, in dem Stück einen „optischen Diskurs zwischen Theater und Film entstehen“136 zu lassen. Das soll erreicht werden, indem das Bühnengeschehen von einem Kamerateam, ergänzt um Regiepult und Schneideplatz, verfolgt und aufgezeichnet wird. Die aufgenommenen Bilder können direkt auf einer Videoleinwand gesehen werden. Ostermaier nennt die Kameraaufnahmen das „Alternativauge des Betrachters“.137 Zudem kann das Bühnengeschehen durch die Filmaufnahmen unterbrochen oder variiert werden: „Das Spiel der Schauspieler kann von diesen Dreharbeiten oder Livemitschnitten beeinflusst werden, Szenen wiederholt oder in einer anderen Chronologie auf dem Bildschirm gezeigt werden.“138 Ostermaier setzt die Filmmittel und -techniken in doppelter Weise ein – als Kommentar zur Handlung, in der die Film- und Fernsehwelt karikiert wird, und als Verfremdungsmoment, das darauf zielt, den Spielcharakter des Bühnengeschehens zu betonen. Die Bilder auf der Leinwand dissoziieren den Blick des Publikums. Ostermaier setzt nicht wie Bauersima auf Annäherung an die Figuren, sondern auf polymediale Distanzierung. Diese erreicht er durch den Einsatz von unterschiedlich dimensionierten Nebentexten.

133 Wolfert: Theatertexte zwischen Medien und Revolution 1989-1996, S. 75: „Die Figuren thematisieren die technischen Medien (als abwesende oder anwesende) oder interagieren mit ihnen als konkrete Objekte. Im Modell der dramatischen Intermedialität werden technische Medien dem Ansinnen des Autors nach nicht in ihrer Ästhetik oder Materialität für den Zuschauer erfahrbar […], sondern sind bedeutender Teil der dargestellten Geschichte.“ 134 Vgl. ebd., S. 114f. 135 Albert Ostermaier: The Making Of. B.-Movie, in: ders.: The Making Of. Stücke. Frankfurt/M. 1999, S. 13-131; vgl. dazu auch Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 127-135. 136 Ostermaier: The Making Of, S. 15. 137 Ebd. 138 Ebd.

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Die eben zitierten Hinweise sind einer Vorrede mit dem Titel Bild-Regie entnommen und auf die Realisierung bezogen. Die den Einzelszenen vorausgehenden Nebentexte sind dagegen weniger konkret. In ihnen spricht ein dramaturgischer Autor, wie wir ihn schon in ähnlicher Weise in den Dramen Jelineks kennengelernt haben: Die Regieanweisungen des Stücks verstehen sich nicht als bühnenpraktische Hinweise zur Figurenführung und Raumkomposition, sind keine Spielanleitung im klassischen Sinn, sondern viel mehr der Versuch eines atmosphärischen Roadmovies, einer surrealen Ver139

filmung der Bühnenwirklichkeit.

Was heißt das? Die erste Szene beginnt folgendermaßen: Ein Zimmer in Afrika. Durch das Fenster sieht man einen rot glühenden Mond. Der Zikadensingsang und die sonst zu erwartenden Geräusche werden dünn angedeutet, doch immer wieder grell unterbrochen von übermütigem Motorenlärm und Schreien. […] Andree läuft durchs Zimmer […]. Ein Gescheiterter, der sich retten will. Die Nacht interessiert das nicht, nicht das Radio, das gegen ihn anbrüllt. […] Eigentlich ist er ein ruhiger, vielleicht etwas nervöser, unauffälliger Mensch gewesen – vor dem Ende der Nacht und dem Beginn seiner Reise.

140

Dieser von Ostermaier in der Vorrede „Regieanweisung“ genannte Nebentext steht im Kontrast zu den konkreten Anweisungen zum Einsatz der Videotechnik auf der Bühne. Die „Regieanweisungen“ in dem Stück sind unkonkret und offensiv ‚prosaisch‘, da aus ihr ein Erzähler spricht, der „Andree“ offenbar kennt und vom weiteren Verlauf des Geschehens weiß, wie durch den Hinweis auf den „Beginn der Reise“ angedeutet wird. Da andererseits in der Vorrede dieser und die folgenden Nebentexte als „Regieanweisungen“ bezeichnet werden, kann die ostentative Episierung nur dahingehend begriffen werden, dass hier ein Eindruck imaginiert werden soll und eben gerade nichts konkret angewiesen wird. Die „Regieanweisung“ beginnt, eine Geschichte zu erzählen und so einen Spielraum zu eröffnen. Die von ihr eingerahmte Geschichte ist ihrerseits eine, die sich mit der Medienrealität befasst. Namentlich geht es um die Herstellung eines Films (Making Of), in dem wiederum ein Theaterstück inszeniert wird. Das Drama hat also drei Handlungsebenen. Dabei ist die äußere Handlungsebene, also die eingangs vor-

139 Ebd., S. 15. 140 Ebd., S. 19.

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gestellte Rahmung der Szene mittels der Hinweise zur Bild-Regie, von der zweiten und dritten Handlungsebene durch das unterschiedliche Personal separiert: Während auf der ersten Ebene ausschließlich vermeintlich ‚reale‘ Kameraleute das Bühnengeschehen filmen, besteht wegen der dargestellten Handlung, eben der Herstellung des Films über eine Theaterinszenierung, zwischen diesen beiden Ebenen personaler Austausch. Im Unterschied zu Bauersima zielt Ostermaier mit diesem Vorgehen nicht auf emotionale Annäherung an die Bühnenfiguren, sondern gerade auf Distanznahme mittels Irritation. Ende der Vorrede heißt es: Das Spiel der Schauspieler kann von diesen Dreharbeiten oder Livemitschnitten beeinflusst werden, Szenen wiederholt oder in einer anderen Chronologie auf dem Bildschirm gezeigt werden. Da der Zuschauer nicht weiss, ob es sich tatsächlich um eine Liveübertragung auf dem Videoscreen handelt, können auch als Irritation vorproduzierte Szenen abgespielt werden. Während die Bühne die Totale zeigt, zeigt der Bildschirm den Ausschnitt, verzerrt die Perspektive, manipuliert und virtualisiert das Geschehen. Ein Kampf um Wirklichkeit zwischen Theater und Film, Kamera und Auge, in dessen Zentrum als Bindeglied und Zerreissprobe der Schauspieler steht. Film ab, Vorhang auf:

141

In Ostermaiers Vorrede wird die Theaterrealität also von Beginn an einkalkuliert. Die beiden ‚inneren‘ Handlungsebenen – die Geschichte vom Film über eine Inszenierung – bilden eine gemeinsame Wirklichkeitsebene, die von Ostermaier der sie rahmenden Medienwirklichkeit gegenübergestellt wird. Dabei belässt er es aber nicht. Er stellt die Medienwirklichkeit so aus, dass dem Zuschauer einsichtig wird, dass diese eine ‚ausschneidende‘ bzw. ‚verzerrende‘ ist. Ostermaier führt dem Theaterpublikum einen Vergleich zwischen der Eigenwahrnehmung und der technisch vermittelten Wahrnehmung vor. Es geht in The Making Of also um inszenierte Distanznahme zur medialen Wahrnehmung und damit um Skepsis gegenüber medialen Urteilen. Im Sinne der erwähnten Studie von Wolfert ist Ostermaiers Stück ein Beispiel für die performative Intermedialität.142

141 Ebd., S. 16. 142 Wolfert: Theatertexte zwischen Medien und Revolution 1989-1996, S. 115: „Theatertexte, die mit performativer Intermedialität operieren, nehmen hingegen keinen primären bedeutenden Bezug auf technische Medien, sondern sie machen die technischen Medien – ihre Materialität, ihre Ästhetik oder ihre Technik – in actu erfahrbar. Performative Intermedialität ist eine Grenzüberschreitung des Theatertextes in den technischen Raum. Der Autor begibt sich in ästhetische Auseinandersetzung mit den technischen Medien. Der performativ intermediale Theatertext ist ein Hybride, der

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Ähnlich, wenn auch thematisch anders ausgerichtet verfährt Falk Richter in seinem im Jahr 2000 uraufgeführten Stück PEACE143 – einem dramatischen Kommentar zur NATO-Intervention in Jugoslawien. Die Handlung spielt in einem „HighTechLager“ zur Kriegsberichterstattung. Während in Ostermaiers The Making Of das Spiel der Spielenden durch die bildgebenden Medien gerahmt und wiederum – dem barocken theatrum mundi gleich – als Spiel freigelegt wird, sind die bildgebenden Medien bei Richter in die Handlung integriert. Er hat aber mehr als nur ein Stück über Bilder, ihre Entstehung und Manipulation verfasst. Er nähert sich dem Thema, indem er seine Figuren im geschützten Raum des „HighTechLagers“ ungeschützt über ihre Arbeit sprechen lässt. Anders als bei Bauersima und ähnlich wie bei Ostermaier geht dem Sprechtext ein umfangreicher Nebentext voraus. Während dieser bei Ostermaier „Regieanweisung“ ist, nutzt Richter ihn zur kommentierenden Exposition: Die Figuren leben genau an der Schnittstelle zwischen Realität und Fiktion: Sie manipulieren Fotos, sie bereiten Erlebtes zu verkaufsträchtigen Stories aus, sie sind auf Krisengebiete aller Art, auf Extremszenarien spezialisiert. Sei es, daß sie als Kriegsreporter tätig sind oder Mode-Events vor zerstörten Landschaften organisieren, MTV-Clips in Kriegsgebieten abfilmen oder Häuser als Performance Art explodieren und niederbrennen lassen.

144

Diese Mischung aus Meta-Kommentar und Regieanweisung durchzieht den gesamten Text: Marc kommt dazu, in einer Peacekeeper-Uniform, er wirft ein Video mit bunten Friedenstauben rein, das wir nun riesengroß auf der Leinwand sehen, dazu beruhigender Motorensound, das wirre Bilderchaos verschwindet, die Friedenstauben wirken sehr sehr beruhigend.

145

Richter formuliert Zwischentexte, in denen nicht nur genannt wird, was und wie gefilmt wird. Er schildert die auf der Leinwand sichtbaren Bilder und nennt die

[sic!] seine Wurzeln sowohl im Technischen als auch im Drama hat.“; zum theaterwissenschaftlichen Materialitätsbegriff vgl. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 112-132. 143 Falk Richter: PEACE, in: Theater Theater. Anthologie Aktuelle Stücke 11. Hg. v. Uwe B. Carstensen, Stefanie von Lieven. Frankfurt/M. 2001, S. 207-288. 144 Ebd., S. 210. 145 Ebd., S. 286.

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von ihnen ausgehende Wirkung. Im Unterschied zu Ostermaier stellt er nicht zwei Wahrnehmungsmodi nebeneinander, sondern er versucht, Wirkungen zu provozieren, die aber nicht auf die Bühnenfiguren bezogen sind, sondern auf die Bilder auf den Monitoren. Zudem hat dieser Zwischentext eine konkrete Sprecherinstanz; „wir“ sagt, was es sieht bzw. was gesehen werden soll. Dadurch wird das Verhältnis zwischen den Bildern und ihrer vermeintlichen Wirkung gezielt destabilisiert, wie das Beispiel zeigt: Bilder von Friedenstauben müssen angesichts des zynischen Umgangs mit Worten wie ‚Frieden‘ und ‚peace‘ kaum beruhigend wirken, zumal sie im Anschluss an die Anweisung ironisch gebrochen werden. Marcs erste Worte nach/während der Videoeinspielung sind: „Hier hab ich dir mitgebracht so Sounds Transall total peacig die Soldaten alle beieinander vier Uhr morgens total schön total chillig irgendwie das ist so schön da unten so ein Frieden Wahnsinn.“146 Neben den vorbereiteten Videoeinspielungen filmen die Schauspieler, ihrer Figur entsprechend, sich immer wieder selbst und produzieren damit Szenen, die dem professionellen Eindruck der übrigen Videoszenen gegenüberstehen: Marc krallt sich fest in Marco, er zittert, er zieht sein Hemd aus und friert noch mehr, er nimmt Marcos Hand und legt sie auf seine Brust, streichelt sich mit Marcos Hand, zieht seine Hose aus, streichelt seinen Schwanz mit Marcos Hand, lacht dabei etwas seltsam. Das Ganze hat etwas, das nur sehr entfernt an Sex denken läßt. Marco nimmt seine Kamera, filmt Marcs Schwanz.

147

Entscheidend für die auf der Leinwand sichtbaren Bilder ist, wer womit filmt. Bei Ostermaier werden die Videos von professionell ausgestatteten Kameraleuten aufgenommen, die einen Handlungsrahmen bilden, aber nicht in die dramatische Handlung integriert sind, auch wenn sie auf der Bühne stehen können. In norway.today ist die Videokamera in die Handlung integriert. Die Bilder sollen unprofessionell und spontan wirken. PEACE dagegen bietet eine Mischung aus den Anwendungsmöglichkeiten von The Making Of und norway.today. Es gibt also sowohl im Hinblick auf die Frage, wer unter welchen Bedingungen filmt (Kameraleute vs. Bühnenfiguren, professionell vs. unprofessionell), auf die Frage nach der Wirkungsweise (artifiziell vs. einfach), auf die Frage nach der Zeitlichkeit der Bilder (vorbereitet vs. simultan) als auch auf die Frage der Integration in die Dramaturgie (integriert vs. rahmend) vielfältige Differenzierungsmöglichkeiten, mit denen nicht nur der Theaterregisseur arbeiten kann, sondern

146 Ebd. 147 Ebd., S. 217.

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die auch Eingang in die Dramentexte gefunden haben. Bei Richter tritt neben die Auseinandersetzung mit den visuellen Dimensionen der Medialität die akustische Dimension. Es geht um die Geräusche, die dahinterstehenden Intentionen und ihre Wirkung. Ebenso geht es um das Sprechen über die Handlung. Die Auseinandersetzung mit der Medialität wird damit zur Sprachkritik. Insoweit überzeugt auch im Hinblick auf Richters Stück die Typologie von Wolfert, die neben den beiden schon vorgestellten Formen der Intermedialität noch die diskursive ausgemacht hat.148 Die Gegenwartsdramatik reagiert also auf unterschiedliche Art und Weise auf die aktuellen medialen Entwicklungen – zum einen indem sie die technischen Geräte in die Handlung integriert (was wenig überrascht und formgeschichtlich irrelevant ist), zum anderen indem sie Dimensionen medialer Wahrnehmung thematisiert. Hinzu kommt, dass die Nebentexte von Ostermaier und Richter implizit die Bedeutung des Dramas nicht nur im Hinblick auf seine Inszenierung, sondern auch als literarischen Text thematisieren, wenn mit den Masken der Autorschaft gespielt wird. Im einleitenden Nebentext von The Making Of spricht ein dramaturgischer Autor, dessen Äußerungen als die des empirischen Autors gedeutet werden wollen. Doch wird diese Sprechinstanz an keiner Stelle klar markiert. Deswegen ist auch die Rückbindung an den empirischen Autor bloße Interpretation. Dieses Ineinander von empirischer und dramaturgischer Autorschaft haben wir bereits bei Jelinek beobachtet. Im Unterschied zu dieser bietet Ostermaiers Nebentext jedoch weit weniger Deutungsmöglichkeiten und ist also im Hinblick auf den Umgang mit dem Spielraum insgesamt restriktiver. Mit dem zitierten Ende der Vorbemerkung von The Making Of („Film ab, Vorhang auf:“) wird zugleich der Beginn der Illusion thematisiert – und zwar mittels eines literarischen Fiktionalisierungsmerkmals. Deswegen scheint es gerechtfertigt, trotz der Unterschiede im Umgang mit der Wahrnehmungsthematisierung die Gemeinsamkeiten zwischen Ostermaier und Richter hervorzuheben. Schließlich kennen beider Nebentexte Momente der literarischen Fiktionalisierung, in denen das suggestive Wir spricht.149

148 Wolfert: Theatertexte zwischen Medien und Revolution 1989-1996, S. 163: „Diskursive Intermedialität ist meist subversiv, indem sie die Machtstrukturen des Mediendiskurses, seine regelbestimmten Sprachspiele und Äußerungsfolgen unterläuft und dem Rezipienten aus der Position des Objekts der Massenmedien in die des Subjekts verhilft.“ 149 Diese Dimension des Dramas erschließt sich nicht, wenn es ausschließlich als zu inszenierender Text begriffen wird und die Lektüre unberücksichtigt bleibt. Das zeigt

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Deswegen ist es sprachlich präziser, nicht von der Medialisierung des Dramas zu sprechen, sondern Rahmungen und Thematisierungen, wie sie Ostermaier und Richter verwenden, als eine Form der Verfremdung und dann auch Episierung zu begreifen, die medial realisiert wird (und damit direkt an Traditionen der Verfremdung Brechts und Piscators anknüpft). Im Hinblick auf diese war Szondi ebenso verfahren.150 Aus den Möglichkeiten der medialen Episierung ergeben sich keine wesentlichen Forminnovationen. Das heißt jedoch nicht, dass sich die Möglichkeiten der medialen Episierung nicht verändert haben: The Making Of endet mit einer Premierenfeier. Auch wenn Ostermaier die Handlung in einzelne, nicht immer aufeinander aufbauende „Bilder“ segmentiert und dies durch die Videotechniken unterstützt wird, folgt die Handlung insgesamt einer linearen Dramaturgie. Zwar wird gar nicht erst versucht, einen Realismus zu pflegen. Doch obwohl Finalität und Konzentration immer wieder unterbrochen werden, bleiben sie für das Drama gültig. Bei Richter verhält es sich anders. PEACE ist wesentlich a-final und unkonzentriert. Das wird durch die Videotechniken deutlich unterstützt, nicht weil sie vielfältiger eingesetzt werden, sondern weil ihnen mehr Eigenständigkeit eingeräumt wird. Das wird weiterhin dadurch erreicht, indem in PEACE die einzelnen Szenen mit langen Monologen beschlossen werden, die Einblicke in die Gefühlswelt und die Überzeugungen der Figuren erlauben. Der Befund, dass PEACE kaum final, konzentriert und absolut zu nennen ist, bedeutet jedoch nicht, dass das Stück ohne eindeutige Schlusssignale endet. Das Ende wird dominiert vom Dialog zwischen Marco, der die Bilder nicht mehr erträgt, und Marc, der angesichts der Bilder immer euphorischer wird. Die anderen außer Marco haben sich jetzt zusammengefunden und liegen herum wie Hippies auf einer Wiese […]. Plötzlich stellt Marco Musik und Video aus, stört den Frieden. Du verstehst mich gar nicht Pause Du verstehst mich gar nicht Laura: So viel Liebe Marc: Du liebst mich gar nicht Du Marco: Ja

etwa die Studie von Spittler, in der die „Fiktionalität des Dramas“ de facto ausgeschlossen wird: vgl. Spittler: Darstellungsperspektiven im Drama, S. 39-43. 150 Vgl. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 104f.: „Hinter allen diesen RevueElementen aber steht in maßloser Überdimensioniertheit das epische Ich [...].“

180 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Marc: Lieb mich bitte Mich Ich meine Mich […] Bitte 151

Marco macht eine Handbewegung wie Ausknipsen. Alles wird dunkel.

Marcs Bedürfnis nach Zuwendung erteilt Marco eine Absage, weil er das Vertrauen in die Aussagen und Bilder verloren hat. So endet mit dem Verlöschen der Bilder auf der Leinwand das Drama. Es erteilt dem Wunsch, den Bildern zu entfliehen, eine ernüchternde Absage, weil die Alternative die Dunkelheit ist, was im Sinne Kracauers als Zeichen für filmische ‚Errettung der äußeren Wirklichkeit‘152 verstanden werden kann und womit Richter einen dezidierten Kontrapunkt gegen die binäre Opposition von Bild und Körper, die seine Figuren formulieren, setzt. Trotzdem bleiben Zweifel, ob die Ästhetik des Dramas in der jüngeren Vergangenheit durch den Einsatz von Videokameras und die Projektion von Videobildern grundlegend reformiert wurde. Vielmehr scheint es, dass lediglich die Einsatzmöglichkeiten vielfältiger, einfacher und schlicht auch günstiger geworden sind und dass die Autoren unterschiedliche Positionen zum Verhältnis von Bild und Wirklichkeit einnehmen. Obwohl all das Niederschlag im Dramentext gefunden hat, kann nicht davon gesprochen werden, dass das Drama selbst formal wesentlich weiterentwickelt wurde. Auch wenn der Schluss von PEACE ohne den Optimismus eines Bauersima auskommt, gleicht er ihm doch in einem Punkt: Der Wunsch nach dem ‚Eigentlichen‘ wird repräsentiert durch den Körper. Die Bilder der deutschen NATOTruppen erzeugen bei Marc Glücksgefühle, die er sexuell kanalisieren will: kommt wir schlafen noch mal alle miteinander und dann muß ich auch los die warten ja jetzt schon alle auf mich wir müssen doch morgen dieses Krankenhaus diese Schule dieses Kinderheim ja alles ganz friedlich so ein Frieden alle Soldaten aller Länder sind dort vereint […].

153

151 Richter: PEACE, S. 287f. 152 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Frankfurt/M. 1985. 153 Richter: PEACE, S. 287.

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Marc kann körperliche Glücksgefühle nur noch in Verbindung mit MedienBildern denken. Die gleiche Erfahrung der Allgewalt der Bilder hat zuvor Marco gemacht, nur dass bei ihm die Bilder das Gegenteil provozieren – den absoluten Gefühlsverlust („Ich sehe nichts mehr verdammt ich fühle nichts mehr ich bin tot […] ich möchte nur noch befreit werden von diesen Bildern“).154 Anders als bei Bauersima können die Figuren in PEACE die Bilder nicht los werden. Der gemeinsame Ausgangspunkt, dass der Körper das Eigentliche repräsentiert, hat entgegengesetzte Fluchtpunkte. Strukturell zielt der Einsatz von bildgebenden Medien im Gegenwartsdrama gegen die Absolutheit. Falk Richters PEACE zeigt zudem, dass bildgebende Medien genutzt werden können, um Finalität und Konzentration aufzulösen. Thematisch werden Bilder dem Körper gegenübergestellt. Die Figuren sehen in ihm das ‚Andere‘, ‚Eigentliche‘, das im Kontrast zur medialen Wirklichkeit steht. So vielfältig der Umgang mit den Medien und den Figuren bei Bauersima, Ostermaier und Richter auch ist: Ihnen ist gemeinsam, dass im Zentrum ihrer Dramatik die Darstellung von Handlung steht. Das ist kein selbstverständlicher Befund. Medialisierung des Raums Die mediale Episierung des Dramas kommentiert also die Handlung – entweder indem die Figuren mit entsprechender Technik ausgestattet werden oder indem ihr Handeln mittels Bildeinspielungen vervielfältigt wird. Techniken der Raumthematisierung scheinen dagegen in der Dramatik nur selten erprobt zu werden. Eine Ausnahme ist Albert Ostermaiers Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie. Das Stück ist formal ein typischer Theaterdialog. Er findet zwischen Ernst Toller und seinem alter ego Tollkirsch statt. Angesichts dieses Namens dürfte es selbst Rezipienten, die nicht mit Tollers Biographie vertraut sind, nicht verwundern, dass am Ende des Stücks dessen Selbstmord steht. Was im Bühnenraum dargestellt werden soll, wird zu Beginn des Stücks formuliert: tollers apartment im mayflower-hotel. auf der bühne eine klassische erhängungsmaschinerie, eine badewanne & neben dem galgen ein hollywoodesker schminktisch. die bühnenbegrenzungen sind die eines boxrings.

155

154 Ebd., S. 286. 155 Albert Ostermaier: Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie, in: ders.: Tatar Titus. Stücke. Frankfurt/M. 1998, S. 15-82, hier S. 17; vgl. dazu Franziska Schössler: Al-

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Die eröffnende Nebenbemerkung hebt hervor, dass in Ostermaiers Dialog verschiedene Zeichenensembles für den Bühnenraum vorgesehen sind, die einerseits für den Raum stehen, in dem sich Toller umgebracht hat, und die andererseits auf einen Wettkampf hinweisen. Dabei ist zunächst nicht klar, ob die Zeichenensembles ineinander greifen, miteinander in Konflikt geraten oder unverbunden nebeneinander stehen. Auf diese Weise arbeitet das Stück einer Vereindeutigung vor. Ostermaier intensiviert dies dadurch, dass er im Verlauf den Raum medialisiert – und zwar auf unterschiedliche Weise. Zunächst fordert er Fotoprojektionen, durch die an Tollers antifaschistische Aktivitäten und seine Ankunft im Herzland des Kapitalismus erinnert wird: im raum überlagern sich frontbilder des spanischen bürgerkriegs mit polizeiphotographien der strassenkämpfe in den new yorker suburbs, die während tollkirschs rede überschrieben werden von ständig springenden börsenkursen im akustischen begleitschutz notorisch ge156

brüllter kaufgebote […]

Auch können die Projektionen Toller verfolgen und um ihn herum irrlichtern,157 d.h. sie markieren nicht nur die Grenzen des Bühnenraums, sondern können bewegter Teil der Handlung sein. Außerdem müssen die Bilder nicht Standbilder sein, auch Filmprojektionen sind vorgesehen. Formal bedient sich Ostermaier damit expressionistischer Bühnentechniken. Das darf zunächst als Reminiszenz an Tollers Dramatik selbst verstanden werden (zu denken ist etwa an die Traumbilder in Masse Mensch und an die filmischen Zwischenspiele in Hoppla, wir leben!). Ostermaier thematisiert in seinem Stück also nicht nur auf komplexe Weise Tollers Leben und sein Verhältnis zum Faschismus und zur Gewalt. Gleichzeitig setzt er sich mit Tollers Ästhetik auseinander, um seiner Literatur – produktiv rezipiert – ein Weiterleben zu gewährleisten. Doch geht er in einer Szene darüber hinaus: alles ist in nationalsozialistischem kesseltreiben & antisemitischer hetzjagd begriffen, über bilder der völkischen aufmärsche werden solche amerikanischer siegesparaden, rambosequenzen & bilder der flucht aus ländern & perioden der politischen verfolgung projiziert. […] eine gruppe von nazis, neonazis, amerikanischen faschisten, klukluxklanjüngern & footballspielern übernehmen die funktion der gefängniswände. tollkirsch ist in ihren rei-

bert Ostermaier – Medienkriege und der Kampf um Deutungshoheit, in: Theater fürs 21. Jahrhundert. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2004, S. 81-100. 156 Ostermaier: Zwischen zwei Feuern, S. 22. 157 Vgl. ebd., S. 38.

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hen. toller versucht, sich immer wieder einen ausweg durch die sich zusammenballende menge zu erkämpfen, kann aber die begrenzungen nicht überwinden. der raum & die menschenwand um ihn verengt sich immer mehr, bis er fast unter ihr begraben liegt, & toll158

kirsch ihm durch seinen platz in der mauer zur flucht verhilft.

Durch den Auftritt des menschlichen Gefängnisses wird der Raum, in dem sich Toller befindet, im wahrsten Wortsinn zu einem Zwischenraum, der – anders als der Zwischenraum zwischen den Projektionen – immer mehr die Bewegungen Tollers unmöglich macht. In Tollertopographie relativiert Ostermaier den Raum, um die Bühne flexibel zu gestalten. Diese Technik kann Raumrelativierung genannt werden und erfolgt hier durch die Körper auf der Bühne, um einen konkreten, eindimensionalen Realitätsbezug zu negieren. Generell hat das Drama zwei Möglichkeiten, Inneres – Gedanken und Ideen der Figuren – auszudrücken. Seit dem 18. Jahrhundert übernimmt das meist, wie ausgeführt, der Monolog. Die zweite Form des inneren Zwiegesprächs kennen wir aus dem Barock, als Form des Dialogs zwischen einer Figur und seinem Genius etwa oder einem Teufel. Ein in dieser Theatertradition stehendes, allegorisches Spiel, das schon durch die Namenswahl der Gegenfigur angedeutet wird, hat Ostermaier verfasst. Er setzt damit auf eine vorklassische Form, die eben zu Tollers Zeit vehement Aufmerksamkeit fand – Stichwort: Ursprung des deutschen Trauerspiels.159 Die Medialisierung des Raums geht bei Ostermaier also einher mit einer artifiziellen, bezugsreichen Dramenästhetik. Der Spielraum, den sein Text der Regie lässt, ist gering. Ein Verzicht etwa auf die sukzessive Bebilderung des Raums und die daraus folgende Einengung Tollers würde es unmöglich machen, sowohl seine Psyche als auch seine Ästhetik als Dramatiker zu veranschaulichen. Aber gleichzeitig gewinnt das Drama als literarischer Text. Denn die Vielfalt der Bezüge zu Tollers Leben und Werk in Ostermaiers Drama erschließt sich mit der Lektüre. Dieser Befund betont die ästhetische Eigenständigkeit des Dramas gegenüber dem Theater, die sich nicht zuletzt dadurch ausdrückt, dass sie ihr Literatursein reflektiert und gleichzeitig ihre Inszenierung einkalkuliert und ein Theater aktualisiert, das Geschichte zu sein schien.

158 Ebd., S. 70. 159 Vgl. Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels.

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4.

D RAMATISCHE S ELBSTREFLEXIVITÄT

Jelineks im vorletzten Kapitel dargestellte Auseinandersetzung mit Ibsen ist nicht nur ein Beispiel für die sich aus der Episierung entwickelnde Monologisierung, sondern auch eins für die Selbstreflexivität des Dramas, die es schon seit Jahrhunderten kennzeichnet. Man denke an Hamlet. Diese Selbstreflexivität zeichnet sich dadurch aus, dass sie entweder die dramatische Tradition kommentiert oder dass dramatische Strukturelemente mittels des Dramas analysiert werden – etwa wie in Tollertopographie. Die Selbstreflexivität ist dementsprechend ein Mittel gegen die Illusionierung, das allein schon deswegen antiillusionistisch wirkt, weil es die Absolutheit des Dramas nicht akzeptiert und stattdessen Inhalt und Form anderer Dramen oder das Theaterspiel zum Gegenstand hat. Dramatische Selbstreflexivität kann damit auch als intertextuelle Metatheatralität begriffen werden, die Ansätze der 50er und 60er Jahre, wie sie hier bereits vorgestellt wurden, aufnimmt und weiterentwickelt.160 Dramatische Kommentierung Ein Beispiel für dramatische Kommentierung ist Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar.161 Müller hat das Drama 1983/84 verfasst, es schließt seine langjährige dramatische Auseinandersetzung mit Shakespeare ab. Neben Müllers Übersetzungen von Hamlet und Macbeth zählt dazu Hamletmaschine. Dieses Drama kann aber im Unterschied zu Anatomie Titus nicht als Kommentierung begriffen werden, weil hier kein Prätext ergänzt, sondern ersetzt wird; anders als Anatomie Titus tritt Hamletmaschine an die Stelle von Hamlet. Die Kommentare in Anatomie Titus reichern im Unterschied zu Hamletmaschine die dramatische Handlung an: Eröffnet wird der dramatische Text mit einem Tableau, das als erste Szene gekennzeichnet ist und das durch

160 An dieser Stelle wird deutlich, dass der Verfasser keine substantiellen formalen Innovationen der absurden und grotesken Dramatik in die Gegenwart sieht. Aber selbstverständlich gibt es diese Dramatik weiterhin, man denke etwa an Dario Fo. Doch scheinen dem Verfasser absurde und groteske Techniken primär als Theatertechniken, nicht als dramatische Techniken fortgewirkt zu haben. Ein Grenzbeispiel dafür ist zweifellos das Diskurstheater von René Pollesch, der seine Inszenierungen verschriftlicht und publiziert und also als Dramatiker gelten kann, ohne dass dies sein künstlerisches Selbstverständnis hinreichend beschreibt. 161 Heiner Müller: Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar, in: ders.: Stücke 3. Werke 5. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2002, S. 99-193.

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keinen weiteren Nebentext normiert wird. Das Stück setzt also auf eine etablierte Episierungstechnik zu Beginn, die der Aufführung auf bekannte Weise einen Spielraum ermöglicht. Dieses Verfahren wird in Anatomie Titus besonders vielfältig verwendet. Zu Beginn der meisten Szenen findet sich ein Tableau-Text, der in die Szene einführt und meist im Blankvers steht und dadurch seine Zugehörigkeit zum dramatischen Sprechtext und zur Shakespeare-Tradition reklamiert. So beginnt das Stück mit den Versen: EIN NEUER SIEG VERWÜSTET ROM DIE HAUPTSTADT DER WELT ZWEI SÖHNE EINES TOTEN KAISERS JEDER GEFOLGT VON SEINEM SCHLÄGERTRUPP ERHEBEN ANSPRUCH AUF DEN LEEREN THRON

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Noch vor der zweiten Szene tritt diesem erläuternden Tableau ein zweiter Typ beiseite, der explizit „Exkurs“ genannt wird: „EXKURS ÜBER DEN SCHLAF DER METROPOLEN“. Dieser steht freilich nicht in der für Exkurse oder Kommentare typischen Weise in Prosa, sondern ebenfalls im Blankvers: GRAS SPRENGT DEN STEIN DIE WÄNDE TREIBEN BLÜTEN DIE FUNDAMENTE SCHWITZEN SKLAVENBLUT RAUBKATZENATEM WEHT IM PARLAMENT MIT HEISSER WOLKE MIT GESTANK VON AAS HYÄNENSCHATTEN STREICHT UND GEIERFLUG DURCH DIE ALLEEN UND FLECKT DIE SIEGESSÄULEN DIE PANTHER SPRINGEN LAUTLOS DURCH DIE BANKEN ALLES WIRD UFER WARTET AUF DAS MEER IM SCHLAMM DER KANALISATION TROMPETEN DIE TOTEN ELEFANTEN HANNIBALS DIE SPÄHER ATTILAS GEHN ALS TOURISTEN DURCH DIE MUSEEN UND BEISSEN IN DEN MARMOR MESSEN DIE KIRCHEN AUS FÜR PFERDESTÄLLE UND SCHWEIFEN GIERIG DURCH DEN SUPERMARKT DEN RAUB DER KOLONIEN DEN ÜBERS JAHR DIE HUFE IHRER PFERDE KÜSSEN WERDEN HEIMHOLEND IN DAS NICHTS DIE ERSTE WELT

162 Ebd., S. 101. 163 Ebd., S. 113f.

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Insgesamt kennt das Stück drei dieser Exkurse. In der fünften Szene ist es der „EXKURS DES NEGERS ÜBER POLITIK“. In der zehnten Szene schließlich folgt einer über den Kriminalroman. Allen Exkursen ist gemeinsam, dass sie Motive aus Shakespeares Tragödie aufnehmen. Im letzten Exkurs etwa heißt es: TITUS ANDRONIKUS DER SCHLACHTENLENKER ZWISCHEN DEN TRÜMMERN SEINER ANATOMIE TRÄUMT SEINEN KINDERTRAUM VON SEINER DAME Gerechtigkeit WENN ER DIE AUGEN SCHLIESST KANN ER DIE BRÜSTE MIT DEN HÄNDEN GREIFEN Gerechtigkeit UND IHRE GOLDNE SCHAM Gerechtigkeit UND RACHE WIE EIN ECHO FLÜSTERT DIE ASCHE SINGT DAS KNOCHENMEHL UND OBEN DURCH DAS RÖMISCHE EIGENHEIM VOM VOLLMOND UMGETRIEBEN SPUKT DIE TOCHTER KÄMPFT IHREN KAMPF GEGEN DAS SCHWARZAUFWEISS DER LITERATUR ES IST DIE MÖRDERGRUBE DER VERS IST NOTZUCHT JEDER REIM EIN TOD FEGT MIT DEN STÜMPFEN VOM REGAL DIE BÜCHER BRENNENDE KERZEN ZWISCHEN IHREN ZÄHNEN VON DEM VERWAISTEN ENKEL APPLAUDIERT VERBRENNT AUF DEM PARKETT DIE BIBLIOTHEK UND BADET IHRE STRÜMPFE IN DEN FLAMMEN WÄHREND DER ENKEL IN DAS FEUER PISST.

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Ihrem Namen ‚Exkurs‘ entsprechend, gehen diese Texte von der Vorlage aus. Im vorliegenden Beispiel wird die Konstellation Titus, Lavinia und Lucius (d.J.) thematisch aufgenommen, dann aber in ein anderes Setting überführt, das als ‚literarisch‘ markiert ist (‚SCHWARZAUFWEIß DER LITERATUR‘, ‚VERS‘, ‚VOM REGAL DIE BÜCHER‘). Am Ende steht ein ambivalentes Bild, weil das Verb ‚pissen‘ entschieden umgangssprachlich markiert ist und weil andererseits eben dieses ‚Pissen‘ den Versuch darstellt, die Flammen, die das Fundament der Literatur („PARKETT DER BIBLIOTHEK“) bedrohen, zu löschen. Der Exkurs ist eine zynische Parabel auf das Geschehen: Lucius wird den Brand, den die Generation vor ihm ausgelöst hat und der die gesamte römische Zivilisation zu gefährden droht, zu löschen versuchen. Damit kommentiert der Exkurs zugleich nicht mehr die Handlung, sondern er deutet das Ende des Dramas, in dem Lucius

164 Ebd., S. 161.

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die Herrschaft übernimmt, vorab an. Dabei ist das Stück insbesondere im Umgang mit den Anderen, den Fremden eindeutig. Anders als Shakespeare setzt Müller auf Vertreibung, wenn nicht gar Vernichtung der Goten. Die letzten Worte von Lucius lauten: „Schwerter genug hat Rom euch zu vertreiben | Der Gote ist ein Neger ist ein Jude.“165 Das ‚Auspissen‘ droht zur vulgären Form der ‚Auslöschung‘ zu werden. Was Lucius für Rom bedeutet, zeichnet sich ab: Die Spirale der Gewalt dreht sich weiter. Diese Spiralbewegung nimmt von den Figuren des Dramas ihren Ausgang, eröffnet einen neuen Assoziationsraum (‚Literatur‘) und kann erst dadurch zur Parabel werden, weil der das Ende nicht nur verkündet, sondern darauf reagiert. Wenn Lucius den Brand löscht, geschieht dies auf eine abstoßende Weise. Der Exkurs ist deswegen zugleich Kommentar, da er sich zur Handlung verhält. Offen bleibt freilich, wer sich hier verhält. Denn die Sprecherinstanz wird nicht geregelt, was einen Spielraum ermöglicht. Diese Ambivalenz wird auch nicht mit Hilfe der Nebentexte geklärt. Dort erklärt Müller unter dem Stichwort „Einheit des Textes“: Der Kommentar als Mittel, die Wirklichkeit des Autors ins Spiel zu bringen, ist Drama, nicht Beschreibung und sollte nicht an einen Erzähler delegiert werden. Er kann im Chor gesprochen werden; vom Darsteller der Figur, auf die er Bezug nimmt; vom Darsteller einer andern Figur, die zur kommentierten in der oder der oder keiner Beziehung steht.

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Dieser Hinweis kann als Synthese der dramenästhetischen Bemühungen Müllers begriffen werden. Zunächst fällt auf, dass der Begriff des Dramas an dieser konzeptionell bedeutenden Stelle nicht etwa aufgegeben wird: Er wird von Müller als Gegenbegriff zu dem, was üblicherweise Nebentext oder Regieanweisung genannt wird, als der Text beibehalten, der gesprochen wird. Es kommt zu einer konkreten Äußerung, es spricht ein dramaturgischer Autor. Doch wird dieser nicht konkretisiert, um einen Rückbezug auf den empirischen Autor zu gestatten. Die Abwesenheit des Autors wird aufgegeben, das Drama wird subjektiviert, indem die „Wirklichkeit des Autors“ integriert wird. Die Kommentar-Texte funktionieren in diesem Zusammenspiel nicht mehr nur als Fremdkörper, sondern als Möglichkeit, die theatralen Ausdrucksweisen zu vervielfältigen. Das gilt zu-

165 Ebd., S. 187, der letzte Satz fehlt freilich in der hier zitierten Ausgabe, er wurde von Hörnigk wegen seines fatalen Rückgriffs auf die Ausgabe von Fiebach nicht abgedruckt, vgl. Florian Vaßen: Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar, in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. v. Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi. Stuttgart, Weimar 2003, S. 185-188, bes. S. 186. 166 Müller: Anatomie Titus Fall of Rome, S. 192.

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gleich für die Ebene der ‚Bedeutungen‘. Weil der Text nicht mehr nur Figurenrede ist, wird die Frage nach der Bedeutung des Dargestellten destabilisiert. Um dies zu erreichen, greift Müller auf verschiedene metatheatrale Techniken zurück. So integriert er einen Clown in die Handlung, der sich mittels Kalauern und Grobianismen selbst einführt – aber nicht als unmittelbarer Handlungsfremdkörper, wie die erste Reaktion von Titus zeigt. Der Clown sagt: Neger in Rom, soweit ist es gekommen. Titus:

Was Jupiter gesagt hat, frag ich dich.

Clown: Jubitter? Was ist das für ein Getränk. Nichts für ungut, Herr Neger: Ihr Besteck ist rostig, ich esse mich lieber selbst. Ich hätte es wissen müssen: Der Neger hat keinen Humor, er ist zu schwarz. Soll ich die Hosen herunterlassen? DER CLOWN VERLIERT DIE HOSE UND GEWINNT / DAS PUBLIKUM. Ein Blankvers. Wieder nichts. Ich merke schon, die spielen hier eine Tragödie. Das ist ein Trauerspiel. Ich kann auch weinen. Er weint. Titus:

Wie, Lump, du bist nicht der Kurier?

Clown: Nein, Sir, ich kann euch nicht kurieren.

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Dieses Clownsspiel gewinnt seine kommentierende Komik, indem zum einen mittels der Spiel-im-Spiel-Situation auf die Handlung referiert wird und zum anderen typisch clowneskes Missverstehen vorgeführt wird, das in Shakespeares Komödien nicht selten ist, aber in seinen Tragödien weitgehend fehlt.168

167 Ebd., S. 158. 168 Eine andere Möglichkeit der Verfremdung mittels einer Spiel-im-Spiel-Situation hat Botho Strauß rund 20 Jahre später in seiner Neubearbeitung von Titus Andronicus mit dem Titel Schändung vorgenommen, indem er vermeintlich ‚zeitgenössische‘ Figuren hinter den Figuren der Handlung imaginiert und diese sprechen lässt. Tamora eröffnet die Szene folgendermaßen: „Vor kurzem traf ich eine alte Schulfreundin im Kaufhaus. Sie sagte, ich habe dich neulich in diesem verrückten Shakespeare gesehen. Im Fernsehen. Ich spreche von dieser abartigen Produktion, in der du das Mädchen spielst, das vergewaltigt wird. Und dem man die Zunge rausschneidet, mein Gott. Und später kommt dann noch sowas Grausames. Ich dachte zuerst, die senden ein Kanibalenvideo oder sowas zur besten Sendezeit, meine Kinder waren noch nicht zu Bett.“ Botho Strauß: Schändung. Nach dem Titus Andronicus von Shakespeare. München 2005, S. 27.

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Jede Aufführung lässt sich als ein Kommunikationsdreieck begreifen, das sich in jeder neuen Situation neu formiert, da in ihr sowohl innerhalb des Bühnengeschehens als auch über die Grenzen der Bühne hinaus mit dem Publikum kommuniziert wird. Dieses Kommunikationsdreieck wird durch die Kommentierung verändert. Anders als üblich werden nicht die Äußerungen durch die dramatische Handlung gerahmt, sondern sie rahmen die Handlung, denn es wird die Illusion durchbrochen, dass primär innerhalb der dramatischen Handlung kommuniziert wird. Durch die Einführung der kommentierenden Exkurse verändert Müller das üblicherweise einfache, für das Publikum klar nachvollziehbare Kommunikationsdreieck, das dafür sorgt, dass der Dialog tatsächlich ein ‚Trialog‘ ist, zu einer Art Prismenbild der permanent wechselnden Bezugsmöglichkeiten und theatralen Ausdrucksformen. Das Gespräch zwischen den Darstellern muss nicht das Gespräch zwischen den Bühnenfiguren repräsentieren, das dem Publikum zudem irgendetwas bedeutet. Es kann ebenso das Gespräch zwischen den Darstellern sein, wobei dieses Gespräch sowohl eins über die Handlung sein kann als auch eins über die Darstellung von Handlung als auch eins über ein anderes Thema. Hinzu tritt die Möglichkeit, dass die Darsteller direkt das Gespräch mit dem Publikum suchen oder in das Parkett sprechen, also keinen der Handlung inhärenten Bühnenmonolog führen. Das unterscheidet die Kommentierung von der Integration des dramatischen Autors als Figur. Während dieser auf der (freilich an sich schon hybrid gewordenen) Handlungsebene verharrt, zielt die Kommentierung darauf, die Grenze zwischen der Darstellung und ihrem Außerhalb zu destabilisieren, weil die Exkurse als Aktualisierungen der Bühnenhandlung markiert sind und zugleich das für die Tableaux so wesentliche Kennzeichen der Handlungsunterbrechung nicht gegeben ist. Dementsprechend formuliert Müller in den zitierten Überlegungen zur „Einheit des Textes“: „Kein Monopol auf Rolle Maske Geste Text, Episierung kein Privileg: Jedem die Chance, sich selbst zu verfremden.“169 Anatomie Titus radikalisiert die offene Form des Dramas nicht mehr nur mittels Weiterentwicklung bestehender Formangebote, sondern zugleich durch die Auseinandersetzung mit Shakespeare.170

169 Ebd., S. 27. 170 Vgl. Patrick Primavesi: Aufhebung des Theaters – zur Lesbarkeit von Heiner Müllers Anatomie Titus Fall of Rome. Ein Shakespearekommentar, in: Theatrographie. Heiner Müllers Theater der Schrift. Hg. v. Günther Heeg. Berlin 2009, S. 82-96.

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Dramatische Strukturanalysen Das Beispiel des Shakespearekommentars von Müller zielt mittels einer expliziten Kommentierung der Handlung auf eine Pluralisierung der dramatischen Formsprache. Alternativ dazu hat er in derselben Zeit, also Mitte der 70er und Anfang der 80er Jahre, die Auseinandersetzung mit dramatischen Strukturelementen gesucht und eine zweite, nun freilich implizite Form der dramatischen Selbstreflexivität entwickelt. Sie erfolgt durch eine vielfältige intertextuelle Auseinandersetzung mit Prätexten. Veranschaulichen lässt sich das anhand von Müllers Mauser, das sich auf komplexe Weise auf Brechts Maßnahme bezieht. „Die christliche Endzeit der Maßnahme ist abgelaufen“,171 schreibt Müller in seiner Verabschiedung des Lehrstücks, die als Brief verfasst und an Reiner Steinweg, den Herausgeber der Kritischen Ausgabe von Brechts Maßnahme und Verfasser zahlreicher Studien zum Lehrstück, adressiert ist. Aus der Verabschiedung des Lehrstücks lässt sich folgern, dass nach Meinung Müllers das Lehrstück-Konzept zur Zeit Brechts eine adäquate dramatische Form gewesen ist – eine Form, die die konventionellen Regeln des Theaters außer Kraft zu setzen vermochte und Zuschauer und Spielende in eins fallen ließ. Für die Gegenwart 1977 lehnt er das Lehrstück hingegen als unzeitgemäß ab: „ich denke, daß wir uns vom LEHRSTÜCK bis zum nächsten Erdbeben verabschieden müssen“,172 konstatierte er. Diese knappe Verabschiedung überraschte im Jahr des sogenannten ‚Deutschen Herbsts‘ gerade die bundesrepublikanische Linke, weil Müller nur ein Jahr zuvor offensiv die Brecht-Nachfolge eingefordert und die Aktualität des Lehrstücks indirekt aufgezeigt hatte – und zwar mit Mauser, das nicht nur formal Lehrstück-Charakter hat, sondern wesentlich der Dramaturgie der Maßnahme verpflichtet ist. Der Titel dieses Dramas ist anspielungsreich, wie Nikolaus Müller-Schöll dargelegt hat: Zentral sind Trotzkis Satz über das ‚Mausern‘ der Gesellschaft

171 Vgl. Heiner Müller: Verabschiedung des Lehrstücks, in: ders.: Schriften. Werke 8. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2005, S. 187. Insgesamt wird das Lehrstück in der vorliegenden Studie nur peripher behandelt, weil es eine sporadische dramatische Form darstellt, die die hier skizzierten wesentlichen theoretischen Entwicklungen zwar kennt und ihnen folgt, jedoch keine zentralen weiteren in ihr zu finden sind. Die damit verbundene Frage, welche Bedeutung Wolokolamsker Chaussee für die Entwicklung des Lehrstücks zukommt, kann hier nicht erfolgen; vgl. Francine Maier-Schaeffer: Heiner Müller et le ‚Lehrstück‘. Bern, Frankfurt/M., New York 1992. 172 Müller: Verabschiedung des Lehrstücks, S. 187.

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und Majakowskis Gedicht Linker Marsch, in dem an den Revolver gleichen Namens appelliert wird: „rede, Genosse Mauser“.173 Zwar hatte Müller Mauser schon 1970 geschrieben, publiziert wurde der Text aber erst 1976 in der Frühjahrsausgabe von New German Critique in einer englischen und einer deutschen Fassung. In der DDR war die Verbreitung des Textes bis 1988 verboten. Müller fordert für Mauser – ähnlich wie Brecht für Die Maßnahme – eine rigorose Auflösung der Grenze zwischen Publikum und Sprechenden. Anders als Die Maßnahme gibt es in Mauser keine Rahmenhandlung, die der Gerichtsverhandlung in Brechts Lehrstück entspricht. Zudem handelt Mauser rigoroser von der Liquidierung. A ist Henker im Auftrag der Revolution. Nachdem er an seinem Tun zu zweifeln beginnt, kehren sich seine Skrupel um. Er wird zum orgiastischen Henker. Vorgeworfen werden A nicht die Tötungen, sondern sein Lustgewinn daran. Und an dieser Stelle greift Müller auf das zentrale Motiv der Maßnahme zurück: auf das Einverständnis, das von A vor seiner Hinrichtung verlangt wird.174 Anders als Brechts junger Revolutionär weigert sich A, es abzulegen. Stattdessen zweifelt er am Sinn seines Lebens: „Was kommt hinter dem Tod.“ Der Chor erklärt, diese Frage nicht beantworten zu können, und fordert erneut das Einverständnis: Aber die Revolution braucht Dein Ja zu deinem Tod. Und er fragte nicht mehr Sondern ging zur Wand und sprach das Kommando Wissend, das tägliche Brot der Revolution Ist der Tod ihrer Feinde, wissend, das Gras noch Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt. A: TOD DEN FEINDEN DER REVOLUTION.

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173 Nikolaus Müller-Schöll: Die Maßnahme auf dem Boden einer unreinen Vernunft. Heiner Müllers ‚Versuchsreihe‘ nach Brecht, in: MASSNEHMEN. Bertolt Brecht / Hanns Eislers Lehrstück DIE MASSNAHME. Kontroversen – Perspektiven – Praxis. Hg. v. Inge Gellert, Gerd Koch, Florian Vaßen. Berlin 1999, S. 251-267, bes. S. 256f. 174 Vgl. Kai Bremer: Säkularisierungsresistent? Märtyrerfigurationen in Brechts Maßnahme und Müllers Mauser, in: Grenzgänger der Religionskulturen. Kulturwissenschaftliche Beiträge zu Gegenwart und Geschichte der Märtyrer. Hg. v. Silvia Horsch, Martin Treml. München 2011, S. 357-370, bes. S. 358-364. 175 Heiner Müller: Mauser, in: ders.: Stücke 2. Werke 4. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2001, S. 243-260, hier S. 258.

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Müller aktualisiert das Einverständnis und verbindet es mit den aus dem Stück bereits bekannten Versen: „Wissend, das tägliche Brot der Revolution | Ist der Tod ihrer Feinde, wissend, das Gras noch | Müssen wir ausreißen, damit es grün bleibt.“ Die Verse sind eine Anspielung auf Scholochows Der Stille Don, werden im Text als Rondo variiert insgesamt acht Mal zitiert und verleihen dem Text eine lyrische Gestalt. Lyrisch wirkt das Stück ferner aufgrund zahlreicher Stilmittel wie der fugenartigen Variationen des Rondos, Anaphern, Alliterationen, Inversionen und Parallelismen. Dadurch korrespondiert der Text nicht nur mit Majakowskis Gedicht, Mauser wirkt insgesamt pathetisch und artifiziell. Die Einwilligung in die Tötung wird zu einem stilistisch vorbereiteten Höhepunkt. Mauser ist also ein Hypertext, mit mehreren Hypotexten.176 Gleichwohl scheint es geboten, von Kommentierung zu sprechen, denn Müllers Text setzt sich nicht nur textuell mit seinen Hypotexten auseinander, sondern er verhält sich zum Einverständnis: Anders als Die Maßnahme ist Mauser weitgehend frei von christlicher Motivik. Doch ganz ohne sie kommt selbst Müller nicht aus. Jenseits der Märtyrerfiguration als solcher gibt es weitere Details, die zumindest als christlicher Nachklang betrachtet werden können. So wird im Rondo der Tod der Feinde der Revolution als ‚tägliches Brot‘ bezeichnet. Dieser Hinweis auf das Vater unser funktioniert als metaphorischer Verweis, der einzig dazu dient, die Notwendigkeit des Tötens für die Revolution immer und immer wieder ins Gedächtnis zu rufen. Heikler für das ostentativ säkulare Gerichtsszenario in Mauser ist, dass die Revolutionäre die Antwort auf die Frage des Henkers schuldig bleiben, was nach dem Tod folgt. Diese Frage verweist darauf zurück, dass A ursprünglich kein Revolutionär war. Zu Beginn erinnert er sich: „Zubereitet auf dem zerknieten Dielenholz | Vor der Ikone für eine geistliche Laufbahn.“177 Trotz dieser Details kann man festhalten, dass Müller in Mauser nicht nur das Einverständnis, sondern auch die Säkularisierung der Märtyrerfiguration radikalisiert. Das zeigt sich dadurch, dass er das Bekenntnis zur Revolution mit dem Bekenntnis zur Ermordung der Gegner zusammenfallen lässt – anders als in der Maßnahme, in der das Bekenntnis zur Revolution lediglich mit dem Einverständnis in die eigene Tötung zusammenfällt. Das Töten ist bei Müller entschieden exzessiver als bei Brecht. Der sarkastische Witz von Müllers Lehrstück, der aus der Analyse der dramatischen Struktur von Brechts Maßnahme resultiert, liegt darin, dass es dem Einverständnis einen autonomen Wert zubilligt. Das Einverständnis wird zu ei-

176 Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt/M. 1993. 177 Müller: Mauser, S. 246.

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nem Formsignal des Lehrstücks. Gleichzeitig vollzieht Müller die Zerstörung der allegorischen Struktur. Nicht mehr das Anerkennen der eigenen Schuld und deren gleichzeitiges Überwinden in seiner potentiell unendlichen Dynamik wird im Stück propagiert, sondern die potentiell unendliche Dynamik der Aussonderung wird thematisiert, in der das Einverständnis von rein formaler und nicht mehr inhaltlicher Qualität ist. Wie perfide das Beharren auf dem Einverständnis dabei ist, zeigt sich darin, dass das System immer schon die Möglichkeit der Aussonderung miteinkalkuliert. Denn A hat nicht nur seinen Vorgänger B liquidiert. Als seine eigene Hinrichtung gefordert wird, steht sein Nachfolger bereit. Müller führt das Scheitern von Brechts Revolutionsoptimismus vor. Mauser zu verbieten, war deswegen aus Sicht der DDR-Führung nur konsequent. Das Stück ist eine dramatische Reflexion über die Möglichkeiten des Lehrstücks und der Revolution in der Gegenwart in einem. Mauser steht in seiner Konzentration auf die dramatische Strukturanalyse dem Formpluralismus von Anatomie Titus geradezu gegenüber: Die Auseinandersetzung mit der dramatischen Vorlage kann zu einem Ausufern des Dramas ebenso führen wie zu seiner Skelettierung. Formgeschichtlich sind beide Varianten der dramatischen Selbstreflexivität bemerkenswert. Selbstverständlich kennt auch die Dramatik vor der Postmoderne Hypertextualität. Diese wird jedoch genutzt, um entweder den Hypotext zu variieren und zu aktualisieren oder aber um sein gesellschaftliches Anliegen erneut zu erörtern. Die vorgestellten Beispiele stellen sich hingegen Formfragen. Das Drama kritisiert sich selbst und überprüft seine Gültigkeit. Metadramaturgie Die für das vorausgehende Teilkapitel zentrale Interpretation von Mauser zeigt auch, dass in Dramen nicht nur Metatheatralität etwa durch das Spiel im Spiel angelegt sein kann, sondern dass ergänzend bzw. parallel dazu das Drama auch metadramaturgisch konzipiert sein kann. Damit ist gemeint, dass das Drama nicht lediglich Bezug auf konkrete Hypotexte nimmt, sondern generell dramaturgiespezifische Voraussetzungen reflektiert. Das kann sich auf Strukturmomente wie die Anagnorisis beziehen oder auf Handlungsträger, die den Handlungsverlauf entscheidend verändern wie beispielsweise die verstoßene Geliebte des Fürsten im bürgerlichen Trauerspiel (Marwood, Orsina). Damit verhandelt die Metadramaturgie anders als die zuvor dargelegte dramatische Kommentierung primär die eigene Ästhetik und entwickelt diese weiter.178

178 Vgl. Janine Hauthal: Metadrama und Theatralität: Gattungs- und Medienreflexion in zeitgenössischen englischen Theatertexten. Trier 2009.

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Außerhalb Deutschlands ist für diese Verfahrensweise Hanoch Levin (19431999) bekannt. Er hat seit Anfang der 1970er Jahre das israelische Theater maßgeblich geprägt, viele seiner Stücke hat er selbst uraufgeführt.179 Aus dem Hebräischen ins Englische übersetzt wurde bisher nur eine Auswahl seiner Stücke.180 In Frankreich erschien immerhin eine dreibändige Werk-Ausgabe.181 Da Übersetzungen ins Deutsche weitgehend fehlen, wird er in Deutschland kaum rezipiert. Zudem mag sein teilweise sarkastischer Umgang mit wesentlichen politischen Themen der jüngeren israelischen und jüdischen Geschichte dazu führen, dass sich deutsche Theatermacher scheuen, seine Stücke zu inszenieren.182 Levin hat 1981 The Torments of Job publiziert und im selben Jahr inszeniert. Das Stück ist unterteilt in acht ‚Kapitel‘. Der Ort ist nicht das Land Utz, sondern das römische Reich. Die biblische Rahmenhandlung, das Gespräch Gottes mit Satan, fehlt. Dramaturgisch ist dem Stück ein Dreischritt eigen: Zunächst verliert Hiob seine Güter und Kinder, auch erkrankt er an der Krätze (Kapitel 1-4). Es folgt der Dialog mit den drei Freunden (Kapitel 5), die wie in der Bibel die Namen Eliphaz, Bildad und Zophar tragen. Die ersten fünf Kapitel orientieren sich also an der Binnenhandlung der biblischen Geschichte, ohne dieser genau zu folgen. Dem Geschehen im Haus von Hiob wird weit mehr Aufmerksamkeit gewidmet als in der biblischen Erzählung. Dagegen fällt der Dialog zwischen den drei Freunden und Hiob vergleichsweise kurz aus. Trotzdem ist es nicht so, dass die Figurenkonstellation einfach überführt wird in eine gänzlich neue Handlung. In einigen Details ist das Drama bemerkenswert nah an der Bibel. Wie in der Vorlage („Und als sie ihre Augen aufhoben von ferne, erkannten sie ihn nicht“, Hiob 2,12) erkennen auch im Drama die drei Freunde Hiob zunächst nicht:

179 Vgl. Michael Handelsalts: Das Theater in Israel: Zwischen Vision und Wirklichkeit, in: Kultur in Israel. Eine Einführung. Hg. v. Anat Feinberg. Gerlingen 1993, S. 88126, bes. S. 103-105. 180 Hanoch Levin: The Labor of Life. Selected Plays. Transl. from the Hebrew by Barbara Harshav. With an Introduction by Freddie Rokem. Stanford 2003. 181 Hanoch Levin: Théâtre choisi I-III. Traduit de l’hébreu par Laurence Sendrowicz. Paris 2001-2004. 182 Bezeichnenderweise wird Levins Drama nicht berücksichtigt in: Langenhorst: Hiob unser Zeitgenosse.

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Enter Job’s friends – Eliphaz, Bildad, and Zophar; they see him from afar Eliphaz: We’re looking for a man by the name of Job. We’re his best friends. We heard That calamity befell him.

183

Wesentlicher Unterschied zur biblischen Vorlage bis zum Abgang der Freunde ist, dass sie in Kapitel 5 Hiob erst zum Glauben bekehren müssen. Er ist nicht schon ein frommer Knecht Gottes, sein Glauben am Ende des Kapitels ist Resultat einer Konversion, wobei diese deutlich komische Züge trägt und an euphorische Bekehrungsrituale erinnert: Job (Lifting his hands): Take me in your arms and bury me in your neck – Zophar: He’s holding out his hands to you. Don’t you see? Job:

My eyes are dimmed by tears –

Zophar: He’s answering you. Don’t you hear? Job:

Yes, I think I do. He’s answering me. Now I see clearly His hands reaching out to me.

184

Statt der langen biblischen Monologe dominieren im fünften Kapitel Wechselreden mittlerer Länge, die am Ende des Kapitels durch eine Wechselrede abgelöst werden, die als das Nachsprechen eines Gebets konzipiert ist. Zophar: Call him, talk to him: Our father who art in heaven – Job:

Our father who art in heaven –

Zophar: Who sits in the highest – Job:

Who sits in the highest –

[…] Zophar: God of all the world. Job:

God of all the world. [...]

Eliphaz: Behold my friends, the heavens are opening. See how great is His love for us, For He called us the sons of God.

183 Hanoch Levin: The Torments of Job, in: Hanoch Levin: The Labor of Life. Selected Plays. Transl. from the Hebrew by Barbara Harshav. With an Introduction by Freddie Rokem. Stanford 2003, S. 51-91, hier S. 68. 184 Ebd., S. 75.

196 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI My loved ones, are we not the sons of God? And the heavens are opening.

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Mit dieser Szene am Ende des Kapitels kippt die Dramaturgie. Hiobs Gebet ist getragen von einer Euphorie, die durch ostentative Heilsgewissheit der Freunde und durch die Anklänge an das Vater unser fragwürdig wird. Die zahlreichen gut meinenden Imperative („Call him, talk to him“) werden ergänzt durch die persönliche Anrede des Freundes („Our good friend, Job“), so dass die Appellstruktur aufgebrochen wird und weniger distanziert wirkt. Die ganze Szene gleicht einer Erweckungsszene mit ihrer theatralen Dynamik. Ferner stellt Hiob, anders als in der Bibel (besonders Hiob 31), zahlreiche Fragen, die die Antwort nicht schon implizieren. Im dritten Teil, in den Kapiteln sechs bis acht, weicht Levin entschieden von der Vorlage ab. Römische Soldaten erklären den bisherigen Gott für abgesetzt durch den Kaiser, der das Gottesamt für sich reklamiert: Officer:

In the name of the new Emperor, Emperor of Great Rome and her colonies, These are the words of the Emperor: I am God, that is he, the Emperor. You shall have no other gods Except me, the Emperor. All prayers and sacrifice to other gods – 186

Are forbidden.

Anders als seine drei Freunde bleibt Hiob standhaft. Es scheint, als avanciere er zum Märtyrer. Er wird im Zirkus gequält und auf einen spitzen Pfahl gesetzt, der ihn langsam von unten nach oben durchstößt, während ihn eine Stripperin umtanzt. Endlich widerruft Hiob seinen Glauben, doch fatalerweise ist es zu spät. Der Pfahl hat ihn bereits zu sehr verletzt, so dass man ihn darauf sitzen lässt, um sich weiterhin an seinen Qualen zu ergötzen. Zynisch kommentiert der anwesende Offizier, dass Hiob mit seinem Widerruf sogar die Chance auf einen Märtyrertod verspielt habe: Job:

There is no god – Take me down from the spit. There is no god!

185 Ebd., S. 76f. 186 Ebd., S. 77.

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Officer:

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Too late, pal. Death Has struck root in you. Go With death!

Job:

Air – There is no god – I swear to you there is no god!!!

Officer:

Too bad. For the same price, you could have died 187

As a man of principle.

Im letzten Kapitel acht treten ein Bettler und die Toten auf. Diesen ist eine Art gesungener Schlusschor vorbehalten, der Anleihen an Sonjas Schlussmonolog in Tschechows Onkel Wanja nimmt.188 Aus der von Resignation umfangenen Hoffnungsbehauptung im ausgehenden 19. Jahrhundert wird in The Torments of Job eine Mitleidsverheißung, die nur noch die Toten zu hoffen wagen: But there is mercy in the world And we are laid to rest. Thus the dead lie patiently, With silence are we blessed. Grass grows on our flesh, The scream dies in our breast; But there is mercy in the world 189

And we are laid to rest.

Mit diesem Auftritt der Toten rekurriert Levin nicht auf das allegorische Spiel des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit – nicht der Tod, sondern die Toten stimmen ihre Klage an. Deren Lied ist in doppelter Weise zynisch. Sie adressieren ihre Klage weder an die Lebenden in Form eines memento mori, noch erinnern sie an eine bessere Vergangenheit. Die Toten sind keine Platzhalter der memoria. Vielmehr ist ihre Perspektive die Welt. Sie sind die Einzigen, die Hoffnung kennen, wodurch sie eigentümlich vital werden. Damit rekurriert Le-

187 Ebd., S. 88. 188 Vgl. Anton Tschechow: Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben in vier Akten. Übers. u. Nachw. v. Hans Walter Poll. Stuttgart 1988, S. 67: „Wir werden ausruhen! Wir werden Engel hören, den Himmel sehen […], wir werden erkennen, wie alles Böse auf Erden, alle unsere Leiden in der Barmherzigkeit vergehen, die die ganze Welt erfüllen wird, und unser Leben wird still werden, süß und sanft wie ein Streicheln. Ich glaube, glaube... […].“ 189 Levin: The Torments of Job, S. 91.

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vin auf ein Theaterkonzept, das in der Befreiung der Toten ein zentrales Antriebsmoment des Theaters sieht und etwa zeitgleich von Heiner Müller etabliert wurde,190 wie wir gesehen haben. Dieser Zugriff auf das Drama ist antimimetisch ausgerichtet. Dabei kann Levins Stück ein aggressiver Nihilismus attestiert werden, der sich in radikalen Hohn flüchtet. Dass er sich intensiv mit Artaud beschäftigt hat, ist bekannt.191 Die Gewaltexzesse in The Torments of Job sind sadistisch und provozieren beim Rezipienten emotionalen Widerwillen. Das geht mit einem vordergründigen Desinteresse an bestimmten Formfragen einher. Vergegenwärtigt man sich aber, dass detailliert auf die Bibel Bezug genommen wird und dass weiterhin die einzelnen Szenen sehr präzise komponiert sein müssen, um derartige Reaktionen zu provozieren, wird deutlich, wie sehr sich die Formfrage stellt. In The Torments of Job wird ein vielfältiges intertextuelles Spiel gespielt, das im Sinne der vorhergehenden Überlegungen zunächst als dramatische Strukturanalyse des Buches Hiob zu begreifen ist, ergänzt um weitere intertextuelle Momente. Doch geht The Torments of Job darüber hinaus, indem es Rezeptionserwartungen infrage stellt. Das erreicht das Drama durch ein perfides Spiel mit dem Wissen des Zuschauers. Levin ruft die Erinnerung an literarische Motive und kulturelle Narrative auf, um sie mittels der Dramaturgie des Stücks ins Leere laufen zu lassen. So lässt er seinen Titelhelden nicht einfach sterben. Levins Hiob wird als Märtyrer aufgebaut, die ganze Dramaturgie läuft, einem barocken Trauerspiel gleich, auf die Tötung des Helden hinaus, die einhergeht mit einer transzendentalen Erhöhung und Heroisierung. Aber diese Erwartung lässt Levin mit blankem Zynismus ins Leere laufen. Zudem widersetzt sich das Drama trotz seiner dialogischen und illusionistischen Anlage der Identifikation. Stattdessen wird Hiobs Ohnmacht vor Augen geführt, die darin mündet, dass der Titelheld als gescheiterter Menschen stirbt. Das Leben wie das Sterben haben keinen Sinn, das ist die nihilistische Position dieses Dramas, dessen ganze Anlage darauf zielt, nicht nur die Heilsgeschichte der Bibel zu unterlaufen, sondern jede Hoffnung auf ein Glück verheißendes Ende. Ergänzt wird diese metadramaturgische Anlage um Momente der Metatheatralität und des Spiels im Spiel. Indem Hiobs Sterben in die Zirkusmanege verlegt

190 Vgl. Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske; Günther Heeg: Totenreich Deutschland – Theater der Auferstehung. Wiederkehr eines Anachronismus: die Nation, in: Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme. Hg. v. Christian Schulte, Brigitte Maria Mayer. Frankfurt/M. 2004, S. 35-50. 191 Erella Brown: Cruelty and Affirmation in the Postmodern Theater: Antonin Artaud and Hanoch Levin, in: Modern Drama 35 (1992), S. 585-606.

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wird, wird daran erinnert, dass das biblische Vorbild den distanzierten Betrachter kennt. Stillschweigend wird dadurch die einzige Spielregel außer Kraft gesetzt, von der die Bibel berichtet: Hiobs Leben wird im Unterschied zur Bibel in Levins Drama angetastet. Das ist konsequent, denn es gibt hier keinen Gott (und keinen Satan) und deswegen keine Spieler, die sich auf Spielregeln einigen könnten. Gleichwohl wird eben durch das Spiel eine ethische Kategorie eingeführt, das Mitleid. Dabei ist Mitleid, wie gezeigt, hier keine Kategorie der Einfühlung. Durch das Stück wird das Theater stattdessen ein Ort, an dem das Wissen um das Mitleid nicht verloren geht – in Gestalt der Toten. Das Mitleid wird genutzt, um den Affekt zu provozieren, der wie kein anderer von der frühen Episierung kritisiert wurde. Die Dramatik wendet sich dem Mitleid thematisch zu. Das fatale Ende des Titelhelden, der weder pathetisch als Märtyrer untergeht noch durch seinen späten Widerruf errettet wird, belegt, dass Hiob mehr ist als eine dramatisierte Figur der Bibel. Levin schreibt nicht das Buch Hiob zu einem absurden Theater der Grausamkeit um. Er setzt sich mit dem Wissen, das die Bibel bereithält, auseinander. Zunächst nimmt er die dialogische Form des Buchs Hiob auf, indem er die Kapitel der biblischen Erzählung dialogisiert, die in der Bibel von Rede und Gegenrede beherrscht sind. Sodann thematisiert er deren Spiel-imSpiel-Szenario, wobei er den außerweltlichen Rahmen der Bibel (Gott/Satan) in die Welt spiegelt, wenn sich die weltlichen Herrscher im Zirkus an Hiobs Leiden ergötzen und von ihm ein Bekenntnis zum neuen Glauben einfordern. Gleichzeitig verweigert er sich jeder identifizierenden Vereinnahmung des Titelhelden. Der Verzicht auf ein pathetisches Ende widersetzt sich religiösen oder nationalsinnstiftenden Ansinnen. Levin aktualisiert Elemente biblischen Erzählens, um deren Bedeutungslosigkeit in einer Welt ohne Gott vor Augen zu führen. Die einzige Hoffnung hält bei ihm das Theater bereit, weil es Mitleid kennt, auch wenn es dies nicht mehr sinnstiftend einzusetzen weiß. Levins Umgang mit Formfragen hat noch eine weitere Dimension. Wie dargelegt, ist das Drama in acht ‚Kapitel‘ eingeteilt und weitgehend vom Konflikt zwischen den Figuren befreit, wie die Enteignung des Körpers deutlich macht. The Torments of Job scheint sich damit in Lehmanns Konzept des Postdramatischen Theaters einzupassen. Dem widerspricht allerdings, dass es gar nicht so postdramatisch ist, wie es zunächst scheint. Levins Hiob-Stück ist, wie gezeigt, konventionell dreigeteilt – wie viele andere seiner Theatertexte auch.192 Die Einteilung in Kapitel verdeckt das. Zunächst erfolgt die Exposition und der Beginn

192 Vgl. Matthias Naumann: Dramaturgie der Drohung. Das Theater des israelischen Dramatikers und Regisseurs Hanoch Levin. Marburg 2006, S. 71-73.

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der Leiden. Dann findet mit dem von den drei Freunden ausgelösten Erweckungserlebnis ein Ereignis statt, das eine Erlösung von den Leiden verspricht. Darauf folgt mit dem Auftritt des Offiziers die Peripetie. Das Drama steuert auf die Katastrophe zu, auf Folter und schließlich den Tod Hiobs. Wir haben es in The Torments of Job also nur mit einer Verabschiedung des Konflikts auf der interpersonalen Ebene zu tun, nicht aber auf struktureller. Zudem wird durch die ironische Darstellung der Konversion von Beginn des Kapitels 5 an inhaltlich signalisiert, dass an dieses Kapitel keine etablierten dramaturgischen Kategorien anzulegen sind. Levin setzt sich also nicht über die Konventionen hinweg, sondern integriert sie in sein Drama. Erst mit diesem Wissen im Hintergrund wird verständlich, wie Levin vorgeht. Er lehnt nicht einfach mit nihilistischem Grundgestus die etablierte Dramaturgie ab, sondern ergänzt an dramaturgisch entscheidender Stelle des Dramas Handlungsmomente. Analog verfährt er mit der biblischen Vorlage. Levins Metadramaturgie schreibt die Tradition der literarischen Hiob-Rezeption fort, indem sie sich kritisch dazu verhält.

5.

W IDERSTAND

GEGEN DIE

E PISIERUNG

Mit Blick auf Müllers Bildbeschreibung sind die Grenzen der Episierung aufgezeigt worden, mit Katers Zeit zu lieben, Zeit zu sterben die Möglichkeit, epische und dialogische Formen miteinander zu verbinden, und mit den Ausführungen zur dramatischen Selbstreflexivität wurde deutlich, wie sich die Episierung formal selbst thematisiert. Im Folgenden soll ergänzend untersucht werden, ob sich ähnliche Tendenzen auch in der Dramenübersetzung finden lassen. Dargelegt wird das anhand zweier Übersetzungen von Aischylos’ Die Perser, dem ältesten vollständig erhaltenen Drama überhaupt, das Anfang der 1970er Jahre schon totgesagt worden war: „An eine Neubelebung der Perser auf unseren Bühnen ist in absehbarerer Zeit wohl kaum zu denken.“193 Als Emil Staiger diesen Satz 1970 für das Nachwort der Reclam-Ausgabe der Perser schrieb, war Szondis Doktorvater längst vom Olymp der im weiteren Sinne westdeutschen Germanistik herabgestiegen, oder besser: herabgeholt worden. Bereits 1958 hatte Staiger Die Orestie für Reclam übersetzt. Zu diesem Zeitpunkt war er unangefochtener Ordinarius an der Zürcher Universität. Acht Jahre später löste er mit seiner Rede Literatur und Öffentlichkeit den Zürcher Li-

193 Emil Staiger: Nachwort, in: Aischylos: Die Perser. Sieben gegen Theben. Übers., Anm. u. Nachw. v. Emil Staiger. Stuttgart 1970, S. 95-102, hier S. 98.

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teraturstreit aus, der einen „jähen Einschnitt in Staigers Karriere“194 markierte und im selben Jahr geschah, in dem sich die westdeutsche Germanistik auf dem Münchener Germanistentag mit ihrer Verantwortung im selbsternannten Dritten Reich auseinanderzusetzen begann. Staigers Tätigkeit als Übersetzer von Die Perser dürfte eine Flucht in die Vergangenheit gewesen sein und ein Rückzug auf eines der zu dieser Zeit als unpolitisch geltenden Felder der Philologie, die Übersetzung. Dass diese Tätigkeit nicht unbedingt unpolitisch ist, zeigen Heiner Müllers zu Beginn der 90er Jahre und Durs Grünbeins Anfang des neuen Jahrtausends vorgelegte Übersetzungen der Perser. Staiger traut mit seiner resignativen Prognose, die „Neubelebung“ der Perser werde auf sich warten lassen, dem Text wenig zu. Er erklärt ihn für tot. Die Übersetzung selbst scheint für die „Neubelebung“ nicht hinreichend zu sein. Dagegen sprechen laut Staiger die Zeitumstände: Der nationale Gehalt, das Pathos, das Widerspiel von Jammer auf der Szene und Jubel unter den Hörern, das wir nicht zu teilen vermögen: dies alles scheint eine Wirkung auf heutige breite Massen auszuschließen. Wer aber bereit ist, aus den Grenzen der Gegenwart herauszutreten und sich auf halb vergessene Möglichkeiten von Dichtung einzulassen, wird in den Persern des Aischylos eine Tragödie höchsten Ranges erkennen.

195

Staiger wertet die Gegenwart als ‚begrenzt‘ ab und verortet die Bedeutung des Dramas geschichtlich. Ein historisches Ereignis ‚von Rang‘ wie die Niederlage der Perser gegen den attischen Seebund sieht er nicht am Horizont heraufziehen, ebenso offenbart sich ihm kein dramaturgisches Potential in den Persern für die Gegenwart. Seine Übersetzung hat ausschließlich museale Funktion. Heiner Müller hätte dem Zürcher Philologen geraten, gelassen auf die Geschichte zu vertrauen; er schreibe „einsame Texte, die auf Geschichte warten“,196 hat Müller in der Verabschiedung des Lehrstücks festgestellt. Im Gegensatz zu Staigers Ausführung mutet Müllers Äußerung hoffnungsvoller an, selbst wenn die Gegenwart entmutigend ist. Dass Müller selbst eine „Neubelebung“ der Perser versuchen sollte, zeichnete sich Anfang der 70er Jahre nicht ab. Müller hatte zu Beginn des Jahrzehnts auf der Grundlage der Übersetzung des Dresdener Altphilologen Peter Witzmann eine Bearbeitung der Orestie angefertigt. Doch hat dieser Text seine Geschichte bisher kaum gefunden. Er wurde erst nach Müllers

194 Wögerbauer: Emil Staiger, S. 247. 195 Staiger: Nachwort, S. 98. 196 Müller: Verabschiedung des Lehrstücks, S. 187.

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Tod im Rahmen der Archivierung seines Werks erschlossen und in der Werkausgabe publiziert.197 Müllers Übertragung von Die Perser hat im Unterschied zu der der Orestie ihren Weg auf die Bühne gefunden. Der Text, der ebenfalls auf einer von Witzmann erstellten Interlinearversion basiert, wurde erstmals im Frühjahr 1991 publiziert und von Christof Nel an der Freien Volksbühne Berlin inszeniert.198 Anders als man vermuten könnte, stellte Müller aber keinerlei Bezug zu den Zeitumständen her. In einem Interview verweigerte er sich sogar einer historischen Konkretisierung, weil sich der Text bzw. die Übersetzung einer solchen widersetze: Wenn man wirklich mal so reinguckt von weitem in diesen Text von Witzmann, das ist so, als ob das eine Gesteinsschicht ist. Früher konnte man da richtig drübergehen, früher hatte die einen Zusammenhang. Jetzt kannst du nur Stücke rausbrechen, und das finde ich das Schöne an der Art zu übersetzen. Das ist keine Fragmentierung, bloß, du kannst den ganzen Boden nicht auf einmal heben.

199

Ein Übersetzungsverfahren wie das Staigers kennzeichnet Müller als eines des 19. Jahrhunderts und verwirft es, denn das, was an den alten Übersetzungen so nervend ist, ist ja gerade der Versuch, eine Totalität, einen ganzen Text herzustellen. […] Und das 19. Jahrhundert ist das Schlimmste na-

197 Heiner Müller: Aischylos. Orestie. Nach einer Übertragung von Peter Witzmann, in: ders.: Die Stücke 5. Die Übersetzungen. Werke 7. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2004, S. 801-818. 198 Heiner Müller: Die Perser von Aischylos. Nach einer Übertragung von Peter Witzmann, in: ders.: Die Stücke 5. Die Übersetzungen. Werke 7. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2004, S. 683-721; vgl. dazu auch Matthias Dreyer: Zäsur der Tragödie. Dimiter Gottscheffs Perser und die Historizität im Theater der Gegenwart, in: Die Aufführung. Diskurs – Macht – Analyse. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Adam Czirak, Torsten Jost, Frank Richarz, Nina Tecklenburg. München 2012, S. 291-313; Kai Bremer: Medialität der Interlinearität. Überlegungen zu Heiner Müllers Übertragung von Aischylos’ Die Perser, in: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Hg. v. Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth, Madleen Podewski. Berlin, Boston 2014, S. 135-145. 199 Christoph Rüter: Aischylos übersetzen. Ein Gespräch mit Heiner Müller, in: Aischylos: Die Perser. Übertragung Peter Witzmann. Bearb. Heiner Müller. Hg. v. Christoph Rüter. Berlin 1991, S. 68-85, hier S. 68.

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türlich, wo alles ein Ganzes sein sollte. Das klingt ungeheuer geschlossen und einheitlich. Das ist so, als ob dem Äschylos eine preußische Uniform angezogen worden ist und da 200

steht er nun.

Müller favorisiert die Interlinearübersetzung, weil sie das Statische, das ‚Ausstaffierende‘ ausschließt und sich diesem verweigert. Staigers Übersetzungsarbeit versucht, ‚den‘ Sinn des Textes durch eine der Vorlage nahe Übersetzung zu treffen. Dementsprechend wirkt seine Übersetzung harmonisch-klassizistisch: Nachdem der Bote den zurückgebliebenen Persern von der Niederlage der Flotte berichtet hat, tritt der Geist des Dareios, der Vater des geschlagenen Königs Xerxes, auf. Staiger übersetzt: Gefährten meiner Jugend, unter Treuen treu, Ihr greisen Perser! Welch Mühsal müht die Stadt? Sie stöhnt. Geschlagen wird und aufgewühlt der Grund. Und meine Gattin sehe ich mit Bangen nah Dem Grab, so freundlich ich die Spenden auch empfing. Auch ihr steht dicht bei meinem Grab und weheklagt, Und mit Gewimmer, das die Abgeschiedenen weckt, Ruft ihr mich zum Erbarmen.

201

Müllers und Witzmanns Übersetzung dieser Szene wirkt dagegen kleinteiliger und hermetischer als die Staigers: O Treue der Treuen und Gleichaltrige ihr meiner Jugend Perser, greise, welches Leid leidet die Stadt? Sie stöhnt, ist geschlagen, und zerkratzt den Boden. Sehend die Gattin, meine, am Grab erschrecke ich, die Opfergüsse aber freundlich Habe ich aufgenommen. Ihr aber klagt nahe stehend am Grab Und mit seelenleitenden Klagen laut schreiend Jammernd ruft ihr mich.

202

200 Ebd., S. 68f. 201 Aischylos: Die Perser. Sieben gegen Theben. Übers., Anm. u. Nachw. v. Emil Staiger. Stuttgart 1970, S. 30, V. 681-688. 202 Müller: Die Perser von Aischylos, S. 707.

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Die Vorlage von Witzmann verändert Müller in dieser Szene nur an wenigen Stellen, wie das im Archiv der Künste aufbewahrte Manuskript zeigt.203 Zunächst benennen Müller/Witzmann die Sprecherangabe anders und machen aus dem „Geist des Dareios“ (bei Staiger) den „Schatten des Dareios“. Das ist eine Entscheidung, die an sich fragwürdig ist. Denn im Gegensatz zu den Schatten Agamemnons und Klytaimnestras in der Orestie tritt in dieser Szene eindeutig eine Figur auf.204 Die Entscheidung, trotzdem von Schatten zu sprechen, erklärt sich aus einem anderen Grund. Das Wort „Schatten“ erinnert an das griechische Todesverständnis und lehnt den potentiell christlich zu verstehenden Begriff ‚Geist‘ ab. Das „ihr“ im ersten Vers fügt Müller hinzu, wodurch die direkte Anbindung des Genitiv-Attributs „meiner Jugend“ an „Gleichaltrige“ unterbrochen wird. Dadurch betont Müller einerseits den Appellcharakter des ersten Verses und befördert gleichzeitig das Missverstehen, weil der Bezug zwischen „Gleichaltrige“ und „meiner Jugend“ unterbrochen wird. Ähnliches gilt für die Einfügung eines Kommas nach der Anrufung „Perser“ am Beginn des zweiten Verses. Dass die durch die Parenthese „, greise,“ attributiert werden, wird in Müllers Bearbeitung lediglich durch die Kleinschreibung im Text deutlich. Er provoziert durch das Komma eine Sprechpause; gesprochen oder gar inszeniert, kann aus der Nachstellung des Adjektivs eine zweite, nominalisierende Anrufung (‚Greise‘!) werden. Darauf folgt die Frage nach dem Leid der Stadt. Altertümelnd, aber nicht spezifisch ‚antik‘ wirkende Flexionsformen streicht Müller. So wird am Ende von Vers 4 und Vers 6 aus „am Grabe“ „am Grab“. Außerdem bricht Müller Vers 5 hinter „freundlich“ um und zieht „habe ich aufgenommen“ in Vers 6. Das dadurch erfolgte Enjambement befördert erneut eine Sprechweise, die den Sinnzusammenhängen zuwider laufen kann. In Witzmanns Übersetzung wie in der Vorlage wird die Opposition von „ich“ und „Ihr“ durch den Zeilensprung hervorgehoben. Müller führt diese schon rein schriftbildlich zusammen. Wird das Versende betont, nähern sich „ich“ und „Ihr“ weiter an.205 Im Vergleich zu Staigers Übersetzung arbeiten Müller/Witzmann weit häufiger mit Partizipien. Sie machen die Übersetzung sperrig. Bei Staiger wird das Ziel der Klagen der greisen Perser benannt („Ruft ihr mich zum Erbarmen“). Außerdem wird die Art der Klage charakterisiert, eben durch ein Partizip: „Jammernd ruft ihr mich.“ Dieses Beispiel belegt gleichzeitig, dass Müllers Kritik an konventionellen Übersetzungsverfahren nicht unbegründet ist. Staiger in-

203 Vgl. Bremer: Medialität der Interlinearität. 204 P. Groeneboom: Aischylos’ Perser. Zweiter Teil. Kommentar. Göttingen 1960, S. 145f. 205 Vgl. Bremer: Medialität der Interlinearität.

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terpretiert durch die Hinzufügung den Text, während Müller eine Übersetzung wählt, die sich der Interpretation widersetzt und dadurch die Fremdheit/ Andersartigkeit des Ursprungstextes betont und zugleich Spielräume ermöglicht. Gleichzeitig entspricht Müllers Übersetzung der gängigen philologischen Auslegungstradition der Stelle, was für sich freilich kein bemerkenswertes Ergebnis ist, eben weil die Grundlage Witzmanns Interlinearversion ist. Der Aischylos-Kommentator Groeneboom stellt fest, dass mit der Eröffnungsrede die Getreuen hervorgehoben werden. Die Wendung „O Treue der Treuen“ sei dahingehend zu verstehen, dass sich Dareios Schatten hier an die „am meisten Getreuen“206 wende. Auch wenn Staigers Übersetzung „unter Treuen treu“ Ähnliches meint, ergibt sich doch ein deutlicher Bedeutungsunterschied. Staiger hat den Vers zum Alexandriner verändert und verleiht ihm damit ein Versmaß, das gewissermaßen als ‚alt‘ markiert ist. Eine spezifisch gräzisierende Nachahmung schafft er aber gerade nicht. Bei Müller/Witzmann dagegen wird durch die Wiedergabe des Anrufungslauts und sodann die Frontstellung des Treueappells im Vers das Treue-Moment hervorgehoben, während es bei Staiger lediglich Apposition zu den „Gefährten meiner Jugend“ ist. Gleichzeitig entspricht die Wendung „Treue der Treuen“ dem schon festgestellten Versuch Müllers, das Verstehen des Textes zu erschweren: Da „Treue“ nicht nur für ‚die‘ Getreuen stehen kann, wie es Groeneboom fordert, sondern zugleich ‚die‘ Treue meinen kann, wird eingangs des Auftritts von Dareios Schatten das Verstehen erneut erschwert. Denn der Bezug auf die Kampfgefährten seit der Jugend wird nicht stabilisiert, sondern verunsichert, indem der Auftritt von Dareios’ Schatten wie eine pathetische Treue-Selbstrede und nicht wie ein Appell an die Getreuen beginnt.207 Nun scheint hinter Müllers Wortwahl „Schatten“ statt „Geist“, um die Dareios-Figur zu kennzeichnen, zunächst ein philologisch anmutendes Vermittlungsinteresse zu stehen. Dafür spricht die diskursive Einbettung des Dramas, die Müller im Zusammenhang der Inszenierung 1991 vornahm. Immerhin hat er Die Perser auf den von George Bush geführten Golfkrieg bezogen: „Das ist das Faszinierende an solch alten Texten: wie wenig sich geändert hat. Du kannst die-

206 Groeneboom: Aischylos’ Perser, S. 146. 207 Man könnte annehmen, dass Müller, der ein hervorragender Benjamin-Kenner war, hier dessen metaphysischer Wertschätzung der Interlinearübersetzung folgt; dass dem nicht so ist, wurde an anderer Stelle ausgeführt; vgl. Bremer: Medialität der Interlinearität; zu Müllers Benjamin-Rezeption vgl. Maier-Schaeffer: Utopie und Fragment.

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sen Text auch lesen wie einen Kommentar zum Golfkrieg […].“208 Das heißt aber nicht, dass es dem Staigers ähnlich ist. Dessen Übersetzung kann mit Klaus Reichert „Assimilation“ genannt werden. Dem Zürcher Ordinarius geht es primär um die „Erhaltung eines schon bestehenden Organismus“‚209 der in eine andere Kultur übertragen und dieser einverleibt wird. Die Technik der ‚assimilierenden Übersetzung‘ respektiert also die Eigenwertigkeit des Fremden, zielt aber auf die eigene Kultur. Staiger kann sich dabei auf prominente Vorgänger berufen, etwa auf Herder und den Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß. Müller beschließt das Interview mit Christoph Rüter mit der Feststellung: „Es ist eher ein Unglück, daß es [das Drama] jetzt durch den Golfkrieg so eine Aktualität bekommt.“210 Aischylos’ Tragödie ist das frühste literarische Zeugnis für die Beschäftigung des ‚Abendlandes‘ mit dem Orient und zwar im Sinne einer kulturellen Einverleibung, die mit Reichert „Appropriation“ genannt werden kann und der es zuvörderst um die Bereicherung der eigenen Kultur geht und nicht um das Verstehen der fremden. Die Appropriation kennzeichnet ihrerseits das Wesen des Orientalismus: „as early as Aeschylus’s play The Persians the Orient is transformed from a very far distant and often threatening Otherness into figures that are relatively familiar“, wie Edward Said in seiner epochalen, wenn auch nicht unproblematischen Studie festgestellt hat.211 Auch wenn Said primär den Orientalismus seit Ende des 18. Jahrhunderts im Blick hat – kulturelle Appropriation ist ein deutlich älteres Phänomen. Reichert geht davon aus, dass seit Luthers Bibelübersetzung diese ‚einverleibende‘ Übersetzungspraxis dominiert. Müller nun bezieht sich im Interview auf Luther. Er sieht im Reformator zwar den „‚Begründer‘ unserer Literatursprache“.212 Doch ist dieses Votum anders als bei Benjamin, der Luther an den Beginn einer prominenten Reihe von Übersetzern wie Voß, Hölderlin und George stellt, kaum anerkennend gemeint. Müller beschreibt die Entwicklung hin zur Literatursprache als einen Verlust von kultureller Vielfalt: „Das ganze Mittelalter war im Sprachlichen viel nuancierter, diese ganze Kultur, die von Burgund ausging, die Troubadours etc. Die Dialekte als Nährboden für Sprache sind mit der Einführung des Hochdeutschen – einer Amtssprache, einer verordneten Sprache – ab-

208 Rüter: Aischylos übersetzen, S. 84. 209 Klaus Reichert: Zur Übersetzbarkeit von Kulturen – Appropriation, Assimilation oder ein Drittes?, in: Klaus Reichert: Die unendliche Aufgabe. Zum Übersetzen. München 2003, S. 25-41, hier S. 25. 210 Rüter: Aischylos übersetzen, S. 85. 211 Edward W. Said: Orientalism. New York 1979, S. 21. 212 Rüter: Aischylos übersetzen, S. 70.

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geschnitten worden.“213 Müller lehnt einen ordnenden und standardisierenden Umgang mit Sprache und erst recht mit Literatur ab, weil dieser die Rezeption zu sehr bahnt und vereindeutigt. Er weigert sich, ‚sinnstiftend‘ zu übersetzen: Sinn „darf nicht verkauft, verpackt oder angeboten werden. Den müssen die Leute finden oder wenigstens suchen. Suchen ist sogar wichtiger als Finden.“214 In der Betonung der Sinn-Suche als offener Prozess berühren sich Müllers und Benjamins Denken, das bei Müller in die Ablehnung der Rezeptionssteuerung, die er aber punktuell nicht vermeiden kann, wie das Schatten/Geist-Beispiel zeigt, einmündet. Sie erklärt, warum er den Golfkrieg ein „Unglück“ nennt. Ein solch dominantes Ereignis verhindere die suchende Rezeption und gleiche den Versuchen des Übersetzers, das Original durch vereindeutigende Übersetzungen verständlich zu machen. Der die historische Analogie betonende, aktualisierende Blick kolonialisiere und versperre gleichzeitig den Blick auf das Prinzipielle. Müllers Hinweis auf den Golfkrieg ergibt sich aus der Analogie der Situation: Dem Irak und dem Persien unter Xerxes ist gemeinsam, dass beide orientalisch-fremde Länder sind. Beide werden von einem Despoten regiert, der den Krieg überlebt, während seine Truppen vernichtend von einem westlichen Staatenbündnis geschlagen werden. Die westliche Welt schaut auf den Irak nach dem Golfkrieg wie ehedem Aischylos und seine attischen Mitbürger auf Persien nach dem Perserkrieg. Im Zentrum beider Blicke steht jeweils nicht das Volk, sondern der geschlagene, aber nicht getötete Herrscher. Durch die historische Konstellation entsteht unvermittelt eine Referenz. Müller hingegen möchte an sich eine referenzfreie Übersetzung vorlegen, um so Konzentration zu gewährleisten und neben der Assimilation und der Appropriation einen dritten Weg der Übersetzung zu finden, der im Unterschied zu diesen beiden nicht auf Einverleibung zielt, sondern die Hoffnung hegt, das Fremde in die eigene Gegenwart zu überführen. Müllers Übersetzung wurde in der Folgezeit punktuell rezipiert und wird bis heute in der Forschung oftmals übersehen. Eine wirkliche „Neubelebung“ in Deutschland haben Aischylos’ Perser erst durch Durs Grünbeins Übersetzung der Tragödie erfahren, die knapp ein Jahrzehnt nach der Müllers publiziert wurde. Von Staigers konservierenden Antikisierungen wie von Müllers sinnzerstückelnder Interlinearität ist Grünbein gleichermaßen entfernt. Er macht den Text eingängig und verständlich:

213 Ebd., S. 71. 214 Ebd., S. 72.

208 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Treue der Treuesten ihr, Gefährten aus früher Jugend, Persische Greise, an welcher Krankheit krankt sie, die Stadt? Die Erde stöhnt. Vom Stampfen aufgewühlt ist der Boden. Die Gattin sehe ich, am Grabrand, und es weckt mich Alarm, Auch wenn sie mir recht ist, die Opfergabe, dankbar empfangen. Ihr aber steht dort am Grab, klagend. Mit lautem Geschrei 215

Weckt ihr die Geister der Toten auf, ruft und beschwört mich.

Dass Grünbeins Übersetzung eine Position zwischen Müller/Witzmann und Staiger einnimmt, zeigt schon der erste Auftrittsvers. Grünbein streicht den Ausruf und behält die Frontstellung der Treue. Seine Übersetzung gleicht hier deutlich Müller/Witzmann und entspricht den philologischen Forderungen Groenebooms. In der zweiten Vershälfte konkretisiert er das Verhältnis zwischen Dareios und den Angesprochenen. Grünbein hat die Perser im Gegensatz zu Müller nicht auf das Verhältnis von Orient und Abendland bezogen, sondern auf die jüngere Geschichte. In seinem Nachwort zu den Persern aktualisiert er den Fall Xerxes, so der Titel des Nachworts, zunächst durch die Gestalt des Königs: Der sei „Diktator, Führer, Tyrann, Generalsekretär, Despot“.216 Grünbein nähert sich dem historischen Vorbild nicht wie Müller geographisch, sondern strukturell, indem er Parallelen zwischen dem Fall des persischen Reichs und dem Zusammenbruch des Stalinismus zieht. Während Diktatoren, Führer, Tyrannen und Despoten die Menschheit schon in der Antike drangsalierten, ist der Generalsekretär als zentraler Machthaber eine Erfindung des Sozialismus. Außerdem betont Grünbein die Ost-West-Konstellation im Perserkrieg und stellt die attische Demokratie dem persischen Despotismus gegenüber: „Jahrhundertelang wird es keinen ähnlich großen Raubzug aus dem Osten gegen Europa mehr geben. Die Perser des Aischylos beschreiben demnach so etwas wie eine Wende in der antiken Geschichte: das Erstarken der Griechenvölker im Augenblick ihrer größten Bedrohung.“217 Auch die Auswirkungen des Krieges beschreibt Grünbein mit den Kategorien der Gegenwart: Der „Preis [des Krieges ist] die ökologische Katastrophe: zum Bau der Flotte wurde der halbe Peloponnes abgeholzt, ein Kahlschlag von dem die Region sich nie wieder erholte […].“218

215 Aischylos: Die Perser. Wiedergegeben v. Durs Grünbein. Frankfurt/M. 2000, S. 32. 216 Durs Grünbein: Der Fall Xerxes, in: Aischylos: Die Perser. Wiedergegeben v. Durs Grünbein. Frankfurt/M. 2000, S. 55-59, hier S. 55. 217 Ebd., S. 58. 218 Ebd.

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Anders als Staiger und Müller verzichtet Grünbein auf die wörtliche Wiedergabe der Schreie und verbannt sie in den Nebentext. Als der geschlagene König Xerxes die Bühne betritt, heißt es: „Durchdringender Schrei“.219 Müller und Staiger dagegen realisieren den Ausruf: „Io“ bzw. „Ió!“ Grünbein gibt den Klagerufen des Chors Bedeutung: „Weh uns! Wehe!“220 Auch hier behalten Müller und Staiger den Klagelaut bei, „Oioioi“ (Müller), „Oioí!“ (Staiger). Sogar die einzelnen Chorstrophen weist Grünbein, anders als Staiger und Müller, aus. Er strukturiert damit die langen Chorpassagen und fördert die Orientierung im Text. Die Sätze sind bei Grünbein kurz und prägnant. Anders als Müller verwendet er nur selten Partizipien. Grünbeins Übersetzungstechnik ist damit stärker als Müllers und Staigers am zeitgenössischen Hochdeutsch orientiert. Er macht die Tragödie verständlich und gegenwärtig, was er durch den aktualisierenden Kommentar Der Fall Xerxes unterstützt. Grünbein wird gerne als poeta doctus bezeichnet.221 Neben seinen Gedichten sind es insbesondere seine Dramenübersetzungen, die dies befördert haben. Neben den Persern hat er Aischylos’ Sieben gegen Theben und Senecas Thyestes übersetzt. Sein Zugriff auf das antike Drama ist, wie der Vergleich mit Staiger zeigt, nicht konservierend. Er nennt seine Übersetzungsarbeit „Wiedergabe“: Nach langen Überlegungen kam mir ein englisches Wort zu Hilfe: ‚rendering‘. Das übersetzt man wohl am besten mit Wiedergabe. Dahinter steckt ein sehr interessantes Wortspiel, denn der Übersetzer wird zunächst zum Echo, einem möglichst getreuen Echo, und 222

er zieht sich auch zurück, denn er erhebt keinen Anspruch auf absolute Originalität.

Dieser Hinweis sagt viel über das Eigenverständnis des Autors Grünbein. Dass der Übersetzung in aller Regel der „Anspruch auf absolute Originalität“ abgeht, dürfte den meisten Übersetzern selbstverständlich sein. Auch der metaphorische Duktus ist deutlich der des Lyrikers und weniger der des Übersetzers. Die Metapher vom Echo evoziert nicht nur die Nymphe, sie kalkuliert implizit den Verlust an Klang und Bedeutung mit ein, auch wenn Grünbein erklärt, dass er ‚möglichst

219 Aischylos: Die Perser. Wiedergegeben v. Grünbein, S. 41. 220 Ebd., S. 43 u.ö. 221 Vgl. Sylvia Heudecker: Durs Grünbein in der Kritik, in: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein. Hg. v. Kai Bremer, Fabian Lampart, Jörg Wesche. Freiburg/Br. 2007, S. 37-56. 222 Durs Grünbein: Im Gespräch mit Thomas Irmer, in: Seneca: Thyestes. Dt. v. Durs Grünbein. Mit Materialien zur Übers. u. zu Leben u. Werk Senecas. Hg. v. Bernd Seidensticker. Frankfurt/M. 2002, S. 111-114, hier S. 113.

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getreu‘ zu arbeiten versuche. Seine Dramenübersetzungen kennzeichnet daher nicht an erster Stelle seine Liebe zur Antike, sondern sein Blick auf das zeitgenössische Publikum und sein Verhältnis zu diesem. Grünbein favorisiert ein Übersetzungsverfahren, das dem Müllers entgegensteht. Er wählt eines, das in der gegenwärtigen Übersetzungstheorie nicht besonders geschätzt wird. Im Sinne Klaus Reicherts bewegt sich Grünbein in seinem Bemühen um Verständlichkeit und durch den Bezug auf die Gegenwart und die eigene Kultur an der Schwelle zur Appropriation. Der geht es kaum mehr um das Original, sondern um „Erweiterung des eigenen Besitzes durch Enteignung des Fremden“.223 Der Eindruck aber, dass Grünbeins Übersetzung der Müllers widerspricht, differenziert sich aus, wenn man die theoretischen Voraussetzungen beider betrachtet. Denn Grünbeins Überlegungen knüpfen an Benjamin an, allerdings nicht in theoretischer, sondern in metaphorischer Hinsicht. Dieser verwendet in Die Aufgabe des Übersetzers ebenfalls die Metapher vom Echo und umschreibt mit dieser den Unterschied zwischen Original und Übersetzung, die in jenes hineinrufe und damit dem Original einen „Widerhall“ in der Sprache der Übersetzung gebe: Sie [die eigene Form der Übersetzung] besteht darin, diejenige Intention auf die Sprache, in die übersetzt wird, zu finden, von der aus ihr das Echo des Originals erweckt wird. Hierin liegt ein vom Dichtwerk durchaus unterscheidender Zug der Übersetzung, weil dessen Intention niemals auf die Sprache als solche, ihre Totalität, geht, sondern allein unmittelbar auf bestimmte sprachliche Gehaltszusammenhänge.

224

Grünbein lehnt sich mit der Metapher vom Echo indirekt an Benjamins Unterscheidung zwischen ‚naiver und erster‘ einerseits und ‚abgeleiteter und letzter‘ Intention andererseits an. Weiter aber geht Grünbein nicht. Ihm liegt daran, den Sinn des Textes zu schätzen und zu schützen. Damit markiert er eine Gegenposition gegen Müllers Übersetzung. Das darf als bewusste Absage an die Spielräume durch Miss- und Nichtverstehen ermöglichende Übersetzungstechnik Müllers begriffen werden. Schließlich kennt Grünbein Müllers Arbeiten hervorragend. Im Hinblick auf den Umgang mit der Episierung und dem entschiedenen Einsatz für den Spielraum zeigt Müllers Übersetzung das ganze Dilemma auf,

223 Reichert: Zur Übersetzbarkeit von Kulturen, S. 25. 224 Walter Benjamin: Charles Baudelaire. Tableaux parisiens. Deutsche Übertragung mit einem Vorwort über die Aufgabe des Übersetzers, in: ders.: Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. Gesammelte Schriften IV/1. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt/M. 1972, S. 7-63, hier S. 16.

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das sich aus der Abkehr vom Dialog, aus dem Zweifel an ihm und allen Widerständen gegen das Verstehen ergibt. Wie wir gesehen haben, zielen Müllers Perser ähnlich wie seine anderen dramatischen Arbeiten auf eine Intensivierung des Spielraums, indem sie die Regie vergleichsweise wenig zu reglementieren suchen und verschiedene Deutungsmöglichkeiten anbieten. Für die Regie kann das zwar reizvoll sein, es muss es aber nicht. Denn sie kann sich ebenso ein weniger Spielraum ermöglichendes Drama nehmen und sich damit überzeugend auseinander setzen. Das eigentliche Problem, das sich aus Müllers Übersetzung ergibt, ist ein anderes. Wie seine Äußerungen im Umkreis der Aufführung seiner Übersetzung zeigen, verfolgte er damit kein direktes politisches Anliegen. Die sich zufällig ergebende Bezugnahme auf den Golfkrieg wurde von ihm sogar, wie wir gesehen haben, als „Unglück“ bezeichnet. Im Fall der Perser-Übersetzungen ergibt sich also das vordergründige Paradox, dass der vermeintlich politische Autor Müller einen Text übersetzt, dessen konkrete politische Vereindeutigung er ablehnt. Das sagt er nicht nur, dem leistet er mit seinem Übersetzungsverfahren formal Vorschub. Der im Gegensatz zu Müller mit politischen Aussagen zurückhaltende Grünbein übersetzt Aischylos’ Tragödie derart, dass sie politisch vereindeutigt werden kann. Er befördert dies durch eigene Äußerungen über das Drama. Für unseren Zusammenhang ist zudem die Beobachtung wichtig, dass Müllers Übertragung im Unterschied zu der Grünbeins bis heute kaum gespielt wird. Ein Beispiel: Stefan Puchers Inszenierung von Grünbeins Übersetzung im Oktober 2008 in Zürich führte zweierlei vor. Zum einen trifft dessen Übersetzung zumindest in der Kritik auch mit zeitlichem Abstand zur Erstaufführung auf Zustimmung und zum anderen scheint sie ihre politische Aktualität nicht eingebüßt zu haben.225 Wie lässt sich das erklären? Wenn man sich die erwähnten Stücke Jelineks oder die Dramen Katers anschaut, wird deutlich, dass das Bemühen um radikal episierte Texte weiterhin anhält. Gleichzeitig zeigt sich, dass diese Entwicklung keine Einbahnstraße ist. Selbstredend sind in den 70er und 80er Jahren nicht nur Dramen entstanden, die auf Episierung setzten. Aber es hat in dieser Zeit eine künstlerische Affinität zwischen auf Episierung setzender Dramatik und experimentierfreudiger Regie gegeben. Müller wie Jelinek zu inszenieren, bedeutete nicht nur dramatische Avantgarde auf die Bühne zu bringen. An ihnen erwies sich die Qualität des Regisseurs. Das Beispiel der Perser-Übersetzung kündigt an, dass in den 90er Jah-

225 Vgl. Andreas Klaeui: Einblick in den Brustkorb, in: http://www.nachtkritik.de/in dex.php?option=com_content&task=view&id=1834 [zuletzt aufgerufen am 26.10. 2012].

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ren diese Allianz aufbricht. Die rasche Akzeptanz der Grünbein-Übersetzung gerade im Vergleich zu der Müllers führt das vor. Dieser Entwicklung war und ist eine inhärente Dialektik eigen, die zu einer Dynamik führt, die ein Wiedererstarken dialogischer und handlungsorientierter Formen ermöglicht, wie Grünbeins Übersetzung andeutet und wie wir im Folgenden sehen werden. Die radikale Episierung generiert also eine Kippfigur, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Prosablöcke, Monologisierung und Spielräume ersetzt werden können durch Dialog, Handlung und Figuren, wenn nicht gar Charaktere. Das Drama ist zwar nicht mehr notwendige Voraussetzung für das Theater. Aber wenn es als Voraussetzung gewählt wird, entdeckt es Formelemente wieder, die in den vorhergehenden Jahrzehnten den ästhetischen Diskurs nicht dominiert haben. Die Ironie der Formgeschichte, die sich hier beobachten lässt, liegt also darin, dass gerade die Formangebote, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bis zu dessen Ende als ästhetisch-innovativ galten, von Illusionsdramatik und Publikumsorientierung abgelöst werden können, wie Grünbeins Perser-Übertragung zeigt. Die Rückkehr des Dialogs und des Sinns auf die Bühne der späten 90er und frühen 2000er Jahre, die wir sogleich noch weiter darlegen werden, kann als ein Beharren auf dem Dramatischen im Sinne Szondis gedeutet werden – und als Widerstand gegen formale Elemente, in denen das Politische vielleicht in der Theorie, aber eben nicht konkret in der dramatischen Aussage präsent ist. Die Rückkehr des Dialogs und des Sinns sowie zum Teil der Illusion ist ein Plädoyer für die Präsenz des Demokratischen auf dem Theater – auch wenn das paradox anmuten mag. Nun mag diese These, da sie bisher nur mit Hilfe des Vergleichs zweier Übersetzungen entwickelt wurde, auf tönernen Füßen stehen. Wir werden sie deswegen im Folgenden zu stützen versuchen.

6.

D AS A UFBEGEHREN DER I LLUSION : W ERTSCHÄTZUNG DES D IALOGS UND U MGANG MIT DEM S PIELRAUM

DER

Unter den weißen Wolken fällt der Schnee. Man sieht weder die weißen Wolken noch den Schnee. Weder die Kälte noch den weißen Glanz des Bodens. Ein einzelner Mann gleitet auf Skiern dahin. Der Schnee fällt. Fällt, bis der Mann verschwindet und seine Undurchsichtigkeit wieder findet. Mein Freund Serge, der seit langem mein Freund ist, hat ein Bild gekauft.

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Es ist ein Gemälde von etwa ein Meter sechzig auf ein Meter zwanzig. Es stellt einen 226

Mann dar, der einen Raum durchquert und dann verschwindet.

Marc, dem der hier zitierte Schlussmonolog im weltweit wohl erfolgreichsten Drama der 1990er Jahre, Yasmina Rezas „KUNST“, vorbehalten ist, kämpft von Beginn an damit, dass sich sein Freund Serge ein monochromes Gemälde gekauft hat – ein Bild, das ‚nichts‘ bzw. ausschließlich ‚weiß‘ zeigt. Letztlich dreht sich in der Komödie alles um die Frage, ob diese „Scheiße“227 (so Marc) Kunst und damit wertvoll ist oder nicht und ob die Freundschaft die gegensätzlichen Beurteilungen des Bildes erträgt. Am Ende des Stücks ist Marc nicht überzeugt, aber um der Freundschaft willen toleriert er den Kunstkauf.228 Marc hat ein Weltbild, in dem ein Bild nur ein Bild ist, wenn es etwas darstellt, die Welt nachahmt. Deswegen erfindet er zuletzt die Geschichte vom Skifahrer, der verschwindet. Die Fiktion einer Darstellung ermöglicht die Rettung der Freundschaft. Damit ist zugleich die Brüchigkeit der Freundschaft angedeutet. Denn Marc hat verstanden, dass der Künstler des monochromen Gemäldes gerade nichts darstellen will. Zur Rettung der Freundschaft setzt Marc der Intention des Produzenten seine eigene Fiktion und damit Deutung entgegen. Marc nimmt sich die Freiheit im Umgang mit der Kunst, die er verabscheut und gegen die er polemisiert. Deswegen ist der Schlussmonolog von Rezas Komödie nicht etwa ein verträumt-romantischer, vielleicht gar kitschiger Versuch, den Konflikt einzuebnen. Vielmehr deutet das Ende Zweifel daran an, dass die Freundschaftsbekundungen auf Dauer tragfähig sind.229 Doch ironisiert Marcs Schlussmonolog nicht nur die Bühnenhandlung. Zugleich kann sein Umgang mit dem Bild als Allegorie für das Verhältnis von Theatertext und dessen Verräumlichung durch das Regietheater gelesen werden: Marc nimmt das Bild als Anregung, akzeptiert aber nicht dessen zugrunde liegendes künstlerisches Anliegen und erfindet stattdessen eine Handlung und ei-

226 Yasmina Reza: „KUNST“, in: dies.: Gesammelte Stücke. Hg. v. Eugen Helmlé. Lengwil/Bodensee 2000, S. 155-215, hier S. 214f. 227 Ebd., S. 158. 228 Vgl. Andrea Grewe, Margarete Zimmermann: Die Kunst der Männerfreundschaft. Yasmina Rezas Theaterstück ‚Art‘, in: Theater-Proben. Romanistische Studien zu Drama und Theater. Jürgen Grimm zum 65. Geburtstag. Hg. v. Andrea Grewe, Maren Zimmermann. Münster 2001, S. 115-156. 229 Vgl. Andrea Grewe: L’art de la comédie à l’âge du postdramatique – Le théâtre de Yasmina Reza, in: Tendenzen des französischen Gegenwartstheaters. Hg. v. ders, in: lendemains 128 (2007), S. 22-41.

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nen Raum, ja letztlich eine eigenständige Szene, die das vorliegende Kunstwerk kreativ weiterentwickelt. Die dem Schlussmonolog inhärente Ironie lässt vermuten, dass das Stück insgesamt einem solch kreativen Umgang mit Kunstwerken distanziert gegenübersteht. Dieser Befund korrespondiert damit, dass Reza keine Freundin des deutschen Regietheaters ist und dass sie vermeintlich ‚freien‘ Inszenierungen ihrer Stücke entschieden entgegentritt, also letztlich von einem Primat des dramatischen Textes gegenüber der Aufführung ausgeht – Reza selbst fordert den „Respekt“230 des Regisseurs vor ihren Dramen, ohne weiter zu reflektieren, ob nicht auch eine Weiterentwicklung eines Textes mittels Inszenierung eine Respektbezeugung sein kann. Rezas Respektforderung gilt, und das erstaunt, in erster Linie für den Sprechtext, weniger für die Ausgestaltung des Bühnenraums, weil der von Reza in den Nebentexten kaum thematisiert wird. Dadurch gewährt sie dem Bühnenbildner weitgehend freie Hand, während sie den Sprechtext als Verpflichtung für die Regie begreift. Das ist mutmaßlich einem Konzept geschuldet, das die Bühnengestaltung in erster Linie im Dienste des Dramentextes sieht, das also vorsieht, dass der Raum die Handlung unterstützt bzw. der dramatischen Illusion einen angemessenen Rahmen gibt. Ein solches Vorgehen birgt Konfliktpotential in sich. Wenn im Theatertext keine oder nur wenige Hinweise zum Raum formuliert sind, muss dies nicht zwingend als Ausdruck einer Unterordnung der Inszenierung unter den Text verstanden werden. Es kann ebenso als Spielraum begriffen werden. Vertritt indes der Dramatiker gleichzeitig ein traditionelles Dramenverständnis – wie Yasmina Reza –, kann das zu einem Konflikt zwischen Autor und Regie führen, weil jener dieser vorwirft, dass der Raum nicht dem Drama angemessen konzipiert ist. Im Gegenzug kann die Regie darauf bestehen, dass Hinweise zum Raum fehlen. Was im Kontext der Inszenierung also Konfliktpotential in sich birgt, ist literaturanalytisch weit weniger problematisch, weil die Literaturwissenschaft zunächst von dem ausgehen muss, was im Drama zum Raum gesagt wird. Mutmaßungen zum Raum jenseits dessen stehen der Literaturwissenschaft nur begrenzt zu. Vielleicht ist dieser Umstand die Ursache dafür, dass sich die Literaturwissenschaft insgesamt bei der Analyse des im Drama evozierten Raums zurückgehalten hat, was angesichts der Konjunktur der kulturwissenschaftlichen Raum-

230 Vgl. Yasmina Reza: „Ich wäre lieber tot als eine moralische Instanz“. Interview mit Christine Dössel, in: Süddeutsche Zeitung 197 (28.8.2006), S. 13.

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forschung bemerkenswert ist. Denn die Dramenforschung hat den spatial bzw. topographical turn231 bisher kaum verfolgt oder gar nachvollzogen. Das erstaunt nicht nur, es birgt das Risiko in sich, dass die Potentiale neuerer Ansätze übersehen werden. Deswegen werden im Folgenden zunächst Überlegungen zum Stand der Raumforschung in der Dramentheorie formuliert, um dann einem Phänomen nachzugehen, das auf die Begriffe Ekstase und Metastase zugespitzt werden soll. Dafür wird die von dramatischen Figuren vorgenommene Durchbrechung der Geschlossenheit des Raums untersucht, um so die im vorherigen Kapitel thesenhaft entwickelte Grundannahme fortzuführen, dass der Rückgriff auf etablierte Formsprachen eine Absage an die Episierung darstellt, ohne die Spielräume gering zu schätzen. Das „Raumproblem“ der Dramentheorie Ähnlich dem dargelegten potentiellen Konflikt, der sich zwischen einem Regisseur und Reza ergeben könnte, hat es eine Auseinandersetzung zwischen Friedrich Dürrenmatt und Giorgio Strehler gegeben. Daran hat Wolfgang Iser in Das Fiktive und das Imaginäre erinnert: Dürrenmatt habe Strehlers Inszenierung von Der Besuch der alten Dame massiv kritisiert. Der habe sein Drama verfehlt inszeniert, weil er eine Bahnhofsszene in einem gezielt realistisch gestalteten Bühnenraum habe spielen lassen. Iser präzisiert diese Kritik überzeugend dahingehend, dass Strehler wesentliche „Fiktionssignale“ des Dramas getilgt habe, wodurch Verweisdimensionen redundant geworden seien, weil die im Bühnenraum dargestellte Welt im Vergleich zu der im Dramentext zum Ausdruck gebrachten Welt ihren Als-Ob-Modus verloren habe und so schlicht die reale Welt repräsentiert habe.232 Nun sollte zunächst davon ausgegangen werden, dass ein Regisseur wie Strehler künstlerische Argumente auf seiner Seite hatte, um die Bühne derart einzurichten, wie er es getan hat. Entscheidend für die folgenden Überlegungen ist deswegen nicht die Frage, ob er künstlerisch bewusst gegen die Fiktionalitätssignale, von denen Iser spricht, inszeniert oder ob er sie schlicht missdeutet hat. Dürrenmatts Dramatik gibt – anders als die Rezas – präzise Hinweise zur Raumgestaltung. Die ‚Regieanweisungen‘ stehen gleichberechtigt neben dem Sprechtext. Wird ein derart komponierter Dramentext begleitet von einer Respektforderung wie der Rezas, der sich weitgehend wohl auch Dürrenmatt ange-

231 Sigrid Weigel: Zum ‚topographical turn‘ – Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik 2 (2002), S. 151-165. 232 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 41f.

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schlossen hätte, ist ein Aufbrechen des Konflikts zwischen Dramatik und Inszenierung vorprogrammiert. Um diesen Konflikt zu entschärfen, bieten sich potentiell zwei Lösungsmöglichkeiten an. Die eine besteht darin, die Vorgaben für die Inszenierung entschieden umfangreicher und präziser zu gestalten als dies etwa Reza tut. Das ist der Weg, den der Naturalismus oder eben Dürrenmatt gegangen sind. Wie die erwähnte Auseinandersetzung zwischen ihm und Strehler zeigt, scheint sie potentiell heikel zu sein, da hier der Dramatiker die Regie anweist, sie also letztlich seinem Text unterzuordnen versucht. Die andere Lösung besteht darin, im Text die dramaturgische Inszenierung derart zu konzipieren, dass sie in der konkreten Inszenierung berücksichtigt werden muss, um dem Drama insgesamt gerecht zu werden. Idealerweise ist die dramaturgische Inszenierung dabei so angelegt, dass der Regie weiterhin ein Spielraum bei der Ausgestaltung angeboten wird, ja dass diese regelrecht herausgefordert wird, die Angaben zum Raum in das je eigene Inszenierungskonzept einzupassen. Ein derart inszenierungsproduktiver Umgang mit Raumangaben durch die dramaturgische Inszenierung ist nicht erst in den letzten Jahrzehnten aufgekommen; eine historische Untersuchung zu diesem Gegenstand, die aussteht, kann hier aber nicht vorgenommen werden. Allerdings darf angesichts der bisher geschilderten formgeschichtlichen Entwicklungen des Dramas in den letzten Jahrzehnten nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Dramatik zu einem veränderten Umgang mit Inszenierungsanweisungen aufgefordert sehen muss. Von den Spielräumen in der Dramatik Müllers unterscheiden sich diese Spielräume, da sie ganz gezielt nicht auf Überbietung oder Entgrenzung zielen, sondern bewusst auf dramatische Elementarkategorien zurückgehen, nämlich einerseits auf den Dialog und andererseits auf die aristotelischen Einheiten. Angesichts des Umgangs des Regietheaters mit dem Drama ist es nicht erstaunlich, dass zeitgenössische Dramatiker sich herausgefordert sehen, ihre Dramen derart zu schreiben, dass die bloße Nutzung als ,Inszenierungssteinbruch‘ oder ‚Textfläche‘ von vornherein ausgeschlossen ist. Vielversprechend scheint es vielmehr, Handlung und dramaturgische Inszenierungshinweise zum Raum so miteinander zu verknüpfen, dass eine Aufführung notwendigerweise an den Text gebunden bleiben muss. Da das Theater seine künstlerische Autonomie betont, ist es nur konsequent, wenn zumindest Dramatiker im Gegenzug die Autonomie des literarischen Kunstwerks hervorheben. Für die Dramen-Autoren folgt daraus freilich zugleich ein Problem: Der Versuch, Einfluss auf die Inszenierung zu nehmen, wäre leicht durch eine Rückkehr zu naturalistischen Schreibweisen zu erreichen, was aber indirekt durch die dramatische

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Form, seltener auch explizit abgelehnt wird.233 Wenn aber einerseits ein NeoNaturalismus kaum überzeugen kann und wenn andererseits Rezas Respektforderung wenig produktiv erscheint, bleibt als Alternative, nach dramatischen Ausdrucksformen zu suchen, die Mitsprache an der Inszenierung mittels des Textes fordern und die dem gleichwohl autonomen Status der Inszenierung Rechnung tragen, indem sie der Inszenierung Spielräume anbieten. Derart begriffen, wird freilich ein Mangel offenbar, der der Literaturwissenschaft bisher nicht bewusst ist: Der im Drama thematisierte Raum ist, wie schon erwähnt, kein selbstverständlicher Gegenstand der Dramenanalyse und -theorie. Das zeigt sich schon in Gustav Freytags Die Technik des Dramas (zuerst 1863). Obwohl seit Lessing in der deutschen Literaturgeschichte selten entschiedener als in diesem Werk für eine geschlossene, aristotelische Bauweise des Dramas plädiert wird, finden sich hier kaum Überlegungen zum Raum. Der ist der Handlung deutlich untergeordnet. Die wenigen Äußerungen, die sich mit dem Raum im Drama befassen, untersuchen den Text in erster Linie im Hinblick auf eine mögliche Inszenierung. Da aber Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die Aufführung im Vergleich zum Drama als sekundäre Kunstform galt, waren folglich Überlegungen zum Raum in diesem Sinne sekundär. Und diese Beurteilung war nicht nur temporal, sondern eben auch ästhetisch-qualitativ gemeint.234 Zwar finden sich in der europäischen Theatergeschichte nicht wenige bedeutende Texte zum Bühnenbau. Doch waren es vor allem Architekten, die sich darüber Gedanken machten. Erst mit der Aufwertung der Theaterkunst kam das Nachdenken über den Raum im Drama auf. Trotzdem galt noch Anfang des 20. Jahrhunderts in aller Regel das Primat des Dramas über die Inszenierung. So fasste 1913 Martin Buber seinen aus Anlass einer Claudel-Aufführung entstandenen Aufsatz Das Raumproblem der Bühne folgendermaßen zusammen: „Das Ziel, dem dieser Versuch zustrebt, ist: die Grundforderung des Dramas an die Bühne zu erfüllen. Aber das wäre unfruchtbare und bestandlose Arbeit, wenn diese Forderung von dem Nachdenken über das Drama, nicht von dem Drama

233 So meinte etwa Moritz Rinke in einem Interview zu seinem 2005 uraufgeführten Stück Café Umberto, dass ihm „natürlich schnell klar“ geworden sei, „dass ein Schreiben über Arbeitslosigkeit in der gut gemeinten sozialkritischen Weise nicht mehr funktioniert, also so eine Art Hauptmannscher Weber-Blick für heute und von oben nach unten“. Moritz Rinke: „Neue Arbeit statt Anerkennungsnotstand“. Interview mit Franz Wille, in: Theater heute 08/09 2005, S. 68-70, hier S. 68f. 234 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, S. 318-332.

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selber aufgestellt wäre.“235 Nach Bubers Meinung werden durch das Drama Vorschläge für und Forderungen an den Bühnenraum formuliert. Da der Raum andererseits ein Faktum ist, führt dies zum „Raumproblem“ des Dramas, das Joachim Hintze, wie wir sehen werden, diagnostiziert hat. Dass diese Forderungen zwingend sind, daran zweifelt er nicht. Im Umkehrschluss lässt sich daraus folgern, dass Veränderungen des Bühnenraums im Fall Bubers als Folge von Veränderungen der dramatischen Schreibweisen bewertet werden, dass also Raumänderungen nicht zwingend als Folge einer veränderten Aufführungspraxis oder Theatertechnik betrachtet werden müssen. Aus Bubers Überlegungen spricht zugleich der Eindruck, die Dramatik seiner Zeit befinde sich in einem Umbruch – und dieser werde im Bühnenraum sichtbar. Diese Umbruchwahrnehmung korrespondiert mit Szondis Krisen-These. Raumfragen hat er in der Theorie des modernen Dramas jedoch nur am Rande berührt. So stellt er in der Einleitung zunächst lediglich fest, dass im klassischen Drama die „räumliche Umgebung […] aus dem Bewußtsein des Zuschauers ausgeschieden“236 sein müsse. Zwar deutet er in den Kapiteln zur Lösung der Krise des Dramas um 1900 wiederholt Möglichkeiten an, welche Perspektiven sich für den Raum bei Piscator und Brecht ergeben. Letztlich interessiert Szondi diese Perspektive jedoch nicht. Das ,Außerhalb‘ des Dramas in Gestalt der Inszenierung findet in der Theorie des modernen Dramas kaum Berücksichtigung. Grundlegend geändert hat sich das Interesse am Raum in der Dramenanalyse und -theorie erst in den folgenden Jahren zunächst mit Klotz’ Geschlossene und offene Form im Drama und dann mit Hintzes Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater (1969). Beiden Studien ist gemeinsam, dass sie dezidiert textanalytisch sind und sich also nur zu dramaturgischen Inszenierungsvorschlägen des Raums äußern. Anders als bei Szondi ist der Raum für Klotz eine zentrale Größe. Seine Studie ist zweigeteilt, zunächst untersucht er die geschlossene, anschließend die offene Form. Beide Teile sind gleich aufgebaut und in je sechs Kapitel unterteilt – nämlich in ‚Handlung‘, ‚Zeit‘, eben ‚Raum‘, ‚Personen‘, ‚Komposition‘ und schließlich ‚Sprache‘. Es geht Klotz also zunächst um die Darlegung der drei aristotelischen Einheiten. Es folgen die Dimensionen, die bei Aristoteles ‚Charaktere‘ (Kapitel 15), ‚Gedankenführung‘ (Kapitel 19) und ‚sprachliche Form‘ (Kapitel 19-22) genannt werden. Dass Klotz’ Anlehnung an Aristoteles sinnvoll

235 Martin Buber: Das Raumproblem der Bühne, in: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. u. kommentiert v. Klaus Lazarowicz, Christopher Balme. Durchges. u. bibliograph. erg. Ausg. Stuttgart 2000, S. 428-433, hier S. 433. 236 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 19.

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ist (anders als bei Freytag), ergibt sich aus dem untersuchten Dramenkorpus, das mehrheitlich aus Stücken der französischen und deutschen Klassik gebildet wird. Sowohl für die geschlossene wie die offene Form entwickelt Klotz ‚Raumaspekte‘. Für die geschlossene Form stellt er zunächst fest, dass es darin „keinen dramatisch wirksamen Ortswechsel [gibt]. Wie die Zeit ist der Raum, der geschlossene, Natur und Außenwelt abschirmende Raum, qualitätsloser, unselbständiger Rahmen.“237 Der Normfall in der geschlossenen Form sei der „Raum als sinnliche Wahrnehmungskategorie“.238 Das meint nicht mehr als eine ‚Umgebung‘, die den Hintergrund zu einer Handlung bildet, ohne mit dieser in einem dynamischen Verhältnis zu stehen. Daneben kennt Klotz einen zweiten ‚Raumaspekt‘ der geschlossenen Form, der eine Weiterentwicklung des ersten Aspekts ist und der durch eine Korrespondenz zwischen Bühnenraum und gesellschaftlicher Ordnung gekennzeichnet ist. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass Klotz implizit von einem Primat des Dramas gegenüber der Inszenierung ausgeht, weil er voraussetzt, dass die dramaturgische Inszenierung des Raums in der konkreten Inszenierung möglichst berücksichtigt bzw. umgesetzt wird. Als letzten ‚Raumaspekt‘ des geschlossenen Dramas nennt Klotz den „Spielraum des Bewußtseins“.239 Der Raum wird zu einem Schauplatz eines ‚inneren Agons‘ – hat also keine Entsprechung in der Außenwelt des Personals. Zwingend vielfältiger und – wenn man Klotz folgt – kaum kategorisierbar ist der Raum in der offenen Form. In der kann der Raum Funktionen übernehmen, die ihm in der geschlossenen Form nicht zur Verfügung stehen. So nennt er den „Charakterisierenden Raum“, der, „gleich einem Katalysator, dasjenige sichtbar zu machen [vermag], was die Handlung, auf sich allein gestellt, nicht sichtbar machen könnte.“240 Strukturell ergibt sich hier eine argumentative Diskrepanz aus der Anlage der Studie und dem untersuchten Gegenstand. Denn die offene Form ist meist keine Dramatik, die aristotelisch normiert ist – das gilt primär im Hinblick auf die Struktur, dann aber auch im Hinblick auf die Wirkungsabsichten. Klotz nähert sich seinem Gegenstand also mit Analysekriterien, die in der Gefahr stehen, ungeeignet zu sein. Anders und deswegen vielleicht nur am Rande auf Klotz Bezug nehmend, verfährt Hintze in Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Thea-

237 Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 45. 238 Ebd., S. 58. 239 Ebd., S. 58. Dass Klotz hier einen figurenbezogenen Spielraum-Begriff zugrunde legt, der mit dem der vorliegenden Studie nicht korrespondiert, dürfte klar sein. 240 Ebd., S. 127.

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ter. Im Hinblick auf den dramatischen Text formuliert er zunächst grundlegend, dass für die Untersuchung von Raumfragen im Drama nicht nur die Nebentexte, sondern dass ebenso die oft übersehenen bzw. überlesenen Details, die „indirekten szenischen Bemerkungen“,241 wichtig sind, die ‚impliziten Regieanweisungen‘. Hintze nennt sie den ‚gesprochenen Raum‘ – eine Formulierung, die auf den wegen seiner nationalsozialistischen Parteinahme umstrittenen Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann zurückgeht.242 Anders als bei Klotz verhält sich für Hintze der Raum zur Realität außerhalb der literarischen Fiktion und außerhalb des Theatersaals. Nachgerade ostentativ nimmt er die Perspektive vom Drama auf den Bühnenraum und die ‚räumliche Umgebung‘ ein, indem er die Kategorie „Realitätsbezug“ einführt. Im Unterschied zu Klotz, der ganz auf den Raum der dramatischen Handlung konzentriert ist, und Szondi, der die ‚räumliche Umgebung‘ kennt, aber ausblendet, ist Hintze am Bezug zwischen diesen Räumen interessiert. Die im Vorliegenden vorgenommene Unterscheidung zwischen dramaturgischer Inszenierung des Raums und dessen konkreter Inszenierung ist Hintzes Studie zumindest implizit eingeschrieben, auch wenn sie von ihm nicht reflektiert wird. Hintze untersucht den Raum in naturalistischen, expressionistischen und schließlich 1969 zeitgenössischen Dramen. Er betont damit die Zeitbedingtheit des ‚Raumproblems‘. Dabei geht er auf die Theorie des modernen Dramas an keiner Stelle ein. Hintze zeigt mit der Anlage seiner Studie, dass jedes aufgeführte Drama durch den es rahmenden Bühnenraum bestimmt wird.243 Das ist vor dem Hintergrund der weiteren Überlegungen zu betonen. Denn an dieser Gegenüberstellung der beiden Perspektiven, der dramatischen und der theatralen, ist zentral, dass Hintze die Inszenierung und die Rahmenbedingungen der ,Realität‘ zuschreibt. Das Drama dagegen wird von Hintze anders lokalisiert. Nach seiner Auffassung ist mit den indirekten szenischen Bemerkungen ein wesentlicher Teil des dramatischen Raumes angesprochen, von dem der Schauplatz selbst nur einen bestimmten, wenn auch für die Repräsentation entscheidenden Ausschnitt darstellt. Denn erst durch die raumschaffenden Möglichkeiten des Wortes, das szenisch nicht sichtbare Um- und Fernräume vergegenwärtigt und sogar den Kosmos mit einzube244

ziehen vermag, wird die totale Welt des Dramas Wirklichkeit.

241 Joachim Hintze: Das Raumproblem im modernen deutschen Drama und Theater. Marburg 1969, S. 3f. 242 Zit. nach ebd., S. 4. 243 Ebd., S. 5. 244 Ebd., S. 4.

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Trotz der Berücksichtigung der ‚Theater-Realität‘ ist Hintzes Arbeit faktisch eine literaturwissenschaftliche, die hermeneutisch argumentiert und literaturgeschichtlich organisiert ist. Den ‚Realitätsbezug‘ des Dramas thematisiert Hintze im Verlauf seiner Studie nur am Rande. Lediglich der Einsatz technischer Neuerungen zur Unterstützung der ‚Intention‘ des dramatischen Textes wird ausführlicher erörtert. Utopische Raum-Spiele Moritz Rinkes erfolgreiche Theaterstücke Republik Vineta und Café Umberto aus den 2000er Jahren sind im Hinblick auf die dramaturgische Inszenierung des Raums konventionelle Dramen, die an einem konkreten Ort spielen. Dementsprechend ist das Personal konzipiert, Vineta hat elf, Umberto zehn Figuren. Da bei einer solchen Personalstärke in aller Regel jede Figur mit jeder in Kontakt steht und da beide Stücke keine klassischen Hauptfiguren kennen, sind seine Dialoge eng verwoben. Durch das Personal und die Dialoge engt Rinke also den Spielraum ein. Das gilt auch im Hinblick auf die Raumthematisierungen. Die Hinweise zu Beginn der Stücke geben Orientierungspunkte und nennen sichtbare Gegenstände. Gleichzeitig wird die Atmosphäre des Ortes beschrieben. So heißt es am Anfang von Republik Vineta: Ein großer Raum. Halb links eine Konferenztafel mit sechs Stühlen. Eine riesige Pinnwand mit Plänen, Skizzen, Seekarten, Zahlen. Dahinter weht leicht ein Vorhang, und es 245

ist, als höre man draußen das Rauschen eines Waldes oder die Wellen eines Meeres.

Zu Beginn von Café Umberto wird erklärt: „Der Saal eines Amtes. Eigentlich für ein Arbeitsamt ein schöner Saal, nur ziemlich heruntergekommen, die Kommune ist vermutlich in die Krise geraten.“246 Rinke gibt mit den szenischen Bemerkun-

245 Moritz Rinke: Republik Vineta. Ein Stück in vier Akten, in: ders.: Trilogie der Verlorenen. Reinbek bei Hamburg 2002, S. 153-235, hier S. 155; vgl. dazu Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 143-162. 246 Moritz Rinke: Café Umberto. Szenen. Reinbek bei Hamburg 2005, S. 27; Rinke war in den 2000er Jahren nicht der einzige Künstler, der sich den veränderten sozialen Bedingungen in der Arbeitswelt gestellt hat: vgl. Ulrike Vedder: Ökonomie und Theater. Arbeitswelt und Simulation bei Moritz Rinke, in: „Ich gründe eine Akademie für Selbstachtung“. Moritz-Rinke-Arbeitsbuch. Hg. v. Kai Bremer. Frankfurt/M. 2010, S. 50-62; Katharina Pewny: Das Drama des Prekären. Über die Wie-

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gen einen Rahmen vor, ohne dabei naturalistisch-konkret zu werden. Er formuliert entweder Vorschläge (wie im Vineta-Beispiel) oder er überantwortet die Entscheidungen für die Gestaltung des Bühnenraums dem Regisseur bzw. dem Bühnenbildner, wenn er einen ‚schönen‘ Saal fordert. Die Räume, die Rinke zu Beginn seiner Stücke einführt, müssen nicht die einzigen Schauplätze sein – Republik Vineta spielt in den einzelnen Zimmern einer Villa, Café Umberto zeigt am Ende kurz eine Welt außerhalb der Wartehalle des Arbeitsamtes. Insgesamt aber wird die Geschlossenheit des Raumes gewahrt. Das dürfte zugleich ein Grund dafür sein, dass Rinkes Stücke an die Dramatik eines Frisch oder Dürrenmatt erinnern. In beiden Stücken wird an jeweils dramaturgisch zentraler Stelle die Geschlossenheit des Raumes thematisiert. Das geschieht allerdings nicht durch antiillusionistische Techniken wie die Verletzung der vierten Wand. Rinke durchbricht in Republik Vineta die Decke; in Umberto eröffnet er der Regie die Möglichkeit dazu und deutet einen gänzlich neuen, fremden Raum an. In Republik Vineta geschieht das am Ende des Stücks. Ein Teil des Dachs stürzt ein. Das korrespondiert mit der Katastrophe und symbolisiert den endgültigen Zusammenbruch des Miteinanders der Protagonisten. Bemerkenswert ist dieser Schluss, weil darin nicht etwa der Aufbruch aller Überlebenden angelegt ist. Zwar verlässt der SPD-Kommunalpolitiker Behrens das Haus. Färber aber, für das Figurengeflecht zentral, bleibt: Behrens: Meine Damen und Herren, liebe Beatles… (Er geht ab.) Langsam bewegt sich jetzt die Treppe nach hinten, bis sie mehr und mehr verschwindet. Dann ist sie weg. Man sieht im Hintergrund eine eingestürzte Mauer, dahinter Wälder, in denen Behrens eine lautlose Ansprache hält und mit seinem Koffer tanzt. Färber sitzt in seinem Sessel und zeichnet. Es schneit und schneit. 247

ENDE

Im Bild des Schneefalls wird deutlich, wie sich Rinkes Dramatik von der Rezas unterscheidet. Während die Französin ausschließlich auf den Dialog setzt (und damit indirekt ihr Misstrauen gegen die Regie zum Ausdruck bringt), überantwortet Rinke die Szene der Regie – wohlwissend, dass der Erfolg des Stückes mit der Realisierung dieses bemerkenswert sprachlosen Schlusses steht und fällt.

derkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld 2011; Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne, S. 188-234. 247 Rinke: Republik Vineta, S. 234f.

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Dabei wird durch die langsam sich bewegende Treppe die Illusion der Szene ausgestellt, gleichzeitig verweist das im Hintergrund sichtbare Bühnenbild ikonisch auf die Realität außerhalb des Bühnenbaus und reklamiert Realitätsbezug. Durch den fallenden Schnee mit dem zeichnenden Färber wird dieser Realitätsbezug zugleich jedoch radikal konterkariert. Ungerührt bleibt er sitzen. Sein Handeln steht damit nicht nur im Widerspruch zu einer auf Realismus zielenden Handlung. Der fallende Schnee steht im Kontrast zum Realitätsbezug, indem diese im wahrsten Wortsinn einfriert und den Raum betont, da dieser in eine märchenhaft anmutende Welt verwandelt wird. Auf diese Weise verweigert das Drama jeden konkreten Bezug und bekennt sich stattdessen zur Fiktion als zentralem Modus des Dramas, weil die Szene handlungsoffen ist und damit zur Spekulation über Färbers weiteres Verhalten einlädt. In Café Umberto wird der kammerspielhaft anmutende Raum am Ende nicht zerstört. Auch ist gar nicht endgültig entschieden, ob der dramatische Raum überhaupt durchbrochen wird. Vielmehr überantwortet Rinke die Entscheidung über diese Frage der Regie: In Szene 5 beschließen die Menschen, die die Wartehalle des Arbeitsamts inzwischen bewohnen, diese zu renovieren. Dort steht deswegen eine Leiter, auf der der Musiker und Tagträumer Jaro immer höher steigt. Dabei hält er eine Rede: Der Kampf um Erfolg, Erwerb, der da draußen wütet wie die Pest, er wird alles umbringen, was sich nicht radikal davon trennt! Ist ja nicht unbedingt neu, die Erkenntnis, muss man aber auch mal anwenden! (Steigt höher) Punkt eins: Wenn ich mich in diesem Land so umgucke, sehe ich überall Begabung, also, wir sind hier alle große Begabungen! […] (Steht jetzt freihändig ganz oben auf der Leiter) Ich fordere die Neue Arbeit und die Akademie für die neue Selbsttätigkeit! Millionen können sich doch nicht einfach stilllegen lassen! Punkt zwei: Ich gründe die Akademie für Selbstachtung! […] Punkt drei: Jule, wir müssen ein Kind… Lukas, welche Ecke? Punkt drei: Ich wollte dich eigentlich auf einem Spaziergang fragen… Ich würde so gern… […] Vorher musst du aber bei mir mal wohnen… Wir brauchen neue gesellschaftliche Akteure… Bawa Abudus… Jule: Jaro, wir sind hier unten.

248

Diese Szene ist die Schlüsselszene von Café Umberto. In der Forschung wie in der Theaterkritik ist darauf hingewiesen worden, dass Rinke ein ‚Utopist‘ bzw.

248 Rinke: Café Umberto, S. 91f.

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ein ‚Optimist‘ sei.249 Das belegt diese Szene, die mindestens drei Deutungsmöglichkeiten anbietet: 1. Jule reagiert aggressiv. Sie wirft Jaro indirekt vor, über die Sorgen und Ideen der anderen Menschen im Arbeitsamt hinweg zu gehen und gewissermaßen die ‚Bodenhaftung‘ verloren zu haben. 2. Jule reagiert neutral. Ihr Satz ist nicht uneigentlich gemeint, sie befürchtet, dass Jaro nicht mehr weiß, wo er ist, und sie will ihm Orientierung geben. 3. Jule reagiert besorgt. Auch wenn sie davon ausgeht, dass Jaro sie hören kann, nimmt sie doch an, dass er in einem anderen Raum ist und möglicherweise nicht mehr zurückfindet. Die Szene endet mit Jules Satz. Durch den weiteren Verlauf des Dramas wissen die Rezipienten, dass Jaro ins Arbeitsamt zurückkehrt. Was bleibt, ist – zumindest, wenn man die Möglichkeiten 2 oder 3 favorisiert – eine Ahnung davon, dass es Räume jenseits der sichtbaren Wartehalle gibt. Rinkes Stück legt das nicht fest, sondern überlässt die Entscheidung über die Deutung der Phantasie der Rezipienten. Es kann eine Ahnung von einem utopischen Raum aufkommen. Doch belässt Rinke es nicht dabei. Die Menschen machen sich in der Wartehalle daran, diese sukzessive immer lebenswerter umzugestalten, sie zu ihrem eigentlichen Lebensraum umzuwandeln. Café Umberto versucht, ähnlich wie Republik Vineta und doch auf ganz andere Weise, einen fiktionalen Raum zu schaffen, der zwar immer wieder auf die Welt außerhalb der Handlung verweist (also Referenz herstellt), der aber stets Eigenleben in der Fiktion behauptet. Deswegen können die beiden Dramen Rinkes als Beispiele für eine Form der Raumthematisierung begriffen werden, in der die Handlung relativiert wird: Die vermeintlich eindeutige Realitätsrepräsentation der Handlung wird durch den Raum aufgehoben, ohne dabei die Grenzen zur räumlichen Umgebung wie in der antiaristotelischen Dramatik einzureißen. Im Beispiel von Café Umberto versinnbildlicht Jaros mögliches Durchbrechen der Decke eine revolutionäre Utopie eines Einzelnen, dem die Umverwandlung der Wartehalle gegenübergestellt wird. Erst durch Jaros zwischenzeitlichen Ausbruch wird die Wartehalle zu einem Zwischenraum zwischen der Realität der Rezipienten und der radikalen Utopie Jaros. Dieser Umgang Rinkes mit dem Raum kann mit Iser als „Möglichkeitsvielfalt“250 begriffen werden. Für sie ist der Modus der Ekstase wesentlich251 – das

249 Vgl. etwa Reinhard Wilczek: „Negative Energie in eine positive Gegenkraft verwandeln“. Über den utopischen Grundzug in den Theaterstücken Moritz Rinkes, in: Theater fürs 21. Jahrhundert. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2004, S. 7080. 250 Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 137. 251 Vgl. ebd., S. 129-145, bes. S. 137-139.

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Aus-Sich-Heraustreten, ohne sein eigentliches Dasein endgültig aufgegeben zu haben. Die Rinke-Dramen sind Beispiele für eine solche Ekstase, da sie die Grenzen des Bühnenraumes verletzen, um die Möglichkeiten der dramatischen Fiktion um ein imaginäres Moment zu erweitern. Der andere Modus, der dieser ekstatischen Erweiterung des Bühnenraums entgegenzustellen ist, ist der der Metastase, der in der dramaturgischen Inszenierung auf ein ‚Umstellen‘ des Bühnenraums zielt und dadurch den Bühnenraum reduziert – und also gewissermaßen überwuchert. Ein Beispiel dafür haben wir mit Ostermaiers Tollertopographie kennengelernt. Das Imaginäre wird im Modus der Metastase konsequent auf den Bühnenraum begrenzt, während dem Imaginären bei der Ekstase zwischen dem dramatischen Raum und der räumlichen Umgebung ein Zwischenraum zugewiesen wird. Das Imaginäre liegt in diesem Fall damit nur noch bedingt im konkreten Einflussbereich der Regie. In erster Linie ist es der Phantasie des Publikums überantwortet. Das Drama büßt in beiden Fällen Realitätsbezug ein – und zwar selbst dann, wenn es nicht ostentativ antiaristotelisch angelegt ist. Damit aber verliert das „Raumproblem“ des Dramas seinen problematischen Charakter: Indem die Dramatik ein Bündnis zwischen sich und der Imagination der Rezipienten initiiert, wirkt sie sich auf den Bühnenraum gar nicht oder nur wenig aus. Dieses Bündnis tendiert dazu, der Aufführung eine Vermittlungsfunktion zuzuweisen. Denn der Regie bleibt nur mehr die Möglichkeit, die Momente dieses Bündnisses in Szene zu setzen oder nicht. Raumthematisierungen haben aber nicht nur Konsequenzen für die konkrete Inszenierung. Dramenästhetisch machen sie deutlich, dass die vermeintlich binäre Opposition von aristotelischer und antiaristotelischer Dramatik sowie von geschlossener und offener Form nicht trägt. Da der imaginäre Zwischenraum neben dem ‚realen‘, also der Realität des Publikums entsprechenden Raum und dem ‚fiktiven‘, also der Realität des Bühnengeschehens entsprechenden Raum tritt, verweigert sich Rinkes Dramatik einer eindeutigen Antwort nach ihrem Umgang mit der Mimesis und setzt an zentralen Momenten auf diegetische Verfahren, die über etablierte Techniken der Raumdurchbrechung wie der Teichoskopie hinausgehen, da die Figuren in diesen Zwischenraum eintreten können. Eine damit einhergehende Wahrnehmung von dramatischen Darstellungstechniken des Raums hat zudem den Vorteil, dass sie in Erinnerung ruft, wie sehr die Institution Theater per se ein politischer Raum ist. Dieser Aspekt ist zwar in der Theaterwissenschaft eine Selbstverständlichkeit,252 jedoch nicht in der Literatur- und Kulturwissenschaft – auch wenn es etwa mit Foucaults offensiver Wertschätzung

252 Vgl. Roselt: Phänomenologie des Theaters, S. 65-112.

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des Theaters als Heterotopos prominente Ausnahmen gibt.253 Dass die im Theater gegebene Dramatik ihrerseits utopisches Potential haben kann, tut dem heterotopischen Status des Theaters keinen Abbruch.254 Der Erfolg von Rinkes Dramatik dürfte sogar Indiz dafür sein, dass zumindest Teile des Publikums vom Theater erwarten, dass es seinen Status als Heterotopos bewahrt, indem es utopischen Stücken einen Raum zur Darstellung bietet. Der Clou von Café Umberto ist dabei, dass das Stück durch die vorgestellte Szene die Grenze zwischen Heterotopie und Utopie zwar nicht zum Einbruch bringen kann, aber immerhin zu verwischen versucht. Indem die Wartehalle zu einem Zwischenraum zwischen Realität und politischer Utopie wird, verliert sie vordergründig ihren zunächst eindeutig utopischen Charakter. Der heterotopische Grundzug der Institution Theater wird in das Bühnengeschehen verlagert, indem auf der Bühne gezeigt wird, dass ein Raum wie die Wartehalle eines Arbeitsamts in eine Heterotopie verwandelt werden kann.255 Auf diese Weise gelingt es Rinke, das Theater zu einem Ort zu machen, der um das bemüht ist, was Ernst Bloch auf die Formel „Trotz und Hoffnung“ gebracht hat.256 Alles wie immer? Handlung, Raum... Rinke profitierte Ende der 90er Jahre vom Aufschwung der neuen Dramatik im deutschsprachigen Raum, der dem der britischen Dramatik seit Anfang des Jahrzehnts folgte und mit deren Rezeption in Deutschland einherging. Nicht nur

253 Vgl. Michel Foucault: Von anderen Räumen, in: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hg. v. Jörg Dünne, Stephan Günzel. Frankfurt/M. 2006, S. 317-329, bes. S. 324. 254 Vgl. dazu Erika Fischer-Lichte, Benjamin Wihstutz (Hg.): Politik des Raumes. Theater und Topologie. München 2010. 255 Die wenigen Ausführungen zum Raum im Gegenwartsdrama haben diese politische Dimension nur am Rande, die Möglichkeiten des Spielraums gar nicht beachtet; vgl. Frei: Die Rückkehr der Helden, S. 186-201. 256 Ernst Bloch: Die Schaubühne als paradigmatische Anstalt betrachtet, in: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. u. kommentiert v. Klaus Lazarowicz, Christopher Balme. Durchges. u. bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 2000, S. 566-570, hier S. 570: „Der wirkende Anteil Zukunft gibt also das eigentliche Maß für Frische, auch in der Komödie, die die Gegenwart kritisiert, im Lustspiel, das sie behaglich ausgehen läßt, wie sehr erst in der Erhabenheit der tragischen Welt. Weil an der hoffnungsreichen Wirkung ihrer Helden klar wird, daß deren Untergang nicht ganz stimmt, daß das Element Zukunft darin erhebt.“

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rückblickend, sondern bereits damals galt Sarah Kane als wichtigste Vertreterin der radikalen britischen Kammerspielästhetik. Wie das Beispiel von 4.48 Psychosis gezeigt hat, steht sie – anders als etwa Rinke oder Ostermaier – in der Tradition der Ausdifferenzierung der Ich-Dramatik und damit ästhetisch für eine Radikalisierung der Episierung, die mit der Abwesenheit des Dramatikers im Drama bricht. Dieser Aspekt ihrer Arbeit erklärt die anhaltende Wertschätzung, die Kanes Dramatik im akademischen und theaterkritischen Diskurs erfährt. Sie führt freilich dazu, dass ein anderer wesentlicher Aspekt ihrer Arbeit übersehen wird, nämlich ihre Auseinandersetzung mit der aristotelischen Dramaturgie am Anfang ihres kurzen schriftstellerischen Schaffens. Der Erfolg der britischen Dramatik der 90er Jahre wird vielfach auf die Thematisierung provozierender sexueller Praktiken und von offener Gewalt auf der Bühne zurückgeführt. 257 Dass schockierende Momente wesentlich waren für den großen Erfolg dieser Dramatik, ist nicht von der Hand zu weisen. Dass sich Kanes Dramatik jedoch zudem aus der Kammerspielästhetik heraus hin zu einer offenen Formsprache entwickelt hat, wurde meist nicht gesehen. Diese Tendenz kündigt bereits ihr erstes Stück Blasted an, das als Experiment mit aristotelischen Formfragen interpretiert werden kann. Dem ersten Eindruck nach ist das Stück ganz und gar aristotelisch konstruiert. Cate und Ian befinden sich in einem Hotelzimmer in Leeds. Alles ist arrangiert wie ein Beziehungsdrama, das durch den scharfen Kontrast zwischen dem sadistischen Journalisten und der Opfer-Züge tragenden, jüngeren Frau gekennzeichnet ist. Diesem Eindruck arbeitet nicht nur die geschlossene Bauweise vor, sondern auch die Einteilung in fünf Szenen, die die Handlung gliedern und die ebenso ‚Akte‘ heißen könnten. Zweifel kommen an diesem ersten Eindruck zunächst nicht weiter auf. Die erste Szene schließt mit einer konventionellen Konfliktkonstellation: Ian:

I love you.

Cate:

I don’t love you.

Ian: (Turns away. He sees the bouquet of flowers and picks it up.) These are for you.

257 Grundlegend dafür Aleks Sierz: In-Yer-Face Theatre. British Drama Today. London 2000.

228 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Blackout. 258

The sound of spring rain.

In der zweiten Szene wird, ebenfalls typisch für die geschlossene Bauweise, die Spannung gesteigert, indem eine zweite Konfliktebene eingeführt wird. Als Ian Cate oral penetriert, beißt sie ihm mit voller Kraft in den Penis. Die Täter-OpferKonstellation kippt, ohne sich ins Gegenteil zu verkehren: Ian: How you feeling? Cate: I ache. Ian: (Nods). Cate: Everywhere. I stink of you. Ian: You want a bath? Cate begins to cough and retch. She outs her fingers down her throat and produces a hair. She holds it up and looks at Ian in disgust. She spits. Ian goes into the bathroom and turns on one of the bath taps. Cate stares out of the window. Ian returns. Cate: Looks like there’s a war on.

259

Mit dem Blick aus dem Fenster kündigt sich ein Handlungsumschwung an, da ein Soldat das Zimmer betritt, so dass die brutale Privatheit des Kammerspiels unvermittelt in einen gänzlich neuen Zustand überführt wird, der von nun an die Handlung dominiert. Am Ende der zweiten Szene heißt es: Soldier: (Looks at Ian’s presscard.) Ian Jones. Journalist. Ian:

Oi.

Soldier:

Oi.

They stare at each other. Ian:

If you’ve come to shoot me –

258 Sarah Kane: Blasted, in: Sarah Kane: Complete Plays. Introduced by David Greig. London 2001, S. 1-61, hier S. 24; vgl. dazu Saunders: „Love me or kill me“, S. 3770. 259 Kane: Blasted, S. 33.

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Soldier: (Reaches out to touch Ian’s face but stops short of physical contact.) Ian:

You taking the piss?

Soldier:

Me? (He smiles.) Our town now.

(He stands on the bed and urinates over the pillows.) Ian is disgusted. There is a blinding light, then a huge explosion. Blackout. The sound of summer rain.

260

Durch den Einbruch des Soldaten in das Hotelzimmer wird im politischjuridischen Sinne Carl Schmitts ein Ausnahmezustand hergestellt,261 weil die im Hotelzimmer zuvor herrschende Ordnung zwischen Cate und Ian zwar durch massive Gewalt gekennzeichnet, aber offenbar doch ein Machtsystem austarierter Kräfte war. Dieses Machtsystem, diese kleinstmögliche politische Ordnung, wird durch den Soldaten außer Kraft gesetzt und durch eine Ordnung ersetzt, die jenseits der sozialen Ordnung steht, die Cate und Ian bisher kennen. Es handelt sich also um eine Form der Einnahme durch das Außen. Besonders fatal für die Handlung ist dabei, dass sich im weiteren Verlauf immer mehr erweist, dass der daraus resultierende Ausnahmezustand nicht vorläufig ist, sondern zum Dauerzustand gerinnt. Wesentlich ist dem Ausnahmezustand eine Unabhängigkeit vom Willen eines herrschenden Subjekts. Es bleibt unklar, in wessen Auftrag der Soldat handelt und was den Ausnahmezustand legitimiert. Derart betrachtet, hat Kane ein Stück geschrieben, das mit den Überlegungen von Giorgio Agamben in Homo sacer interferiert.262 Der Einbruch der Ausnahme in den zuvor ausschließ-

260 Ebd., S. 38f. 261 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre der Souveränität. 8. Aufl. Berlin 2004, S. 11-21. 262 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Übers. v. Hubert Thüring. Frankfurt/M. 2002, S. 36: „Deshalb nimmt die Souveränität bei Schmitt die Form einer Entscheidung über die Ausnahme an. Die Entscheidung ist hier nicht Ausdruck des Willens eines Subjekts, das allen anderen hierarchisch übergeordnet ist, sondern stellt die Einschreibung der Äußerlichkeit in den Körper des nómos dar, der ihn beseelt und ihm Sinn verleiht. Der Souverän entscheidet nicht über das Zulässige und das Unzulässige, sondern über die ursprüngliche Einbeziehung des Lebewesens in die Sphäre des Rechts oder, mit Schmitts Worten, in die ‚normale Gestaltung der Lebensverhältnisse‘, deren das Gesetz bedarf.“;

230 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI

lich privat definierten Raum verändert die Situation für Cate und Ian normativ. Kane erweitert das für die Dramatik konstitutive Prinzip der erschütterten Ordnung.263 Das Kammerspiel wird zu einer Auseinandersetzung mit Fragen des Politischen, ein säkularisiertes Welttheater. Radikal interpretiert, kann das Hotelzimmer im Sinne Agambens als Lager verstanden werden, in dem der Homo sacer sein Leben führt – im Bewusstsein, jederzeit getötet, niemals aber geopfert werden zu können.264 Dieser Lagerzustand ist unabhängig von der Existenz eines konkreten Besatzers. Das erklärt, warum Cate und Ian im Zimmer bleiben, nachdem der Soldat tot ist: Für das Paar gibt es keinen Ort, an den sie gehen können und an dem sie ihre ‚Heiligkeit‘ im Sinne Agambens verlieren – an dem sie nicht getötet werden dürfen. Derart verstanden, allegorisiert Kane den situativen Status des Raums fundamental und damit die Voraussetzungen des Dramas, wenn im Hotelzimmer der Ausnahmezustand einbricht. Dies korrespondiert mit dem Umstand, dass sich im Stück die Kategorie ‚Schuld‘ unvermittelt verändert. Zunächst sind Cate und Ian keine sympathischen Figuren. Sie genießen ferner kein hohes soziales Ansehen, sind also im Sinne von Aristoteles nicht als tragische Figuren geeignet, weil sie keine Fallhöhe besitzen. Auch im Sinne Lessings kann Cate nicht als tragisch gelten, weil man vielleicht ein Mitgefühl für sie entwickeln kann, aber nicht eine Form der Furcht im Sinne Lessings als eines ‚auf sich selbst bezogenen Mitleids‘. Wenn Kane in ihrem Drama mit den aristotelischen Einheiten spielt, bedeutet das nicht, dass sie mit den dahinter stehenden anthropologischen Konzepten spielt. Das gilt zumal, weil Cate und Ian unverschuldet in ihre Situation geraten sind und diese sie nicht auf ihr vorhergehendes Handeln zurückwirft, sondern sie mit einem neuen, ganz anders gearteten und unerwarteten Leben konfrontiert. Das Eigentümliche an dieser Szene ist, dass sie eine Dynamik aufnimmt, die für die Dramatik seit der Moderne typisch ist. In der konventionellen Dramaturgie wird mit einer veränderten Situation eine „spezifische[] Aufforderung zur Handlung“ verknüpft, wie Bernd Stegemann betont hat.265 Diese Verknüpfung von Situations-

vgl. auch Hubert Thüring: Die Sprache, das Leben. Giorgio Agamben denkt die Fluchtlinie der Literatur, in: Die Literatur der Literaturtheorie. Hg. v. Boris Previsic. Bern, Frankfurt/M., New York 2010, S. 101-115. 263 Vgl. Hans-Thies Lehmann: Erschütterte Ordnung. Das Modell Antigone, in: ders.: Das Politische schreiben. Essays zu Theatertexten. Berlin 2002, S. 22-37. 264 Die dargestellte Gewalt ist in Blasted sekundär. Wo dies nicht bedacht wird, kommt es zu verharmlosenden Interpretationen: vgl. Axel Schalk: Das moderne Drama. Stuttgart 2004, S. 110-114. 265 Stegemann: Einleitung, S. 13.

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veränderung und Handlungsimpuls ist mit Beckett obsolet geworden, ohne dass sie dadurch letztgültig verabschiedet wurde.266 Vermutlich werden handlungsfreie oder zumindest -ferne Dramen auch weiterhin die Ausnahme bleiben. Kane nimmt diese Nicht-Dynamik auf und konfrontiert sie mit einer dramaturgisch vordergründig einfachen Bauweise, die durch regelmäßige Handlungsimpulse in einem einzigen, realitätsbezogenen Raum stattfindet. Der vordergründig konventionell und Stabilität gewährende Raum von Blasted wird nicht destruiert oder infrage gestellt. Er wird schlicht durch die Handlung für überflüssig erklärt. Dem von Kane ausgestellten Homo sacer ist die Option des Handelns genommen und somit jede Handlungsdramaturgie. Dort, wo die Handlung ausfällt, ist der Raum nicht mehr wesentlich. Sie ist seine Voraussetzung, ohne sie zerfällt ihr Zusammenhang, seine Einheit ist nicht notwendig. Das ist die dramentheoretische Konsequenz, die Blasted zieht, indem das Stück eminent politisch argumentiert. Cate und Ian verkörpern nicht nur einen Menschentyp, der an einem Ort nur mehr ist. Aus ihm ergeben sich für den Homo sacer keine Handlungsoptionen, weil er in den Ausnahmezustand versetzt ist, wodurch er verfügbar wird (jedoch nicht als Opfer). Angesichts dieses Zusammenhangs wird nicht nur deutlich, dass die wiederholt vorgenommene Konkretisierungen des Stücks auf den Einmarsch der NATO in Jugoslawien zu kurz greifen.267 Dem Drama ist ein politischer Subtext eigen, der sich direkt und unvermittelt in seiner Form niederschlägt. Die beiden hier skizzierten Möglichkeiten des Umgangs mit dem Raum einmal als Ermöglichen von Spielräumen jenseits des Bühnenraumes (Rinke) und einmal als Entmöglichen von Handlung im Raum (Kane) laufen auf das gleiche Ergebnis hinaus, auf das Verschwinden der dramatischen Handlung auf der Bühne durch das Ausbleiben eines tragischen Konflikts, der über die Figuren hinausweist. Das Paradox, das beide Beispiele liefern, liegt darin, dass sie in Gestalt einer Renaissance des Dialogs daherkommen und mit konventionellen dramatischen Formen und Bezugnahmen arbeiten, ohne dass sie diesen vertrauen.

266 Susanne Werling: Handlung im Drama. Versuch einer Neubestimmung des Handlungsbegriffs als Beitrag zur Dramenanalyse. Frankfurt/M. 1989. Werlings These, die Handlung stelle „auch für das moderne Drama eine adäquate Beschreibungskategorie“ (ebd., S. 271) dar, bezweifelt der Verfasser nur dann nicht, wenn zugleich betont wird, dass ‚Handlung‘ an sich nicht notwendig ist. 267 Vgl. etwa Peter-Paul Schnierer: The Theatre of War. English Drama and the Bosnian Conflict, in: Drama and Reality. Hg. v. Bernhard Reitz. Trier 1996, S. 101-110, bes. S. 106.

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Sie nehmen Etabliertes zum Ausgangspunkt, um die Aussichtslosigkeit der Gegenwart zu verhandeln, die allerdings keine des Nicht-Handelns ist. Jenseits dessen sind die Perspektiven, die sich aus diesen Dramen ergeben, unterschiedlich gelagert. Kanes Stück liefert eine klare politische Analyse mit fatalistischem Ergebnis. Wer ihr Stück liest oder sieht, dem bleibt nur Resignation. Zu welchem Ergebnis aber kommen Stücke wie die von Rinke, die mit Spielräumen operieren und weniger fundamental, sondern konkreter gesellschaftsbezogen sind und daran arbeiten, Theater als Heterotopos zu ermöglichen? Katharina Keim hat in einem Aufsatz über Der Bus. (Das Zeug einer Heiligen) von Lukas Bärfuss die Frage nach den Unterschieden zwischen Postdramatik und der neueren Dramatik u.a. thematisch zu beantworten versucht. Postdramatiker wie Jelinek hätten sich in erster Linie an der „deutschen Misere“ abgearbeitet. Jüngere Autoren wie Bärfuss verfolgten dagegen „eher soziale Fragestellungen, die unter dem Vorzeichen der Globalisierung stehen“.268 Einmal davon abgesehen, dass diese Unterscheidung wenig überzeugt, weil Fragen der Globalisierung ebenso in der Dramatik der 70er Jahre von Müller zu finden sind (etwa in Der Auftrag), so ist dieses Vorgehen auch deswegen fragwürdig, da dass Attribut ‚dramatisch‘ zunächst auf Formfragen zielt, die sich zwar durch Inhalte historisch verändern können, die aber nicht von konkreten Themen abhängig sind. Formal nun bietet das Stück von Bärfuss tatsächlich all das, was Müllers oder Jelineks Dramen nicht bieten: eine Einteilung in Akte, eine eindeutige Unterscheidung von Sprech- und Nebentext, einen klaren, schon klassisch zu nennenden Handlungsverlauf mit Anfang, Peripetie und Schluss. Die Figuren werden eingeführt und motiviert, es finden sich Konflikte. Weiterhin wird die Absolutheit des Dramas ebenso gewahrt wie die Abwesenheit des Dramatikers im Drama. Schließlich wird die vierte Wand regelrecht wieder aufgebaut. Formal sind die Dramen von Bärfuss denen von Rinke also ähnlich. Auch die Voraussetzung für Handlung schaffen beide umgehend. Bärfuss’ Drama beginnt folgendermaßen: An einer Straße. In einem Wald. Mitten in der Nacht. Ein Reisebus steht am Straßenrand. Die Aufschrift „Hermann Reisen“. Durch die Fenster fällt Licht. Die Scheinwerfer werfen Kegel ins Dunkel. Erika, eine junge Frau, steht da, im Wind, blaß, verschlafen, mit zerzaustem Haar und zerknautschtem Gesicht, und Hermann, der Fahrer, daneben, groß,

268 Katharina Keim: Seltsame Heilige, gottverlassene Gläubige. Glaubensfragen im zeitgenössischen Religionsdrama: Lukas Bärfuss’ Der Bus. Das Zeug einer Heiligen, in: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in den Ländern Mitteleuropas. Hg. v. Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 2007, S. 86-94, hier S. 93.

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grobschlächtig, mit dem Hemd über der zerknitterten Hose, betrachtet die Frau lauernd und wütend. Erika:

Dann fährt dieser Bus überhaupt nicht nach Tschenstochau.

Hermann: Ganz genau. Erika:

Aber. Dann sitze ich im falschen Bus.

Hermann: Im ganz falschen. Erika:

Um Gottes willen.

Hermann: Nun stell dich nicht scheinheilig. Du weißt ganz genau, in welchem Bus du sitzt. Erika:

Das ist nicht wahr.

269

In Bärfuss’ Exposition finden sich also geradezu lehrbuchhaft alle Elemente, die Voraussetzung für eine Handlung sind: menschliche Subjekte sowie Angaben zu Raum und Zeit. Zugleich wird die Voraussetzung für den weiteren Handlungsverlauf geschaffen, indem umgehend ein Interessenkonflikt deutlich wird. Erika will nach Tschenstochau – das impliziert eine Pilgerfahrt zur schwarzen Madonna. Die anderen Reisenden fahren zur Kur in die Berge. Die Exposition von Rinkes vier Akte umfassendem Drama Republik Vineta ist nicht ganz so unvermittelt. Im schon erwähnten Nebentext wird zunächst der Raum geschildert – eine etwas verfallen wirkende Villa, von der bald gesagt wird, sie befinde sich in der Nähe von Gotha. Zu Beginn sprechen Nina Seiler und Hans Montag miteinander. Er wird zudringlich und von ihr abgewiesen, indem sie ihn daran erinnert, dass die beiden beruflich miteinander zu tun haben. Dann tritt Färber auf, der als Architekt vorgestellt wird. Er soll ein Team ergänzen, das von Dr. Leonhardt geleitet wird. Nina Seiler ist seine Assistentin, und dem Team gehören bis zum Auftritt von Färber fünf Männer an. Zusammen sollen die sechs das Projekt Republik Vineta planen – eine Insel im Meer, auf der ideale Lebensbedingungen in technischer wie in gesellschaftlicher Hinsicht existieren sollen. Sie ist also eine Art Utopia. Der Konflikt in dieser Konstellation rührt zunächst daher, dass Born und der hinzugekommene Färber beide Architekten sind und gänzlich unterschiedliche Ansätze verfolgen. Born ist ein Pragmat und Technokrat, Färber stellt das Wohlbefinden der Bewohner in den Mittelpunkt. Gleichzeitig wird Nina von mehreren Männern begehrt, was zu einer zweiten, privaten Konfliktebene führt, die mit der beruflichen interferiert. Wesentlich differieren Bärfuss und Rinke im Umgang mit dem Wissensunterschied von Figuren und Rezipienten. Bei Bärfuss kommt er nur indirekt zum

269 Lukas Bärfuss: Der Bus (Das Zeug einer Heiligen), in: Theater heute 3/2005, S. 4457, hier S. 44.

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Tragen. Wer katholisch sozialisiert oder mit der christlichen Kulturgeschichte ein wenig vertraut ist, erkennt schnell, dass die Busreisenden als Allegorien auf die sieben Laster bzw. Todsünden gedeutet werden können. Keim hat das wunderbar gezeigt. Doch ist dieses Wissen nicht notwendig, um der Handlung zu folgen. Das liegt daran, dass die Peripetie hier geradezu vorbildlich am Übergang vom dritten zum vierten Akt erfolgt: Erika verlässt die Reisegruppe und kehrt bei Anton, einem heruntergekommenen Tankstellenbesitzer in den Bergen, ein. Der Ausgangskonflikt scheint gelöst. Erika richtet sich bei Anton, nach anfänglichem Widerstand, ein: Ich habe eine Liebesgeschichte mit Gott, aber ich will sie nicht, diese Liebesgeschichte. Manchmal sehne ich mich danach, daß mich jemand berührt, daß ich angefaßt werde, von irgendwem, der einfach zupackt, weil er das will. Und ich möchte an die Sterblichkeit glauben. Daß ich verschwinde, daß nichts kommt, daß dieses Fleisch, das hier, einfach zu Staub zerfällt, und mit ihm, was ich bin und was ich sein könnte. Ich würde keine Rolle spielen, es wäre einfach das da, was da ist, und ich wäre, was ich bin, Erika, an der Tankstelle, in der Nacht, bei Anton.

270

Überraschend taucht Hermann, der Busfahrer, auf und überzeugt Erika, nach Tschenstochau zu pilgern, was mit ihrer endgültigen Säkularisierung endet.271 Rinke verfährt anders als Bärfuss. In Republik Vineta entwickelt sich eine immer größere Diskrepanz zwischen dem Wissen der Rezipienten und dem der Figuren. Sukzessive erfährt der Rezipient, dass Dr. Leonhardt kein Projektleiter ist, sondern ein Psychologe, der das Vineta-Projekt erfunden hat, um gescheiterte Workaholics zu erden. Das Problem dabei ist, dass die Workaholics, also Leonhardts vermeintliches Team, ihr Scheitern im bisherigen Beruf nicht wahrhaben wollen bzw. man es ihnen aus Angst um sie nicht mitgeteilt hat. Leonhardt konstruiert ein komplexes Spiel, das auf psychologisch kontrolliertes Scheitern zielt. Wir haben es hier also mit einer Sonderform vom Spiel im Spiel zu tun. Schließlich erfahren die Figuren durch die Ankunft der Frau von Kapitän Feldmann-See die Wahrheit. Auf die Anagnorisis folgt gut aristotelisch die Katastrophe. Leonhardt und Nina verschwinden, Frau Feldmann-See nimmt ihren Mann mit. Die anderen bleiben in der Villa zurück. Hagemann begreift als einziger die völlige Aussichtslosigkeit der Situation und erhängt sich. Born erschießt Montag und geht. Behrens, der gescheiterte Lokalpolitiker, übt weiterhin seine Reden zur Eröffnung von Vineta ein. Zuletzt bleibt Färber, obwohl die Villa ein-

270 Ebd., S. 55. 271 Vgl. dazu Keim: Seltsame Heilige.

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stürzt, schweigend im Schneefall zurück, um weiter zu zeichnen, wie wir gesehen haben. Es dürfte deutlich geworden sein, dass das Stück Rinkes zahlreiche Analogien zu Dürrenmatts Die Physiker aufweist. Im Unterschied dazu gibt es bei Rinke keine bewusste Entscheidung für den Wahnsinn. Den Figuren gelingt es nicht, ihre Selbstwahrnehmung mit der Realität in Deckung zu bringen. Schließlich sind ihre Arbeiten außerhalb der Villa unbrauchbar, weil es eben gar kein Projekt Vineta und nicht einmal eine Insel dieses Namens gibt. In diesem Sinne ist Rinke fatalistischer als Dürrenmatt. Die Workaholics sind auf den Schrottplatz der Arbeitswelt aussortiert. Damit erfüllt Rinke zugleich wesentliche Forderungen, die Dürrenmatt in den 21 Punkten zu den Physikern aufgestellt hat. Die ‚schlimmstmögliche Wendung‘, die Dürrenmatt in Punkt 3 fordert („Eine Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“),272 tritt durch die vermeintliche Hilfe von Frau Feldmann-See ein, konkret durch den Zufall, dass sie ein Schiff im Hafen liegen sieht, von dem ihr Mann am Telefon erzählt hatte, dass es sich auf dem Weg nach Vineta befinde. Bei Bärfuss verhält es sich anders. Der Bus ist einem tragikomischen Ansatz verpflichtet, der durch den Zufall den entscheidenden Impuls erhält. Gleichzeitig werden die formalen Unterschiede zu Dürrenmatt deutlich. Bärfuss setzt nicht auf die „schlimmstmögliche Wendung“, denn der Bus-Unfall endet für die Reisenden zwar im Tod, aber eben nicht für die Hauptfigur Erika. Dass der Zufall trotzdem zu einem paradoxen Ergebnis führen kann, nämlich zu Erikas Entschluss, nach Tschenstochau zu pilgern, liegt daran, dass Bärfuss in seinem Stück durch die Anlage der Figuren die notwendige Bedeutung des Zufalls schmälert, indem er uns keine „planmäßig handelnde“ Hauptfigur im Sinne Dürrenmatts zeigt,273 sondern eine kaum zielgerichtete Figur, die etwas verfolgt, es aber auch vergleichsweise unmotiviert wieder aufgeben kann. Bärfuss’ Drama ist deswegen auch keins über Religion, wie Teile der Theaterkritik meinten,274

272 Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, S. 91; zu Bärfuss’ Dramaturgie vgl. auch Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 211-215. 273 Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, S. 91f.: „8. Je planmäßiger die Menschen vorgehen, desto wirksamer vermag sie der Zufall zu treffen. 9. Planmäßig vorgehende Menschen wollen ein bestimmtes Ziel erreichen. Der Zufall trifft sie dann am schlimmsten, wenn sie durch ihn das Gegenteil ihres Ziels erreichen: Das, was sie befürchten, was sie zu vermeiden suchten (z.B. Oedipus).“ 274 Vgl. Sinéad Crowe: Religion in Contemporary German Drama. Botho Strauß, George Tabori, Werner Fritsch, and Lukas Bärfuss. New York 2013, S. 131-142.

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sondern ein Stück über den gegenwärtig praktizierten Umgang mit Religion. In Abwandlung von Dürrenmatts 15. Punkt („Es [ein Drama über Physiker] kann nicht den Inhalt der Physik zum Ziel haben, sondern nur ihre Auswirkung.“)275 kann deswegen gesagt werden: „Das Stück Der Bus kann nicht den Inhalt der Religion zum Ziele haben, sondern nur ihre Auswirkung.“ Auf den Punkt gebracht heißt das zunächst: Bärfuss’ Drama steht formal in der Tradition der Dürrenmattschen Tragikomik, ohne diese eins zu eins fortzuschreiben. Rinke ist bisher auf die Parallelen zu den Physikern nicht weiter eingegangen. Was er allerdings getan hat, ist, sich entschieden gegen andere ‚neuere‘ Tendenzen der Dramatik auszusprechen. Zum einen hat er sich wiederholt gegen „Figurenlose Textflächen“276 gewandt – also gegen radikal episierte Texte etwa von Müller und Jelinek. Gleichzeitig lehnt er Dramatik ab, die seinem Eindruck nach in erster Linie zu provozieren versucht wie etwa die britische Dramatik von Kane. Sein zunächst pragmatisches Argument dagegen ist die fehlende Möglichkeit der Erweiterung, Ergänzung oder Fortsetzung. Nachdem er in einem Plädoyer für eine arrogante Naivität ironisch aufgelistet hat, welche Genitalien der Figuren in der britischen Blut- und Sperma-Dramatik malträtiert werden, hält er trocken fest: „Ich denke, danach wird es irgendwie schwierig.“277 Deswegen erwidert er auf den Vorwurf, seine Dramatik sei nichts als angepasste Naivität und ein unzeitgemäßer Verzicht auf das Rohe und Obsessive: [W]as ist das eigentlich: Naivität? Wäre Naivität, die hier verbunden wird mit NichtBösem und Nicht-Rohem, also die Sehnsucht, an etwas zu glauben, vielleicht sogar an Menschen […]? Oder wäre Naivität […] etwas, das irgendetwas befürwortet, vielleicht sogar etwas Gutes […]? Ich glaube, wenn jetzt jemand käme und es schaffen würde, dass man sich in Menschen und Figuren verliebt, dann wäre das viel obsessiver und subversi-

275 Dürrenmatt: 21 Punkte zu den Physikern, S. 92. 276 Vgl. Moritz Rinke: Nichts ist älter als die Uraufführung von gestern Abend, in: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&task=view&id=3348 [letzter Zugriff: 26.10.2012]. Der Begriff ,Textfläche‘ für die Stücke der Postdramatik hat sich inzwischen vor allem bei handlungsorientierten Dramatikern durchgesetzt; vgl. z.B. John von Düffel, Klaus Siblewski: Wie Dramen entstehen. München 2012, S. 75. 277 Moritz Rinke: Plädoyer für eine arrogante Naivität / Über modische Haltungen zur Welt, in: ders.: Trilogie der Verlorenen. Stücke. Reinbek bei Hamburg, S. 292-294, hier S. 293.

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ver und übrigens auch arroganter als […] alles andere. (Plädoyer für eine arrogante Naivität! Und jetzt gehen bestimmt wieder alle romantischen Schubladen auf.)

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Rinkes Plädoyer für arrogante Naivität, die er explizit als ‚Sehnsucht, an etwas Gutes zu glauben‘, markiert, zeigt, dass trotz der formalen Nähe zu Dürrenmatt eine Differenz zwischen beiden besteht. Rinke baut auf der Formsprache Dürrenmatts auf, er adaptiert dessen tragikomisches Konzept, allerdings begegnet er seinen Figuren nicht mit dem für Dürrenmatt typischen Zynismus, sondern mit Empathie. Zugleich erklärt er, dass er seine Dramatik in den Dienst eines Optimismus stellt: Rinke nutzt Dürrenmatts Formsprache, um Nihilismus und Zynismus entgegenzutreten. Bärfuss und Rinke begreifen ihre Dramatik ausdrücklich als politisch. Das meint, dass in ihr Themen verhandelt werden, die gegenwärtig gesellschaftliches Konfliktpotential in sich bergen. Wie aber lässt sich dies konkrete politische Anliegen mit dem dargelegten utopischen Kern zumindest von Rinkes Dramatik verbinden? Handelt es sich letztlich um Dramen, die mittels einer älteren Formsprache aktuelle Themen für das Theaterpublikum aufbereiten? Lukas Bärfuss hat zu diesem potentiellen Vorwurf in einem Gespräch mit Peter von Matt Stellung bezogen und von der allgegenwärtigen ‚Böll-Angst‘ der Literatur gesprochen, also von der Angst, wie Heinrich Böll zwar politische Aussagen, aber keine ‚gute‘ Literatur zu produzieren.279 Bärfuss geht mit diesem Vorwurf offensiv um, indem er im Gespräch mit von Matt die Möglichkeit, auch einmal einen vermeintlich ‚schlechten‘ Text zu schreiben, nicht ausschließt. Das Problem an dem Vorwurf ist aber nicht der Umgang damit, sondern seine literaturkritische Dimension an sich. Konkret gefragt: Was ist ein ‚gutes‘ Drama? De facto gibt die Literaturkritik auf diese Frage keine Antwort. Antworten geben, wenn überhaupt, Theaterkritiker. Doch stehen die Dramen selbstredend nicht im Mittelpunkt ihrer Reflexionen. Deswegen kann davon ausgegangen werden, dass die je gegenwärtigen Diskurse über ‚schlechte‘ bzw. ‚gute‘ Dramen im Pausengespräch im Theater und vielleicht auf wissenschaftlichen Tagungen über Dramatik in der Kaffeepause genährt werden. Doch sind derartige Urteile selbstredend heikel. Sie bewerten Dramatik, indem eine bestimmte Form dramatischen Schreibens zum non plus ultra erklärt wird und andere Formvarianten nicht gelten gelassen werden. Bärfuss und Rinke machen es sich

278 Ebd., S. 293f. 279 Vgl. Lukas Bärfuss, Peter von Matt: Wie politisch darf die Literatur sein?, in: http:// www.drs.ch/www/de/drs/sendungen/echo-der-zeit/2646.bt10031042.html [letzter Zugriff 26.10.2012].

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nicht so leicht, sondern nehmen inhaltliche und formale Akzentverschiebungen gegenüber Dürrenmatt vor und zeigen sich damit auf eine intertextuelle Weise experimentierfreudig. Das zeigt zumal die Imaginationen ermöglichende Spielraum-Dramaturgie Rinkes. Damit versucht ihre Dramatik Wege aus der Einbahnstraße der immer radikaleren Episierung einerseits und der immer radikaleren Gewaltorgien andererseits zu finden. Es wird zu diesem Zweck auf Dramenmodelle zurückgegriffen, die von der vorhergehenden Generation abgelehnt wurden. Die von Bärfuss aufgeworfene Frage nach der Böll-Angst steht und fällt also mit der Frage, wer über die literarische Qualität von Dramen entscheidet. Solange beispielsweise Episierungsanhänger die Deutungshoheit in diesem Feld reklamieren und solange dem nicht offensiv widerstanden wird, bleibt die Gefahr latent, dass die künstlerischen Potentiale differenter Ausformungen des Dramas vor lauter Böll-Angst nivelliert werden zugunsten einer einzelnen dramenästhetischen Kategorie – der Episierung. Bernd Stegemann hat für eine Dramaturgie plädiert, die nicht nur darstellt, sondern sich appellativ an das Publikum wendet, indem er ausführlich den philosophischen Situationsbegriff von Kierkegaard über Heidegger bis Sartre rekonstruiert, um diesen auf den Begriff der Freiheit zu beziehen: „Die Freiheit entspringt aus der Situation der Wahl, die jeder mit sich selbst ausmachen kann. Nehme ich die Rolle an, die mir das System zuspricht, oder lehne ich sie ab?“280 Diese Wahloption setzt Stegemann fundamental, sie ist seiner Meinung nach immer gegeben. Aufgabe der Dramatik sei es, diese Opposition zweier entgegengesetzter Absichten dar[zustellen], die sich auf denselben Gegenstand oder Sachverhalt beziehen. Zugleich muss sie diese Absichten in einer gemeinsamen Welt verorten. Denn wären die Absichten in unterschiedlichen Welten realisierbar, wäre der Konflikt irreal.

281

Auf diese Weise plädiert Stegemann für den Konflikt als Kern des Dramas und so verteidigt er zugleich dessen politisches Fundament. Es ist dabei aber nicht nur Thema des Dramas, es erfährt eine Art Wandlung durch seine doppelte Adressierung einmal an die Figuren der Handlung, zum anderen an das Publikum. Das zumindest war das Anliegen des existentialistischen Dramas. Für Stegemann gibt es dementsprechend einen engen Konnex zwischen Mimesis sowie

280 Stegemann: Einleitung, S. 19. 281 Ebd., S. 24.

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„Erkennbarkeit und Nachvollziehbarkeit“.282 Dieser Konnex aber, das betont Stegemann, sei mit der Postdramatik aufgebrochen worden. Dem kann nur zugestimmt werden. Stegmann macht deutlich, dass diese Entwicklung nicht den Schlusspunkt in der Entwicklungsgeschichte des Dramas bilden muss: „Doch endet die Geschichte bekanntlich nicht mit der posthistoire. Situation, Handlung und Dramaturgie gelangen auch durch diese Epoche des Dramas, um immer wieder neue Darstellungsmöglichkeiten von Welt in der Gegenwart zu erfinden.“283 Diesen Befund bestätigen die vorliegenden Überlegungen. Die Frage, die sich stellt, ist jedoch, welche Konsequenzen aus dem historischen Befund gezogen werden. Stegemann legt mit seinem Hinweis insbesondere auf die „Situation“ nahe, dass das Drama immer wieder auf die Mimesis zurückgeworfen wird und dass die Dramatik dementsprechend zu ihrer politischen Appellfunktion an das Publikum zurückkehren sollte. Theoretisch ist Stegemann damit in guter Gesellschaft. Ähnlich hat bereits Klotz die Funktion des Theaters gefasst und auf den Begriff der Dramaturgie des Publikums gebracht: „Regelmäßige, aber auch irreguläre Konventionen zwischen denen, die es machen, und denen, für die es gemacht wird, beansprucht das Theater in besonders hohem Maß. Schon seine fundamentale Tätigkeit zeigt es an: die Nachahmung.“284 Klotz’ generelle Wertschätzung der Mimesis und die Stegemanns der existentiellen Situation übersehen jedoch, dass in der Dramengeschichte alternative bzw. antimimetische Konzepte nichts Neues sind (man denke an das mittelalterliche Spiel oder an das barocke Theater). Stegemanns Hinweis auf die Gegenwartsdramatik, die zu etablierten Ausdrucksformen zurückgekehrt ist, unterschlägt zudem, dass aus diesen keine direkten existentialistischen Appelle an das Publikum erfolgen. Möglicherweise neigt er zu dieser Annahme, weil die Dramen einer Kane, einer Reza, eines Rinke oder eines Bärfuss tatsächlich eins gemeinsam haben: Sie bauen letztlich alle auf dem Dialog auf, was sie ihrerseits allesamt von der postmodernen Textflächen-Dramatik unterscheidet. Auch sind in ihnen episierende Momente deutlich zurückgedrängt. Doch existiert kein Zusammenhang zwischen appellierender Dramatik und Dialog. Das zeigen die genannten Beispiele. Im Falle von Kane gilt dies, weil die Möglichkeit der eigenen Entscheidung im Ausnahmezustand schlicht ausfällt. Rinkes heterotopische

282 Ebd., S. 30. 283 Ebd., S. 39. 284 Volker Klotz: Was ist und wie faßt man Dramaturgie des Publikums?, in: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. u. komm. v. Klaus Lazarowicz, Christoph Balme. Durchges. u. bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart 2000, S. 518-524, hier S. 523.

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Spielräume und Bärfuss’ Säkularisierung Erikas referieren zwar auf konkrete gesellschaftliche Entwicklungen und formulieren Kritik oder zumindest Unbehagen daran. Die Konflikte in diesen Dramen bleiben jedoch auf die dramatische Handlung konzentriert und führen letztlich zu ihrem Stillstand, nicht zu einem Aufbruch, der das Publikum auffordert sich zu entscheiden. Es ist deswegen gar nicht ausgemacht, ob die jüngere Dramatik, die auf die aristotelischen Einheiten zurückgeht und Konflikte entwickelt, ohne weiteres als mimetisch in dem Sinne begriffen werden kann oder gar muss, dass sie auf irgendeine Weise auf emotionale Anteilnahme etwa in Form von Katharsis zielt. Wie komplex der Umgang mit den aristotelischen Kategorien ist, zeigt sich erst recht, wenn ergänzend zu den Kategorien Raum und Handlung die Zeit betrachtet wird. ... und Zeit? 1970 hat Peter Pütz, indem er sich auf Klotz bezog, aber Szondi weitgehend nicht berücksichtigte, eine umfassende Auseinandersetzung mit der Zeit als dramatischer Kategorie im Drama geliefert.285 Dass er nur am Rande auf Szondi eingeht, ist bemerkenswert, weil die Zeit in der Dramatik der Moderne diejenige aristotelische Kategorie ist, deren Einheit nicht mehr gewährleistet ist und Szondi das bei seinen Analysen immer wieder andeutet. Pütz arbeitet verschiedene Möglichkeiten der dramatischen Zeitlichkeit heraus. Er kennt zwei grundlegende Arten des Vorgriffs, Ankündigung und Andeutung, sowie zwei des Rückgriffs, nachgeholte Vorgeschichte und nachgeholte Dramenhandlung. Schon diese Unterteilung macht klar, dass die Zeit grundsätzlich auf die Handlung bezogen ist und von Pütz zudem als handlungsstützend begriffen wird. Letztlich hat sie bei ihm keinen kategorialen Charakter wie bei Aristoteles, sondern funktionalen – eben als Technik dramatischer Spannung, wie es im Untertitel heißt. Bärfuss und Rinke arbeiten beide mit Zeitsprüngen, um die Handlung zu beschleunigen, wie dies schon Tschechow getan hat, wenn etwa in Die Möwe im Anschluss an das Personenregister erklärt wird: „Zwischen dem dritten und vierten Akt liegen zwei Jahre.“286 Ein Zeitsprung findet analog in Der Bus zwischen dem vorletzten und dem letzten Akt statt: Nachdem das Stück bisher in den Bergen spielte, sieht man abschließend Erika, die in Tschenstochau angekommen

285 Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970. 286 Vgl. Anton Tschechow: Die Möwe. Komödie in vier Akten. Übers. u. mit einem Nachw. vers. v. Kay Borowsky. Stuttgart 1975, S. 3.

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ist. Der Zeitsprung wird nicht weiter thematisiert, er muss mindestens die Zeit dauern, die es braucht, um aus den Bergen zum Wallfahrtsort zu reisen. Rinke verfährt etwas anders als Tschechow und Bärfuss. In Republik Vineta nennt er zu Beginn die Zeitspanne, die die gesamte Handlung umfasst. Er äußert sich aber nicht, wann die Zeit springt: „Zwischen dem 1. Akt und dem 4. Akt liegen etwa 5 Wochen.“287 Gemeinsam ist diesen Stücken, dass die Zeit – entsprechend der Befunde von Pütz – eine Kategorie ist, die der Handlung untergeordnet wird bzw. die sie stützt. Alternativ zur Zeit als handlungsstützendem Moment kennt die Dramatik die Möglichkeit der „Aufhebung der Zeit“.288 Laut Pütz ergibt sich diese Möglichkeit am Ende des Dramas, da die eigentliche Handlung zu einem Ende kommt und etwa generalisierend oder ausblickend zusammengefasst oder perspektiviert werden kann. Anders – und offenbar in einer Art und Weise, die nach Pütz’ Theorie nicht vorgesehen ist – geht Kane mit der Zeit um. Sie verändert nicht einfach das Verhältnis von Zeit und Handlung, indem sie jene dieser funktional unterordnet. In Blasted ist das Verhältnis zwischen Zeit und Handlung vielmehr im Sinne Hamlets („The time is out of joint.“ I,188) grundlegend verändert. Wie die bisher zitierten Nebentexte andeuten, findet in dem Stück eine extreme Spreizung der Zeit statt, die aber nicht mit einer Spreizung der Handlung korrespondiert, da sie weiterhin linear und in Realzeit zu verlaufen scheint: Nachdem am Ende der ersten Szene Frühlingsregen fällt, ist es nach der zweiten der Sommerregen. In den folgenden beiden Szenen fällt am Ende Herbst- bzw. schwerer Winterregen, bevor die Schlussszene aus der Folge der Jahreszeiten ausbricht und ganz auf die Präsenz der Situation zielt: „It rains.“289 Gleichzeitig scheint die Handlung ohne Unterbrechung fortzufahren. Der Übergang von der zweiten zur dritten Szene ist nicht durch einen Handlungseinschnitt markiert. Die dritte Szene eröffnet, nachdem am Ende der zweiten eine Explosion das Hotelzimmer erschütterte und Sommerregen fiel (wie wir sahen), folgendermaßen: The hotel has been blasted by a mortar bomb. There is a large hole in one of the walls, and everything is covered in dust which is still 290

falling.

287 Rinke: Republik Vineta, S. 154. 288 Vgl. Pütz: Die Zeit im Drama, S. 225-229. 289 Kane: Blasted, S. 61. 290 Ebd., S. 39.

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Da am Ende der dritten Szene der ‚Herbstregen‘ zu hören ist und in deren Verlauf keine Indizien auf einen Zeitsprung hinweisen, da andererseits aber zu Beginn der dritten Szene Staub fällt, der, weil kein anderer Ursprung erwähnt wird, pragmatisch auf die Explosion zurückgeführt werden kann, spricht nichts für eine Pause der Handlung vom Beginn der zweiten bis zum Ende der dritten Szene. Im Widerspruch dazu steht ausschließlich der Hinweis auf den Regen, der – wie gesagt – das ganze Stück rahmt, als geschähe alles nicht binnen weniger Stunden, sondern innerhalb eines Jahres. Dramenanalytisch ist Blasted deswegen eine Herausforderung weniger an die Darstellung, als vielmehr an die Wahrnehmung des Rezipienten. Kane liefert mit ihrem dramatischen Erstling ein Stück, das nicht nur die aristotelischen Einheiten thematisiert und auf ihre Gültigkeit hin überprüft. Kane autonomisiert sich von ihnen, indem sie mit den Zeitangaben einen Spielraum ermöglicht. So kann der den Jahreszeiten zugeordnete Regen als Allegorie auf die Zeitlosigkeit des Ausnahmezustands gedeutet werden: „Das Lager, das sich mittlerweile fest in seinem Inneren eingelassen hat, ist das neue biopolitische nómos des Planeten.“291 Das Problem dieser Deutung ist jedoch, dass sie die Möglichkeit anderer Deutungen verhindert. In dem Moment, da der Regen als Allegorie für die Unzeitlichkeit des Ausnahmezustands interpretiert wird, wird die Zeit der Handlung konventionell untergeordnet. Wenn man sich klar macht, wie präzise Kane die Bedeutung des Raums mittels ihres Dramas erprobt und letztlich von der Handlung unabhängig macht, weil es kein Entkommen aus diesem paradigmatischen Raum geben kann,292 dann finden sich keine hinreichenden Argumente, weswegen sie die Zeit anders behandeln sollte. Hinzu kommt ein zweites, allerdings textfernes Argument: Das schon untersuchte Beispiel 4.48 Psychosis zeigt, dass Kane mittels ihrer Dramen immer wieder dramatische Kategorien überprüft und neu austariert hat. Schon ihr erstes Drama ist formanalytisch – und sie beginnt mit der Analyse dort, wo alles begann, bei Aristoteles.

291 Agamben: Homo Sacer, S. 186. 292 Vgl. Giorgio Agamben: Was ist eine Paradigma?, in: ders.: Signatura rerum. Zur Methode. Aus d. Ital. v. Anton Schütz. Frankfurt/M. 2009, S. 11-39.

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Neue Substantialität statt Neodramatik Hans-Ulrich Gumbrecht hat Mitte des letzten Jahrzehnts die zeitkritische These aufgestellt,293 es gebe eine zunehmende Sehnsucht nach Substantialität. Philosophisch sieht er ‚Substantialität‘ am Schnittpunkt zweier Genealogien: Das ist zum einen die Genealogie der anticartesianischen (aber deshalb nicht schon antimodernen) Seite in der philosophischen Spannung zwischen Bewußtsein und Sinn einerseits, Substanz und Konkretheit andererseits. Sie schneidet sich mit der Genealogie einer Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, wie sie sich aus der beinahe vollkommenen Entmaterialisierung unseres Alltagslebens ergibt – und wird eben an dieser Schnittstelle zu einem mehr als nur philosophisch-akademischen Anliegen.

294

Gumbrecht begreift die Sehnsucht nach Substantialität nicht als ein ausschließlich „philosophisch-akademische[s] Anliegen“, sondern als eine Tendenz verschiedener „intellektuelle[r] Bewegungen“.295 Im Hinblick auf die Geisteswissenschaften resultiere diese Tendenz aus der zunehmenden Ablehnung der im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer stärker entmaterialisierten Wissenschaftspraktiken. Diese Tendenz äußere sich u.a. in der Hinwendung zur Präsenz.296 Die Parallelen zwischen dieser Beobachtung des Wissenschaftsbetriebs und der Entwicklung des Gegenwartstheaters sind frappierend. Die Radikalisierung der Episierung hat die Figuren und Konflikte vielfach verschwinden lassen. Auch hat sie zum Ende der dramatischen Handlung geführt. An ihre Stelle ist das Interesse der Theatermacher für Diskurse und Textflächen getreten. Dem stellt sich die Dramatik seit Beginn der 1990er Jahre auf ganz unterschiedliche Weise. Einige formulieren offensiv Widerstand. Dramatiker wie Reza, Bärfuss oder Rinke arbeiten mit Formen, die bewusst hinter Formentwicklungen zurückgehen. Wie dargelegt, handelt es sich dabei nicht um einen wie auch immer motivierten Formkonservativismus, sondern um eine gezielte Formwahl, um je differente Anliegen auszudrücken und um auf diese Weise die vermeintlichen Innovationen für obsolet zu erklären. Die hier vorgelegten Analysen zeigen, dass diese Dramatiker sich dabei zu vorhergehenden Dramaturgien verhalten und dass

293 Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits des Sinns: über eine neue Sehnsucht nach Substantialität, in: Merkur 9/10 (2005), S. 751-761. 294 Ebd., S. 759f. 295 Ebd., S. 760. 296 Vgl. Petrovic-Ziemer: Mit Leib und Körper.

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sie Entwicklungen, wie etwa die Autonomisierung der Inszenierung vom Text, in ihren Stücken berücksichtigen, indem diese zwar einerseits wesentlich normativer konzipiert sind als radikal episierte Theatertexte. Andererseits aber bieten sie der Regie verschiedenartige Spielräume an, die für eine Koexistenz zwischen Text und Aufführung sorgen können (aber nicht müssen). Eine andere Art der Auseinandersetzung mit den dramatischen Ausdrucksformen hat Kane gewählt. Ihre Dramatik hat die Gültigkeit wesentlicher dramatischer Kategorien erörtert und überprüft. Dieser poetologische Grundzug ihres Werks ist innovativ, weil er wesentlich experimentell ist. Dramenästhetisch können ihre Werke deswegen wohl als die wichtigsten Beiträge zur Weiterentwicklung des Dramas in den letzten rund 20 Jahren betrachtet werden. Für das Verhältnis von Text und Inszenierung gilt das allerdings nicht. Um dieses Innovationspotential in der Inszenierung zu realisieren, bedarf es einer exakten Auseinandersetzung mit dem Text. Kane bietet der Regie Spielräume an – die erwähnte Loslösung der Zeit von der Handlung kann als ein solcher begriffen werden. Doch erlauben ihre Dialoge kaum Eingriffe oder kunstfertige Assoziationen, weil sie sonst die kompositorische Dichte verlieren, die ihnen eigen ist. Diese Beispiele dürfen aber nicht als Abgesang auf die Episierung missverstanden werden. Ihre Zeit ist nicht vorbei, sie büßt nur die Dominanz in der Dramenästhetik ein. Dramatiker wie Kater stellen sich bewusst in die Tradition der Episierung und entwickeln diese weiter, indem sie sie mit Momenten der Figurenrede und Spuren von Handlung auflockern. Sie gewinnen auf diese Weise einen Formpluralismus, der vielleicht nicht immer homogen, gewiss aber abwechslungsreich ist. Diese Vorgehensweise wählt auch Jelinek in ihren neueren dramatischen Arbeiten. Wo Kane und Rinke der Regie in erster Linie dramaturgische Inszenierungen, aber nur punktuell Spielräume ermöglichen, da sind Jelinek und Kater gewissermaßen antiautoritär, indem sie etwas ermöglichen, ohne zu regulieren. Die Möglichkeiten, die sich trotz (oder wegen?) dieser Herangehensweise an das Theater, etwa aus Jelineks Texten, ergeben, wurden allerdings lange Zeit übersehen. Nicht nur Philologen galt Jelinek vielfach als unspielbar. Annuß hat das in ihrer großartigen Studie über Jelineks Theater des Nachlebens in Erinnerung gerufen.297 Jelineks Dramatik (und davor die Müllers) hat nicht etwa einen Bedarf an Textflächen bedient, sondern überhaupt erst das postdramatische Theater ermöglicht. Diese Entwicklung hat zum Teil aber auch Gegenbewegungen hervorgerufen und andere Ansätze provoziert. Festmachen lässt sich das unter anderem an der neuen Wertschätzung, die rund um die Jahrtausendwende der Autor im Theater erfahren hat:

297 Annuß: Elfriede Jelinek, S. 254f.

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Die Verbindung eines Theaters zur Welt ist der Autor. Die mit dem Kollaps der großen Ideologien und politischen Lager verbundene Explosion verschiedener gleichberechtigter Wirklichkeiten kann sich nur in den unterschiedlichen Weltsichten und Weltentwürfen der verschiedenen zeitgenössischen Autoren [...] widerspiegeln.

298

Mit diesem Bekenntnis zum Autor eröffnete im Jahr 2000 die neu installierte Intendanz der Schaubühne am Lehniner Platz die Spielzeit. Da die Schaubühne seit ihrer Gründung in den 1960er Jahren für auf präzise Textkenntnis setzendes und die Autorintention wertschätzendes Regie-Theater stand, knüpfte die neue Führungsriege des Theaters mit seiner ostentativen Wertschätzung des Autors gezielt an diese Tradition des Hauses an. Gleichzeitig aber begriff das theaterinteressierte Publikum dieses Bekenntnis als Herausforderung, wenn nicht gar als Angriff gegen Theaterformen, die just in Berlin seit Ende der 1980er, Anfang der 1990er etabliert worden waren und eng mit dem Berliner Ensemble unter der Leitung Heiner Müllers und der Volksbühne am Rosa Luxemburg Platz unter der Leitung Frank Castorfs verbunden wurden.299 Das Bekenntnis zum Autor bedeutete im Kontrast dazu zweierlei: zum einen eine Abkehr von kanonischen Autoren, zum anderen Kritik an einer Theaterpraxis, die sich Dekonstruktion auf die Fahnen geschrieben hatte und konsequent darum bemüht war, die Auseinandersetzung mit dem Autor, seiner Intention und dem dramatischen Text abzulehnen und so die ästhetische Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Theaters gegenüber dem Drama zu betonen. Die Folge war eine Hinwendung zu zeitgenössischer britischer und dann auch junger deutscher Dramatik, die – wie bereits erwähnt – durch die Darstellung von physischer Gewalt und radikaler Sexualität provozierte.300 Das bekannteste Beispiel dafür ist Shopping and Fucking von Mark Ravenhill aus dem Jahr 1996.

298 Sasha Waltz, Thomas Ostermeier, Jochen Sandig, Jens Hillje: Der Auftrag, in: Spielzeitheft 2000 der Schaubühne am Lehniner Platz; abrufbar unter http:// www.schaubuehne.de/index.php?page=theory&sub=&language=de_DE#144865 [letzter Zugriff 26.10.2011]; vgl. dazu Holger Kuhla, Wolfgang Mühl-Benninghaus: Vom politischen Theater zum Theater der Politik. Grenzerfahrungen der subversiven Kraft des Theaters in der Berliner Republik an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, in: Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990. Hg. v. Birgit Haas. Würzburg 2005, S. 247-260, bes. 252-257. 299 Vgl. Franziska Schößler: Drama und Theater nach 1989. Prekär, interkulturell, intermedial. Hannover 2013. 300 Vgl. Sierz: In-Yer-Face-Theatre.

246 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Gary:

I should kick you out, you know that? I shouldn’t be wasting my time with losers like you. Look at you. Druggie with thirty quid. I’m in demand me. I don’t have to be doing this. There’s a bloke, right, rich bloke, big house. Wants me to live with him. So tell me: why should I let you lick my arse?

Mark: Why don’t you think of him? You could lie there and think of him. Just a few minutes, OK? Thirty quid. Just get my tongue up, wiggle it about and you can think of him. This isn’t a personal thing. It’s a transaction, OK? Gary pulls down his trousers and underpants. Mark starts to lick Gary’s arse.

301

Die offene Zurschaustellung von Sexualität, die Ravenhill in einigen Szenen mit einer regelrechten Lust an der Gewalt paart, hat er selbst auf eine Generationserfahrung zurückgeführt: „Diese Lust am Schmerz ist wahrscheinlich nichts Neues, vielleicht ist sie heute nur öffentlicher. Ich habe allerdings den Verdacht, dass es heute eine stärkere Verbindung zwischen Schmerz und Sexualität gibt, den Einsatz von Schmerz und Sex.“302 Mit der Rückbindung an gesellschaftliche Entwicklungen und Wahrnehmungen bekennt sich Ravenhill zur Mimesis. Das korrespondiert mit einer klaren Figurenführung und einer Konzentration der Handlung auf wenige Figuren, die ihrerseits durch eine Kammerspielästhetik gestützt wird. Ausführlich haben wir das anhand von Kanes Blasted erörtert. Die Erfolge der britischen Dramatik haben in den späten 1990er Jahren in der deutschen Gegenwartsdramatik einen Widerhall erfahren.303 Ein Beispiel dafür ist die frühe Dramatik Marius von Mayenburgs. Friderike: Es stinkt hier. Multscher: Ich riech nichts. [...] Friderike: Ich möchte gern wissen, was hier so riecht. [...]

301 Mark Ravenhill: Shopping and Fucking, in: ders.: Plays: 1. Introduced by Dan Rebellato. London, New Delhi, New York, Sydney 2001, S. 1-91, hier S. 26. 302 Mark Ravenhill: Gespräch mit Mark Ravenhill, in: Playspotting. Die Londoner Theaterszene der 90er. Hg. v. Nils Tabert. Reinbek bei Hamburg 1998, S. 66-78, hier S. 72. 303 Zur – freilich nicht unproblematischen – Konjunktur der Gegenwartsdramatik seit den späten 1990er Jahre vgl. Englhart, Pelka (Hg.): Junge Stücke.

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Friderike: Ich glaub, das ist der Krüppel [gemeint ist der Rollstuhlfahrer Ringo], was hier so stinkt. Multscher: Oh. Ringo:

Betsi, sag was.

[...] Friderike: Scheißt er sich ein? Ist das einer von den Krüppeln, die einen Schlauch im Bauch installiert haben, wo die Scheiße raussickert in einen Beutel? Ringo:

Betsi, sag was, warum darf die das?

304

Von Mayenburgs frühe dramatische Arbeiten kennen zwar wie die Ravenhills und Kanes Grausamkeiten. Doch treten im Verhältnis zu den geäußerten psychischen Verletzungen die physischen deutlich zurück. Dabei verzichtet von Mayenburg weitgehend auf Nebentexte, so dass seine Dramen auf den Sprechtext konzentriert sind, was die dramaturgische Inszenierung begrenzt und Spielräume ermöglicht. Dadurch wird das, was sich die Figuren mittels Sprache antun, in den Mittelpunkt gestellt, und das Moment der gesellschaftlichen Tabuverletzung, das die britische Dramatik dominiert, wird variiert. Von Mayenburg formuliert Dialoge, die gesellschaftlich inkonform und politisch unkorrekt sind. Dadurch fordert er allerdings nicht zur Aufkündigung gesellschaftlicher Normen auf. Seine Dramatik führt vielmehr vor, dass es Menschen gibt, die sich von Normen unbeeindruckt zeigen, und dass deren gesellschaftliche Normierung kaum möglich scheint. Damit ist seiner wie auch der britischen Dramatik ein resignativer, deiktischer Grundgestus eigen, der in den Jahren vor und nach der Jahrtausendwende durch die vergleichsweise etablierte Formsprache (die – wie gesehen – einzig von Kane durchbrochen wird) und durch die verhältnismäßig ironiefreie Alltagsreferenz ostentativ auf Distanz geht zur postmodernen Ironisierung und Dekonstruktion. Neben dieser entschieden auf den Schauspieler und seine Sprache fokussierten Dramaturgie wurde an der Schaubühne früh eine Ästhetik etabliert, die uns beispielhaft in Richters PEACE begegnet ist. Diese Hinweise dürften hinreichen, um zu verdeutlichen, dass sich in der Dramatik im Jahr 2000 zwar abzeichnet, dass der Medienwandel in ihr Spuren hinterlässt, dass gleich-

304 Marius von Mayenburg: Parasiten, in: ders.: Feuergesicht. Parasiten. Frankfurt/M. 2000, S. 71-131, hier: S. 112f.; zu von Mayenburgs Dramatik vgl. Nikolaus Frei: Psychotischer Held und die Metaphysik des Banalen. Marius von Mayenburg und die Wiedergeburt der Tragödie aus dem Geist der Zeit, in: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in den Ländern Mitteleuropas. Hg. v. Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 2007, S. 64-75.

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wohl zuvörderst versucht wird, auf etablierten Formen aufbauend neue Ausdrucksweisen zu finden. Die ostentative Wertschätzung des Autors im Schaubühnen-Manifest305 im Jahr 2000 verhält sich indirekt zu der sich in den 60er und 70er Jahren ausdifferenzierenden Ich-Dramatik. Sieht man einmal von Kanes Drama 4.48 Psychosis ab (es weicht, wie dargelegt, als Ich-Drama formal von anderen britischen Erfolgsstücken dieser Jahre entschieden ab), fällt auf, dass an der Schaubühne Dramatik dominiert, die die Abwesenheit des Dramatikers im Drama pflegt. Dies kann als ästhetischer Widerspruch gegen Teile der postmodernen Dramatik verstanden werden, wenngleich er nicht offen formuliert wird. Diese Abgrenzung korrespondiert damit, dass Thomas Ostermeier und sein Team die Dramatik der eigenen Generation inszenierten (außerdem wurden ihre Aufführungen von Autoren der klassischen Moderne, Ibsen zum Beispiel, stilbildend). Der Rekurs auf den Autor ist also nicht nur in theoretischer, sondern auch in theaterpraktischer Hinsicht eine Absage an Dramen- und Theaterformen der vorausgehenden Generation, in der die Theorie den Tod des Autors verhandelt und ihn gleichzeitig in die Dramatik integriert hat. Wie konkret diese dem entgegengesetzte Rückbesinnung auf den Autor rund um die Jahrtausendwende zu verstehen ist, belegt ein Artikel, den Ostermeier und von Mayenburg wenige Wochen nach Kanes Selbstmord im Frühjahr 1999 im Spiegel veröffentlicht haben: Aber selbst die, die ihr [d.i. Sarah Kane] nahestanden, die, die ihre Stücke vielleicht so verstanden haben, wie sie verstanden werden wollte, drohen sie jetzt zu vereinnahmen, indem sie Sarahs Tod als konsequenten Schlußpunkt ihres Werks betrachten: Er umgibt ihr 306

ohnehin schon wahrhaftiges Werk mit einer nicht überbietbaren Authentizität.

Die beiden Theatermacher bekennen sich zur Möglichkeit des Verstehens, postmoderne Zweifel daran sind ihnen fremd. Zugleich steht Kanes „Werk“ für „Au-

305 Dass fast zeitgleich auch im literaturwissenschaftlichen Diskurs die Rückkehr des Autors verhandelt wurde (vgl. Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez, Simone Winko (Hg.): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Tübingen 1999), ist ein bemerkenswerter Umstand, der eine eingehende kulturwissenschaftliche Untersuchung verdient, die hier freilich nicht geleistet werden kann. 306 Thomas Ostermeier, Marius von Mayenburg: Klarheit und Schärfe, in: Der Spiegel 9/1999, zugänglich unter: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-9507498.html [letzter Zugriff am 26.10.2012].

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thentizität“ – fundamentaler war das Vertrauen in das Vermögen des künstlerischen Genies in der Dramatik vielleicht seit dem jungen Brecht nicht mehr. Es ist in den letzten Jahren wiederholt überzeugend gezeigt worden, wie sehr die Entwicklung des Theaters in den letzten rund 200 Jahren als eine Autonomisierung vom Drama bzw. vom ‚idealen‘ Drama (also vom Ideal der vom Autor intendierten Aufführung) begriffen werden kann.307 Das hat mancherorts die Einschätzung befördert, dass im Verbund mit dieser Entwicklung das Drama selbst gewissermaßen ‚gestorben‘ sei. Erinnert sei an Poschmanns Studie Der nicht mehr dramatische Theatertext oder Klessingers Postdramatik. ,Postdramatik‘ meint letztlich nichts anderes als das Ende des Dramas. Dirk Pilz hat deswegen von einem „Kampfbegriff“ gesprochen.308 Dem zustimmend und aufbauend auf den Hinweisen Schößlers309 und den Einsprüchen Bayerdörfers und Theresia Birkenhauers310 wird deswegen noch einmal in aller Entschiedenheit der These von der ‚Ablösung‘ des Dramas durch den ‚Theatertext‘ oder das ‚Postdrama‘ widersprochen.311 Das Drama ist nicht tot – ganz im Gegenteil: es ist sogar eine äußerst lebendige literarische Form, was gerade die dargelegten jüngeren Entwicklungen belegen.

307 Vgl. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen; von Herrmann: Das Archiv der Bühne. 308 Dirk Pilz: Unübersichtliche Vielfalt an Theaterformen. Das ,postdramatische Theater‘ spielt mit den Grenzen zwischen darstellender Performance und Lebensrealität, in: Neue Zürcher Zeitung 6.8.2012, zit. nach: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/ literatur-und-kunst/unuebersichtliche-vielfalt-an-theaterformen-1.17410743 [letzter Zugriff 3.4.2013]; vgl. dazu auch Borrmann: Mehr Drama! 309 Vgl. Schößler: Augen-Blicke, S. 19f. 310 Birkenhauer: Zwischen Rede und Sprache, S. 23: „Insofern stellt sich die Frage, ob man tatsächlich eine Unterscheidung einführen sollte zwischen ‚Theatertexten‘, die ihrem Anspruch nach nicht literarisch, sondern ‚Material‘, ‚Spielvorlage‘ sind[,] und literarischen Texten.“ 311 Als Erste hat, mit Hinweis auf die Dramatik seit den 90er Jahren, der PostdramatikThese Birgit Haas widersprochen. Allerdings sind ihre Überlegungen formgeschichtlich nicht immer überzeugend, auch wenn sie punktuell Szondi berücksichtigt; vgl. Haas: Plädoyer für ein dramatisches Drama, S. 177-218, bes. S. 180-182. Außerdem hat diese Begrifflichkeit längst nicht überall nachhaltig Spuren hinterlassen; vgl. bspw. Peter Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. Traditionelle neue Dramatik bei Rinke, von Mayenburg, Schimmelpfennig und Bärfuss, in: Dramatische Transformationen. Zu gegenwärtigen Schreib- und Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater. Hg. v. Stefan Tigges. Bielefeld 2008, S. 31-42.

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Für Stücke, die für diese Entwicklung stehen, hat sich deswegen auch ein Neologismus, nämlich ‚Neodramatik‘, eingebürgert. In einer Dokumentation zu Unter Eis in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Frühsommer 2008 wurde über Falk Richter folgendermaßen berichtet: Während seines Aufenthalts [in Frankfurt] war Richter nun an den Universitäten Frankfurt und Mainz an den theaterwissenschaftlichen Instituten zu Gast. Angehende Lehrer überprüfen seine Stücke auf ihre Tauglichkeit im Hauptschulunterricht, und er konnte erfahren, dass Electronic City ein „Standardwerk für postdramatisches Schreiben ist. Dass ich heute aber neodramatisch schreibe.“

312

Doch so ironisch distanziert Richter hier über seine ‚Neodramatik‘ spricht, ein Jahr später verwendet er das Attribut ‚neodramatisch‘ bereits als Gegenbegriff zu ‚postdramatisch‘. In seiner Würdigung Jon Fosses zu dessen 50. Geburtstag meint er: Dies mag der Grund sein, warum es anfangs und auch heute noch immer wieder Kritiker gibt, die sich mit den Texten Fosses schwer tun. Fosse ordnet sich nicht ein in den ganzen Textapparat des Postdramatischen und Neodramatischen, er ist eine ganz eigene Stimme, er bezieht sich formal auf keine Schule, auf keinen anderen Dramatiker, ich kann mir nur wenige Theaterwissenschaftler vorstellen, die sich mit Begeisterung in die Analyse seiner Arbeiten werfen würden.

313

Richters Sprachgebrauch korrespondiert damit, dass sich trotz der Interventionen von Bayerdörfer und Birkenhauer ‚Neodramatik‘ in der Theater- und der Literaturwissenschaft durchzusetzen scheint. Rudolf Denk und Thomas Möbius haben in ihrer überzeugenden Einführung in die Dramen- und Theaterdidaktik ‚Neodramatik‘ verwendet, um historische Entwicklungen zu skizzieren.314 Keim greift auf den Begriff in den erwähnten Überlegungen zu Bärfuss’ Der Bus zurück und nennt Merkmale der ‚Neodramatik‘:

312 Eva-Maria Magel: Der Mann mit den Eisfiguren, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 8.6.2008, zit. nach: http://www.falkrichter.com/logic/article.php?cat=52 &id=2080 [zuletzt aufgerufen am 29.10.2012]. 313 Falk Richter: Über Jon Fosse. Anlässlich von Jon Fosses 50. Geburtstag, zit. nach: http://www.falkrichter.com/logic/article.php?cat=31&id=18276 [letzter Zugriff: 29.10. 2012]. 314 Vgl. Rudolf Denk, Thomas Möbius: Einführung in die Dramen- und Theaterdidaktik. Berlin 2008, S. 64-66.

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Während neo-dramatische Stücke wie Der Bus nicht selten entsprechend dem Modell barocker Emblematik als Sinnbild konstruiert sind, funktionieren postdramatische Texte häufig gemäß dem Muster manieristischer Concetti, also dem Sinnspruch, der scheinbar gegensätzliche Ideen oder Begriffe mit Hilfe einer spezifischen Rhetorik [...] zu einer neuartigen Korrespondenz zusammenschließt und dem Rezipienten eine gewisse Dechiffrier315

leistung abverlangt.

Diese Überlegungen sind schon deswegen fragwürdig, weil die latente Kontroverse um den Status der Post- bzw. Neodramatik eine Erweiterung bekommt, die formale Fragen weitgehend außen vor lässt, wie die vorliegende Studie immer wieder gezeigt hat. Stattdessen dürfte nach den vorausgehenden Ausführungen einsichtig geworden sein, dass Post- und Neodramatik schlicht Dramatik sind316 – und zwar Dramatik, die sich zu verschiedenen dramatischen Formen ihrerseits verhält, ohne diese eins zu eins fortzuschreiben, sondern indem sie sie variiert und weiterentwickelt. Die Gegenwartsdramatik macht damit das, was Literatur immer schon gemacht hat: Sie stellt sich in einen traditionalen Zusammenhang, nimmt Formelemente auf und verwirft andere. Aktuell ist der Rückgriff auf die Formsprache des 20. Jahrhunderts und der Frühen Neuzeit weit verbreitet. Kathrin Röggla arbeitet mit Elementen des dokumentarischen Dramas.317 Albert Ostermaier hat in Tollertopographie Elemente des expressionistischen Monodramas verarbeitet und um allegorische Momente ergänzt.318 Ravenhill konzentriert sich in The product ganz auf das Spiel im Spiel,319 und Rezas Konversationsdramatik ist seit fast zwei Jahrzehnten ein Dauerbrenner.320 Wir erleben auf den

315 Keim: Seltsame Heilige, gottverlassene Gläubige, S. 93. 316 Das betont auch Eke: Der Verlust der Gattungsmerkmale, S. 312f. 317 Vgl. Dag Kemser: Neues Interesse an dokumentarischen Formen: Unter Eis von Falk Richter und wir schlafen nicht von Kathrin Röggla, in: Vom Drama zum Theatertext? Zur Situation der Dramatik in den Ländern Mitteleuropas. Hg. v. Hans-Peter Bayerdörfer. Tübingen 2007, S. 95-102; Franziska Schößler: Die Sehnsucht nach ‚Wirklichkeit‘ und ihre ästhetische Form: (Dokumentar-)Dramen und Anlassstücke nach 1989, in: Deutschsprachige Literatur(en) seit 1989. Hg. v. Norbert Otto Eke, Stefan Elit. Berlin 2012, S. 79-94; Bähr: Der flexible Mensch auf der Bühne, S. 306335. 318 Vgl. Schößler: Albert Ostermaier. 319 Vgl. Katrin Bettina Müller: Der Feind, der bessere Fick, in: die tageszeitung 25.11.2006, zugänglich unter: http://www.taz.de/1/archiv/archiv/?dig=2006/11/25/ a0156 [letzter Zugriff: 13.1.2012]. 320 Vgl. Grewe: L’art de la comédie à l’âge du postdramatique.

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Bühnen also einen Formpluralismus, den es durch ein Formspektrum darzustellen gilt und nicht durch ein Sukzessionsmodell, wie es die Äußerungen von Postund Neodramatik nahelegen.321 Pluralismus der dramatischen Formen und Wirkungsabsichten kennzeichnet die Dramatik in und seit der Postmoderne, nicht ein vermeintlicher Sieg des Neuen über das Alte.322 Diese Feststellung bezweifelt zugleich Wertungen. die darauf zielen, (vermeintlich neue) Dramenformen (in unserem Fall die ,Neodramatik‘) im Verhältnis zu älteren geringzuschätzen. Wo das erfolgt, geschieht es nicht selten, um eine bestimmte ältere dramatische Form (konkret die vermeintliche ‚Postdramatik‘) gegenüber der neueren zu favorisieren und ihr eine Sonderstellung zu sichern. Geschieht das trotzdem, so kann ausschließlich theaterkritisch argumentiert werden, nicht aber theater- bzw. literaturwissenschaftlich, wenn stärker dialogische Dramen als ästhetisch unbedeutend oder zumindest ,traditionell‘ (was meist Wertungen impliziert)323 abgeschrieben werden.324 Die

321 Zu diesem Ergebnis kommen auch von Düffel, Siblewski: Wie Dramen entstehen, S. 75f.: „Von der postdramatischen Textfläche à la Elfriede Jelinek, die auf Figuren und Figurenzuordnungen weitgehend verzichtet, bis hin zum Diskurs-Battle Marke Pollesch, das den Schauspieler in eine Art sportlich-performativen Wahnsinnswettstreit mit Textmengen und Wiederholungsschleifen treten lässt, haben sich Texte das Theater als performative Anstalt erobert, unabhängig von Figur und Situation. Doch von einer postdramatischen, performativen Wende des Theaters Ende der neunziger Jahre kann deswegen nicht die Rede sein, genauso wenig wie von einer Rückkehr des Geschichtenerzählens in Gestalt von Romanbearbeitungen und Filmadaptationen Mitte des letzten Jahrzehnts. Denn das Geschichtenerzählen durch Figuren in Situationen war nie von der Bühne verschwunden, auch wenn es weniger im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stand. Und es wäre kurzfristig zu glauben, die dramatische Form könnte irgendwann völlig veralten und veröden. Sie hat schon allerlei Moden und Modernismen sowie deren Post- und Post-Post-Epochen überlebt.“ 322 Deswegen überrascht es, wenn etwa Marx’ Handbuch Drama mit einem Artikel zum ‚dramatischen Erzählen‘ schließt, nachdem zuvor Eke überzeugend den Formpluralismus dargelegt hat – ganz so, als würde noch einmal versucht, die Episierung als endgültiges Formprinzip zu retten; vgl. Eke: Der Verlust der Gattungsmerkmale; sodann Stefan Tigges: Rückkehr des dramatischen Erzählens, in: Handbuch Drama. Theorie, Analysen, Geschichte. Hg. v. Peter W. Marx. Stuttgart, Weimar 2012, S. 323-327. 323 Vgl. Michalzik: Dramen für ein Theater ohne Drama. 324 Zu diesem Befund kommt auch Dirk Pilz: Unübersichtliche Vielfalt an Theaterformen: „Die Annahme von Fortschritt in Kunst ist jedoch ein Irrglaube: Nie werden

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Wissenschaftlichkeit solcher Urteile muss bezweifelt werden, weil ihr im Regelfall kritische und historische Distanz abgeht, an der man spätestens seit Szondi nicht mehr vorbeikommt. Angesichts dieser pluralistischen Dramenlandschaft scheint es fraglich, ob ein Ausgleich der Interessen möglich ist. Vermutlich wird es sich, da die Unabhängigkeit des Theaters vom Drama künstlerisches Faktum ist, nicht vermeiden lassen, dass sich mal das Drama und mal die Regie benachteiligt fühlen. Zum Ausgleich gebracht werden kann dieser Konflikt – wenn überhaupt – nur auf der Bühne. Thomas Ostermeier hat mit Blick auf die Schaubühne am Lehniner Platz betont, wie schwierig der Balanceakt eines um Autoren wie um Regie bemühten Theaters ist.325 Die Literaturwissenschaft jedoch bleibt gerade angesichts dieses Interessenkonflikts aufgefordert, eine zuverlässige Sachwalterin des Dramas zu sein. Das heißt nicht, die Augen vor künstlerischen Entwicklungen außerhalb der Literatur zu verschließen oder einer einfältigen Werktreue das Wort zu reden. Das heißt hingegen schon, Vereinnahmungen zu begegnen, die an sich nicht zu überzeugen vermögen. So mutet es eigentümlich an, wenn mittels des Schlagworts vom „Regisseur als Autor“ nun gerade Regiekonzepte gerechtfertigt werden, die sich ansonsten zu Intertextualität bekennen und damit eigentlich auf der Verabschiedung, wenn nicht gar dem Tod des Autors bestehen sollten.326 Nur weil von manchen Entwicklungen eine Sogkraft ausgeht, darf die Literaturwissenschaft ihre eigenen Befunde und ihren eigenen Gegenstandsbereich nicht in vorauseilendem Gehorsam verabschieden. Die letzten knapp zwei Jahrzehnte haben vorgeführt, dass Teile des Publikums nicht geneigt sind, sich ausschließlich mit episierender Dramatik und Textflächen auseinanderzusetzen und die handlungs- und dialogorientierte Dramatik schlicht zu verabschieden. Gumbrecht geht nicht davon aus, dass die Sehnsucht nach Substantialität derart wirkungsmächtig sein wird, um sich rigoros durchzusetzen. Aber sie habe das Potential, sich als ‚philosophische Lebensform‘ zu behaupten. Das bestätigt das gegenwärtige Theaterpublikum. Dramen von Reza

durch neue Formen alte hinfällig. Die Theatergeschichte wird – wie jede Kunstentwicklung – nicht durch Fortschritte, sondern durch Ausdifferenzierungen bestimmt.“ Exemplarisch bestätigt das Kovacs: Drama als Störung. 325 Vgl. Christopher Balme, Ortrud Gutjahr, Günther Heeg, Ulrich Khuon und Thomas Ostermeier: „Theater ist auch eine soziale Kunst“. Eine Podiumsdiskussion, in: Regietheater! Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 2008, S. 61-68, bes. S. 61f. 326 Vgl. etwa Ortrud Gutjahr: Spiele mit neuen Regeln. Rollenverteilungen im Regietheater, in: Regietheater! Wie sich über Inszenierungen streiten lässt. Hg. v. ders. Würzburg 2008, S. 13-25.

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oder Rinke werden erfolgreich gespielt und nachgespielt. Wer deren Stücke sieht, bringt dadurch nicht seinen Formkonservativismus zum Ausdruck, sondern seine Ablehnung eines Theaters, das die Handlung durch den Diskurs ersetzen wollte und will. Wer dieses Anliegen als unpolitisch und unterkomplex brandmarkt, unterschätzt nicht nur das Publikum, sondern ebenso die kritisierte Dramatik.327 Die Sehnsucht nach Substantialität im Drama und auf dem Theater, die auch von der Kritik gesehen wird,328 drückt große Zuneigung zum Theater aus. Sonst wären die Theatersäle nicht immer und immer wieder gefüllt, wenn ein neues Stück von Reza oder Rinke aufgeführt wird.

327 Till Briegleb: Wer anständiges Theater will, der soll ins Kino gehen. Ein Plädoyer für die komplexe Narration, in: Regietheater! Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 2008, S. 81-89. Vgl. zu diesem Themenkomplex auch: Nina Tecklenburg: Performing Stories. Erzählen in Theater und Performance. Bielefeld 2014, doi: https://doi.org/10.14361/transcript.9783839424315. 328 Christopher Schmidt: „Bei manchen Inszenierungen stellt sich schon eine Sehnsucht nach mehr Substanz ein.“ – so in: Sonja Anders, Till Briegleb, Christopher Schmidt, Franz Wille: Komplexität und Kritik. Eine Podiumsdiskussion, in: Regietheater! Hg. v. Ortrud Gutjahr. Würzburg 2008, S. 93-101, hier S. 93.

VI. Versuch über das Pathos

Die impliziten und expliziten Bezugnahmen auf aristotelische Kategorien in der zeitgenössischen Dramatik etwa bei Kane führen vor Augen, wie sehr diese weiterhin wesentlich sind1 – entgegen aller Abgesänge auf das Drama an sich. Doch wie die bisherigen Ausführungen nahelegen, handelt es sich dabei nicht nur um eine Auseinandersetzung mit allgemeinen dramatischen Kategorien, sondern vielfach mit spezifisch tragischen. Die drei Einheiten postuliert Aristoteles ausdrücklich für die Tragödie, sie sind für die Komödie nicht konstitutiv – unabhängig davon, dass sie dieser vielfach zugrunde liegen. Der Rekurs auf tragische Kategorien und damit indirekt auf die Tragödie an sich wirft die Frage auf, inwieweit Teilen der Gegenwartsdramatik ein Moment eigen ist, das als tragisch bezeichnet werden kann, und welches Verhältnis zwischen diesem Moment und aktuellen Spielarten und Ableitungen der Tragödie besteht, wobei zunächst zu erörtern bleibt, was als das Tragische zu begreifen ist. Mit dieser abschließenden Überlegung kehrt das Postskriptum zu Szondi zurück, konkret zum bis heute umstrittenen Versuch über das Tragische.2 Letztlich

1

Das gilt nicht nur für Blasted, wie überzeugend gezeigt wurde: vgl. Franziska Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik. Die Tragödie bei Sarah Kane, Anja Hilling und Dea Loher, in: Die Tragödie der Moderne. Gattungsgeschichte – Kulturtheorie – Epochendiagnose. Hg. v. Daniel Fulda, Thorsten Valk. Berlin, New York 2010, S. 318-337; vgl. auch Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 612-615.

2

Szondi: Versuch über das Tragische; vgl. dazu Pierre Judet de La Combe: Les tragédies grecques sont-elles tragiques? Montrouge Cedex 2010, S. 26-34. Zugleich begreift sich diese Rückkehr zu Szondi als Versuch, mit Szondi erneut das Verhältnis von Tragödie und Tragischem literaturwissenschaftlich zu diskutieren. Theatrale Dimensionen berücksichtigt es nicht, weil dies erschöpfend durch Lehmann erfolgt ist; vgl. Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, bes. S. 68-71.

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wird erst mit Szondi eine kategorische Unterscheidung zwischen der Tragödie (als deren theoretischen Begründer er Aristoteles ansetzt) und dem Tragischen (das er durch Schelling fundiert sieht) durchgesetzt,3 auch wenn diese Differenzierung nicht immer durchgehalten wurde und wird. Das liegt zuvörderst daran, dass zur Erörterung der Frage nach dem Tragischen immer wieder auf Tragödien zurückgegriffen wird, obwohl dies nicht zwingend ist, wenn man das Tragische als eine philosophische Kategorie begreift. Wenn aber das Verständnis, was eine Tragödie ist, nur historisch beantwortet werden kann (analog zur Frage, was ein Drama ist) und wenn die Frage nach dem Tragischen unter Berücksichtigung von Tragödien erfolgt, muss diese Frage ebenfalls historisch beantwortet werden. Daher kann es kein letztgültiges Verständnis des Tragischen geben, weswegen Szondi sich bewusst für eine Annäherung mit Hilfe von einzelnen Interpretationen entscheidet. Er fragt nach dem „Tragischen im entsprechenden Denkgefüge“.4 Daher geht er zweifach vor, einmal untersucht er die Philosophie des Tragischen bei Schelling, Hölderlin, Hegel, Solger, Goethe, Schopenhauer, Vischer, Kierkegaard, Hebbel, Nietzsche, Simmel und Scheler. Im Anschluss analysiert er die Geschichtsphilosophie der Tragödie und des Tragischen bei Sophokles, Calderón, Shakespeare, Gryphius, Racine, Schiller, Kleist und Büchner. Dadurch gelingt es ihm, das Tragische in der Literatur vor dessen philosophischer Fundierung aufzuweisen und unter Berücksichtigung Benjamins ein geschichtsphilosophisches Konzept für die Tragödie zu entwickeln: Obwohl Benjamin auf den generellen Begriff des Tragischen verzichtet, führt der Weg, den er einschlägt, nicht zu Aristoteles zurück. Denn an die Stelle der Philosophie des Tragischen tritt nicht die Poetik, sondern die Geschichtsphilosophie der Tragödie. Diese ist Philosophie, weil sie die Idee und nicht das Formgesetz der tragischen Dichtung erkennen will, aber sie weigert sich, die Idee der Tragödie in einem Tragischen gleichsam zu erblicken, das an keine geschichtliche Lage gebunden wäre, noch auch notwendig an die Form der Tragödie, an Kunst überhaupt.

5

Die vorliegende Studie weicht angesichts ihrer grundlegenden Fragestellung von diesem Vorgehen ab. Sie hat die Formfrage gestellt und sie dahingehend zu be-

3

Das zeigt beispielsweise der Aufbau von Bernhard Greiner: Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges. Grundlagen und Interpretationen. Stuttgart 2012.

4

Szondi: Versuch über das Tragische, S. 153.

5

Ebd., S. 201.

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antworten versucht, dass ein Formpluralismus beschrieben wurde, der episierende Dramatik ebenso kennt wie handlungsorientierte, dialogische. Im formalen Spektrum verhältnismäßig neu erscheint die Ich-Dramatik, die mal mittels Äußerungen des dramaturgischen, mal des dramatischen Autors Rückschlüsse auf die Biographie oder die Intention des empirischen Autors nahelegt und dabei mit der Abwesenheit des Dramatikers im Drama bricht. Wir haben zudem gezeigt, dass innerhalb dieses Formspektrums zentrale Wirkungskategorien von Dramatik nicht eindeutig an bestimmte Formen gebunden sind. Stattdessen hat sich gezeigt, dass eine Kategorie wie das Mitleid, das seit Lessings AristotelesRezeption entschieden seinen Ort im Trauerspiel und dessen Nachfolgern gefunden hat, auch punktuell in der episierenden Dramatik anzutreffen ist, die mit Brecht an sich angetreten war, um dem Mitleid eine Absage zu erteilen. Deswegen heißt es abschließend zu fragen, wie sich das Tragische in der zeitgenössischen Dramatik artikuliert, da die Gegenwartsdramatik nicht generell darum bemüht scheint, die Tragödie zu aktualisieren, wohl aber sich zum Tragischen verhält. Damit wiederum setzen die folgenden Überlegungen Benjamins6 und Szondis Reflexionen fort, weil sie nicht nach konkreten tragischen Formen, konkreten zeitgenössischen Tragödien, fragen, sondern danach, welche Konzepte des Tragischen der Gegenwartsdramatik zugrunde liegen. Dass sich ein solcher Zusammenhang bis in die Gegenwart nicht erübrigt hat und weiterhin angenommen werden kann, bestätigt bereits George Steiner mit seiner 1984 erstmals publizierten Studie Die Antigonen, in der er die Bedeutung der sophokleischen Antigone für die Philosophie und für die Dramatik von der Antike bis in die Gegenwart nachweist.7 Im Hinblick auf die hier zentralen Fragen ist Steiners Arbeit noch in anderer Hinsicht einschlägig. In ihrem dritten Teil, in dem die Tragödie einer Relektüre unterzogen wird, klärt er jenseits von Formfragen inhaltlich, was die Tragödie des Sophokles auszeichnet: Nur einem einzigen literarischen Text war es, glaube ich, gegeben, alle Hauptkonstanten des Konflikts in der menschlichen Existenz auszudrücken. Diese Konstanten sind fünffach: die Konfrontation zwischen Männern und Frauen; zwischen Alter und Jugend; zwischen Gesellschaft und Individuum; zwischen Lebenden und Toten; zwischen Menschen und Gott/Göttern. Die Konflikte, die aus diesen fünf Arten der Konfrontation hervorge-

6

Vgl. dazu auch Achim Geisenhanslüke: Trauer-Spiele. Walter Benjamin und das europäische Barockdrama. Paderborn 2016.

7

George Steiner: Die Antigonen. Geschichte und Gegenwart eines Mythos. München 1990; zur Aktualität der antiken Tragödie vgl. auch Judet de La Combe: Les tragédies grecques sont-elles tragiques?, S. 57-76.

258 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI hen, sind nicht überbrückbar. [...] Selbstdefinition und die agonistische Erkenntnis von „Andersheit“ (von l’autre) über die bedrohten Grenzen des Selbst hinweg lassen sich nicht voneinander trennen.

8

Auch wenn man Steiners Exklusivitätspostulat nicht teilen muss, dürften seine Hinweise hilfreich sein, um sich zu vergegenwärtigen, was im Kern die Tragödie ausmacht: Es sind fundamentale, anthropologische Konflikte, die potentielle Orte sein können, um eine Idee des Tragischen zu artikulieren. An diesem Punkt erklärt sich zugleich, warum Steiner als Theoretiker des Tragischen angeführt werden muss, obwohl niemand anders als er selbst in der Nachfolge Nietzsches 1961 den Tod der Tragödie diagnostiziert hatte.9 Steiner untersucht in dieser Studie primär das Ende einer Form, ohne dabei geschichtsphilosophische Implikationen vorzunehmen.10 Im Unterschied dazu widmet er sich in Die Antigonen dem, was man mit Szondi ‚Idee‘ nennen kann. Das ist für die vorliegenden Überlegungen ferner entscheidend, weil Steiner in den Antigonen sein Beharren mit dem anhaltenden Optimismus verbindet, etwas verstehen zu können. Er weist gegen Ende der Antigonen darauf hin, wie fragwürdig es bleibt, dies mittels philologischer Lektüren zu erreichen.11 Gleichzeitig besteht er auf der Notwendigkeit eines philologisch fundierten, hermeneutischen Lesens und bahnt damit der Auseinandersetzung mit dem Tragischen den Weg. Er betont, wie sehr eine Interpretation immer provisorisch ist. Nichtsdestotrotz hebt er hervor, wie sehr diese Tätigkeit in gesellschaftlicher Hinsicht wesentlich ist, weil insbesondere das Drama ein „stilisierter Ausdruck“ einer „Präferenz“12 ist und deswegen in ihm menschliches Handeln überprüft wird. Damit aktualisiert er das politische Potential jeder tragischen Form von Dramatik.

8

Steiner: Die Antigonen, S. 287f.

9

George Steiner: Der Tod der Tragödie. Frankfurt/M. 1981; vgl. dazu Greiner: Die Tragödie, S. 801-823.

10 Wie problematisch das ist, zeigt sich, wenn nach dem Tragischen in konkreten antiken Tragödien gefragt wird: Joachim Dalfen: Gibt es Tragik in den Tragödien des Sophokles?, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft NF 16 (1975), S. 9-39. 11 Vgl. Steiner: Antigonen, S. 360-374; vgl. dazu auch Jean Bollack: Das Werk in seiner Zeit, in: ders.: Sophokles. König Ödipus. Essays. Frankfurt/M., Leipzig 1994, S. 159193. 12 Steiner: Antigonen, S. 371.

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Im Unterschied zu Steiner geht Christoph Menke über die ‚Präferenz‘ bzw. die ‚Entscheidung‘ (politisch im Schmittschen Sinne gesprochen)13 als wesentlicher tragischer Kategorie hinaus, indem er ergänzend zur Frage nach dem Handeln im Konflikt das Moment des Schicksals treten lässt, das seinerseits zur tragischen Ironie führt – zu einer Folge des Handelns, die das tragische Subjekt just durch sein Handeln zu vermeiden versucht: „Tragisch, nämlich (tragisch-)ironisch ist ein Schicksal, das im, ja durch den Versuch, das Unheil abzuwehren, es hervorbringt.“14 Für Menke ist die Tragödie durch eine strukturelle Selbstreflexion gekennzeichnet, weil sie durch die schicksalhafte Hervorbringung des Unheils auf sich selbst Bezug nimmt und sich zu sich selbst verhält. Dadurch wiederum tritt die Tragödie zu sich in Distanz und erlaubt „Betrachtung“.15 Nun könnte angesichts dieser Argumentation vermutet werden, Menke ginge es um nicht weniger als den Nachweis, dass die Tragödie an sich antimimetisch, um nicht zu sagen antiaristotelisch ist. Derart einfach verhält es sich selbstverständlich nicht. Menke sieht im Moment der (Selbst-)Reflexion den Ausgangspunkt für „ein eigentümliches Vergnügen“,16 das unter der Voraussetzung funktioniert, dass die Rezipienten die rezipierten Handlungen als Fiktion, als Spiel anerkennen. Das Verhältnis zwischen Spiel und ‚Betrachtung‘ begreift er als agonal; es provoziere die „nachmoderne Gestalt der Tragödie – einer Tragödie des Spiels“.17 Diese These setzt voraus, dass mit Steiner der Tod der Tragödie akzeptiert wird.18 Menke überprüft bezeichnenderweise Steiners Argumentation nicht. Er ersetzt die ‚alte‘ Tragödie durch die ,Tragödie des Spiels‘. Dabei lässt er den fundamentalen Unterschied zwischen seiner Argumentation und der Steiners unbeachtet: Für diesen ist die Tragödie als Form (anders als das Tragische) verloren. Menke dagegen betrachtet die Tragödie des Spiels als Wiederkehr der „Tragödie in veränderter Gestalt“.19 An diesem Punkt wird offenbar, warum die verschiedenen Studien zur Tragödie und dem Tragischen derart problematisch zueinander stehen: Während

13 Vgl. Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 7. Aufl., 5. Nachdr. der Ausgabe von 1963. Berlin 2002. 14 Vgl. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 23; vgl. dazu mit anderer Akzentsetzung und mit Blick auf die antiken Tragödien zu einem anderen Ergebnis kommend Judet de La Combe: Les tragédies grecques sont-elles tragiques?, S. 177-180. 15 Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 65. 16 Ebd., S. 106. 17 Ebd., S. 109. 18 Vgl. ebd., S. 135. 19 Ebd.

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Szondi sowohl die Form als auch den Inhalt im historischen Wandel sieht und vielmehr nach der hinter diesem stehenden Idee fragt, begreift Steiner die Form als stabil und den Inhalt als historisch wandelbar.20 Menke seinerseits geht faktisch zwar von einem Formwandel aus, fasst aber den Inhalt stabil, indem er sich bei der Frage nach dem Tragischen auf die Ironie des Schicksals konzentriert. Damit reduziert er den Konflikt der Tragödie auf ein handlungsmotivierendes Moment, dem jenseits dessen keine Notwendigkeit eigen ist. Die Möglichkeit fundamentaler Erfahrung, wie sie Steiner beobachtet, wird ausgeschlossen bzw. auf die urteilende Instanz verschoben;21 für Drama und Theater folgt aus Menkes Argumentation in letzter Konsequenz: „Metatheater, Meta-tragödie“.22 Das bedeutet allerdings nicht, wie Menkes Überlegungen zu Becketts Endspiel, Müllers Philoktet und schließlich Strauß’ Ithaka zeigen, dass der Konflikt an sich obsolet wird, sondern dass die dem Tragischen inhärente Reflexivität von normativen Voraussetzungen abhängig ist: „Tragische Konflikte gibt es nur, wo es normative Orientierung gibt; tragische Konflikte brechen in der Welt des Normativen auf. Und zwar nicht nur in ihrer heroisch-plastischen, sondern auch in ihrer modernen reflexiven Gestalt.“23 Menke wendet sich mit dieser Überlegung zugleich gegen Schmitts transzendentales Tragik-Verständnis, das er an ein Ende gekommen sieht.24 Diese Argumentation greift unter der angesprochenen Voraussetzung, dass das ironische Spiel mit dem Tragischen in der Lage ist, das Ende des Normativen zu behaupten. Menke versucht damit, das Pathos zu verabschieden bzw. es durch die Ironie im Tragischen zu ersetzen. Er akzentuiert das Tragische neu, aktualisiert es unter postmodernen Voraussetzungen. So verwundert es nicht, dass seine Überlegungen vielfach Bezugsgröße verschiedener Studien zum postmodernen Drama sind, da er Ironie und Selbstreferentialität zu den entscheidenden Kategorien für das Tragische unter postmodernen Vorzeichen macht.25

20 Zum Verhältnis von Szondi und Steiner vgl. auch Judet de La Combe: Les tragédies grecques sont-elles tragiques?, S. 31f. 21 Vgl. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 151. 22 Ebd., S. 152. 23 Ebd., S. 211. 24 Vgl. ebd., S. 212-214; zum Verhältnis von Metaphysik und Tragödie vgl. Judet de La Combe: Les tragédies grecques sont-elles tragiques?, S. 34-45. 25 Ähnlich verfährt Wolfram Ette: Kritik der Tragödie. Über dramatische Entschleunigung. Weilerswist 2011. Ette geht von der „Selbstkritik“ der Tragödie aus und untersucht Tragödien von Aischylos bis Müller.

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Ironischerweise lag der entscheidende Einspruch gegen die postmoderne Verabsolutierung der Ironie schon vor, bevor Menkes Buch erschien. Bereits 1999 publizierte Sebastian Kleinschmidt in Sinn und Form einen Widerspruch gegen die Pathosallergie und Ironiekonjunktur der Postmoderne.26 Kleinschmidt versucht unter Rückgriff auf Hegel nicht weniger als das Pathos in der zeitgenössischen Ästhetik neu zu begründen.27 Er sieht in der Pathosallergie einen ängstlichen Reflex: „Aus Angst vor Kitsch hat man die Schönheit tabuisiert, aus Angst vor Pathetik das Pathos. Daß damit die Kunst amputiert wird, ihre Ausdruckskraft und ihr Weltbezug verarmen, will keiner wahrhaben.“28 Das hat laut Kleinschmidt für die Ironie erhebliche Konsequenzen: Mit so abqualifiziertem Pathos hat der ästhetische Gegenwert, die Ironie, leichtes Spiel. Nur fragt sich, ob von lächerlich gemachten Gegnern noch Kraft übergeht auf den, der herausfordert. Das aber wäre doch der Sinn des Kampfes. Sonst haben wir am Ende den 29

traurigen Fall, daß einem verbrauchten Pathos eine ermattete Ironie gegenübersteht.

Bemerkenswert ist nicht nur das hier von ihm postulierte notwendige Gleichgewicht zwischen Pathos und Ironie,30 sondern ebenso die folgende Argumentation. Kleinschmidt bezieht sich nicht ausschließlich auf Hegel, sondern geht zurück auf die historischen Grundlagen der Pathoswertschätzung in Antike und Neuzeit. Er plädiert für die Macht des Pathos, das durch seine Direkt- und Konkretheit in der Lage sei, „Schutzwälle der Distanz“31 aufzubrechen – anders als die Ironie, die die Distanz im Gegensatz zum Pathos verschärfe. Als Ursache für die Ironiekonjunktur diagnostiziert Kleinschmidt eine „Schmerzflucht“,32 deren

26 Hier zit. nach Sebastian Kleinschmidt: Pathosallergie und Ironiekonjunktur, in: ders.: Gegenüberglück. Essays. Berlin 2008, S. 159-175. Kleinschmidts Überlegungen sind bedauerlicherweise weder von Menke noch von Greiner berücksichtigt worden. Zur Geschichte des Pathos in der deutschen Tragödie vgl. Franziska Ehinger: Kritik und Reflexion. Pathos in der deutschen Tragödie. Würzburg 2009. 27 Zur Geschichte des Pathos und seiner kategorialen Stellung Rainer Dachselt: Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik. Heidelberg 2003; Cornelia Zumbusch (Hg.): Pathos. Zur Geschichte einer problematischen Kategorie. Berlin 2010. 28 Kleinschmidt: Pathosallergie und Ironiekonjunktur, S. 160. 29 Ebd., S. 161. 30 Kleinschmidt nennt sie „Gegenmächte“, ebd., S. 169. 31 Ebd., S. 164. 32 Ebd., S. 173.

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Folge faktisch nicht weniger als Empathieverlust sei. Wo Ironie herrsche, fehle letztendlich Liebesfähigkeit, Mitleid und die Fähigkeit, Gemeinschaft zu erfahren.33 Derart verstanden führt die von Menke diagnostizierte Herrschaft der Ironie nicht zu einer neuen Form des Tragischen, sondern zu seiner Abschaffung. Zugleich aber, und das dürfte für die Theaterlandschaft viel verheerender sein, würde die Herrschaft der Ironie auf der Bühne die Emotionen abschaffen, die für die abendländische Theaterkultur von den Anfängen bis heute maßgeblich sind – eben Liebe, Hass, Mitleid und die Fähigkeit, Gemeinschaft oder Feindschaft zu erfahren. Die Rückkehr der dialogischen Dramatik mit ihrer Wertschätzung der Figuren repräsentiert all diese Gefühle und Bedürfnisse. Zwar sind ihre Figuren selbst vielfach abgrundtief ironisch, wenn nicht gar zynisch. Gleichwohl führen gerade ihre Abgründe die Grenzen der Ironiekonjunktur und des Empathieverlustes vor. Das dürfte ein weiterer Grund für die Wertschätzung der dialog- und figurenorientierten Dramatik in der Gegenwart sein. So wie Handlung und Dialog von der Postdramatik vielfach abgetan wurden und zum Teil weiterhin werden, so wird eine neue Auseinandersetzung mit der Tragödie und dem Tragischen fernab der Ironie als konservative Revision begriffen. Das wird außerhalb der deutschen Wissenschaftslandschaft weit klarer gesehen als hierzulande.34 Wie wohlfeil eine solche ablehnende Argumentation an sich ist, führt Kleinschmidts Argumentation vor. Selbstredend ist sie in dem Sinne konservativ, dass sie nach den Ursprüngen und Begründungen von Pathos fragt. Doch versucht er mit seinem Bemühen, das Pathos zu rehabilitieren, nicht weniger als eine politische Begründung und Neusituierung von Kunst in der Gesellschaft. Kleinschmidts Argumentation bestätigt, wie elementar Szondis dialektische Historisierung bleibt. Kleinschmidts Wertschätzung des Pathos hat ein Jahrzehnt später – ohne ihn konkret zu nennen – Karl Heinz Bohrer bestätigt. Bohrer versucht jenseits der philosophischen Erörterung des Tragischen und jenseits der philologischhistorischen Darlegung dessen, was eine Tragödie ist, einen dritten Weg zu wählen, indem er den „ästhetisch-epiphanen Impuls“35 des Tragischen freizulegen

33 Vgl. ebd., S. 173-175. 34 Wie einseitig die Ablehnung des Pathos und des Tragischen zumal in der Folge des zweiten Weltkriegs war, wird bezeichnenderweise vor allem im Ausland gesehen; vgl. Judet de La Combe: Les tragédies grecques sont-elles tragiques?, S. 16-20. 35 Karl Heinz Bohrer: Das Tragische. Erscheinung, Pathos, Klage. München 2009, S. 11; dazu aus theaterwissenschaftlicher Sicht überzeugend Lehmann: Tragödie und dramatisches Theater, S. 80-83.

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versucht. Anders als Steiner und gegen Christoph Menke betont Bohrer das Pathos, um mit ihm das Tragische zu fassen: Das Tragische lebt hier wie dort poetisch von Intensitätsrhetorik, die nicht gattungsgebunden ist. Daß dabei ein Prozeß der Aufklärung stattfinde – schon in der antiken Tragödie, um so mehr in der modernen –, gehört zu den Mißverständnissen nicht nur der deutschen philosophischen Lektüre.

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Wesentliche Differenz zwischen Kleinschmidt und Bohrer ist die Konsequenz, die sich je aus ihrer Wertschätzung des Pathos ergibt: Während Kleinschmidt primär für die Überwindung der durch die Ironie gewonnenen Distanz plädiert, geht es Bohrer um eine ästhetische Unmittelbarkeit, die an sich nicht weiter politisch wirkend verankert sein muss. Dementsprechend trennt er das Tragische nicht nur von der Tragödie, sondern von dramatischen Formen insgesamt. In dieser Hinsicht bestätigen sowohl Menke als auch Bohrer letztlich nur das, was Szondi mit seiner auf Hegel aufbauenden systematischen Trennung zwischen Tragischem und Tragödie im Versuch über das Tragische vollzogen hatte. Pointiert formuliert: Menke sieht im Tragischen eine Form der gesellschaftliche Normen reflektierenden Ironie, deren Erscheinung er in der jüngeren Dramatik untersucht. Für Bohrer ist das Tragische eine Wirkungsform des Pathos, das er bei Baudelaire und in den griechischen Tragödien findet. Die Frage, die sich angesichts dieser unterschiedlichen Positionen stellt, lautet: Wie kann aus einem derart polyphonen Äußerungsensemble zur Tragödie und dem Tragischen tatsächlich ein konstruktives Moment für die gegenwärtige Literaturforschung gewonnen werden? Eine Antwort auf diese Frage kann, das dürfte angesichts der skizzierten Positionen klar sein, nicht ohne weiteres auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen. Trotzdem sei sie hier abschließend versucht – und zwar in Form von drei Aussagen, von denen zwei vermutlich wenig kontrovers sein dürften, eine aber ihrerseits weitere Überlegungen (und in Zukunft auch Kontroversen) nach sich ziehen mag. 1. Nicht nur angesichts des herrschenden Sprachgebrauchs, sondern wegen der skizzierten Forschungen ist es angebracht, ‚Tragödie‘ ausschließlich für dramatische Dichtungen zu reservieren, die die aristotelischen Formanforderungen weitgehend erfüllen. Dementsprechend existiert in der zeitgenössischen Dramatik, da sie vielfach die Episierung variiert und umformt, sie teils mittels Handlung und Dialog künstlerisch angreift, teils neu kombiniert und teils weiter-

36 Bohrer: Das Tragische, S. 16.

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entwickelt, kein substantielles Interesse an einer Neubegründung der Tragödie. Das schließt, wie wir sehen werden, jedoch punktuelle literarische Auseinandersetzung mit Tragödie und Tragischem nicht aus – wie auch die Gegenwartsbühne weiterhin die Auseinandersetzung mit der Tragödie sucht.37 Insbesondere Steiner legt die Vermutung nahe, dass eine ‚Renaissance der Tragödie‘ ästhetisch unbefriedigend ausfallen muss – es sei denn, man ersetzt die Tragödie kategorial fundamental, wie es Menke getan hat, und gewinnt dadurch eine neue Form, die man mit einem alten Label versieht. Das mag literaturpolitisch reizvoll sein, literaturtheoretisch ist es das nicht – allein schon, weil Missverständnisse vorprogrammiert sind. Daraus folgt im Umkehrschluss freilich nicht, dass Steiners These plausibel ist. Die vorliegenden Überlegungen dürften veranschaulicht haben, wie zweifelhaft sie ist. 2. Der beschworene Tod der Tragödie hat nicht dazu geführt, dass tragische Momente aus der Literatur abgetreten sind. Da diese vielfach in der Literatur, insbesondere in der Dramatik, zu finden sind, empfiehlt es sich – anders als Szondi dies getan hat – nicht, den Begriff des Tragischen allein der Philosophie zu überlassen: Das Tragische hat nicht nur einen literarischen Ursprung, es ist und bleibt eine literarische Erscheinung und für die Ästhetik zentral, wie Kleinschmidt und Greiner betonen. Bohrers bevorzugte Untersuchungsgegenstände (Baudelaire und die antiken Tragödien) sind letztlich primär seinem Interesse geschuldet, aber in keiner Weise einzigartig: Auf ihm aufbauend, ließe sich eine Vielzahl von literarischen Texten im Hinblick auf ihr Tragisches untersuchen. 3. Problematisch bleibt die Differenz zwischen Kleinschmidt und Bohrer im Hinblick auf die Frage nach dem gesellschaftlichen Stellenwert der tragischen Erfahrung. Diese Frage ist, das wissen beide, bereits von Benjamin im Trauerspiel-Buch erörtert worden: Der Wahrheitsgehalt dieses Ganzen, der niemals in dem abgezogenen Lehrsatz, geschweige im moralischen, sondern allein in der kritischen, kommentierten Entfaltung des Werkes selbst begegnet, schließt gerade moralische Verweise nur höchst vermittelt ein. Wo sie als Pointe der Untersuchung sich vordrängen, wie es die Tragödienkritik des deutschen Idealismus kennzeichnet [...], da hat das Denken von der sehr viel edleren Mühe, den geschichtsphilosophischen Standort des Werkes oder einer Form zu erkunden, um den billi-

37 Vgl. Johanna Canaris: Mythos Tragödie. Zur Aktualität und Geschichte einer theatralen Wirkungsweise. Bielefeld 2012.

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gen Preis einer Reflexion sich losgekauft, die uneigentlich und darum nichtssagender ist als jede noch so philiströse sittliche Doktrin.

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Liest man nach diesen Überlegungen Benjamins die Bohrers erneut, wird rasch offenbar, warum seine Position letztlich eine Verknappung des Problems des Tragischen ist. Faktisch reduziert er die Möglichkeiten einer philologischen Auseinandersetzung mit dem Tragischen auf drei: Wie wir gesehen haben, nennt er a. die historisch-rekonstruktive Annäherung, dann b. die von ihm favorisierte ästhetische Annäherung und außerdem c. die moralisch-philosophische, die er kategorisch ablehnt. Benjamin hingegen kennt faktisch vier Modi der Annäherung: a. wie Bohrer die historisch-rekonstruktive, die er ebenfalls ablehnt; b. die ästhetizistische Bohrers, die er offenbar derart eindeutig ablehnt, dass er sie faktisch totschweigt; sodann kennt er zwei philosophische: c. die moralische und d. die geschichtsphilosophische.39 An diesem Punkt setzt Szondi ein und motiviert seine Überlegungen. Wir müssen uns an dieser Stelle nicht mit der Frage aufhalten, welche der vier potentiellen Zugriffsmöglichkeiten Kleinschmidt für sich reklamieren würde. Sein gegen den ironischen Zeitgeist gewandter Essay mit seiner Wertschätzung des Mitleids legt die Vermutung nahe, dass er ein Vertreter der Position c. ist. Dass es nach Benjamin zwei philosophische Möglichkeiten gibt, sich dem Tragischen zu nähern, liegt mutmaßlich daran, dass es nach ihm einen sprachlichen und damit an sich missverständlichen Kern hat: Tragik ist eine Vorstufe der Prophetie. Sie ist ein Sachverhalt, der nur im Sprachlichen sich findet: tragisch ist das Wort und ist das Schweigen der Vorzeit, in denen die propheti-

38 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 86; vgl. dazu auch Bettine Menke: Das Trauerspiel-Buch. Der Souverän – das Trauerspiel – Konstellationen – Ruinen. Bielefeld 2010. 39 Es kann hier nicht das Ziel sein, eine systematische Ausdifferenzierung des Tragischen zu liefern. Es dürfte deutlich geworden sein, dass neben eine literaturwissenschaftliche Ausdifferenzierung eine philosophische treten müsste. Inwieweit das Tragische in anderen wissenschaftlichen Disziplinen ausdifferenziert werden könnte, bliebe ferner zu überprüfen (etwa dort, wo Dramatik auf Theologie trifft; vgl. dazu Kai Bremer: Bibel und Tragödie: das Beispiel Jeftah, in: Euphorion 103 (2009), S. 293-326). Ergänzend dazu ist zu überlegen, inwieweit eine historische Dimension einzuziehen ist, wie es schon Kierkegaard für das Tragische in der Philosophie vorgeschlagen hat: vgl. Sören Kierkegaard: Entweder – Oder. Teil I und II. Hg. v. Hermann Diem, Walter Rest. München 2005, S. 167f.

266 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI sche Stimme sich versucht, Leiden und Tod, wo sie diese Stimme erlösen, niemals ein Schicksal im pragmatischen Gehalt seiner Verwicklung.

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Eben in dieser Sprachlichkeit hat das Tragische in die Gegenwartsdramatik Eingang gefunden, wie die Stücke von Müller, Strauß, Jelinek oder Kane zeigen.41 Wenn dies einhergeht mit einer Diskussion formaler Kategorien der Tragödie wie bei Blasted, mag das einen zusätzlichen Reiz eines Stücks ausmachen. Doch bleibt das Pathos für das Tragische zentral. Es ist nicht etwa von Ironie frei, sondern stellt sich dieser, um sie zu überwinden, da der Konflikt nicht als distanzierendes Spiel mit der Referenz realisiert wird, sondern als erschütterndes wie vergegenwärtigendes Spiel mit der Referenz – und damit als Reaktualisierung der Wirkungsabsicht, die der Tragödie von Beginn an eigen war.42 Beispielhaft lässt sich das an Tom Peuckerts Drama 2009 darlegen,43 das 2006 uraufgeführt wurde.44 Neben einem ‚Präsidenten‘ treten mit ‚Antigone‘, ‚Hamlet‘ und ‚Raskolnikov‘ drei Veteranen der literarischen Schuld- und Sühnegeschichtsschreibung auf. Handlungshintergrund ist die Folterandrohung gegen den Entführer des Frankfurter Bankierssohns Jakob von Metzler durch den stellvertretenden Polizeipräsidenten Daschner. Der ‚Fall Daschner‘ wurde seinerzeit wiederholt als tragischer Konflikt zwischen Moral und Gesetz begriffen, da Daschner glaubhaft erklären konnte, dass Hoffnung bestand, durch Folterandrohung gegen den Entführer das Leben des entführten Jungen zu retten. In 2009 ist der Präsident hingegen frei von jeder Tragik und Zerrissenheit: „Ich diene nicht der Gesellschaft, indem ich den allgemeinen Zweifel immer weiter vergrößere.“ Er lebt in einer nahen Zukunft, die sich mit der Folter als Ermittlungstechnik arrangiert hat. Der entführte Junge ist frei. Das spielt dem Täter, Raskolnikov, zu. Ein knappes Schuldbekenntnis („Natürlich war das alles ein Fehler.“) und umgehend hat er ausgesorgt: Die Buchrechte zu ‚seiner‘ Ge-

40 Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, S. 99. 41 Vgl. neben den Hinweisen im vorliegenden Buch und bei Menke auch Greiner: Die Tragödie, S. 772-798 sowie S. 823-834. 42 Vgl. Greiner: Die Tragödie, S. 16-18; vgl. auch Ekkehart Krippendorff: Abgeschaltete Gefühle, in: Der Freitag 22 (1.6.2011), S. 15. 43 Tom Peuckert: 2009, abgedruckt im Programmheft des Theaters Bielefeld. Spielzeit 2005/06. Der Stückabdruck erfolgte auf der Rückseite des ausklappbaren Programmhefts, so dass keine Paginierung existiert. Die folgenden Zitate sind dementsprechend nicht mit Seitenzahl nachgewiesen. 44 Vgl. Kai Bremer: Folter der Kuscheltiere. Tom Peuckert 2009, in: Theater heute 05/2006, S. 32f.

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schichte hat er vergeben, ihre Verfilmung ist in Aussicht gestellt. Auch wenn die Entführung gescheitert ist, ist er der eigentliche Gewinner. Ihm gegenübersteht der Anwalt Hamlet, ein um Gerechtigkeit bemühter Idealist. Seine Geschichte ist frei von Tragik, nur Verzweiflung wird angedeutet. Zuletzt gibt er sich auf und erholt sich frustriert beim Fitboxen und in der Sauna: Fitboxen. Dreimal die Woche. Raus aus der Kanzlei, rein ins Studio. Da kenne ich keine Termine. Ich bin ein bisschen süchtig. [...] Das Gefühl ist unglaublich. Wahnsinn! Du bist clean. Absolut clean.

Im Unterschied zu ihm kennt die junge Ärztin Antigone einen Konflikt. Sie hat den gefolterten Täter untersucht. Für sie ist die Frage, ob sie die Folter aktenkundig machen und dadurch den Retter des jugendlichen Opfers anschwärzen soll oder nicht, zumindest eine kleine Tragödie. Letztlich aber will sie keine Folterindizien an Raskolnikovs Körper gesehen haben, weil der Präsident ihr durch seine Beziehungen die Karrieretür weit aufzustoßen vermag. Peuckert forciert dadurch den Handlungsverlauf und zielt darauf, die evozierte Erwartung von Tragik auf banale Mittelmäßigkeit sarkastisch herabzubrechen. Peuckert nutzt nicht etwa einen aktuellen gesellschaftlichen Konflikt, um diesen dramatisch nachzuahmen und schlicht die Aktualität des Tragischen zu behaupten. Vielmehr führt er mittels Hamlet und Antigone das Ausweichen vor dem Konflikt vor, einmal in Gestalt einer Flucht ins Private, einmal in Gestalt opportunistischer Anpassung. Peuckert akzentuiert dies, indem er Antigone über ein Außerhalb oder Jenseits der Gegenwart nachdenken lässt: Ich träume von der Hölle. Unheimlich oft. Breitwand und Dolby surround. Zum Beispiel die Geschichte, wo ich in einem Krater feststecke. Ein erloschener Vulkan oder so. Es gibt nur eine Farbe da unten: grau. Grauestes Grau. Alles ist absolut still. Kein Wind, keine Tierlaute. In der Mitte des Kraters Ruinen. Sieht irgendwie antik aus. Ganz oben, über der Mündung, der Himmel. Er hat eine Farbe, die ich nicht erkennen kann. Ich bin allein. Ich gehe ein paar Schritte den Hang hinauf. Der Boden unter meinen Füßen ist weich, wie Asche. Bevor ich den Kraterrand erreicht habe, kommt die Asche ins Rutschen. Ich stürze, kann mich nicht festhalten, lande wieder da, wo ich vorher gewesen bin.

268 | P OSTSKRIPTUM P ETER S ZONDI Ich versuche es sofort wieder – gleiches Ergebnis. Noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal. Plötzlich wird mir klar, ich werde nie wieder etwas anderes tun. Ich werde weder Hunger noch Durst spüren, nicht krank oder älter werden. Nie werde ich oben ankommen und eine andere Landschaft sehen können. Ich brülle, schreie, aber die Asche schluckt jeden Laut. Dann wache ich auf. Schweißnass. That’s it. Meine Hölle. Vom Paradies habe ich noch nie geträumt. Komisch. Was soll man sich da vorstellen? Wohlfühlmusik? Ayurvedische Düfte? Jemand gibt dir Wellness-Massagen? Blödsinn!

Der zunächst an die späte Prosa Heiner Müllers erinnernde Traumtext in der Mitte des Dramas formuliert durch seine Analogie zum Sisyphos-Mythos eine Absage an eine tragische Form der Schuld.45 Schließlich wird Sisyphos selbstverschuldet schuldig und nicht etwa unverschuldet. Gleichzeitig wird diese selbstverschuldete Schuld transzendiert, indem das Ich von seiner Körperlichkeit getrennt wird. Peuckerts Stück verhält sich damit moralisch, ohne es explizit zu machen. Es artikuliert ein Schuldbewusstsein und stellt das vermeintliche Fehlen tragischer Konflikte in der Realität der Figuren aus. Dem Alltag ist das Tragische abhandengekommen, nicht aber dem Menschen, wenn er jenseits seiner Alltäglichkeit nach einer Wahrheit fragt, die ihrerseits Voraussetzung für Empathie ist. Das Tragische ist in 2009 eine Ahnung, keine Gewissheit. Durch das intertextuelle Spiel mit tragischen Figuren der Literaturgeschichte wird eine Differenz zur Vergangenheit markiert. Sie entsteht zwar durch Ironisierung (etwa durch die Figur ‚Hamlet‘ in Peuckerts Drama). Zugleich erfolgt sie aber eben durch die Erinnerung an das im Traum Handlung gewordene Pathos als einem Leiden ohne Schmerz – jedoch durch Wiederholung und die Unmöglichkeit, sich beklagen zu können. Die von Menke wie Greiner berücksichtigte Dramatik ihrer Generation (Müller, Strauß) bildet nicht den Schlussakt des Tragischen. Sie entwickelt nur die Spielarten tragischer Dramatik weiter. Peuckert setzt das formal fort, der Aussage nach zeigt er sich durch den pathetischen Monolog Antigones ihnen gegenüber gleichwohl distanziert. Peuckerts 2009 oder Kanes Blasted als Tragödie zu begreifen – das würde aus verschiedenen Gründen nicht überzeugen; beide Dramen enden tragisch, aber nicht in der Katastrophe. Trotzdem belegen beide Stücke, dass das Tragische weiterhin eine Kategorie ist, die zentral in der Dramatik verortet ist. Fran-

45 Zum „metaphysischen Bedürfnis“ als Voraussetzung der „Tragödie als Schicksalsprozess“ vgl. Ette: Kritik der Tragödie, S. 15f.

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ziska Schößler sieht Ansätze der Tragödie nicht nur bei Kane, sondern auch bei Anja Hilling und Dea Loher.46 Sie zeigt damit, wie lebendig literaturgeschichtliche Prozesse sein können, auch wenn die jeweilige Gegenwart einmal meint, eine Entwicklung sei an ihr Ende gekommen. Wir hatten eingangs aus Szondis Statt eines Schlußwortes zitiert: Die Geschichte der modernen Dramatik hat keinen letzten Akt, noch ist kein Vorhang gefallen. So ist, womit hier vorläufig geschlossen wird, in keiner Weise als Abschluß zu nehmen. Für ein Fazit ist die Zeit so wenig gekommen wie für das Aufstellen von neuen Normen. Vorzuschreiben, was modernes Drama zu sein hat, steht seiner Theorie ohnehin nicht zu.

47

Die vorliegenden Ausführungen haben einige von Szondis Interpretationen kritisiert und relativiert. Indem sie von Szondi ausgegangen sind, konnten sie die Theorie des modernen Dramas vor allem aber bestätigen, indem versucht wurde zu zeigen, wie sich die Dramatik seit Mitte des 20. Jahrhunderts weiter ausdifferenziert hat. Da dies vielfach in punktueller, mal affirmativer, mal polemischer Auseinandersetzung mit den Vorgängern geschieht, muss der Versuch, die Vielfalt der dramatischen Formen letztgültig zu typologisieren, scheitern. Was hingegen gezeigt werden kann, sind die Dynamiken, die die dramatische Formenwelt prägen. Die Dramatik seit 1956 kennt Ausdifferenzierungen und Weiterentwicklungen (zu denken ist an die Episierung eines Müllers oder eines Katers oder an die neueren Spielarten der Dürrenmattschen Komödie bei Rinke und Bärfuss), sie kennt aber auch eine wesentliche Innovation in Gestalt der IchDramatik. Doch entscheidend ist nicht, ob es sich um Neues oder Variiertes handelt. In dem Moment, da formale Dynamiken überzeugen, finden sie Nachahmung und Eingang in andere Teile der Formenwelt, wo sie nur wenige Jahre zuvor nicht zu erwarten gewesen wären. Ästhetische Puristen mag das verstören und dazu verleiten, den Tod des Dramas zu verkünden, weil es nicht mehr die Gestalt zur Zeit Lessings hat. Alle anderen aber werden die gegenwärtige, lebendige Formwelt wahrnehmen und sich mit Szondi fragen, nicht nur ob, sondern vor allem wie „sie in der Zukunft Folgen haben“48 wird. Der nächste Akt in der Geschichte der Dramatik wird uns darauf eine Antwort geben.

46 Vgl. Schößler: Wiederholung, Kollektivierung und Epik. 47 Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 147. 48 Ebd.

VII. Literaturverzeichnis

1.

D RAMEN

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Theater- und Tanzwissenschaft Gabriele Klein (Hg.)

Choreografischer Baukasten Das Buch 2015, 280 S., kart., zahlr. Abb. 29,99 � (DE), 978-3-8376-3186-9 E-Book PDF: 26,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3186-3

Susanne Quinten, Stephanie Schroedter (Hg.)

Tanzpraxis in der Forschung — Tanz als Forschungspraxis Choreographie, Improvisation, Exploration. Jahrbuch TanzForschung 2016 2016, 248 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 29,99 � (DE), 978-3-8376-3602-4 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3602-8

Marion Leuthner

Performance als Lebensform Zur Verbindung von Theorie und Praxis in der Performance-Kunst. Linda Montano, Genesis P-Orridge und Stelarc 2016, 384 S., kart. 34,99 � (DE), 978-3-8376-3742-7 E-Book PDF: 34,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3742-1

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Theater- und Tanzwissenschaft Milena Cairo, Moritz Hannemann, Ulrike Haß, Judith Schäfer (Hg.)

Episteme des Theaters Aktuelle Kontexte von Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit (unter Mitarbeit von Sarah Wessels) 2016, 664 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 � (DE), 978-3-8376-3603-1 E-Book PDF: 39,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3603-5

Katharina Kelter, Timo Skrandies (Hg.)

Bewegungsmaterial Produktion und Materialität in Tanz und Performance 2016, 396 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 39,99 � (DE), 978-3-8376-3420-4 E-Book PDF: 39,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3420-8

Tania Meyer

Gegenstimmbildung Strategien rassismuskritischer Theaterarbeit 2016, 414 S., kart., zahlr. Abb. 39,99 � (DE), 978-3-8376-3520-1 E-Book PDF: 39,99 � (DE), ISBN 978-3-8394-3520-5

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