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German Pages 324 Year 2018
Bernadette Goldberger Populismus an der Macht
Bernadette Goldberger
Populismus an der Macht Symbolische Inszenierungen im argentinischen Kirchnerismus am Beispiel der Fußball-WM 2010
VELBRÜCK WISSENSCHAFT
Erste Auflage 2018 © Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2018 www.velbrueck-wissenschaft.de Printed in Germany ISBN 978-3-95832-146-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Fußball, das Populare und populistische Inszenierung . 1.2 Sedimentierung und artikulatorische Praxis. . . . . 1.3 Die kirchneristische WM-Inszenierung als Beispielfall populistischer Sedimentierungsprozesse . . . . . .
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I. Theorie und Methodologie 2. Populismus, Identität und kulturelle Inszenierung . . . 2.1 Populismus – eine erste Annäherung. . . . . . . . 2.2 Die zwei Dimensionen populistischer Politik: Bruch und Neueinschreibung . . . . . . . . . . 2.3 Populismus als Begehren nach »Fülle«? . . . . . . 2.4 Der duale Charakter des Populismus und seine Folgen . 2.5 Kulturelle Topoi und populistische Neueinschreibung . 2.6 Soziale Produktivität als »metaphorische Reichweite« .
3. Narrativisierungsprozesse analysieren . . . . . . . .
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4. Populismus in Argentinien . . . . . . . . . . . . .
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3.1 Narrative Diskursanalyse . . . . . . . . . . . 3.2 Die Integration struktur- und akteurstheoretischer Analyseperspektiven. . . . . . . . . . . . . 3.3 Forschungspraxis: Methodisches Vorgehen im Feld . 3.3.1 Die Erhebung der medialen Berichterstattung 3.3.2 Die Interviewerhebung . . . . . . . . . 3.3.3 Interviewkonzeption und Interviewführung . 3.4 Die Auswertung des empirischen Materials . . . .
II. Kontextualisierung 4.1 Die populistische Tradition . . . . . . . . . . . 4.2 Die historischen Versatzstücke des Kirchnerismus im Entstehungskontext. . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Emergenz des Kirchnerismus als politische Kraft (2003–2007) . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Krise, Kohäsion und Konsolidierung des Kirchnerismus (2008–2010) . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Das Nationale und das Populare im argentinischen Fußball 90 5.1 Die Erfindung des argentinischen Fußballs . . . . . 5.2 Fußball zwischen Peronismus und Militärdiktatur . .
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5.3 Die Ära Maradonas . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Kommerzialisierung, Tribalisierung und Fangewalt im argentinischen Fußball . . . . . . . . . . . 5.5 Der Kirchnerismus und der Fußball . . . . . . . .
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III. Empirie 6. Die Symbolisierung des Popularen im medialen Diskurs der WM . . . . . . . . . . . 6.1 Die politisch-kulturelle Inszenierung des Antagonismus 6.1.1 buena onda vs. mala onda – der Konflikt der zwei »Erzählungen« . . . . . . . . . 6.1.2 Kampf der Kulturen . . . . . . . . . . . 6.1.3 Die Artikulation von Populismuskritik und anti-popularem Ressentiment. . . . . . . . 6.1.4 Von der Verteidigung gegen das Establishment zur popularen Äquivalenz . . . . . . . . . 6.2 National-populare Anrufungen in der Narrativisierung der WM-Repräsentationen . . . . 6.2.1 Der passionale Habitus der national-popularen Argentinität . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die Metaphorisierung der populistischen Logik . 6.2.3 Die Wiederherstellung politischer Identifikation. 6.2.4 »Man spielt, wie man lebt«: Die WM des postneoliberalen Lateinamerikas . . . . . . 6.2.5 Maradona und Messi – zwei politische Modelle. 6.3. Handlungsanweisungen: Die Unhintergehbarkeit der popularen Identität. . . . . . . . . . . . . 6.3.1 Identifikation im Scheitern als Verwirklichung popularer Würde . . . . . . . . . . . . 6.3.2 Die Affirmation der argentinischen »Mentalität der Extreme« . . . . . . . . .
7. Populistische Symbolpolitik in der Reflexion der diskursiven Eliten. . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die symbolische Konstruktion Maradonas . . . . . 7.1.1 Maradona als Symbol des populistischen Bruchs 7.1.2 Das »Tor mit der Hand Gottes«: die Widersprüchlichkeit der »Argentinität« . . 7.1.3 »Villa Fiorito« als anti-neoliberales Sinnbild der Treue zur Herkunft . . . . . . . . . . 7.1.4 Der Mythos der argentinischen Größe: Maradona als Metapher der recuperación . . .
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7.2 Der Fußball und die »Erzählung« des Kirchnerismus . 7.2.1 Der Kampf um den argentinischen Selbstwert . 7.2.2 Der »Krieg gegen die Medien«: Fútbol para Todos als Topos der Demokratisierung 7.2.3 Fútbol para Todos als Kommunikationskanal im Kampf der Erzählungen . . . . . . . . 7.2.4 Die Narrativisierung der Fußballweltmeisterschaft 2010 . . . . . . . 7.3 Die Symbolisierung des Popularen – Konstruktion oder Illustration? . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Äquivalenz als kulturelle Erfahrung . . . . . 7.3.2 Laclau’sche Reflexionen . . . . . . . . . . 7.3.3 Symbolische Inszenierung als politisches Epiphänomen? . . . . . . . . . . . . . 7.3.4 Die Rückkehr politischer Identifikation in der kirchneristischen Erzählung . . . . . . . . 7.4. Funktion und Funktionieren populistischer Symbolpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Die Totalisierung des populistischen demos . . 7.4.2 Die Persistenz der Spannung zwischen äquivalentieller und differentieller Logik . . . 7.4.3 Die Konsolidierung der antagonistischen Spaltung 7.5. Gegenstimmen: Populistische Inszenierung aus kirchnerkritischer Sicht . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Maradona, Signifikant der argentinischen Dekadenz . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Maradona, Signifikant der argentinischen Größe 7.5.3 Das Wechselspiel von Hegemonialisierung und Antagonisierung. . . . . . . . . . . . .
8. Zusammenfassung und Schlussfolgerung . . . . . . . 8.1 Die symbolische Inszenierung der popularen Identität . 8.2 Das hegemoniale Potential politisch-kultureller Artikulationen . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3 Die zirkuläre Dynamik populistischer Symbolpolitik .
Literaturverzeichnis
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Kurzbeschreibung der interviewten Personen
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Die Transkripte der Interviews können über die Homepage des Verlages abgerufen werden: www.velbrueck-wissenschaft.de
1. Einleitung Symbolische Inszenierung ist intrinsischer Bestandteil politischen Handelns. Als »figurative Politik« (Soeffner/Tänzler 2002) verstanden, ist sie nicht einfach die Pseudovariante »realer« Politik, sondern eine Art der Darstellung politischer Inhalte und Werte mit symbolischen Formen, die eine sinnstiftende Strukturierung des sozialen Raums leistet und konstitutiv für politische Identitäten und die Legitimation politischer Machtausübung ist. Dabei umfasst die symbolische Dimension des Politischen immer Veranschaulichung und Performanz, sie ist »Darstellung von etwas und produziert zugleich Vorstellungen davon.« (Diehl 2016: 10) Sie beschränkt sich vor allem nicht auf politische Symbolik im engeren Sinn wie etwa Flaggen oder Herrschaftsinsignien, sondern umfasst ebenso die Verknüpfung politischer Zielvorstellungen und Konfliktlinien mit historisch verankerten kulturellen Topoi, die als narrative Ankerpunkte der gesellschaftlichen Selbstverständigung erstere in alltagsnahe Repräsentationen übersetzen, sie erfahrbar und anerkennbar machen.
1.1 Fußball, das Populare und populistische Inszenierung Das Forschungsinteresse der vorliegenden Studie gilt Prozessen der symbolischen Inszenierung des Popularen in der Konsolidierungsphase populistischer Projekte. Populistische Politik, so die dahinterstehende These, mobilisiert zur Verstetigung der von ihr konstruierten »popularen Identität« kulturelle Vorstellungsbilder aus dem historisch geformten gesellschaftlichen Bedeutungsrepertoire, deren narrative Verknüpfung mit den antagonistischen Auseinandersetzungen das politische Projekt symbolisch veranschaulicht. Am Beispiel der kirchneristischen Diskursproduktion zur Fußballweltmeisterschaft 2010 wird an einem konkreten Fall sowohl das Funktionieren als auch die spezifische Funktion politisch-kultureller Symbolisierungen in etablierten populistischen Politikmodellen untersucht, in denen nach dem erfolgreichen Bruch mit der bisher dominanten symbolischen Ordnung eine neue Schließung der diskursiven Struktur bewerkstelligt werden soll. Die argentinische Fußballkultur spielte als gewichtige zugehörigkeitsstiftende Instanz nicht nur eine wesentliche Rolle bei der Entstehung einer (auf männlichen Stereotypen basierenden) nationalen Identität in einer kulturell hybriden Migrationsgesellschaft (Archetti 2001). Fußball stellt außerdem eine der wichtigsten Identifikationspraktiken der 8
FUSSBALL, DAS POPULARE UND POPULISTISCHE INSZENIERUNG
popularen Sektoren dar und organisiert bis heute wirkmächtige Repräsentationen eines argentinischen »Nationalcharakters« mit popularen Konnotationen (Alabarces 2010; Frydenberg 2011). Als Raum der kollektiven Selbstdefinition, der sich überkreuzende nationale wie populare Narrative produziert und dessen interpellative Kraft mit der krisenbedingten Schwächung staatlicher Identitätsangebote über die Jahrzehnte zugenommen hat (Sarlo 2001: 123–131), birgt seine politische Artikulation besonderes Kohäsions- wie auch Konfliktpotential. Das WM-Ereignis 2010 bot eine symbolische Bühne, auf der die politische Polarisierung der argentinischen Gesellschaft entlang der Spaltungslinie Kirchnerismus – Anti-Kirchnerismus in kulturellen Begriffen inszeniert und das »Populare« als Kernkategorie der kirchneristischen Identitätskonstruktion mit Leben gefüllt werden konnte. Wenn etwa im regierungsnahen Mediendiskurs Diego Maradonas exzessiver Charakter und seine verbalen Entgleisungen als »populare Transgression« positiv gewendet und seine Präsenz an der Spitze des Nationalteams nach Jahren der Drogenabhängigkeit als »Triumph des Popularen« interpretiert werden, funktioniert die symbolische Konstruktion des ehemaligen Fußballstars und nunmehrigen Nationaltrainers als metaphorischer Ausdruck der politischen Erfahrung des Kirchnerismus, der dadurch eine narrative Strukturierung als Verteidigung des Argentinischen und als Rückeroberung des popularen Selbstwerts erfährt. Umgekehrt werden die sportlichen Repräsentationen durch ihre Einschreibung in den antagonistischen Konflikt ebenfalls politisch aufgeladen: Kritik an Maradona wird als anti-populares Ressentiment eines von Standesdünkeln geprägten »Establishments« gelesen, dessen Überidentifikation mit europäischen Werten auch seine Gegnerschaft zum »national-popularen« Kirchnerismus erklärt. »Die Präsidentin rief dazu auf, sich mit der Zehn [Maradona, Anm.] zu solidarisieren, also heißt Maradonianer sein, Kirchnerist zu sein«,1 heißt es folglich in der regierungsunterstützenden Tageszeitung Página/12 nach dem unrühmlichen Ausscheiden der Nationalmannschaft aus dem WM-Bewerb infolge einer 4:0-Niederlage im Viertelfinale, die von vielen auf die mangelnde Trainerkompetenz der »popularen Ikone« Maradona zurückgeführt wurde. Die Integration kulturell vertrauter symbolischer Motive in die interpretative Logik des Antagonismus übersetzt gleichzeitig den politischen Konflikt in eine symbolisch verdichtete Erzählung, welche die Grenzziehungen des diskursiven Raums in einem unmittelbar 1
Luis Bruschtein: Casi mitos. Página/12, 31.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-150478-2010-07-31.html (letzter Zugriff am 9.7.2016), spanisches Original: »La Presidenta llamó para solidarizarse con el 10 y entonces ser maradoniano es ser kirchnerista.« Alle Übertragungen aus dem Spanischen sind Eigenübersetzungen der Autorin.
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EINLEITUNG
schlüssigen Erfahrungszusammenhang zur Darstellung bringt und politische Subjektivitäten im Lichte der bemühten Repräsentationen strukturiert.
1.2 Sedimentierung und artikulatorische Praxis Den Hintergrund dieser Überlegungen bildet eine Auseinandersetzung mit der Populismustheorie von Ernesto Laclau (2005a) und ihrem Fokus auf die subjektkonstituierende Wirkung populistischer Politik. Laclau schließt in seinem Ansatz an Begriffe und Konzepte seiner früheren Theoriebildung an (Laclau 1981; Laclau/Mouffe 2006; Laclau 1990; Laclau 2002) und versteht Populismus als Artikulationsmodus, der über die Einführung einer dichotomen Spaltung in die Gesellschaft ein »Volk« als neuen politischen Akteur konstituiert. Die innere Homogenität dieses popularen Lagers beruht auf dem kohäsiv wirkenden Konflikt mit einem diskursiv konstruierten Anderen, dem die Verhinderung der eigenen Ansprüche zugeschrieben wird. Ziel der populistischen Praxis ist es allerdings, die Identität der angerufenen Subjekte so zu modifizieren, dass diese über die Allianz gegen den gemeinsamen Feind hinaus ein positives Fundament teilen, das der antagonistischen Spaltungsrhetorik vorgängig scheint und dieser als langfristig stabilisierende Legitimitätsbasis dient. Wie populistische Politik dieses Fundament zu schaffen versucht, war motivierende Frage dieser Untersuchung. Im Laclau’schen Modell leistet die libidinöse Besetzung eines »leeren Signifikanten«, der den hegemonialen Anspruch des marginalisiert vorgestellten »Volkes« auf die Übernahme des gesamten politischen Repräsentationsraums verkörpert, die Stabilisierung der popularen Identität. Der Begriff des leeren Signifikanten ist insofern problematisch, als die sprachtheoretische Abstraktion von der populistischen Praxis ein Bild von selbsttätig wirkenden Zeichen vermittelt. Damit treten einerseits die konkreten Akteur/innen in den Hintergrund, welche die hegemonialen Operationen vollziehen, andererseits entsteht der Eindruck, die »soziale Produktivität« des hegemonialen Repräsentanten, die Voraussetzung für seine libidinöse Besetzung ist, ergäbe sich aus seinem Namen selbst, dessen Entleerung gleichermaßen automatisch zur Kristallisierung einer kollektiven Identität führte. Zwar wird das populistische »Volk« als imaginäres Kollektiv in der Tat über sein performatives Benennen konstituiert. Die populistische Partei oder Führerfigur als hegemoniale Repräsentation der popularen Gemeinschaft funktioniert wie ein leerer Signifikant, sie leistet die rhetorische Konsolidierung jedoch nicht allein kraft ihrer »leeren« Kondensierungsfunktion, sondern schöpft ihre soziale Produktivität aus der Verknüpfung mit einer Vielzahl weiterer 10
SEDIMENTIERUNG UND ARTIKULATORISCHE PRAXIS
privilegierter Knotenpunkte. Der leere Signifikant ist daher eher als hegemoniales Prinzip denn als tatsächlich in einem Signifikanten wirkende Funktion zu verstehen. Laclau deutet dies zuweilen an, wenn er etwa im Plural von »partial objects within society (aims, figures, symbols)« (Laclau 2005a: 116f.) als Kondensierungspunkten des popularen Kollektivs spricht. An anderer Stelle nennt er aber wiederum die »symbolic unification of the group around an individuality« (Laclau 2005a: 100) als inhärente Charakteristik des Populismus. Melo und Aboy Carlés konstatieren eine allmähliche Transition in Laclaus Theorieentwicklung von der radikaldemokratischen Vorstellung artikulierter Kämpfe in pluralen politischen Räumen zur Theoretisierung einer vertikalisierten Äquivalenz. Im Zuge dieser Entwicklung wird auch der leere Signifikant in Laclaus Begriffsapparat klarer auf den Namen einer individuellen Person oder partikularen Bewegung bezogen, die als identifikatorisches Zentrum die hegemoniale Repräsentation der Volkskonstruktion leistet (Melo/Aboy Carlés 2014: 408f.). Allerdings bleibt die terminologische Mehrdeutigkeit in On Populist Reason bestehen, wenn Laclau einmal Marlboro und Coca-Cola, dann wieder Nelson Mandela und Solidarność als Beispiele anführt. Da diese Diktion verschwimmen lässt, wann plurale kondensierende Symbole wie etwa ein politischer Slogan und wann der Name der singulären politischen Entität oder Person an der Spitze der populistischen Konstruktion gemeint ist, wird im Folgenden für letztere der eindeutigere Begriff des »hegemonialen Repräsentanten« gewählt. Der hegemoniale Repräsentant verkörpert die Vorstellung von der Entfaltung des popularen Kollektivs als reiner Präsenz. Das »Volk« findet in ihm keine direkte Form der Darstellung, sondern als Versprechen auf seine (vom Antagonismus blockierte) Realisierung. Als Grundlage politischer Kämpfe bleibt es somit instabil, weil kontestierbar, solange seine Entstehungsgeschichte als Effekt einer politischen Konstruktion sichtbar ist. Der Prozess des »Vergessens« der Kontingenz nach erfolgreichen Neuinstituierungen verfestigt dagegen Politisches in Soziales, lässt es objektiv und unwandelbar erscheinen. Laclau beschreibt diesen Prozess als Sedimentierung (Laclau 1990: 34f.), lässt aber auch hier unthematisiert, wer diese wie durchführt, denn »nirgendwo wird davon gesprochen, dass Sedimentierung eine Praxis beschreibt.« (Opratko 2012: 144) Der Aspekt der Verstetigung bleibt eine Leerstelle in der diskurstheoretisch formulierten Populismuskonzeption. Diese stellt den Ausgangspunkt der folgenden wissenschaftlichen Anstrengung dar, Sedimentierungsprozesse popularer Subjektivität in den politisch-kulturellen Artikulationen populistischer Symbolpolitik zu untersuchen und damit empirische Populismusanalyse als politische Kulturforschung zu betreiben. So soll gezeigt werden, wie durch die Artikulation politischer Botschaften mit popularkultureller Symbolik, deren historisch geprägte 11
EINLEITUNG
konnotative Resonanz anschlussfähig für die populistische Rhetorik ist, ein Modell des Popularen inszeniert wird, das die vorgestellte Gemeinschaft assoziativ aktualisiert und ihr Objektivierungspotential bietet (Hall 1986: 92–104). Das Konzept der Artikulation wurde von Laclau erstmals Ende der 1970er Jahre entwickelt und in der Folge in seiner gemeinsam mit Chantal Mouffe ausgearbeiteten Diskurs- und Hegemonietheorie anti-essentialistisch radikalisiert. In seiner frühen, noch stark von Althusser beeinflussten Fassung bezeichnete das Prinzip der Artikulation die politische Konstruktion einer Verbindung von klassenunspezifischen ideologischen Elementen mit ideologischen Diskursen antagonistischer Klassen zur nicht-reduktionisch gedachten Verknüpfung gesellschaftlicher und ökonomischer Widersprüche in einem gemeinsamen Kampf (Laclau 1981: 82–96, 138–154). In Hegemony and Socialist Strategy von 1985 meint Artikulation die diskurskonstituierende »Praxis, die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird« (Laclau/Mouffe 2006: 141), wobei der Diskurs gleichzeitig zur einzigen Möglichkeit gesellschaftlicher Struktur erklärt wird. Artikulatorische Praktiken konstituieren in diesem Verständnis die Identität von Subjekten und Objekten, die nur als diskursiv strukturierte sinnhafte Realität im Feld des Sozialen existieren (Laclau/Mouffe 2006: 127–152). Zwar ist Laclau und Mouffes weitem Diskursbegriff nicht stichhaltig vorzuwerfen, gesellschaftliche Kräftekonstellationen zugunsten autonomer Benennungsakte zu leugnen oder die außerdiskursive Materialität der Wirklichkeit zu negieren. Sie verneinen strenggenommen lediglich deren substantielle Identität vor ihrer Einbettung in einen Diskurs als »strukturierte Totalität« (Laclau/Mouffe 2006: 141) und weiten damit die Diskursivität des Sozialen auf die objektive Welt aus, welche in ihrer Objektivität nur als soziale zugänglich ist. Fraglich ist allerdings eher, warum diese Erkenntnis mit der Subsumierung aller gesellschaftlichen Strukturen unter einen Begriff einhergehen soll. Auch wenn der Diskursbegriff nun »ohnehin alles umfasst«, hat die forschungsanleitende Verwendung der Terminologie häufig blickverengende Wirkung. Die Fokussierung auf die konstituierende Kraft artikulatorischer Praktiken lässt die vorgelagerten strukturellen Bedingungen und sozialen Routinen tendenziell unterbelichtet zurück. Dabei wären diese in einem erweiterten Diskursverständnis nun ohnehin als »sedimentierter Diskurs« bedingender Bestandteil der artikulatorischen »Konstitution« des Objektiven. Die konsequente Berücksichtigung des Vergegenständlichten und Verfestigten selbst, das in der identitätsstrukturierenden Artikulationsleistung wirkt, ist eigentlich logische Folge der Begriffsausweitung, wird in der Regel aber nicht durchgehalten – was die perspektivierende Wirkung mangelnder Differenzierung im begrifflichen Werkzeug zeigt und 12
DIE KIRCHNERISTISCHE WM-INSZENIERUNG
exemplifiziert, wie leicht die Stabilität verfestigter Bedeutungssysteme unter- und die Möglichkeit ihrer Reartikulation überschätzt wird. Dementsprechend wirft Stuart Hall Laclau und Mouffe vor, dass ihr Ansatz »die Frage der historischen Kräfte, die die Gegenwart produziert haben und die nach wie vor als Schranken und Determinanten einer diskursiven Artikulation fungieren, nicht berücksichtigt.« (Hall 2000: 73) In die vorliegende Untersuchung wird der identitätsmodifizierende Aspekt artikulatorischer Praxis daher aufgenommen, ohne den Begriff zum umfassenden Konstitutionsprinzip sozialer Wirklichkeit zu verabsolutieren. Das Beispiel der Neueinschreibung konventionalisierter kultureller Repräsentationen in den politisch-kulturellen Artikulationen des kirchneristischen WM-Diskurses wird als Versuch analysiert, die populare Symbolik der argentinischen Fußballkultur mit der diskursiven Konstruktion des Kirchnerismus zu verknüpfen und damit sowohl den politischen Konflikt kulturell zu überformen als auch die kulturellen Topoi entlang der antagonistischen Spaltungslinie zu restrukturieren.
1.3 Die kirchneristische WM-Inszenierung als Beispielfall populistischer Sedimentierungsprozesse Die Geschichte des Kirchnerismus beginnt 2003 mit der Wahl Néstor Kirchners zum argentinischen Staatspräsidenten, sie ist aber nur im Kontext der ökonomischen Krise von 2001 nach einer Dekade neoliberaler Restrukturierung zu verstehen, die zugleich eine tiefe Krise der politischen Repräsentation darstellte und in ihren dislokatorischen Effekten die symbolische Arena für alternative Identitätserzählungen öffnete (Pulleiro et al. 2011). Bis 2007 gelang es dem peronistischen Außenseiter mit der selektiven Inkorporation sozialer Forderungen und Akteursgruppen sowie der antagonistischen Abgrenzung des eigenen Projekts durch die Assoziation der politischen Gegenkräfte mit der jüngeren neoliberalen und der weiter zurückliegenden diktatorischen Vergangenheit, die Staatsmacht zu stabilisieren und den Kirchnerismus als eigenständige, progressiv konnotierte politische Kraft zu etablieren. Mit der Destabilisierung der kirchneristischen Regierung – nunmehr unter Cristina Fernández de Kirchner – infolge der massiven Proteste gegen eine Erhöhung der Agrarexportsteuern im Jahr 2008 gewann die symbolische Inszenierung einer popularen Einheit an Bedeutung. Der Agrarkonflikt zeigte die Notwendigkeit, die Kontinuität des populistischen Projekts, das sich bislang auf eine Allianz verschiedener politischer und sozialer Kräfte gestützt hatte, durch die Konstruktion einer kirchneristischen Identität mit konsistentem Profil zu sichern, und führte zu einer Vertiefung der politischen Dichotomisierung. Die Regierung 13
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verstärkte ihre national-populare Rhetorik in der Tradition des Peronismus und propagierte ab 2009, verbunden mit einer Reihe progressiver Gesetzesprojekte im Bereich der Gesellschafts- und Sozialpolitik, einen »kulturellen Kampf« zur Vertiefung des kirchneristischen »Modells«. Der Antagonismus zwischen kirchneristischem »Volk« und anti-kirchneristischer »Macht« wurde in erster Linie in der Konfrontation mit den regierungsgegnerischen und an den Protesten von 2008 beteiligten Medien, insbesondere mit dem Multimedia-Unternehmen Clarín inszeniert, die unter dem Begriff der »hegemonialen Medien« den anti-popularen Feind zu verkörpern hatten. In diesem Kontext ist auch die Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte im Jahr 2009 zu sehen. Unter dem Namen »Fútbol para Todos« (»Fußball für alle«) erfuhr das Programm eine narrative Strukturierung als Universalisierung des Zugangs zur popularen Kultur, mit der ökonomischen Schwächung Claríns als vorherigem Besitzer der Übertragungslizenzen hatte es aber auch strategische Relevanz. Der Begriff der »Sedimentierung« politischer Identitäten soll daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Prozess aktive kulturelle Deutungskämpfe impliziert, die von konkreten Akteur/innen getragen werden. Gleichzeitig sind die politisch-kulturellen Artikulationen nicht auf programmatische Entwürfe individueller »Autor/innen« zu verkürzen. Der Konsolidierungs- und Kohäsionsprozess der kirchneristischen Bewegung wurde von Intellektuellen, Kulturproduzent/innen und jugendlichen Aktivist/innen gestützt, die sich vielfach nach der sozialen Polarisierung von 2008 mobilisiert hatten und eine dezentral organisierte kulturelle Infrastruktur zur Verbreitung symbolischer Repräsentationen der popularen Subjektivität bereitstellten (Sarlo 2013). Die diskursive Einschreibung der verschärften antagonistischen Konfrontationen in eine Geschichte popularer Kämpfe und die Darstellung des kirchneristischen Zyklus als anti-neoliberale Transformationsära der sozialen und wirtschaftlichen Erneuerung bildeten Hinweisreize vonseiten des offiziellen Diskurses, deren Übersetzung in alltagsnahe Narrationen aber von vielfältigen Diskursteilnehmer/innen geleistet wurde. Die symbolische Inszenierung des Popularen in den WM-Debatten stellt ein Element unter vielen in der intensivierten Phase der kulturellen Ausverhandlung politischer Werte nach 2008 dar, das auch aufgrund der mäßigen Performance der argentinischen Mannschaft und ihrem frühen Ausscheiden beschränkte öffentliche Resonanz fand. Ihre Auswahl als Untersuchungsgegenstand soll sie nicht als entscheidenden Baustein im kirchneristischen Kampf um die Rückgewinnung der politischen Initiative nach den innenpolitischen Rückschlägen überbewerten. Allerdings richtete sich das Interesse der Analyse nicht auf die Rezeption des Diskurses oder auf seine Wirkung auf die politischen Subjekte. Die Studie will vielmehr anhand eines konkreten Falls politisch-kulturelle Kämpfe 14
DIE KIRCHNERISTISCHE WM-INSZENIERUNG
in populistischen Politikkonzeptionen exemplifizieren und zeigen, wie diese das politische Feld selbst strukturieren und verändern. Die politische Aufladung des Fußballs als Kampffeld im medienpolitischen Konflikt zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus macht die davon geprägten politisch-medialen Auseinandersetzungen anlässlich der WM 2010 zu einem aufschlussreichen Beispielfall für die Analyse populistischer Symbolisierungsprozesse. Das WM-Ereignis bietet eine intensive Diskursverdichtung, die in ihrer Ergänzung durch Interviews mit Beobachtern und Protagonisten dieser Diskursproduktion zeigt, welches Politikverständnis die handelnden Akteur/innen in einer populistischen Konstellation leitet und welche Dynamik symbolische Deutungskämpfe in der Schließungsphase populistischer Projekte entfalten. Am Beispiel des argentinischen Kirchnerismus, der 2010 zum Zeitpunkt der Weltmeisterschaft bereits knapp sieben Jahre an der Regierung war, kann der Versuch nachvollzogen werden, das Populare als hegemoniale Verkörperung des Nationalen zu installieren und damit einen populistischen Politikentwurf unter den Bedingungen seiner schwierigen Institutionalisierbarkeit als politisches Regierungsmodell zu stabilisieren, ohne den »subalternen« Charakter seiner Identitätskonstruktion zu verlieren. Der argentinische Fall ist allerdings darüber hinaus aufgrund seines engen Konnex zur Laclau’schen Theoriebildung selbst von besonderer Bedeutung. War der 1969 nach Europa emigrierte Laclau in Argentinien einer breiteren Öffentlichkeit lange Zeit weithin unbekannt gewesen, besuchte er ab seiner Emeritierung im Jahr 2008 vermehrt seine ehemalige Heimat, trat unterstützend für den Kirchnerismus auf und intervenierte in die mediale und intellektuelle Debatte.2 Die Darstellung als Chefideologe der kirchneristischen Regierung, die er in regierungskritischen Medien bisweilen fand, entbehrt freilich jeglicher Grundlage. Allerdings wurde Laclaus Populismustheorie über akademische Kreise hinaus von politisch engagierten Akteur/innen der kirchneristischen Bewegung intensiv rezipiert.3 Die Erfahrung des Peronismus hatte den 2
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2011 gründete er die Zeitschrift Debates y Combates, die er als politisch engagiertes Medium zur theoretischen Reflexion der popularen Bewegungen in der lateinamerikanischen Region bis zu seinem Tod leitete. Der auch für diese Studie interviewte Ricardo Forster, als Sekretär für Strategische Koordination des Nationalen Denkens im Kulturministerium 2015 Gastgeber einer dreitägigen Hommage zum 80. Geburtstag des im Jahr zuvor verstorbenen Laclau, bezeichnet zu diesem Anlass dementsprechend das Denken des Theoretikers als zentral für das Verständnis der politischen Veränderungen seit 2003: »Wenn etwas den zurückgelegten Weg der letzten 12 Jahre charakterisiert hat, so die Transformation einer zutiefst ungleichen Gesellschaft in eine immer inklusivere Gesellschaft. Und ich denke, dass das ohne Zweifel mit dem Denken von Ernesto Laclau zu tun hat, mit seinem Werk, mit seiner kraftvollen Vorstellung und seinen Hoffnungen, mit
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gebürtigen Argentinier geprägt und in seiner Theorieentwicklung beeinflusst (Laclau 2009: 816f.). Gerade weil die Laclau’schen Kategorien den Erfahrungshorizont der argentinischen politischen Kultur eingeschrieben tragen, konnte das Phänomen des Kirchnerismus mit ihnen gelesen und verstanden werden, während dieses umgekehrt die Implikationen eines gleichzeitig auf der Vertiefung von Antagonismen und dem hegemonialen Anspruch auf Repräsentation des gesellschaftlichen Ganzen basierenden Modells in der politischen Praxis zu erhellen vermag. Angesichts dieser gegenseitigen Affinität versteht sich die folgende Untersuchung auch als Versuch, ausgehend von der Analyse der kirchneristischen Symbolpolitik einen empiriegesättigten Beitrag zur Diskussion über den theoretischen Status von Populismus als spezifischem Modus der politischen Artikulation und Mobilisierung zu leisten. Die Studie gliedert sich in drei Teile: Im ersten Abschnitt erfolgt eine Diskussion und Kritik der Populismustheorie Ernesto Laclaus sowie die Übersetzung des eigenen, kultursoziologisch erweiterten Zugangs in ein methodisch handhabbares Instrumentarium und eine Darstellung des Forschungsvorgehens. Der zweite Teil bietet eine Kontextualisierung des Gegenstands, der die in den untersuchten Symbolisierungsprozessen reartikulierten politischen und kulturellen Repräsentationen in ihrer Einbettung in die historische Entwicklung verstehbar macht. Der empirische Block umfasst die Analyse der symbolischen Konstruktion des »Popularen« in den untersuchten politisch-kulturellen Artikulationen sowie der Funktion und Wirkungsweise symbolischer Inszenierung im Rahmen populistischer Sedimentierungsprozesse. Das abschließende Resümee versucht, sowohl die empirischen Ergebnisse als auch ihren Rückbezug auf die theoretische Diskussion in konziser Form darzustellen.
den politischen Träumen, die seine Reflexion durchzogen.« https://www. youtube.com/watch?v=4-Xy-A7SAso 40:20–40:48 (letzter Zugriff am 16.12.2016).
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I. Theorie und Methodologie
2. Populismus, Identität und kulturelle Inszenierung 2.1 Populismus – eine erste Annäherung Ernesto Laclau fasst Populismus als eine Logik des Politischen zur Konstruktion popularer Identitäten, die eine dichotome Spaltung in die Gesellschaft einführt und auf Basis dieses Antagonismus die symbolische Kohäsion eines popularen Kollektivs bewirkt (Laclau 2005a). Die politische Praxis des Populismus kann damit einerseits über ihre Zielsetzung bestimmt werden, ein einheitliches populares Subjekt zu konstituieren, andererseits über ihre Form als spezifischer Diskursmodus. Entgegen den Schlussfolgerungen Laclaus wird die populistische Konstruktionslogik in der vorliegenden Studie weder mit dem Politischen gleichgesetzt (Laclau 2005a: 154) noch als unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren des demokratischen Prozesses verstanden (Laclau 2005a: 169– 171). Sein formaler Zugang bietet aber insofern produktive Kategorien für theoriegeleitete empirische Forschung, als er es ermöglicht, populistische Projekte diverser politischer Couleur und sozialer Basis als phänotypisch unterschiedliche Spielarten desselben Phänomens zu begreifen und in ihrer wesentlichen Dynamik zu erfassen. Definitionsversuche anhand inhaltlich-programmatischer Charakteristika bleiben dagegen häufig deskriptive Typologien ähnlicher Merkmale ohne gemeinsamen konzeptuellen Kern, deren Zusammenstellung je nach Auswahl der zugrunde liegenden empirischen Beispiele recht unterschiedlich ausfallen kann (Kreisky 2002: 71f.).1 Laclau definiert Populismus dagegen als diskursiven Artikulationsmodus, der diffuse, gegen den gesellschaftlichen Status quo gerichtete Gefühle durch ihre gemeinsame Kanalisierung gegen einen variabel definierbaren »Anderen« zu einem konsistenten politischen Diskurs artikuliert, der eine neue kollektive Identität konstituiert. Diese hat abgesehen von dem antisystemischen Impetus keine gemeinsame Basis in den artikulierten Protestinhalten, sondern beruht auf dem konstitutiven Antagonismus zu dem konfrontierten Außen und wird durch ihre Einschreibung in die partikulare Kraft zusammengehalten, die diesen 1
Eine Darstellung und Diskussion der unterschiedlichen Ansätze in der Populismusforschung kann hier nicht geleistet werden. Neben den im Verlauf der Arbeit zitierten, vielfach aus dem lateinamerikanischen Raum stammenden Autor/innen, siehe z.B. Canovan 1981, 2005; Di Tella 1997; Dubiel 1986; Ionescu/Gellner 1969; Kazin 1995; Levitsky/Roberts 2011; Mény/ Surel 2002; Mudde 2007; Mudde/Kaltwasser 2012; Weyland 2001.
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POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Diskurs organisiert und die Einheit des popularen Subjekts als Singularität symbolisiert (Laclau 2005a: 117–123). Populistische Politik als artikulatorische Praxis zu fassen, lässt sie als politische Mobilisierungslogik verstehbar werden, die in ihrer Rhetorik der Anrufung des »Volkes« gleichermaßen dieses Volk als auch seine Subjekte als Subjekte dieses Volkes konstituiert. Indem Laclau die ideologische Variabilität von Populismus betont und ihn keiner präkonstituierten sozialen Akteursgruppe wesenshaft zuschreibt, kann er seine Spezifität auf analytischer Ebene zeigen. Der Gehalt der populistischen Anrufung variiert dementsprechend je nachdem, entlang welcher Konflikte die antagonistische Spaltungslinie gezogen und das »Volk« definiert wird. Aus der Kompatibilität mit unterschiedlichen sozialen oder politischen Positionen folgt freilich nicht, dass die Form der Anrufung selbst ideologisch neutral bliebe. Cas Mudde definiert Populismus als »an ideology that considers society to be ultimately separated into two homogeneous and antagonistic groups, ›the pure people‹ versus ›the corrupt elite‹, and which argues that politics should be an expression of the volonté générale (general will) of the people.« (Mudde 2004: 543, Herv. i. O.)
Mudde versteht Populismus daher im Anschluss an einen von Michael Freeden geprägten Begriff als »thin-centred ideology«, die mit anderen Ideologien von höherer Konsistenz wie Liberalismus, Nationalismus oder Sozialismus kombiniert werden kann (Mudde 2004: 544). Laclaus Konzeption bietet den Vorteil, dass sie zu erklären vermag, wie die Konstruktion dieses einheitlichen Volkswillens durch seine Verkörperung in einem homogenisierenden Identifikationspunkt zustande kommt. Wenn er allerdings feststellt, Populismus sei »einfach eine Konstruktion kollektiver Identitäten auf Basis der dichotomen Teilung der Gesellschaft in zwei Lager, und die Ideologien, denen er gehorcht, können völlig unterschiedlich sein« (Laclau 2010: 46),2 wird seine Ontologisierung populistischer Artikulationsmodi als allgemeine Logik des Politischen deutlich. Antagonistische Politikkonzeptionen konstruieren das »Volk« auf eine spezifische Weise als geschlossene und intern widerspruchsfreie Gemeinschaft, indem sie den reinen »Ausdruck« des Volkes in einem hegemonialen Repräsentanten verkörpern. Laclau spricht diesbezüglich von der Produktion von Leere als Form von Identität (Laclau 2005a: 159– 166). Unter welchem politisch-ideologischen Programm diese Produktion symbolischer Einheit geleistet wird, ist je nach Ausgestaltung der 2
Spanisches Original: »El populismo es simplemente una construcción de las identidades colectivas sobre la base de la división dicotómica de la sociedad en dos campos, y las ideologías a las cuales obedece pueden ser totalmente diferentes.«
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POPULISMUS – EINE ERSTE ANNÄHERUNG
antagonistischen Konstellation bis zu einem gewissen Grad tatsächlich variabel, jedoch keineswegs völlig beliebig kombinierbar. Denn Populismus erschöpft sich nicht in der Legitimation politischer Ziele in Bezugnahme auf das Volk als eine durch gemeinsame Ziele geeinte Gruppe, sondern bezeichnet eine bestimmte Bezugnahme auf das Volk, die dieses durch symbolische Kondensierung zu einer Singularität macht (Laclau 2005a: 93f.). Diese performative Repräsentationspraxis stellt eine ideologisch strukturierte Form von Identität her, die nicht mit jedem politischen Inhalt gleichermaßen artikulierbar ist.3 Paul Taggart beschreibt die imaginäre Verankerung dieser Singularität als »conception of the heartland in which, in the populist imagination, a virtuous and unified population resides.« (Taggart 2000: 95) Es handelt sich quasi um eine Strategie, die Referenz auf das »Volk« als moralisches Argument in der politischen Auseinandersetzung zu monopolisieren. In den Worten Taggarts: »The tendency for populists to be explicit in excluding certain groups as not part of the real ›people‹ finds a strong echo in the conception of the heartland. Part of this conception is that the heartland is part of that territory which is part of the national (or potentially other type of) identity but that it is a purer part of that identity. Central to the idea of the heartland is its very centrality. The heartland lies at the core of the community and excludes the marginal or the extreme.« (Taggart 2000: 96)
Populismus kann daher »weder substanziell als Ideologie noch prozedural als Strategie bestimmt werden.« (Priester 2012: 41) Als »dünne Ideologie« stellt er eine politische Konstruktionslogik mit einem ideologischen Kern dar, der seine Subjekte mit dem Versprechen auf Rückkehr zu einem »status quo ante, verstanden als Goldenes Zeitalter oder Heartland« (Priester 2012: 40) mobilisiert. Damit ist er mehr als eine 3
Laclau hingegen geht davon aus, dass Politik immer bis zu einem gewissen Grad populistisch agieren müsse, um gesellschaftliche Schließung zu ermöglichen. So bezeichnet er zwar selbst die Produktion illusorischer Selbsttransparenz und Ganzheit an einer Stelle als »ideologische Operation par excellence« (Laclau 2002a: 180), aufgrund der Kontingenz des Sozialen ist dies für ihn aber eine unhintergehbare und notwendige Operation jeglicher Politik, um die unmögliche ursprüngliche Bedeutung in einen partikularen Inhalt zu projizieren und so über die reine Darstellung der Unmöglichkeit die Illusion seiner Präsenz zu schaffen (Laclau 2002a: 179–191). Allerdings setzt diese Ableitung voraus, dass eine ontologische Notwendigkeit »voller Identitäten« für politische Identifikation angenommen wird. In Abgrenzung von dieser Perspektive ist zu konstatieren, dass die Schließung sozialer Identitäten auch ohne Totalisierung und hegemoniale Verkörperung möglich ist, sie bleibt lediglich schwächer begründet.
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POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
»leere Form« der diskursiven Praxis und stellt eine ideologische Weichenstellung dar, die in der Folge strukturierende Effekte auf das populistisch artikulierte politische Projekt hat. Form und Inhalt sind nicht voneinander zu trennen, die »Logik« der Konstruktion politischer Subjekte bestimmt auch die postulierten Zielvorstellungen seiner Akteur/ innen in konkreten Politikfeldern. Dies lässt es fragwürdig erscheinen, Populismus strikt vom Begriff der Ideologie zu entkoppeln. Die praktischen Implikationen dieser strukturierenden Effekte sollen im Folgenden in Auseinandersetzung mit dem Populismuskonzept Laclaus vertieft diskutiert und im empirischen Teil dieser Arbeit an einem konkreten Beispiel sichtbar gemacht werden.
2.2 Die zwei Dimensionen populistischer Politik: Bruch und Neueinschreibung Die populistische Anrufung des »Volkes« postuliert die Konfrontation mit der etablierten gesellschaftlichen Ordnung und definiert eine Bruchlinie in ihrem Inneren. Das schafft ein populares Lager, dessen Einheit auf dem Antagonismus zu einer dominanten gesellschaftlichen Kraft beruht, der zugeschrieben wird, den eigenen Ausschluss aus dem politischen Repräsentationsraum verursacht zu haben. Populismus greift unterschiedliche soziale Bedürfnisse und Ansprüche auf, die vom bestehenden institutionellen System nicht befriedigt werden, und macht sie zu Impulsoren einer popularen Identität. Damit artikuliert er das soziale Unbehagen und stellt ihm einen diskursiv konstruierten Machtblock als konstitutives Außen der Zugehörigkeit zum »Volk« gegenüber. Die dichotome Grenzziehung führt dazu, dass die Träger/innen der durchaus heterogenen Forderungen einander in ihrer Zugehörigkeit zum Kollektiv der Unberücksichtigten als ähnlich wahrnehmen und in eine Äquivalenzbeziehung zueinander treten (Laclau 2005a: 73–77). Die Wahrnehmung der Ähnlichkeit beruht zwar nicht auf gemeinsamen positiven Merkmalen, sondern die popularen Subjekte »share the fact that their demands remain unsatisfied. That is, the demands share a negative dimension beyond their positive differential nature.« (Laclau 2005b: 37, Herv. i. O.) Die Konstruktion des Antagonismus zu einer Alterität, welche die eigene Artikulation verhindere, lässt jedoch den differentiellen Charakter der ursprünglich isolierten, partikularen Forderungen erodieren und ermöglicht die Emergenz einer popularen Subjektivität. Die internen Differenzen werden zwar nicht ausgelöscht, sie treten aber gegenüber der gemeinsamen Konfrontation mit dem antagonistischen Feind zurück und weichen dem äquivalentiellen Moment des Antagonismus zur verhindernden Macht (Laclau/Mouffe 2006: 167–170). 22
DIE ZWEI DIMENSIONEN POPULISTISCHER POLITIK
Populismus teilt das Soziale in zwei diametral entgegengesetzte Lager, »power and the underdog« (Laclau 2005b: 38), und ruft seine Subjekte in ihrer Erfahrung des Mangels an, den der antagonistische Feind verschuldet habe. Es handelt sich mithin um einen Identifikationsmodus, der über das Benennen eines illegitimen Status quo und seines Verursachers politische Subjekte schafft. Die strukturelle Unbestimmtheit seiner potentiellen Adressat/innen macht die besondere Stärke des populistischen Diskurses aus. Somit kann er grundsätzlich jegliche soziale Gruppe anrufen, insofern er einen gesellschaftlich zugefügten »Schaden« konfiguriert und darstellt (Aibar Gaete 2007a: 48). Dies zeigt, dass das populistische »Volk« eine relationale politische Kategorie darstellt, deren Referent durch die Repräsentationsbeziehung konstituiert wird. Die popularen Subjekte werden nicht ausgehend von ihrer Strukturposition definiert und vom populistischen Diskurs »ausgedrückt«, ihr Selbstverständnis ist vielmehr Effekt ihrer diskursiven Positionierung im gesellschaftlichen Machtgefüge. Panizza beschreibt Populismus als »anti-status quo discourse that simplifies the political space by symbolically dividing society between ›the people‹ (as ›the underdogs‹) and its ›other‹. Needless to say, the identity of both ›the people‹ and the ›other‹ are political constructs, symbolically constituted through the relation of antagonism, rather than sociological categories.« (Panizza 2005: 3, Herv. i. O.)
Zugleich ist das »Volk« in seiner Existenz damit an den antagonistischen Feind als konstitutives Außen gebunden. Laclau und Mouffe definieren den Begriff des Antagonismus als ein Verhältnis zwischen sozialen Kräften, die das volle Sein des jeweils anderen untergraben und seine Konstitution als in sich geschlossene Totalität verunmöglichen (Laclau/Mouffe 2006: 161–167). Antagonistische Identitäten sind durch die Begrenzung ihrer reinen Präsenz durch die Präsenz eines Anderen bestimmt. Das »Volk« als diskursive Kategorie ist nicht Ausdruck einer sozialen Gruppe mit positiven Merkmalen, sondern der Name eines »Anspruchs«: des Anspruchs auf die Realisierung dessen, was von der Macht verhindert wird. Das antagonistische Gegenüber, das die Entfaltung der reinen Selbstidentität des »Volkes« blockiert, stellt so gleichzeitig das Außen dar, das die populare Subjektivität in ihrer Begrenzung konstituiert. Der Ausschluss dieser Alterität als Jenseits der Zugehörigkeit zum »Volk« ist ebenso wesentlich für die äquivalentielle Identität, wie die Bedrohung durch dieselbe Alterität Vorbedingung für ihre Existenz ist (Laclau/ Mouffe 2006: 185–187). Der äquivalentielle Charakter des popularen Kollektivs, der auf dem Antagonismus zur Macht beruht, bestimmt die anti-institutionalistische Tendenz populistischer Politik. Das ambivalente Verhältnis des Populismus zur institutionalisierten Interessenaushandlung richtet sich nicht 23
POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
gegen die Mechanismen institutioneller Ordnung per se, wohl aber gegen ihre Bearbeitung politischer Konflikte im Rahmen einer differentiellen Logik, die durch die Neutralisierung potentieller Antagonismen und ihre Übersetzung in bloße Differenzen innerhalb des existierenden Repräsentationsrahmens die Konstitution eines »popularen Willens« verhindert.4 Entsprechen die Grenzen der politischen Gemeinschaft den Grenzen der gesamten Diskursformation, erscheinen soziale Forderungen im politischen Prozess in ihrer individuellen Partikularität. Der populistische Diskurs privilegiert demgegenüber die Logik der Äquivalenz und bricht durch die Einführung einer Spaltungslinie mit der Einschreibung in die etablierte Totalität (Laclau 2005a: 81f.; Pereyra 2007). Carlos Durán Migliardi fasst den Unterschied zwischen Institutionalismus und Populismus folgendermaßen zusammen: »Während in einer liberal-repräsentativen Demokratie die politischen und sozialen Konflikte als primäre Bedingung der Politik akzeptiert und mittels institutioneller Mechanismen verarbeitet werden, operiert im Populismus eine mythische Wiederherstellung einer Einheit, die, da sie nicht existiert, nur über manichäische Mittel ausgedrückt werden kann: Während in ersterer das primordiale Moment des politischen Handelns in der parlamentarischen Verhandlung besteht, drückt sich in zweiterem die Politik paradigmatisch in der ›massiven Präsentation‹ einer Einheit – des Volkes – aus, das mit seinen Opponenten auf einer Bühne antagonisiert, welche die institutionellen Grenzen subvertiert« (Durán Migliardi 2007: 108f.).5
Diese Subversion der institutionellen Grenzen stellt die rupturistische Dimension populistischer Politik dar. Voraussetzung für die Emergenz einer popularen Subjektivität ist die Destabilisierung der bisherigen sozialen Ordnung und das Scheitern des bestehenden politischen Regimes, 4
5
Diese Kritik spiegelt sich auch in der lateinamerikanischen sozialwissenschaftlichen Debatte zu Populismus wider. In einem Sammelband von 2007 stellen mehrere Autoren den (positiv besetzten) Begriff des Populismus einer »liberal-verfahrensmäßigen Demokratie« gegenüber, für die sie das Kürzel DLP (»democracia liberal-procedimental«) als Chiffre einer rein administrativen und auf formale Mechanismen reduzierten repräsentativen Demokratie einsetzen (Aibar Gaete 2007b). Spanisches Original: »Si en una democracia liberal-representativa los conflictos políticos y sociales son aceptados como condición primaria de la política, y procesados a través de mecanismos institucionales, en el populismo opera una reconstitución mítica de una unidad que, al no existir, sólo puede expresarse por medios maniqueos; si en la primera el momento primordial de la acción política es de la negociación parlamentaria, en el segundo la política se expresa paradigmáticamente en la ›presentación masiva‹ de una unidad – el Pueblo – que antagoniza con sus oponentes en un escenario que subvierte las fronteras institucionales«.
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DIE ZWEI DIMENSIONEN POPULISTISCHER POLITIK
adäquate Antworten darauf zu geben. Die Öffnung der Diskursstruktur und die damit einhergehenden anomischen Tendenzen machen das instituierte System anfällig für Reartikulationen und ermöglichen eine antagonisierende Deutung der Krisensituation (Panizza 2005: 9–14). Die populistische Figur des Volkes als »articulation of a plurality of ruptural points« (Laclau 2005a: 122) erscheint als kollektiver Akteur in politischen Auseinandersetzungen, wenn die soziale und symbolische Integration von der instituierten Ordnung nicht mehr gewährleistet werden kann und ihre Kontingenz sichtbar wird: » [...] a stable hegemonic discourse becomes dislocated when it is confronted by new events that it cannot explain, represent, or in other ways domesticate. [...] The failure to domesticate new events will disrupt the discursive system. This will open a terrain for hegemonic struggles about how to heal the rift in the social order.« (Torfing 2005: 16, Herv. i. O.)
Dislokationen sind nicht unabhängig von ihren sozioökonomischen Bedingungsfaktoren zu verstehen. Der Begriff meint aber darüber hinausgehend und nicht automatisch daraus ableitbar eine Krise der politischen Repräsentationsbeziehungen, die neuen Formen der Subjektivierung eine Intervention in den symbolischen Raum ermöglicht: »Populismus taucht auf, wenn die Institutionen der Vermittlung und der politischen Repräsentation als die Verantwortlichen des Unglücks und der Niederlagen identifiziert werden, deren Opfer das Volk ist.« (Couffignal/ Ramírez Roa 2007: 198)6 Das Ziel populistischer Politik ist allerdings mehr als ein radikaler Bruch mit der bisherigen politischen Repräsentation. Um ein geschlossenes populares Subjekt zu konstituieren und dieses auf Dauer zu stellen, muss das Kollektiv der Unzufriedenen in einem qualitativen Sprung in eine singuläre Identität überführt werden, die schließlich selbst zum Grund und Antrieb der politischen Kämpfe wird. Die antagonistische Grenzziehung und die äquivalentielle Subversion der internen Differenzen sind Vorbedingung für das Entstehen einer einheitlichen popularen Subjektivität. Solange aber das Bindemittel des populistischen Gemeinschaftssubjekts auf die Referenz auf ein feindliches Außen beschränkt bleibt, teilen seine Mitglieder kein über die Allianz gegen denselben Feind hinausgehendes positives Fundament. Ohne die Wiedereinführung einer Schließung bliebe die Äquivalenzbeziehung auf eine fragile Verbindung heterogener Akteur/innen auf Basis ihrer konvergierenden 6
Spanisches Original: »[E]l populismo aparece cuando las instituciones de intermediación y de representación política son identificadas como las responsables de las desgracias y los fracaso [sic!] de los que el pueblo es víctima.«
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POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Erfahrung der Marginalisierung und der Missachtung eigener Ansprüche beschränkt (Laclau 2005a: 93–100). Ihre populare Identität wäre in diesem Fall eine des geteilten Mangels und damit rein negativ bestimmt. Zur Positivierung der popularen Identität in einem vom konstitutiven Außen unabhängig erscheinenden Grund besteht die populistische Praxis in einem zweiten Schritt in der hegemonialen Neuinstituierung der politischen Gemeinschaft. Populismus stellt nicht nur den gemeinsamen Repräsentationsraum in Frage, er strebt gleichzeitig eine Neueinschreibung der dislozierten sozialen Struktur an (Laclau 2005a: 121f.). Erst die Überführung der Ruptur in eine neue symbolische Ordnung konsolidiert die populare Subjektivität und verleiht ihr konstitutiven Charakter. Die Kombination des rupturistischen und des instituierenden Moments in der populistischen Logik soll dem »Volk«, das aus dem Bruch mit dem antagonistischen Feind entstanden ist, Existenz aus sich selbst heraus verleihen und es in eine in sich geschlossene Totalität überführen.7 Als Versuch der Emanzipation vom definierenden Außen setzt die populistische Totalisierung in einer hegemonialen Operation das »Volk« als Name der Ausgeschlossenen dem »Volk« als Name der gesamten politischen Gemeinschaft gleich. Laclau schreibt dazu: »[T]he people can be conceived as populus, the body of all citizens; or as plebs, the underprivileged. […] In order to have the ›people‹ of populism, we need something more: we need a plebs who claims to be the only legitimate populus – that is, a partiality which wants to function as the totality of the community.« (Laclau 2005a: 81, Herv. i. O.)
Die populistische Schließung folgt einer hegemonialen Logik, in der eine partikulare Kraft die Repräsentation der Universalität übernimmt. Anstelle derer, welche die Mangelerfahrung des »Volkes« verschuldet haben und als legitimer Teil des politischen Körpers ausgeschlossen werden, wird die populare Äquivalenz zum umfassenden Ganzen erklärt (Laclau 2005a: 85f.). Das »wahre Volk«, das gleichzeitig das »ganze Volk« sein will, muss gleichwohl eine Unmöglichkeit bleiben. Ohne den antagonistischen Feind als verhindernde wie ermöglichende Kontrastfolie würde die 7
In seiner frühen Auseinandersetzung mit Populismus in dem Text Towards a Theory of Populism von 1977 (Laclau 1981) hatte Ernesto Laclau diese Dimension der Schließung nicht berücksichtigt. Wichtige Anregungen für die spätere Ergänzung dieser Leerstelle kamen von Emilio de Ípola und Juan Carlos Portantiero, die in ihrer Kritik an Laclau Populismus als Kombination aus einem antagonistischen Bruch mit einem historisch gegebenen »Machtblock« und der Neubefestigung staatlicher Herrschaft auf Basis der hegemonialen Einsetzung einer organizistischen Repräsentation des Volkes definierten (de Ípola/Portantiero 1981).
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DIE ZWEI DIMENSIONEN POPULISTISCHER POLITIK
homogenisierende Dimension der äquivalentiellen Verbindung zugunsten einer Betonung der internen Unterschiede zwischen den diskursiven Elementen geschwächt und der »homogene Volkskörper« desintegriert in eine Pluralität heterogener Elemente. Das Ziel populistischer Politik ist nicht die Überwindung des sozialen Antagonismus, sondern die Realisierung einer positiv bestimmten geschlossenen Einheit. Diese populare Einheit realisiert sich gerade im Ausschluss des gleichwohl bedrohlich bleibenden Feindes, durch den »die verschiedenen ausgeschlossenen Kategorien ihre Differenzen auslöschen, indem sie eine Äquivalenzkette bilden gegenüber dem vom System zu Selbstbezeichnungszwecken Dämonisierten.« (Laclau 2002c: 68) Wenn »das Jenseits zum Signifikanten reiner Bedrohung, reiner Negativität wird« (Laclau 2002c: 68), wird das Diesseits zum einem reinen Sein, auch wenn es, da es ohne sein Jenseits nicht existieren kann, als solches konstitutiv unerreichbar bleibt. Das »Volk« als versöhnte Totalität stellt mithin ein imaginäres Kollektiv dar, das folglich nicht mit den Mitteln differentieller Repräsentation dargestellt werden kann. Um der Illusion reiner Selbstidentität dennoch Präsenz zu verleihen, kondensiert der populistische Diskurs dieses Imaginäre in einer symbolischen Verkörperung des einheitlichen Volkssubjekts. Die Kategorie des »leeren Signifikanten«, die Laclau zur Beschreibung dieses hegemonialen Prinzips einführt, kann leicht missverständlich aufgefasst werden. Der leere Signifikant ist kein kleinster gemeinsamer Nenner, der das Volk abstrahierend auf eine zugrunde liegende positive Essenz zurückführt. Er ist im Gegenteil ein Versuch, die populistische Konstruktion durch ihre Kristallisierung in einer Singularität ihrer Bedingtheit durch den konstitutiven Antagonismus und der damit verbundenen eigenen Negativität zu entheben. Ein partikularer Vertreter des popularen Kollektivs, der seinen Bezug auf ein distinktes Signifikat zurücknimmt, wird als hegemonialer Repräsentant zur Bezeichnung des Ganzen privilegiert. Die angestrebte Ganzheit, die als Abwesendes nicht direkt bezeichenbar ist, wird so in einem Symbol konsolidiert, das keine vorhergehende Einheit abbildet, sondern diese performativ realisiert (Laclau 2002c). Die »leere« Signifikation, die der hegemoniale Repräsentant leistet, meint: In der Subversion seiner differentiellen Bedeutung repräsentiert er das populare Kollektiv als »leere« Totalität und sichert in diesem symbolischen Ausdruck seine Einheit. Der leere Signifikant verkörpert den unhintergehbaren »popularen Willen« zur Entfaltung einer reinen Präsenz. Indem die Subjekte auf diese Anrufung antworten, erkennen sie sich als das zu diesem Volkswillen gehörige Volk. In der Identifikation mit dem hegemonialen Repräsentanten kristallisiert die Äquivalenz zu einer Singularität. Ihre Einheit als qualitativ neuer Akteur beruht, wie Laclau mit einer Formulierung Žižeks konstatiert, auf dem »retroactive effect of naming« (Laclau 2005a: 102f.). 27
POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Der hegemoniale Repräsentant als Kristallisationspunkt repräsentiert nicht nur die partikularen Forderungen als äquivalente, er stellt die Äquivalenzverbindung als solche dar. Die Figur des Volkes erscheint als Ausgangspunkt und Legitimitätsbasis der antagonistischen Konfrontation, deren Resultat sie eigentlich ist (Laclau 2005a: 93). Der Totalisierungseffekt entspricht einer »Verbuchstäblichung« des Sozialen (Laclau/Mouffe 2006: 152), welche die Kontingenz der populistischen Schließung überdeckt. Die Umkehrung einer negativ bestimmten Identität in einen positiven Grund begegnet dem Fehlen einer natürlichen Notwendigkeit mit der Einführung einer künstlichen Notwendigkeit, die das populistische Projekt langfristig stabilisiert, denn: »Jenes Moment der differentiellen Partikularitäten (die in Äquivalenz treten) bleibt vergessen hinter dem Schleier der popularen Identität, die jetzt als Fundament der Gemeinschaft erscheint.« (Biglieri 2007a: 44)8
2.3 Populismus als Begehren nach »Fülle«? Unter welchen Umständen kann es zu einer Verbuchstäblichung sozialen Sinns kommen? Nicht jede artikulatorische Praxis wirkt schließlich automatisch performativ. Laclau schreibt dazu: »[T]he unity of the equivalential ensemble, of the irreducibly new collective will in which particular equivalences crystallize, depends entirely on the social productivity of a name. That productivity derives exclusively from the operation of the name as a pure signifier – that is to say, not expressing any conceptual unity that precedes it« (Laclau 2005a: 108, Herv.i.O.).
Das vereinheitlichende Moment, das im Akt des Benennens retroaktiv wirkt, ist gekoppelt an die Fähigkeit eines partikularen Vertreters, seinen Namen erfolgreich zum hegemonialen Platzhalter der popularen Totalität zu transformieren und letztere dadurch zur einzig legitimen Repräsentation der umfassenden politischen Gemeinschaft zu erklären. Wie diese Fähigkeit konkret umgesetzt wird, die Laclau hier als »soziale Produktivität« bezeichnet, bleibt wiederum unklar. Sein Ansatz verbleibt auf einer ontologischen Ebene und gibt keine Auskunft darüber, warum eine bestimmte Partei, Bewegung oder Person zum hegemonialen Repräsentanten des popularen Lagers wird und nicht eine andere. Er beschreibt lediglich im Rückgriff auf psychoanalytische Theorieansätze die Voraussetzungen dafür, dass sich die von dieser Identitätsproduktion 8
Spanisches Original: »[A]quel momento de las particularidades diferenciales (que entran en equivalencias) queda olvidado tras el manto de la identidad popular que aparece ahora como fundamento de la comunidad.«
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POPULISMUS ALS BEGEHREN NACH »FÜLLE«?
angerufenen Individuen als Mitglieder des Kollektivs anerkennen und ihm somit Existenz verleihen. In Auseinandersetzung mit Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse führt Laclau diese Anerkennung eines populistischen Repräsentanten, der auf Basis der hegemonialen Instituierung eines Partikularen als Universalität populare Identitäten schafft, auf die Identifikation mit einer libidinös besetzten Führerfigur zurück, die zum Ausdruck des einheitlichen Gruppenselbst wird (Laclau 2005a: 52–64). Die ontologische Möglichkeit dieser affektiven Anbindung erklärt Laclau wiederum mit Jacques Lacan aus dem konstitutiven Mangel an vollem Sein, der dem Subjekt aufgrund seiner diskursiven Verfasstheit eingeschrieben ist (Laclau 2005a: 110–117). Die Bindung an das idealisierte Objekt entspricht dann einem Ersatz für den Zustand der Undifferenziertheit im frühkindlichen Entwicklungsstadium, der durch die Einführung von Differenz in das Erleben unerreichbar und nachträglich zu einem Zustand der Vollkommenheit verklärt wird: »The mythical wholeness of the mother/child dyad corresponds to the unachieved fullness evoked – as its opposite – by the dislocations brought about by the unfulfilled demands. The aspiration to that fullness or wholeness does not, however, simply disappear; it is transferred to partial objects which are the objects of the drives. In political terms, that is exactly what I have called a hegemonic relation: a certain particularity which assumes the role of an impossible universality.« (Laclau 2005a: 114f.)
Laclau parallelisiert hier die libidinöse Besetzung »ganzheitsversprechender« politischer Konstruktionen mit dem Begehren nach Wiederherstellung des widerspruchsfreien Genießens, das nicht repräsentierbar und daher für das sprachlich konstituierte Subjekt unerreichbar ist. Aus der Lücke zwischen dem, was innerhalb der sprachlichen Strukturen ausgedrückt werden kann, und der sich nie voll realisierenden Identität entsteht das Begehren nach Transzendierung der differentiellen Bestimmtheit. Yannis Stavrakakis fasst zusammen: »In Lacan, the emergence of desire is primarily related to the process of symbolic castration: desire presupposes the sacrifice of a pre-symbolic jouissance qua fullness, which is prohibited upon entering the social world of linguistic representation. It is only by sacrificing its pre-symbolic enjoyment that the social subject can develop desire (including the desire to identify with particular political projects, ideologies and discourses)« (Stavrakakis 2007: 196).
Dieser Horizont der »Ganzheit«, nach dem das Subjekt strebt, ohne ihn jemals erreichen zu können, ist der Nährboden für eine Politik der 29
POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Identifikation, die ihre Anziehungskraft aus dem Versprechen schöpft, das verlorene Genießen wiederherzustellen. Slavoj Žižek, der Laclau für dessen Bezugnahme auf Lacan wichtige Impulse geliefert hatte, zeigt, dass der soziale Antagonismus den Glauben an dieses Versprechen stützt, indem er die Verantwortung für den Verlust auf ein bedrohliches Außen projiziert und so die Illusion der prinzipiellen Erreichbarkeit eigener »Fülle« ermöglicht (Žižek 1989). In einer Umkehrung der Vorzeichen wird die unerreichbare positive Identität, die als Ergebnis der antagonistischen Spaltungsrhetorik zumindest imaginäre Gestalt annimmt, zur Grundlage ebendieser Rhetorik gemacht. Žižek dazu: »[E]s ist nicht der externe Feind, der mich daran hindert, meine Selbstidentität zu erreichen, sondern jene Identität ist bereits in sich selbst blockiert, von einer Unmöglichkeit markiert, und der externe Feind ist einfach das letzte Stück, der Rest an Realität, auf den wir diese intrinsische, immanente Unmöglichkeit ›projizieren‹ oder ›externalisieren‹.« (Žižek 1998: 126)
Die Unmöglichkeit der reinen Selbstidentität wird projiziert auf die Unmöglichkeit einer homogenen, mit sich versöhnten Gesellschaft, die den Antrieb der populistischen Totalisierung darstellt. Der leere Signifikant, der zum »embodiment of a mythical fullness« gemacht wird (Laclau 2005a: 115), entspricht dem Triebobjekt, das dem Begehren nach der unerreichbaren »Fülle« eine Besetzungsmöglichkeit bietet. Ernesto Laclaus psychoanalytisch informierte Populismustheorie zeigt die Verwobenheit politischer Phänomene mit individuellen psychodynamischen Verarbeitungsprozessen. Die analytische Berücksichtigung triebstruktureller Motive als Einflussfaktoren sozialer Interaktion kann auch eine kritische Perspektive bereichern. Sie wird bei Laclau aber dadurch konterkariert, dass er die Relevanz unbewusster Triebwünsche als integrierendes Bindemittel des Politischen mit Lacan rein ontologisch begründet und die populistische Logik dadurch in den Status einer anthropologischen Notwendigkeit übersetzt. Damit wird einerseits die Historizität psychostruktureller Dispositionen ausgeblendet, die in ihrer jeweiligen Ausformung Verarbeitungsmuster gesellschaftlicher Kontextbedingungen sind. Die Beschränkung oder Ermöglichung bestimmter Formen von Subjektkonstitution durch konkrete sozioökonomische und soziosymbolische Strukturen kann innerhalb dieses Rahmens nicht erklärt werden. Indem Laclau die Gesamtheit sozialer Prozesse auf der Ebene unbewusster psychischer Mechanismen erklärt, übersetzt er andererseits psychoanalytische Konzepte in eine allgemeine Theorie des Politischen, die den Mythos ungeteilter Identität zur unhintergehbaren Voraussetzung jeglicher Vergesellschaftung macht. Daraus ergibt sich zuletzt ein Imperativ, der die hegemoniale Verkörperung politischer Projekte in einem 30
POPULISMUS ALS BEGEHREN NACH »FÜLLE«?
singulären Bild zur conditio sine qua non des demokratischen Prozesses erklärt (Laclau 2005a: 169). Denn so wie die Dyade mit der Mutter für das Subjekt konstitutiv unzugänglich ist (ihre nur vorsymbolische Erfahrbarkeit setzte Subjektauflösung voraus), ist auch eine positive Grundlegung gesellschaftlicher Entwürfe unmöglich. Die unmögliche Ganzheit kann nur über ein Ersatzobjekt begehrt werden, das diese als retrospektive Illusion neu konstituiert. Der leere Signifikant evoziert daher nicht ein »darunterliegendes« unhintergehbares Prinzip, das schlicht nicht evozierbar ist. Er bietet vielmehr einen »leeren« Ersatz, der – anstelle der unerreichbaren Ganzheit begehrt – diese über ihr retroaktives Benennen konstituiert und ihr so imaginäre Existenz innerhalb der differentiellen Verfasstheit verleiht. Totalität wird schlussfolgernd nur über ihre Verkörperung in einer Partikularität hergestellt. Hegemoniale Repräsentation ist dann in Laclaus diskurstheoretischer Perspektive Voraussetzung für die Konstitution von Objektivität (Laclau 2005a: 118–121). In die politische Praxis übersetzt heißt das für Laclau: Jedes politische Projekt muss mit der differentiellen Logik der Aggregation von Interessen und Forderungen brechen und eine in einer Singularität kristallisierte Äquivalenz herstellen, um den kollektiven Willen seiner Akteur/innen objektiv zu »begründen« (Laclau 2005a: 157–164). Der grundlegenden Kontingenz des Sozialen kann dann in einem solchen Zugang nicht anders begegnet werden als mit der symbolischen Konstitution der gemeinsamen politischen Ziele in einer illusionären Einheit. Die Notwendigkeit gesellschaftlicher Schließung unter Kontingenzbedingungen wird nicht, wie bei Claude Lefort, über eine Quasi-Repräsentation des Ortes der Macht gelöst, der gleichwohl leer bleibt (Lefort 1990; Lefort/Gauchet 1990). Bei Laclau muss die Totalität in ihrer Leere und damit das Prinzip der Universalität selbst hegemonial verkörpert werden (Laclau 2005a: 164–171). Die Zentralität der Führerfigur in populistischen Politikmodellen ist für Laclau daher eine konsequente Weiterführung der populistischen Logik. Die symbolische Vereinheitlichung in einer Singularität, um die Einheit einer politischen Bewegung zu konstituieren und ihre Kontinuität zu gewährleisten, findet ihre reinste Form in der Kristallisierung in einer Individualität, im Namen des Führers (Laclau 2005a: 99f.). Emilio de Ípola kommentiert dies treffend als »ideologische Eile«, mit der ein »unipersonaler Autoritarismus« in der populistischen Konstruktion zumindest implizit normativ überformt wird (de Ípola 2009: 205 und 220).9 Identität stellt in gegenwärtigen sozialen Ordnungen einen zentralen Motivationsfaktor für politisches Handeln dar. Die hegemoniale 9
Diese Tendenz Laclaus findet sich in der Folge auch in seinen medialen Interventionen in die innenpolitische Debatte in Argentinien während der
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POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Herstellung eines geschlossenen Gemeinschaftssubjekts, das apriorisch erscheinende Gründe vermittelt, sichert starke politische Identifikation und kann insofern die Transformationskraft kollektiver politischer Akteure erhöhen. Die Überhöhung populistischer Repräsentationsformen zur demokratisierenden Subjektivierungsweise par excellence führt jedoch zu einer problematischen Ambiguität in Laclaus Ansatz in Hinblick auf sein »Verhältnis zwischen kulturwissenschaftlicher Analytik und normativer Politischer Theorie« (Reckwitz 2006: 348). Für die folgende Studie wird sein konzeptueller Apparat strikt im ersten Sinn verwendet und Populismus als Diskursmodus verstanden, der eine populare Subjektivität konstituiert, die sich als Objektivität instituieren will – ohne dies als notwendig zu postulieren. Stattdessen soll anhand eines empirischen Beispiels aufgezeigt werden, mit welchen Strategien ein populistisches Projekt an der Macht versucht, diese Verkörperung des universalisierten Popularen in der politischen Praxis zu verstetigen, ohne dabei seine distinktive, über das antagonistische Außen vermittelte Bedeutung zu verlieren.
2.4 Der duale Charakter des Populismus und seine Folgen Das »Volk« des Populismus hat per definitionem eine doppelte Bedeutung. Es bezeichnet sowohl das politische Ganze als auch das unterdrückte »Unten«. Daraus leitet sich ein »dualer Charakter des Populismus« (Rinesi/Muraca 2008: 64) ab, der ihm seine charakteristische Ambiguität verleiht. Die Spannung zwischen dem instituierenden und dem rupturistischen Moment bleibt auch nach dem erfolgreichen Bruch mit dem bisher dominanten ideologischen Diskurs und der hegemonialen Einsetzung des popularen Subjekts als Name der Totalität erhalten. Amtszeit von Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner. In einem Interview mit der Tageszeitung Página/12 kurz vor den Präsidentschaftswahlen 2011 meint Laclau in Bezug auf die damals debattierte Möglichkeit, die verfassungsmäßige Beschränkung auf zwei präsidentielle Amtszeiten aufzuheben (die mangels der notwendigen Zweidrittelmehrheit des Kirchnerismus im Kongress nicht umgesetzt wurde): » […] ich glaube, dass sich eine echte Demokratie in Lateinamerika auf die unbegrenzte Wiederwahl stützt. Sobald jegliche Möglichkeit eines Veränderungsprozesses rund um einen bestimmten Namen konstruiert wurde, wird das System gefährdet, wenn dieser Name verschwindet.« (Spanisches Original: » […] me parece que una democracia real en Latinoamérica se basa en la reelección indefinida. Una vez que se construyó toda posibilidad de proceso de cambio en torno de cierto nombre, si ese nombre desaparece, el sistema se vuelve vulnerable.« https:// www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-178005-2011-10-02.html)
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DER DUALE CHARAKTER DES POPULISMUS UND SEINE FOLGEN
Schließlich wird die differentielle Bedeutung der einzelnen Elemente innerhalb der Äquivalenz nicht vollständig subvertiert. Dies ist Voraussetzung dafür, dass die Spezifität des Volkes als Partikularität in der expandierenden Äquivalenzkette Präsenz behält (und sich dieses als Teil des Ganzen zum Ganzen erklärt.) Andererseits bleibt die partikulare Qualität des Volkes als plebs von dessen Einsetzung als Universalität nicht unberührt, es ist nun tatsächlich mehr als ein Partikulares gegenüber einem Anderen, indem es dieses in sich einschließt (Laclau 2005a: 224–226). Die Logik der Äquivalenz und die Logik der Differenz befinden sich somit in keinem klar substitutiven Verhältnis. Die Privilegierung des äquivalentiellen Moments, kondensiert in der Totalisierungsleistung des leeren Signifikanten, ist zwar Voraussetzung für die Emergenz einer populistischen Formation. Dennoch operieren auch in dieser beide Logiken weiter in einem Spannungsfeld, innerhalb dessen je nach Grad der populistischen Schließung das Pendel mehr in Richtung der differentiellen oder der äquivalentiellen Artikulation ausschlägt, ohne die Spuren der einen in der anderen jemals völlig zu tilgen (Laclau 2005a: 77–81). Aufgrund des instabilen Wechselspiels der gegenseitigen Kontaminierung des Universalen und des Partikularen bleibt die Redefinition oder Auflösung der populistischen Konstruktion eine stete Möglichkeit. So erweist sich die Ausdehnung der popularen Identität als zweischneidiges Schwert. Je mehr das populistische Projekt seinen allumfassenden Repräsentationsanspruch durchsetzen kann, je mehr soziale Positionen also unter seine Konstruktion subsumiert werden, desto gefährdeter wird auch seine Verbindung zu den privilegierten Signifikanten, die das »Volk« in ihrer Leere symbolisieren. Die Suspendierung ihrer partikularen Bedeutung lässt sie infolge ihrer erhöhten Reichweite zu »flottierenden« diskursiven Knotenpunkten werden, die von konkurrierenden politischen Lagern beansprucht werden können und um die sich hegemoniale Deutungskämpfe entspinnen. Laclau schreibt dazu: »[W]hile the latter [die leeren Signifikanten, Anm. d. Verf.] depend on a fully-fledged internal frontier resulting from an equivalential chain, the floating signifiers are the expression of the ambiguity inherent to all frontiers and of the impossibility of the latter of acquiring any ultimate stability.« (Laclau 2005b: 43)
Die sprachtheoretische Abstraktion soll allerdings nicht über die strategische Relevanz der instabilen Grenzen für populistische Politik selbst hinwegtäuschen. Der Populismus braucht die Unmöglichkeit dieser Stabilisierung, um seinen dualen Charakter als partikulare Verkörperung des universalen Horizonts nicht zu annullieren. Bei Laclau und Mouffe, damals noch ohne begrifflichen Bezug auf Populismus, heißt es bereits: 33
POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
»Die beiden Bedingungen einer hegemonialen Artikulation sind also einmal die Präsenz antagonistischer Kräfte und zum zweiten die Instabilität der sie trennenden Grenzen. Nur die Präsenz eines weiten Bereiches flottierender Elemente und die Möglichkeit ihrer Artikulation zu entgegengesetzten Lagern – was eine beständige Neudefinition der letzteren impliziert – konstituiert das Terrain, das es uns erlaubt, eine Praxis als hegemonial zu definieren.« (Laclau/Mouffe 2006: 177)
Die Durchlässigkeit der antagonistischen Spaltung ist Voraussetzung dafür, dass die populare Äquivalenzkette überhaupt expandieren und das populistische »Volk« hegemonial werden kann. Gerade weil es sich bei den antagonistischen Lagern nicht um zwei getrennte Äußerlichkeiten handelt, sondern die privilegierten Signifikanten des popularen Lagers über die dichotome Teilungslinie hinaus anschlussfähig sind, können sie hegemoniale Wirkmacht entfalten und als »Universalisierungswerkzeuge« eingesetzt werden (Laclau 2005a: 129–156). Gleichzeitig darf diese Linie aber nicht völlig ausgelöscht werden, denn der Antagonismus bleibt konstitutiv für die imaginäre Einheit des popularen Subjekts. Das Jenseits der Grenze ist Bedrohung und Möglichkeitsbedingung. Universalisierte sich ein populistisches Projekt tatsächlich und würde zum Synonym der gesellschaftlichen Totalität, neutralisierte es mit der Einverleibung des ausgeschlossenen Außen auch die populare Äquivalenz. Mit zunehmendem »Hegemonialisierungserfolg« des populistischen Diskurses wird die begrenzende Instanz geschwächt, welche die äquivalentielle Identität sichert. Die Logik der Differenz, die auch im Inneren einer äquivalentiellen Kollektividentität nicht vollständig aufgehoben ist und in einem Spannungsverhältnis zu ihr weiter wirkt, wird im Zuge dieser Ausdehnung gestärkt. Die Mitglieder des »Machtblocks«, die nun ebenfalls Teil der popularen Totalität geworden sind, bedrohen diese nicht mehr als Antagonismus, sondern als interne Differenz (Laclau 2005a: 214–221). Mehr Äquivalenz führt also im Extrem zu weniger Äquivalenz, weswegen der Populismus sein Ziel nie erreichen darf. Hier zeigt sich die Problematik der Gleichsetzung von Hegemonie und Populismus bei Laclau. Indem er beide Begriffe austauschbar macht, geht die Spezifik des populistischen Anspruchs verloren, nicht nur die hegemoniale Repräsentation des Volkes, sondern seine Verkörperung anzustreben. Zusätzlich zur hegemonialen Besetzung des gesellschaftlichen Ganzen, innerhalb dessen soziale Beziehungen gedacht und organisiert werden können, postuliert Populismus die innere Homogenisierung dieses Ganzen als versöhnte »Gemeinschaft«. Dies ist bei Laclau zwar durchaus herauszulesen, wenn er die Privilegierung der äquivalentiellen gegenüber der differentiellen Logik im Rahmen ihrer gegenseitigen Durchdringung als Definitionskriterium von Populismus nennt. Indem er 34
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allerdings Hegemonie exakt gleich definiert, nämlich als »Verhältnis, in dem ein partikularer Inhalt in einem bestimmten Kontext die Funktion übernimmt, eine abwesende Fülle zu inkarnieren« (Laclau 2002b: 214; Herv. d. Verf.), und dies anhand von Beispielen wie der »Marktökonomie« illustriert (Laclau 2002b: 215), in deren Hegemonieanspruch diese Gleichzeitigkeit von Universalität und Homogenität keine Rolle spielt, bleiben die Implikationen der populistischen Äquivalenzprivilegierung für die politische Praxis unterbelichtet.10 Gerardo Aboy Carlés kritisiert ebendiese Unschärfe in der Assimilation von Populismus und Hegemonie und weist darauf hin, dass die Logik der Äquivalenz in populistischer Politik zwei unterschiedliche Dimensionen enthält.11 Er plädiert daher dafür, den Äquivalenzbegriff in eine extensive und eine intensive Variante zu differenzieren (Aboy Carlés 2010: 15–22). Während die »Extension« von Äquivalenz die hegemoniale Ausdehnung der Identitätsverbindung auf eine größere Zahl diskursiver Elemente meint, entspricht die »Intensität« von Äquivalenz dem inneren Zusammenhalt dieser Elemente, also dem Subvertierungsgrad ihrer partikularen Differenzen, der von der Intensität des Antagonismus abhängig ist (Aboy Carlés 2010: 21). Wenn sich die Kollektividentität der plebs als einzig legitimes populus setzt, wird sie zur symbolischen Verkörperung der Ganzheit – das ist ihre äquivalentielle Extension. Als plebs, die weiterhin Teil dieser (weil unmöglichen) Ganzheit bleibt und ihre partikulare Identität im Antagonismus zur Macht bewahrt, wird sie zugleich eine Differenz im äquivalenten Raum ihrer eigenen Totalität – das ist ihre äquivalentielle Intensität. Laclau betont zwar, dass die internen Differenzen im äquivalentiellen Raum weiterwirken und das Erreichen der versöhnten Gemeinschaft verhindern, stellt aber nicht explizit heraus, dass es die populistische Volkskonstruktion selbst ist, die im großen Ganzen, das sie ebenfalls beansprucht, als Differenz zu wirken beginnt. Der Vorrang der Äquivalenzdimension, der nun spezifischer als Privilegierung der äquivalentiellen 10 Nicht jeder hegemoniale Kampf wird mit dem Anspruch geführt, den politischen Rahmen, innerhalb dessen der Konflikt stattfindet, mit dem eigenen singulären Bild auszufüllen und jegliche Differenz darin einzuschmelzen. Die Verkörperung der versöhnten »Fülle« spielt etwa für die Hegemonie der »Marktökonomie« eine deutlich untergeordnete Rolle gegenüber einem über strukturelle Zwänge sichergestellten breiten Konsens der Alternativlosigkeit. Es hat daher wenig Sinn, sie unter dasselbe Schema zu subsumieren. Wohlgemerkt bezieht sich die Unterscheidung auf den Anspruch; die tatsächliche Gleichzeitigkeit von Totalität und Homogenität spielt auch im Populismus keine Rolle, da sie nie erreicht wird. 11 Wobei er nur die Assimilation von Hegemonie und Populismus in Frage stellt, in der Gleichsetzung von Hegemonie und Politik dagegen mit Laclau d’accord geht (Aboy Carlés 2010: 15).
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Intensität gegenüber ihrer Ausdehnung bestimmt werden kann, meint also konkret übersetzt den Vorrang der Differenzdimension im totalisierten popularen Subjekt (Aboy Carlés 2010: 19–22). Laclau spricht diesen Punkt an anderer Stelle an, wenn er – allerdings ohne expliziten Bezug auf Populismus – von den »Resten der Partikularität« (Laclau 2002a: 199) innerhalb einer Äquivalenzkette spricht, welche die grundsätzlich endlos mögliche Expansion letzterer einschränken und damit die Funktion erfüllen, die »Deformation« zu begrenzen, die einen hegemonialen Repräsentanten zum Ausdruck der gemeinschaftlichen »Fülle« werden lässt (Laclau 2002a: 181–184). Denn die symbolische Verkörperung des »Volkes« büßt mit zunehmender Zahl der mit ihr artikulierten Elemente ihre antagonistische Ausschlusskraft ein, ihr Potential zur Strukturierung des politischen Konflikts zwischen »Volk« und »Machtblock« wird fortschreitend vom absorbierten Außen gemindert. Hier gegenzusteuern ist die Funktion der limitierenden Wirkung dieser »Reste« an Partikularität: »Wenn die Repräsentationsfunktion der Fülle den partikularen Inhalt, der diese Funktion einnimmt, deformiert, dann reagiert dieser partikulare Inhalt, indem er seinerseits die Unbestimmtheit der Äquivalenzkette begrenzt.« (Laclau 2002b: 215) Die erneute Forcierung der Partikularität wirkt ausschließend und ermöglicht die revitalisierte Antagonisierung gegen ein Außen. Daher kann geschlossen werden, dass die Aufrechterhaltung von Differenz in der Konstruktion des populus Voraussetzung für die Äquivalenz in der Konstruktion der plebs ist. Laclau bestätigt dies implizit, wenn er allgemein konstatiert, »daß es Bedingung einer Äquivalenzrelation ist, daß die differentiellen Bedeutungen – obwohl geschwächt – nicht verschwinden, sondern daß sie der Möglichkeit einer unendlichen Ausdehnung der Äquivalenzkette Grenzen setzen.« (Laclau 2002b: 215) Dieses unabschließbare Wechselspiel zwischen populistischem Bruch, äquivalentieller Neueinschreibung und Ausdehnung, Deformation der verkörpernden Singularität und schließlich Erneuerung des antagonistischen Bruchs zur Sicherung der äquivalentiellen Intensität ist die Dynamik, welche die Konsolidierung populistischer Repräsentationsmodelle begleitet. Aboy Carlés12 definiert Populismus am Beispiel Argentiniens in diesem Sinn als »bestimmte Bearbeitungsform der Spannung zwischen der Bekräftigung der eigenen Identität und dem Streben nach einer unitären Repräsentation der Gesellschaft«, die über die »manchmal gleichzeitige, manchmal abwechselnde Exklusion/Inklusion des 12 Aboy Carlés’ Zugang ist insofern problematisch, als er unter Berufung auf eine ideengeschichtliche Tradition von Rousseau bis Carl Schmitt Demokratie in Opposition zu Liberalismus als »Homogenität« definiert und davon ausgehend Populismus als die zentrale demokratische Tradition der argentinischen Geschichte herausstellt (Aboy Carlés 2005: 138). Während die
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Gegners im eigenen Repräsentationsfeld« operiert (Aboy Carlés 2005: 131f.).13 Rinesi und Vommaro attestieren dem Populismus daher »die seltene Beschaffenheit, simultan zwei Dinge zu sein« (Rinesi/Vommaro 2007: 459, Herv. i. O.) und spezifizieren: »Einerseits das theoretisch-politische Credo eines kollektiven Subjekts, des ›Volkes‹, das konfliktiv, antagonistisch, in Bezug auf und in Opposition zu einem anderen definiert wird: einem Feind – dem Anti-Volk, der Oligarchie, den Vaterlandsverrätern, den Cipayos,14 den Gorillas15 – auf den man beständig hinweist [...]. Andererseits ein Denken, das, unter derselben Kategorie des ›Volkes‹, beschuldigt werden kann und auch häufig wird, Teilungen oder Konflikte zu verschleiern oder unsichtbar zu machen, die andere Denkweisen dagegen in den Vordergrund stellen würden, und eine ›organizistischere‹, geordnetere und versöhntere Sichtweise auf das Wesen des sozialen Körpers vorzuziehen.« (Rinesi/Vommaro 2007: 459f., Herv. i. O.)16
Populistische Politik darf die Spannung zwischen Bruch und Integration nicht auflösen, sie stellt vielmehr den Mechanismus zur Aufrechterhaltung und Zuspitzung dieser Spannung dar. Ihre Institutionalisierung gestaltet sich in der Folge schwierig, denn »der Populismus setzt über
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inkludierende Wirkung populistischer Politik für den argentinischen Fall historisch argumentiert werden kann, ist die philosophische Herleitung ihrer demokratietheoretischen Überlegenheit fragwürdig. Wie schon im Fall von Laclau wird Aboy Carlés’ Definition des Phänomens ohne seine angeschlossene normative Bewertung übernommen. Spanisches Original: »El análisis pormenorizado de las experiencias populistas en Argentina nos revela un mecanismo específico de negociación de la tensión que hemos enunciado: se trata de la a veces simultánea, a veces alternativa exclusión/inclusión del adversario en el propio campo de representación que el populismo aspira a asumir. La tradicional imagen del juego pendular atribuido al liderazgo de Perón, da cuenta cabal de esta particular forma de gestión de tensión entre la afirmación de la propia identidad y la aspiración a una representación unitaria de la sociedad.« Jemand, der im Interesse ausländischer Mächte agiert. Sammelbezeichnung für antiperonistische Kräfte. Spanisches Original: » […] el populismo presenta, en efecto, la rara condición de ser, simultáneamente, dos cosas. Por un lado, el credo teórico-político de un sujeto colectivo, el ›pueblo‹, que se define de modo conflictivo, antagónico, por referencia y por oposición a otro: a un enemigo -el anti-pueblo, la oligarquía, los vendepatria, los cipayos, los gorilas- al que no se deja de señalar […]. Por otro lado, un pensamiento que, bajo esa misma categoría de ›pueblo‹, puede ser y a menudo es, también, acusado de disimular o invisibilizar divisiones o conflictos que otro tipo de pensamiento
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das Spiel der Inklusionen und Exklusionen der konstitutiven Alterität die ständige Redefinition des legitimen demos voraus, das die politische Gemeinschaft ausmacht.« (Aboy Carlés 2005: 136, Herv. i. O.)17 Das demos des Populismus bleibt aufgrund der bipolaren Dynamik zwischen Polarisierung und Homogenisierung andauernd instabil, schließlich bietet die populistische Identifikation der letztlich unerreichbaren Vorstellung des zu sich selbst gekommenen Volkes eine Ausdrucksmöglichkeit. Als solche ist sie kein Zustand, den es zu erreichen gilt, sondern ein Versprechen, dessen Einlösung aufgeschoben bleiben muss. Laclau schreibt: »[T]he more social demands tend to be differentially absorbed within a successful institutional system, the weaker the equivalential links will be and the more unlikely the constitution of a popular subjectivity« (Laclau 2005b: 37). Wird der Populismus selbst zu diesem institutionellen System, lösen sich die Mitglieder des popularen Kollektivs aus ihrer äquivalentiellen Verbindung und kehren zu ihren differentiellen Positionen zurück. Um die populare Subjektivität zu erhalten, darf sich populistische Politik also nicht vollständig institutionalisieren (Laclau 2005b: 38). Institutionalisierung ist hier als Prozess der Sedimentierung politischer Beziehungsarrangements durch formale Regeln und Mechanismen zu verstehen. Durch ihre institutionelle Absicherung werden diese zu sozialen Konfigurationen, die der politischen Redefinition tendenziell enthoben sind und langfristigen Gültigkeitscharakter haben. Nicht gemeint ist damit, dass Populismen an der Macht demokratische Institutionen wie Parlamente, freie Presse, Gewerkschaften etc. aushebeln. Sie können diese sowohl respektieren als auch sich ihrer bedienen. Sie dürfen aber nicht in ihnen aufgehen, um den anti-institutionellen Charakter der populistischen Äquivalenzkette und damit die Subvertierung der differentiellen Besonderheiten der popularen Subjekte zu gewährleisten. In einem Forschungsbericht zu den Bedeutungen des Staates in der kirchneristischen Identität heißt es daher in der Schlussfolgerung: »Die Institution an sich, das heißt, das abstrakte und unpersönliche Gesetz, ist weder die einzige noch notwendigerweise die effizienteste Antwort auf das Problem der Dauer. Und das deshalb, weil wir der Auffassung sind, dass die stabilsten sozialen Beziehungen nicht nur auf dem Glauben und dem Vertrauen beruhen, die in das unpersönliche und abstrakte Gesetz gelegt werden, sondern auch auf der affektiven Bindung, auf der emotionalen Investition, welche die Menschen Tag für Tag in ihren Alltagsbeziehungen pondría en cambio en primer lugar, prefiriendo una mirada más ›organicista‹, ordenadora y calma sobre la naturaleza del cuerpo social.« 17 Spanisches Original: » […] el populismo supone a través del juego de inclusiones y exclusiones de la alteridad constitutiva, la constante redefinición del demos legítimo que constituye la comunidad política.«
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realisieren. Deshalb führt die affektive Beziehung des Volkes mit dem Führer nicht notwendigerweise zur politischen Instabilität, sondern zur Stabilisierung einer Identität.« (Yabkowski 2016: 523f.)18 19
Zwar muss hier korrigiert werden, dass die populistische Konstellation sehr wohl notwendigerweise zu politischer Instabilität eben qua beständiger Redefinition der Grenzen des demos führt, dies aber gerade ihren Mechanismus zur Stabilisierung der popularen Identität ausmacht. Aus der Relationalität des »Volkes« als zentraler politischer Kategorie des Populismus, dessen Anspruch auf Emanzipation von dieser Relationalität er nicht einlösen darf, ergibt sich die Relevanz symbolischer Interventionen zur Verstetigung der dichotomen Konstruktion. Das obige Zitat zeigt aber die Zentralität des hegemonialen Repräsentanten im Prozess der Konsolidierung popularer Identität als spezifische Bearbeitungsform dieser Instabilität in populistischen Diskursformationen. Der hegemoniale Repräsentant verkörpert den imaginären Horizont der popularen Totalität, in ihm fließen beide Dimensionen der populistischen Spannung, Teilung und Homogenisierung, zusammen. Das populare Kollektivsubjekt wird durch die affektive Besetzung dieser symbolisch vereinheitlichenden Kraft zusammengehalten. Laclaus Populismustheorie ermöglicht ein Verständnis dieser Relevanz rhetorischer Kohäsion in populistischen Konstruktionslogiken des Politischen. Sein Fokus auf die identitätsstabilisierende Wirkung der libidinösen Besetzung vernachlässigt aber die konkreten Artikulationsprozesse zur Sedimentierung dieser kollektiven Identität. Sein Ansatz kann nicht erklären, woher eine spezifische hegemoniale Repräsentation ihre soziale Produktivität bezieht, beschreibt sie lediglich als kontingent und abhängig von konkreten historischen Kräfteverhältnissen. Auch in diskurstheoretisch inspirierten Diskursanalysen wird häufig nur die Logik 18 Spanisches Original: »La institución por sí misma, es decir, la ley abstracta e impersonal, no es la única ni necesariamente la más eficiente respuesta al problema de la duración. Y ello porque comprendemos que las relaciones sociales más estables no se basan solamente en la creencia y la confianza depositada en la ley impersonal y abstracta, sino también en el compromiso afectivo, en la inversión emocional que las personas realizan día a día en sus relaciones cotidianas. De ahí que la relación afectiva del pueblo con el líder no conduzca necesariamente a la inestabilidad política, sino a la estabilización de una identidad.« 19 Die Studie war Teil des Forschungsprojekts »Hegemonía y antagonismo en la Argentina de principios de siglo XXI. El caso del populismo kirchnerista« unter der Leitung der Politikwissenschafterin Paula Biglieri, die ihre Forschung zum kirchneristischen Populismus eng an Laclau anschließt und gleichzeitig in einen politisch engagierten Rahmen stellt. Dies erklärt den populismusaffinen Ton der Analyse.
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der Artikulation zwischen verschiedenen Signifikanten nachgezeichnet, das praktische Funktionieren dieser Neuverknüpfungen aber nicht thematisiert. Der performative Akt des Benennens und die Positivierung der Gemeinschaft durch eine hegemoniale Kraft sind aber nur ein Teil der populistischen Praxis. Um Resonanz zu generieren und politischen Einfluss zu entfalten, muss die symbolische Verkörperung der popularen Einheit alltagsnah in kulturellen Inszenierungen erfahrbar werden, die narrativ ein Modell dieses nicht direkt ausdrückbaren Popularen transportieren. Dies stellt die Problematik dar, der sich die vorliegende Studie widmet. Ernesto Laclaus diskurstheoretischer Ansatz wird dazu um eine kultursoziologische Perspektive erweitert, die den Blick für die Funktion und das Funktionieren politisch-kultureller Artikulationen in populistischer Symbolpolitik schärft.
2.5 Kulturelle Topoi und populistische Neueinschreibung Kulturelle Praxis stellt ein soziales Handlungsfeld dar, in dem gesellschaftliche Repräsentationen elaboriert und vermittelt werden. Als Schauplatz soziokultureller Bedeutungsproduktion erlaubt sie die Inszenierung von Werten und Vorstellungen mit symbolischen Formen, die den Subjekten die soziale Welt anschaulich und verstehbar macht, die »ihnen einen Platz darin gibt und […] damit auch sagt, was die anderen sind.« (Pornschlegel 2002: 106) Dies verdeutlicht, dass kulturelle Bedeutungsträger nicht einfach gesellschaftliche Phänomene reflektieren. Sie »performen« die Subjekte als solche, indem sie identitätsstiftende Narrative produzieren, die eine soziale Platzanweiserfunktion erfüllen und in der Folge das Handeln anleiten.20 Die Konstruktion soziokultureller Identitäten ist kein unmittelbar bewusster und intentional gesteuerter Prozess. Sie ist vielmehr als »doing identity« zu verstehen. Kulturelle Vorstellungen werden durch ihren praktischen Ausdruck und Vollzug im sozialen Leben verwirklicht, sie werden im interaktiven Tun erst praktisch hergestellt. Identitäten entstehen performativ, indem soziale Akteure sie über kulturelle Praxis »auf die Bühne bringen«. Karl Hörning schreibt dazu: »Wir sollten […] ›Praxis‹ selbst als jenen ›Ort‹ ernst nehmen, in dem Verstehen und Einsicht der Akteure hervorgebracht wird und in dem kulturelle Repertoires der Deutung und Bedeutung eingespielt werden.« (Hörning 2004: 20, Herv. i. O.) Kulturelle Repräsentationen stellen nicht reine Abbildungen 20 Als Beispiel: Der gesellschaftlich-politische Diskurs war in Argentinien Anfang der 1960er Jahre stark vom Paradigma der universellen Modernisierung geprägt. In diese Zeit fällt auch die Krise des »kreolischen Stils«, der
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bestehender Identitäten dar, sie konstruieren diese im Prozess ihrer Darstellung. Es handelt sich um sinnstiftende Inszenierungen, die einer Gesellschaft bzw. den darin vorherrschenden Gruppen dazu dienen, sich selbst zu sehen und die Mitglieder des Kollektivs mit dieser identitären Aussage zu sozialisieren. Aus der Performativität von Identität lässt sich freilich nicht folgern, dass jede Performance quasi automatisch neue kulturelle Sinnmuster produziert und in Gang setzt. Stattdessen gilt: »Erst durch häufiges und regelmäßiges Miteinandertun bilden sich gemeinsame Handlungsgepflogenheiten heraus, die soziale Praktiken ausmachen. Soziologisch interessant ist jenes gemeinsame Ingangsetzen und Ausführen von Handlungsweisen, die in relativ routinisierten Formen verlaufen und eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag begründen. […] der soziologische Praxisbegriff [ist] eher unspektakulär: Meistens bezeichnet er Alltagsroutinen, Gepflogenheiten oder habitualisierte Macharten, die gar kein aktives doing vom Einzelnen verlangen.« (Hörning/Reuter 2004: 12, Herv. i. O.)
Kollektive Identitäten werden über die wiederholte Zirkulation geteilter Selbst- und Fremdbilder eingeübt und habitualisiert. Die Sedimentierung dieser Bilder durch kulturelle Praxis lässt ihren Kontingenzcharakter in den Hintergrund treten. Dies führt zur Normalisierung der Repräsentationen, die schließlich als natürliche Eigenschaften und apriorische Grundlage des Kollektivs erscheinen. Als solche legen sie bestimmte Werte und Wirklichkeitswahrnehmungen nahe und entfalten soziale Wirkmächtigkeit. Es besteht kein Anlass, diese Form sozialer Integration romantisiert zu betrachten. Die Etablierung eines kommunikativen Raums in kulturellen Praktiken mobilisiert zwar Zugehörigkeiten, die soziale Strukturierung der Welt impliziert aber wie jeder Prozess der Bedeutungsdefinition die Formierung von Grenzen, Ausschlüsse und hegemoniale Unterwerfung und entspricht einer kontingenten Schließung. Grundlegende Normvorstellungen und Weltsichten sind Objekt von Kämpfen zwischen konfligierenden gesellschaftlichen Gruppen, sie können gleichwohl nicht willkürlich umgeschrieben werden und erweisen sich als überindividuelle, gewachsene Bedeutungsstrukturen in der Praxis oft als sehr beständig und resistent gegen Veränderungen. zuvor als nationale Spielweise über jeden Zweifel erhaben war, infolge einer vernichtenden Niederlage bei der WM 1958 nun als zu wenig effizienzorientiert und unproduktiv abgewertet wurde. Die Reformbestrebungen im Fußball und die konsekutive Einführung neuer, europäischer Spielmodelle waren vom politischen Klima der Zeit beeinflusst, gleichzeitig beförderten diese Veränderungen die politischen Modernisierungsdebatten durch ihre Veranschaulichung in der kulturellen Praxis und formten damit selbst den gesellschaftlichen Diskurs.
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POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Hubert Knoblauch beschreibt die realitätsstrukturierenden kollektiven Deutungsschemata kultureller Praxis in seiner wissenssoziologisch verorteten Diskursanalyse mit dem Konzept der »sozialen Topik«, das er von Popitz et al. (1957) übernimmt und als handlungsorientierenden »Niederschlag kollektiver Erfahrungen« versteht (Knoblauch 2001: 219). Es stellt ein Reservoir an Vorstellungen kollektiven Ursprungs dar, auf das die Mitglieder einer Gruppe zurückgreifen und aus dem sie Anleitungen zur Bestimmung der Wichtigkeit bestimmter Themen beziehen. Knoblauch spricht von einem Relevanzsystem, das sich in »habitualisierten thematischen Kristallisationen« (Knoblauch 2001: 221) sowie in wiederkehrenden, bisweilen formelhaften kommunikativen Ausdrucksformen zeige. Popitz et al. hatten den Begriff der sozialen Topik eingeführt, nachdem sie bei der Durchführung von Interviews im Zuge einer soziologischen Untersuchung auf überraschende Ähnlichkeiten im Antwortspektrum gestoßen waren. Die Konvergenzen in den Themensetzungen und Formulierungen ließen darauf schließen, dass sich die Betrachtungsweise der Befragten aus überindividuellen »Meinungen« und konventionalisierten symbolischen Motiven speiste, die der Gruppe als historisch geformter Erfahrungsbestand verfügbar war (Knoblauch 2001: 215–221). Ein soziologischer Toposbegriff kann eine diskurstheoretische Untersuchung hegemonialer Deutungskämpfe orientieren, indem er die historische Gewordenheit der Wahrnehmungsroutinen betont, die den Ausgangspunkt für neue diskursive Artikulationen und damit für politische Veränderung bilden. Denn, so folgert Knoblauch: »Topoi bestimmen, was wichtig ist. Wer die Topoi bestimmt, lenkt deswegen die gesellschaftliche Aufmerksamkeit bzw. das Relevanzsystem. Man könnte diese topische Macht auch als Form der Hegemonie verstehen. Denn Hegemonie bedeutet, daß die Wirklichkeitswahrnehmung durch eine gesellschaftliche Gruppe definiert wird, ohne andere Gruppen auszuschließen« (Knoblauch 2001: 221).
Kulturelle Topoi sind historisch geprägte symbolische Kondensate, die das soziale Imaginäre einer Gesellschaft ausdrücken. Sie sollen andererseits nicht als objektive Ausdrucksformen monolithischer gesellschaftlicher Wissensbestände missverstanden werden (Angermüller 2005). Kulturelle Topoi sind nicht »eindeutig«, gerade deswegen gibt es Deutungskämpfe um sie. Sie stehen aber in einem bestimmten konnotativen Zusammenhang, aus dem sie nicht einfach herausgelöst werden können. Die performativen Effekte dieser realitätsstrukturierenden Knotenpunkte sind es, die im Kampf um kulturelle Hegemonie auf dem Spiel stehen. Die hegemonialen Opponenten versuchen, an diese symbolisch verdichteten Erzählungen anzuknüpfen und sie mit den eigenen diskursiven Elementen zu artikulieren, um damit politische Subjektivitäten zu 42
KULTURELLE TOPOI UND POPULISTISCHE NEUEINSCHREIBUNG
stabilisieren. Eben diesen Rekurs auf Bedeutungen aus dem symbolischen Inventar der kulturellen Praxis und ihre Mobilisierung für die performative Strukturierung politischer Konflikte bezeichnet der Begriff der Deutungsmacht. Politische Inszenierung im Sinne einer Verwendung von Narrativen, Mythen und Symbolen ist zentral, um politische Botschaften zu verdichten und über die Vermittlung geteilter Vorstellungen kollektive Identitäten zu stiften (Sarcinelli 2002). Der Populismus ist in seiner politischen Praxis besonders auf symbolische Repertoires angewiesen, die Bedeutungen kondensieren und dabei performativ Gemeinschaft herstellen. Graciela Montaldo sieht die Signifikanz der symbolischen Dimension im populistischen Konstruktionsprozess kollektiver Identitäten in der »überwältigenden Sinnproduktion« bestätigt, die Populismus betreibe, und meint: »Es gibt keinen Populismus ohne Inszenierung, und diese Inszenierung ist Teil des Paktes zwischen dem Volk und seinem Führer, sie ist ihre Form der ›Konversation‹.« (Montaldo 2010: 80)21 Die populistische Logik ist auf diese Verknüpfungen fundamental angewiesen, weil sie heterogene gesellschaftliche Positionen zu einer einheitlichen »ganzen« Identität kristallisieren will. Da die angestrebte geschlossene Totalität nicht direkt ausgedrückt werden kann (etwa als Abbildung einer präexistenten Einheit), wird sie in Narrationen »inszeniert«. Das performative Benennen der populistischen Konstruktion entspricht einer Identitätserzählung, die Wirklichkeitseffekte zeitigt. Die artikulatorische Schaffung einer »Erzählung« macht die Grenzen des diskursiven Raums in symbolischen Konflikten anschaulich. In der diskursiven Konstruktion popularer Subjektivität werden wirkmächtige Symboliken aus den verfügbaren kulturellen Repertoires ereignisbezogen und unvollständig reaktualisiert und mit den Konfliktlinien der politischen Arena artikuliert. Diese Bezugnahme auf narrative Ankerpunkte des sozialen Imaginären stabilisiert die Signifikanten in der politischen Auseinandersetzung und damit die populistische Diskursformation. Der Rekurs auf kulturelle Topoi ist für populistische Akteure insbesondere in ihrem Bemühen um diskursive Schließung relevant, denn hegemoniale Neueinschreibungen funktionieren nur im Anschluss an Deutungen, »die zugleich kulturell vertraut und hinreichend offen für neue Deutungsvorschläge sind.« (Schwab-Trapp 2001: 273) Die Artikulation mit dem historisch verankerten und sozialisatorisch angeeigneten kollektiven Bilderfundus bietet kulturelle Legitimität und die Möglichkeit der Totalisierung des popularen Kollektivs. Etablierte Topoi werden daher aufgegriffen und in ihrem legitimatorischen Potential als 21 Spanisches Original: »No hay populismo sin escenificación, y esa escenificación es parte del pacto entre el pueblo y su líder, es su forma de ›conversar‹.«
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POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
»Transportmittel« für neue politische Botschaften und Identitäten benutzt (Schwab-Trapp 2001: 273). Ohne den Begriff der Transportmittel in der Tendenz von Schwab-Trapps gesamtem Ansatz übernehmen zu wollen, Deutungskämpfe unter dem Aspekt rein instrumentalistisch verstandener diskursiver Strategien zu lesen, kann er als Bild für die Funktion kultureller Bedeutungsträger als potentielle flottierende Signifikanten dienen, die von konkurrierenden Äquivalenzketten zur symbolischen Bezeichnung der jeweils eigenen politischen Konstruktion beansprucht werden. Insbesondere breitenwirksame kulturelle Praktiken wie der argentinische Fußball eignen sich für die symbolische Repräsentation einer popularen Ganzheit. Seine gesamtgesellschaftliche identitätsstiftende Wirkmächtigkeit sowie sein historischer Beitrag zur Herausbildung nationaler Stereotype machen aus ihm einen kollektiv anerkannten Orientierungspunkt in der Selbstdeutung der argentinischen Gesellschaft mit hoher Anschlussfähigkeit und dementsprechender interpretativer Offenheit. Parallel zu dieser Subversion seiner Partikularität bleiben aufgrund des Fortwirkens der differentiellen Logik in der Äquivalenz Spuren seiner spezifischen historischen Formung als popularer Sport präsent, die von populistischen Rhetoriken zur Totalisierung des popularen Kollektivs evoziert werden können. Neue Narrative mit hegemonialem Anspruch werden nicht aus dem Nichts entworfen, ihre Protagonisten müssen sich auf bestehende Bedeutungen beziehen und diese für sich umdeuten, um die propagierte politische Konstruktion mit der gesellschaftlichen Totalität gleichsetzen zu können.
2.6 Soziale Produktivität als »metaphorische Reichweite« Kulturelle Bedeutungsträger produzieren in ihrer Artikulation mit politischen Kämpfen metaphorische Bedeutungen. Die Annahme einer metaphorischen Strukturierung des Sozialen stellt eine grundlegende Prämisse der Diskurstheorie dar: »discourse theorists regard the existence of rhetoric as a constitutive aspect of social reality and its theoretical and empirical analysis as an essential part of understanding and explaining social phenomena.« (Howarth/Griggs 2008: 199) Rhetorische Figuren umfassen mehr als nur Metaphern. Es soll hier aber eine weite Definition von Metaphorizität verwendet werden, die jeden sprachlichen Ausdruck umfasst, der auf eine bildhafte Bedeutung jenseits der wörtlichen Ebene verweist bzw. ein Objekt oder eine Handlung nicht direkt, sondern im übertragenen Sinn über die Herstellung einer Analogie bezeichnet. Damit werden auch Metonymien, Synekdochen, Gleichnisse und 44
SOZIALE PRODUKTIVITÄT ALS »METAPHORISCHE REICHWEITE«
andere Figuren als metaphorische Konstruktionen verstanden, da das Erkenntnisinteresse nicht auf die stilistischen Differenziertheiten, sondern auf die Wirkungen metaphorischen Sprechens in politischen Auseinandersetzungen gerichtet ist, auf seine soziale Konstruiertheit und auf seine ideologische Dimension im Sinne symbolischer Bedeutungskonstruktion. Versuchen populistische Politikkonzeptionen, kulturell wirkmächtige symbolische Motive in die interpretative Struktur der dichotomen Spaltung zu integrieren und zu Bausteinen im antagonistischen Konflikt zu machen, wird letzterer durch die Analogisierung mit den alltagsweltlichen kulturellen Repräsentationen anschaulich und seine Wahrnehmung im Lichte des bemühten Verweiszusammenhangs strukturiert (Hall 1986: 99–104). Somit funktionieren reartikulierte kulturelle Topoi als metaphorische Konzepte, die in ihrer Übertragung in politische Zusammenhänge den Bedeutungsgehalt ihres ursprünglichen symbolischen Umfeldes auch dort assoziativ aktualisieren und damit ein bestimmtes Problemverständnis bewirken. Der Begriff des metaphorischen Konzepts geht auf die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson zurück. Diese definiert Metaphern zwar essentialistisch als grundlegende Formen menschlichen Denken, dennoch können Teile ihres Ansatzes für eine diskurstheoretische Analyse berücksichtigt werden: So machen sie mit dem Begriff des metaphorischen Konzepts darauf aufmerksam, dass konventionalisierte Metaphern zu Konzepten werden, mithilfe derer die Welt verstehbar wird und die in der Folge das Handeln orientieren. Dies zeigt, »welche Kraft die Metapher besitzt, Realität zu schaffen, und daß sie nicht nur eine Möglichkeit vorgibt, präexistierende Realität zu konzeptualisieren.« (Lakoff/Johnson 1998: 167) Metaphorische Konzepte transportieren eine bestimmte Logik aus dem beschriebenen Objektbereich in den politischen Raum und modellieren ihn im Lichte dieser Logik. Die handlungsanleitende Implikation dieser Modellierung bestätigt dann erst recht die erklärende Kraft der Metapher (Lakoff/Johnson 1998: 179). Dieses Verständnis ermöglicht die Rekonstruktion der metaphorischen Mechanismen, die in Zeichensystemen stets wirken, der Machteffekte ihrer Wiederholung und Konventionalisierung sowie der damit verbundene Naturalisierung diskursiver Grenzen (Walter/Helmig 2008). Metaphern sind »Mini-Narrative« (Mottier 2008: 191), die nicht vollständig erklärt werden müssen, weil ihr Verständnis vorausgesetzt werden kann, und die narrativ Identitäten konstruieren. Metaphorische Konzepte strukturieren so politische Konflikte, indem sie diese mit Erfahrungszusammenhängen parallelisieren, die unmittelbar schlüssig wirken und eine spezifische, in der Logik der Metapher angelegte Lesart des Problems nahelegen. Andreas Musolff spricht politischen Metaphern daher eine präsuppositionale Basis zu, die komplexe Auseinandersetzungen in stereotype Szenarien übersetzt und damit bestimmte 45
POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
Schlussfolgerungen zumindest suggeriert (Musolff 2004: 32–61). Die politische Artikulation symbolisch verdichteter Erzählungen bietet auf diese Weise Rechtfertigung im Kampf um die Definition legitimen politischen Handelns. So führt der Analogieschluss zwischen Kritik am »popularen Helden« Maradona und Kritik an der kirchneristischen Regierung dazu, dass letztere ebenso wie erstere als ungerechtfertigtes anti-populares Ressentiment einer elitären Bourgeoisie erscheint. Das Beispiel zeigt, dass der Gebrauch von Metaphern im politischen Diskurs nicht an sprachliche Wendungen gebunden ist, sondern analoge Argumentationen meint, die kulturelle Bedeutungen aus dem Bereich des Fußballs metaphorisch auf das Politische beziehen. Dabei kann es sich um »Erinnerungsorte« handeln, um bestimmte Rivalitäten oder Konfliktkonstellationen, historisch bedeutsame Siege oder Niederlagen, mythische Ursprungserzählungen oder eben um symbolisch überfrachtete Spielerfiguren. Relevant für eine politiksoziologische Untersuchung ist nicht die semantische Analyse metaphorischen Sprachgebrauchs, sondern die legitimatorischen und normalisierenden Wirkungen, die metaphorische Konzepte auf soziale Sinnzuschreibung mittels symbolischer Repräsentationen haben. Dass damit auch die Besetzung oder Veränderung von Metaphern mit Identität und Machtverhältnissen in Beziehung stehen und Teil der gesellschaftlichen Deutungskämpfe werden, ergibt sich fast von selbst: »Wenn wir eine neue Metapher in das Konzeptsystem aufnehmen, das unsere Handlungen strukturiert, dann verändern sich dadurch das Konzeptsystem wie auch die Wahrnehmungen und Handlungen, die dieses System hervorbringt. Kultureller Wandel entsteht häufig dadurch, daß neue metaphorische Konzepte eingeführt werden und alte verschwinden.« (Lakoff/ Johnson 1998: 168)
In Abgrenzung zur kognitivistischen Ausrichtung der Metapherntheorie Lakoff und Johnsons wird hier allerdings davon ausgegangen, dass der metaphorische Gebrauch kultureller Topoi in politischen Bedeutungskontexten auch diese selbst beeinflusst. Hegemonialisierung meint somit immer die Reartikulation verfügbarer symbolischer Bestände. Diskursive Artikulationen verfahren konstruktiv und rekonstruktiv: Sie schaffen neue Identitätserzählungen, indem sie auf vorhandene zurückgreifen, deren Bedeutung sie in der Artikulation neu produzieren. Politisch-kulturelle Artikulationen können mithin als narrative Rekonfigurationen tradierter Vorstellungsbilder gelesen werden, die den politischen Konflikt in einen breiteren kulturellen Erfahrungszusammenhang einbetten und die soziale Topik gleichzeitig durch die artikulatorische Leistung entlang der politischen Konfliktlinien restrukturieren. 46
SOZIALE PRODUKTIVITÄT ALS »METAPHORISCHE REICHWEITE«
Die metaphorische Darstellung der antagonistischen Konstruktion mithilfe symbolischer Formen ist daher nicht als bloße »Einpassung« diskursiver Elemente in vorhandene Deutungsmuster des Popularen zu verstehen, sondern als »Prozess der Narrativisierung« (Viehöver 2012b: 178, Herv. i. O.), der den sozialen Raum mittels Äquivalenz- und Differenzbildung strukturiert. Narrationen verbinden heterogene Elemente zu einer Einheit, indem sie Erfahrungen, Ereignisse und Akteure selektiv auswählen und in eine erzählerische Matrix integrieren. Viehöver spricht von einem »Akt der Konfiguration«, der diskursive Elemente zu einem kohärenten Ganzen synthetisiert und auf diese Weise Bedeutungen konstruiert (Viehöver 2012a: 69). Narrationen stellen keine rein repräsentationale Form dar, sondern haben welterklärenden Gehalt, der die Erfahrungen der Subjekte formt und soziale Identitäten konstituiert. Dieses kreative Potential macht die spezifische Leistung des Erzählens aus. In der narrativen Verknüpfung wird eine diskursive Konfiguration inszeniert, die mehr ist als die Summe ihrer Teile (Somers 1994: 606– 617). Analog zur artikulatorischen Praxis in der poststrukturalistischen Diskurstheorie können Narrationen daher als »naming as a retroactive production« (Laclau 2005a: 103) verstanden werden. Die diskursiven Elemente werden in ihrer Narrativisierung in eine interpretative Struktur eingebunden, deren relationales Gefüge eine neue Aussage entstehen lässt. Das verändert auch die in die Erzählung integrierten kulturellen Topoi in Prozessen der Symbolisierung des Popularen. Durch den homogenisierenden Effekt der Konfiguration werden die einzelnen Elemente zum Ausdruck der narrativen Struktur und aktualisieren in ihrer Signifikation die gesamte Äquivalenzkette. Fútbol para Todos, das Programm zur Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte, wird in der kirchneristischen Rhetorik zur Veranschaulichung des populistischen Bruchs mit dem Neoliberalismus eingesetzt. Durch die Verknüpfung wird es zum Sinnbild des von der Regierung propagierten Kampfes um die »Wiedergewinnung des popularen Selbstwerts« und transportiert die antagonistische Identität des gesamten politischen Zusammenhangs, in dem es metaphorisch eingesetzt wurde. Die Frage der Übertragungsrechte sagt über den spezifischen Erfahrungsbereich des Fußballs hinaus etwas über den politischen Konflikt aus, sie symbolisiert alle anderen sozialen Errungenschaften der Regierung und aktualisiert in ihrer Erwähnung die gesamte Logik des populistischen Projekts. Im Unterschied etwa zur klassischen frame analysis sollen die Elemente der topischen Struktur einer Gesellschaft nicht als starr vorgegebene Deutungsrahmen verstanden werden, die zur kognitiven Orientierung in der Welt aufgerufen werden. Eine narrative Diskursanalyse kann zeigen, dass die Ausverhandlung des Politischen mithilfe popularkultureller Symbolik keine einfache »Besetzung« immergleicher 47
POPULISMUS, IDENTITÄT UND KULTURELLE INSZENIERUNG
präexistenter Interpretationsschemata meint, sondern dass die symbolischen Motive der verfügbaren kulturellen Repertoires in ihrer Artikulation selbst reelaboriert und neu zusammengesetzt werden (Viehöver 2014: 73). Gleichzeitig ist dieser Zugang sensibel für die Relevanz der historischen Prägung kultureller Bedeutungsträger. Die narrativen Prozesse symbolischer Subjektkonstitution stellen zwar retroaktive Benennungsakte dar, deren homogenisierende Effekte diskursstrukturierend wirken. Die artikulierten Elemente werden gleichwohl nicht zu völlig entleerten Äquivalenzen, sie bewahren vielmehr die differentiellen Attribute ihres partikularen Kontexts und speisen auch diese in die äquivalentielle Konstruktion ein. Ihre eigene Geschichte schwingt weiter mit und wird in ihrer Signifikation ebenfalls aktualisiert. Genau darin besteht das Plus politisch-kultureller Artikulationen. Durch eine kulturtheoretische Erweiterung verliert die Diskurstheorie ihren »postmodernen« Anstrich, indem die Funktion historisch geprägter Topoi in hegemonialen Deutungskämpfen berücksichtigt wird. Damit kann die Herstellung sozialer Produktivität in populistischen Politikmodellen über die Mobilisierung kulturell wirkmächtiger Topoi erklärt werden: Kulturelle Topoi als narrative Ankerpunkte der kulturellen Praxis weisen über sich selbst hinaus auf ihr jeweils eigenes symbolisches Bedeutungsumfeld hin. In der kulturellen Überformung der antagonistischen Auseinandersetzungen werden diese Verdichtungspunkte politisch aufgeladen und zur metaphorischen Darstellung der dichotomen Konfliktlinien eingesetzt. Wird das artikulierte Element aufgerufen, aktualisiert es nun sowohl die populistische Konstruktion als auch seine sedimentierten kulturellen Bedeutungen (Hall 1986: 95f.). Durch die Verknüpfung kann sich ein politisches Projekt im Sinne dieses Umfeldes inszenieren. Bedeutungskonstitution kann daher mit Paolo Donati als »Transformationsarbeit« bezeichnet werden, die grundlegend metaphorisch funktioniert (Donati 2001: 150–152). Eine Perspektive, welche die Artikulation kultureller Bedeutungsträger in politischen Kämpfen berücksichtigt, kann das schematisierende Modell des leeren Signifikanten ergänzen: Dieser ist nicht als singuläres Element zu verstehen, das aus sich heraus die Identität der gesamten Bedeutungskette ausdrückt. Die Performativität des Benennens wirkt vielmehr in vielfältigen Knotenpunkten, die sich wie ein Netz durch die Diskursformation ziehen. Der hegemoniale Repräsentant der popularen Äquivalenzkette erhöht seine soziale Produktivität, indem er die kulturellen Symbolrepertoires einer Gesellschaft neu artikuliert, sodass sie ihren Bedeutungsgehalt unter den Vorzeichen der antagonistischen Konstruktion transportieren und umgekehrt die politische Konstellation im Lichte der kulturellen Metaphern gelesen wird. Der hegemoniale Repräsentant des popularen Kollektivsubjekts muss einen Verdichtungspunkt darstellen, der konnotative Resonanzen zu möglichst vielen diskursiven 48
SOZIALE PRODUKTIVITÄT ALS »METAPHORISCHE REICHWEITE«
Knotenpunkten auslöst und deren jeweilige symbolische Verankerung mitaktualisiert. Der Grad der sozialen Produktivität einer hegemonialen Repräsentation kann dann mit der Höhe ihrer metaphorischen Reichweite bemessen werden. »Soziale Produktivität« meint mithin die Fähigkeit des politischen Projekts, die antagonistische Spaltung mit Elementen des sozialen Imaginären zu artikulieren und in einen größeren kulturellen Konflikt zu übersetzen. So kann eine machttheoretisch informierte Narrationsanalyse die Diskurstheorie auf eine politische Kulturanalyse hin öffnen und das statische Konzept des leeren Signifikanten durch ein dynamischeres Verständnis kultureller Kämpfe bereichern.
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3. Narrativisierungsprozesse analysieren Ernesto Laclaus diskurstheoretische Konzeptualisierung des Populismus verbleibt auf einem hohen begrifflichen Abstraktionsniveau und liefert keine Hinweise zu ihrer Operationalisierung in der Forschungspraxis. In diskurstheoretisch orientierten empirischen Analysen führt dies mitunter dazu, dass politische Konflikte in Äquivalenzketten gepresst und zwanghaft leere Signifikanten gesucht werden. Der theoretische Rahmen kann jedoch nicht einfach empirisch »angewendet« werden. Auch wenn die theoretische Forschungsperspektive methodologisch nicht folgenlos bleibt, gilt es in der Übertragung konzeptueller Termini auf die empirische Untersuchung die Differenziertheit der unterschiedlichen wissenschaftlichen Analyseebenen zu beachten. Das Konzept der populistischen Logik beschreibt ein politisches Strukturierungsprinzip, das in der Übersetzung seiner Wirkungsdynamik in ein gegenstandsnahes Instrumentarium sichtbar werden kann. So besteht ein Graben zwischen Diskurstheorie und Diskursanalyse, zu dessen Überwindung sich jede/r Forschende selbst eine Brücke zimmern muss. Dies bedeutet umgekehrt aber auch – unter Einhaltung der epistemologischen Konsistenz – eine gewisse Freiheit im Vorgehen. Dazu kommt, dass auch der Begriff der Diskursanalyse keine geschlossene Methodik bezeichnet. Vielmehr eröffnet eine nähere Befassung mit diskursanalytischer Forschungspraxis ein Sammelsurium mehr oder weniger disparater Ansätze, die unterschiedlichste Instrumente, Strategien und Techniken kombinieren, heterogene theoretische Bezüge aufweisen und jeweils eigene, nicht immer aufeinander bezogene Begrifflichkeiten entwickeln. Einigkeit scheint vor allem darüber zu bestehen, dass die Diskursanalyse nicht über einheitliche methodische Regeln verfügt, sondern ihr Vorgehen jeweils in der konkreten Analyse und dem Erkenntnisinteresse angepasst flexibel entwickeln muss. Daher wurde versucht, das kultursoziologisch erweiterte populismustheoretische Konzept mit einer gegenstandsadäquat konzipierten narrativen Diskursanalyse für die Untersuchung der symbolischen Konstruktion des Popularen in populistischen Politikmodellen handhabbar zu machen.
3.1 Narrative Diskursanalyse In Narrationen werden Ereignisse selektiv angeeignet, indem sie in einem kommunikativen Prozess in eine kohärente Darstellung gebracht und dazu notwendigerweise Bezugspunkte, Motive und Argumente zur Strukturierung des Bedeutungszusammenhangs ausgewählt und andere 50
NARRATIVE DISKURSANALYSE
ausgespart werden (Somers 1994: 617). Das Konzept der Narration ermöglicht eine soziologische Ausrichtung der Diskursanalyse, wenn es in seiner konfigurativen Dimension als Erzählung begriffen wird, die komplexe Sachverhalte in einen Erklärungszusammenhang bettet und so die soziale Realität strukturiert. Prozesse der Narrativisierung konstituieren Differenzen und damit Identitäten, die politisches und soziales Handeln anleiten und legitimieren, gleichzeitig müssen sie selbst erst in diskursiven Auseinandersetzungen entwickelt und durchgesetzt werden. Wird der prozesshafte Aspekt des Narrativen in den Vordergrund gerückt, eröffnet dies den Blick auf den Kampf um Bedeutung, der dem Erzählen innewohnt, und damit auf seinen Zusammenhang mit politischen Auseinandersetzungen. Eine narrative Diskursanalyse kann dann als politische Soziologie betrieben werden, die solche Auseinandersetzungen um Definitionen der Wirklichkeit und ihr politisches Legitimationspotential erforscht (Schwab-Trapp 2001: 261–268). Wie können Narrationen nun für die Analyse politisch-kultureller Symbolisierungen des Popularen operationalisiert werden? Feldman et al. unterscheiden in ihrer interpretativen Narrationsanalyse zwischen übergreifenden narratives sowie stories als »subset of narrative« (Feldman et al. 2004: 149). Am Beispiel einer Studie zu Narrativen organisationalen Wandels erklären sie: »We understand the encompassing narrative to be the grand conception that entertains several themes over a period of time. In our research the stories were part of larger change narratives and often illustrated the change narratives. […] Stories are instantiations, particular exemplars, of the grand conception.« (Feldman et al. 2004: 149)
Narrationen (stories) stellen demnach die Versatzstücke größerer narrativer Formationen dar und sind über unterschiedliche Diskursbeiträge verstreut. Narrative dagegen sind komplexe, intertextuelle Repräsentationen, die sich nicht in einem Guss im empirischen Material finden, sondern nur über die Rekonstruktion des Zusammenhangs zwischen den unvollständigen Narrationen erhoben werden können. Auch Markus Arnold unterscheidet in Anlehnung an die Linguistinnen Eggins und Slade (1997: 236–269) – wenn auch nur auf mündliche Erzähltypen bezogen – die »vollständige Erzählung« im Sinne des narrative von der Anekdote, dem Exempel oder dem Bericht, die jeweils nur ausschnitthafte Darstellungen einer Bedeutungsstruktur sind (Arnold 2012: 40). Narrationen müssen daher keine umfassende Welterklärung bieten, um als solche gelten zu können. Gemeinsam ist ihnen der evaluative Kommentar, der anzeigt, wie das Erzählte zu interpretieren und zu bewerten ist, und damit dessen Relevanz begründet. Arnold schließt: »Evaluationen machen deutlich, in welcher Weise das Erzählte 51
NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
einen relevanten Beitrag für das aktuelle Gespräch leistet. Sie verbinden die Erzählung mit dem sozialen Kontext des Gesprächs.« (Arnold 2012: 41) Zwar werden Narrationen in einem diskursanalytischen Zugang nicht auf mündliche Redebeiträge beschränkt. Zudem sind sie als narrative Muster zu verstehen, die über einzelne Sprechakte hinausgehen müssen, um diskursiven Charakter beanspruchen zu können (Viehöver 2012b: 179). Der Fokus auf die bewertende Interpretation von Handlungen und Ereignissen, die in Erzählungen enthalten ist, kann jedoch für die Analyse symbolischer Repräsentation in populistischer Rhetorik übernommen werden. Definitionskriterium für die Unterscheidung relevanter Narrationen in der vorliegenden Untersuchung ist daher ihr evaluativer Gehalt. Die evaluative Dimension von Narrationen drückt sich nicht stets in expliziten Bewertungen aus, sie kann auch in der Struktur der jeweiligen Narration impliziert sein. Feldman et al. schreiben dazu: »Through the events the narrative includes, excludes, and emphasizes, the storyteller not only illustrates his or her version of the action but also provides an interpretation or evaluative commentary on the subject. In addition, the sequencing of narrative form is important because its structure reveals what is significant to people about various practices, ideas, places, and symbols.« (Feldman et al. 2004: 148)
Die Integration unterschiedlicher Diskurselemente in eine narrative Matrix stellt eine interpretative Logik her, die Sachverhalte in einer spezifischen Lesart verstehen lässt und damit bestimmte Begründungen und Schlussfolgerungen bereits in ihrer Form transportiert. Narration und Narrativ, Prozess und Produkt, sind in der Analyse nicht sinnvollerweise zu trennen (Gadinger et al. 2014: 21). Narrationsanalyse ist daher immer Strukturanalyse. Sie geht gleichwohl nicht in dieser auf. Narratologische Zugänge in den Sozialwissenschaften, die sich an der aus der literaturwissenschaftlichen Tradition stammenden Erzähltheorie orientieren und in ihren Analysen die allgemeinen strukturellen Charakteristika von Narrativen untersuchen, bleiben häufig auf einer deskriptiven Ebene (Biegon/Nullmeier 2014: 40–42). Für die Zwecke dieser Studie scheint ein derart formales Verständnis wenig brauchbar. Nicht die »Archetypen« des Erzählens oder die Rückführung verschiedener Aktantenkonstellationen auf ihre Grundstruktur können die Analyse popularkultureller Artikulationen in hegemonialen Deutungskämpfen bereichern. Die Bestimmung der formalen Erzählstrukturen anhand vorgegebener Schemata ist nicht ausreichend, um Narrationen als politisches Handeln zu verstehen. Das Politische am Erzählen erschöpft sich nicht in seinen Inhalten und deren Anordnung, es umfasst vor allem Prozesse der Narrativisierung, die sich in den weiter oben erwähnten »Versatzstücken« 52
NARRATIVE DISKURSANALYSE
abspielen und deren diskursstrukturierende Wirkung die umfassenderen Narrative herstellt und aufrechterhält. Mit der narrativen Praxis als spezifisches Erkenntnisinteresse rücken die rhetorischen und argumentativen Strategien der Erzählungen ins Zentrum der Untersuchung. Die Analyse der antagonistischen Konstruktion politisch-kultureller Konfliktlinien geht der Frage nach, wie populistische Rhetorik zur Konsolidierung der politischen Konfliktlogik auf kulturelle Bilder zurückgreift, mit denen das populare Kollektivsubjekt symbolisch verkörpert werden soll. Populistische Artikulationsmodi versuchen, mittels Strategien der Äquivalenz und Differenz einen »authentischen Kern« des legitimen politischen Subjekts zu inszenieren und damit der Figur des »Volkes« Gestalt zu geben. Die spezifischen sozialen Logiken der Argumentation, denen das konkrete populistische Projekt folgt und in deren Lesart es den politischen Konflikt konzipiert, werden anhand kultureller Topoi veranschaulicht (Glynos 2008: 277f.). Dazu wird auf etablierte symbolische Repräsentationen aus dem gesellschaftlich verfügbaren Bilderfundus zurückgegriffen, die in ihrer Verknüpfung mit den jeweiligen Lagern die politische Konstruktion soziokulturell übersetzen. In der Analyse ist daher darauf zu achten, welche symbolischen Motive die Narrationen strukturieren, mit welchen Beispielen, Anekdoten oder Schlagworten die Konfliktkonstellation illustriert, und mit welchen kulturellen Konzepten die antagonistischen Lager charakterisiert werden. So kann gezeigt werden, wie die narrative Konfiguration die Opposition zwischen den politischen Gegnern in soziokulturelle Klischeebilder gießt und die Wertvorstellungen und moralischen Prinzipien, die sie zwei gegensätzlichen Lagern zuschreibt, metaphorisch darstellt. Die Überformung der ideologischen Auseinandersetzungen mit kulturellen Deutungsmustern produziert Vorstellungen von den »typischen« Eigenschaften politisch konstruierter Kollektive und übersetzt die antagonistische Spaltung in eine Konfrontation zweier gesellschaftlicher Blöcke mit einem je eigenen essentialisierten »Charakter«, der identifikatorisch besetzt werden kann. In der Analyse gilt es daher weiters danach zu fragen, welche »Phantasien« in den narrativen Bildern sichtbar werden, welche Charakterisierungen der Vorstellung einer imaginären, vom antagonistischen Feind blockierten Einheit Gestalt verleihen, wie mit symbolischen Formen die »reine Fülle der Gemeinschaft« zur Darstellung gebracht und mit dem Versprechen ihrer Wiederherstellung die libidinöse Besetzung der hegemonialen Repräsentation durch die Subjekte der popularen Anrufung organisiert wird (Glynos/Howarth 2008). Die Metaphorizität des Sozialen ist nicht auf einer rein linguistischen Ebene nachvollziehbar. Vielmehr wird ein pragmatischer Ansatz verfolgt, dessen Implikationen Andreas Musolff in Bezug auf Max Black gerade kritisiert, weil damit die Identifikation von Metaphern auf außerlinguistischem Wissen basiere, diese mithin in einem Korpus nicht auf Basis 53
NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
linguistischer Kriterien erhoben werden könnten (Musolff 2004: 72). Die auf außerlinguistischem Wissen basierende Identifikation von Metaphern verbindet aber die Metaphernanalyse mit einer Machtanalyse und ermöglicht eine Integration des Metaphernbegriffs in die diskurstheoretische Forschung (Mottier 2008: 182). Verbleibt die Rekonstruktion der Metaphern auf der sprachlichen Ebene, besteht die Gefahr, die metaphorische Dimension des wörtlich Gesagten nicht zu identifizieren. Schließlich geht es gerade darum, Bedeutungen in ihrem kulturellen Kontext zu erfassen. Dazu müssen die bestehenden kulturellen Repertoires, an die angeknüpft wurde, berücksichtigt werden. Nur so können der artikulatorische Gehalt und die metaphorische Wirkung der narrativen Muster nachvollzogen werden. Lexikalische Besonderheiten in Narrationen sind durchaus relevant, allerdings nicht in ihrem rein semantischen Gehalt, sondern in Hinblick auf das topische Assoziationsfeld, das sie aktivieren. Die Kontextualisierung des Gegenstands über eine textimmanente Analyse hinaus ist daher unerlässlich, um Metaphorik als rhetorisches Mittel politischer Artikulationsstrategien zu analysieren (Griggs/Howarth 2004). Eine kontextgebundene Analyse ermöglicht es, Kausalzusammenhänge zwischen dem politischen Prozess und der narrativen Praxis der involvierten Akteure herzustellen und die strategische (wenn auch nicht vollständig bewusste) Dimension symbolischer Repräsentation nachzuvollziehen.
3.2 Die Integration struktur- und akteurstheoretischer Analyseperspektiven Zum Verständnis der Inhalte, des Konstruktionsprozesses, aber auch der Gründe der Narrativkonstruktion in den politischen Debatten zur Fußballweltmeisterschaft 2010 wurde ein interpretativer Zugang gewählt. Im Umgang mit dem empirischen Material wurde versucht, die implizit angelegten Argumentationen offenzulegen. Dazu ist zu fragen, welche Prämissen in den Narrationen stecken, womit die artikulierten Elemente kontrastiert werden, welche Ableitungen davon ausgehend möglich werden und welche Argumentationsstruktur auf diese Weise entsteht. Eine solche Analyse geht logisch schlussfolgernd vor. Annahmen, die etwa in einem metaphorisch verwendeten Topos »versteckt« sind, oder Schlussfolgerungen, die den adressierten Rezipient/innen »nahegelegt«, aber nicht ausgesprochen werden, müssen dazu ergänzt werden (Feldman et al. 2004: 150–155). So wird erklärt, »was Akteure unter einem bestimmten Problem verstehen, wie der Gebrauch von Metaphern bestimmte Aspekte betont und andere verbirgt oder unterdrückt und dadurch als argumentatives und überzeugendes rhetorisches Mittel fungiert« (Donati 54
STRUKTUR- UND AKTEURSTHEORETISCHE ANALYSEPERSPEKTIVEN
2001: 164). Zur Analyse dieser artikulatorischen Praxis reicht eine Oberflächenanalyse nicht aus, sie beinhaltet den Nachvollzug der Handlungsperspektive und damit eine interpretative Perspektive. Von poststrukturalistischer Seite werden akteurszentrierte Ansätze häufig dafür kritisiert, Narrationen auf kognitive Instrumente zu reduzieren, die in der Politikvermittlung rein strategisch motiviert eingesetzt würden (Biegon/Nullmeier 2014: 43f.). Die Annahme der Möglichkeit, eine externe Beobachterposition jenseits der Grenzen des Diskurses einzunehmen und von dort auf diesen einzuwirken, übersieht den vorgängigen Charakter der symbolischen Ordnungssysteme und ihre Unhintergehbarkeit als Matrix der Subjektkonstitution. Ein rationalistischer Fokus auf Instrumentalität unter Voraussetzung eines voll konstituierten, autonomen Subjekts wird in der vorliegenden Studie daher abgelehnt. Die politischen Akteur/innen, die in ihrem symbolischen Handeln auf kulturelle Bedeutungen aus dem Bereich des Fußballs rekurrieren, sind vielmehr selbst von den diskursiven Strukturen durchdrungen (Bourdieu 1998: 139–157). Das heißt nicht, dass Auseinandersetzungen um kulturelle Hegemonie »interesselos« geführt würden und die Akteur/innen in der Reartikulation kultureller Symbolik keine strategischen Absichten verfolgten. Dies geschieht aber stets in einem spezifischen soziohistorischen Kontext, in dem bestimmte Symbolrepertoires zur Verfügung stehen, innerhalb derer die artikulatorischen Strategien entwickelt werden. Erzählungen sind nicht völlig frei wählbar, sondern Narrativität ist immer historisch verortet (Viehöver 2014: 72). In Reiner Kellers weitem Diskursverständnis sind die Akteur/innen dem Diskurs nachgeordnet, ihr Handeln bringt den Diskurs aber auch erst zum Leben. Sie sind daher »weder die völlig freien Gestalter dieser Diskurse, noch sind sie ihnen völlig unterworfen oder ausgeliefert« (Keller 2001: 134). Eine Integration hermeneutisch-interpretativer und strukturalistisch-rekonstruktiver Perspektiven wird möglich, wenn das diskursanalytische Interesse nicht auf die einzelne Aussage, sondern auf die strukturierenden Deutungs- und Handlungsmuster gerichtet wird, die gleichwohl »aus Akteursperspektive als Handlungen vollzogen werden« (Keller 2001: 131). Dieses diskursive Handeln stellt keinen unmittelbar bewussten und rational kalkulierten Prozess der manipulativen »Benutzung« kultureller Formen zur Durchsetzung der eigenen präkonstituierten Absichten dar. Hier kann mit Maarten Hajer angeschlossen werden, dass sich »der poststrukturalistische Hintergrund der diskursanalytischen Herangehensweise« darin zeige, »dass sie nicht von schlüssigen und aufeinander abgestimmten politischen Handlungen ausgeht. Politik sollte verstanden werden als ausgehend von unterschiedlichen Praktiken der ›Mikromächte‹: viele, oft scheinbar triviale Mechanismen, welche die Art und Weise beeinflussten, wie ein 55
NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
bestimmtes Phänomen ausgelegt wird, um es für die Strukturen der Gesellschaft handhabbar zu machen. Die Diskursanalyse bemüht sich diese Mechanismen ausfindig zu machen und versucht zu zeigen, wie sie zusammen bestimmte Effekte erzeugen können.« (Hajer 2008: 215f.)
Der symbolische Ausdruck politisch gesetzter Schließungen mithilfe privilegierter popularkultureller Signifikanten ist als hegemoniale Operation von der identifikatorischen Besetzung durch die Mitglieder des dadurch entstehenden Gemeinschaftssubjekts abhängig. Er realisiert sich folglich im diskursiven Handeln der angerufenen Subjekte und nicht in den geheimen Plänen der Regierung (Winter 2001: 45–47). Daher fragt diese Untersuchung nach subjektiven Begründungen und Erklärungen, die über die Realitätsdeutungen Auskunft geben, die den politischen Konflikt strukturieren. Die darin verwendeten Sinnbilder bringen soziale und politische Phänomene in einen spezifischen Verständnisrahmen, der eine bestimmte Art des Bezugs darauf und Umgangs damit ermöglicht. So können die Interessen und Strategien der diskursiv Handelnden als kontingent und von diskursiver Rekursivität geprägt verstanden werden (Hajer 2003: 272f.). Mit Viehöver wird daher davon ausgegangen, »dass nicht eine akteurstheoretische Perspektive als solche schon problematisch ist, sondern eine intentionalistisch verkürzende Perspektive auf die erzählenden Akteure.« (Viehöver 2014: 72) Der hier vertretene sozialwissenschaftliche Zugang zu hermeneutischem Verstehen soll vorhandene Schwächen der traditionellen Hermeneutik problematisieren und sie für eine poststrukturalistische Analyseperspektive korrigieren. David Howarth, der die poststrukturalistische Diskursanalyse ebenfalls in der hermeneutischen Richtung der Sozialwissenschaften verortet, warnt vor einem empiristischen Zugang, der das »Real-Konkrete« wie eine auffindbare Positivität aus dem souveränen Selbstausdruck des Individuums extrahieren will (Howarth 2005: 321f.). Die Selbstinterpretationen der Akteur/innen erschließen keinen unmittelbaren Zugang zu ihren transparenten Intentionen, stattdessen gilt es, im Nachvollzug der subjektiven Bewertungen zu »second-order interpretations of social actors’ own selfunderstandings and interpretations of their situations and practices« zu gelangen (Howarth 2005: 319). Dieser Zugang ermöglicht in einer Verknüpfung der struktur- und akteurstheoretischen Perspektive die Berücksichtigung der symbolischen Produzent/innen und ihrer Motive unter Vermeidung eines methodologischen Individualismus. Die Frage nach dem »Warum« ist daher nicht so verboten, wie manche Methodenbücher zur Diskursanalyse glauben machen, sondern ermöglicht, sofern sie nicht instrumentalistisch verkürzt gedacht wird, ein Verständnis der Interpretationsleistungen und damit der Logiken der Äquivalenz und der Differenz in den politischen Identitätserzählungen 56
STRUKTUR- UND AKTEURSTHEORETISCHE ANALYSEPERSPEKTIVEN
(Clohesy 2005). Dies stellt wiederum die bereits erwähnte Verbindung zum politischen Kontext her und zeigt, wie der populistische Artikulationsmodus Subjektivitäten formt und stabilisiert. Damit löst sich die Frage auf, wie mit »Unwahrheiten« im Untersuchungsmaterial umzugehen sei. Die Interviews, die im Rahmen dieser Studie durchgeführt wurden, fragen nach Einschätzungen, Erklärungen und Begründungen für bestimmte Sachverhalte. Selbst wenn es sich bei den Antworten um bewusst »vorgeschobene« Argumente handeln sollte, geben diese noch immer Auskunft über die impliziten Annahmen, welche die Argumentation leiteten. Interessant sind daher weniger die einzelnen Positionen im Sinne einer Expertenauskunft, sondern die organisierenden Konzepte, die in den Aussagen erkennbar werden. So kann das Offensichtliche und Unhintergehbare herausgefiltert werden kann, das die Definitionen im gegebenen Setting anleitet (Dreyer Hansen/Sørensen 2005: 101f.). Nicht untersucht wird dagegen, ob die Artikulation von politischen und sportlichen Diskursen eine authentische Verbindung darstellt, ob also Fußball in Argentinien »echte« populare Bedeutungen trägt und diese Bedeutungen tatsächlich die kirchneristische Politik ausdrücken oder die Inszenierung vielleicht nur »bloße Rhetorik« darstellt. Der Fokus auf die Frage, wie sich die Artikulation von Fußball und »popularer« Politik gestaltet und wie die sozialen Akteure ihr Selbst- und Fremdverständnis daraus beziehen, unterscheidet sich von jenem, der symbolische Politik als »leere Inszenierung« versteht und der »realen Politik« gegenüberstellt (Dörner 1996: 22–27). In Abgrenzung von sozialwissenschaftlichen Fußballstudien, die auf den Aspekt der »Scheinpolitik« fokussieren, soll es hier um die Wirkmächtigkeit und Konstruktivität symbolischer Politik gehen. Damit richtet sich der Blick auf die rhetorische Organisiertheit des Politischen, also die Konstruktion einer politischen Erzählung mithilfe symbolischer Operationen. Von joggenden oder Sportstadien besuchenden Politiker/innen allein lässt sich noch nicht viel ableiten, solange nicht auch die jeweiligen dadurch reaktualisierten oder neu konstruierten Narrationen und deren politische Dynamik betrachtet werden. Dass Politiker/innen versuchen, mithilfe sportlicher Inszenierung elektorale Zustimmung zu gewinnen, soll weder geleugnet noch aufgedeckt werden. Es sagt aber schlicht noch nichts darüber aus, welche Rolle Fußball als Knotenpunkt für die diskursive Konstruktion des »popularen Argentinien« spielte. Die Analyse geht daher der Frage nach, wie die geteilten Narrationen und insbesondere die Abgrenzung von divergierenden Narrationen rund um die WM 2010 die Identität des hegemonialen Projekts konstruieren und stabilisieren. Das konkrete forschungspraktische Vorgehen soll im nächsten Abschnitt nachvollziehbar gemacht werden.
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NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
3.3 Forschungspraxis: Methodisches Vorgehen im Feld Im Folgenden werden der Prozess der Datenproduktion im Feld sowie die Strategien der Interpretation und Auswertung dargelegt. Der schematische Aufbau erfolgt aus Gründen der Darstellung, ist aber nicht streng chronologisch zu verstehen. Erhebung und Interpretation wurden in einer integralen Vorgehensweise realisiert, die über den gesamten Forschungsprozess hinweg die Sammlung und Analyse von kulturellen Texten, teilnehmende Beobachtung, die Ausdifferenzierung der Fragestellung und theoriegeleitete Abstraktion kombinierte (Winter 2001: 48). Dabei war das Vorgehen oft intuitiv, aber prinzipiengeleitet. Nachfolgend sollen die einzelnen Schritte rekonstruiert und gesondert erläutert werden. Diskurse als soziokulturelle Auseinandersetzungen finden sich nicht in einzelnen Texten, sondern liegen quer zu diesen und erscheinen in vielen textuellen Quellen. Die Einschränkung des Forschungsmaterials erfolgte daher primär nach forschungspragmatischen Gesichtspunkten (Hepp 1999: 265f). Der Untersuchungskorpus wurde aus Print- und TV-Beiträgen zur Fußball-WM 2010 in regierungsunterstützenden Kommunikationsmedien sowie problemzentrierten Interviews mit Intellektuellen, Journalisten und politischen Akteuren des pro- und des anti-kirchneristischen Lagers konstruiert, anhand derer die politischen Auseinandersetzungen um Fußball nachvollzogen werden konnten. Gemäß dem diskursanalytischen Zugang wurden die einzelnen Texte nicht als eigenständige Einheiten untersucht, sondern als Ausschnitte übergreifender Aussagenkomplexe. 3.3.1 Die Erhebung der medialen Berichterstattung Die empirische Untersuchung der Medienberichterstattung analysierte die symbolischen Operationen der Verknüpfung von Fußball mit diskursiven Elementen des politischen Feldes, die diesen Bedeutungsträger kultureller Werte zu einem Kampfterrain der Ausverhandlung des Popularen werden ließ. Im Zusammenhang mit der Konstruktion des national-popularen Modells des Kirchnerismus stellten die Verstaatlichung der TV-Rechte für die Fußballübertragungen der ersten Liga durch die kirchneristische Regierung im Jahr 2009 (»Fútbol para Todos«) sowie die Einsetzung Diego Maradonas als Trainer der argentinischen Nationalmannschaft bei der WM 2010 die symbolpolitisch relevantesten Eckpfeiler in diesem Feld dar. Aus Gründen der Materialreduktion wurde der Zeitraum der Fußballweltmeisterschaft von 2010 als massenmediales Ereignis ausgewählt, das zu einer Diskursverdichtung führt und eine vereinfachte Datenerhebung ermöglicht (Keller 2003: 215). Zwar 58
FORSCHUNGSPRAXIS: METHODISCHES VORGEHEN IM FELD
werden Diskurse nicht allein medial konstruiert, die modernen Massenmedien sind daher nicht als autonome Stätte der Bedeutungsproduktion zu verstehen. Die mediale Berichterstattung bietet aber ein Forum, in dem Diskurse sich entfalten können und anhand dessen der öffentliche Diskurs zu einem bestimmten Thema rekonstruiert werden kann (Keller 2003: 211f.). Die Fußballweltmeisterschaft der Herren fand 2010 vom 11. Juni bis zum 11. Juli statt. Der genaue Untersuchungszeitraum wurde vom 6.6.2010 bis zum 31.7.2010 ausgedehnt, um sowohl die Stimmung vor Spielbeginn als auch die Auseinandersetzungen um Maradonas mögliche Kontinuität als Nationalteamchef nach Ende des Bewerbs einzufangen. Als Quellen wurden das TV-Programm 6, 7, 8, die Tageszeitung Página/12 sowie die monatlich erscheinende Sportzeitschrift Un Caño herangezogen. Die Erhebung wurde nicht nach repräsentativen Gesichtspunkten durchgeführt, da das Untersuchungsinteresse den Prozessen der Sinn- und Kohärenzkonstruktion in der Verknüpfung popularkultureller Bedeutungen mit dem national-popularen Regierungsprojekt galt. Auswahlleitendes Kriterium war daher nicht die Massivität der Rezeption, sondern die Signifikanz der erwähnten Medien für die Elaboration der kirchneristischen Erzählung. 6, 7, 8 war ein täglich außer samstags im Hauptabendprogramm gesendetes TV-Format des staatlichen Canal 7, das seit März 2009 produziert und mit dem Regierungswechsel Ende 2015 wieder eingestellt wurde. Der Selbstbeschreibung nach eine »kritische Zusammenfassung dessen, was in den Medien der argentinischen Republik passiert«,1 verband das Format aus Archivmaterial editierte kommentierte Berichte über den aktuellen Mediendiskurs mit Livediskussionen zwischen einem sechsköpfigen Moderator/innenteam und zwei bis drei geladenen Gästen. Ziel der Sendung war es, den Diskurs der Mediengruppe Clarín und anderer regierungskritischer Medien zu demontieren und die Politik der kirchneristischen Regierung zu verteidigen. Die Berichte zeichneten sich durch Redundanz und parodistische Zuspitzung aus, die informell inszenierten Studiodebatten waren von Konsens geprägt, wobei die Gastdiskutant/innen, meist Künstler/innen, Intellektuelle oder politische Funktionär/innen, eine identifikationsstiftende Funktion übernahmen.2 6, 7, 8 war eine zentrale Konstruktionsinstanz kirchneristischer Identität, die von einer politisierten Minderheit rezipiert wurde. Die in der 1
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So wurde die Sendung vom Moderator eröffnet: »Muy buenas noches, bienvenidos a 6, 7, 8. Ustedes saben, los acompañamos durante una hora y media en este habitual resumen crítico de lo que sucede en los medios de la República Argentina.« Für letztere bot 6, 7, 8 eine Plattform zur Kommunikation der Regierungspolitik, diesbezüglicher Höhepunkt war Anfang 2010 der Besuch von Ex-Präsident Néstor Kirchner in der Sendung.
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Sendung entwickelten Botschaften boten der regierungsaffinen Zuseherschaft ein praktisches Argumentationsreservoir, das über seine Aufnahme und Reproduktion in unterschiedlichen Zusammenhängen amplifizierte Verbreitung gewann. Página/12 ist eine überregionale Tageszeitung mit linksliberalem Profil. Ihre ideologische Nähe zum Kirchnerismus drückte sich in einer klar regierungsfreundlichen Berichterstattung aus. Trotz ihrer geringen Auflage3 stellt sie eine wichtige meinungsbildende Kraft für Journalist/innen, Intellektuelle und progressive Sektoren der argentinischen Mittelschicht dar und gehört gemeinsam mit den beiden Traditionszeitungen Clarín und La Nación zum Kanon der zentralen argentinischen Referenzmedien. Un Caño war eine monatlich erscheinende Sportzeitschrift, die Sport als soziokulturelles Phänomen analysierte und eine junge Leserschaft mit höherem Bildungsniveau erreichte.4 Die Redaktion versammelte renommierte Autor/innen mit regierungsunterstützender Haltung und verknüpfte ihre Berichterstattung häufig mit politischen Fragen. Die Kritik an den »hegemonialen Medien« war eine bestimmende Leitlinie, das Blatt gleichwohl politisch unabhängig. Die Zeitschrift mit einer Auflage von 20.000 Stück wurde mit August 2013 auf Entscheidung des Eigentümers eingestellt. Da die interessierenden Artikulationen nicht immer auf Wortebene reflektiert sind, boten rein semantisch orientierte Selektionsprinzipien anhand einer Liste von Schlüsselwörtern kein geeignetes Kriterium für die Auswahl des Materials innerhalb des Untersuchungszeitraums. Daher wurde anstelle einer standardisierten Suche eine qualitativ begründete Auswahl getroffen. Als Kriterium galt einerseits die explizite oder implizite Bezugnahme auf den innenpolitischen Antagonismus in der Fußballweltmeisterschaft, andererseits die in die WM-Berichterstattung verwobene Reflexion über gesellschaftliche Werte, soziale Entwicklungen und »typisch argentinische« Eigenschaften. Daraus ergab sich ein Korpus von 45 Zeitungsartikeln (davon 31 aus Página/12 und 14 aus Un Caño) und 28 Folgen von 6, 7, 8. 3.3.2 Die Interviewerhebung Als Ergänzung zur Medienanalyse wurden 22 problemzentrierte Interviews mit meinungsprägenden Schlüsselakteuren aus Wissenschaft, 3 4
Diverse Internetquellen sprechen von 10.000–14.000 Exemplaren, offizielle Zahlen sind nicht verfügbar. http://www.egmediabrokers.com/uploads/7/4/5/2/7452218/uncano-mediakit-2013.pdf
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FORSCHUNGSPRAXIS: METHODISCHES VORGEHEN IM FELD
Medien und Politik zu den hegemoniestrategischen Hintergründen populistischer Symbolpolitik geführt, die im politisch-kulturellen Diskurs prominent vertreten waren.5 Diese Persönlichkeiten wurden als »diskursive Eliten« gefasst, die als »Wortführer diskursiver Gemeinschaften« in ihren Sichtweisen und Begründungen die dominanten diskursiven Konfigurationen reproduzierten, welche sie selbst mitgeformt hatten (Schwab-Trapp 2001: 271). Gemäß der forschungsleitenden Frage nach der symbolischen Inszenierung antagonistischer Identitäten wurde versucht, Vertreter/innen des regierungskritischen sowie des regierungsunterstützenden Lagers zu befragen, die als repräsentativ für die jeweiligen politisch-ideologischen Ausrichtungen betrachtet werden können (Schwab-Trapp 2003: 175–177). Die Erhebung bemühte sich um eine gewisse Diversität im Meinungsspektrum, um mehr als nur die »Ultrapositionen« zu erfassen. Gleichzeitig ließ das die Beschränkungen einer strikten Zweiteilung aller Diskursbeiträge in zwei »Lager« sichtbar werden. Der heuristische Ansatz soll nicht der Verfestigung der Dichotomisierung dienen. Die Strategie der Zweiteilung wurde in die Strukturierung des Forschungsvorgehens aufgenommen, weil die Unhintergehbarkeit der antagonistischen Spaltung in der politisch-kulturellen Debatte die mehr oder weniger dezidierte Positionierung auf einer Seite für die involvierten Akteur/innen selbst zur Notwendigkeit werden ließ. Der gezielte Vergleich von Diskursbeiträgen entlang der politischen Konfliktlinien war daher für die Rekonstruktion dieses polarisierten Panoramas zweckdienlich, soll aber nicht die interne Heterogenität der um beide Pole gruppierten Narrationen und die Überschneidungen zwischen ihnen verdecken.6 Der Fokus auf Personen aus dem akademisch-medialen Umfeld war der Tatsache geschuldet, dass die Figur des »Intellektuellen« in der argentinischen Politdebatte deutlich stärker ausgebildet war als ihr Pendant in europäischen Diskurslandschaften und ihr meinungsbildendes Gewicht dementsprechend hoch war. Dies galt in noch verstärktem Maße für die Opposition, deren zersplittertes parteipolitisches Spektrum verschwindenden Einfluss auf die Strukturierung diskursiver 5
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Dass letztlich nur männliche Vertreter interviewt wurden, ist im Zusammenhang mit den Geschlechterverhältnissen im beforschten Feld zu sehen. Ein Gespräch mit Beatriz Sarlo, einer der wenigen medial präsenten Frauen des kirchnerkritischen Spektrums und gleichzeitig intellektuelle Speerspitze desselben, kam trotz wiederholter Versuche der Kontaktaufnahme nicht zustande. Einige weitere kontaktierte Frauen lehnten ein Gespräch mangels eigener »Expertise« ab. Eine den Antagonismus zu übersteigen versuchende Position zeigt sich am klarsten im Interview mit Martín Bergel. Andere wie Ricardo Forster oder Tomás Abraham traten dagegen geradezu als »organische Intellektuelle« der jeweiligen antagonistischen Pole auf.
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NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
Auseinandersetzungen ausübte. Der Protest gegen die kirchneristische Politik wurde fast ausschließlich von Figuren aus dem medialen und akademischen Umfeld protagonisiert, die teilweise wie moralische Instanzen inszeniert wurden, sodass auch hier der Rückgriff auf Intellektuelle und Publizisten naheliegend war. Die Kontaktaufnahme mit offiziellen Regierungsvertreter/innen gestaltete sich schwierig, da sich ihre Kommunikationsstrategie auf Ansprachen bei politischen Akten konzentrierte. Dieser Umstand führte zur forschungspragmatischen Entscheidung, auf ungleich zugänglichere Aktivisten kirchneristischer Unterstützerorganisationen auszuweichen. Ähnlich wie in der Erhebung des Medienkorpus erwies sich eine standardisierte Auswahl angesichts des spezifischen Erkenntnisinteresses nicht zweckdienlich. Dagegen wurde ein selektives Sampling paradigmatischer Fälle vorgenommen und die Auswahl daran orientiert, welche zentralen Akteure im politischen Diskurs als Meinungsträger auftraten (Schatzmann/Strauss 1973). Dies wurde anhand von politisch motivierter Publikationstätigkeit, Auftritten in TV-Debatten, Mitgliedschaft in einer der politisch positionierten Intellektuellengruppen etc. bewertet. Eine Rolle spielte dabei, ob die betreffenden Personen zur kirchneristischen Symbolpolitik bzw. konkret zur popularen Symbolik des Fußballs im politischen Kontext Stellung genommen hatten. Die Stichproben wurden nach ersten Ergebnissen kumulativ auf weitere Einheiten ausgedehnt, welche die bisherigen Resultate bestätigen oder komplementieren sollten. Dabei wurde nach dem Schneeballprinzip vorgegangen und die interne Vernetztheit der relevanten Akteure zur weiteren Kontaktaufnahme genutzt. Die durchgeführten Interviews wurden letztlich als Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit gefasst, die in ihrer Zusammenschau ein Feld aufspannten, über das verallgemeinerbare Aussagen getroffen werden können (Strauss/Corbin 1996). 3.3.3 Interviewkonzeption und Interviewführung Qualitative Interviews liefern »discursive images of the world that are much less sanctioned, formalized and rationalized than documents« (Dreyer Hansen/Sørensen 2005: 99). Während das analysierte Medienmaterial die Antagonismen als Ergebnis der diskursiven Verknüpfungen erkennbar werden lässt, erlaubt das Interview mit seinen Interventionsmöglichkeiten für die forschende Person zusätzliche Rückschlüsse auf die Aushandlungsprozesse, die der Konstitution der diskursiven Konfliktlinien zugrunde liegen. Die Entscheidung für eine problemzentrierte Interviewform war ihrer besonderen Eignung für theoriegeleitete Zugänge geschuldet, da sie im Gegensatz zu narrativ-biographischen Interviews eine aktivere Gestaltung in der Gesprächsführung vorsehen (Mayring 62
FORSCHUNGSPRAXIS: METHODISCHES VORGEHEN IM FELD
2002: 67–70). Dies ermöglichte, die Fragestellung in Hinblick auf die eigenen theoretischen Konzepte zu strukturieren. In Ergänzung zur Erhebung der Medienberichterstattung wurde in den Interviews zu erfassen versucht, wie die involvierten Akteure die Funktionalität, Legitimität und Folgenhaftigkeit der symbolischen Konstruktion von Fußball zur soziokulturellen Verkörperung eines popularen Subjekts reflektierten. Damit sollte gezeigt werden, welche Konsequenzen das Denken des Politischen in Begriffen von Antagonismus und Hegemonie für die Relevanzbestimmung symbolischer Subjektkonstitution über kulturelle Topoi in hegemonialen Deutungskämpfen um das Populare zeitigt. Das problemzentrierte Interview ist seinem Namen gemäß auf eine bestimmte Problemstellung hin ausgerichtet, die zu Beginn des Interviews explizit eingeführt und durch Fragen im Verlauf des Gesprächs weiter vertieft wird. Durch die problemzentrierte Lenkung der Interviewsituation kann der Forscher bzw. die Forscherin »ein Themengebiet in seiner Vollständigkeit abtasten, indem ihm sein Wissen dazu verhilft, kürzelhafte, stereotype oder widersprüchliche Explikationen der Interviewten zu entdecken und entsprechende Nachfragen zur detaillierten Klärung zu stellen.« (Witzel 1982: 68). Die Fragen im Interviewverlauf bleiben nicht auf die Funktion als erzählgenerierender Stimulus beschränkt, sondern werden verständnisgenerierend eingesetzt. Erhebung und Auswertung sind daher nicht als strikt zu trennende Prozesse zu begreifen, vielmehr werden eigener Wissenshintergrund, Forschungsinteresse und Hypothesen durch exmanente Fragen in die Interviewsituation selbst hineingetragen (Witzel 1982: 67–77). Das Erkenntnisinteresse der Interviews galt nicht vorrangig der bloßen Erhebung der Identitätsbeschreibungen und narrativen Muster an sich, die bereits aus der Medienanalyse bekannt waren, sondern der Frage danach, wie die politisch-kulturellen Verknüpfungen begründet und in ihrer politische Bedeutsamkeit eingeschätzt wurden. Die Interviewpartner griffen in ihren Narrationen auf gesellschaftlich wirkmächtige kulturelle Deutungsmuster und Werte zurück und artikulierten sie mit diskursiven Elementen aus dem politischen Feld. Die explizite Frage nach der politischen Relevanz des argentinischen Fußballs als Symbol des Popularen in hegemonialen Deutungskämpfen veranlasste sie, diese Positionen anhand von Beispielen argumentativ zu untermauern. Mit der direkten Aufforderung zur Begründung der geäußerten Standpunkte wurden die Akteure auch herausgefordert, zu anderen im einschlägigen Diskurs kursierenden Narrationen Stellung zu nehmen. Dazu wurden unterschiedliche Lesarten vorgeschlagen, die dann entweder zurückgewiesen und argumentativ widerlegt oder auch bestätigt und plausibilisiert werden konnten. Gerade indem Widersprüche in den Erklärungen und Deutungen gezielt thematisiert wurden, konnten implizit konstruierte 63
NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
Weltsichten offengelegt werden. So wiesen die geführten Diskussionen und die dabei verwendeten Argumente Deutungskämpfe um zentrale Werte im Feld der politischen Kultur aus und machten den Prozess der Konstruktion von Bedeutungen nachvollziehbar. So wurde versucht, »die Konstruktionsweisen gesellschaftlicher Wirklichkeit aus der Perspektive der Handelnden zu erschließen« (Witzel 1982: 7), ohne in einem »naiven« Zugang den Standpunkt der beforschten Subjekte einzunehmen und ihre Interpretationsleistungen abgetrennt von deren gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen zu erschließen (Winter 2001: 48–50). Die Kombination des hermeneutischen Zugangs mit einer diskurstheoretischen Perspektive ermöglichte, die subjektiven Sichtweisen als vom politischen und kulturellen Kontext geprägte nachzuvollziehen und aus der Art der Bedeutungsverknüpfungen, Gegensatzkonstruktionen und Verwendung narrativer Motive politische Strategien abzuleiten. Damit war das Erkenntnisinteresse der Interviews darauf gerichtet, welche Funktion die politisch-kulturellen Artikulationen in der hegemonialen Auseinandersetzung erfüllten und welche Rückschlüsse daraus auf die Rolle popularkultureller Symbolisierung in der populistischen Logik gezogen werden konnten. Die Interviews wurden anhand eines Leitfadens geführt, der auf Basis der zu narrativen Mustern gebündelten Resultate der Medienerhebung, des aktuellen Stands der sozialwissenschaftlichen Fußballforschung in Argentinien sowie der theoretischen Erkenntnisinteressen erarbeitet wurde. Allerdings wurde dieser Leitfaden nie als solcher abgefragt. Vielmehr wurde versucht, auch die strukturierenden Eingriffe so zu gestalten, dass sie das Relevanzsystem der Interviewten berücksichtigten und daran anknüpften, um den Erzählfluss aufrechtzuerhalten. So ergaben sich höchst unterschiedliche, nicht-standardisierte Gesprächsverläufe. Der Leitfaden wurde dabei permanent weiterentwickelt, indem Statements aus bisherigen Interviews in den darauffolgenden zum besseren Verständnis des Diskurses zur Diskussion gebracht wurden. Schließlich waren die ersten, Ende 2011 geführten Interviews deutlich explorativer angelegt als das Gros der Gespräche, das im Laufe des Jahres 2012 stattfand. Sowohl in der Kontaktaufnahme als auch in der Einleitung des Interviews wurde erklärt, dass die Studie Fußball in seiner Qualität als kultureller Bedeutungsträger bzw. dessen Relevanz zur Symbolisierung politischer Projekte im Kontext der Reaktualisierung eines national-popularen Interpretationsrahmens durch die kirchneristische Regierung untersuche. Dabei wurde explizit gemacht, dass das Interesse den persönlichen Einschätzungen und Begründungen der Interviewpartner galt. Nach dieser Einordnung diente die Verankerung der Fragestellung in der Fußballweltmeisterschaft 2010 als Anlass, um das Gespräch mit der Leitfrage nach der politischen Bedeutung der medialen Debatten über 64
DIE AUSWERTUNG DES EMPIRISCHEN MATERIALS
die WM anzustoßen. Die weiteren Fragenkomplexe behandelten die Figur Maradonas in ihrer identitätspolitischen Bedeutung, die Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte in ihrem Zusammenhang mit dem Kampf gegen Clarín, das identitätsstiftende Potential von Fußball und die strategischen Möglichkeiten seiner politischen Nutzbarmachung zur Hegemonialisierung eines national-popularen Projekts sowie die »Querschnittsfrage« nach Erfolg und Nutzen dieser symbolischen Operationen.
3.4 Die Auswertung des empirischen Materials In der Analyse beider Materialsorten wurde in mehreren Schritten vorgegangen. In einem ersten Schritt wurden die Stellen in den Dokumenten identifiziert, die – auch implizite – evaluative Kommentare enthielten. Diese Teilsegmente wurden auf die enthaltenen Charakterisierungen hin betrachtet. So ging es zu Beginn vor allem darum, welche Bedeutungen den einzelnen Phänomenen und Akteur/innen zugeschrieben wurden, womit und wie sie mit etwas anderem kontrastiert wurden und welche Werte durch diese Zuschreibungen konstruiert und als wünschens- oder ablehnenswert inszeniert wurden. Dazu wurde in diesem ersten Durchlauf vor allem extensiv zu den verwendeten Attributen, Beispielen, Schlagworten und anderen metaphorischen Elementen assoziiert.7 Anhand der Fragen, welche Topoi aktualisiert wurden, welche Leitidee in diesen reartikulierten Bildern steckte, und wie ein beschriebenes Ereignis oder eine Entwicklung durch ihre Platzierung in einem spezifischen symbolischen Umfeld strukturiert wurde, wurden die diskursiven Konstellationen der Narrationen mit bestimmten Rollenverteilungen, Kausalitätsmodellen und Handlungsanweisungen rekonstruiert. 7
Eine Analyse, die nicht auf textimmanenter Ebene verbleibt, setzt ein Verständnis des kulturellen und politischen Kontextes des Forschungsgegenstands voraus. Um die reine Text- zu einer Diskursanalyse hin zu übersteigen, wurde die Untersuchung des beschränkten Korpus durch die Berücksichtigung weiterer kulturellen Produktionen von Werbespots bis zu Popmusiktexten und durch kontinuierliche ethnographische Beobachtungen ausgeglichen. Der eineinhalbjährige Forschungsaufenthalt vor Ort erwies sich für die Entwicklung einer interpretativen Kompetenz aus dem Kontextverständnis heraus als äußerst hilfreich. Interesse und Geduld, sich auch bereits Bekanntes immer wieder erklären zu lassen, waren unabdingbare Begleiter im Kontakt mit dem beforschten Umfeld, um über die Begründungen auf darunterliegende Weltsichten zu stoßen. Die kulturelle Nicht-Zugehörigkeit war eher von Vorteil, da die eigene Person als »kontrastiver Fall« diente. Was vom argentinischen Umfeld als »typisch europäisch« qualifiziert wurde, ließ auch Rückschlüsse auf kollektive Selbstbildkonstruktionen zu.
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NARRATIVIERUNGSPROZESSE ANALYSIEREN
Diese ersten Konstellationen wurden anschließend mit ähnlich strukturierten Narrationen zu mehreren Erzählsträngen gruppiert, die jeweils ein bestimmtes Motiv als zentrale Aussage voranstellten. So entstand eine reduzierte Anzahl privilegierter Lesarten, die angelehnt an die in den Quellen selbst verwendeten metaphorischen Elemente mit kurzen formelhaften Wendungen benannt wurden. Diese »Bebilderung« ermöglichte es, die Werte explizit zu machen, die in den Inszenierungen transportiert wurden, und sie in konzeptuelle Kategorien zu übersetzen. Schließlich wurde in einem dritten Schritt die Frage gestellt, welche politischen Strategien in den Erzählungen sichtbar wurden. Dazu wurde logisch schlussfolgernd versucht zu klären, was im politischen Kontext mit der Betonung bestimmter Aspekte und der Zurückweisung anderer Deutungsmuster bewirkt werden sollte, wozu die konstruierten Konfliktlinien, die Gegenüberstellungen auf zeitlicher Ebene und die Selbst- und Fremdbeschreibungen im Rahmen der antagonistischen Auseinandersetzung dienten. Bei diesen Ableitungen handelte es sich um Interpretationsleistungen, die im Material selbst nicht mehr sichtbar wurden. Die Frage nach dem Warum konnte daher oft erst in der Zusammenschau der unterschiedlichen Narrationen geklärt werden, indem die Auflösung der Widersprüche zwischen verschiedenen Lesarten durch ihre Integration in eine größere Konfiguration die dahinterstehenden Strategien erkennen ließ. Dazu wurden die Narrationen in analytische Blöcke zu den unterschiedlichen Dimensionen der Fragestellung geclustert, die bereits den späteren Analysekapiteln entsprachen. Innerhalb dieser Blöcke wurden die narrativen Muster zu einer übergreifenden Argumentationsstruktur arrangiert. Die Integration in eine gemeinsame Matrix zeigte, wie die diskursiven Artikulationen zusammenpassten, wie sie einander stützten und wie die insinuierte Schlussfolgerung einer Narration wiederum das Argument einer anderen ermöglichte. So wurde eine kohärente Konfiguration nachvollzogen, in die sich die einzelnen Erzählstränge wie Puzzleteile sinnhaft einfügen ließen und auch die Widersprüche im Material erklärbar wurden.
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II. Kontextualisierung
4. Populismus in Argentinien Mit dem Kirchnerismus etablierte sich ab 2003 ein politisches Projekt, das sich in Abgrenzung von der neoliberalen Politik des vergangenen Jahrzehnts definierte und ein populares Subjekt als legitime Repräsentation der politischen Gemeinschaft zu installieren versuchte. Zum Verständnis der artikulatorischen Praxis des Kirchnerismus, sowohl in seinen historischen Bezugnahmen als auch in seiner Verankerung in einer spezifischen politischen Kultur, soll in diesem Kapitel ein Abriss jener politischen und sozialen Entwicklungsprozesse Argentiniens geleistet werden, die in den aktuellen Debatten resonant sind, um im Anschluss die Genese der kirchneristischen Bewegung nachzuvollziehen.
4.1 Die populistische Tradition Der Kirchnerismus reiht sich in seinem Rückgriff auf die populistische Logik als politischen Strukturierungsmodus in eine Geschichte dichotomisierter Politikzyklen sowie den Versuchen ihrer Auflösung ein. José Nun, kirchneristischer Kulturminister von 2004 bis 2009 und späterer Kritiker der Regierung, wirft derselben in einem Interview von 2013 die Installierung einer Freund-Feind-Logik vor, die »nicht bloße Zierde ist, sondern eine Auffassung der Wirklichkeit«, und präzisiert: »Dieses Verständnis der Realität geht dem Kirchnerismus voraus, es ist sogar älter als der Peronismus. Es ist eine bedauerliche argentinische Tradition.« (Nun 2013)1 Auch wenn die Bewertung dieser Tradition bereits den historiographischen Konsens sprengt, die Geschichte Argentiniens im 20. Jahrhundert ist von einer populistischen Matrix geprägt. Noch vor der Entstehung des Peronismus und seiner Etablierung als historisch prägender Kraft seit den ersten beiden Amtszeiten Juan Domingo Peróns (1946–1955) stellt die Regierungszeit Hipólito Yrigoyens von der bürgerlich geprägten Radikalen Partei (Unión Cívica Radical, UCR) ab 1916 die erste Erfahrung der Integration neuer politischer Subjekte über populistische Mobilisierung dar. In beiden Fällen operierte eine national-populare Anrufungspraxis, welche die eigene Bewegung mit dem Volk und diese mit der Nation gleichsetzte. Aboy Carlés beschreibt diese national-populare Konstruktion als allumfassenden Solidaritätsrahmen, der gleichzeitig als Ausschlussprinzip im politischen Kampf fungiert: »In 1
Spanisches Original: » […] no es un adorno, sino una visión de la realidad.«; »Esa manera de entender la realidad precede al kirchnerismo, es incluso anterior al peronismo. Es una lamentable tradición argentina.«
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POPULISMUS IN ARGENTINIEN
diesem Rahmen griffen sowohl der Yrigoyenismus als auch der Peronismus auf die Identifikation mit der Nation als Spaltungsprinzip der politischen Formation zurück und ließen so das gegnerische Lager (›das Regime‹, ›die Oligarchen‹) außerhalb des genannten Solidaritätsrahmens zurück.« (Aboy Carlés 2001: 159)2 Am Beispiel der UCR und ihrer Gleichsetzung mit der Nation im Diskurs Yrigoyens fasst Aboy Carlés den hegemonialen Anspruch populistischer Politik als »Vorstellung der Verkörperung eines monistischen Willens, der die Gesamtheit repräsentiert und sich als Garantie der Konstruktion der Nation über jeder Parteilichkeit befindet.« (Aboy Carlés 2001: 99)3 Die populistische und antiliberale Prägung der beiden ersten demokratischen Erfahrungen der argentinischen Politik begründet sich in der Verbindung der argentinischen liberalen Tradition mit dem politischen System der herrschenden landbesitzenden Elite, das sich als unfähig zur politischen Einbindung der popularen Schichten erwiesen hatte (Novaro 1998: 25, 40f.). Die Selbstinszenierung als authentischer Repräsentant des Volkswillens ist als Versuch zu verstehen, das eigene politische Projekt als nationale Volksbewegung zu hegemonialisieren. Dies erlaubte sowohl Yrigoyen als auch Perón eine radikale Infragestellung des Status quo und diente als Werkzeug des politischen und sozialen Wandels (Romero 2004: 271). Das populistische Konstitutionsmoment in der Entstehungsgeschichte der UCR und des peronistischen PJ (Partido Justicialista), die zu den bestimmenden Kräften des Zweiparteiensystems bis zur Krise von 2001 werden sollten, begründete sowohl die Geschlossenheit und Persistenz der politischen Identitäten in Argentinien als auch die damit verbundene hohe politische Konfliktivität (Aboy Carlés 2001: 160). Der Peronismus leistete die politische und sozioökonomische Integration der neuen urbanen Industriearbeiterschaft, indem er den Kampf um »soziale Gerechtigkeit« als Signifikanten privilegierte, der die antagonistische Grenzziehung organisierte und neue politische Identitäten schuf (Barros/Castagnola 2000: 29). Diese Reartikulation der politischen Ordnung bedeutete auch eine symbolische Integration: die Arbeiterschichten wurden zum Kern der Repräsentation des populistischen pueblo und ersetzten die bisherige agrarisch geprägte Nationsvorstellung im sozialen Imaginären (Svampa 2000: 122). Das national-populare Volk des Peronismus war dennoch nicht als klassenkämpferische Formation, sondern als staatlich organisierter Klassenkompromiss zwischen Unternehmern 2
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Spanisches Original: »En ese marco, tanto el yrigoyenismo como el peronismo recurrieron a una identificación con la nación como principio de escisión de la formación política, dejando fuera de dicho marco de solidaridades al campo adversario (›el Régimen‹, ›los oligarcas‹).« Spanisches Original: » […] idea de encarnación de una voluntad monista que representa la globalidad y que se encuentra por encima de toda parcialidad como garantía de construcción de la nación.«
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DIE POPULISTISCHE TRADITION
und Arbeiterklasse gedacht. Die national-popularen Prinzipien der politischen Souveränität, der ökonomischen Unabhängigkeit und der sozialen Gerechtigkeit ziehen die politische Spaltungslinie im sozialen Feld nicht zwischen links und rechts, sondern zwischen patria und antipatria. In einer Rede von 1973 an die peronistische Jugend erklärt Perón: »Ja, wir haben eine Ideologie und eine Doktrin, innerhalb derer wir uns entwickeln. Einige befinden sich rechts von dieser Ideologie und andere links davon, aber sie befinden sich in der Ideologie. Die von der Rechten protestieren, weil die von der Linken da sind, die von der Linken protestieren, weil die von der Rechten da sind. Ich weiß nicht, wer von beiden recht hat. Aber das ist etwas, was mich nicht interessiert. […] Meine Mission ist es, die größtmögliche Zahl zu verbinden. Denn die Politik hat diese Technik: die höchste Zahl von zugeneigten und denkenden Leuten anzusammeln, zu den Zielen, die man verfolgt. Jeder, der so denkt oder fühlt, hat hier zu sein.« (zit. n. Garrone/Rocha 2003: 15)4
Die Spannung zwischen dieser »Bewegungsidentität – das heißt, von umfassendem Anspruch, bis zur Gleichsetzung mit dem Volk in seiner Totalität« (Cheresky 2008: 104)5 und der antagonistischen Logik ihrer rhetorischen Konstruktion macht das aus, was Aboy Carlés die »radikale Ambiguität« des Populismus nennt (Aboy Carlés 2001: 311). Einerseits dient der populistische Bruch mit der bisherigen sozialen Ordnung der Schaffung einer geschlossenen und damit stabilen Identität gegenüber einem konstitutiven Außen, andererseits zielt der hegemoniale Impetus auf die Auflösung dieser Spaltung und die Kooptierung des Anderen in einem einheitlichen Raum, dessen hegemoniale Repräsentation der populistische Führer ist. Dennoch muss die Spaltung zur Wahrung der populistischen Identität beständig erneuert werden. Die unauflösbare Spannung zwischen antagonisierenden popularen und hegemonialisierenden nationalen Referenzen begleitet die politische Geschichte Argentiniens und zeigt sich in der mangelhaften Entwicklung institutioneller Aushandlungsmechanismen (Aboy Carlés 2001: 312–314). 4
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Spanisches Original: »Tenemos, sí, una ideología y una doctrina, dentro de la cual nos vamos desarrollando. Algunos están a la derecha de esa ideología y otros están a la izquierda, pero están en la ideología. Los de la derecha protestan porque éstos de la izquierda están, y los de la izquierda protestan porque están los de la derecha. Yo no sé cuál de los dos tiene razón. Pero es una cosa que a mí no me interesa. […] La misión mía es la de aglutinar el mayor número posible. Porque la política tiene esa técnica: acumular la mayor cantidad de gente proclive o pensante, hacia los objetivos que se persiguen. Todo el que piense o sienta así, debe estar. « Spanisches Original: » […] identidad movimientista –es decir, de pretensión abarcadora al punto de equipararse con el pueblo en su totalidad […]«.
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POPULISMUS IN ARGENTINIEN
Der Peronismus stützte seine Legitimität auf ein populares Mandat der Bewegung, deren Einheit von der Identifikation zwischen dem populistischen Führer und seiner Basis gesichert wurde (Cheresky 2008: 104f.). Das schuf geschlossene und krisenresistente politische Identitäten. So überlebte der Peronismus die Zeit seiner Proskription nach dem Staatsstreich gegen Perón und dessen Exilierung bis 1973. Die versuchte »Entperonisierung« durch die Militärs scheiterte, die politische Repression reproduzierte vielmehr die Dichotomie und konsolidierte die unversöhnlichen Identitäten weiter, sodass der Antagonismus zwischen Peronisten und Antiperonisten unhintergehbar wurde (Barros/Castagnola 2000: 30f.). Die Unlösbarkeit des Konflikts führte zu der charakteristischen politischen Instabilität, der Missachtung der republikanischen Institutionen durch beide Lager und wiederholten Militärinterventionen. Nachdem die zunehmend krisenhafte Situation Anfang der 1970er die Rückkehr Peróns in eine weitere, kurze Amtszeit ermöglicht hatte, zeigte sich der Zusammenhang von Polarisierung und Eskalation allerdings auch innerhalb der peronistischen Bewegung, die sich in konkurrierende Strömungen heterogenisiert hatte. Die Fraktionen reichten von linksrevolutionären Guerillagruppen wie den Montoneros bis zu rechtsextremen Terrorgruppen wie der 1973 gegründeten regierungsnahen Triple A (Alianza Anticomunista Argentina), deren gewaltsame Auseinandersetzungen nach Peróns Tod 1974 an Intensität gewannen, als seine Witwe Isabel die Präsidentschaft in einem zunehmend unkontrollierbaren wirtschaftlichen Kontext weiterführte, bis ihre Regierung 1976 schließlich durch einen weiteren Militärputsch beendet wurde (Novaro 2010: 15–139).
4.2 Die historischen Versatzstücke des Kirchnerismus im Entstehungskontext Die Zeit der Militärdiktatur von 1976 bis 1983 und der erinnerungspolitische Umgang mit ihr in den Jahren nach der Rückkehr zur Demokratie sind für das Verständnis der kirchneristischen Symbolpolitik zentral. Insbesondere die Artikulation mit der Figur des Montoneros sowie der Madre de Plaza de Mayo als Symbolbilder des idealistischen Kampfes für Gerechtigkeit stellt den Kirchnerismus als Bruchpunkt mit einem 1976 begonnen Kapitel der argentinischen Geschichte heraus und signalisiert seine Anknüpfung an die linksperonistischen Strömungen der 1970er Jahre. Die linken Organisationen wurden vom staatlichen Terrorismus der Militärregierung mit seiner systematischen Praxis der klandestinen Entführungen, Folterungen und Ermordungen bis Ende der 1970er Jahre zerschlagen. Der Terror richtete sich darüber hinaus gegen alle, die vom Regime als »subversive Elemente« identifiziert wurden, und zeigte 72
DIE HISTORISCHEN VERSATZSTÜCKE DES KIRCHNERISMUS
disziplinierende Wirkung auf potentiell widerständige Kräfte (Novaro/ Palermo 2003). In diesem Kontext der Schwächung kollektiver Identitäten und der Destrukturierung einer bislang stark mobilisierten Gesellschaft formierte sich ohne Unterstützung traditioneller politischer Akteure ab 1977 mit den Madres de Plaza de Mayo eine von den Müttern sogenannter desaparecidos (Verschwundener) ausgehende Menschenrechtsbewegung. Die Abuelas de Plaza de Mayo (Großmütter der Plaza de Mayo) forderten darüber hinaus die Rückgabe von Kleinkindern, die nach der Entführung und Ermordung ihrer Eltern zur Adoption freigegeben worden waren. Diese Organisationen verbanden die Suche nach ihren Angehörigen mit der Forderung nach Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Ab Anfang der 1980er Jahre, als infolge einer gescheiterten Wirtschaftspolitik des autoritären Regimes die soziale Mobilisierung wieder an Kraft zu gewinnen begann, wuchs auch der Einfluss der Menschenrechtsorganisationen. Die Mütter der Verschwundenen wurden mit ihren Demonstrationen vor dem Regierungsgebäude auf der Plaza de Mayo zum Symbol des Widerstands gegen die Militärjunta, ihre Forderungen fanden zunehmend Widerhall in der Bevölkerung und trugen zur Delegitimierung des Regimes bei (Pereyra 2005: 151–155). Nachdem die militärische Invasion der Malvinasinseln, die im Kontext einer Wirtschaftskrise national einigend wirken sollte, in einem Debakel endete und den Auflösungsprozess des Regimes beschleunigte, kehrte Argentinien 1983 zu freien Wahlen zurück. Raúl Alfonsín, der sich als Präsidentschaftskandidat der UCR gegen den Konkurrenten des peronistischen PJ durchsetzen konnte, war einer der wenigen Vertreter beider Parteien, welche die nationale Kriegseuphorie während der Besetzung der Falklandinseln nicht mitgetragen hatten. In seiner Rolle als Präsident des postdiktatorialen Argentiniens machte er die Forderungen der Menschenrechtsbewegungen zum Staatsdiskurs, leitete einen Prozess gegen die Juntamitglieder ein und berief eine Wahrheitskommission zur Dokumentation der Verbrechen (Pereyra 2005: 152–157; Crenzel 2010: 7–17). Über den klaren Bruch mit der autoritären Vergangenheit als Legitimitätsbasis versuchte die Regierung, eine neue politische Trennlinie entlang des Begriffs der Demokratie zu installieren. Allerdings positionierte dies auf der Gegenseite der UCR als Protagonist der demokratischen Erneuerung mehr als nur die Diktatur. Aboy Carlés spricht vom »Narrativ einer notwendigen doppelten Ruptur« (Aboy Carlés 2004: 39) des Alfonsinismus, der neben der Militärdiktatur als unmittelbare Vergangenheit auch die politische Kultur des Faktionalismus zwischen polarisierten politischen Identitäten als längerfristige Vergangenheit zu überwinden beanspruchte. Dieses Narrativ rückte die politische Gewalt der 1970er Jahre in die Nähe der Militärdiktatur und positionierte beide im antidemokratischen Außen der diskursiven Konstruktion (Aboy Carlés 2004: 37–40). Tatsächlich hatte 73
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die gewaltsame Eskalation schon mit den Aktionen der Guerrillas und der paramilitärischen Gruppen unter den justizialistischen Regierungen von 1973 bis 1976 begonnen, im Falle der ultrarechten Todesschwadronen der Triple A sogar unter Koordination des peronistischen Sozialministers José López Vega. Dennoch bedeutete die »Theorie der zwei Dämonen« als staatliche Erinnerungskonstruktion eine undifferenzierte Gleichsetzung des systematischen Terrors der Diktatur mit den bewaffneten Organisationen, nach der letztere ersteren provoziert hätten, und stellte ihnen eine unbelastete Bevölkerung als Opfer der »nationalen Tragödie« gegenüber, die nun überwunden werden sollte (Palermo 2004; Fuchs 2010: 81–106). Die Kritik an den antipluralistischen Tendenzen der populistischen Tradition, deren hohe Mobilisierungskraft in der Vergangenheit politische Projekte mit hegemonialen Ansprüchen und destabilisierenden Effekten auf das institutionelle System mit sich gebracht hatte, bewirkte in Verbindung mit der klaren Anerkennung einer liberal-republikanischen Parteiendemokratie ab 1983 eine neuartige Restrukturierung der politischen Identitäten (Aboy Carlés 2001: 257f.). Die Distanznahme zur Vergangenheit der Diktatur platzierte Peronisten wie Militärs auf der Kehrseite des institutionalistischen Diskurses der UCR, widersprach aber letztlich dem zweiten Bruch mit dem Faktionalismus hegemonialer Politikstrategien und erschwerte die Konzertierung mit dem PJ. Zwar hatte Alfonsín mit dessen interner Strömung der Renovación Peronista einen potentiellen Partner, der wie der Alfonsinismus eine kritische Revision der autoritären Vergangenheit leistete und den disruptiven Charakter des orthodoxen Peronismus in Frage stellte (Aboy Carlés 2004: 41–48). Die Renovadores waren aber selbst in partei- wie strömungsinterne Auseinandersetzungen verwickelt und mussten sich im Kampf um das Erbe des Peronismus, dessen Identität unklar geworden war, von der UCR unterscheiden (Carreras 1999: 122–166). Weder Alfonsín noch die peronistischen Erneuerer konnten oder wollten daher die Feindrhetorik des populistischen Imaginären völlig hinter sich lassen. So konstatiert Novaro: »Die Situation lässt sich also Ende der Achtziger darin zusammenfassen, dass die traditionellen Alteritäten subvertiert waren und folglich die politischen Identitäten, die sich aus ihnen ableiteten, an Konsistenz verloren hatten, aber die Beharrlichkeit der Tradition machte es sehr riskant, jene durch eine neue Logik des Wettbewerbs und der Aggregation zu ersetzen, und diese in konsistenten Begriffen zu reformulieren.« (Novaro 1998: 34)6 6
Spanisches Original: »La situación entonces, a finales de los ochenta, puede resumirse en que las alteridades tradicionales estaban subvertidas, y consecuentemente las identidades políticas que derivaban de ellas habían perdido consistencia, pero la inercia de la tradición hacía muy arriesgado reemplazar
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DIE HISTORISCHEN VERSATZSTÜCKE DES KIRCHNERISMUS
Alfonsín konnte sein Versprechen, dass das demokratische Funktionieren auch für Aufschwung und Wohlstand sorgen würde, nicht einlösen. Nach der langen Phase importsubstituierender Industrialisierung, die als Antwort auf den Exporteinbruch nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 begonnen worden war, hatte die Militärdiktatur die neoliberale Umstrukturierung von Staat und Wirtschaft eingeleitet. Die Öffnung Argentiniens für den Weltmarkt hatten Kapitalkonzentration und Reallohnverluste bewirkt und eine Gesellschaft desintegriert, die noch bis Anfang der 1970er durch eine breite Mittelschicht und die Möglichkeit sozialer Mobilität gekennzeichnet war. Die tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialstrukturellen Veränderungen und die Korruption hatten einen Staat in Auflösung, eine reduzierte Industrieproduktion und hohe Auslandsschulden zurückgelassen (Romero 2002: 221–235). Ein schweres Erbe antretend, scheiterte Alfonsín mit seinem Projekt der politischen und ökonomischen Erneuerung letztlich daran, unter den Bedingungen der schwierigen Kooperation mit dem politischen Konkurrenten die zunehmend dramatische wirtschaftliche Krise und zuletzt die Hyperinflation unter Kontrolle zu bringen, und trat nach einer Reihe von Generalstreiks und Plünderungen 1989 zurück (Romero 2002: 267– 283). Selbst die strafrechtliche Verfolgung weiterer Verantwortlicher der Diktaturverbrechen war mit dem Schlusspunktgesetz 1986 und dem Befehlsnotstandsgesetz von 1987, auch unter dem Druck der Militärs und aus Angst vor einem weiteren Putsch, vorzeitig beendet worden. Unter Nachfolgepräsident Carlos Menem wurde mit der Begnadigung der bereits verurteilten Militärs zu Beginn seiner Amtszeit der Schlussstrich unter die Vergangenheitsaufarbeitung als scheinbare Notwendigkeit zur »Befriedung« des Landes endgültig (Fuchs 2010: 107–131, 178–184). Die Schockwirkung der hyperinflationären Erfahrung ermöglichte dem aus den Reihen der peronistischen Renovadores kommenden Menem einerseits eine hohe Konzentration der politischen Macht in der Exekutive, andererseits die Durchsetzung einer neoliberalen Transformationspolitik als alternativlose Notwendigkeit. Die Konstruktion seiner Politik rund um den Begriff der Stabilität bewirkte unter anderen Vorzeichen, was Alfonsín mit seinem Diskurs der demokratischen Erneuerung versucht hatte: die Auflösung der strukturellen Konfrontation zwischen Peronismus und Antiperonismus. Mit der Aufgabe der traditionellen national-popularen Dimension und des privilegierten Signifikanten der »sozialen Gerechtigkeit« desartikulierte er die peronistische Identität, die mit dem konstitutiven Außen des »oligarchischen Argentiniens« auch ihr traditionelles Kohäsionsprinzip für die popularen Schichten verlor. Ohne die Berufung auf den Peronismus als Klassenkompromiss aquéllas por una nueva lógica de competencia y agregación, y reformular éstas en términos consistentes.«
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aufzugeben, transformierte Menem den populistischen Bewegungscharakter der ohnedies geschwächten peronistischen Identität. An die Stelle der bisherigen, nunmehr inkludierten Alteritäten trat die Haltung zur Wiederherstellung wirtschaftlicher und politischer Ordnung mithilfe eines neoliberalen Wirtschaftsmodells als neue Grenze zum Außen des politischen Repräsentationsraums (Aboy Carlés 2001: 261–317; Novaro 1998: 28–46). Das Konvertibilitätsregime, das den argentinischen Peso im Verhältnis 1 : 1 an den US-Dollar koppelte, dämmte ab 1991 die Inflation ein und trug zur Ausbildung neuer Konsumidentitäten bei. Nach anfänglich hohen Wachstumsraten und einem breiten politischen Konsens hinsichtlich der Notwendigkeit stabilitätssichernder Strukturreformen zeigten sich die Folgen der wirtschaftlichen Liberalisierung. Die Privatisierung der Staatsunternehmen, die vollständige Weltmarktintegration, die mit einer umfassenden Zerstörung der nicht-landwirtschaftlichen Produktionskapazitäten einherging, und die arbeitsrechtliche Flexibilisierung bewirkten steigende Arbeitslosigkeit, Prekarisierung und Massenverarmung (Boris/Tittor 2006: 25–35). Mit dem Phänomen der »Neuen Armut« der ehemaligen Mittelschicht ging eine Identitätskrise auf kollektiver wie individueller Ebene einher. Das argentinische Selbstverständnis als lateinamerikanische »Ausnahme«, das sich auf ebendiese Existenz breiter mittlerer Sektoren gestützt hatte, geriet angesichts des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens ins Wanken. Gleichzeitig wurde der kollektive soziale Abstieg nicht als solcher bearbeitet, die individuellen Bewältigungsstrategien oszillierten vielmehr zwischen Verleugnung und prekärer Anpassung (Kessler/Di Virgilio 2008: 95–112). Lvovich resümiert die gesellschaftliche Stimmung der 1990er Jahre als »Enttäuschung, das totale Fehlen parteilicher Identifikation und das Misstrauen gegenüber jeder politischen Initiative« (Lvovich 2000: 78)7 und sieht darin den verhindernden Faktor für kollektives Handeln. Allerdings wird die geringe Protestmobilisierung teilweise auch überzeichnet als völlige Passivierung einer ganzen Gesellschaft dargestellt, wodurch die Aufstände von 2001 nur als unerklärliches Auftauchen eines »neuen Subjekts« beschrieben werden können. Die Schwächung der Gewerkschaften als historische Stützpfeiler des Peronismus und die Desartikulation von politischem System und Zivilgesellschaft hatten den traditionell hohen sozialen Organisations- und Mobilisierungsgrad zerstört. Der soziale Widerstand war aber nicht inexistent, er organisierte sich jedoch jenseits der klassischen Kanäle und in neuen Protestformen auf lokaler Ebene (Schuster et al. 2005). So hatten sich die Straßensperren der Arbeitslosenbewegung der piqueteros, deren Protagonismus um 7
Spanisches Original: » […] el desengaño, la total falta de identificacion partidaria y el recelo frente a toda iniciativa politica.«
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DIE HISTORISCHEN VERSATZSTÜCKE DES KIRCHNERISMUS
die Jahrtausendwende zentral werden sollte, ausgehend von einem Aufstand in der Provinz Neuquén im Jahr 1996 als neuartiges Mobilisierungsformat verbreitet (Blank 2009: 103–111). Die wirtschaftliche Rezession ab Ende 1998 eröffnete den Weg zum Kollaps des Konvertibilitätsregimes und zur Wirtschaftskrise von 2001 und 2002. Daran änderte auch der Regierungswechsel 1999 zu einer Koalition zwischen dem Linksbündnis Frepaso, das als progressive Kraft gegen den wirtschaftsliberalen Mainstream entstanden war, und der UCR nichts mehr. Auch wenn die Wechselkursparität wegen der exportschädigenden Überbewertung des argentinischen Peso bereits unhaltbar war, wurde mit Hilfskrediten des IWF versucht, Rezession und Kapitalflucht aufzuhalten, was jedoch das Gegenteil erreichte und die sozialen Kosten durch weitere Strukturreformen noch erhöhte (Novaro 2002; Salvia 112–120). Die wachsenden sozialen Proteste kulminierten schließlich in Massendemonstrationen, Straßenblockaden und Supermarktplünderungen, als Anfang Dezember 2001 die privaten Bankeinlagen eingefroren wurden. Am 19.12.2001 verkündete Staatspräsident de la Rúa den Ausnahmezustand, was Massendemonstrationen, polizeiliche Repression mit an die 30 Toten und schließlich den Rücktritt der Regierung zur Folge hatte (Carrera/Cotarelo 2003: 114f.). Übergangspräsident Eduardo Duhalde erklärte im Jänner 2002 die Zahlungsunfähigkeit des Landes und kündigte die Aufgabe des Konvertibilitätsregimes an. Die Proteste setzten sich 2002 fort, wurden aber durch massive soziale Hilfsprogramme unter Kontrolle gebracht (Vilas 2004: 581–583). Neben der Intensität und Heterogenität der sozialen Mobilisierung hatte sich die Protestbewegung durch den radikalen Charakter ihrer Forderungen ausgezeichnet. Ihr Slogan »¡Que se vayan todos!« (»Alle sollen abhauen!«) drückte die grundsätzliche Ablehnung politischer Repräsentation aus. Damit verbunden war die Entstehung neuer bzw. die Ausbreitung bereits bestehender Formen kollektiver Selbstorganisation, etwa in Form von Stadtteilversammlungen, Tauschringen oder in der Besetzung und Übernahme insolventer Unternehmen durch ehemalige Arbeitnehmer/innen. Auch wenn die partizipativen Organisationsformen und der direkte Charakter der Proteste ohne institutionelle Vermittlung in der sozialwissenschaftlichen Reflexion teilweise als historische Eruption des Politischen und Entstehen einer neuen politischen Subjektivität gedeutet wurden (zum Beispiel Barbetta/Bidaseca 2004), verloren die sozialen Bewegungen rasch wieder an Protagonismus oder wurden in der Folge von der neuen Regierung kooptiert (Antón et al. 2011: 19–34). Langfristigere politische Folgen hatte die multiple Krise auf das Parteienspektrum. Das traditionelle Zweiparteiensystem, das mit der Entstehung des Frepaso bereits in den 1990er Jahren aufgebrochen worden war, kam durch Fragmentierungsprozesse im Peronismus wie im Radikalismus an sein Ende. Die UCR wurde durch Parteineugründungen 77
POPULISMUS IN ARGENTINIEN
ehemaliger führender Funktionär/innen auf eine Kleinpartei reduziert und hat sich bis dato nicht erholt. Die internen Fraktionen des PJ konnten sich auf keinen gemeinsamen Kandidaten einigen, sodass bei der Präsidentschaftswahl 2003 drei peronistische Vertreter mit jeweils eigenen Wahlallianzen antraten. Insgesamt wurde die Bedeutung der politischen Parteien als kollektiver Identitätsfaktor zugunsten ihrer Funktion als Wahlmaschinen geschwächt, während die sogenannten frentes, die für jede Wahl wechselnde Bündnisse zusammenstellen, die traditionellen Intermediationsinstanzen nicht ersetzen und zu einer weiteren Personalisierung politischer Repräsentation beitragen (Quiroga 2010: 137–140, 161f.).
4.3 Die Emergenz des Kirchnerismus als politische Kraft (2003–2007) In diesem Szenario wurde Néstor Kirchner, von der Fraktion Duhaldes unterstützter peronistischer Kandidat des Frente para la Victoria, 2003 mit nur 22% der Stimmen argentinischer Staatspräsident, nachdem Carlos Menem als Wahlgewinner des ersten Durchgangs aufgrund seiner geringen Siegesaussichten seine Kandidatur zurückzog und so eine Stichwahl verunmöglichte. Mit geringer formaler Legitimation ausgestattet gelang es Néstor Kirchner dennoch, durch mehrere vor allem symbolisch produktive Brüche rasch hohe öffentliche Zustimmungswerte zu erzielen, welche seine Machtposition trotz schwacher Basis im weiterhin gespaltenen PJ, innerhalb dessen er eine marginale Position innehatte, festigten. Die Erneuerung des Obersten Gerichtshofs, der zu einem Gutteil mit menemtreuen Richtern besetzt gewesen war, ermöglichte in der Folge die Annullierung der Straflosigkeitsgesetze und die Neuaufnahme der gerichtlichen Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit der Militärdiktatur. Mit beiden Maßnahmen sicherte sich Kirchner, der als früherer Gouverneur der peripheren Provinz Santa Cruz auf nationaler Ebene bislang wenig bekannt war, die Anerkennung progressiver und linksperonistischer Sektoren. Darüber hinaus erlaubte der Kurswechsel in der Vergangenheitspolitik eine Abgrenzung von seinen Vorgängern, die er in stark symbolisch aufgeladenen Akten darstellte. So ließ Kirchner am Jahrestag des Militärputsches im März 2004 die Porträts ehemaliger Juntachefs im Colegio Militar entfernen und besuchte die Escuela Mecánica de la Armada (ESMA), die während der letzten Militärdiktatur als Folterzentrum fungiert hatte, um ihre Umwandlung in eine Gedenkstätte zu unterzeichnen (Fuchs 2010: 272–281). 78
DIE EMERGENZ DES KIRCHNERISMUS ALS POLITISCHE KRAFT
Damit verbunden war eine Annäherung an die Menschenrechtsbewegung. Diese hatte sich nach der demokratischen Transition um weitere Organisationen erweitert und diversifiziert, in erinnerungspolitischen wie ideologischen Fragen aber auch fragmentiert. Die Abuelas de Plaza de Mayo forderten insbesondere eine Revision der Geschichtsnarration der »Zwei Dämonen«, nach der die Militärdiktatur quasi unausweichliche Folge der politischen »Subversion« bewaffneter Gruppen gewesen war. Die Madres de Plaza de Mayo, die in den 1980er Jahren aufgrund ihrer ablehnenden Haltung gegenüber der Menschenrechtspolitik Alfonsíns bereits eine Abspaltung erlebt hatten, verbanden ihre Forderungen mit Systemkritik und stellten ihre Opposition gegen die neoliberale Restrukturierungspolitik Menems in eine Linie mit der linken militancia während der Zeit der Militärdiktatur (Pereyra 2005: 159–165). Indem Néstor Kirchner sich bei seiner Rede vor der UN-Vollversammlung im September 2003 als Sohn der Madres und Abuelas de Plaza de Mayo bezeichnete, installierte er die linksperonistischen Kämpfe der 1970er Jahre als historischen Referenzpunkt seines politischen Projekts. Die »ständige Beschwörung der Abwesenden in die Gegenwart« (Canoni 2007: 152)8 in der häufigen Berufung des Präsidenten auf die desaparecidos, die genau diese Politik gewollt hätten, wieder zurückgekommen seien etc., kehrte den menemistischen Diskurs um, der die Vergangenheit der »Versöhnung« zuliebe hatte ruhen lassen wollen. Der Kirchnerismus dagegen forcierte den expliziten Anschluss an bestimmte Aspekte der Vergangenheit, um diese für den aktuellen Kontext neu zu deuten (Andriotti Romanin 2010). Die Konstruktion einer Verbindung zwischen den politischen Kämpfen ab 2003 und der Opfergeneration, der unter Aussparung ihrer revolutionären Ambitionen eine heldenhafte Vorreiterrolle im Kampf für Demokratie und Gerechtigkeit zugesprochen wurde, artikulierte auf der anderen Seite den Neoliberalismus als konstitutives Außen mit den Staatsverbrechen der Militärs (Fuchs 2010: 340–375). Diese Neuinterpretation der Vergangenheit wurde auch im »Nunca más«, dem Bericht der Untersuchungskommission CONADEP von 1984, festgeschrieben. Im Zuge seiner Neuherausgabe 2006 fügte das Menschenrechtssekretariat der Regierung ein neues Vorwort hinzu, in dem sowohl die Straflosigkeit und die »rechtfertigende Symmetrie« zwischen staatlicher und militanter Gewalt im Diskurs der Vorgängerregierungen als auch die neoliberale Politik der Diktatur kritisiert wurden (Crenzel 2010: 24f.; vgl. auch Crenzel 2008). So stützte die Privilegierung des Signifikanten memoria die Betonung des kirchneristischen Bruchs mit der erinnerungs- wie wirtschaftspolitischen Vergangenheit, dem gegenüber die Bedeutung der Zäsur im Übergang von der Diktatur 8
Spanisches Original: » […] la evocación continua de los ausentes al presente […]«.
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POPULISMUS IN ARGENTINIEN
zur Demokratie im Jahr 1983 abgeschwächt wurde (vgl. Novaro/Palermo 2004). Ebenso wie die Menschenrechtsbewegungen band Kirchner Teile der sozialen Bewegungen und Gewerkschaften an sich und schaffte es so, die sozialen Proteste einzudämmen. Mit einer Mischung aus Dialog, Inkorporation von Forderungen und Funktionär/innen sowie klientelistischer Verteilung von Ressourcen gelang es ihm, den reformistischen Flügel der Arbeitslosenbewegung zu integrieren, die 2002 zum zentralen Akteur der sozialen Mobilisierung avanciert war. Indem er die Politik der massenhaften Sozialprogramme seines Vorgängers Duhalde fortführte, konnte er im Austausch gegen die privilegierte Einbindung in die Verteilung der sogenannten planes sociales einen Teil der piquetero-Organisationen demobilisieren. Durch die interne Spaltung der ohnedies heterogenen Bewegung wurden die radikaleren Strömungen, die weiterhin »würdige Arbeit« statt asistencialismo forderten, marginalisiert, verloren zunehmend öffentliche wie mediale Unterstützung und ihre soziale Basis (Svampa/Pereyra 2005: 356–360; Antón et al. 2011: 24–32). Letzteres lag auch an der raschen wirtschaftlichen Erholung mit jährlichen Wachstumsraten um die 9%. Die Expansion der nationalen Industrie und des Agrarsektors wurde durch staatliche Subventionen, die wettbewerbserleichternde Wirkung der Devaluierung und hohe Rohstoffpreise unterstützt. Der mit dem Aufschwung verbundene Rückgang der Arbeitslosigkeit und die Erholung der Löhne stärkten wieder den Protagonismus der Gewerkschaften als klassisch peronistische Vermittlungsinstanzen gegenüber den direkten Protestaktionen der piqueteros. Durch korporative Einbindung und Kontrolle ersterer konnten auch die nun stärker werdenden Lohnkämpfe institutionalisiert werden (Svampa 2008: 46– 57; Bonnet 2015: 62–66). Die neue Distanz zum neoliberalen Modell zeigte sich vor allem in einer veränderten Haltung zu externen Finanz- und Wirtschaftsakteuren. Das Umschuldungsabkommen mit einer Mehrheit der Gläubiger und die vorzeitige Rückzahlung der Kredite des IWF in den Jahren 2005 und 2006 wurden allgemein als Erfolge gewertet und sollten die Rückgewinnung wirtschaftspolitischer Unabhängigkeit gewährleisten. Damit verbunden war ein starker Regionalismus nicht nur in Hinblick auf ökonomische Integration und die Betonung regionaler Autonomie, sondern auch in einer ideologischen Revalorisierung der lateinamerikanischen Wurzeln gegenüber dem europäischen kulturellen Erbe der Immigration (Vivares/Diaz Echenique/Ozorio 2009: 204–208). Die politische und ökonomische Erneuerung fand ihre Grenzen allerdings am extraktiven Rohstoffexportmodell des Landes, das nach der Krise weiter vertieft wurde. So konnte zwar neben dem Rückgang der Arbeitslosigkeit dank verteilungspolitischer Maßnahmen auch die Armutsquote stark gesenkt werden, die nach ihrem Höchststand Mitte 80
DIE EMERGENZ DES KIRCHNERISMUS ALS POLITISCHE KRAFT
2002 mit 57,5% im Jahr 2007 immerhin bei nur mehr 23,4% lag (INDEC o. J.). Die Wurzeln der sozialen Ungleichheit wurden von der Strategie der nachholenden Entwicklung, die sich die neue Regierung mit dem Modell des »neo-desarollismo« auf ihre Fahnen schrieb, aber nicht angetastet, während offener Tagebau und sich ausbreitende Sojamonokulturen negative Umweltfolgen zeitigten (Svampa 2008: 46f. und 60– 63). Maristella Svampa sieht die »starke antineoliberale und lateinamerikanistische Rhetorik« daher eher nach außen gerichtet, während »nach innen, auf der innenpolitischen Ebene, […] die Vorschläge bezüglich des Entwicklungsmodells und der Politik der Ausbeutung natürlicher Ressourcen bescheidener und von Kontinuität geprägt« blieben (Svampa 2008: 64).9 Trotz dieser Widersprüche war es Néstor Kirchner gelungen, in einer Krise der politischen Repräsentation die Legitimität des politischen Handelns wiederherzustellen, indem er sich als Träger der sozialen Kämpfe gegen den Neoliberalismus inszenierte und damit deren antagonistische Volkskonstruktion restrukturierte. Während sich die cacerolazos und piquetes am Höhepunkt der Proteste 2001 gegen die gesamte »politische Klasse« gerichtet hatten, wurden sie durch ihre Inkorporation in das kirchneristische Projekt auf die neoliberale Politik der Vergangenheit gelenkt, deren Negation die neue Regierung darstellte: »Indem sie den Neoliberalismus aufgriff und ihn aus seiner Assoziation mit der gesamten politischen Klasse löste, eignete sich die neue politische Kraft in der Regierung den Feind an, der viele Positionen von Bewegungen wie jener der piqueteros, der Stadtteilversammlungen und der übernommenen Fabriken definiert hatte, und destabilisierte ihre Identitäten.« (Muñoz/Retamozo 2008: 138)10 Der Antagonismus wurde von den politischen Eliten auf die neoliberale »Hegemonie der Neunziger« verschoben, deren Verkörperungen von den »Konzernen« über die Militärs und das ehemalige menemistische Richterkollegium des Obersten Gerichtshofs bis zum Internationalen Währungsfonds reichten (Biglieri 2007b: 62–65, 69–73). Die kirchneristische Regierung als Repräsentantin des »Volkes« bzw. der Staat als ihr Werkzeug erschienen in dieser Konstruktion wieder als Instanz zur Durchsetzung der popularen Ansprüche. Gleichzeitig konnten durch diese Hegemonialisierung der legitimen Problemlösungskapazität 9
Spanisches Original: » [...] fuerte retórica antineoliberal y latinoamericanista, [...] hacia adentro, en el plano doméstico, las propuestas en cuanto al modelo de desarrollo y la política de explotación de los recursos naturales son de corte más modesto y de carácter continuista.« 10 Spanisches Original: »Adoptando el neoliberalismo y desatando su asociación con toda la clase política, la nueva fuerza política en el gobierno se apropió del enemigo que había definido muchas posiciones desde movimientos como el piquetero, el asambleísta y el de fábricas recuperadas, desestabilizando sus identidades.«
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jene Gruppen abgespalten werden, deren Krisendiagnosen die kapitalistische Dynamik als Ganzes ins Zentrum stellten (Muñoz/Retamozo 2008: 130–145). Die staatliche Kanalisierung der popularen Proteste stellte die »Regierbarkeit« wieder her, diente darüber hinaus aber auch der Stärkung des kirchneristischen Projekts durch ihre Verankerung in einer breiten Koalition. Rajland et al. warnen daher vor einer Reduktion der kirchneristischen Bündnispolitik auf ihre kooptative Dimension, da die Demobilisierung der sozialen Bewegungen von einer »selektiven Mobilisierung« begleitet wurde, »stark vorangetrieben von der Regierung, die ihre soziale Unterstützungsbasis ausgehend von einem Identifikationseffekt erweitern wollte« (Rajland et al. 2011: 116).11 Durch die Aufnahme von Forderungen und Vertreter/innen diverser politischer Strömungen und sozialer Organisationen entstand eine Bewegung rund um die Figur Néstor Kirchners, welche dessen anfangs marginale Position innerhalb der peronistischen Apparate und die allgemeine Fragmentierung des politischen Feldes kompensierte. Im Dialog mit Führungspersönlichkeiten progressiver Parteien und in impliziter Abgrenzung vom einschlägigen Symbolhaushalt des PJ verkündete Kirchner eine »neue Politik« mit einem Mittelinksprofil. Die Strategie der »Transversalität« sollte durch den Aufbau alternativer Machtbasen die Abhängigkeit von den Mobilisierungskapazitäten der Parteistrukturen reduzieren, konnte diese aber nicht ersetzen, was letztlich ihr Gewicht und ihre Laufzeit begrenzte (Pérez/Natalucci 2010: 101–108). Mit dem Sieg bei den Parlamentswahlen von 2005 gelang es Kirchner zwar, sich endgültig vom ehemaligen Unterstützer und nunmehrigen Konkurrenten Eduardo Duhalde zu emanzipieren. In der Folge konnte er seine Autonomie zu vertiefen und den Kirchnerismus als eigenständige politische Kraft konsolidieren, in die nun unter dem Begriff der »Concertación Plural« auch dissidente Vertreter/innen des geschwächten Radikalismus geholt wurden. Dennoch konnte der Kirchnerismus nicht auf die territorialen peronistischen Netzwerke auf subnationaler Ebene verzichten, deren Funktionär/innen über traditionelle klientelistische Strukturen verankert waren. So blieben die neuen Allianzen programmatisch und institutionell wenig definiert und von den Widersprüchen machttaktischer Arrangements mit konservativen, ehemals menemistischen Provinzpolitikern des fragmentierten PJ geprägt (Mocca 2009: 28–30).
11 Spanisches Original: » […] no se trata simplemente de políticas de desmovilización sino también de una movilización selectiva […] fuertemente impulsado por el gobierno, buscando ampliar sus bases de sostén social a partir de un efecto de identificación, más que de mera incorporación y/o acallamiento.«
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4.4 Krise, Kohäsion und Konsolidierung des Kirchnerismus (2008–2010) Mit der Wahl von Cristina Fernández de Kirchner zur Nachfolgerin ihres Gatten Néstor im Präsidentenamt Ende 2007 begann sich ein Wandel abzuzeichnen. Der klare Sieg mit 45% der Stimmen in der ersten Runde zeigte in der Zusammensetzung des Elektorats gleichwohl die entscheidende Bedeutung der traditionell peronistischen Klientel und das Gewicht der Provinzgouverneure mit ihren auf klientelistischer Ressourcenverteilung basierenden lokalen Machtsphären (Svampa 2008: 70; Sidicaro 2011: 90). Der Konflikt um die Agrarexportsteuern wenige Monate später trug weiter dazu bei, die Strategie der »Erneuerung der Politik« durch parteiübergreifende Bündnisse gegenüber der Notwendigkeit der Positionsstärkung im peronistischen Apparat ins Wanken zu bringen. Néstor Kirchner übernahm im Mai 2008 den seit 2003 vakanten Vorsitz des auf nationaler Ebene desorganisierten PJ und auch die Koalition mit den sogenannten radicales K zerbrach im Zuge des Agrarkonflikts (Mauro 2014: 182). Edgardo Mocca schreibt 2009 im Rückblick auf diese Veränderungen: »Heute spielt sich ein Großteil der Möglichkeiten zum Fortbestand der kirchneristischen politischen Führungsrolle im Inneren des peronistischen Territoriums ab und nicht in diffusen ›Konzertationen‹ oder ›Transversalitäten‹.« (Mocca 2009: 31)12 Die Auseinandersetzung der Regierung mit den Landwirtschaftsproduzent/innen entstand aus Anlass der erneuten Anhebung der Exportsteuern auf Soja und andere Agrarrohstoffe im März 2008. Im Kontext stark gestiegener internationaler Preise sollten die Steuerabzüge an den Börsenkurs angekoppelt flexibel bestimmt werden (Giarracca/Teubal/ Palmisano 2010). Die Proteste in Form von Streiks, Lieferstopps und Straßenblockaden, die von den vier großen Argrarverbänden des Landes dagegen organisiert wurden, bestimmten die politische Szene über mehrere Monate. Die dichotomisierten Repräsentationen des Konflikts bewirkten eine gesellschaftliche Polarisierung, die den ursprünglichen Konflikt rasch überstieg und die alte Antinomie von Peronismus und Antiperonismus erneuerte. Die großen Kommunikationsmedien bezogen Position für den Landwirtschaftssektor und nahmen den sogenannten »conflicto con el campo« als Anlass für grundsätzliche Kritik am dezisionistischen Stil des Kirchnerismus und seinen hegemonialen Bestrebungen (Becerra/López 2009). Das Regierungslager reaktualisierte 12 Spanisches Original: »Hoy gran parte de las posibilidades de continuidad del liderazgo político kirchnerista se juega en el interior del territorio peronista y no en difusas ›concertaciones‹ o ›transversalidades‹.«
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den klassischen Topos der »zwei Argentinien«13 (siehe dazu Altamirano 2011: 35–47), in dem sich das »Volk« und eine minoritäre »Oligarchie« unvereinbar gegenüberstehen, und warf den Streikenden Putschabsichten vor. Die binären Schemata ergriffen auch nicht betroffene Sektoren und weiteten den Konflikt zu einer Auseinandersetzung zwischen Gegner/innen und Unterstützer/innen des Kirchnerismus aus. Vertreter/innen der politischen Opposition, regierungskritische piquetero-Organisationen und Angehörige der urbanen Mittelschichten begannen die Proteste als anti-kirchneristischen Artikulationspunkt zu unterstützen, das kirchneristische Lager mobilisierte indessen seine Anhänger/innen gegen die destituierenden Absichten der »landbesitzenden Oligarchie« (Giarracca 2010: 313–335). Im Juli schickte die Regierung das ursprünglich als Dekret erlassene Gesetz schließlich zur Ratifizierung ins Parlament zurück, wo es aufgrund der mangelnden Unterstützung durch den nicht-kirchneristischen Peronismus zu einem Unentschieden bei der Abstimmung im Senat kam. Das Negativvotum des Senatspräsidenten Julios Cobos, einer der radicales K und gleichzeitig argentinischer Vizepräsident, bewirkte schließlich die Ablehnung des Gesetzesentwurfs in der zweiten Kammer (Giarracca/Teubal/Palmisano 2010). Die Niederlage bedeutete eine ernsthafte Schwächung des Kirchnerismus, der im Zuge des Konflikts nicht nur einen Teil seiner politischen und sozialen Koalition verloren hatte, sondern in seinem Führungsanspruch auch von einem gestärkten »dissidenten Peronismus« in Frage gestellt wurde (Quiroga 2010: 141f.). Zusätzlich hatte sich 2008 wegen der internationalen Finanzkrise das argentinische Wirtschaftswachstum verlangsamt und die für die Regierung mangels stabiler Parteistrukturen so zentralen öffentlichen Zustimmungswerte fielen drastisch. Der Abwärtstrend des Kirchnerismus bestätigte sich zuletzt bei den Kongresswahlen im Juni 2009 mit dem Verlust der parlamentarischen Mehrheit in beiden Kammern (Bosoer/Cruz Vázquez 2009: 133–139). Unmittelbar auf diese Rückschläge folgte allerdings ein Prozess der Rückgewinnung der politischen Initiative durch den Kirchnerismus, der einen neuen Zyklus eröffnete. Dieser stützte sich einerseits auf eine offensive Politik der Ausweitung politischer Rechte, etwa mit der Ende 2009 dekretierten Asignación Universal por Hijo, einem Kindergeld für Arbeitslose und prekär Beschäftigte, mit einem Gesetz zur diversitätsfördernden Regulierung der audiovisuellen Medien im selben Jahr und der Möglichkeit der Eheschließung für gleichgeschlechtlichen Paare 2010. 13 Ein Topos, der auch von den Protesten aktualisiert wurde, die mit Slogans wie »El campo somos todos« oder »Sin campo no hay país« an alte Imaginarien einer agrarischen Tradition des Landes als »Kornkammer der Welt« anschlossen und damit erfolgreich mobilisierten.
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Andererseits lässt sich die Erneuerung des kirchneristischen Protagonismus auf eine intensivierte Strategie der antagonistischen Konfrontation zurückführen. Die Reaktualisierung der populistischen Konfiguration in einem klassisch peronistischen Schema während des Agrarkonflikts eröffnete einen Prozess der Radikalisierung der national-popularen Dimension in der kirchneristischen Konstruktion (Svampa 2011: 27–39). Im Zuge dieser Veränderung verschob sich der Fokus von der äquivalentiellen Artikulation eines bislang marginalisierten popularen Lagers auf die hegemoniale Totalisierung der dadurch etablierten Kollektividentität: »Die Strategie der Einbindung der entstehenden Forderungen während der Regierung Néstor Kirchners passt zu den popularen Ambitionen einer Regierung, die nur mit 22% der Stimmen gewählt wurde. Während die Strategie der Regierungen Cristina Fernández’, elektoral stark legitimiert, dem Anspruch entspricht, die Gesamtheit des Volkes gegenüber Forderungen zu repräsentieren, die als partikular, sektoriell oder korporativ verstanden werden.« (Mauro 2014: 189)14
Cristina Fernández de Kirchner vertiefte mit ihrer Strategie der frontalen Konfrontation den Gegensatz zwischen dem von ihr repräsentierten »Volk« und kleinen, machtvollen Eliten, die nicht zur politischen Gemeinschaft gehörten und Partikularinteressen verfolgten. Svampa spricht für die Zeit ab 2008 von einer Phase der »Übersteigerung des National-Popularen und des Versuchs der Konstruktion einer Hegemonie.« (Svampa 2011: 19)15 In der Rhetorik der kirchneristas drückte sich dies in einer beständigen Betonung des kirchneristischen Gründungsmoments aus. Die Bezüge auf die militärische und neoliberale Vergangenheit Argentiniens als konstitutives Außen blieben bedeutsam, der identitäre Horizont der eigenen Konstruktion wurde aber ebenfalls in die Vergangenheit verschoben und zu einem Fundament gemacht, dessen Errungenschaften nun von den Gegner/innen der Regierung bedroht würden (Raiter 2013: 128–141). »Das Modell vertiefen«, der Anspruch Fernández de Kirchners an ihre eigene Amtszeit, wurde zum Slogan, der als Versuch der Konsolidierung des populistischen Bruchs in einem hegemonial instituierten positiven Grund zu lesen ist. Die Etablierung 14 Spanisches Original: »[L]a estrategia de incorporación de las demandas emergentes durante el gobierno de Néstor Kirchner parece apropiada con las pretensiones populares de un gobierno electo con sólo el 22% de los votos. Mientras que la estrategia de los gobiernos de Cristina Fernández, fuertemente legitimados electoralmente, se corresponde con la pretensión de representar al conjunto del pueblo frente a demandas que son inteligidas como particulares, sectoriales o corporativas.« 15 Spanisches Original: » […] la exacerbación de lo nacional-popular y la tentativa de construcción de una hegemonía.«
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des kirchneristischen »Modells« des Landes als Grundlage des »Volkes« sollte die Grenzen der populistischen Konstruktion verbuchstäblichen. Raiter zeigt in einer Analyse der Reden Fernández de Kirchners während des Landwirtschaftsstreiks, wie dadurch auch die Bestimmung des antagonistischen Gegners invertiert wurde: »die Achse ist das Modell, weswegen die Feinde diejenigen sind, die es nicht akzeptieren […], diejenigen, die sich irgendeiner Maßnahme entgegenstellen, stellen sich dem Modell als solchem, stellen sich allen Maßnahmen entgegen.« (Raiter 2013: 118)16 Nicht die Abgrenzung von bestimmten Feindbildern formt das populare Kollektiv, sondern die Essenz dieses Kollektivs bestimmt nun umgekehrt die Feinde. Die Totalisierung des Kirchnerismus als Ausdruck des gesamten Volkes bewirkte auch eine Totalisierung des antagonistischen Außen. Infrage gestellt wurde in Fernández de Kirchners Diskursstrategie nicht die Legitimität der Kritik an den Agrarexportsteuern, sondern die Legitimität des Protests an sich. In der wiederholten Assoziation der Streikmaßnahmen mit Militäraufständen installierte sie den »Putsch« als Antithese zum »Modell« (Raiter 2013: 116–118 und 126f.). Seit dem Agrarkonflikt von 2008, als die Sociedad Rural als wichtigster der vier Agrarverbände paradigmatisch für diesen Feind stand, wurde die Einsetzung der sogenannten »hegemonialen Medien«, allen voran des Multimedienkonzerns Clarín, als Verkörperung dieses anti-popularen Feindes vertieft. Schon Néstor Kirchner hatte das politische Gewicht der Massenkommunikationsmedien strategisch zu mindern versucht, indem er etwa Fernsehauftritte oder Interviews mied und stattdessen auf autonom kontrollierbare Kommunikationssituationen wie Staatsansprachen setzte (Cremonte 2008). Dennoch war seine Kommunikationspolitik von Kontinuität geprägt gewesen und hatte die dominante Marktposition der privaten Medienunternehmen gestützt. Die politische Krise von 2008 bedeutete einen Bruch in diesen Beziehungen (Kitzberger 2011: 182f.). Die Massenmedien stellten aufgrund der Schwäche und Fragmentierung der parteipolitischen Opposition eine wichtige Stimme des konservativen Lagers dar (Vivares/Diaz Echenique/ Ozorio 2009: 213f.). Diese Rolle festigte sich mit dem Agrarkonflikt, in dem insbesondere Clarín mit seiner Positionierung zugunsten der Landwirtschaftsvertreter/innen eine protagonistische Rolle einnahm und seine bislang eher regierungsfreundliche Linie verließ. Die damit einsetzende Konfrontation der kirchneristischen Regierung mit dem Medienunternehmen stellte nicht nur den Objektivitätsanspruch des Journalismus in Abrede, sondern zielte auf eine 16 Spanisches Original: » […] el eje es el modelo, por lo que los enemigos son quienes no lo aceptan […] los que se oponen a alguna medida se oponen al modelo como tal, a todas las medidas.«
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hegemoniale Auseinandersetzung um Deutungsmacht. Mit seiner Medienkritik vertiefte der Kirchnerismus den Antagonismus zwischen Volk und Machtblock auf dem Feld der Sinnproduktion (Córdoba 2014). Der Agrarkonflikt stellte insofern eine Wende dar, als die damit verbundene Destabilisierung des populistischen Projekts die Notwendigkeit der Konsolidierung der popularen Identität sichtbar machte und den »kulturellen Kampf« um die symbolische Konstruktion einer eigenen, von den kirchneristas auch so benannten »Erzählung« in den Mittelpunkt rückte (De Piero 2013: 218–221). Die Auseinandersetzung mit Clarín war für diesen Kohäsionsprozess der kirchneristischen Bewegung von entscheidender Bedeutung (Bonnet 2015: 104–108). Die neue Ley de Servicios de Comunicación Audiovisual von 2009 sah zur Pluralisierung des stark konzentrierten Rundfunkmarktes eine Obergrenze für den Besitz von Sendelizenzen sowie die Reservierung eines Drittels der Lizenzen für nicht profitorientierte Träger vor, die von eigenen Kontrollorganismen garantiert werden sollten. Die Neuregelung war einerseits Teil der strategisch motivierten Medienpolitik der Regierung zur ökonomischen Schwächung Claríns, die sich etwa auch im Erwerb der Übertragungsrechte für die Fußballspiele der ersten argentinischen Liga durch die Regierung im Jahr 2009 ausdrückte.17 Regierungsaffine Medien wurden dagegen zu stärken versucht, indem sie etwa bei der Platzierung von Regierungsanzeigen bevorzugt wurden (Kitzberger 2011: 185). Trotz dieser machtpolitischen Hintergründe wurde mit der Reform des noch aus der letzten Militärdiktatur stammenden Medienregulationsgesetzes eine langjährige Forderung zivilgesellschaftlicher Initiativen erfüllt, was bei den progressiven Teilen der Mittelschicht auf positive Resonanz stieß. So mobilisierten die Debatten um das Mediengesetz, die eine ähnliche Polarisierung wie der Streit um die Agrarexportsteuern bewirkten, neue Akteur/innen aus dem Bereich des Journalismus, der Kunst und Unterhaltung sowie dem intellektuellen Milieu für den Kirchnerismus, die zu Aktivist/innen im »kulturellen Kampf« wurden (Novaro 2011). 17 Die Auseinandersetzung umfasste weiters polemische Äußerungen von Regierungsvertreter/innen zur einseitigen Berichterstattung des Medienunternehmens und seiner Komplizenschaft mit der Militärdiktatur. Staatspräsidentin Fernández de Kirchner bekundete öffentlich ihre Unterstützung für die Klage der Abuelas de Plaza de Mayo gegen Clarín-Eigentümerin Ernestina Herrera de Noble wegen der angeblichen Aneignung zweier Kinder von desaparecidos. 2010 versuchte die Regierung, Clarín Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dessen Kauf des Zeitungspapierherstellers Papel Prensa im November 1976 nachzuweisen. Der Medienkonzern behinderte seinerseits mit Klagen das Gesetz über audiovisuelle Medien und schrieb in seiner Berichterstattung dem Kirchnerismus diktatoriale Züge zu.
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Mit Carta Abierta hatte sich bereits 2008 ein Zusammenschluss von Intellektuellen und Akademiker/innen zur Unterstützung der Regierung gebildet, der in seiner ersten öffentlichen Deklaration den Begriff des »destituierenden Klimas« im Agrarstreik geprägt hatte und in den Folgejahren zu einer wichtigen Stimme des kirchneristischen Lagers wurde (Pavón 2012). Parallel dazu gewann der politische Aktivismus kirchneristischer Jugendgruppen wie der vom Sohn des Präsidentenpaars, Máximo Kirchner, gegründeten Organisation La Cámpora an Bedeutung. Die Inkorporierung neuer Generationen in das kirchneristische Projekt drückte sich in einer aktiven »virtuellen Bewegung« mit regierungsunterstützenden Blogs und Internetforen aus (Retamozo 2013: 154f.). Für die ideologische Identifikation dieser jugendlichen Mittelschichten war ab 2009 wiederum das explizit auf der Seite der Regierung positionierte TV-Programm 6, 7, 8 des staatlichen Senders Canal 7 zentral, das sich der Kritik der anti-kirchneristischen Medienberichterstattung widmete, öffentlichkeitswirksame Figuren aus der Unterhaltungsbranche in politische Debatten inkludierte und über eine eigene Facebook-Seite ein junges Publikum mobilisierte (Sarlo 2013: 31f.). Cristina Fernández de Kirchner hatte bereits in ihrer Antrittsrede als Staatspräsidentin Ende 2007 »eine andere Erzählung von uns selbst« gefordert, welche »die notwendige Anerkennung des Erreichten« beinhalte (Fernández de Kirchner 2007). Die Zielsetzung, »die Erzählung zu konstruieren« (»construir el relato«), wurde nun von vielfältigen regierungsunterstützenden Initiativen und Gruppierungen mit neuen Partizipationsformen vorangetrieben. Beatriz Sarlo spricht dafür von einem »kirchneristischen kulturellen Dispositiv, aus heterogenen Teilen zusammengestellt, die auf mehr oder weniger unabhängige Weise funktionieren, wenn auch mit der Regierung verbündet.« (Sarlo 2013: 30, Herv. i. O.)18 Die neue kulturelle militancia an den Universitäten, in der Zivilgesellschaft und im Journalismus zeichnete sich durch ihre dezentrale und wenig mit den kirchneristischen Strukturen verbundene Organisationsweise aus, die, wie Sarlo betont, eben nicht auf das »Ideologiebüro« der Exekutivmacht (Sarlo 2013: 30) reduziert werden könne. Gemeinsam mit staatlichen Interventionen, etwa über das Programm Fútbol para Todos, das neben der nunmehr kostenfreien Übertragung aller Fußballspiele der ersten Division auch ausschließlich für die Regierung reservierte Werbeeinschaltungen inkludierte, entstand so eine schwach zentralisierte und formalisierte kulturelle Infrastruktur zur Verbreitung inhaltlich konvergenter national-popularer Botschaften.
18 Spanisches Original: » […] dispositivo cultural kirchnerista, armado de partes heterogéneas que funcionan de manera más o menos independiente, aunque alineadas con el Gobierno.«
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Die Feierlichkeiten zum 200. Jahrestag der Mairevolution am 25.5.2010 stellten einen Verdichtungspunkt im Prozess der kulturellen Hegemonialisierung des kirchneristischen Projekts dar. Das Jubiläum wurde von der Regierung und kirchneristischen Intellektuellen zum Anlass genommen, die nationale Geschichte aus einer national-popularen Perspektive zu erzählen und in der Kontrastierung des Argentiniens des Centenario im Jahr 1910 als Land der Exklusion und Ungleichheit mit dem demokratischen und sozial inklusiven Argentinien des Bicentenario von 2010 den Gegensatz zwischen »Oligarchie« und »Volk« zu symbolisieren. Die explizite Zurückweisung eines an Europa orientierten elitären Narrativs, das den Verlauf des 20. Jahrhunderts als nationale Abstiegsgeschichte interpretierte, und die Betonung des popularen und lateinamerikanischen Charakters der argentinischen Nation machten aus dem Bicentenario ein kommemoratives Ereignis, das vor allem die Bedeutung der politischen Aktualität als Kulminationspunkt emanzipatorischer Kämpfe resignifizieren und damit die kirchneristische »Erzählung« stützen sollte. Die massive öffentliche Präsenz von bis zu sechs Millionen Besucher/innen an den fünftägigen Feierlichkeiten in Buenos Aires übertraf alle Erwartungen und löste Debatten darüber aus, inwiefern die breite Teilnahme als affirmatives Statement zur Regierungspolitik gewertet werden könne (Lesgart 2010: 126–135). Noch im Nachhall des Bicentenario begann drei Wochen später die Fußballweltmeisterschaft der Herren in Südafrika, deren mediale Darstellung ebenfalls in die dichotomisierte Logik der politischen Auseinandersetzungen eingeschrieben wurde und in der Artikulation der fußballerischen Repräsentationen mit dem politischen Projekt des Kirchnerismus die national-populare Identität als hegemoniales Prinzip der politischen Gemeinschaft veranschaulichen sollte.
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5 . Das Nationale und das Populare im argentinischen Fußball Der argentinische Fußball spielte als Raum kollektiver Identitätskonstruktion eine zentrale Rolle im Prozess der nationalen Vereinheitlichung einer heterogenen Migrationsgesellschaft. Er stellt historisch eine der bedeutendsten sozialen Praktiken der popularen Sektoren dar und produzierte national-populare Narrative von hoher Interpellationskraft. Das folgende Kapitel präsentiert in Rückgriff auf die einschlägige (fußball-)soziologische Literatur und illustrative populärwissenschaftliche Darstellungen einen historischen Abriss der argentinischen Fußballkultur und ihrer subjektkonstituierenden Diskurse, deren zentrale Topoi die politisch-kulturellen Artikulationen der WM-Debatten 2010 prägen. Dem Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit entsprechend im Vordergrund steht die Verknüpfung nationaler und popularer Bedeutungen und ihre Wechselwirkung mit dem politischen Feld, von dem die symbolischen Repräsentationen der fußballerischen Praxis beeinflusst und in dem sie wiederum wirkmächtige Folie der kollektiven Selbstdefinition werden. Der argentinische Fußball stellt ein relativ junges Forschungsfeld dar und war bis in die 1980er Jahre kaum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Nach den Pionierarbeiten des Sozialanthropologen Eduardo Archetti zur Konstruktion männlicher und nationaler Kollektividentitäten in den Anfängen der argentinischen Fußballgeschichte (Archetti 2001, 2003) rückt das Phänomen ab den 1990er Jahren vermehrt ins sozialwissenschaftliche Blickfeld. Während der Historiker Julio Frydenberg die identitätsstiftende Funktion von Fußball aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive analysiert (Frydenberg 2011), untersucht der Soziologe Pablo Alabarces die Rolle des argentinischen Fußballs in der Konstruktion nationaler Narrative (Alabarces/Rodríguez 1996; Alabarces 2010). Aus der Sozialanthropologie kommen rezente Studien zu Gewaltkultur, Geschlechterrepräsentationen und soziokulturellen Identitäten im Fußball (Garriga Zucal 2007a, 2010; Gil 2007; Moreira 2001, 2010). Fußball wird in diesen Ansätzen als konfliktives Feld der Vergemeinschaftung begriffen, in dem sich hegemoniale Deutungskämpfe abspielen, gesellschaftliche Werte zur Disposition gestellt und über symbolisch verdichtete Erzählungen kollektive Identitäten inszeniert werden.
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5.1 Die Erfindung des argentinischen Fußballs Die mythische Ursprungserzählung des argentinischen Fußballs wird in den 1920er Jahren begründet. Nachdem der Sport ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Angehörigen der britischen Unternehmerschicht in Argentinien eingeführt und dominiert worden war, wurde er ab der Jahrhundertwende von spanischen und italienischen Einwanderergruppen aufgegriffen und popularisiert. Bis in die 1920er Jahre breitete er sich im ganzen Land aus und verlor im Zuge dieser kulturellen Aneignung durch die popularen Milieus den Elitencharakter, der ihn noch als sportliche Praxis der englischstämmigen Siedler gekennzeichnet hatte (Frydenberg 2011: 25–85). Nach anfänglichen Exklusionsbestrebungen seitens der englischen Fußballinstitutionen konnten sich die Mannschaften ohne britische Wurzeln ab den 1910er Jahren endgültig etablieren und verdrängten die ursprünglichen Oberschichtenteams, die sich in der Folge aus der Liga zurückzogen (Frydenberg 1998). Dies markiert den Beginn der »Argentinisierung« des Fußballs, der in seiner »kreolischen«, von den Söhnen italienischer und spanischer Immigrant/innen verkörperten Variante zur nationalen Tradition erklärt wurde (Archetti 2001).1 Die neu gegründeten Sportvereine boten jungen Männern aus den durch die massenhafte Einwanderung wachsenden migrantischen Unterschichten Partizipationsmöglichkeiten und stellten Integrationsinstanzen dar, die mit einem Stadtviertel verbunden waren und auf dieser lokalen Basis neue Zugehörigkeitsräume jenseits der herkunftsbasierten communities entstehen ließen. Die Argentinisierung des Fußballs wirkte so als Argentinisierung der popularen Immigrantengruppen selbst, die in den 1920er Jahren ihren Höhepunkt finden sollte und maßgeblich zum Entstehen einer nationalen Identität beitrug (Frydenberg 2011). Eduardo Archetti versteht diese Entwicklung daher »nicht nur als Reflex des nationalistischen Diskurses [...], sondern als Arena, in der dieser Prozess im Lauf der Jahre einen symbolischen Raum kristallisiert, der von entscheidender Bedeutung in der Schaffung nationaler Stereotype sein wird.« (Archetti 2001: 20)2 Die stereotypen Repräsentationen der »Argentinität« wurden in Abgrenzung vom britischen Fußball als konstitutivem Außen entwickelt. 1
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Der Begriff »criollo« bezeichnet allgemein native Argentinier/innen ohne indigenen Hintergrund, also die Nachkommen europäischer Einwanderer. Im Fußballdiskurs wurde das Attribut »kreolisch« allerdings synonym für die zweite Generation der »Latino«-Einwanderer und in Abgrenzung von den Nachkommen der britischen Immigration verwendet (Archetti 2008: 265). Spanisches Original: » [...] no solo como un reflejo del discurso nacionalista y patrio sino como una arena en donde ese proceso cristaliza un espacio simbólico que, con el correr de los años, será de crucial importancia en la formación de estereotipos nacionales.«
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DAS NATIONALE UND DAS POPULARE IM ARGENTINISCHEN FUSSBALL
In diesem Prozess kam dem Sportjournalismus in Printmedien und Radio eine gewichtige Rolle zu, da er in seiner Berichterstattung systematisch einen Gegensatz zwischen dem «englischen« und dem »kreolischen Stil« aufbaute und letzteren zu einem genuin argentinischen Kulturprodukt überhöhte (Archetti 2001: 12–14). Der »englische Stil« wurde als Privilegierung von Disziplin, Taktik und physischer Kraft verstanden. In der Berichterstattung wurde dafür unter anderem die Metapher der Maschine gebraucht: Die Art und Weise des englischen Spiels sei standardisiert und fehlerfrei wie aus der industriellen Fertigung, gehe aber mit Monotonie einher. Solcherart werde das »schöne Spiel« der Effizienz, das Individuelle dem Kollektiven untergeordnet. In Opposition dazu erschien der »kreolische« Fußball als virtuose Improvisation auf Basis ausgefeilter Technik und individueller Kreativität. Insbesondere die Kunst des Dribbelns wurde als unabdingbare kreolische Fähigkeit kanonisiert (Archetti 2001: 20f.). Die mediale Debatte zur Stilfrage verhandelte nationale und männliche Werte, die in der Folge zu moralischen Handlungsanleitungen des nationalistischen Diskurses wurden. Die nationalen Fußballstereotype konstruierten vor dem Hintergrund der »englischen«, das heißt »elitären« Negativfolie eine populare Erzählung, die sich in der Figur des pibe (spanisch für »Bursche«) kondensierte. Der pibe ist die prototypische Figur des argentinischen Fußballers, der sich das Spiel als Kind auf der Straße selbst beibringt und dabei die elitistischen Werte des Fair Play durch spielerischen Genuss und freche Trickserei ersetzt. Ein essentieller Bestandteil dieses Narrativs waren die potreros, irreguläre unverbaute Flächen im städtischen Raum, die als Spielfeld benutzt wurden und im nationalistischen Fußballnarrativ des kreolischen Stils einen popularen Gegenentwurf zu den Autoritätsräumen der etablierten sozialen Ordnung symbolisierten. Die pibes werden in diesen hierarchiefreien Räumen sozialisiert, entwickeln dort ihre phantasievolle kreolische Spielweise und verwirklichen so die Werte der Spontaneität und Freiheit gegen Disziplin und (Unter-)Ordnung.3 Im Expansionsprozess der Fußballpraxis wurden die »aristokratischen« Normen der »gentlemen« durch die picardía (etwa »Schlitzohrigkeit, gewitzter Betrug«) ersetzt (Frydenberg 2011: 71–87). So entstand 3
Archetti parallelisiert dieses alternative Heldenbild aus dem Fußball mit dem Gauchomythos: So wie die epische Figur des Gauchos der argentinischen Pampa im 19. Jahrhundert als Grenzgänger zwischen »Zivilisation« und noch unkontrollierten indigenen Territorien zum Symbol einer expandierenden Nation wurde, verkörpert auch der pibe das Überschreiten von Grenzen, Freiheit und Rebellion als Elemente des nationalen Imaginären. Sowohl der Begriff der gambeta (»Dribbling«) als auch des potreros wurden aus der Gaucholiteratur übernommen. Das nationale Identitätsmodell des kreolischen Stils übersetzt das »liminale« Element in der Konstruktion
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eine populare Kultur, die zur Matrix der nationalen Identität wurde. Die romantische Erzählung des pibe wurde zur universalen Erfahrung erklärt und avancierte zu einer Metapher der Argentinität. Die moralisch ambivalenten Männlichkeitsstereotype dieser Konstruktion wurden so zu anerkannten Charakteristika der nationalen Gemeinschaft, an der Frauen natürlich nicht direkt, sondern lediglich vermittelt über die Partizipation ihrer männlichen Angehörigen teilhaben können (Archetti 1994: 236f.). Da dem Fußball in der argentinischen Gesellschaft ein hohes Gewicht für die Konstitution kollektiver Identitäten zukommt und seine Interpellationskraft im Laufe der Jahrzehnte aufgrund der Schwächung anderer identitätsstiftender Institutionen weiter zugenommen hat, organisieren die genannten Bedeutungen bis heute die Diskussion über nationale Werte und übersetzen sich in das argentinische Selbstbild der viveza criolla (»kreolische Gerissenheit«). So wie die kreolischen Fußballspieler das Training vernachlässigen und gegen Regeln verstoßen, aber in ihrem genussvoll-spontanen Spiel mit Talent und künstlerischer Leichtigkeit improvisatorische Glanzleistungen vollbringen, so zeichnen sich auch »die Argentinier« durch besonderen Erfindungsreichtum und gaunerhafte List aus, dank derer sie schwierige Situationen meistern und dabei die Disziplinierungsmechanismen der Macht unterwandern. Der entscheidende Beitrag der Massenmedien zum Entstehen einer nationalen Identität verdankte sich der in Argentinien aufgrund der beschleunigten Modernisierung früh entwickelten Kulturindustrie, die neben der öffentlichen Schule der wichtigste Verbreiter nationaler Diskurse für die sozial und ethnisch heterogenen Immigrantengruppen war: »In Argentina, the early modernity of the national education system, its cultural industry and its massive audiences, enabled a group of professional, media intellectuals to emerge, and to elaborate a discourse of nationality that was in many ways different from that produced by the official intellectuals of the State. We propose that this popular, national discourse was based upon soccer, and that it spread among the working classes from the 1920s onwards.« (Alabarces/Rodríguez 2000: 121)
Das nationalistische Fußballnarrativ war folglich von nicht-staatlichen Akteuren getragen. Dennoch handelte es sich nicht um einen gegenhegemonialen Diskurs. Die Nationalitätskonstruktionen der privaten Medien stützten die Homogenisierungsbestrebungen der herrschenden Politik und wurden umgekehrt von dieser unterstützt (Alabarces 2010: 53f.). Von staatlicher Seite war die Einwanderung aus Europa gezielt forciert worden, um die Sozialstruktur der Bevölkerung zu verändern und das Land zu »modernisieren« (Figueroa-Dreher/Dreher/Soeffner 2011: einer ambivalent definierten Argentinität jedoch in einen urbanisierten Kontext mit popularen Helden (Archetti 2008).
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16–25). Die massive Immigration um die Jahrhundertwende hatte eine kulturell hybride Einwanderungsgesellschaft geschaffen. Zudem erachteten die liberalen Eliten die aus Europa mitgebrachten sozialistischen und anarchistischen Ideen als Gefahr, die sie durch vereinheitlichende nationale Erzählungen unter Kontrolle zu bringen suchten. Der Aufstieg des Fußballs fällt in die Zeit der demokratischen Öffnung durch die Einführung des allgemeinen Wahlrechts für Männer 1912 und der ersten Regierungszeit der UCR (Unión Cívica Radical) von 1916 bis 1930, die sich in ihrem populistischen Diskurs mit der Nation gleichsetzte und zur politischen und symbolischen Integration der Neuzugewanderten an der Etablierung einer inklusiven nationalen Identität interessiert war (Archetti 1994: 228f.). Die Ausbreitung der als gemeinnützige Vereine organisierten Sportclubs schuf zivilgesellschaftliche Partizipationsstrukturen für Bevölkerungsschichten, denen andere institutionelle Gemeinschafts- und Mitbestimmungsräume nicht zugänglich waren. Zudem eröffnete die fußballerische Praxis vor allem ab ihrer Konsolidierung in den 1920er Jahren, die sich in steigenden Mitglieder- und Zuschauerzahlen sowie infrastrukturellen Investitionen ausdrückte, den aus der Arbeiterklasse stammenden Spielern die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs (Archetti 2001: 12). Diese symbolische und soziale Integration, die von den Vertretern politischer Parteien durch ihre Funktionärstätigkeit in den Clubs mitgetragen wurde, verfestigte die Vorstellung einer Gesellschaft, die demokratische und soziale Mobilität ermöglichte, was zu dem von Staatspräsident Hipólito Yrigoyen von der UCR eingeleiteten sozialen und ökonomischen Wandel passte. Beatriz Sarlo beschreibt das Bild der Argentinität, das der frühe, vorperonistische kulturelle Nationalismus produzierte, als »ein von Prinzipien des Nationalstolzes, Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs und relativem Egalitarismus artikuliertes Imaginäres«4, das sich im Zugang zu Arbeit, Bildung und politischer Partizipation bestätigte (Sarlo 2001: 28). Um 1930 war Fußball als Massenspektakel etabliert, seine identitätsstiftende Rolle für die urbane, migrantische Bevölkerung kam auch durch den Militärputsch und die folgenden eineinhalb Jahrzehnte konservativer Restauration nicht mehr ins Wanken (Di Giano 2007: 35– 40). 1931 wurde die frühe Phase der Popularisierung durch die Professionalisierung der Liga abgeschlossen, die zum endgültigen Rückzug der Oberschicht aus der Fußballpraxis führte. Die Etablierung fünf landesweit beachteter Fußballclubs komplettiert den Abschluss dieser Gründungsphase. Auch die Fußballfans des Landesinneren identifizierten sich
4 Spanisches Original: » [...] un imaginario articulado por principios de orgullo nacional, posibilidades de ascenso social y relativo igualitarismo.«
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zusätzlich zu ihrem lokalen Club mit einem der «fünf Großen«.5 Mit der Entstehung dieses gemeinsamen Identifikationsraumes wurde der Fußball endgültig zum Nationalsport (Archetti 2001: 22–25).
5.2 Fußball zwischen Peronismus und Militärdiktatur Im Peronismus wurde der nationalistische Fußballdiskurs schließlich hegemonial. Einerseits wurde der Sport Teil staatlicher Politiken, die darauf zielten, das wachsende städtische Industrieproletariat in das peronistische Nationsprojekt zu inkludieren. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 und dem damit verbundenen Exporteinbruch nach Europa war eine importsubstituierende Politik forciert worden, die mit der allmählichen Industrialisierung einen Anstieg der Binnenmigration bewirkt hatte. Neben einkommensumverteilenden Maßnahmen versuchte das peronistische Regime mit kulturpolitischen Interventionen, diesen neuen Arbeiterklassen Zugang zu kulturellem Konsum zu eröffnen und sie so auch symbolisch in die populistische Nationskonstruktion zu integrieren. Zu den informellen Beziehungen zwischen dem politischen und dem sportlichen Feld, die seit der frühen Phase des institutionalisierten Fußballs bestanden hatten, kam nun die massive staatliche Förderung sportlicher Aktivitäten durch finanzielle Unterstützung oder die Ausrichtung eigener Sportbewerbe wie der Jugendmeisterschaften Campeonatos Evita (Rodríguez 1999).6 Andererseits griff der Staat das nationalistische Fußballnarrativ mit seinem popularen Gehalt auf und artikulierte es zur Konstruktion einer national-popularen Identität mit dem eigenen politischen Projekt. Das »Volk« des Peronismus, das im populistischen Diskurs zur Verkörperung der Nation wird, erscheint im Fußball als Protagonist und illustriert so die sozioökonomische und symbolische Integration der bislang Ausgeschlossenen. Fußball wurde zu einem Stützpfeiler in der symbolischen Repräsentation der peronistischen Erzählung, was sich etwa in der staatlichen Auszeichnung erfolgreicher Sportler/innen mit der medalla peronista für außergewöhnliche nationale, sprich peronistische Verdienste 5 6
Boca Juniors, River Plate, Racing Club, Independiente und San Lorenzo de Almagro, die allesamt aus Buenos Aires stammen. Die Campeonatos Infantiles der Fundación Eva Perón wurden erstmals 1948 ausgetragen und umfassten anfangs nur Fußball, später auch andere Sportarten wie Schwimmen, Basketball, zuletzt sogar Schach, Wasserpolo oder Tennis. 1949 schrieben sich 100.000 Kinder ein, darunter viele aus mittellosen Familien, die so erstmals Zugang zu physischer Aktivität und Gesundheitskontrolle erhielten. Im Biennium 1953/54 kamen erstmals auch weibliche Sportarten dazu. (an denen 1950 bereits 100.000 Kinder aus dem ganzen Land teilnahmen.)
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ausdrückte. Der mythischen Konstruktion fußballerischer Helden als nationale Ikonen des Popularen kam dabei eine wich-tige Rolle zu, da diese mit ihren Aufstiegsbiographien das Versprechen der Chancengleichheit und der Möglichkeit sozialer Mobilität auf Basis meritokratischer Prinzipien bestätigten. Im Zusammenhang mit dem durch den Kaufkraftanstieg wachsenden kulturellen Massenkonsum betont Alabarces die Bedeutung der kinematographischen Produktion für die Verbreitung dieser natürlich als »kreolische Spieler« inszenierten Heldenfiguren der nationalistischen Fußballerzählung (Alabarces 2010: 81–90). Die materielle wie symbolische Förderung des Sportnationalismus übersetzte sich in stark steigende Zuschauerzahlen und zahlreiche sportliche Erfolge, die ein triumphalistisches Klima förderten und der Inszenierung als erfolgreiche Nation dienten. Allerdings fand diese Expansions- und Blütephase des argentinischen Fußballs in einer Zeit der internationalen sportlichen Isolation statt. Argentinien hatte bereits 1938 nicht mehr an der Fußballweltmeisterschaft teilgenommen, um gegen den WM-Sieg Italiens vier Jahre zuvor mit vier argentinischen Spielern italienischer Herkunft im Kader zu protestieren. Nach der Unterbrechung durch den Zweiten Weltkrieg, der auch die in den 1930er Jahren einsetzende argentinische Spielermigration nach Europa zeitweilig beendete, beteiligte sich Argentinien auch nicht an den ersten beiden der mit 1950 wieder aufgenommenen WMs und vermied internationale Bewerbe, um das Bild der eigenen Überlegenheit nicht zu gefährden. In diesem geschützten Rahmen etablierte sich die Vorstellung, der argentinische Fußball sei der beste, fantasievollste und schönste der Welt (Scher/ Palomino 1988: 75–85). Nach dem Ende des Peronismus durch den Militärputsch von 1955 kehrte Argentinien 1958 zur Fußballweltmeisterschaft zurück. Das Ausscheiden in der ersten Runde mit einer 6:1-Niederlage gegen die Tschechoslowakei bereitete dem Mythos der Unbesiegbarkeit ein abruptes Ende und bewirkte eine ernsthafte Identitätskrise im Fußball. Die Niederlage diskreditierte den argentinischen Spielstil nachhaltig und machte einen Modernisierungsdiskurs stark, der auf die Orientierung an europäischen Spielmodellen setzte und eine neue Ethik der Arbeit, Disziplin und Stärke im Dienste des Sieges einführte, wo die Philosophie des kreolischen Stils noch individuellen Ausdruck und Improvisation betont hatte. In den 1960er Jahren wurde dieser Wandel paradigmatisch vom aufsteigenden Club Estudiantes de La Plata verkörpert, der mit seiner Privilegierung taktischer Schemata und physischer Überlegenheit sowie einer rücksichtslosen Spielweise als erste Mannschaft jenseits der »fünf Großen« die argentinische Meisterschaft und später internationale Bewerbe gewann (Archetti 2001: 29–35). Die Erfolgsjahre der Estudiantes nährten das desarrollistische Bild einer argentinischen Nation mit Anschluss an die »westliche Welt«. 96
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In der Organisation des Fußballs bewirkte die Umstrukturierung der Clubs nach einer unternehmerischen Logik einen Wandel hin zum sogenannten »Spektakelfußball«. Marktorientierte Strategien und eine rigidere Reglementierung des Trainings sollten eine höhere Erfolgseffizienz sowie eine Ausweitung der seit der zweiten Hälfte der 1950er Jahre rückläufigen Zuschauerzahlen garantieren. Trotz dieser Modernisierungsprozesse und dem Einzug einer neuen Spielphilosophie blieben die sportlichen Erfolge aber auf die lokale Ebene beschränkt, 1970 qualifizierte sich das Nationalteam nicht einmal für die WM (Di Giano 2006). Zusätzlich manifestierte sich die Krisenatmosphäre in der Institutionalisierung der Fangewalt in Form der barras bravas. Diese organisierten Fangruppen standen mit Clubfunktionären und zunehmend auch mit politischen Akteuren in einem Austauschverhältnis gegenseitiger Gefälligkeiten, sodass ihrer Gewalt auch eine politische Dimension zukam (Romero 1986). Der erste Sieg bei einer Fußballweltmeisterschaft, die zudem im eigenen Land ausgetragen wurde, beendete 1978 zumindest die Krise der Erfolglosigkeit und schien endlich den Mythos der argentinischen Superiorität zu bestätigen. Zumindest in der historischen Perspektive ist die Erinnerung an den sportlichen Triumph aufgrund der zu dieser Zeit herrschenden Militärdiktatur jedoch getrübt.7 Sowohl die Vergabe der WM-Austragung an Argentinien als auch die Ernennung des linksgerichteten Nationaltrainers César Luis Menotti hatten bereits vor dem Staatsstreich von 1976 stattgefunden. Nach der Machtübernahme intervenierte die Junta direkt in den Fußball und bemühte sich, über die Disziplinierung der Funktionäre und die Artikulation des Sportdiskurses mit ihrem Nationsprojekt die WM zur Herstellung von internem Konsens und einem positiven internationalen Bild des Regimes einzusetzen. Ob die öffentliche Euphorie und die spontanen Siegesfeiern nach dem Finalsieg der Nationalmannschaft die von den Militärs beschworene nationale Einheit bestätigten oder umgekehrt gar als versteckte Manifestation der Zivilgesellschaft im Kontext politischer Repression zu deuten sei, ist umstritten und mangels unzensierter Zeitdokumente schwer nachvollziehbar (Alabarces 2010: 141–155). Zumindest, so bemerkt Sarlo, schaffte der sportliche Nationalismus ebenso wie der territoriale Nationalismus während des Krieges um die Falklandinseln vier Jahre später, was das Militärregime in Ermangelung einer nennenswerten sozialen Unterstützerbasis (auch wenn es umgekehrt jenseits der Menschenrechtsorganisationen kaum offenen Widerstand gab) trotz propagandistischer Anstrengungen nicht zuwege gebracht hatte: 7
Hier spielen insbesondere Gerüchte eine Rolle, nach denen der außergewöhnlich hohe 6:0-Sieg im Halbfinale gegen Peru eine Abmachung zwischen beiden Ländern gewesen sei, die später von der argentinischen Militärregierung mit einem Millionenkredit und Getreidelieferungen bezahlt worden sei.
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»Die Weltmeisterschaft und der Malvinaskrieg umgaben die Diktatoren mit einem Volk, das sie nicht zurückwies. Im Fest der Weltmeisterschaft wurden die Abneigung und die Prinzipien ausgesetzt. Man nahm an, dass das Recht der Menschen auf Freude über dem kritischen Geist stehen sollte.« (Sarlo 2001: 124)8
Menotti war ein überzeugter Ideologe der Rückkehr zur kreolischen Spielweise, die nun »la nuestra«, »die Unsrige«, genannt wurde. In seiner Berufung auf Tradition und Ursprung wollte er die »Essenz« des argentinischen Stils wiederherstellen, dessen fantasievolle Schönheit dem gewinnorientierten Pragmatismus der Modernisierer zum Opfer gefallen sei (Dunkhorst 2006). Mit dem WM-Titel 1978 sowie dem Sieg der Junioren-Weltmeisterschaft im folgenden Jahr ebenfalls unter seiner Trainerschaft wurden die alten Werte der Kreativität, Großzügigkeit und Geschicklichkeit im Fußball rehabilitiert. Menotti versuchte die politische Vereinnahmung durch die Diktatur abzuwehren, indem er unter Berufung auf ebendiese Werte den Fußball als reinen Hort edler Gesinnung mit der Verlogenheit und den Intrigen der »verkommenen« Politik kontrastierte. Gleichzeitig, so argumentiert Archetti, schuf der aggressive antikommunistische Nationalismus der Militärs mit seiner Zurückweisung »ausländischer« Einflüsse erst den geeigneten Nährboden für die Wiederkehr des essentialistischen Identitätsdiskurses. Der Sieg wurde vom Regime dementsprechend auch als Beweis für die Überlegenheit der argentinischen »Rasse« gelesen und in Anspruch genommen (Archetti 1996: 213–215).
5.3 Die Ära Maradonas Diego Maradona hatte bei der Nachwuchsweltmeisterschaft 1979 auf der nationalen Bühne debütiert und als Teamkapitän der siegreichen Mannschaft den Grundstein für seine Rolle als Nationalheld gelegt, mit der er bis in die 1990er Jahre die fußballerische Szene in Argentinien völlig beherrschen sollte. Nach dem Ende der Diktatur befand sich der argentinische Fußball in einer krisenhaften Situation. Die meisten Clubs hatten seit der Phase der Modernisierung hohe Schulden angehäuft und waren in einer wirtschaftlich misslichen Lage. Der Trend der rückläufigen Besucherzahlen in den Stadien konnte seit der Hochzeit des Fußballs während des Peronismus nie mehr umgekehrt werden, während 8
Spanisches Original: »El mundial y la guerra de las Malvinas rodearon a los dictadores de un pueblo que no los repudiaba. En la fiesta del mundial se suspendieron los rencores y los principios. Se teorizó que el derecho a la alegría de la gente debía prevalecer sobre el espíritu crítico.«
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das Phänomen der Fangewalt mit seinen sozialen und politischen Implikationen zu seiner höchsten Entfaltung gelangte (Scher/Palomino 1988: 175–178). Ungeachtet dieser Schwierigkeiten läuteten der erste WM-Titel von 1978 und das Auftauchen des Ausnahmespielers Maradona einen neuen Zyklus des Fußballnationalismus ein, der 1986 mit dem zweiten WM-Titel Argentiniens an seinen Höhepunkt kam und den Argentinier/innen »erlaubte, sich vor der Welt mit dem Bild dessen auszudrücken, was sie immer sein wollten, in einer so andauernden wie vergeblichen Suche: eine Großmacht.« (Arcucci 2006: 8)9 Maradona wurde in diesen Jahren zum privilegierten Signifikanten der Argentinität, der die klassischen Topoi sowohl der popularen Fußballerzählung als auch der nationalen Identität als Land der Gleichheit und Inklusion verkörperte. Maradona als Sinnbild der »kreolischen Gerissenheit« Einerseits erschien Maradona aufgrund seiner Herkunftsgeschichte aus ärmlichen Verhältnissen, seiner Physis und seiner individuellen Fähigkeiten als Inbegriff des pibe, der als rebellische und gleichzeitig unreif-kindliche Figur konstruiert ist (Archetti 2008). Er erfüllte mit seinem untersetzten, rundlichen Körper das Klischee des nicht perfekten, aber agilen »kreolischen« Spielers, der gegenüber disziplinierten, starken Athleten mit der genuin popularen picardía punktet. Als explizit ambivalentes Modell mit inneren Widersprüchen verkörpert der pibe eine dissonante Männlichkeit, in der sowohl physische als auch moralische Ambiguitäten legitimiert sind, da er aufgrund seiner marginalen sozialen Position in einem gespannten Verhältnis zur herrschenden Ordnung steht (Neves 2004: 121f.). Die populare Ästhetik mündet in eine populare Ethik: Fair play kann sich nur leisten, wer seinen Elitenstatus schon gesichert hat. Dem Benachteiligten dagegen steht im Kampf gegen die Mächtigen als einzige Waffe die picardía, der listige Betrug, zur Verfügung. Die Unvollkommenheit, Verantwortungslosigkeit und Frechheit der pibes werden positiv aufgeladen, weil die Weigerung, sich Disziplin und Regeln zu unterwerfen, symbolisch für die Weigerung steht, sich den gesellschaftlich dominanten moralischen Normen zu unterwerfen, die sie strukturell benachteiligen (Archetti 2008: 270–277). Die soziale Dimension dieser Bilder wird in folgendem Zitat aus einer Maradona-Biographie von 1996 deutlich, die schon mit der James Dean-Referenz ihres Titels »Rebelde con causa« (»Rebel with a cause«) auf die soziale Devianz Maradonas verweist: 9
Spanisches Original: » [...] porque les ha permitido expresarse ante el mundo a través de la imagen de lo que siempre han querido ser, en una búsqueda tan constante como infructuosa: una potencia.«
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»Maradona ist nämlich ein geborener Dribbler, einer von jenen Dribblern aus dem typisch kreolischen potrero, denn das Dribbling des potrero ist kein rein fußballerisches Dribbling. Es ist ein Dribbling im Leben, das in diesem Fall versucht, mit großen Nachteilen fertigzuwerden, nicht mit starken oder harten gegnerischen Verteidigern. Im potrero liegt die Rivalität in der bedrückenden sozialen Situation. Wie wird man unter so vielen Problemen einen Ball nicht beherrschen können, der schlecht aufspringt oder im Schlamm stecken bleibt?« (Levinsky 1996: 21f.)10
Im Viertelfinale der WM 1986 gegen England überführte Maradona den kreolischen Mythos in die Realität. Das Spiel war nicht nur wegen des historischen Gegensatzes zwischen dem argentinischen und dem englischen Stil, sondern vor allem wegen des vier Jahre zurückliegenden Krieges um die Malvinasinseln ideologisch aufgeladen. Maradonas Tor mit der Hand und auch seine spätere verschmitzte Bemerkung, es habe sich um die »Hand Gottes« gehandelt, kondensierten das Motiv der picardía, die aus einer subalternen Position heraus die dominanten Normen kreativ unterwandert, um »denen da oben eins auszuwischen«. Mit seinem zweiten Tor im selben Spiel, bei dem er im Alleingang von der Mittellinie kommend die halbe englische Mannschaft ausspielte und das später bei einer FIFA-Internetabstimmung zum »Tor des Jahrhunderts« gewählt wurde, bestätigte er seine Qualitäten als frecher pibe, der das Spiel genießt und diesen Genuss keinen taktischen Überlegungen opfert (Alabarces 2010: 172–176). Maradonas Performance erlangte kulturelle und politische Bedeutung: der Sieg im Spiel gegen die Engländer »bedeutete den Triumph des Individuums gegen die taktischen Systeme« (Archetti 2001: 40),11 aber auch den Triumph des National-Popularen gegen den Imperialismus und damit eine symbolische Revanche für die Niederlage im Falklandkrieg. Damit vereinte Maradona das Talent und die Freiheit des potrero sowie den Schwindel und die Unverfrorenheit der picardía in seiner Figur und wird zum Sinnbild der als »typisch argentinisch« erachteten viveza criolla.12 10 Spanisches Original: »Es que Maradona es un gambeteador nato, de aquellos gambeteadores de potrero típicamente criollo, porque la gambeta de potrero no es una gambeta meramente futbolística. Es una gambeta en la vida que intenta sacarse de encima en este caso inconvenientes profundos, no defensores rivales fuertes o recios. En el potrero, la rivalidad está en la angustiante situación social. ¿cómo no va a poderse dominar una pelota que pica mal o se detiene en el barro entre tantos problemas?« 11 Spanisches Original: »Maradona significó el triunfo del individuo contra los sistemas tácticos.« 12 Nationaltrainer der Mannschaft von 1986 war Carlos Bilardo, ehemaliger Spieler und später Trainer der für ihre skrupellose Spielweise bekannten Estudiantes de la Plata, der als ideologischer Gegenspieler Menottis eine
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Gerade wegen seiner Rolle als Modell der ambivalent definierten »Argentinität« fand und findet Maradonas Regelverstoß Unterstützung unter seinen Landsleuten. Jorge Valdano, der 1986 ebenfalls im argentinischen Nationalteam vertreten war, meint Jahre später im Interview auf die Frage, ob das Tor mit der »Hand Gottes« und vor allem die Tatsache, dass Maradona die Vorsätzlichkeit seines Handspiels öffentlich bekräftigt hatte, als unmoralisch zu qualifizieren sei: »Es ist zulässig für den, der es schießt, und unzulässig für den, der es bekommt. Es ist eher zulässig für die Argentinier, wegen unserer nachlässigen Art und Weise, uns mit dem Reglement in Beziehung zu setzen; und weniger zulässig für die Engländer, die vorbildlich sind in der Einhaltung des Fair play.« (Scher 2006: 43f., Herv. i. O.)13
Um die moralische Verantwortung nicht Maradona allein zuzuschreiben, fügt Valdano hinzu, dass er selbst ob der offensichtlichen Illegalität des Tors kein schlechtes Gewissen habe, und begründet dies folgendermaßen: »Weil ich Argentinier bin, Bewohner eines Landes, das noch nicht verstanden hat, dass das, was wir Gerissenheit nennen, in anderen Ländern Delikt genannt wird.« (Scher 2006: 44)14 Die Kombination einer Negativdefinition der eigenen Idiosynkrasie mit positiver Identifikation ist typisch für das, was die Soziologen Grimson und Amati als prägende Bivalenz der Zugehörigkeit im argentinischen Nationalgefühl bezeichnen. Aus einer kritischen Distanz zu sich selbst heraus wird die »Argentinität« als fehlerhaft und defizitär charakterisiert, um sie dann als genuin argentinische Widersprüchlichkeit zu affirmieren. Die Redewendung »Lo atamos con alambre« (»Wir befestigen es mit Draht«) etwa steht beispielhaft für eine Narrativisierung, die schlechte oder provisorisch gemachte Arbeiten gleichzeitig zum Symbol der argentinischen Erfindungsgabe und des Geschicks erklärt, auch unter prekären Konditionen unerwartete Lösungen finden. Dies drückt sich Philosophie der Durchsetzung vertrat und eine Revision des »argentinischen Stils« betrieb, die sich von der alten »kreolischen« Definition durch die Privilegierung von Kraft und Taktik und die gewinnorientierte Unterordnung des »schönen Spiels« unterschied. Maradona integrierte in gewisser Weise beide Dimensionen und überstieg damit die Teilung zwischen menottistas und bilardistas in der argentinischen Fußballdebatte. 13 Spanisches Original: »Es admisible para el que lo marca e inadmisible para el que lo recibe. Es más admisible para los argentinos, por nuestro laxo modo de relacionarnos con el reglamento; y menos admisible para los ingleses, que son ejemplares en el respeto del fair play.« 14 Spanisches Original: »Porque soy argentino, habitante de un pais que aún no entendió que aquello que nosotros llamamos viveza en otros países se llama delito.«
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auch in der Ambiguität der nationalen Ikonen aus, die häufig in positive Symbole verkehrte Anti-Symbole sind (Grimson/Amati 2007: 526– 544). Damit ist die Heroisierung Maradonas ein Statement gegen den Alterzentrismus, der »das Europäische« als Richtschnur setzt und die Eigengruppe demgegenüber als unzivilisiert und unterentwickelt abwertet. Allerdings löst seine symbolische Konstruktion den Antagonismus zwischen »Zivilisation und Barbarei« in der argentinischen Nationalitätsdebatte nicht auf, sondern reproduziert die dichotome Konfiguration in der in seiner Figur angelegten Spannung. Maradona wird zur konsensuellen Referenz des Nationalen, ohne deshalb vereinheitlichend zu wirken. Illustrativ für diese antagonistische Logik ist die gegensätzliche Charakterisierung des illegalen WM-Tors per Handspiel durch den konservativen argentinischen Essayisten Juan José Sebreli: »Die argentinische Gesellschaft hat sich durch die Gewöhnung an die Illegalität charakterisiert […], durch die Akzeptanz der Straflosigkeit und das Lob der ›kreolische Gerissenheit‹ genannten List [picardía] als eine größere Tugend als die Arbeit oder das Talent. […] Spiele sind auch ein Spiegel der Gesellschaft, und die unsrigen, Truco15 und Fußball, erlauben unter ihren Hilfsmitteln die Täuschung. […] Es ist bezeichnend, dass die zwei Gipfelmomente des Nationalspiels, der Sieg der Weltmeisterschaft 1978 und der Sieg über die Engländer mit Maradonas ›Hand Gottes‹, zwei Schwindel waren.« (Sebreli 2005: 204)16
Der letzte Platzhalter der Nation Maradona erfüllt die Voraussetzungen für die Rolle des national-popularen Helden gerade wegen dieser Widersprüchlichkeiten. Sein mangelnder Respekt für jegliche Autorität, seine Drogenexzesse, verbalen Entgleisungen und ständigen Konfrontationen mit dem »Establishment« lassen ihn menschlich und fehlbar wie jeden gewöhnlichen Argentinier erscheinen. Als solcher symbolisiert er mit seiner Aufstiegsgeschichte den Triumph 15 In Argentinien populäres Kartenspiel, bei dem gekonntes Bluffen zentrale Voraussetzung für den Sieg ist. »Truco« heißt übersetzt »Trick«. 16 Spanisches Original: »La sociedad argentina se ha caracterizado por el acostumbramiento a la ilegalidad […], por la aceptación de la impunidad y la celebración de la picardía llamada ›viveza criolla‹ como una virtud mayor que el trabajo y el talento. […] Los juegos son también un espejo de la sociedad, y los nuestros, el truco y el fútbol, admiten entre sus recursos el engaño. […] Resulta significativo que los dos momentos cumbres del juego nacional, el triunfo del Mundial 1978 y el triunfo sobre los ingleses con ›la mano de Dios‹ de Maradona, hayan sido dos trampas.«
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des Popularen, weil er trotz der Erfolge seiner Herkunftsschicht und den damit verbundenen kulturellen Repertoires verbunden bleibt: »Maradona repräsentiert den gewöhnlichen Mann, der im Sport aufsteigt, aber ohne sich an entsprechende Verhaltensregeln und Sprache anzupassen, der sich noch immer wie der ›Arme aus dem Viertel‹ ausdrückt, weswegen er als primitiv identifiziert wird. Maradona ist popular im höchsten Grad, und er verdient viel, aber er möchte leben wie jeder beliebige private Bürger.« (Dini 2001: 75)17
Die in Maradonas proletarischem Habitus reflektierte einfache Herkunft bestätigt, dass Anerkennung und Erfolg nicht an sozialen Status gekoppelt sind. Damit wiederholt er die klassische Fußballerzählung des sozialen Aufstiegs unter demokratischen und egalitären Bedingungen. Zu einem Zeitpunkt, als die Möglichkeit sozialer Mobilität im Fußball wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen angesichts der wachsenden Ungleichheit eigentlich keine Realität mehr darstellt, bedient Maradona das Narrativ der nationalen Identität von Argentinien als inklusivem Land (Alabarces/Rodríguez 1996: 49). Die Effizienz der maradonianischen Erzählung ist damit letztlich Ausdruck der Krise der nationalen Repräsentation seit dem Ende der Militärdiktatur. Die Vorstellung von Argentinien als wohlhabender Nation mit einer breiten Mittelschicht, einem hohen Bildungsgrad und unendlichen Ressourcen war tief in das soziale Imaginäre eingeprägt und hatte die nationale Identität über Jahrzehnte hinweg bestimmt: »Die Repräsentation der sozialen Frage in Argentinien war historisch in den Mythos des Reichtums eingebettet – die Vorstellung, dass die Armut eine Verirrung ist in einem Land, das für die Großartigkeit bestimmt ist« (Armony/Kessler 2004: 111).18 Mit der Rückkehr zur Demokratie 1983 erhielt die Hoffnung auf Erfüllung dieser Bestimmung für wenige Jahre neue Nahrung. Als sich Staatspräsident Alfonsíns Versprechen, mit der Wiederherstellung der demokratischen Ordnung würde auch die Gewährleistung der materiellen Notwendigkeiten garantiert,19 als uneinlösbar 17 Spanisches Original: »Maradona representa al hombre común que emerge en el deporte, pero sin adecuarse a las reglas de comportamiento y al lenguaje correspondientes, expresándose aun como el ›pobre del barrio‹, hecho que lo hace identificar como primitivo. Maradona es popular en el mayor grado, y gana mucho, pero le gustaría vivir como cualquier ciudadano privado.« 18 Spanisches Original: »[L]a represenaticón de la cuestión social en Argentina estuvo históricamente encuadrada por el mito de la riqueza – la idea de que la pobreza es una aberración en un país destinado a la grandeza«. 19 »Mit der Demokratie isst man, mit der Demokratie lehrt man, mit der Demokratie heilt man« war der Wahlslogan des UCR-Kandidaten Raúl
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erwies und das Land stattdessen in die Inflation und schließlich in die Hyperinflation stürzte, installierte sich das Bild vom »Land in der Krise«, das seitdem die kollektive Selbstwahrnehmung geprägt hat (Armony/Kessler 2004: 91–104). Die Parteien, Gewerkschaften und staatlichen Institutionen büßten ihre subjektkonstituierende Anrufungskraft zunehmend ein. Insbesondere mit der Krise und der Transformation des Peronismus wurde eine wichtige Identitätsinstanz geschwächt, die über Jahrzehnte den Erfahrungshorizont der Arbeiterschaft organisiert hatte (Svampa 2000: 123–151). Mit dem neoliberalen Rückzug des Staates im Menemismus löste sich der politische Bezugsrahmen für vereinheitlichende Diskurse schließlich auf. In diesem Kontext stellte der Mythos Maradonas einen der letztverbliebenen Ankerpunkte nationaler Identität dar und garantierte das Überdauern der popular-demokratischen Erzählung für eine von der Politik enttäuschte Generation (Alabarces 2010: 183–186). Dazu der bereits zitierte Ex-Fußballspieler Jorge Valdano: »Das Leid, das Argentinien während der Vorherrschaft Maradonas durchmachte (Militärjunta, Hyperinflation, Menemismus, soziale Entgleisung) schuf ein nationales Loch von gigantischen Ausmaßen. Obwohl es sich von selbst versteht, dass der Fußball es nicht immer gut ausfüllt (Gewalt, schlechtes Spiel, Niederlagen), ist eines undiskutierbar: für die Argentinier füllte niemand dieses Vakuum mehr und besser als Maradona.« (Scher 2006: 121)20
Ab den frühen 1990er Jahren wurde Maradonas Mythos um die Dimension der ebenfalls im argentinischen Imaginären verankerten Opfererzählung erweitert. Seine körperliche Verfassung bei der Fußballweltmeisterschaft von 1990 zeigte bereits die Folgen seines Drogenmissbrauchs und den Beginn seines sportlichen Niedergangs. Seiner symbolischen Produktivität tat dies zu diesem Zeitpunkt noch keinen Abbruch.21 Die Alfonsíns während der Präsidentschaftskampagne 1983 gewesen und wurde zum geflügelten Wort seiner Regierungszeit. Spanisches Original: »Con la democracia se come, con la democracia se educa, con la democracia se cura«. 20 Spanisches Original: »Los males que sufrió Argentina durante el reinado de Maradona (Junta Militar, hiperinflación, menemismo, descarrilamiento social) crearon un agujero nacional de proporciones faraónicas. Aunque no hace falta decir que el fútbol no siempre lo rellena bien (violencia, mal juego, derrotas), hay algo indiscutible: para los argentinos nadie llenó ese vacío más y mejor que Maradona.« 21 Noch unmittelbar vor der WM hatte ihn Staatspräsident Carlos Menem zum Sportbotschafter des Landes ernannt und gemeinsam mit dem gesamten Nationalteam zum Vorbild für alle Argentinier/innen erklärt, die es ihm
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DIE ÄRA MARADONAS
Niederlage im Finalspiel gegen Deutschland, die Maradona am Spielfeld beweinte, wurde von ihm und seinen Fans bis hin zur Staatsspitze als Komplott der Mächtigen interpretiert, den Nationalspielern wurde bei ihrer Rückkehr ein pompöser staatlicher und medialer Empfang als »moralische Sieger« bereitet (Di Giano 2001: 57–61). Maradona inszenierte seine Rückschläge – angefangen bei der Niederlage der WM 1990 über die fünfzehnmonatige Sperre während seiner Zeit beim SSC Neapel wegen seines Kokainkonsums bis zu seinem Ausschluss bei der WM 1994 nach einem positiven Dopingtest – als Verfolgung durch das Establishment, das ihn für seinen unehrerbietigen Charakter bestrafe. Maradona symbolisierte den aufstrebenden underdog, dessen selbstbewusstes Aufbegehren und aufmüpfige Kritik am System von den Personen an den Schalthebeln der Macht nicht geduldet und skrupellos verfolgt werde, und avancierte so zur popularen Märtyrerfigur (Alabarces 2010: 181–183). Ihre sprachliche Übersetzung fand diese in Maradonas legendär gewordener Aussage nach seinem WM-Ausschluss 1994 durch die FIFA: »Sie haben mir die Beine abgeschnitten.« Wie wirkmächtig diese Bedeutungen bis heute im common sense verankert sind, zeigt ein Werbespot für das Onlinespiel »El gran DT« (übersetzt »Der große Teamchef«) aus dem Jahr 2009: In diesem finden drei Mittzwanziger beim Lagerfeuer im Wald ein Paar sich bewegender Beine ohne Oberkörper und kombinieren unmittelbar richtig: »Das sind die Beine, die sie Diego ’94 abgeschnitten haben!«22 Die Bedeutung dieser Opfernarration erschließt sich vor allem in ihrer Implikation, dass mit Maradona die argentinische Nation verfolgt (und zuletzt vernichtet) wird. Sein Ausschluss von der Weltmeisterschaft wird als nationale Katastrophe erlebt und steht für den symbolischen Zusammenbruch der nationalen Identität nach dem Scheitern ihres letzten gleichtun und ihr Bestes für die notwendigen Strukturreformen leisten sollten. Allerdings wurde ihm die Ehrenbotschafterwürde bereits ein Jahr später wegen seines Kokainkonsums wieder entzogen. 22 Im Werbespot zeigen die jungen Männer ihren Fund dem Fußballspieler Cristian Nasuti, der die Gliedmaßen ebenfalls sofort als die Beine Maradonas erkennt, diese in der aktuellen Saison statt seiner eigenen benutzt und damit großartige Tore schießt, während die jungen Männer mit diesem Wissen im »Gran DT« das Team richtig aufstellen und den Bewerb gewinnen. (Ziel des von der Tageszeitung Clarín organisierten Onlinespiels ist es, aus den Spielern der ersten Division eine Mannschaft zusammenzustellen und je der tatsächlichen Leistung dieser Spieler, die Clarín anhand ihrer Performance in der aktuellen argentinischen Meisterschaft wöchentlich punktemäßig bewertet und in seinem Sportteil veröffentlicht, eine möglichst hohe Punkteanzahl zu erreichen.) Link zum Video: https://www.youtube.com/watch?v=TNfP4TZ3jGk
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großen Sinnträgers.23 Die WM 1994 ist für die Argentinier/innen keine einfache Niederlage im Fußball, sondern der Verlust der Repräsentation des Nationalen und damit das Ende der Verbindung zur idealisierten Vergangenheit, die Argentinien eigentlich sein sollte und nie mehr erreichte. Seinen offiziellen Rückzug aus dem Fußball gibt Maradona erst 1998 bekannt. Trotzdem stellt die WM 1994 einen Bruch dar, der durch Maradonas Unterstützung des rechtsperonistischen Staatspräsidenten Menem bei dessen Wiederwahl 1995 und seine erneuten Kokainskandale nur bestätigt wurde. Sein Abschied ließ ein symbolisches Vakuum zurück, das den stark auf individuelle Helden fixierten Fußballnationalismus nachhaltig schwächte (Alabarces 2010: 191–196).
5.4 Kommerzialisierung, Tribalisierung und Fangewalt im argentinischen Fußball Der argentinische Fußball erfuhr in den 1990er Jahren tiefgreifende Veränderungen, die auch die Fußballkultur transformierten. Die meisten Clubs sahen sich mit einer immensen Verschuldung konfrontiert und forcierten unter dem finanziellen Druck den Verkauf ihrer Nachwuchstalente am globalen Fußballmarkt. Die Tradition der Spielerabwanderung bestand schon seit den 1930er Jahren und war mit dem erhöhten Marktwert des argentinischen Fußballs infolge der beiden WM-Siege verstärkt worden, erreichte nun aber eine neue Dimension. Die zunehmende Rekrutierungs- und Exportfunktion dünnte die Qualität der heimischen Teams aus, löste die ökonomischen Probleme aufgrund der korrupten Strukturen in den Institutionen allerdings nicht nachhaltig (Fontana 2006). Unter dem Eindruck der globalen Kommerzialisierungstendenzen im Fußball geriet das argentinische Clubmodell zunehmend unter Druck. Die demokratische Organisationsstruktur als Verein im Besitz der Mitglieder mit gewählter Vertretung übersetzte sich angesichts der etablierten klientelistischen Netzwerke zwar ohnehin mangelhaft in die Praxis, bot aber eine wichtige Instanz männlicher Vergemeinschaftung auf lokaler Ebene (Frydenberg 2001). Im ideologischen Klima des 23 Eine Vorstellung vom Ausmaß der kollektiven Erschütterung vermittelt der Bericht einer argentinischen Psychoanalytikerin, die ihre Analysand/innen am Tag nach dem Ereignis als von Gefühlen der Verlassenheit und Trauer überwältigt beschreibt. Von 14 Personen in zwei Tagen hätte nur eine Maradona nicht erwähnt, eine Patientin habe in der Verzweiflung über die positive Dopingkontrolle den eigenen im Sterben liegenden Vater vergessen, während ein anderer wegen seiner von Maradonas Ausschluss ausgelösten depressiven Verstimmung den Termin nicht wahrnehmen konnte. (Spoto 1995: 13–17).
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KOMMERZIALISIERUNG, TRIBALISIERUNG UND FANGEWALT
Neoliberalismus der 1990er Jahre wurde das socio-Modell zunehmend als anachronistisch in Frage gestellt, da es etwa eine Notierung an der Börse oder Übernahmen durch finanzkräftige Privatinvestoren verhinderte und neuen Anforderungen wie dem professionellen Aufbau eines Markenprofils zur Steigerung von Sponsoring- und Merchandisingeinnahmen nicht gewachsen war. Mit dem sogenannten gerenciamiento, der Auslagerung der Managementaktivitäten an Unternehmergruppen, wurde schließlich eine Möglichkeit gefunden, auf die Ausbreitung der merkantilen Logik im Fußballgeschäft zu antworten, ohne die formale Rechtsform zu tangieren (Gil 2003: 339–342; Moreira 2010).24 Die marktorientierte Struktur wurde auch durch die neuen Einnahmen aus dem Geschäft mit den TV-Übertragungsrechten vorangetrieben, von denen die großen Clubs über den Verteilungsschlüssel des argentinischen Fußballverbands Asociación del Fútbol Argentino (AFA) verhältnismäßig stärker profitierten. Das Sportmedienunternehmen Torneos y Competencias (TyC) hatte seit 1985 ein Exklusivrecht auf die Übertragung der Fußballspiele der ersten Division. 1991 übertrug es dieses auf seine TV-Firma Televisión Satelital Codificada (TSC), an der auch der Medienkonzern Clarín zur Hälfte beteiligt war, welcher mit den Privatisierungen im audiovisuellen Mediensektor unter Menem in diesen Bereich eingestiegen war. Die Sportbegegnungen wurden über ein kostenpflichtiges Verschlüsselungssystem ausgestrahlt, erst nach Ausstrahlung einer Zusammenfassung im offenen Clarín-Sender Canal 13 wurden die Bilder an andere Kanäle freigegeben (Alabarces 2014: 234–239). Die Expansion des Fernsehfußballs und die Professionalisierung der Marketingstrategien veränderten den Charakter der Fußballkultur und eröffneten neue Zuschauergruppen. Einerseits wurden Frauen als Fansubjekte vollends ins Fußballpublikum integriert, auch wenn ihre Präsenz und ihre erhöhte Berücksichtigung in der medialen Repräsentation die männlichen Codes der fußballerischen Narrative unverändert ließen (Conde/Rodríguez 2002). Andererseits stärkte die mediale Vermarktung von Fußball seine Bedeutung als symbolisches Konsumgut und hob die klassenspezifische Ungleichverteilung seiner Anrufungskraft auf. Das Ende des argentinischen Fußballs als ein vorwiegend von den popularen Klassen geprägter Raum stand allerdings auch mit dem Rückgang der industriellen Arbeiterklasse und der Popularisierung der verarmten Mittelschichten in Zusammenhang (Alabarces et al. 2000: 215). 24 Als erster solcherart modernisierter Fußballclub gilt Boca Juniors, dessen Präsident Mauricio Macri im Anschluss an die zwölfjährige Präsidentschaft des Vereins mit seinem daraus gewonnenen Image als erfolgreicher Unternehmer 2007 die Wahl in das Bürgermeisteramt von Buenos Aires gewann und Ende 2015 zum argentinischen Staatspräsidenten gewählt wurde (Moreira 2010: 128–137).
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Schließlich wurden die traditionellen popularen Subjekte des argentinischen Fußballnarrativs auch durch marktvermittelte Ausschlussmechanismen aus ihrer protagonistischen Rolle verdrängt. Die Eintrittspreise und Fernsehgebühren waren für die arme Bevölkerung kaum leistbar, die klassischen Aufstiegsgeschichten wurden hingegen seltener, weil Jugendliche aus den sozioökonomisch benachteiligten Schichten aufgrund ihrer mangelhaften Ernährungsgrundlage das notwendige physische Niveau nicht mehr erreichen konnten (Alabarces et al. 2000: 215f.). So berichtet Nachwuchstrainer Carlos Pachamé in einem Interview 2004 aus seiner Erfahrung mit »Spielern, die an dem Tag begonnen haben, gut zu essen, an dem sie begonnen haben, als Profispieler zu leben.« Trotz technischen Talents könnten diese wegen häufiger Verletzungen oder Schwierigkeiten mit dem intensiven Training den Leistungsanforderungen im Spitzensport letztlich nicht genügen: »Wir gaben ihnen Frühstück, Mittagessen und Abendessen, um zu sehen, ob wir sie wieder aufbauen konnten, aber sie hatten schon in der Kindheit ein Defizit erworben.« (Morales/Perfumo 2006: 255)25 Die realen Möglichkeiten, in die Liga der Topspieler aufzusteigen, wurden damit zunehmend nach sozioökonomischem Status ungleich verteilt. Die Ausweitung der televisiven Fußballkultur ging allerdings mit einer Fragmentierung der Fußballidentitäten einher. Die Bindungen an das Nationalteam und die fußballerische Erzählung des Nationalen waren wie alle nationalen Narrative geschwächt. Der argentinische Stil stellte kein distinktives Merkmal mehr dar, das bedeutungsstiftende Oppositionen hätte aufbauen können (Garriga Zucal 2007b). Die Nationalauswahl wurde als wenig repräsentativ empfunden, weil ihre Spieler häufig früh emigrierte Legionäre europäischer Mannschaften ohne eigene Geschichte in der argentinischen Liga waren. Nach dem Abgang Maradonas zeigte sich außerdem die Problematik des hohen Gewichts individueller Heldenfiguren für kollektive Identitätskonstruktionen in Argentinien. Die audiovisuellen Medien bemühten sich zwar um die Mobilisierung nationalistischer Diskurse, scheiterten aber in ihrem Versuch, in den Folgejahren Spieler wie Ariel Ortega, Carlos Tévez oder zuletzt Lionel Messi als neue pibes vom Format Maradonas zu konstruieren. Insbesondere bei der WM 2002 wurde versucht, den sportlichen Erfolg als Kompensation für die tiefe politische und ökonomische Krise des 25 Spanisches Original: Interviewer Víctor Hugo Morales: »No nos olvidemos cuál es el origen de los muchachos que juegan al fútbol en América latina, normalmente muy humilde, entonces la alimentación no ha sido equilibrada, no ha sido abundante y nos encontramos con jugadores que han empezado a comer bien el día que empezaron a vivir como jugadores profesionales.« Carlos Pachamé: »Les dábamos desayuno, almuerzo y merienda para ver si podíamos recomponerlos, pero ya tenían un déficit adquirido en la niñez.«
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Landes zu inszenieren und nationale Gemeinschaftsgefühle zu beschwören. Der Fußballnationalismus, angesichts der geschwächten Verbindung zwischen Staat und Gesellschaft die letzte Form der nationalen Identifikation, blieb auf die wenigen Wochen des WM-Bewerbs beschränkt (Alabarces 2014: 105–114). Demgegenüber gewannen die Clubidentitäten an Bedeutung. Die Bindungen an den lokalen Verein und die Rivalitäten mit anderen Clubs bzw. deren Fangruppierungen wurden zu primären Identitäten, die in der argentinischen Fußballsoziologie als »tribalisierte« Fanidentitäten beschrieben werden. Aufgrund der clubinternen Ökonomisierungstendenzen sowie der distanzierten Beziehung zwischen Spielern und Fans infolge häufiger Spielerwechsel betrachteten sich die Fans nun selbst als identitätsstiftende Instanzen und authentische Repräsentant/innen der Clubs (Alabarces 2010: 210–216). Dieser neue Protagonismus der Fans wird auch von den Medien bestätigt, die in ihrer Inszenierung die Gesänge und Choreographien der Tribünen als integralen Bestandteil des Fußballspektakels aufnahmen (Salerno 2005). Zuletzt ließ der Tribalisierungsprozess im Fußball die Gewalt der barras bravas zu einem zentralen Phänomen werden. Diese Fanorganisationen, die sich selbst als hinchadas bezeichnen,26 etablierten eine Gewaltkultur, die auf der Ethik des aguante basiert.27 Der Begriff des aguante ist innerhalb der argentinischen Fußballkultur allgemein verbreitet und steht für treue Unterstützung des Teams und bedingungslose Loyalität (Garriga Zucal 2005: 47). Für die Mitglieder der barra brava ist der aguante darüber hinaus eine Form der Ehre, die über den gewaltsamen Kampf mit den rivalisierenden Fangruppen erworben wird. Die körperliche Gewalt bzw. der damit verbundene aguante machen das kulturelle Kapital der barras innerhalb ihres sozialen Feldes aus (Garriga Zucal 2007a: 41–60). Die barras bravas sind ein wichtiger Machtfaktor in den Clubs und stehen in enger Verbindung zur Funktionärsschicht sowie zum politischen Feld, von denen sie etwa im Austausch für die Mobilisierung großer Unterstützergruppen bei Demonstrationen oder das gewaltsame Vorgehen gegen konkurrierende politische Gruppen bzw. staatliche Einsatzkräfte materielle Ressourcen und andere Begünstigungen erhalten (Moreira 2010: 180–212). Ferreiro und Fernández beschreiben das als »Privatisierung« des aguante, der damit eine Transformation in eine 26 Dieser Begriff wird auch in der ethnographischen Forschung verwendet, die Bezeichnung »barras bravas« ist dagegen journalistischen Ursprungs und hat eine negative Konnotation. Sie wird hier dennoch bevorzugt, weil sie auch im untersuchten Mediendiskurs und in den durchgeführten Interviews durchgängig Verwendung findet. 27 Vgl. dazu die ethnographischen Feldforschungen in Moreira 2006 zur hinchada des Clubs Independiente und in Garriga Zucal 2007a und 2010 zur hinchada des Clubs Huracán.
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Ware erfährt und auf dem informellen ökonomischen Markt an Akteure aus sozialen Feldern, in denen physische Gewalt kein legitimes kulturelles Kapital darstellt, verkauft wird (Ferreiro/Fernández 2005).
5.5 Der Kirchnerismus und der Fußball Nach der langen Absenz des Staates in der Konstruktion nationaler Narrative leitete der Aufstieg des Kirchnerismus einen Wandel ein. Nach ihrer politischen Schwächung durch den Agrarkonflikt 2008 forcierte die Regierung die Reaktualisierung national-popularer Interpretationsschemata zur Deutung der innenpolitischen Auseinandersetzungen. Der Fußball, der bis dahin nicht auf der Agenda der Regierung stand, gewann in diesem Kontext in seiner symbolischen wie materiellen Dimension an strategischer Bedeutung für die offizielle Politik. Die beiden zentralen Ereignisse stellen in diesem Zusammenhang die Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte im Jahr 2009 und die Ernennung Maradonas zum Trainer der Fußballnationalmannschaft Ende 2008 dar.28 2009 lagen die Lizenzen für die TV-Übertragung der ersten Liga nach wie vor bei TSC, dem Joint Venture-Unternehmen der Gruppe Clarín und Torneos y Competencias, mit einer Laufzeit des gültigen Vertrags bis 2014. Aufgrund der finanziellen Notlage der meisten Clubs, die zu Säumigkeit in der Bezahlung der Spieler geführt hatte, forderte der argentinische Fußballverband AFA eine drastische Erhöhung der bisherigen jährlichen Vertragssumme von umgerechnet 60 Millionen Dollar. Die Regierung intervenierte in diese Verhandlungen zwischen den uneinigen Partnern mit einem Kaufangebot von 600 Millionen Pesos (damals 150 Millionen Dollar) für die TV-Rechte an die AFA. Im August 2009 unterzeichneten Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und AFA-Präsident Julio Grondona die Verstaatlichung der Fußballübertragungen unter dem Namen Fútbol para Todos, wodurch der Vertrag mit den privaten Medienunternehmen vorzeitig beendet wurde (Alabarces 2014: 241f.). Ab Herbst 2009 wurde die nationale Meisterschaft erstmals unverschlüsselt über den staatlichen Sender Canal 7 ausgestrahlt, alle weiteren Kanäle konnten die Übertragung unter Beibehaltung des Formats zeitgleich übernehmen (Alabarces/Duek 2010: 26). 28 Letzteres war eine Entscheidung des AFA-Präsidenten Grondona. Dass er damit einem Wunsch des Kirchnerismus Folge leistete, kann nicht durch Quellen belegt werden, wird von Beobachter/innen (auch von regierungsunterstützender Seite) aber immer wieder bestätigt und als Teil der Abmachung um die TV-Rechte interpretiert. In jedem Fall bewirkte Maradona an der Spitze des argentinischen Teams eine antagonistische Aufladung der WM-Teilnahme 2010.
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Für den Kirchnerismus bedeutete der Kauf der Übertragungsrechte mehrere Vorteile. Erstens wurde die dominante Marktposition Claríns durch seinen Verlust des Fußballmonopols entscheidend eingeschränkt, was einen wichtigen Fortschritt im erklärten Ziel darstellte, die ökonomische Vormachtstellung des Konzerns zu brechen. Zweitens konnte die Regierung in den Werbezeiten während der Spiele eigene Spots platzieren, die über ihre Erfolge und Verbesserungen in verschiedenen Bereichen oder über zukünftig geplante Projekte informierten. Allerdings blieb dadurch die Ankündigung uneingelöst, die Ausgaben für die staatliche Übernahme würden durch Werbeeinnahmen gedeckt. Beginnend mit der zweiten Meisterschaft nach der Einführung von Fútbol para Todos blieben bis auf seltene Ausnahmen alle Anzeigenplätze für staatliche Inserate reserviert (Alabarces 2014: 248).29 Schließlich erlaubte die Narrativisierung des Programms Fútbol para Todos als Durchsetzung demokratischer Zugangsrechte auf die »populare Kultur« des argentinischen Volkes eine symbolische Veranschaulichung des kirchneristischen Bruchs mit dem Neoliberalismus. Als Cristina Fernández de Kirchner in ihrer Rede zur Vertragsunterzeichnung die von Clarín »geraubten Tore« mit den entführten und ermordeten Dissident/innen der letzten Militärdiktatur verglich, komplettierte sie die politisch-kulturelle Artikulation um die Vergangenheitspolitik, das zweite zentrale Element der populistischen Ruptur.30 Maradona war zu Beginn des neuen Jahrtausends nach mehreren Drogenentzugsaufenthalten auf Kuba und einer Magenverkleinerung zur Bekämpfung seines Übergewichts 2005 körperlich erholt mit einer eigenen Fernsehshow in die Öffentlichkeit zurückgekehrt.31 Gleichzeitig 29 Ab 2011 wurde diese Praxis der Ersetzung privater Werbeeinschaltungen durch staatliche Propaganda auf den Titel der Meisterschaft ausgeweitet, der nun statt auf den Namen eines Sponsors auf national-populare Topoi verwies, etwa »Torneo Néstor Kirchner« nach dem Tod des Ex-Präsidenten, »Torneo Crucero General Belgrano« in Erinnerung an ein im Krieg um die Malvinasinseln gesunkenes Militärschiff, »Torneo Eva Perón« etc. (Alabarces 2014: 248f.). 30 Die genaue Aussage lautete: »Dass nur derjenige, der zahlen kann, ein Fußballspiel sehen kann. Dass sie dir außerdem die Tore bis zum Sonntag entführen, obwohl du genauso bezahlst. So wie sie dir das Wort entführen oder wie sie dir die Bilder entführen. So wie sie früher 30.000 Argentinier entführten und verschwinden ließen.« Spanisches Original: »Que solamente el que pueda pagar, puede ver un partido de fútbol. Que además te secuestren los goles hasta el domingo aunque pagues igual. Como te secuestran la palabra o te secuestran las imágenes. Como antes secuestraron y desaparecieron a 30.000 argentinos.« https://www.youtube.com/watch?v=CrLSEMkst48 4:04–4:26. 31 »La noche del 10« (»Die Nacht der [Nummer] 10«) wurde 2005 auf Canal 13 ausgestrahlt und war als Megashow angelegt, die eine durchschnittliche
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versuchte er sich als linker Aktivist für die Sache des Antiimperialismus und bewirkte auf diese Weise eine weitere Neuakzentuierung seiner symbolischen Konstruktion, die mit der latein-amerikanistischen Ausrichtung des Kirchnerismus konvergierte. So interviewte er im selben Jahr Fidel Castro in seiner Sendung und trat gemeinsam mit Hugo Chávez bei den Protesten gegen die Amerikanische Freihandelszone ALCA im Rahmen des »Gipfels der Völker«, der Gegenveranstaltung zum Amerika-Gipfel, im argentinischen Mar del Plata auf. Nachdem er Ende 2008 zum argentinischen Fußballnationaltrainer ernannt worden war, trat er öffentlich unterstützend für die Verstaatlichung der Fußballübertragungen auf. Kritik an seiner Person deutete er bereits während der Vorrundenspiele in der Lesart der »ungerechten Verfolgung« als Rache der Medien für seine regierungsunterstützende Haltung. Damit trug er selbst zur Assoziierung seiner Figur mit den antagonistischen Konfliktlinien der argentinischen Innenpolitik und zur Etablierung des WM-Ereignisses 2010 als weiterer potentieller Bühne der kulturellen Inszenierung politischer Hegemoniekämpfe bei. Während der Austragung des WM-Bewerbs in Südafrika wurde Maradona zum Zentrum einer politisch aufgeladenen medialen Debatte, welche die populare Symbolik des argentinischen Fußballs mit der diskursiven Konstruktion des Kirchnerismus verknüpfte und damit den von den kirchneristas beanspruchten »national-popularen Charakter« anschaulich machte. Alabarces sieht die Funktion Maradonas im nationalen Kontext für die Zeit nach seinem Rücktritt als aktiver Spieler in erster Linie im Rückverweis auf eine ruhmvolle Vergangenheit (Alabarces 2010: 198). Tatsächlich stellt Maradona den leeren Signifikanten der gesamten argentinischen Fußballtradition dar. Wie Fußballkommentarist Alejandro Apo 1999 schreibt: »Die genetische Erinnerung des argentinischen Fußballs verdichtet sich in seinem wohlgefälligen Namen.« (Apo 1999: 23).32 Weniger überzeugend erscheint dagegen Alabarces’ Schlussfolgerung, angesichts der Rückkehr des Staates als Erzähler des national-popularen Epos habe der Fußball seine narrative Produktivität eingebüßt (Alabarces 2014: 124). Auch wenn der Fußball keine »alternative« Erzählung bot, was er, wie Alabarces richtig bemerkt, nie gemacht hatte, bot er popularkulturelle Topoi zur Veranschaulichung der vom Kirchnerismus vorgeschlagenen national-popularen Argentinität. Die Artikulation diskursiver Elemente aus Fußball und Politik bezieht ihr Potential für hegemoniale Auseinandersetzungen aus der Eröffnung eines symbolischen Reichweite von 30% und hohe mediale Resonanz erreichte. Für eine Analyse der Sendung siehe Borda/Viterbo 2006. 32 Spanisches Original: »La memoria genética del fútbol argentino se condensa en su grato nombre.«
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Raumes, der nicht auf die Logik eines der beiden Felder reduzierbar ist, sondern in der Verknüpfung entsteht und ein Terrain zur kulturellen Reinszenierung antagonistischer Auseinandersetzungen bereitstellt. Maradonas Herkunfts- und Aufstiegsgeschichte, seine Krisen und Skandale, seine ständigen Konflikte mit »mächtigen« Akteuren sowie sein exhibitionistisch ausgestelltes Privatleben formen ein kulturelles Narrativ, das im Alltagswissen der Argentinier/innen unabhängig von ihrer sozialen Zugehörigkeit tief verankert ist und in der medialen Zirkulation, von Maradona-Referenzen in der Popkultur bis hin zur Inkorporierung seiner Aussagen als Redewendungen, ständig reaktualisiert wird (Borda/Viterbo 2006). Gleichzeitig ist Maradonas symbolische Konstruktion alles andere als eindeutig und verleiht ihm die »Fähigkeit, (als Signifikant) auf vielfältige Verkettungen sozialer Bedeutungen zu verweisen.« (Borda/Viterbo 2006, o.S.)33 Damit bildet er »eine symbolische Achse, um welche die unterschiedlichen Diskurse zusammenfließen, [...] einen provisorischen Ankerpunkt der Sinnproduktion, der jeweils eine Reihe sozialer Repräsentationen verkörpert.« (Borda/Viterbo 2006, o.S.)34 Aufgrund der Ambiguität seiner Figur ist er ein privilegierter kultureller Knotenpunkt, der von unterschiedlichen Positionen des Diskurses aus mit gegensätzlichen Wertungen besetzt werden kann. So wird er zu einem effektiven Einsatz in hegemonialen Auseinandersetzungen, dessen Bedeutung »dazu tendiert, je nach Aussageinstanz zu variieren, die versucht, sich ihn im jeweiligen Zusammenhang anzueignen« (Borda/Viterbo 2006, o.S.),35 ohne seine flottierende Dimension je gänzlich zu verlieren. Als solcher wurde er während der Fußballweltmeisterschaft 2010 zum Zentrum des kulturell übersetzten Antagonismus zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus.
33 Spanisches Original: »[…] capacidad de remitir (en tanto significante) a diversos encadenamientos de significaciones sociales.« 34 Spanisches Original: »Maradona se convierte entonces en un eje simbólico alrededor del cual los diferentes discursos confluyen, en un punto de anclaje provisional de la deriva del sentido, que encarna en cada momento un conjunto de representaciones sociales.« 35 Spanisches Original: » […] el conjunto de significados que se movilizan en torno al significante ›Maradona‹ tiende a variar según quien sea la instancia de enunciación que intente apropiarse de él en cada oportunidad.«
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III. Empirie
6. Die Symbolisierung des Popularen im medialen Diskurs der WM 6.1 Die politisch-kulturelle Inszenierung des Antagonismus Die Kommentare der regierungsunterstützend positionierten Medien schreiben die Fußball-WM 2010 in die interpretative Struktur der politischen Auseinandersetzung zwischen dem Kirchnerismus und den oppositionellen Kräften ein, indem sie die narrative Logik dieser politischen Frontstellung auf die mediale Darstellung der Weltmeisterschaft übertragen. So werden auch die fußballerischen Ereignisse zu politischen Themen, deren Sinngehalt sich nur im Lichte der übergreifenden innenpolitischen Konfliktlinien und ihrer zugehörigen Diskursmuster erschließt. Der Konflikt der Regierung mit dem Agrarsektor im Jahr 2008, in dem die oppositionellen Medien eine wichtige Rolle als Sprachrohr der Proteste übernahmen, bedeutete einen politischen Rückschlag für den Kirchnerismus, der in der Folge seine national-populare Rhetorik gegen die »anti-popularen« Kräfte verstärkte. Im Jahr darauf verabschiedete die Regierung ein neues Mediengesetz, das die Medienkonzentration im audiovisuellen Sektor verringern und damit den Multimediakonzern Clarín schwächen sollte. Diese Verschärfung der Fronten seit 2008 ist die Ausgangslage der Artikulationen von Fußball und Politik während der Weltmeisterschaft 2010 und prägt die medialen Debatten. In den pro-kirchneristischen Medien stellt sich die Fußball-WM als weitere Episode im Konflikt zwischen dem »national-popularen Projekt« der Regierung und seinen Gegner/innen dar, deren Konstruktion im Folgenden nachvollzogen werden soll.
6.1.1 buena onda vs. mala onda – der Konflikt der zwei »Erzählungen« Als Speerspitze der anti-kirchneristischen Kräfte werden die regierungskritischen Medien inszeniert, die – als »hegemoniale Medien« bezeichnet – die zentralen Antagonisten der pro-kirchneristischen WM-Erzählung sind. Ziel der narrativen Konfigurierung von regierungsunterstützender Medienseite ist es, die oppositionelle WM-Berichterstattung als Strategie zur Delegitimierung der Regierung auszuweisen, die auf ihr ablehnendes Verhältnis zum national-popularen Projekt und zur »popularen Kultur« im Allgemeinen zurückzuführen sei. Für diese Argumentationslinie, die 117
DIE SYMBOLISIERUNG DES POPULAREN IM MEDIALEN DISKURS DER WM
sich in der argentinischen Politikdebatte auch in anderen Themenbereichen findet, wird häufig das Schlagwort der mala onda eingesetzt (zu Deutsch sinngemäß »schlechte Stimmung«). Die narrative Logik hinter dieser Diskursfigur deutet als vorrangiges Ziel der anti-kirchneristischen Kräfte die Schwächung und Diskreditierung der Regierung durch eine Strategie des »Schlechtmachens« mangels eigener politischer Visionen. Der Begriff der mala onda wird zur diskursiven Strukturierung der WM-Debatte zentral eingesetzt. Die Art und Weise seiner Verwendung veranschaulicht ein Kommentar vom 3.7.2010 in Página/12, der die Kritik deutscher Nationalspieler an der argentinischen Mannschaft als aggressiv und provozierend aufgreift, um metaphorisch auf die innenpolitische Konfliktkonstellation Bezug zu nehmen. Kommentator Luis Bruschtein schreibt dazu, die mala onda in den Vorwürfen von deutscher Seite »ähnelt stark der Form, in der sich in der argentinischen Politik die Opposition gegenüber der Regierung positioniert«.1 2 Auch in der »Strategie des totalen Krieges«, welche die antikirchneristas mit dem medialen Mechanismus der mala onda verfolgten, sei das Schüren von Unzufriedenheit ein Selbstzweck zur Sicherung der eigenen Position, denn »[s]ie steigen ab, wenn die Regierung aufsteigt« bzw. »sie verlieren, wenn die Leute nicht deprimiert oder angespannt oder wütend sind«.3 Zur Narrativisierung der oppositionellen WM-Berichterstattung als anti-kirchneristische mala onda wird in den pro-kirchneristischen Medien praktisch durchgehend eine Parallele zu den Ereignissen des wenige Wochen zurückliegenden Bicentenario gezogen, für welches zuvor bereits dieselbe Lesart installiert worden war. Die diskursive Verknüpfung findet sich auch bei Bruschtein: »Zum Beispiel, als die Feierlichkeiten des Bicentenario begannen, fingen die großen Medien aus Gewohnheit an, mit den Verkehrsstörungen und den verbundenen Kosten zu bombardieren. […] Ein anderes Beispiel war die WM. Dieselbe Gewohnheit und dieselbe mala onda, indem sie diesmal ausschließlich auf die Frage der barras bravas [mafiöse Fangruppen, Anm.] zielten und Maradona angriffen.«4 1
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Bei Zitaten, bei denen eine wortgetreue Übersetzung ins Deutsche möglich war, wurde auf die Wiedergabe der Originalaussage verzichtet, die über den jeweiligen Quellenverweis nachzulesen bzw. nachzuhören ist. Luis Bruschtein: Puntos de inflexión. Página/12, 3.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-148794-2010-07-03.html (letzter Zugriff am 29.6.2016). Ebd., spanisches Original: »Ellos bajan cuando el Gobierno sube es la consecuencia de una estrategia de guerra total. Más aún: ellos pierden cuando las personas no están sacadas o crispadas o enojadas.« Ebd., spanisches Original: »Por ejemplo, cuando empezaron los festejos del Bicentenario, por inercia, los grandes medios salieron a bombardear con las
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Solcherart werden diese Debatten zu einem Nebenschauplatz des politischen Kampfes erklärt. Wenn so unterschiedliche Ereignisse derselben Konfliktlogik folgen, erscheinen sie als Anlassfälle desselben Antagonismus gegen den immer gleichen Feind: »Alles andere ist wegen dieser Auseinandersetzung [der politischen, Anm.], auf dieser Bühne spielt sich der Kampf um die Macht ab, von dem alle anderen abhängen.«5 Die Polemiken um die Rolle Maradonas als Nationaltrainer, um die Präsenz argentinischer Fußballdelinquenten in Südafrika und andere Episoden der WM werden so zum Einsatz im Ringen um die »Gemütslage der Gesellschaft«6, welche die sogenannten »hegemonialen Medien« zuungunsten des national-popularen Projekts zu beeinflussen versuchten. Am prominentesten findet sich der Fokus auf die mala onda in der kirchneristischen TV-Sendung 6, 7, 8, die sich in ihrem Format der Diskussion der aktuellen Berichterstattung und dabei vor allem der Kritik der »hegemonialen Medien« widmet. Die politische Intentionalität des oppositionellen Journalismus wird hier in zwei grundlegenden Varianten behauptet: einerseits als hysterisierende Übertreibung negativer Schlagzeilen, andererseits als Nichterwähnung von Ereignissen, die zu einer positiven Beurteilung des Kirchnerismus beitragen könnten. Beide Darstellungen sollen im Folgenden anhand eines Beispiels illustriert werden. Die erste Lesart zeigt sich exemplarisch in der Episode rund um die WM-Präsenz der barras bravas, die zu Beginn des Bewerbs nach Südafrika einreisten und in der Folge zum Teil des Landes verwiesen wurde. 6, 7, 8 strahlt dazu am 13.6.2010 einen Videoclip mit dem Titel »La mala onda ya es mundial«7 aus.8 Darin wird in einer Auswahl von Beiträgen aus der TV-Berichterstattung regierungskritischer Medien wie TN oder Canal 13 gezeigt, wie dort von der »argentinischen Schande« gesprochen, »Barras ›K‹ nach Südafrika«9 getitelt oder Argentinien als das
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molestias del tránsito y el gasto involucrado. […] Otro ejemplo fue el Mundial. La misma inercia y la misma mala onda, esta vez enfocando de manera excluyente la cuestión de los barras brava y pegándole a Maradona.« Ebd., spanisches Original: »Todo lo demás es por esa batalla, en ese escenario es donde se da la puja de poder de la que dependen todas las demás.« In den Debatten wird vom »humor de la sociedad« gesprochen, so auch Bruschtein im zitierten Kommentar. Der Titel ist ein Wortspiel und kann nicht ins Deutsche übersetzt werden, ohne seine Zweideutigkeit zu verlieren. Wörtlich übersetzt meint er sowohl »Die schlechte Stimmung ist bereits weltweit« als auch »Die schlechte Stimmung ist bereits WM«. 678 13-06 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=AKvaN5A1x98 30:20–35:40 (letzter Zugriff am 8.7.2016). »K« steht für »kirchneristisch«. Diffamatorisch gebraucht transportiert die Abkürzung Assoziationen zu Sektenhaftigkeit, Machthunger und mangelnder Rechtsstaatlichkeit. Unterstützer/innen des Kirchnerismus bezeichnen
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einzige Land mit einem solchen Problem bezeichnet wird, während die versuchte Einreise von 3200 Hooligans aus England nach Südafrika unerwähnt bleibt. Dem Zusammenschnitt vorangestellt ist eine Rückschau auf die Berichterstattung derselben Medien zu den Feierlichkeiten des Bicentenario, in der ein analoges Szenario präsentiert wird. Während Kommentatoren der oppositionellen Medien ein Verkehrschaos für Buenos Aires voraussagen, von einem »totalen Kollaps« und einer »komplett besessenen Stadt« sprechen, verdeutlichen die Bilder von friedlich feiernden Massen bei den Konzerten auf der Avenida 9 de Julio, denen der bekannte Sänger Fito Páez für »nicht einen einzigen Zwischenfall« dankt, den Kontrast zwischen mala onda und Realität. In einem letzten thematischen Schwenk zeigt der abschließende Teil des Clips Journalist/innen, die aktuelle Wirtschaftsdaten mit Kommentaren wie »ein Indikator, der Angst macht« oder »ein ohrenbetäubender Kursverfall« bewerten. Dadurch wird explizit ein politisches Thema im engeren Sinn in die Narration eingebunden. Die Verknüpfung der unterschiedlichen Episoden durch die Analogie in der Darstellung legt die Schlussfolgerung nahe, den »dominanten Medien« ginge es in allen Bereichen darum, die politische und kulturelle Realität des Landes zu fatalisieren und Panik zu verbreiten. Negative Ereignisse würden aufgebauscht oder gar erfunden, um das Bild eines von Missständen und chaotischen Zuständen geprägten Landes zu zeichnen. Damit solle ein Versagen der Regierung zumindest insinuiert und der politische Zyklus des Kirchnerismus geschwächt werden. Als zweite Dimension in der Strategie der anti-kirchneristischen Medien wird das Negieren oder Ignorieren von Meldungen dargestellt, welche in irgendeiner Weise mit den tatsächlichen Errungenschaften des Kirchnerismus in Zusammenhang gebracht werden oder ihren eigenen Interessen schaden könnten. Diese narrative Strukturierung erfährt beispielhaft der Besuch von Estela de Carlotto, Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Abuelas de Plaza de Mayo, in Südafrika.10 Die Organisation der Großmütter der Plaza de Mayo war zum Zeitpunkt der Fußballweltmeisterschaft 2010 für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Im Zuge der Reise nach Südafrika zur Bewerbung dieser Nominierung besuchte Carlotto auch das Nationalteam in seinem WM-Quartier in Pretoria. 6, 7, 8 hebt in seiner Darstellung das kurze Zusammentreffen sich allerdings auch selbst affirmierend als »K«, gerade um obige Bedeutungen zurückzuweisen. 10 Während der argentinischen Militärdiktatur von 1976 bis 1983 wurden Kleinkinder entführter und ermordeter Dissident/innen zur Adoption weitergegeben, häufig an Militärangehörige oder dem Regime nahestehende Personen. Die Menschenrechtsorganisation »Großmütter der Plaza de Mayo« gründete sich 1976, um auf das Verschwinden ihrer Enkelkinder aufmerksam zu machen und ihre Rückgabe zu fordern.
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zwischen Carlotto und Maradona sowie das vom Nationalteam anlässlich des Besuchs im Trainingslager angebrachte Unterstützungstransparent als wichtigen Ausdruck der Wertschätzung für die Arbeit der Organisation durch den Nationaltrainer und die Spieler hervor. Die geringe Beachtung oder überhaupt fehlende Erwähnung dieses Treffens in den oppositionellen Medien wird wiederholt betont und als politisch motiviert qualifiziert, als »explizite Nicht-Unterstützung dieser Kandidatur von Seiten der hegemonialen Medien« oder als »Zensur« bezeichnet.11 Begründet wird dies mit zwei sich ergänzenden Erklärungsmustern. Einerseits fänden nur Akteur/innen oder Ereignisse Eingang in die Berichterstattung, die den oficialismo in ein schlechtes Licht rücken.12 Die Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen der letzten Militärdiktatur ist ein vom Kirchnerismus besetztes Thema, dementsprechend stehen die »Großmütter« der Regierung wohlwollend gegenüber. Sie würden daher von den anti-kirchneristischen Medien mit Nichtbeachtung gestraft.13 Zweitens würde die Nachricht unterschlagen, weil Ernestina Herrera de Noble, eine der Mehrheitsaktionär/innen der Mediengruppe Clarín, selbst der Aneignung verschleppter Kinder beschuldigt wird und diesbezüglich 2010 in einem laufenden Verfahren steht. »La Causa Nobel«, der Titel mehrerer 6, 7, 8-Reportagen zu diesem Thema,14 funktioniert als metaphorisches Konzept, das einen eindeutigen Zusammenhang zu dem als »Causa Noble« bezeichneten Gerichtsverfahren herstellt. Da wie dort, so die implizite Narration, werde die Wahrheit geleugnet. Maradonas Treffen mit Carlotto und das Interview nach der Begegnung, in dem er in seiner gewohnt politisch unkorrekten Art meint: »Wir 11 678 14-06-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=rff2qu_n_5I 4:20–7:25 (letzter Zugriff am 30.6.2016). 12 Die Fülle an Themen, die in 6, 7, 8 rund um eine Narration artikuliert werden, ist bemerkenswert. Ein Beispiel: Im Zuge einer weiteren Diskussion über den medial unbeachteten Besuch Estela de Carlottos in Südafrika bringt der als Studiogast geladene Schauspieler Gustavo Garzón ein, der rezente Besuch des US-amerikanischen Ex-Präsidenten Bill Clintons habe ebenfalls kaum Erwähnung in den Medien gefunden, weil an diesem Tag das Thema der barras bravas die Berichterstattung dominiert habe. Er spekuliert dazu: »Aber, wenn dieser selbe Clinton ein halbes Wort gegen die Regierung gesagt hätte, wäre er in allen Medien vorgekommen, auf allen Kanälen. Und so war er nicht da.« Dies zeigt, wie mehrere Themen in einen losen Zusammenhang gebracht und die in der Sendung konstruierten Narrationen anhand ähnlicher Muster aus vielen verschiedenen Kontexten plausibilisiert werden. 678 15-06-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=pPue9NMOEO4 9:12–9:42 (letzter Zugriff am 30.6.2016). 13 678 15-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=TWYtoDnL120 43:26–44:06 (letzter Zugriff am 5.7.2016). 14 Z.B. ebd., 39:55–40:03.
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müssen alle zu ihr stehen, und diejenigen, die das nicht wollen, wollen sich nur blöd stellen«,15 wird so als Statement gegen den Medienkonzern Clarín und dessen Komplizenschaft mit der Diktatur dargestellt. Infolge dieses politischen Engagements treffe die Strategie des Ignorierens und Negierens daher auch ihn: Nachdem Stürmer Martín Palermo beim WMSpiel gegen Griechenland am 21.6.2010 praktisch unmittelbar nach seiner Einwechslung in der 89. Minute das 2:0 gelungen war, zeigt 6, 7, 8 mit Verweis auf die vergleichende »Medienanalyse« der kirchneristischen Tageszeitung Tiempo Argentino, dass von sechs argentinischen Tageszeitungen nur Clarín nicht das Foto der Umarmung zwischen Palermo und Maradona unmittelbar nach dem Treffer auf seiner Titelseite veröffentlicht. Stattdessen erscheint Palermo alleine im Bild, ohne den für die erfolgreiche Einwechslungsentscheidung verantwortlichen Nationaltrainer. Der Kommentar des Berichts interpretiert dies folgendermaßen: »Es ist nur ein neues Kapitel der fehlenden Übereinstimmung, die heute das Monopol Clarín mit der Bevölkerung hat. Es gilt den traurigen und fruchtlosen Versuch zu erinnern, das letztlich historische Bicentenario zu ruinieren. Und was Maradona angeht, ist es unmöglich, sein Übergangenwerden auf der Titelseite von der Unterstützung Maradonas für Fútbol para Todos und jüngst für den Nobelpreis der Abuelas zu trennen. Ein vom Konzern ignoriertes Thema.«16 17
Die Schlussfolgerung, Maradona werde in der Berichterstattung »übergangen«, weil er den »hegemonialen Medien« unliebsame politische Positionen vertrete, ermöglicht es, das 2009 erlassene umstrittene Mediengesetz der Regierung als notwendig zu bekräftigen. Die Einseitigkeit der politisch motivierten Berichterstattung könne nur ausgeglichen werden, indem den Bürger/innen andere Informationskanäle zugänglich gemacht und so der Uniformität der medialen Inhalte entgegengewirkt würde, so der Tenor der 6, 7, 8-Diskussionsrunde zur »Causa Nobel« am 15.6.2010.18 Damit 15 Ebd., 41:05–41:25, spanisches Original: »Todos tenemos que estar con ella y los que no quieren estar es porque se hacen los giles.« 16 678 24-06-10 - (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=pIIXlb9942s 23:15–25:10 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 17 Die begleitenden Bilder der Videoclips unterstützen jeweils die Narration. Um den Monopolcharakter des Medienkonzerns zu unterstreichen, erscheint eine Grafik, die das Logo Claríns mit Pfeilen zu seinen Medienbeteiligungen verbindet und Assoziationen an ein komplexes Sonnensystem weckt. Bei der Erwähnung des Bicentenario werden die bereits bekannten Bilder der Festlichkeiten mit den zentralen Aussagen wie »totaler Kollaps« oder »nicht ein einziger Vorfall« als Untertitel eingespielt. 18 678 15-06-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=pPue9NMOEO4 7:20–8:53 (letzter Zugriff am 30.6.2016).
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dienen die spezifische Narrativisierung des Problems und seine Einbettung in den antagonistischen Konflikt dazu, die demokratiepolitische Bedeutsamkeit der Ley de Medios zu konstruieren. Die kirchneristische Gegenerzählung des popularen Optimismus Komplementär zur Kritik an einem als tendenziös qualifizierten »hegemonialen Diskurs« werden die Ereignisse der WM in der pro-kirchneristischen Darstellung als Manifestationen der »öffentlichen« Zustimmung zur politisch-sozialen Entwicklung des Landes und des kollektiven Optimismus der »Leute« erzählt. Die Fußballweltmeisterschaft mit ihren öffentlichen Stimmungslagen wird zu einem Kampffeld der hegemonialen Auseinandersetzungen, auf dem die Installierung einer buena onda, also einer »guten Stimmung«, im Gegensatz zu der von den oppositionellen Medien geäußerten Kritik versucht wird. Die Gegenüberstellung und ihre Parallelisierung mit der innenpolitischen Konfliktkonstellation dienen dazu, den Antagonismus zwischen dem »popularen« Kirchnerismus und dem »elitären« Anti-Kirchnerismus zu reinszenieren und den Charakter des jeweiligen Blocks mit Bedeutungsgehalt zu füllen. Diese Strategie zeigt sich nach der vernichtenden 4:0-Niederlage gegen Deutschland, mit der die argentinische Mannschaft aus der WM ausscheidet. Als die heimkehrenden Spieler am Flughafen von Ezeiza von 20.000 Fans jubelnd empfangen werden, wird dies von pro-kirchneristischer Seite als Beweis der popularen Zustimmung zur Performance der Nationalmannschaft und darüber hinaus als patriotische Verteidigung der national-popularen Idee gelesen. 6, 7, 8 veranschaulicht die »anti-populare« Reaktion mit einer Einspielung des Journalisten Mario Mactas vom »Sender der schlechten, übelsten Stimmung«,19 der das frühe Ausscheiden Argentiniens in allen Fußballweltmeisterschaften der letzten zwanzig Jahre auf eine »riesige Planlosigkeit« zurückführt, den Status Argentiniens als »Weltmacht« im Fußball infrage stellt und in Parallelisierung mit der mangelhaften Qualität im öffentlichen Gesundheitssystem Zweifel daran anmeldet, »ob wir wirklich gut sind«. Der Begleitkommentar der 6, 7, 8-Reportage meint dazu: »Es ist nicht das erste Mal, dass Mactas sich auf einer Wellenlänge befindet, die den Argentiniern entgegengesetzt ist. Vor wenigen Wochen interpretierte er die sechs Millionen [Besucher/innen, Anm.] des historischen Bicentenario folgendermaßen.« Im Anschluss werden die bekannten Bilder des Bicentenario gezeigt, welche die aufgeregte mediale 19 Gemeint ist der Sender Todo Noticias, kurz TN, der zur Mediengruppe Clarín gehört.
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Panikmache vor der Jubiläumsfeier mit deren friedlichen Verlauf kontrastieren.20 21 Die Diskurskonfiguration erfolgt hier mit der Strategie, die durchaus gängige Charakterisierung der »Argentinität« als Gleichzeitigkeit von Selbstüberschätzung und Dilettantismus als konträr zur Mehrheitsmeinung darzustellen und nur letztere als »argentinisch« zu definieren. So werden die mangelnde Übereinstimmung des oppositionellen Journalismus mit der Meinung des »Volkes« und damit auch seine gesellschaftliche Abseitsstellung stark gemacht. Kritische Positionen, die auf Defizite in unterschiedlichen Politikbereichen hinweisen, werden so auf die sogenannten Monopolmedien reduziert, die wiederum als isoliert und ohne Draht zum »Volk« dargestellt werden. Die Installierung des Gegennarrativs der buena onda wird in 6, 7, 8 praktisch vollzogen, indem in gewohnter Manier die Negativschlagzeilen der »oppositionellen Medien« in schnellen Schnitten und mehreren Wiederholungen eingespielt und dann mit positiven Bildern kontrastiert werden. Diese zeigen »die Argentinier«, die in ihren Aussagen oder ihrem Handeln Zufriedenheit und Zugehörigkeitsgefühl zum »realen Land« – im Gegensatz zum »virtuellen Land« der antikirchneristas – zum Ausdruck bringen.22 Das »Positive« der Gegenrepräsentationen wird dabei systematisch in kausalen Bezug zum Wiederaufschwung des Landes seit der politischen Wende von 2003 gesetzt. Paradigmatisch dafür ist das immer wieder auftauchende Motiv des Rückkehrers, das mit dem politischen Zyklus des Kirchnerismus artikuliert wird. In einer Reportage vom 24.6.2010 heißt es: »Die Freude, die heute unsere einnehmende Nationalauswahl ausdrückt, geht Hand in Hand mit der Rückkehr tausender Argentinier«. Der argentinische Schauspieler Leonardo Sbaraglia tritt dazu als Gewährsmann auf, der den Zusammenhang im Interview explizit macht, indem er seine Rückkehr aus der Emigration mit dem allgemeinen Aufschwung des Landes begründet.23 Illustrativ für die Übersetzung dieses Aufschwungs in sichtbare Veränderungen wird ein argentinischer Fan in Johannesburg eingesetzt, der vor der Kamera sagt: »Nachher behaupten sie, dass es Argentinien schlecht geht. Hier sind mehr Argentinier vertreten als sonst irgendein Land.«24 Zur 20 678 06-07-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=oJ6qE1fwBPg 11:52–17:14 (letzter Zugriff am 29.6.2016). 21 Auf welchen auch Mactas zu sehen ist. Er ist der Kommentator, der Buenos Aires wegen der jubiläumsbedingten Verkehrsverzögerungen als »komplett besessene Stadt« bezeichnet hatte. 22 Z.B. 678 06-07-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=oJ6qE1fwBPg 11:52–20:00 (letzter Zugriff am 29.6.2016). Die Reportage trägt den Untertitel »País real vs país virtual«. 23 Ebd., 15:18–16:07. 24 678 13-06 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=AKvaN5A1x98 13:49–14:06 (letzter Zugriff am 8.7.2016).
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expliziten Artikulation mit dem ökonomischen Kontext wird schließlich der ehemalige US-Präsident Bill Clinton mit Ausschnitten einer Rede anlässlich seines Besuchs in Buenos Aires eingebunden, in denen er Argentiniens »most astonishing recovery from the economic misery of 2001« würdigt und das Land als »very good place to invest now« bezeichnet.25 Das »Establishment«, dem eine Verbindung zum »Volk« abgesprochen wird und dessen Deutungsangebote daher Inszenierung eines »virtuellen Landes« sind, dient als konstitutives Außen eines zukunftsoptimistischen Kollektivs. Letzteres wird als legitime Totalität eingesetzt, indem die »Freude von Millionen auf einer Seite und auf der anderen die schlechte Stimmung und der Mangel an journalistischer Genauigkeit einiger weniger im Dienste der Interessen von dreien oder vieren« gegenübergestellt werden.26 Die dichotomisierende Gegenüberstellung zweier politischer Lager als »virtuelles Land« und »reales Land« konstituiert diese Lager dadurch erst in ihrer spezifischen Qualität als elitäre bzw. populare: Das virtuelle Land ist eine Konstruktion im Dienste minoritärer Partikularinteressen, das reale Land dagegen Konsequenz des erfolgreichen politischen Zyklus, der in der überwältigenden popularen Zustimmung seine Bestätigung findet. Die sinnstiftende Inszenierung des popularen Optimismus während der Fußball-WM erfüllt die Funktion, den Widerspruch zwischen »den Journalisten auf der einen Seite und dem Volk auf der anderen« aufzuzeigen und den Antagonismus zu verifizieren.27 Der spezifische Gehalt der diskursiven Artikulation besteht allerdings nicht nur darin, die bereits in anderen Zusammenhängen abgesteckte Trennlinie zu bekräftigen, sondern sie mit einem positiven Inhalt aufzufüllen, der nur auf den ersten Blick einen hohen Grad an Sinnentleerung aufweist und sich in einer allgemeinen Haltung der Zuversicht erschöpft.28 Auf den zweiten Blick zeigt diese Inszenierung 25 Ebd., 36:07–36:16. 26 Ebd., 31:22–31:33. 27 678 04-07-10 (1 de 2) https://www.youtube.com/watch?v=2Ak1A9QFwJ8 36:13–36:50 (letzter Zugriff am 12.7.2016). Populäre Persönlichkeiten der Unterhaltungsbranche erfüllen häufig die Rolle, als geladene Gäste in der Sendung zentrale ideologische Botschaften der 6, 7, 8-Narrationen zu verstärken. Schauspielerin Andrea Del Boca ist Studiogast am Tag nach dem argentinischen WM-Aus und bezeichnet die Solidaritätsbekundungen für Maradona als »enseñanza del pueblo que curiosamente salió a la calle a defender a sus ídolos. [...] Nosotros tenemos esa contradicción, los periodistas por un lado y el pueblo por el otro.« Die Aussage wird in der Folge als Rohmaterial für die Videoclips der folgenden Tage verwendet. 28 So endet die 6, 7, 8-Reportage mit dem Titel »Wir umarmen uns alle. Alle außer einer«, die den Enthusiasmus Maradonas und seine herzliche Beziehung zu den Spielern mit dem argentinischen Aufschwung (im Kontrast zur
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jenseits der bloßen Wohlfühlrhetorik eine spezifische narrative Strukturierung, die ein neuerstarktes populares Selbstbewusstsein gegen die Schlechtmacherei des »anti-pueblo« stellt und als pro-kirchneristisches Statement der Leute interpretiert. Die ständige Verknüpfung der WM mit den offiziellen Feierlichkeiten zum 200-Jahr-Jubiläum der Mairevolution wird unter diesem Gesichtspunkt als Versuch einer »Kirchnerisierung« des Zukunftsoptimismus verstehbar. So blickt Mario Wainfeld in seinem Kommentar in Página/12 zum Beginn der WM auf das Bicentenario zurück und liest die massive Partizipation und das Klima der popularen Harmonie bei den Jubiläumsfeiern als »eine Bestätigung der guten kollektiven Gemütslage und ein[en] Auftrieb für die Regierung«, die dadurch »auf der Seite der ›guten Stimmung‹« positioniert worden sei.29 Dies erlaubt es im Umkehrschluss, den Diskurs der oppositionellen Medien als illegitime Strategie äußerer Feinde zur Verschärfung der politischen »Spannung« auszuschließen. Der Vorwurf der »crispación«, also der Verschärfung politischer Spannungen, wurde im Agrarkonflikt häufig von oppositioneller Seite vorgebracht und mutierte zu einem Schlagwort in der Kritik an der Kirchnerpolitik ob ihrer unnachgiebigen Haltung. Ziel der dichotomen Konstruktion eines »virtuellen« und eines »realen Landes« ist es, diesen Vorwurf der Vergiftung des politischen Klimas an die »hegemonialen Medien« zu retournieren. Wenn das Lager der positiven Stimmung auf Seiten der Regierung ist, ist eine massive Freudenbekundung ebendieses Lagers Beweis für »einen ziemlich klaren Bruch mit der sozialen Stimmung, die die hegemoniale Presse zeigt«30, wie ihn Eduardo Aliverti in seinem Kommentar in Página/12 wahrnimmt. Seine rhetorische Frage, wer denn nun eigentlich die politische Spannung schüre und ob diese nicht in Wirklichkeit mit dem Medienkonflikt zusammenhinge,31 ist damit bereits beantwortet, verweist darüber hinaus aber in der Aktualisierung des Antagonismus zwischen kirchneristas und antikirchneristas auf die Nicht-Zugehörigkeit letzterer zum »Volk« und europäischen Krise) verbindet, mit einem Lied der bekannten Musikgruppe Pimpinela, dessen Refrain schlicht »buena onda, buena onda« lautet. 29 Mario Wainfeld: ¿Fiesta o siesta? Página/12, 11.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147401-2010-06-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 30 Eduardo Aliverti: Los que crispan. Página/12, 6.6. 2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147109-2010-06-07.html (letzter Zugriff am 1.7.2016), spanisches Original: »la participación y la alegría callejeras, de hace dos semanas, revelaron una ruptura bastante clara con el ambiente social mostrado por la prensa hegemónica.« 31 Ebd., spanisches Original: »¿Quiénes son los que crispan, entonces? ¿Solamente el Gobierno […]? ¿Y qué sería no crispar? ¿Cancelar la ley de medios, digamos?«
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damit auf die Illegitimität ihrer Kritik. Dies zeigt, dass die WM 2010 nicht nur ein bloßes Ringen um gute oder schlechte Stimmung, sondern ein Einsatz in der Auseinandersetzung um die unterschiedlichen »Erzählungen der Wirklichkeit« der hegemonialen Kontrahenten ist, wie Wainfeld zwei Tage vor Beginn der Spiele betont: »Südafrika erreicht uns in einem faszinierenden und erregten Kontext des Streits um die Rolle der Medien, um die Art und Weise, die Realität zu erzählen. Die Polemik ist enorm, manchmal so schonungslos wie erleuchtend. Das Mediengesetz scheidet die Geister und vermischt sich (vielleicht übermäßig) mit der Konfrontation zwischen dem Kirchnerismus und den multimedialen Konzernen, mit Clarín an der Spitze.«32
Auch wenn dem zentralen medialen Feind mit dem Slogan »Clarín lügt« über die Jahre konkrete Falschaussagen vorgeworfen werden, so zielt die von den kirchneristischen Kräften inszenierte »Konfrontation der Erzählungen« doch darauf ab, Objektivität an sich zu problematisieren. Jede Artikulation sei Sinnproduktion und damit immer politisch positioniert, auf dieses Diskursverständnis wird auch in 6, 7, 8 immer wieder Bezug genommen.33 Die WM wird über die vordergründigen Auseinandersetzungen hinaus zu einer Kontroverse zweier »Erzählungen« stilisiert. Beide seien konstruiert, doch nur eine legitim. Der bereits zitierte Aliverti stellt in seinem Kommentar die Berichterstattung von Clarín und Co. als politischen Kampf gegen die Regierung zur Verteidigung der eigenen ökonomischen Privilegien dar: »Wie würden sie verstecken, dass die Metabotschaft ist, viel mehr Botschaft als Meta, die Bande in Pretoria als die gleiche wie die des Indek34 darzustellen? Wir sprechen nicht von falscher Information, sondern von der Produktion von Sinn. Wird es die wichtigste Nachricht des Landes, 32 Mario Wainfeld: ¿Fiesta o siesta? Página/12, 11.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147401-2010-06-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 33 Z.B. 678 24-06-10 - (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=pIIXlb9942s 26:00–27:03 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 34 Der mit k geschriebene Indec ist eine Anspielung auf die kirchneristische Manipulation der Inflationszahlen. Auf Intervention der Kirchner-Regierung (noch unter dem Mandat Néstor Kirchners) veröffentlichte das Instituto Nacional de Estadística y Censos (INDEC) seit Anfang 2007 Zahlen, die weit unter der tatsächlichen Teuerungsrate lagen. Aufgrund ihrer Offensichtlichkeit wurde diese Manipulation auch von Unterstützer/innen des Kirchnerismus nicht geleugnet. Die derart unverhohlene politische Einflussnahme auf den INDEC war für die antikirchneristas natürlich ein willkommenes Kritikargument, darauf wird hier Bezug genommen.
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dass barras bravas zur Weltmeisterschaft reisten, finanziert vom ekelhaften System der Komplizität zwischen der politischen Macht und den Dividenden des Fußballs? Oder ist es so, dass ein medialer Megakonzern und sein Umfeld ein Geschäft verloren haben und jeden Anlass ausnutzen müssen, um das Kriminelle nur der Regierung anzuhängen?«35 36
Die »Sinnproduktion« der oppositionellen Medien, so die Botschaft, geschieht im Dienste der Mächtigen. Die Polemiken rund um die Ereignisse der Weltmeisterschaft bieten so eine Bühne, auf der die Illegitimität der oppositionellen Erzählung und im Umkehrschluss der national-populare Charakter der kirchneristischen Erzählung anschaulich gemacht werden können. 6.1.2 Kampf der Kulturen Der sogenannte »Krieg mit den Medien« wird allerdings nicht allein auf einer ökonomischen oder machtpolitischen Ebene argumentiert. Das Spezifische an der Reinszenierung des Antagonismus in der WM ist seine Übersetzung in einen kulturellen Konflikt. Die Rede von der mala onda der oppositionellen Medien als eine der zentralen Diskursfiguren der pro-kirchneristischen Narration kondensiert gerade die Mehrdimensionalität der politischen Konfliktkonstellation, die in dieser Weltmeisterschaft ausgehandelt wird und sich in der systematischen Artikulation der Kritik an der kirchneristischen Politik mit einer allgemeinen Verachtung des »popularen Charakters« zeigt. Dies lädt den antagonistischen Konflikt kulturell auf und macht ihn zu einer Konfrontation zweier Modelle, die auf gegensätzlichen nationalen Selbstbildern fußen. Dazu wird einerseits mithilfe fußballerischer Repräsentationen ein national-popularer Charakter inszeniert und mit dem pro-kirchneristischen Lager 35 Eduardo Aliverti: Los que crispan. Página/12, 6.6. 2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147109-2010-06-07.html (letzter Zugriff am 1.7.2016), spanisches Original: »¿Cómo esconderían que el metamensaje, mucho más mensaje que meta, es exhibir a la patota de la concentración argentina en Pretoria como la misma del Indek? No hablamos de falsedad informativa sino de producción de sentido. ¿La noticia más importante del país llega a ser que viajaron barrabravas al Mundial, financiados por el repugnante esquema de complicidad entre el poder político y los dividendos del fútbol? ¿O es que un megagrupo mediático y afines se quedaron afuera de ese negocio, y deben aprovechar cada resquicio para endilgar lo delictivo sólo al Gobierno?« 36 Mit dem verlorenen Geschäft sind die Fußballübertragungsrechte gemeint, die 2009 mit dem Programm »Fútbol para Todos« verstaatlicht wurden und zuvor im Besitz von Torneos y Competencias und Clarín waren.
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artikuliert, sodass der Kirchnerismus als hegemonialer Repräsentant des »legitimen Volkes« erscheint. Auf der anderen Seite wird die Position des antagonistischen Feinds als Verknüpfung ökonomischer Partikularinteressen mit anti-popularen und daher anti-patriotischen Dispositionen dargestellt. So werden die beiden antagonistischen Lager in soziokulturelle Klischees gegossen, die dem Konflikt seine unmittelbare Evidenz verleihen und die konträren politischen Positionen symbolisch auf die Bühne bringen. Der Hinweis auf die »Verachtung des Popularen« begleitet die gesamte Weltmeisterschaft. Das Lager der mala onda wird systematisch als unpatriotische Elite konstruiert, die das genuin Argentinische abwerte, das eigene Land als kulturell zurückgeblieben betrachte und dies zudem mit der national-popularen politischen Tradition des Peronismus in Verbindung bringe. Das anti-populare Ressentiment wird etwa explizit mit der Opposition gegen den Kirchnerismus gleichgesetzt, wenn den kritischen Medien vorgeworfen wird, aufgrund ihrer regierungsfeindlichen Haltung gegen eine Differenzierung zu agitieren und der Fußballgewalt grundsätzlich das Attribut »K« anzuhängen. Hier ist die 6, 7, 8-Reportage »El arte de desinformar« vom 20.6.2010 beispielhaft.37 Diese zeigt einen Ausschnitt einer Rede von Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, in der sie sich zur Berichterstattung über die barras bravas in Südafrika äußert. Fernández de Kirchner betont ihren Anspruch, ein »anderes Argentinien« zu konstruieren, in dem es möglich sei, »uns ins Gesicht und in die Augen zu schauen und zu entdecken, dass wir nicht das waren, was uns von einigen Medien erzählt wurde, die uns davon überzeugen wollen, dass wir hässlich, schmutzig und schlecht sind.«38 Den kriminellen Fangruppen sei zu Recht die Einreise nach Südafrika verweigert worden, Fernández de Kirchner kritisiert aber die unverhältnismäßige Berichterstattung und deren unterschwellig intendierte Botschaft, dass »wir Argentinier das Schlechteste sind, was auf der Welt existiert.«39 Unter dem Titel »So interpretierte das der Sender der schlechten Stimmung« wird im Anschluss die Replik eines Journalisten von Canal 13 gezeigt: »Naja, die Aussage von Cristina Fernández de Kirchner verteidigte offensichtlich auf gewisse Weise die Position der barras. Wirklich ein bisschen ungewöhnlich, das von der Präsidentin.«40 Zuletzt erfolgt 37 678 Domingo 20-06-10 (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=SebmoerqfRk 2:35–4:50 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 38 Ebd., spanisches Original: »Construir en estos 100 años que han empezado una Argentina diferente. Inclusive de mirarnos a la cara y a los ojos y descubrir que no éramos lo que nos cuentan desde algunos medios que nos quieren convencer que somos feos, sucios y malos.« 39 Ebd., spanisches Original: »nos quieran convencer que los argentinos somos la peor cosa que existe en el mundo.« 40 Ebd., spanisches Original: »Bueno, la palabra de Cristina Fernández de Kirchner obviamente de alguna manera defendió la posición de los barras.
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noch der Hinweis auf den Bericht zum Thema in der Tageszeitung Clarín, der titelt: »Cristina über die barras: ›Wir sind nicht hässlich, schmutzig und schlecht, wie sie uns glauben machen wollen‹«.41 Einerseits wird damit gezeigt, wie Aussagen aus dem Kontext gerissen werden und die Präsidentin ungerechtfertigterweise mit den barras in Verbindung gebracht wird. Gleichzeitig steht sie dadurch nun tatsächlich auf Seiten derer, die als hässlich, schmutzig und schlecht verachtet werden, und verteidigt damit das Populare gegen die Angriffe des Establishments. Als der brasilianische Spieler Fabiano im Match gegen die Elfenbeinküste ein Tor mit der Hand erzielt und der Schiedsrichter das Vergehen nicht nur nicht sanktioniert, sondern sogar noch äußerst kulant darauf reagiert, wird dies in 6, 7, 8 thematisiert. Studiogast Ignacio Copani liest aus den argentinischen Medienreaktionen auf den Vorfall die allgemeine Tendenz ab, dass mit zweierlei Maß gemessen würde, und gibt dem Argument eine innenpolitische Stoßrichtung: »Die brasilianischen Tricksereien […] sind Anlass zum Feiern, wenn wir sie machen, dann weil wir Betrüger und mit Sicherheit ultra-K sind.«42 Das brasilianische Tor werde nicht hinterfragt, weil der Regelübertritt als sympathische Trickserei und der »brasilianischen Fröhlichkeit« entsprechend nachgesehen werde. Einem argentinischen Spieler gegenüber würden die »oppositionellen Medien« beim gleichen Vergehen nicht dieselbe wohlwollende Haltung einnehmen, um negative Stimmung im Land zu verbreiten und das ambivalente Verhältnis der »argentinischen Mentalität« zu Autorität und Regelhaftigkeit als »typisch kirchneristisch« anzuprangern. Über den Hinweis auf diese strategische Dimension der mala onda hinaus wird aber auch transportiert, dass die antikirchneristas die autochthone Kultur selbst ablehnten. Sogar Praktiken, die in Wahrheit keine argentinische Besonderheit darstellen, würden daher auf die negativ bewertete »Argentinität« rückbezogen. Das Aufzeigen des »realen Landes« im pro-kirchneristischen Diskurs ist daher nicht nur ein Geraderücken der Fakten, sondern darüber hinaus der Versuch, das argentinische Selbstbild als defizitäre Nation zu entkräften. Die Entgegensetzung von buena und mala onda und ihre Verknüpfung mit der Haltung zur eigenen Nation hat zur Folge, dass ein Kollektiv der Exkludierten entsteht: Alles von den Medien Kritisierte »gehört zu uns« und ist »popular«. Diese diskursive Operation hat zwei Dimensionen: Erstens wird nahegelegt, dass Kritik am Kirchnerismus unterschwellig Realmente un poco insólito lo de la presidenta.« 41 Ebd., spanisches Original: »Cristina sobre los barras: ›No somos feos, sucios y malos como nos quieren hacer creer‹« 42 Ebd., 54:52–57:53, spanisches Original: »las picardías brasileras son, dan para festejar, si las hacemos nosotros porque somos tramposos y seguro ultra-K.«
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immer mit anti-popularen Klischees arbeitet. Zweitens wird gezeigt, dass dies nicht nur aus strategischen Gründen geschieht, sondern tatsächlichen, tief verwurzelten elitistischen Vorurteilen der Kirchner-Gegner/innen entspringt. Dazu ein letztes Beispiel aus der 6, 7, 8-Diskussionsrunde zu einem Interview, in dem der argentinische Nationalspieler Carlos Tévez gefragt wurde, wie er es trotz seiner eigenen Hässlichkeit geschafft habe, eine so hübsche Freundin zu finden. Tévez rettet sich mit einer schlagfertigen Antwort aus der Affäre, die im 6, 7, 8-Studio allgemein beklatscht und sofort auf den sozialen Antagonismus bezogen wird.43 Einerseits könne optimistisch gefolgert werden, »dass die Gesellschaft gelernt hat, sich gegen die schlechten Journalisten zu verteidigen«,44 gleichzeitig zeige der Vorfall, dass jeder, der nur ansatzweise Nähe zur Regierung zeige, angegriffen werde. Gabriel Mariotto, Leiter der Medienregulationsbehörde AFSCA, die durch das umstrittene Mediengesetz geschaffen wurde, ist als Gast in der Sendung. Er hakt hier ein, um zu berichtigen, dass die Verfolgung »regierungsnaher« Personen ohnehin evident sei, in diesem Videoclip aber noch ein viel tieferer Konflikt sichtbar werde: »Es gibt eine Art Verachtung für die populare Kultur. Jegliche Manifestation der popularen Kultur – und die Spieler sind ein vollständiger Ausdruck dieser Manifestation – wird immer vom ästhetischen Vorurteil einer Schicht beurteilt. Also erscheint ein Zusammentreffen zweier Kulturen. Ein genuiner Ausdruck, der rational und sensibel argumentiert, gegenüber einem Stereotyp und einem Wertvorurteil einer sozialen Schicht.«45
Wie ist diese soziale Schicht definiert, die sich durch Verachtung für das Populare auszeichnet? Auch das wird im WM-Diskurs der pro-kirchneristischen Medienlandschaft durch die Verknüpfung kultureller und politischer Dimensionen veranschaulicht. Pablo Llonto, Chefredakteur der Fußballzeitschrift Un Caño, stellt den anti-popularen Charakter musterhaft dar, wenn er anlässlich der WM den »neuen gorila des 21. Jahrhunderts«46 beschreibt. Dieser höre »zwischen Schweinen und Disteln« die 43 678 15-06-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=pPue9NMOEO4 15:50–19:35 (letzter Zugriff am 30.6.2016). 44 Ebd., spanisches Original: »que la sociedad aprendió a defenderse de los periodistas malos«. 45 Ebd., spanisches Original: »Hay una suerte de desprecio por la cultura popular. Cualquier expresión de la cultura popular – y los jugadores son una expresión cabal de esa manifestación – está siempre juzgado por el prejuicio estético de un sector. Entonces aparece un encuentro de dos culturas. Una expresión genuina que argumenta racionalmente y sensiblemente frente a un preconcepto y un prejuicio de los valores de un sector social.« 46 Schimpfwort für Antiperonist/innen bzw. allgemeiner die »anti-popularen« Sektoren der Gesellschaft
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Sendung der kirchnerkritischen Journalistin Magdalena Ruiz Guiñazú auf Radio Continental, verzweifle angesichts der schlechten Nachrichten von La Nación und der ebenfalls anti-kirchneristischen Zeitschrift Noticias, sei als Fußballfan noch am ehesten auf der Sitztribüne von Boca Juniors anzutreffen, ansonsten aber ohnehin vom (weniger popularen) Rugby begeistert.47 Der gorila des 21. Jahrhunderts zeichnet sich also zuvorderst dadurch aus, dass er »oppositionelle Medien« konsumiert. Seine Freizeitpraktiken entsprechen einem elitären Habitus, da er mit Boca Juniors den Fußballclub unterstützt, dem der Unternehmer Mauricio Macri als Präsident vorstand, bis er 2007 zum Bürgermeister von Buenos Aires und zum Lieblingsfeind der kirchneristas wurde. Zusätzlich nimmt er dort auf der »bürgerlichen« platea Platz, anstatt sich auf dem proletarisch konnotierten Sektor der popular zu positionieren. Die Erwähnung von »Schweinen und Disteln« schließlich siedelt den gorila im agrarischen Milieu an und ist eine Anspielung auf den Konflikt der Kirchnerregierung mit dem Landwirtschaftssektor um die Anhebung der Agrarexportsteuern 2008. In logischer Folge heißt es im zitierten Artikel über den anti-popularen Idealtyp: »Kurz gesagt, er hasst die Regierung, er hasst die piqueteros, er hasst Chávez und er hasst Maradona.«48 Gerade in Anbetracht dessen, dass Llonto das eigentlich so kurz zusammenfassen kann, ist der Detailreichtum bemerkenswert, mit dem der »anti-populare Charakter« entworfen wird. Wenn Llonto schreibt, dass der gorila »gekränkt war, und nicht wenig, als Diego präzise erwähnte, wo der Journalist Pasman seine Lippen hinwenden solle«,49 bezieht er sich auf die Pressekonferenz vom 14.10.2009 nach dem Match gegen Uruguay, mit dem sich Argentinien äußerst knapp für die WM qualifizierte. Maradona beschimpfte bei dieser Pressekonferenz die anwesenden Journalisten, welche die schlechte Performance des Nationalteams zuvor kritisiert hatten, unter anderem als »Schwanzlutscher«. Als der Journalist Toti Pasman von América TV sich bei der Fragerunde 47 Pablo Llonto: Deben ser los gorilas, deben ser... Un Caño, Juni 2010, S.32f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 2.7.2016), spanisches Original: »El nuevo gorila siglo XXI, sórdido y estralafario, tiene afectos campestres. Entre los chanchos y los cardos, sintoniza temprano a Magdalena Ruiz Guiñazú en Radio Continental. Luego cambia de emisora y lee los editoriales de La Nación o se entristece con las malas noticias de la revista Noticias. De sus gustos futbolísticos se sabe poco: a veces se reconoce hincha de Boca, o mejor dicho plateísta de Boca; es admirador de Los Pumas [sic!]«. 48 Ebd. 49 Ebd., spanisches Original: »Se molestó, y bastante, cuando Diego hizo una precisa mención de hacia donde debía dirigir sus labios el periodista Passman [sic!].«
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meldete, ließ Maradona diesen nicht zu Wort kommen und bekräftigte, dass die homophobe Beleidigung insbesondere für ihn gelte. Maradonas Aussage »la tenés adentro« wurde in der Folge legendär und auch in den für diese Studie durchgeführten Interviews bzw. im erhobenen Medienmaterial immer wieder zitiert.50 Indem die ablehnende oder anerkennende Bewertung dieser konkreten Episode mit einer popularen oder anti-popularen Haltung parallelisiert wird, werden beide Lager alltagsweltlich veranschaulicht. Popular ist, wer Maradonas Transgressivität gegen das journalistische Establishment honoriert, anti-popular dagegen, wer ihn wegen seiner politisch unkorrekten Äußerungen einer repräsentativen Position nicht würdig findet. Dass letzteres rassistischen und klassistischen Vorurteilen geschuldet sei, bestätigt Llonto gegen Ende des Artikels, wenn er Oppositionspolitiker/innen verschiedener Parteien zuschreibt, eine WM-Niederlage herbeizusehnen, um die Schuld dafür auf den »negro villero«51 Maradona schieben zu können.52 So verdichtet sich der »anti-populare Charakter« im anti-maradoniano. Seine anti-populare Haltung spiegelt sich in allen lebensweltlichen Dimensionen, von seinem sozioökonomischen Milieu, seiner Medienrezeption und sportlichen Vorlieben bis zu seinen politischen Überzeugungen und Meinungen zu bestimmten Themen. Dies schafft ein kohärentes Bild. Wird in der politischen Debatte wie auch im Alltagsdiskurs einer dieser Aspekte aktualisiert, werden alle anderen Aspekte als symbolisches Umfeld mit aufgerufen und damit das ganze Bild aktualisiert. Der Kirchnerismus erscheint dagegen als Anwalt der Rehabilitierung des National-Popularen und damit der Wiedergewinnung der argentinischen »Würde«. Die Frage des Popularen und seines kulturellen Wertes sowie seine Artikulation mit dem Kirchnerismus stellen zentrale Aspekte der WM-Debatte dar. In praktisch allen Polemiken und Streitfragen, von Maradonas Auftreten in Jogginghose bis zum niederschmetternden Ausscheiden der argentinischen Mannschaft, wird der Konflikt um den national-popularen Selbstwert mitverhandelt. Wie der politische Charakter 50 Die konkrete Aussage lautete: »Vos también Pasman, vos también la tenés adentro«. (»La«, weil der Slangbegriff für Penis – den Maradona Pasman zuschrieb, »drinnen« zu haben – im Argentinischen weiblich ist.) Maradona wurde daraufhin für zwei Monate von der Trainerschaft suspendiert. 51 Villero ist die Bezeichnung für den Bewohner einer villa miseria, also eines Elendsviertels. »Negro« wird im argentinischen Alltagsdiskurs der politischen Rechten als Schimpfwort für dieselbe Personengruppe verwendet. Die diffamierende Bezeichnung bezieht sich nicht unbedingt auf die ethnische Zugehörigkeit, sondern die soziale Schicht und transportiert implizit erhöhte Delinquenz und soziales »Schmarotzertum«. 52 Pablo Llonto: Deben ser los gorilas, deben ser... Un Caño, Juni 2010, S.32f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 2.7.2016).
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der WM als Baustein im antagonistischen Konflikt konstruiert wird, soll das folgende Kapitel zeigen. 6.1.3 Die Artikulation von Populismuskritik und anti-popularem Ressentiment Die antagonistische Aufladung der Fußballweltmeisterschaft 2010 wird in den pro-kirchneristischen Medien umfassend thematisiert. Dabei erscheinen die Gegner/innen des Kirchnerismus als eindeutige »Verursacher/innen« der Politisierung des Sportereignisses. Diese würden Maradona mit der aktuellen Regierung identifizieren und insgeheim auf ein schlechtes Abschneiden des argentinischen Nationalteams hoffen, weil sie befürchteten, dass eine erfolgreiche Performance der Mannschaft einen Triumph der Regierung darstellen könnte. Die politisch-kulturellen Artikulationen verlaufen zentral über die Figur Maradonas. Indem der oppositionelle Journalismus bezichtigt wird, eine Parallele zwischen einem Sieg der Nationalelf und einem Sieg des Kirchnerismus zu ziehen, wird ihre Kritik an Maradona und seinem Team als politisch motiviert herausgestellt. Als Gründe für die Verfolgung Maradonas durch das anti-kirchneristische Lager werden zwei hauptsächliche Dimensionen unterschieden. Erstens habe Maradona sich klar für Fútbol para Todos ausgesprochen und sich damit in einer politischen Frage positioniert. Die Polemik um seine Figur sei in ihrer Intensität erst aufgetaucht, nachdem Clarín die ökonomisch lukrativen Übertragungsrechte verloren habe.53 Durch die Verhandlung des Themas in Begriffen wie »Monopol« und »Gratisfußball« wird der Erzählung eine eindeutige evaluative Dimension verliehen. Maradona steht auf der richtigen Seite des Gratisfußballs, ihm entgegengesetzt sind die »Monopolmedien«, die ihm für sein politisches Engagement »die Rechnung präsentierten«.54 Kritik an Maradona wird als Rache eines von ökonomischen Interessen geleiteten Sektors inszeniert, der seine ohnmächtige Wut über den Verlust von Privilegien an einer leicht greifbaren Symbolfigur abreagiere. Diese Antagonisierung schafft klar abgesteckte Lager auch im Journalismus. Pablo Llonto, der bereits ausführlich zitierte Chefredakteur der Fußballzeitschrift Un Caño, umreißt diese Fronten als Studiogast bei 6, 7, 8 folgendermaßen:
53 Z.B. 678 Domingo 20-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=2j-mNXZmpz0 8:25–8:40 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 54 Z.B. 678 27-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=GE9uti6Ot9M 16:40–17:07 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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»Dieses Mal hat der journalistisch-sportliche Streit ein Plus. Er hat das Plus all dessen, was mit Fútbol para Todos passierte, und der klaren Teilung, zumindest gibt es heute zwei Sektoren des Sportjournalismus, die sich klar gegenüberstehen. Der Sektor, der Maradona unterstützt, der Fútbol para Todos unterstützt, der Anti-Torneos y Competencia-Sektor, vor allem gegen diese Mafia der Funktionäre, der endlich mit vielen Dingen ans Licht gekommen ist, auch mit dem Thema der barras bravas. Und der andere Sektor, von denen man viele in diesen Medienberichten gespiegelt gesehen hat, der Grondona immer verteidigt hat, und den man auch in dieser Frage der Spieler sieht«.55 56
Fútbol para Todos ist als diskursiver Knotenpunkt in der größeren Auseinandersetzung um das Mediengesetz zu verstehen. Die Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte und der daraus resultierende »Gratisfußball« stehen damit als metaphorisches Element für den Kampf der Kirchnerregierung um die Rückeroberung der popularen Souveränität gegen eine monopolisierende ökonomische Macht. Weil Maradona Fútbol para Todos unterstützt, wird die Haltung zu Maradona zu einem Gradmesser für die Positionierung in der Frage der medienpolitischen Demokratisierung. Die Artikulation Maradonas mit der Ley de Medios und damit der Regierung wird zwar in die narrative Struktur der pro-kirchneristischen Erzählung integriert, ihre »Urheberschaft« aber der Gegenseite angelastet, etwa im Hinweis auf die »Wandlung eines gewissen argentinischen Journalismus, der ihn [Maradona, Anm.] degradierte, erniedrigte, die Niederlage Maradonas suchte, und gemeinsam mit der Niederlage Maradonas die Niederlage des Nationalteams und gemeinsam mit der Niederlage des Nationalteams natürlich die des Mediengesetzes, der Regierung, alles in einen Topf geworfen.«57
Dies leitet zur zweiten Bedeutungsdimension über, die im pro-kirchneristischen WM-Diskurs die Begründungen für die Verfolgung Maradonas organisiert. Maradona fungiert unabhängig von seiner politischen 55 Llonto bezieht sich mit der »Frage der Spieler« auf den zuvor eingespielten 6, 7, 8-Clip, der Ausschnitte aus Sendungen anti-kirchneristischer Medien zeigte. In diesen wird Maradonas Entscheidung kritisiert, Gabriel Heinze ins Nationalteam zu berufen, und Heinzes Leistung in Frage gestellt. Auch Heinze selbst wird bei einer Pressekonferenz gezeigt, bei der er dem Journalisten Toti Pasman vorwirft, ihn mit seinen Kommentaren verletzt zu haben. 56 678 13-06 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=AKvaN5A1x98 27:57–28:39 (letzter Zugriff am 8.7.2016). 57 678 Domingo 20-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=2j-mNXZmpz0 1:04–1:25 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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Positionierung in konkreten Fragen als popularer Bedeutungsträger. Er steht aufgrund seines medial inszenierten rebellischen Charakters und seiner wechselhaften Biographie für den impertinenten Armen, der die ihm zugedachte submissive gesellschaftliche Rolle nicht akzeptiert. Die narrative Strukturierung rückt Maradona symbolisch in die Nähe des Linksperonismus. Das Hoffen auf ein schlechtes Abschneiden der Nationalmannschaft, das Maradonas Gegner/innen unterstellt wird, wird in der Folge in einen Zusammenhang mit anti-popularen Ressentiments gegen die Regierung und deren rhetorische Bezüge auf den linksrevolutionären Diskurs der 1970er Jahre gestellt. So interpretiert Pablo Llonto: »Diego weinen zu sehen wäre für sie das Ende eines der Symbole einer Regierung, die sie für montonero, setentista58 und maradonianisch halten.«59 Maradonas Artikulation mit dem Kirchnerismus konsolidiert auch die national-popularen Bedeutungen des letzteren, sodass Luis Bruschtein in Página/12 konstatieren kann: »Nachdem er die irredente Leidenschaft ausdrückt, ist Maradona im Fußball letztlich Kirchner in der Politik.«60 In Maradona werden die politisch-kulturellen Bedeutungen des Popularen, mit denen die politische Auseinandersetzung überformt ist, symbolisch auf die Bühne gebracht. Die Figur Maradonas wurde zumindest für den Zeitraum der Weltmeisterschaft »im Zentrum des metaphysischen Universums« installiert, analysiert Bruschtein. Über Politik zu sprechen heiße nun zwangsläufig, über Maradona zu sprechen.61 Oder anders herum formuliert: die fußballerischen Repräsentationen übersteigen ihren Charakter als Repräsentationen rein sportlicher Praktiken und werden zu einem Ort der symbolischen Ausverhandlung politischer Werte: »Die schlimmsten Attribute, die ihnen die Opposition anhängt, und die Wunder, die ihnen die oficialistas [Vertreter/innen des Regierungsblocks, Anm.] zuschreiben, fließen im Kirchnerismus und in Maradona zusammen. Die einen sehen Maradona als das Unvorhersehbarste, was es auf dem Planeten geben kann, also heißt ein institutionalistischer Oppositioneller sein, 58 Die Montoneros waren eine linksperonistische Stadtguerilla der 1970er Jahre, die Regierungsvertreter/innen als »Siebziger« zu qualifizieren meint dementsprechend, sie diesem Gedankengut nahestehend darzustellen. 59 Pablo Llonto: Deben ser los gorilas, deben ser... Un Caño, Juni 2010, S.32f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 2.7.2016), spanisches Original: »Verlo a Diego llorando será para ellos el fin de uno de los símbolos de un Gobierno al que consideran montonero, setentista y maradoniano.« 60 Luis Bruschtein: Casi mitos. Página/12, 31.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-150478-2010-07-31.html (letzter Zugriff am 9.7.2016), spanisches Original: »como expresa la pasión irredenta, resulta que Maradona en fútbol es Kirchner en política.« 61 Ebd.
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gegen Maradona zu sein. Die Präsidentin rief dazu auf, sich mit der der Zehn [Maradona, Anm.] zu solidarisieren, also heißt Maradonianer sein, Kirchnerist zu sein.«62
In dieser Gegensatzkonstruktion stehen Maradona und der Kirchnerismus gemeinsam gegen das liberale Demokratieverständnis der Opposition, das auf die Verteidigung ihrer formalen Verfahrensweisen beschränkt ist. Das Schreckensbild, das die antikirchneristas von Maradona als unkontrollierbarer, exzessiver und verantwortungsloser Person zeichnen, entspreche ihrer Ablehnung eines populistischen Politikmodells, das die engen Grenzen des institutionalistischen liberalen Demokratiemodells übersteigt, und zeigt, so kann gefolgert werden, wieder einmal ihr anti-populares Ressentiment. Der antagonistische Konflikt zwischen Regierung und Opposition wird auf eine Auseinandersetzung zwischen zwei konträren Auffassungen des Politischen erweitert. Diese übersteigt den Charakter einer Konfrontation rein ökonomischer Interessen und ist stark moralisch aufgeladen, wie die Aussage des 6, 7, 8-Panelisten Carlos Barragán anlässlich der Debatte um den Besuch Estela de Carlottos bei den argentinischen WM-Spielern in Südafrika erkennen lässt: »Alles, was auch nur irgendwie dem Kirchnerismus nahe steht, werden sie herabwürdigen, sei es Carlotto, sei es Maradona, und wenn eines Tages Jesus Christus herabsteigt und ihm einfällt, gut von der Regierung zu sprechen, werden sie titeln: ›Jesus K. Er sagt, dass er der Sohn Gottes ist und droht damit, auf ein Kreuz zu steigen‹, denn sie kennen keine Grenzen. Alles kommt ihnen gelegen.«63
Die Inszenierung der anti-kirchneristischen Maradona-Skepsis als religiöser Fanatismus findet sich auch an anderen Stellen64 und gießt die 62 Ebd., spanisches Original: »Los peores atributos que les endilga la oposición y las maravillas que les asignan los oficialistas confluyen en el kirchnerismo y Maradona. Están los que ven a Maradona como lo menos previsible que pueda haber en el planeta, entonces ser opositor institucionalista es estar contra Maradona. La Presidenta llamó para solidarizarse con el 10 y entonces ser maradoniano es ser kirchnerista.« 63 678 14-06-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=rff2qu_n_5I (letzter Zugriff am 30.6.2016), spanisches Original: »Cualquier cosa que esté cercano al kirchnerismo, lo van a degradar, y sea Carlotto, y sea Maradona, y si un día baja Jesucristo y se le ocurre hablar bien del gobierno, titularán ›Jesus K. Dice que es hijo de Dios y amenaza con subirse a una cruz‹, porque no tienen el límite. Cualquier cosa les viene bien.« 64 Z.B. Pablo Llonto: Deben ser los gorilas, deben ser... Un Caño, Juni 2010, S.32f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 2.7.2016).
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politischen Frontstellungen in ein klares, ambivalenzfreies Deutungsschema: »Es reicht, den Namen Maradonas auszusprechen, ein paar Sekunden zu warten und in einem Augenblick kann man feststellen, auf welcher Seite des Landes der Gesprächspartner sich befindet.«65 In der Figur Maradonas fließen mehrere vielfältige narrative Muster zusammen und verdichten sich zu einem Bruchpunkt, der den Antagonismus zwischen oficialismo und Opposition fixiert. Dadurch ist nun notwendigerweise alles, was im Fußball passiert, politisch aufgeladen. Dies wird im pro-kirchneristischen Lager durchaus auch als Risiko gesehen. Ein Misserfolg der argentinischen Nationalmannschaft in Südafrika könnte die Regierung schwächen und der Opposition eine willkommene Angriffsfläche bieten, so die warnenden Stimmen. Mario Wainfeld dazu: »unter den jetzigen Umständen würde ein Fenstersturz des Betreuerteams oder der Führung der AFA66 die nationale Regierung selbst mitreißen (oder sie auf einen bedeutsamen Platz stellen): man würde sie als ihren Alliierten, ihren Mentor, als Förderer der Unordnung, der Wut und des schlechten Benehmens charakterisieren.«67
Dies wird noch verstärkt durch »die Figur des Trainers, die auch leicht mit der Karikatur des Kirchnerismus gleichgesetzt werden kann, die seine Gegner (und manchmal seine Anhänger) zeichnen.«68 Maradonas Assoziation mit der Regierung sowie deren Verbindung zum AFA-Präsidenten Julio Grondona wegen Fútbol para Todos könnten dazu führen, dass ein schlechtes WM-Resultat vom anti-kirchneristischen Lager als Beweis für die immergleiche Unfähigkeit der national-popularen Politik ausgenutzt werde. Die Zuschreibung von »Unordnung, Wut und schlechtem Benehmen«, die Wainfeld zufolge von Maradona auf den Kirchnerismus übertragen werde, verweist wiederum auf die kulturelle Überfrachtung des innenpolitischen Antagonismus. Die Kritik am Populismus entspringe, so die transportierte Lesart, einem von Standesdünkeln geprägten Vorbehalt gegenüber einer »Politik der irrationalen Massen«. 65 Ebd., spanisches Original: »Basta pronunciar el nombre de Maradona, aguardar unos segundos y, en un instante, se podrá comprobar de qué lado del país se encuentra el interlocutor.« 66 Der nationale Fußballverband Asociación del Fútbol Argentino. 67 Mario Wainfeld: ¿Fiesta o siesta? Página/12, 11.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147401-2010-06-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »en el escenario vigente, una defenestración del cuerpo técnico o de la dirigencia de AFA conllevará (o pondrá en lugar estelar) al propio gobierno nacional: se lo caracterizará como su aliado, su mentor, el promotor del desorden, la bronca y la inconducta.« 68 Ebd.
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Ein elitäres Demokratieverständnis und eine Verachtung der einfachen Leute ortet der pro-kirchneristische WM-Diskurs auch in der einfachen Gleichung, ein fußballerischer Sieg nütze der Regierung, während eine Niederlage die Opposition stärke, die den »hegemonialen Medien« zugeschrieben und vordergründig abgelehnt wird. »Wie die hegemonialen oppositionellen Medien versuchen, aus dem Ausscheiden im Viertelfinale Gewinn zu schlagen«, wird in 6, 7, 8 etwa mit einer Einspielung aus dem Diskussionsformat »Octavo Mandamiento« des Clarín-Fernsehsenders Metro verdeutlicht. Darin erklärt Moderatorin Any Ventura im Gespräch mit Juan Sasturain: »Viele, die gegen die Regierung sind, wollten, dass das Nationalteam verliert, um ihr nicht dieses Sahnehäubchen [wörtlich: Erdbeere auf dem Nachtisch, Anm.] zuzugestehen.«69 Der Journalist Sasturain, der in regierungsunterstützenden Medien wie Página/12 oder Canal Encuentro arbeitet, erwidert: »Das ist wirklich krank. Und auch umgekehrt anzunehmen, dass, wenn das Nationalteam gewinnen würde, die Regierung Nutzen daraus ziehen würde. Ich stimme mit keiner dieser Argumentationslinien überein. Ich glaube, dass wir uns damit selbst unterschätzen.«70 Im weiteren Verlauf des 6, 7, 8-Spots werden Aussagen anti-kirchneristischer Medienvertreter/innen wie Nelson Castro oder Magdalena Ruiz Guiñazú eingespielt, um zu unterstreichen, dass die krude These vom direkten Zusammenhang zwischen einer siegreichen Nationalelf und gesteigerten Zustimmungswerten für die Regierung vor allem von oppositioneller Seite ausgehe. Der Abschluss des Clips, der noch einmal Sasturain mit seiner Aussage »das ist wirklich krank« zeigt, sowie die nachfolgende Diskussion im 6, 7, 8-Studio, in der die Gleichsetzung von pro-maradoniano und pro-kirchnerista als Erfindung von Clarín abgetan und lächerlich gemacht wird, lässt keine Zweifel daran, wie die oppositionellen Interpretationen zu bewerten seien.71 Die gesamte narrative Modellierung des Themas erzeugt die Schlussfolgerung, die Protagonist/ innen des Anti-Kirchnerismus begriffen die Bürger/innen als politische Lemminge ohne Fähigkeit zu kritischer Reflexion, die den Verblendungen der populistischen Inszenierung erlägen. Die Vorstellung der einfachen Übertragung eines »WM-Effekts« in die Politik zeuge von ihrem 69 678 06-07-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=oJ6qE1fwBPg 18:25–20:00 (letzter Zugriff am 29.6.2016), spanisches Original: »Muchos que están en contra del gobierno querían que la selección perdiera para no darle esta frutilla al postre.« 70 Ebd., spanisches Original: »Es muy enfermo eso. Y a la inversa suponer que si la selección ganaba el gobierno se beneficiaba, también. No estoy de acuerdo con ninguno de este tipo de línea de razonamiento. Creo que eso es subestimarnos a nosotros mismos.« 71 678 06-07-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=oJ6qE1fwBPg 20:00–23:03 (letzter Zugriff am 29.6.2016).
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verkürzten »Brot und Spiele«-Verständnis, das eine automatische Korrelation zwischen Sportsieg und Wahltriumph annehme und »die Leute« in ihrer Reflexionsfähigkeit unterschätze. Die Darstellung der massiven oppositionellen Agitation lässt dennoch den Eindruck zurück, eine triumphierende Nationalmannschaft hätte sehr wohl die »Erdbeere auf dem Dessert« der Regierung dargestellt, welche ihr ihre Gegner/innen gerade nicht gönnten. Argumentiert wird damit: Die Ergebnisse einer Fußball-WM können keine populare Zustimmung zu einem politischen Projekt generieren, sie können aber deren bereits erzielte Erfolge krönen. Die buena onda bewirkt keine Imageverbesserung der Regierung, sie verleiht aber dem bereits konstituierten sozialen Klima optimistischer Zukunftserwartungen Ausdruck, das Folge politisch induzierter positiver Veränderungen ist.72 6.1.4 Von der Verteidigung gegen das Establishment zur popularen Äquivalenz Die pro-kirchneristische Seite schreibt die wahltaktische Instrumentalisierung der Figur Maradonas der Initiative der »hegemonialen Medien« zu, auch wenn sie die Debatte um die politisch-kulturellen Bedeutungen des Nationaltrainers selbst aufgreift und befördert, um den kirchneristischen Zyklus als einen des Aufschwungs und der popularen Zufriedenheit darzustellen, dessen Erfolge lediglich von einer von Partikularinteressen geleiteten medialen Opposition totgeschwiegen oder verfälscht dargestellt werden. Nach der Schwächung des Kirchnerismus infolge des Agrarkonflikts 2008 und der anschließenden Wahlschlappe 2009 sowie dem Konjunkturabschwung dieser beiden Jahre ergeben sich 2010 mit einem wiederansteigenden Wirtschaftswachstum erstmals wieder Möglichkeiten, die Zustimmungsverhältnisse in der Bevölkerung zugunsten des oficialismo zu beeinflussen. Die politische Artikulation der WM ist aber als eine defensive konstruiert. Maradona werde von anti-popularer Seite mit dem populistischen Exzess gleichgesetzt und als Symbolbild für die Instabilität eines national-popularen Politikmodells benutzt. So wird seine Verteidigung zum Gebot der Stunde. Gerade weil alle gorilas Maradona hassen, nimmt die Solidarität mit ihm den Charakter eines politischen Statements an. Die Haltung zu Maradona wird zu einer Positionierung im Rahmen des innenpolitischen Antagonismus, das Bild eines siegreich heimkehrenden Maradona mit dem Pokal in der Hand zur Stärkung der national-popularen Sache. Daraus folgt: »Heute teilen 72 Ähnlich wird in Página/12 argumentiert: José Natanson: ¿A cuántos votos equivale un LCD? Página/12, 20.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147952-2010-06-20.html (letzter Zugriff am 4.7.2016).
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sich die Sterblichen dieser Lande, wie in den Fünfzigern, in gorilas und maradonianos.«73 2010 stehen sich demnach dieselben Lager gegenüber wie in den 1950er Jahren – mit dem winzigen Unterschied, dass Maradona erst 1960 geboren wurde und es zur Jahrhundertmitte daher noch keine Maradonianer, sondern nur Peronisten gab. Tatsächlich wird Maradona also zumindest implizit mit der Figur Peróns assoziiert. In Maradona fließen politische und kulturelle Bedeutungen zusammen, die ihn zum metaphorischen Ausdruck des peronistischen Wertehorizonts werden lassen. Die Symbolisierung des National-Popularen in Maradonas plebejischer Art und in seiner Rebellion gegen jegliche Art von Autorität dient der Inszenierung des Kirchnerismus als Erneuerung eines orthodoxen Peronismus. Gerade aufgrund der internen Spaltung des Peronismus in einen kirchneristischen und einen »dissidenten« Flügel ist es für den pro-kirchneristischen Diskurs von Bedeutung, Maradona nicht als reinen Sekundanten der Regierung darzustellen oder ihn auf eine kirchneristische Ikone zu reduzieren. Página/12-Kommentator Bruschtein bekräftigt daher, Maradona sei »mehr als Kirchnerist, Peronist. Auch wenn er das nie gesagt hat und immer den Eindruck erweckt hat, dass er sich eher mit irgendeiner Form der Linken identifiziert, machen ihn seine Stimmungsschwankungen, sein explosives Verhalten und Maradonas politische Inkorrektheit dem Peronismus ähnlicher. Sicherlich ist er das nicht, aber er hat seine Charakteristiken und erzeugt die gleiche populare Faszination. Die gleiche Faszination, die ihm auf gewisse Weise die Präsidentin Cristina Kirchner zeigt, aus den gleichen Gründen, aus denen sie sich Peronistin nennt.«74
Maradonas Verkörperung des national-popularen Charakters und die Artikulation seiner Figur mit den innenpolitischen Frontlinien lassen die 73 Pablo Llonto: Deben ser los gorilas, deben ser... Un Caño, Juni 2010, S.32f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 2.7.2016), spanisches Original: »Hoy, los mortales de estas tierras se dividen, como en los cincuenta, entre gorilas y maradonianos.« 74 Luis Bruschtein: Casi mitos. Página/12, 31.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-150478-2010-07-31.html (letzter Zugriff am 9.7.2016), spanisches Original: »Más que kirchnerista, peronista. Aunque nunca lo dijo y siempre dio la impresión de que se siente más identificado con alguna forma de izquierda, lo real es que sus cambios de humor, sus actitudes explosivas y la incorrección política de Maradona lo emparientan más con el peronismo. Seguro que no lo es, pero tiene sus características y produce la misma fascinación popular. La misma fascinación que de alguna manera le manifiesta la presidenta Cristina Kirchner por los mismos motivos por las que se reivindica peronista.«
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WM als Teil des universalen Kampfes zwischen Oligarchie und »Volk« um das legitime Benennen der argentinischen Nation erscheinen. Zumindest wird im pro-kirchneristischen Diskurs so begründet, warum diese WM unter speziellen Vorzeichen stehe und die politische Polemik in ihr mit voller Härte durchschlage: »Wir sind nämlich in diese WM mit einem Maradona gekommen, der weniger neutral denn je ist, und noch dazu: er ist besser denn je. […] Wir sind schließlich in diese WM ganz kurz nach einem leidenschaftlichen und hinreißenden Bicentenario gekommen, und dieses Mal war die argentinische Flagge, die sie so oft im Namen aller Militärs, der Oligarchie, der Sociedad Rural oder der Taxifahrer, die Radio 10 hören, wehen ließen, mit den popularen Schichten verbunden. Wir sind mit der neu zurückeroberten Flagge angekommen.«75
Maradona ist nicht neutral, weil er zu einem privilegierten Signifikanten im popularen Kampf geworden ist. Dennoch hat er dem pro-kirchneristischen Diskurs zufolge nichts von seiner politischen Unabhängigkeit eingebüßt. Tatsächlich scheint es in diesem Punkt einen Konsens über die antagonistische Spaltung hinweg zu geben. Dass Maradona keine Marionette der Regierung ist, scheint beiden Seiten einleuchtend, da er schlichtweg von niemandem kontrolliert werden könne. Umso mehr wiegt sein Engagement, offensichtlich aus seinem eigenen Wunsch heraus entstanden, »vielleicht erstmals jenseits eines Fußballplatzes für das zu spielen, was er für die Achse des Guten hielt.76« Die Art und Weise der diskursiven Verknüpfung bettet die Politik des Kirchnerismus in den »popularen Kampf« als organisierendes Konzept ein. Gabriel Mariotto verleiht als Präsident der AFSCA77 dieser Narrativisierung eine gewichtige Stimme, wenn er als Studiogast bei 6, 7, 8 die WM 2010 als 75 Sandra Russo: La tregua o ni eso. Página/12, 13.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-147525-2010-06-13.html (letzter Zugriff am 4.7.2016), spanisches Original: »Es que llegamos a este Mundial con un Maradona menos neutral que nunca, y la yapa: él está mejor que nunca. […] Es que, por último, llegamos a este Mundial muy poco después de un Bicentenario furioso y arrobado, y esta vez la bandera argentina, que tantas veces hicieron flamear en nombre de todos los militares, la oligarquía, la Sociedad Rural o los taxistas que escuchan Radio 10, se quedó pegada a los sectores populares. Llegamos con la bandera recién recuperada.« 76 Mariano Hamilton: Maradona debe seguir. Un Caño, Juli 2010, S.17f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 4.7.2016), spanisches Original: »lo que queremos decir es que Maradona, tal vez por primera vez fuera de una cancha de fútbol, decidió jugar para lo que considero [sic!] el eje del bien.« 77 Der nationalen Einrichtung zur Medienregulierung seit 2009.
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Element einer Auseinandersetzung zwischen popularer Kultur und Establishment bewertet: »Deswegen hat der Kampf, den auch die populare Kultur hat, in Südafrika Kraft in diesen Bildern erlangt. […] Diese rebellische Haltung, die Diego hat, der darauf hingewiesen hat, als sie ihm das Nationalteam exzessiv kritisiert haben, dass sie das Ziel verfolgten, dass der Fußball zu Torneos y Competencias zurückkehrt und dass er nicht mehr für alle ist. Deswegen hat er diese Entgleisung begangen, die er begangen hat, Produkt der Sensibilität und der Rebellionsfähigkeit, die die populare Kultur besitzt.«78 79
In dieser Konstellation erlangt auch das Handeln der Spieler und der Fans politische Bedeutung. Der argentinischen Nationalmannschaft wird eine im Vergleich zu früheren Weltmeisterschaften außergewöhnliche »politische Aufladung«80 zugeschrieben, allerdings ist das direkte Folge der Trainerschaft Maradonas und hat weniger mit den Spielern und den von ihnen verkörperten Bedeutungen zu tun. Das WM-Team wird zum popularen Symbol durch die Figur des Trainers. Gemeinsam mit Maradona stehe es für ein »politisch engagiertes Nationalteam«, konstatiert Sportstaatssekretär Claudio Morresi, ebenfalls Gastdiskutant bei 6, 7, 8.81 Ihre Unterstützung für die Großmütter der Plaza de Mayo wird nicht als »Regierungshörigkeit« oder interessengeleitete Parteilichkeit verstanden, sondern als Ausübung ihrer neu gewonnenen Freiheit zu politischer Meinungsäußerung, die unter monopolistischen Vorzeichen im Profifußball in dieser Form nicht möglich gewesen wäre und also bereits den 78 678 15-06-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=pPue9NMOEO4 6:14–7:04 (letzter Zugriff am 30.6.2016), spanisches Original: »Yo creo, la sensibilidad de Estela, la profundidad tiene sintonía con la expresión de la cultura popular que manifiesta Diego. Por eso en Sudáfrica la lucha que también tiene la cultura popular consiguió potencia en esos imágenes. Y a nosotros realmente, este, no tenemos más que aplaudir y sentirnos ratificados como ciudadanos que compartamos la lucha de las Abuelas, la profundidad de las Abuelas y la expresión de la cultura popular, esa rebeldía que tiene Diego, que cuando le criticaron a la selección excesivamente, advirtió que estaban pretendiendo que el fútbol vuelva a Torneos y Competencias y que vuelva a dejar de ser para todos, ¿no? Por eso cometió el exabrupto que cometió, producto de la sensibilidad y la capacidad de rebeldía que tiene la cultura popular.« 79 Die »Entgleisung« bezieht sich wiederum auf Maradonas homophobe Beschimpfung von Journalisten. 80 678 13-06 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=AKvaN5A1x98 6:14–7:04 (letzter Zugriff am 8.7.2016). 81 1 - 678 17/06/10 La victoria Argentina y la cabal Pasman Parte 2 https:// www.youtube.com/watch?v=XGeB_nekt6A 0:10–0:33 (letzter Zugriff am 5.7.2016).
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demokratiepolitischen Wert des Programms Fútbol para Todos bestätigt. 6, 7, 8-Moderator Galende führt dazu aus: »Das ist sehr beeindruckend von der argentinischen Nationalmannschaft, nicht? Und das darf man nicht aus dem Kontext von Fútbol para Todos reißen. Sagen wir, es ist sehr gut möglich, dass das passiert, weil es auch eine wirtschaftliche und politische Entscheidung darüber gab, was man mit dem Fußball macht. Also erscheinen in diesem Kontext die Freiheiten klarer, sagen wir so. Das fand ich interessant. Diese Freiheit des Nationalteams in Bezug auf die Unterstützung Estela de Carlottos hätte vor vier Jahren nicht existieren können, als der Fußball zum Bereich der Geschäfte des Konzerns Clarín gehörte.«82
So entsteht eine Äquivalenz zwischen dem Fußball (Maradona und die Nationalspieler), der Menschenrechtspolitik (Estela de Carlotto) und der kirchneristischen Regierung (Fútbol para Todos) gegenüber der ökonomischen Macht, der in Gestalt des Medienkonzerns Clarín unterstellt wird, solche Akte der Freiheit in der Vergangenheit unter Ausnutzung des ökonomischen Abhängigkeitsverhältnisses autoritär unterdrückt zu haben. Diese Äquivalenz wird verstärkt, indem den »Konzernen« die FIFA als weiterer Feind zur Seite gestellt wird. Pablo Llonto inszeniert die argentinischen Spieler, die im südafrikanischen Trainingslager in Pretoria ein Plakat zur Unterstützung der Großmütter der Plaza de Mayo aufhängten, als heldenhafte Rebellen, die der »zensierenden Dreistigkeit dieser Herren der Geldscheine« einen Schlag versetzten. In dieser narrativen Konfiguration übernehmen die argentinischen Spieler, wenn auch an der Seite und unter der Führung Maradonas, eine Aufgabe im national-popularen Projekt. In ihrer Herausforderung der »absurden normativen Ordnung der FIFA«, welche politische Stellungnahmen verhindern und damit eine scheinheilige »Neutralität« verordnen wolle, kämpfen sie den universalen Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit an der fußballerischen Front gegen den nur scheinbar unideologischen rechten Konsens der Spitzen des institutionellen Fußballs.83 Der differentiellen 82 678 14-06-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=rff2qu_n_5I 9:24– 9:56 (letzter Zugriff am 30.6.2016), spanisches Original: »Eso es muy impresionante de la selección argentina, ¿no? Y no hay que sacarlo del contexto de Fútbol para Todos. Digamos, es muy posible que eso está ocurriendo porque también hubo una decisión económica y política sobre qué hacer con el fútbol. Entonces en ese contexto, vamos a decir así, las libertades aparecen más claras, ¿no? Eso me pareció lo interesante. Esta libertad de la selección respecto del apoyo a Estela de Carlotto no hubiera podido existir hace cuatro años cuando el fútbol pertenecía al ámbito de los negocios del grupo Clarín.« 83 Pablo Llonto: Diego, Estela y los giles. Un Caño, Juli 2010, S.42f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 5.7.2016), spanisches
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Konstruktionslogik des »Establishments« wird vorgeworfen, entpolitisierend zu wirken, und ein populistischer Artikulationsmodus entgegengestellt, der eine Bruchlinie in die Gesellschaft einzieht und den gemeinsamen Repräsentationsraum disloziert. »Politisch sein« im Fußball heißt demnach, Trennlinien im sozialen Raum zu definieren und so eine populare Subjektivität zu stärken, die von der gleichmacherischen Logik der Kommerzialisierung auszulöschen versucht wird. Hier trifft die Kritik an den »Mächtigen« auf die Kritik an der Globalisierung von Zugehörigkeiten. Sandra Russo macht transnationale Werbeagenturen und Sponsoren dafür verantwortlich, leicht verdauliche und »bunte« nationale Identitäten zu forcieren, die sich in fröhlich bemalten Gesichtern und geschwenkten Fahnen während der wenigen Wochen der WM erschöpften, wohingegen hierarchische Differenzen zwischen den Ländern ausgeblendet würden.84 Ähnlich kommerzialisierungskritisch argumentiert Juan Sasturain. In seinem Verfallsszenario der »merkantilen Globalisierung« verschwinden die Nationalfarben und Wappen von den Dressen der Nationalteams und werden durch die Namen der Marken ersetzt, die das Fußballgeschäft in der Hand haben. Dennoch gebe es noch einen Rest Nationalgefühl, den ein Fußballspiel sporadisch erhelle. Wenn Sasturain die argentinische Mannschaft anfeuert, dieses Licht nicht erlöschen zu lassen, lautet die politische Handlungsanweisung an die Spieler und die Fans, die von der Marktlogik ausgewaschenen Nationalflaggen neu und radikal aufzuladen und dem Fußball seine national-populare Strahlkraft zurückzugeben. Der »unpolitische« Konsenspatriotismus lässt die WMs zu globalisierten Marketingveranstaltungen verkommen, der neue politische »Geist« des popularen Projekts dagegen lässt den von transnationalen Werbe- und Kommerzwolken verhangenen echten Nationalismus wieder aufleuchten.85 Dementsprechend bezeichnet Pablo Llonto eine Gruppe argentinischer Fans, die in einem WM-Stadion eine Flagge mit den Porträts von Maradona und Che Guevara aufgehängt haben soll, als Helden, »die ihr Abenteuer in Südafrika mit dem faszinierenden Spiel der Rebellion Original: »Cuatro episodios motorizados por argentinos desafiaron el absurdo orden normativo de la FIFA que pretende evitar, en todos los Mundiales, que la política se mezcle con el fútbol. […] Pero el descaro censor de estos señores del billete tuvo su derrota más contundente de la mano de los argentinos.« 84 Sandra Russo: La tregua o ni eso. Página/12, 13.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-147525-2010-06-13.html (letzter Zugriff am 4.7.2016). 85 Juan Sasturain: Lavandera de banderas. Página/12, 21.6.2010. http://www. pagina12.com.ar/diario/contratapa/13-148005-2010-06-21.html (letzter Zugriff am 5.7.2016).
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rechtfertigten«. Die ganze Geschichte bleibt etwas unklar, weder werden die genaueren Umstände spezifiziert noch die heldenhaften Akteure benannt. So bleiben nur Mutmaßungen, die Llonto auch ausführlich anstellt, indem er sich etwa ausmalt, wie die »klandestinen« Helden die riesige Flagge durch die Eingangskontrollen schmuggelten und damit von ihrer Freiheit Gebrauch machten. Die Rückkoppelung der Erzählung an den innenpolitischen Antagonismus erfolgt, indem Llonto sich in der Definition dieser Freiheit auf Rodolfo Walsh bezieht86 und damit eine Verknüpfung mit dem bewaffneten peronistischen Widerstand gegen die Militärregime der 1960er und 1970er Jahre herstellt. Außerdem verortet er die politische Spaltungslinie noch einmal in der Aktualität, wenn er diese Freiheit in Anspielung auf eine Aussage Maradonas nach dessen Treffen mit Estela de Carlotto als »diese, die nicht den giles gehört« bezeichnet.87 Die Flagge, für welche die rebellischen Fans, die peronistischen Widerstandskämpfer und die Großmütter der Plaza de Mayo stehen, scheint damit dieselbe zu sein. Diejenigen, welche die Begeisterung für Maradona nicht teilen, werden hingegen auch politisch auf der Gegenseite verortet. Sandra Russo führt beispielhaft den Philosophen Tomás Abraham an, der sich kritisch über den »herrschenden Chauvinismus« geäußert hatte [im Spanischen »patrioterismo«, Anm.], und argumentiert, dass seine Kritik in Wirklichkeit gegen die vom Populismus bewirkte demokratisierende Repolitisierung gerichtet sei. Denn der Unterschied zwischen Patriotismus und patrioterismo, so Russo, »liegt im Selben, in dem sich das Populare und der Populismus unterscheiden, oder die Freiheit und die Freizügigkeit. Es sind Sinnreduktionen, semantische Zerquetschungen, die das vermeintlich Lobenswerte in etwas Kritisierbares verwandeln.«88 Resümierend ist festzustellen, dass aus der Verteidigung gegen die Angriffe der »anti-popularen Kräfte« ein Kampf um die Definition des 86 Ein argentinischer Schriftsteller, der sowohl Mitglied der Fuerzas Armadas Peronistas (FAP, eine peronistische Guerillagruppierung) als auch später der Montoneros war und seit der letzten Militärdiktatur als Verschwundener (desaparecido) gilt. 87 Mit der Bezeichnung »gil« (»Dummkopf«), spielt Llonto auf die Aussage Maradonas nach dessen Zusammentreffen mit Estela de Carlotto an, in der dieser den Ausdruck verwendet hatte: »Wir müssen alle zu ihr stehen, und diejenigen, die das nicht wollen, wollen sich nur blöd stellen.« Spanisches Original: »Todos tenemos que estar con ella y los que no quieren estar es porque se hacen los giles.« 88 Sandra Russo: La tregua o ni eso. Página/12, 13.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-147525-2010-06-13.html (letzter Zugriff am 4.7.2016), spanisches Original: »Me pongo a pensar en qué se diferencian el patriotismo y el patrioterismo, y me parece que es en lo mismo que se diferencian lo popular y el populismo, o la libertad y el libertinaje. Son
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legitimen Subjekts der argentinischen Nation geworden ist. Erscheinen das Handeln Maradonas, der Regierung und der patriotischen Fans ursprünglich als unvermeidbare defensive Reaktionen auf die anti-populare Bedrohung, so entsteht in der Folge aus diesem Handeln ein populares Kollektiv. Die Artikulation dieses Kollektivs werde zwar von der Macht zu verhindern versucht. Entgegen der elitären Konsensrhetorik kann der populistischen Mobilisierung nun aber im pro-kirchneristischen Diskurs demokratisierende Wirkung zugeschrieben werden, weil sie eine Spaltung offensichtlich macht und subjektiviert, die – vom Establishment verursacht – ja ohnehin schon zuvor existiert habe. Die Inszenierung eines anti-popularen Bedrohungsszenarios liefert so letztlich die Legitimationsgrundlage für den populistischen Kampf um den Anspruch auf den demokratischen Repräsentationsraum.
6.2 National-populare Anrufungen in der Narrativisierung der WM-Repräsentationen Die narrative Konstruktion eines aggressiv attackierenden »anti-popularen Establishments« aktualisiert die Anrufung eines popularen Kollektivs im Feld der Fußballkultur. Sie verleiht den WM-Ereignissen politische Bedeutung und lässt sie Teil eines größeren Kampfes um die Redefinition der politischen Gemeinschaft werden. Die Erzählung der Bedrohung und der Notwendigkeit der Gegenwehr bestätigt eine populare Subjektivität, die im Umkehrschluss Grundlage einer offensiven Auseinandersetzung um politische Deutungs- und Repräsentationsmacht wird. Diese beschränkt sich nicht auf Grenzziehungen gegenüber dem antagonistischen Feind, sondern macht in der Inszenierung positiv bestimmter Werte auch einen argentinischen »national-popularen Charakter« anschaulich. Als zentraler Bezugsrahmen dieser sinnstiftenden Strukturierung des sozialen Raums wird die Figur Maradonas eingesetzt und die mediale Kritik an seinen Fähigkeiten als Trainer aufgegriffen. Seine Leitung des Nationalteams hatte bereits während der Vorausscheidung aufgrund der äußerst knappen Qualifikation Argentiniens für die Meisterschaft laute Kritik erfahren. Schon damals wie auch während der WM hieß es immer wieder, Maradona sei »kein richtiger técnico«89, weil eine Vergangenheit als hochbegabter Spieler nicht ausreiche, um eine kompetente rebajas de sentido, aplastamientos semánticos que vuelven lo presuntamente elogiable en criticable.« 89 Director técnico, der spanische Ausdruck für Trainer, bzw. kurz auch »técnico« oder »DT«, vermittelt stärker als im Deutschen die Dimension der Analyse und der Strategieentwicklung als Bestandteil des Aufgabenprofils.
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Mannschaftsaufstellung, Spielstrategie usw. für das Nationalteam zu gewährleisten. In den pro-kirchneristischen Medien wird diese Kritik zurückgewiesen und wie üblich als Bestandteil der mala onda der »hegemonialen Medien« interpretiert. Maradona wird in Schutz genommen, indem entweder auf die schwierigen Kontextbedingungen verwiesen wird, unter denen er das Nationalteam übernommen hatte, oder indem in Bezugnahme auf konkrete, »gut gemachte« Trainerentscheidungen die bereits absehbare »positive Entwicklung« stark gemacht und ein Vertrauensvorschuss eingefordert wird. Die Frage, ob Maradona ein técnico sei oder nicht, wird zum Streitpunkt zwischen den beiden antagonistischen Lagern erklärt. Die pro-kirchneristische Narrativisierung bleibt in dieser Debatte aber nicht rein defensiv. Zwar wird die Behauptung, Maradona sei kein technisch versierter Teamchef, in ihrer delegitimierenden Intention zurückgewiesen. Gleichzeitig verschieben die Akteur/innen der pro-kirchneristischen Diskursproduktion die Bedeutung der Aussage, um dann affirmativ daran anzuschließen und letztlich etwas ganz anderes damit auszusagen. Diese diskursive Operation tritt in drei verschiedenen Varianten auf und entfaltet ihre spezifische Funktion erst in ihrer Anknüpfung an unterschiedliche Topoi des Popularen aus dem verfügbaren kulturellen Repertoire. So wird affirmiert, dass Maradona tatsächlich kein técnico sei, weil er erstens die Leidenschaft über das System stelle, weil er zweitens in seinem Symbolgehalt seine Rolle als Trainer übersteige und aufgrund seines popularen Charakters eine transgressive politische Figur darstelle und weil er drittens herzlicher Freund und Motivator der Teamspieler sei. Die Unterstützung für Maradona wird explizit damit begründet, dass er eben kein typischer Trainer sei, sich nicht scheinbar alternativlosen Schemata unterwerfe und den vorgegebenen Rahmen seiner Funktion neu definiere. 6.2.1 Der passionale Habitus der national-popularen Argentinität Die erste Fassung des pro-kirchneristisch gewendeten Diskursmusters »Maradona ist kein técnico« positioniert den Nationaltrainer im symbolischen Umfeld der Begriffe Leidenschaft und Emotion. Der historische pibe de oro wird 2010 weiterhin mit den Attributen eines typischen pibe beschrieben, der auch als Trainer noch Lust am Spiel habe, enthusiastisch und genießerisch sei und »macht, was er fühlt«. Maradonas Verhalten sei »rein«, »sanguinisch«, »viszeral«, die Intention seiner Handlungen komme »aus dem Bauch heraus« oder »genuin aus der Natur Diegos heraus«.90 Maradonas Eigenschaften werden als Ausdruck einer 90 Z.B. 678 14-06-10 (3 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=rff2qu_n_5I 9:53–10.10 (letzter Zugriff am 30.6.2016) und 678 Domingo 20-06-10 (1
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kulturellen Identität definiert, die in ihrer Beschreibung mit Körpermetaphern naturhaft unterlegt wird. Indem der passionale Habitus als Inbegriff der Argentinität herausgestellt wird, werden »populare« Werte als natürliche nationale Qualitäten festgeschrieben: »[Maradona] repräsentiert uns sehr. Ich denke, dass das mit den Umarmungen, sehr auf eine Latino-Art, ganz so wie wir sind [sic!]. Wenn man andere Nationalteams sieht, die sind kalt, die sind distanziert, vielleicht repräsentativ für ihre Kultur. Maradona ist ein bisschen so wie wir als Kultur sind, in diesem Fall würde ich sagen, sogar das Beste von uns.«91
Aussagen wie diese überführen kulturelle Stereotype in ein nationales Selbstbild, das Identifikation ermöglicht und Gemeinschaft stiftet. In diesem Fall sind Leidenschaftlichkeit und Überschwänglichkeit Teil des anerkannten Imaginariums der legitimen Argentinität, die gleichzeitig typisch für die Kultur »der« latinos seien. Der Hinweis auf eine wie auch immer geartete »Latino-Kultur« ist bedeutsam, da der argentinische Identitätsdiskurs traditionell auf einer Disqualifizierung des »Autochthonen« basierte, die Definition der Argentinität mithin historisch im Spannungsfeld zwischen Alterzentrismus, Selbstinszenierung als »lateinamerikanische Europäer/innen« und prekärer Aufwertung des Eigenen angesiedelt ist. Die vergemeinschaftenden Eigenschaften, die Maradona repräsentiert, begründen dagegen eine populare Nation der Passion, die ihre Wurzeln klar in Lateinamerika und im kreolischen Erbe sieht. Dies konstruiert ein explizit nicht-europäisches Selbstbild, das in der wiederholten Gegenüberstellung »kühler« und »professioneller« Spieler und Fans anderer Nationen mit den argentinischen Protagonisten am Feld und auf den Tribünen bekräftigt und normalisiert wird. So konstatiert Miguel Rep am Tag des Achtelfinalspiels gegen Mexiko: »Wir befinden uns an diesem exakten Punkt, bereits bekannt, an dem wir in jedem Match um den Selbstwert spielen. Unser Selbstwert in den Schuhen von elf, vierzehn Spielern. […] Es ist seltsam zu sehen, wie gewisse Nationalteams wie Profis verlieren, wie sie vom Platz gehen, als wäre ihnen nur ein Missgeschick in der Arbeit passiert. Das ist bei unseren Spielern de 4) https://www.youtube.com/watch?v=SebmoerqfRk 45:42–49:40 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 91 678 22-06-10 (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=wuRsQZsIhqg 20:00–20:46 (letzter Zugriff am 9.7.2016), spanisches Original: »[Maradona] nos representa mucho. Yo creo que esto de los abrazos, de una forma muy latina, muy como somos nosotros. Cuando uno ve a otras selecciones, están frías, están distantes, tal vez representativas de su cultura. Maradona es un poco como somos nosotros como cultura, en este caso diría hasta lo mejor de nosotros.«
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unvorstellbar, die weinen würden oder denen die Familie, das Stadtviertel, die Mädchen und die Freunde Vorwürfe machen würden. Sicher ist das ein Reflex, der ihnen von damals bleibt, als sie Fans waren und das Nationalteam im Finale von 1990 ausscheiden sahen, oder die Enttäuschung von 1994 und andere spätere Debakel. Sie sind so. Wir sind so.«92
Angedeutet ist hier eine unhintergehbare Identifikation mit dem affektiv aufgeladenen Kollektivsubjekt Argentinien, innerhalb dessen jegliche Unterschiede zurücktreten. Auch die Spieler sind Fans, die Fußballgemeinschaft als Symbolisierung der popularen Nation erlaubt keine Zuweisung differentieller Positionen. Diese Konstruktion der popularen Nation der Passion als Gegenentwurf zu einer Kultur der Bürokratie und Vernunft wird auch in den Kommentaren anlässlich des argentinischen Ausscheidens aus der WM aktualisiert: »Eine Leidenschaft, die das tägliche Leben bewegt, die Gemüter verändert und oft dem nationalen Charakter Form gibt, kann weder Ausdruck des Routinemäßigen sein noch die bürokratische Form derer annehmen, die nicht bis an den Grund ihrer Seelen die Bedeutung eines Sports fühlen, der mehr ist als ein Spiel, viel mehr als eine Unterhaltung oder die Rhetorik des fair play: der das Viszerale und das Gefühlsbetonte, das Rationale und das Fantasievolle offensichtlich macht und der sich mit Erinnerungen und Lebensläufen eines jeden von uns verflicht. Denn, trotz einiger Journalisten, die sich als vernünftige Analysten der Niederlage anbieten, die immer die der anderen ist, dringt das 4:0 gegen Deutschland vielen von uns in den Körper und in die Gefühle, versetzt uns zurück in das Innerste unserer fußballerischen Erinnerung«.93 92 Miguel Rep: De reparto o de ajuste. Página/12, 27.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148361-2010-06-27.html (letzter Zugriff am 8.7.2016), spanisches Original: »Estamos en ese exacto punto, ya conocido, de jugarnos la autoestima en cada partido. Nuestra autoestima en los botines de once, catorce jugadores. […] Es extraño ver a ciertas selecciones perder como profesionales, irse de la cancha como si hubiesen sufrido sólo un percance laboral. Eso es inimaginable en nuestros jugadores, que llorarían o se les caería la familia, el barrio, las minas y los amigos encima. Seguramente es un reflejo que les queda de cuando eran hinchas, y veían caer a la selección en la final del ’90, o la desilusión del ’94 y otras debacles posteriores. Son así. Somos así.« 93 Ricardo Forster: Maradona y nosotros. Página/12, 6.7.2010. http://www. pagina12.com.ar/diario/elpais/1-148911-2010-07-06.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »Una pasión que conmueve la vida cotidiana, que altera los ánimos y le da forma, muchas veces, al carácter nacional no puede ser la expresión de lo rutinario ni asumir la forma burocrática de quienes no sienten hasta el fondo de sus almas la significación de un deporte que es más que un juego, mucho más que un entretenimiento o que la
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Die (oppositionellen) Journalist/innen und die Funktionäre des argentinischen Fußballverbands sind die Fremdkörper inmitten des undifferenzierten Kollektivs habitualisierter Identifikation. Als Vertreter einer Verwaltungslogik bleibt ihnen das geteilte Gedächtnis und das darauf fußende emotionale Erleben der gemeinschaftlichen Subjekte äußerlich. Maradona dagegen ist legitimer Repräsentant der genuin argentinischen Passion: Er ist weit über seine Rolle als Trainer hinaus »Fan Nummer eins des Nationalteams«, wie er selbst im Interview sagt.94 Er glaubt wirklich an Argentinien, in ihm verbinden sich Passion und Patriotismus. Die Rationalität als Gegenbegriff wird dadurch nicht nur rein formalistisch mit der Differenzlogik assoziiert, sondern kann zusätzlich mit dem Vorwurf der »antipatria« verknüpft werden: Vernunft, Regelwerk, Professionalität sind nun Begriffe, die in ihrer diskursiven Artikulation mit Anti-Patriotismus, Individualismus sowie Indifferenz angesichts des »kollektiven Schicksals« verbunden werden und diese Charakteristika in ihrer Benutzung ebenfalls mit aufrufen. Das populare Subjekt affektiver Identifikation Gegenüber dem »Establishment«, das angesichts eines nationalen Triumphes wie einer nationalen Niederlage distanziert und vernunftbetont bleibt, ist die implizite Handlungsanweisung für »gute« national-populare Vaterlandssubjekte, es Maradona in seiner leidenschaftlichen Irrationalität gleich zu tun. Dementsprechend strotzt der pro-kirchneristische Diskurs vor Inszenierungen der medialen Akteur/innen als fanatische Fans. »Gritar los goles«, also der obligatorische Jubelschrei nach einem Tor, wird einerseits als kompulsiver Reflex dargestellt, der nicht kontrolliert werden könne,95 andererseits wird diese ritualisierte Praxis auch als unverzichtbar erachtet, um für sich authentische Argentinität beanspruchen zu können: Wer der irrationalen Dynamik der WM-Begeisterung retórica del fair play; que pone en evidencia lo visceral y lo emotivo, lo racional y lo imaginativo y que se entrelaza con recuerdos y biografías de cada uno de nosotros. Porque, pese a algunos periodistas que se ofrecen como sesudos analistas de la derrota, que siempre es ajena, a muchos de nosotros el 4 a 0 contra Alemania nos atraviesa el cuerpo y los sentimientos, nos hace retrotraernos a lo más recóndito de nuestra memoria futbolística«. 94 678 13-06 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=AKvaN5A1x98 14:42–14:56 (letzter Zugriff am 8.7.2016). 95 Ebd., 22:37–23:45. Claudio Morgado, Präsident der INADI (Instituto Nacional contra la Discriminación, la Xenofobia y el Racismo), beschreibt sich in 6, 7, 8 als fanatischer Fan: Er werfe während der Übertragung mit Gegenständen um sich, habe beim letzten Spiel mit seinen Kindern zehn Minuten lang bis zum Stimmverlust geschrien etc.
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nicht erliege, könne folglich nicht als »echter Argentinier« gelten.96 In den Diskussionen bei 6, 7, 8 weisen sowohl Mitglieder des fixen Panels als auch vor allem in die Sendung geladene Gäste wiederholt Fragen zu ihrer Einschätzung der WM oder zu ihrer Prognose der künftigen Spielentwicklung zurück, weil sie aufgrund ihrer irrationalen Beziehung zu Maradona nicht mehr klar denken könnten. »Ich kann mit Diego nicht objektiv sein, ich kann mit seinen Entscheidungen in Bezug auf die Spieler nicht objektiv sein, ich begeistere mich sehr für Diego, ich begeistere mich sehr, ich bin ein absoluter Maradonianer«, begründet etwa Claudio Morgado97 seine eingeschränkte Reflexionsfähigkeit, die es ihm verunmögliche, auf einer Metaebene von dieser WM zu sprechen. Die Inszenierung der romantischen Figur des passionalen Fans als letzter Hort kommunitärer Werte in einer technokratischen Welt sorgt für die normative Aufladung der popularen Konstruktion. Horacio González, als Direktor der argentinischen Nationalbibliothek und Mitbegründer von Carta Abierta ein gewichtiger Vertreter der pro-kirchneristischen Intellektualität, schreibt dem popularen Wertehorizont eine »plebejische« Ehre zu, die er als moralische Erbin des aristokratischen Ehrbegriffs sieht und dem Agieren von Konzernchefs, Marketingleitern und Popstars gegenüberstellt, um den Antagonismus zwischen »Volk« und »Machtblock« auf einer kommerzkritischen Ebene in Szene zu setzen. Dem »echten Fan«, der mit dem Rücken zum Feld »mit den gegnerischen Standarten kämpft« und so nicht einmal den Spielverlauf verfolgen könne, bescheinigt er, »die totemische Frage« noch ernsthaft zu leben, um zuletzt aus den quasi-sakralen Praktiken der Fußballbegeisterten die »verbleibende Ehre der Völker« in einer technokratischen Epoche zu lesen.98 Die Invokation aristokratischer, tribaler und religiöser Werte dient in gleicher Weise dazu, die Konstruktion eines Subjekts absoluter Identifikation artikulatorisch von einem rationalistischen Verständnis politischer Zugehörigkeit als begrenztem Zusammenschluss staatsbürgerlicher Individuen abzugrenzen. In dieser Darstellung wird der Fußballfan zur Projektionsfläche für die Figur des popularen Subjekts, dessen bloße Existenz in einer ansonsten globalisierten und individualisierten Welt bereits einen Akt der Transgression darstelle. 96 Ebd., 21:50–22:15. Sebastián Wainraich und Gabriel Schultz interviewen auf TVR Antonio Birabent, der meint, dass er bei den Toren nicht schreie. Die beiden Moderatoren wirken vor den Kopf gestoßen, im Publikum wird gelacht, Wainraich fragt ironisch, ob er dann überhaupt asado (argentinisches Barbecue) esse. 97 Ebd., 22:37–23:45. 98 Horacio González: Maradona y el carácter nacional. Página/12, 2.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/sociedad/3-148670-2010-07-02.html (letzter Zugriff am 8.7.2016).
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Damit wird an das peronistische Imaginarium einer popularen Nation angeschlossen, in der barriale Identitäten in ihrer Verbindung zum Popularen prägende Elemente für eine gemeinschaftliche Konstruktion sind, die das »Volk« als legitimes souveränes Subjekt setzt. Pablo Castillos Kommentar in Página/12 wenige Tage nach dem Ausscheiden der argentinischen Mannschaft lässt erkennen, welchen Erwartungshorizont diese Verknüpfung nährt. Auch wenn Deterritorialisierung und Globalisierung den Glanz des Stadtviertels als identitäre Referenz im Fußball trübten, »wartet man immer, fast religiös, dass diese doppelte Dimension, die der Fußball als Konstrukteur nationaler Narrative und gleichzeitig als artikulatorischer Kern lokaler Identitäten hat, uns einmal mehr, neu platziert, den Diego der Straßen von Fiorito wiederherstelle...«99 schließt er am Ende seines Durchgangs durch die mythische Geschichte des popularen Fußballs und evoziert damit die Erinnerung an »ein inklusiveres Land, wo der soziale Aufstieg als symbolische Logik in der Wahrnehmung und in den Träumen breiter popularer Schichten funktionierte.«100 Maradona und sein Herkunftsviertel Villa Fiorito stehen für das klassische populare Epos des sozialen Aufstiegs im Fußball (Alabarces 2010: 65–70), seine Ernennung zum Trainer der argentinischen Nationalmannschaft symbolisiert dementsprechend das Versprechen eines »anderen« Argentinien, welches die popularen Sehnsüchte und Vorstellungshorizonte von sozialer Mobilität und Egalitarismus reaktivieren soll. Diese werden im sozialen Imaginären des städtischen barrio aufgerufen, das die Lebenswelt der popularen Sektoren vermittelt und eine wichtige identifikatorische Achse der popularen Kultur darstellt. Der Bezug auf dieses populare Universum verweist auf eine bestimmte Idee des Nationalen, das aus dem Urbanen und Lokalen entsteht, dieses als Kerneinheit enthält und in einem größeren Maßstab fortsetzt (Frydenberg 2011: 254). Die Nation erscheint als »erweiterte Reproduktion des Viertels« (Alabarces 2010: 92), in der die sozialen Unterschiede neutralisiert und die unteren Bevölkerungsschichten als vollwertige Subjekte des Gemeinwesens inkludiert werden. Die Reaktualisierung dieser kulturellen Topoi im pro-kirchneristischen Diskurs zur Fußballweltmeisterschaft 2010 dient der Affirmation des Kollektiven im Wertehorizont der popularen Sektoren. Die dargestellten diskursiven Artikulationen sind im 99 Pablo Castillo: Diego. Página/12, 7.7.2010. http://www.pagina12.com. ar/diario/laventana/26-148999-2010-07-07.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »uno siempre espera, casi religiosamente, que esa doble dimensión que tiene el fútbol como constructor de narrativas nacionales y simultáneamente como núcleo articulador de identidades locales, nos restituya, una vez más, resituado, al Diego de las calles de Fiorito...« 100 Ebd.
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politischen Kontext als Versuch zu lesen, den inklusiven Charakter einer populistischen Nationskonstruktion zu symbolisieren und mit der drohenden Auflösung des affektiven Zusammenhalts in eine anomische Gesellschaft vereinzelter Individuen zu kontrastieren. 6.2.2 Die Metaphorisierung der populistischen Logik Der zweite Argumentationsstrang zur Frage, ob Maradona die erforderlichen Qualitäten eines Nationaltrainers erfülle, verschiebt den Bedeutungsgehalt seiner Figur in eine politische Richtung: »Ein authentischer, revolutionärer Maradona, mehr Politiker als Trainer«101 lässt aus pro-kirchneristischer Perspektive die kleinliche técnico-Debatte des gegnerischen Lagers irrelevant erscheinen, denn seine unverrückbaren Überzeugungen und seine Kompromisslosigkeit machen aus Maradona den Antipoden zum Opportunismus und zum machtpolitischen Kalkül der »politischen Klasse«. Das folgende längere Zitat aus einem Leserbrief, der nach dem argentinischen WM-Aus in Página/12 abgedruckt wurde, zeigt, welche Dimensionen dabei eine Rolle spielen: »Dieser Maradona, der, obwohl er mit den Mächtigen verkehren könnte, sich lieber unter den Einfachen bewegte, so wie seine Wurzeln sind, und für sie die Gerechtigkeit forderte, die nie kam. […] Dieser Maradona, der sich vor kurzem der Attacke jener stellen musste, die den Imperialismen unterwürfig sind, wie es die Journalisten des Medienoligopols sind, die heute zum Angriff zurückkehren, indem sie versuchen, ihn zu begraben, um ihn so das ›la tienen adentro‹102 bezahlen zu lassen, ein Satz, der in den popularen Sprichwortschatz aufgenommen wurde. […] Aber sie werden scheitern, denn Maradona gehört nicht mehr Maradona, Maradona gehört uns, er ist ein weiterer cabecita,103 der berühmt wurde, aber sich nicht verändert hat. Er ist dieses wunderbare Großmaul, der sagte, was 101 Gustavo Veiga: El futuro de la selección tiene más dudas que certezas. Página/12, 26.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/libero/10-5383-2010-07-26.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 102 Gemeint ist die homophobe Beschimpfung Juan Carlos »Toti« Pasmans und anderer Journalisten bei der Pressekonferenz am 14.10.2009, vgl. Fußnote 134. 103 »Cabecita negra« ist ein Schimpfwort für Angehörige der popularen Schichten. Der Begriff ist klassistisch konnotiert, enthält mit seiner Anspielung auf die dunkle Hautfarbe aber auch eine rassistische Komponente und zielt in einem breiteren Sinn auf die Bezeichnung einer minderwertig vorgestellten »popularen Kultur«. Er hat weiters eine antiperonistische Konnotation, da er historisch als abwertende Bezeichnung für die Anhänger/innen des Peronismus verwendet wurde.
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wir zu Millionen hören wollten, dieser erhabene Provokateur, der sich mit dem konfrontierte, was wir zu Millionen konfrontieren wollen. Deswegen kann Maradona nicht zurückweichen, denn hinter ihm sind wir vom Volk, dicht gedrängt. Deswegen ergibt sich Maradona nicht, denn die Völker ergeben sich nicht.«104
Die Beschreibung Maradonas enthält zumindest drei für den pro-kirchneristischen Diskurs charakteristische Lesarten, auf die im Folgenden anhand des weiteren Quellenmaterials näher eingegangen werden soll. Erstens widersteht Maradona den Versuchungen der Macht und stellt sich, treu seinen Wurzeln, auf die Seite der Machtlosen. Zweitens ist Maradona eigensinnig und fordert die Logik der »Verwaltung« mit seiner Unkontrollierbarkeit heraus. Drittens hat Maradona einen direkten Draht zum Volk und ist dessen legitimes Sprachrohr. Der transgressive Maradona als Metapher des kirchneristischen Politikstils Maradona ist ein »Transgressor, er ist jemand, der immer die Wahrheit gesagt hat«, sagt mit Hugo Yasky immerhin der Vorsitzende der CTA,105 neben der CGT zweitwichtigster Gewerkschaftsbund Argentiniens.106 Maradona steht immer gegen die Macht an sich, er ist ein antisystemisches Symbol par exellence. Er verkörpert Glaubwürdigkeit und Nicht-Korrumpierbarkeit, gerade weil er aufgrund seiner öffentlichen Bekanntheit die Anbiederungen des »Establishments« annehmen und ihre Vorzüge genießen könnte. Zwar unterstützte Maradona in den 1990er Jahren den damaligen peronistischen Staatspräsidenten Carlos Menem, der aufgrund seiner neoliberalen Politik mittlerweile diskreditiert ist. Diese Episode wird im pro-kirchneristischen Diskurs nicht verschwiegen, sie wird jedoch als nicht essentielle Abweichung interpretiert, die an Maradonas grundsätzlichem transgressiven »Wesen« nichts ändere und vielmehr sein selbstbestimmtes, wenn auch bisweilen fehlerhaftes Ignorieren politisch korrekter Positionierungen beweise. Abgesehen von diesem Fehltritt »war Maradona politisch immer am korrekten Platz und mit viel Mut, er legte sich immer mit denen an, mit denen 104 Antonio Tourville: El Diego es clavo. Página/12, 12.7.2010. http://www. pagina12.com.ar/diario/cartas/24-149324-2010-07-12.html (letzter Zugriff am 8.7.2016). 105 CTA: Central de Trabajadores de la Argentina, CGT: Confederación General del Trabajo de la República Argentina. 106 678 27-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=GE9uti6Ot9M 23:02–23:50 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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man sich besser nicht anlegt.«107 Maradona wird moralische Integrität zugeschrieben, er kümmere sich nicht um die Machtspiele und Cliquen innerhalb des Fußballgeschäftes, da seine Leitlinie einzig und allein seine Loyalität zu den Spielern sei.108 Das unterscheidet ihn von anderen Personen aus dem Fußball, die ein Näheverhältnis zur medialen und ökonomischen Macht eingingen und sich dadurch der Komplizenschaft schuldig machten.109 So erfährt seine wiederholte Darstellung als unnachgiebig, kompromisslos und konfrontativ im pro-kirchneristischen Diskurs eine positive Deutung, die implizit zur Inszenierung der politischen Strategie des Kirchnerismus eingesetzt wird. Die dichotomisierende Rhetorik Maradonas dient den pro-kirchneristischen Kommentator/innen zur Veranschaulichung der populistischen Mobilisierungslogik. Mario Wainfeld beschreibt Maradona als »politisch unkorrekt, teilend, streitlustig. Ein Förderer des Konflikts als Modus des Ausdrucks und der Machtakkumulation, ein Nacheiferer Ernesto Laclaus, ohne es zu wissen. Diego liegt immer im Streit mit jemandem, mit ›ihnen‹.«110 Am Beispiel Maradonas, der den Feind klar benennt und dadurch politische Grenzen schafft, wird das Moment des politischen Bruchs als radikale Subversion der Einschreibung in das dominante Repräsentationssystem vorgeführt. Nicht nur Maradonas Aussagen, auch die Radikalität seines Lebensentwurfs wird mit politischen Werten artikuliert. Alfredo Zaiat überträgt Maradonas dramenhafte Neigung zum Extremen, die sich durch seine Biographie ziehe, auf seine intransigente Art und Weise, sich mit seinen (politischen) Gegenspielern in Beziehung zu setzen. Maradona spiele im Fußball genauso wie im Leben: »mit allen Karten offen, in allem frontal nach vorne, […] ohne irgendeine Möglichkeit zur Verhandlung, die in der AFA und mit Grondona traditionell ist.«111 Während Verhandlungen 107 678 15-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=TWYtoDnL120 49:25–50:20 (letzter Zugriff am 5.7.2016), spanisches Original: »Después, políticamente Maradona siempre estuvo en el lugar correcto y con mucho coraje y enfrentándose siempre a quien no convenía enfrentar«. 108 678 23-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=q4OTm1qz-MU 24:24–24:48 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 109 678 27-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=GE9uti6Ot9M 23:02–23:50 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 110 Mario Wainfeld: ¿Fiesta o siesta? Página/12, 11.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147401-2010-06-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »Maradona es políticamente incorrecto, divisivo, peleador. Un cultor del conflicto como modo de expresión y acumulación de poder, un émulo de Ernesto Laclau sin saberlo. Diego siempre se pelea con alguien, con ›ellos‹.« 111 678 28-07-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=WbhxXBiMJzA 10:34–13:09 (letzter Zugriff am 12.7.2016).
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grundsätzlich ein legitimer politischer Mechanismus der Konsensfindung sein können, werden sie hier durch die Gegenüberstellung negativ besetzt. Verhandeln als Strategie wird dem argentinischen Fußballverband zugeschrieben, der mangels moralischer Prinzipien rein machttaktisch agiere. Maradona dagegen kenne nur Ja oder Nein und habe klare Überzeugungen, daher verhandle er nicht mit der Gegenseite. Maradonas symbolische Repräsentation eines prinzipiengeleiteten und integren politischen Konfrontationskurses wird aber auch explizit auf den Antagonismus zwischen dem »popularen Lager« des Kirchnerismus und der im Dienste oligarchischer Interessen stehenden Opposition bezogen. Als Maradona wenige Tage nach seiner Rückkehr aus Südafrika Venezuela besucht und an der Seite von Staatspräsident Hugo Chávez an mehreren offiziellen Akten teilnimmt, verarbeitet Página/12-Kolumnist Luis Bruschtein das zu einer neuen Variation des Diskursmusters »Maradona positioniert sich unverbrüchlich auf der Seite der Machtlosen«. Denn Chávez kündigte in diesen Tagen den Abbruch der Beziehungen mit Kolumbien an, aufgrund der Vorwürfe von Seiten des dortigen Präsidenten Álvaro Uribe, Venezuela unterstütze FARC-Rebellen auf seinem Territorium. Bruschtein qualifiziert diese Anschuldigungen als »Provokation«, Chávez’ Reaktion sei daher richtig gewesen, und »Maradona war auf der richtigen Seite. Gefährlich wäre es umgekehrt gewesen, wenn er sich auf die Seite Uribes gestellt hätte, der die Region an den Rand eines Krieges führte.«112 113 Die innenpolitische Bedeutung der Episode ergibt sich erst über ihre spezifische Verknüpfung mit einem ganz anderen Ereignis: Vertreter der argentinischen Opposition hatten im Zuge der 124. Exposición Rural, der traditionellen Landwirtschaftsmesse in Buenos Aires, an einer gemeinsamen Podiumsdiskussion mit Repräsentant/innen der Landwirtschaftsverbände, darunter die Sociedad Rural, zum Thema der umstrittenen Exportsteuern auf Agrarprodukte teilgenommen. Bruschtein bezeichnet das als »schamlos«, denn die »Sociedad Rural repräsentiert keinen vernachlässigten Sektor. Es handelt sich um eine Körperschaft, die historisch einen der reaktionärsten Sektoren der ökonomischen Macht repräsentiert hat«. Die Präsenz der Oppositionsparteien bei der Messe ist für ihn Ausdruck ihrer Rückgratlosigkeit und ihrer Anbiederung bei den Mächtigen. Hier kommt Maradona ins Spiel und es wird klar, welche 112 Luis Bruschtein: Casi mitos. Página/12, 31.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-150478-2010-07-31.html (letzter Zugriff am 9.7.2016). 113 Die Bedeutung dieser »richtigen« Positionierung ist im regionalpolitischen Kontext zu verstehen. Kolumbien hatte im Herbst 2009 ein Militärabkommen mit den USA unterzeichnet, das den Streitkräften letzterer die Benutzung kolumbianischer Militärstützpunkte ermöglichte, während Chávez für einen anti-amerikanischen Kurswechsel in der Außenpolitik stand.
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Bedeutungen durch die Zusammenführung der beiden unverbundenen Ereignisse geschaffen werden sollen: »Vielen scheint es natürlich, Maradona dafür zu beschuldigen, gemeinsam mit Chávez auf dem Foto aufzutauchen. Aber dieses andere Foto [von Opposition und Sociedad Rural, Anm.], das die Unterordnung unter eine elitistische und konservative Körperschaft widerspiegelt, schien vielen anderen das Normalste. [...] Sie diskutierten ihre Vorschläge für den Agrarsektor im Haus der Großgrundbesitzer114 und bemühten sich, ihnen zu gefallen.«115
Maradona werde kritisiert, weil er politisch unkorrekt ist und mit Chávez eine ebenso politisch unkorrekte Persönlichkeit unterstützt. Niemals aber, ist Bruschtein überzeugt, würde Maradona mit der Sociedad Rural zusammentreffen, da er klare Überzeugungen und Ideale habe, die er nicht verrate. »Die Opposition« erscheint in ihrer Darstellung im Kontrast zu Maradona allein an Machtzuwachs interessiert und auf opportunistische Weise auf Seiten der Stärkeren positioniert. Gleichzeitig ist Maradonas Kompromisslosigkeit im politischen Kontext dadurch als metaphorisches Konzept auf den ähnlich gearteten politischen Stil Cristina Fernández de Kirchners übertragbar. Die anerkennende Erwähnung seiner Haltung rechtfertigt somit auch den kompromisslosen Konfliktmodus der kirchneristischen Regierung. Der unkontrollierbare Maradona als Metapher der politischen Kontingenz Dass Maradona unvorhersehbar ist, ist ein argentinischer Gemeinplatz. Seine Unkontrollierbarkeit wird immer wieder unter Verweis auf seine patzigen Sager bestätigt, mit denen er gegen Journalist/innen wie Vertreter/innen der Fußballverbände ausholt. »Niemand hat es bis heute geschafft, das Ungestüm Diegos zu mäßigen, nicht einmal seine Eltern. [...] Es liegt in seiner Natur, den Mund zu öffnen, ohne die Konsequenzen zu bedenken«,116 resümiert Gustavo Veiga nach Ende der WM anerkennend. Die Narrenfreiheit, die Maradona gewissermaßen genießt, ist Teil 114 Das Messegelände im Stadtteil Palermo, kurz »La Rural«, war zu diesem Zeitpunkt noch im Besitz der Sociedad Rural. 115 Luis Bruschtein: Casi mitos. Página/12, 31.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-150478-2010-07-31.html (letzter Zugriff am 9.7.2016). 116 Gustavo Veiga: El futuro de la selección tiene más dudas que certezas. Página/12, 26.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/libero/10-5383-2010-07-26.html (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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seiner Heldengeschichte und nährt den popularen Mythos vom aufmüpfigen Schwachen, der wie David gegen Goliath auf gewitzte Manier Sand ins Getriebe der Macht streut. Horacio González beschreibt die argentinische Fußballlegende als Topos des Transgressiven folgendermaßen: »Maradona ist das, was die alten indianischen Anthropologien einen Trickster nannten, das heißt, ein witziger Vermittler, auf sympathische Weise spöttisch und gerissen, zwischen den technokratischen Banden und den hart getroffenen Schichten, zwischen den Instrumenten der Macht und ihrer fröhlichen und unflätigen Störung.«117
Maradona erscheint als durchtriebener Störenfried, der sich traut, »denen da oben« eins auszuwischen, auch wenn seine Rebellion nur darin besteht, die herrschenden Normen zu unterwandern. Er entschädigt damit dennoch zumindest symbolisch die Massen derer, denen kein eigenbestimmtes Handeln zugedacht ist. Damit reaktiviert er die klassische national-populare Heldenfigur, die mit der Figur des pibe auch eine lange Tradition im argentinischen Fußball hat. Der pícaro, der gaunerische Schelm, der simuliert, antäuscht, herausfordert und Unruhe stiftet, ist der heimliche Held des Fußballs, der aus Maradona auch hinter seiner vordergründig ernsten Trainermaske noch hervorblitze.118 Als solcher verkörpert er die inkonsistente Logik des Fußballs, die sich durch die Unbegründetheit des Spielausgangs, durch die Zufälle und das akzidentelle Moment auszeichnet, welche den vorgezeichneten Sieg des »Besseren« immer wieder durchkreuzen. In der Gegenüberstellung mit den »Grondonas, Blatters oder Havelanges, aus diversen Berufsfeldern, dem Handel, der Rechtsanwaltschaft, dem Finanzbereich hervorgegangen«119 wird er zur Metapher für die Kontingenz des Politischen, die sich nicht verwalten lässt und in ihrer Störung der vorgegebenen Ordnung Hierarchien durchbricht. Der »Volksanwalt« Maradona als Metapher populistischer Repräsentation Wie der weiter oben ausführlich zitierte Leserbriefauszug zeigte, drückt Maradona nicht nur bestimmte »populare« Charakteristiken aus. Er wird darüber hinaus als repräsentativ im Sinne einer politischen Vertretung verstanden, die für das Volk die Stimme erhebt und das Unrecht anprangert. Mario Wainfeld schreibt dazu: »Wie es für einen 117 Horacio González: Maradona y el carácter nacional. Página/12, 2.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/sociedad/3-148670-2010-07-02.html (letzter Zugriff am 8.7.2016). 118 Ebd. 119 Ebd.
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Anwalt des Volkes angebracht ist, schuldigte Diego Verantwortliche an, mächtige Männer oder Institutionen« und nennt die FIFA, Pelé oder Franz Beckenbauer als Beispiele.120 Seine Legitimität bezieht Maradona aus dem unumschränkten Vertrauen, das er in der Bevölkerung genießt und das wiederum durch seine Unkorrumpierbarkeit und Kompromisslosigkeit bedingt ist: »Provokant, kampflustig, unnachgiebig, scharfzüngig, eine überwältigende Mehrheit heißt ihm alles gut.«121 Gerade weil Maradona nicht »verwaltet« werden kann, ist er »ein legitimierter Protagonist, der eine direkte Verbindung mit der öffentlichen Meinung hat.«122 Seine Legitimität führt dazu, dass er Dinge aussprechen und Missstände denunzieren kann, die aus dem Munde anderer nicht glaubwürdig klingen.123 Damit veranschaulicht Maradona ein populistisches Repräsentationsverständnis. Ihn zeichnet also nicht einfach aus, dass er die »Wahrheit« spricht, sondern dass er über die notwendige »soziale Produktivität« verfügt, performativ zu sprechen. Mehr als ein bloßer Vertreter determinierter Interessen ist er ein »Führer«, der eine eigene Botschaft an sein »Volk« hat und auf diese Weise eine demokratische Repräsentationsfunktion erfüllt. Daher ist er für Wainfeld »Gruppenführer, Massenkommunikator und Trainer, in absteigender Reihenfolge der Eigenschaften«.124 In der Bewertung von Maradonas Trainerschaft steht seine technische Performance demnach nicht an erster Stelle, weil sie von seiner politischen Bedeutung in den Schatten gestellt wird. 6.2.3 Die Wiederherstellung politischer Identifikation Die dritte Variante in der pro-kirchneristischen Umdeutung der Debatte um Maradonas Trainerqualitäten argumentiert, dass Maradona kein director técnico, sondern Freund und Kollege der Nationalspieler sei. Maradona wird als außergewöhnlicher, seinen Teamspielern zärtlich zugeneigter Trainer dargestellt, der einen dialogorientierten, konsensualen 120 Mario Wainfeld: Ahora es verdad que la pelota. Página/12, 23.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148120-2010-06-23.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 121 Mario Wainfeld: ¿Fiesta o siesta? Página/12, 11.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147401-2010-06-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 122 Mario Wainfeld: Ahora es verdad que la pelota. Página/12, 23.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148120-2010-06-23.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 123 Ebd. 124 Ebd.
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und anti-autoritären Führungsstil pflegt.125 Als Carlos Tévez im Spiel gegen Mexiko in der 69. Spielminute ausgewechselt wird und die Entscheidung mit einem unwilligen Kopfschütteln quittiert, deutet Miguel Rep dies in Página/12 positiv um und zieht daraus die Erkenntnis: »Als ich gestern Tevez’ Gesichtsausdruck sah, als sie ihm die Anweisung gaben, dass er gegen Verón ausgewechselt werde, fand ich meinen Eindruck bestätigt: Maradona ist kein Trainer. Er ist der Kapitän des Teams. Tévez’ Miene war die von jemandem, der einem Freund Vorwürfe macht, warum er ihn aus dem Team nimmt. Er hat keine Angst vor ihm, er ist ein Freund. Ein Kollege, dessen Entscheidung ihn gestört hat.«126
Die politische Stoßrichtung dieser Darstellungen wird beispielhaft in 6, 7, 8 veranschaulicht, wo als »neues Beispiel des wundervollen Klimas, das heute in Argentinien herrscht«127 ein Ausschnitt aus dem Fernsehprogramm Televisión Registrada (TVR)128 aufgegriffen wird, in dem der ehemalige Fußballspieler Damián Manusovich über Maradona als »eine der großen Überraschungen« der Weltmeisterschaft spricht: »Es macht uns stolz, wie er die Dinge vorwärts treibt, mit einem ganz anderen Profil als fast alle Trainer der WM, mit dieser herzlichen Art, die uns auch als Gesellschaft repräsentiert.«129 Sebastián Wainraich und Gabriel Schultz, die Moderatoren der Sendung in TVR, stehen daraufhin spontan auf und umarmen einander sowie auch Manusovich. Die gespielt-ironisch 125 Z.B. auch Mario Wainfeld: Lo que se mira por tevé. Página/12, 18.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-147853-2010-06-18.html (letzter Zugriff am 7.7.2016). 126 Miguel Rep: ¿DT o capitán? Página/12, 29.6.2010 http://www.pagina12. com.ar/diario/deportes/8-148470-2010-06-29.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »Al ver el gesto de Tevez, ayer, cuando le dieron la orden de ser cambiado por Verón, terminé de cerrar mi impresión: Maradona no es un director técnico. Es el capitán del equipo. La jeta de Tevez era de alguien que le recrimina a un amigo por qué lo saca del equipo. No le tiene miedo, es un amigo. Un compañero cuya decisión le molestó.« 127 3 - 678 21/06/10 Todos nos abrazamos...menos uno Parte 1 https://www. youtube.com/watch?v=60vlMfEvQXY 0:00–9:56 (letzter Zugriff am 7.7.2016). 128 TVR (Televisión Registrada) ist eine Produktion von Pensado Para Televisión (PPT) und gehört damit zum selben Produktionsunternehmen wie 6, 7, 8, dessen Eigentümer Diego Gvirtz ist. 129 1 - 678 21/06/10 Clarin ahora escracha a los que piensan diferente Parte 1 https://www.youtube.com/watch?v=SuGPAvy0nm8 8:09–8:35 (letzter Zugriff am 1.7.2016), spanisches Original: »Nos enorgullece cómo está llevando las cosas adelante, con un perfil muy distinto a casi todos los entrenadores del mundial con esto de ser afectuoso que también nos representa a nosotros como sociedad.«
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aufgebaute Szene gewinnt in 6, 7, 8 eine klare politische Konnotation, indem sie anderen Einspielungen vorangestellt wird, in denen Prominente aus Politik und Unterhaltung die optimistisch stimmende Entwicklung des Landes und die Zufriedenheit »der Leute« betonen und Radiomoderator Jorge Rial in Radio la Red seine Livezuschaltung aus Frankreich über die europäische Wirtschaftskrise und die mit ihr verbundenen Sparmaßnahmen mit den Worten schließt: »Ich sage dir, es geht uns wirklich gut. Die erste Welt steckt wirklich in Problemen, wir haben die Krise wirklich sehr gut überwunden, das muss man anerkennen. Aus der Distanz merkt man das viel mehr«.130 So kann die Reportage von 6, 7, 8 zu dem Schluss kommen: »Wir sind alle zufrieden und umarmen uns. Gut, in Wirklichkeit alle außer einer«, nämlich der »Sender der schlechten Stimmung«, der während der WM wie schon während des Bicentenario eine negative Haltung einnehme und versuche, die allgemeine Freude durch seine Berichterstattung zu dämpfen. Maradonas Repräsentation als motivierend-kollegialer Trainer wird solcherart mit der Diskursfigur der buena onda artikuliert, der dadurch zusätzlich zur bloßen Behauptung ihrer Präsenz eine spezifische Bedeutung zugeschrieben werden kann: Maradonas Darstellung als »Motor und Motivator des argentinischen Teams«,131 als unermüdlicher zwölfter Spieler132 etc. wird in einer metaphorischen Übertragung auf den politischen Kontext als Sinnbild für die Argentinier/innen gelesen, welche die Regierung Kirchner mit ihrem Zukunftsoptimismus unterstützen und damit die erfolgreiche Entfaltung eines ambitionierten politischen Projekts ermöglichen. Sandra Russo interpretiert dies als Rückeroberung des »popularen Selbstwerts« und vollzieht die politisch-kulturelle Artikulation am Beispiel des Verteidigers Martín Demichelis, der im Spiel gegen Südkorea das 1:2 verschuldete, woraufhin »ihn die Sportjournalisten angriffen und Maradona sich hinter ihn stellte, und er gab ihm die Möglichkeit zur Wiedergutmachung. Und ich finde, dass das heißt, auf den Selbstwert der Spieler zu setzen, nicht wahr? Und es ist auch das, was wir gerade versuchen, als Volk wiederzuerlangen.«133 130 3 - 678 21/06/10 Todos nos abrazamos...menos uno Parte 1 https://www. youtube.com/watch?v=60vlMfEvQXY, 7:05–7:22 (letzter Zugriff am 7.7.2016). 131 Mercedes Puddu: Carta de lectores. Página/12, 8.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/cartas/24-149084-2010-07-08.html (letzter Zugriff am 8.7.2016). 132 Miguel Rep: ¿DT o capitán? Página/12, 29.6.2010 http://www.pagina12. com.ar/diario/deportes/8-148470-2010-06-29.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 133 678 23-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=q4OTm1qz-MU 23:42–24:25 (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »los
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Auf diese Weise wird mit Maradona die buena onda in der argentinischen Gesellschaft als Prozess der Neubestimmung der eigenen Würde gedeutet. So wie die unterstützende Art des Teamchefs den Spielern Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten ermöglicht, stärkt auch die populare Zustimmung das kirchneristische Projekt, während die Strategie der »hegemonialen Medien« darauf ausgerichtet sei, diesen positiven Impetus zu zerstören. Wenn 6, 7, 8-Panelist Orlando Barone Maradona mit einem »sozialen Schwamm« vergleicht, der »das Gefühl der Freude und der Intensität der Leute […], das im Bicentenario seinen Ausgang nimmt«134 aufsaugt, und sein Kollege Eduardo Galende die von Maradona vermittelte gesellschaftliche Atmosphäre als Forderung nach einem Klima des Vertrauens präzisiert135, ergibt sich schließlich: Die buena onda ist Ausdruck einer »popularen Forderung« nach Unterstützung der politischen player, damit diesen ermöglicht werde, zu ihrer Höchstform aufzulaufen, so wie ein Team ungeahntes Potential entfalten kann, wenn es von einem identifikatorisch engagierten Trainer wie Maradona gestützt wird. 6.2.4 »Man spielt, wie man lebt«: Die WM des postneoliberalen Lateinamerikas Eng verknüpft mit dieser Darstellung des vertrauensvollen Teamchefs als Sinnbild des erneuerten argentinischen Selbstwusstseins findet sich in den politisch-kulturellen Debatten zur Fußballweltmeisterschaft ein zentrales Narrativ, das in der Formel »se juega como se vive« (»Man spielt, wie man lebt«) zusammengefasst wird. Die dahinterstehende Logik stellt die europäischen Krisenökonomien mit ihrer neoliberalen Anpassungspolitik einer lateinamerikanischen Region gegenüber, in der periodistas deportivos salieron a pegarle y Maradona lo bancó, y le dio la posibilidad de reparar. Y me parece que eso es apostar a la autoestima de los jugadores, ¿no? Y también es lo que estamos tratando de recuperar como pueblo.« 134 3 - 678 21/06/10 Todos nos abrazamos…menos uno Parte 2. https://www. youtube.com/watch?v=-hc_3C4L9yQ&spfreload=1 3:17–4:09 (letzter Zugriff am 8.7.2016), spanisches Original: »Y creo que Maradona en este momento […] está recibiendo como una esponja lo que la sociedad quiere. […] Y creo que lo que está captando es el sentimiento de alegría y de intensidad de la gente que parte del Bicentenario«. 135 Ebd., 4:08–4:35, spanisches Original: »un poco lo que transmite Diego es eso, confianza. Que él confía en lo que eligió, confía en los jugadores que tiene, confía en el equipo argentino, o sea confía finalmente. Me parece que esa es la parte que hoy está digamos como atmósfera, como demanda de esta esponja que vos estás diciendo que es el Diego, ¿no? Confiémos un poco que la cosa puede funcionar mucho mejor, de eso se trata.«
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eine politische Zeitenwende in Richtung Rückeroberung der popularen Souveränität und Etablierung eines inklusiven politischen Modells stattgefunden habe, und verknüpft die fußballerische Performance mit den jeweiligen Gesellschaftsentwürfen. Diese diskursive Konfiguration wird im Lauf der WM anhand historischer und aktueller Beispiele veranschaulicht. Am Tag nach der 0 : 1 – Niederlage Spaniens gegen die Schweiz in der Gruppenphase konstatiert Miguel Rep in Página/12: »Angesichts dessen, was gestern mit Spanien passiert ist, gemeinsam mit der Katastrophe Griechenlands in der ersten Runde und dem qualvollen Unentschieden Portugals, wenn man zu diesem Paket der kritischsten europäischen Ökonomien noch Irland und Ungarn dazunimmt, die sich nicht qualifiziert haben, zeigt sich, dass die sozialen Unruhen jedes Landes sich auf ihre Nationalauswahlen übertragen. Das passierte mit dem Argentinien der Malvinas ’82, mit der Vorahnung eines berüchtigten Jahrzehnts im Weltcup von ’90, mit der Hekatombe von 2002, alle spiegeln Momente des Schreckens unserer Idiosynkrasie wieder.«136
6, 7, 8 entfaltet die These vom Fußball als Reflex gesellschaftlicher Verhältnisse in mehreren Reportagen, in denen unterschiedliche Nachrichtenmeldungen so aneinandergereiht werden, dass die Art der Zusammenstellung die Evidenz erzeugt, die Leistung eines Nationalteams bei der WM sei Ausdruck der wirtschaftlichen Situation seines Landes. So wird in einem Bericht vom 29.6.2010 erst eine Nachrichtensprecherin gezeigt, welche die Meldung »Einer von sechs Europäern hat Probleme, finanziell über die Runden zu kommen« verliest. Unmittelbar darauf folgt ein Fußballkommentator, der das Ausscheiden Italiens verkündet. Daran schließt ein Nachrichtenausschnitt aus Visión 7 an, der erklärt: »Die italienische Regierung präsentierte ein Programm wirtschaftlicher Kürzungen«, worauf die Schlagzeile »Italien scheidet aus und Frankreich ist schon draußen« eingespielt wird. Die Interpretation der Zusammenstellung liefert zuletzt ein aufgeregter Moderator von Fox Sports mit den Worten: »Denn ich glaube, dass man letztlich spielt, wie man lebt.«137 Die Parallelisierung der »ökonomischen Anpassungen« in Europa mit der eigenen neoliberal geprägten Politik der 1990er und ihren wirtschaftlichen Folgen ist dabei ein bedeutsames Element der narrativen Konfigurierung. Durch die Verknüpfung entsteht eine historische Linie, auf der die krisengeschüttelten europäischen Länder gegenüber Lateinamerika zurückliegen. Letzteres befindet sich bereits im »Danach«, also nach dem 136 Miguel Rep: Eurozona en crisis. Página/12, 17.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-147742-2010-06-17.html (letzter Zugriff am 9.7.2016). 137 678 29-06-10 (3 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 2:13–2:30 (letzter Zugriff am 9.7.2016).
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Bruch mit den alten Paradigmen, in der wirtschaftlichen Prosperität und der politischen Erneuerung. »Man spielt, wie man lebt« wird dabei über rein ökonomische Parameter hinaus mit einem breiteren Wandel in Verbindung gebracht, der auch politische und soziale Faktoren umfasst, und zur Abgrenzung eines postneoliberalen lateinamerikanischen Blocks von einem der »alten Politik« verhafteten Europa eingesetzt. Un Caño-Kolumnistin Cecilia di Genaro bringt in einem pathetisch aufgeladenen Kommentar die WM-Resultate Argentiniens und seiner Nachbarländer mit dem historischen Moment in Verbindung, den die Region erlebe: »Mit einem einzigartigen Szenario in der Geschichte Lateinamerikas (es ist kein Zufall, dass vier südamerikanische Teams – Uruguay, Argentinien, Brasilien und Paraguay – unter den acht Besten der WM geblieben sind [...]), mit Präsidenten, die Überzeugungen von Volk, Identität, Geschichte und Prinzipien teilen, spielt sich die Einheit auf einer anderen Ebene ab.«138
Tatsächlich wird die inner-lateinamerikanische Konkurrenz während des Bewerbs 2010 zumindest medial von pro-kirchneristischer Seite kaum forciert. Abgesehen von leichten Seitenhieben gegen Chile, das sowohl das einzige früh ausgeschiedene der fünf südamerikanischen Länder wie auch das einzige mit einer konservativen Regierung ist, wird keine Opposition zu den Mannschaften des Fußball-Kontinentalverbands aufgebaut, stattdessen die alle Erwartungen übersteigende Performance der südamerikanischen Teams betont und nach dem Ausscheiden Argentiniens der einzige im Bewerb verbliebene Nachbar Uruguay wohlwollend als Repräsentant eines supranationalen Kollektivs kommentiert. Für den innenpolitischen Kontext wird die These des »se juega como se vive« anhand weiterer Episoden inhaltlich detailliert und beispielsweise auf die Erneuerung des Obersten Gerichtshofs durch Néstor Kirchner umgelegt.139 Dieses Argument wird nicht über die Spielweise selbst konstruiert, sondern über den Verweis auf den argentinischen Schiedsrichter Héctor Baldassi, der bei der WM 2010 im Einsatz war. Bilder von souverän gepfiffenen Spielsituationen oder die Stimme eines 138 Cecilia di Genaro: La era está pariendo un corazón. Un Caño, Juli 2010, S.8 https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »Con un escenario único en la historia de Latinoamérica (no es casual que cuatro equipos sudamericanos –Uruguay, Argentina, Brasil y Paraguay– hayan quedado entre los ocho mejores del Mundial y con Chile, el quinto, eliminado en octavos por Brasil), con presidentes que comparten convicciones de pueblo, identidad, historia y principios, la unidad pasa por otro lado.« 139 678 29-06-10 (3 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 4:24–6:20 (letzter Zugriff am 9.7.2016).
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Fernsehkommentators, der die Entscheidungen des Schiedsrichters anerkennend bewertet, veranschaulichen dessen Qualitäten, die im anschließenden Kommentar der 6, 7, 8–Reportage explizit mit der Reform der Corte Suprema artikuliert werden: »Gibt es nicht vielleicht einen Berührungspunkt zwischen unseren Verwaltern der fußballerischen Gerechtigkeit von 2006 und 2010 und diesem unabhängigen und sogar von den Oppositionellen gelobten Höchstgericht?«140 Weiters werden die Unterschiede im politischen Stil des ehemaligen Staatspräsidenten Néstor Kirchner und seiner Nachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner mit dem Wagemut der in den Amtszeiten der beiden Staatsoberhäupter tätigen Fußballnationaltrainer Pekerman und Maradona verglichen. Während Pekerman 2006 der Mut zum Risiko fehlte, sei dieser nun von Maradona zu erwarten, weil dies auch den Unterschied der politischen Zeiten 2006 und 2010 ausmache.141 142 Cristina Kirchners Amtszeit wurde im Vergleich zu der ihres Ehemannes häufig als weniger konsensorientiert und von verhärteten politischen Fronten geprägt beschrieben. Ihre Anhänger/innen verstanden das positiv als Mut zur offensiven Konfrontation und zur Schärfung der politischen Konfliktlinien, der ihre unnachgiebige Verteidigung auch umstrittener Entscheidungen auszeichne. In der kirchneristischen Erzählung des politischen Erneuerungszyklus seit 2003 ist Néstor Kirchner der Staatsmann, dem die Konsolidierung des Landes nach dem Chaos und die Wiederherstellung von Vertrauen und politischer Adhäsion gelungen sei, während seine Nachfolgerin sich nun darauf aufbauend daran mache, durch unerschrockenes Voranpreschen »das Modell zu vertiefen« und die Transformation von Politik und Gesellschaft auf allen Ebenen voranzutreiben. In der zitierten 6, 7, 8-Reportage wird zur Bestätigung dieser Lesart 140 Im Bild erscheint dazu ein Ausschnitt aus der Nachrichtensendung des öffentlichen Fernsehens, Visión 7, der einen Gerichtssaal zeigt und untertitelt: »Die Richter ›dürfen nicht regieren‹. Das bestätigte der Präsident des Obersten Gerichtshofs«. 141 678 29-06-10 (3 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 6:20–7:10 (letzter Zugriff am 9.7.2016). 142 Unterstrichen wird dies, indem das politische Klima 2010 visuell mit einer Aufnahme von Cristina Kirchner beim Te Deum in der Basílica von Luján dargestellt wird. Damit wird der Konflikt evoziert, der beim Bicentenario rund um die traditionelle liturgische Dankfeier zum Jahrestag der Mairevolution entstanden war. Die Staatspräsidentin verlegte den Ort der offiziellen Zeremonie von der Catedral Metropolitana in Buenos Aires in die Kathedrale von Luján, um ihren Dissens mit Kardinal Jorge Bergoglio auszudrücken, der sich wiederholt kritisch zum Kirchnerismus geäußert hatte. Der spätere Papst, der zu diesem Zeitpunkt Erzbischof von Buenos Aires war, feierte dennoch ein paralleles Te Deum in der Hauptstadt, an dem auch Teile der Opposition teilnahmen (Amati 2013).
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eine Aufnahme von Néstor Kirchner selbst herangezogen, der bei einer Rede vor Anhänger/innen der kirchneristischen Bewegung seine Schwierigkeiten beschreibt, nach dem Staatsbankrott die Pensionen zu sichern, und die Lösung dieser Frage dem Durchsetzungswillen seiner Gattin zuschreibt, denn »Cristina hatte die Entschlossenheit, die ich nicht hatte.« Ausgehend von der Stärkung der politischen Macht und der erhöhten Gestaltungsfähigkeit, die das kirchneristische Projekt erfahren habe, soll nun in der Narration von 6, 7, 8 auch die argentinische Nationalmannschaft 2010 im Gegensatz zu ihrem Pendant vier Jahre zuvor selbstbewusst »durchgreifen«. »Se juega como se vive« und seine soziokulturelle Übersetzung Wörtlich genommen wirken diese Parallelisierungen wie krude Spekulationen ohne jegliches Fundament. Der polemische Tonfall der anonym kommentierenden Stimme in den Reportagen und die anschließenden Studiodebatten sorgen jedoch für eine dementsprechende Rahmung, die den disparaten Artikulationen eine Funktion als lediglich symbolhafte Darstellung von Bedeutungen im Feld des Politischen zuweist. Nichtsdestotrotz wirken diese Symbolisierungen als metaphorische Konzepte auf das politische Feld zurück und verleihen dessen Strukturen durch die Versinnbildlichung anhand der alltagsnahen Narrativisierung in einem anderen Verweiszusammenhang unmittelbare Evidenz. Zu dieser Rahmung zählt die ironische Abschwächung der Darstellung von Fußball als Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse durch die Panelmitglieder der 6, 7, 8-Diskussionen, die sich einerseits mit dementsprechenden Bemerkungen und Lachern von der Argumentation der vorangegangenen Clips distanzieren,143 sie dann aber auf einer metaphorischen Ebene als produktive Übersetzung von Wertehaltungen affirmieren. Auch »skeptische« Studiogäste tragen dazu bei, die den Determinismus der These vordergründig ablehnen, um im Anschluss jedoch bestimmte Aspekte der diskursiven Artikulation fußballerischer und politischer Zusammenhänge auf der Ebene des »gesunden Menschenverstands« zu plausibilisieren. Dadurch erfährt das Narrativ eine Umdeutung von einer linearen Kausalität zwischen Politik und Sport hin zu einem komplexeren 143 Z.B. wird am 29.6. der Inhalt einer »se juega como se vive«-Reportage als »reine dichterische Freiheit« bezeichnet: 678 29-06-10 (3 de 3) https:// www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 9:50–10:05 (letzter Zugriff am 9.7.2016). Der in die Sendung geladene Soziologe Pablo Alabarces wird lächerlich gemacht, als er die These in Frage stellt, weil er versuche, »ernsthaft über die Edition dieses offensichtlich demagogischen Materials« zu sprechen: 678 22-06-10 (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=wuRsQZsIhqg 28:20–30:32 (letzter Zugriff am 9.7.2016).
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Zusammenhang zwischen kulturellen Wertehaltungen und der qualitativen Dimension des Spiels. So wird klargestellt, dass selbstverständlich nicht externe Faktoren wie die handfeste sozioökonomische Situation von Individuen oder der rein formale Austausch der politischen Eliten Auswirkungen auf den Erfolg einer Mannschaft bei einem sportlichen Bewerb hätten. Überhaupt gehe es nicht in einem engeren Sinn um Sieg oder Niederlage, sondern um das »Wie«.144 In einer breiteren Interpretation des »se juega como se vive« beziehe sich die Verknüpfung auf »interne kulturelle Charakteristiken eines Individuums, nicht auf eine nur kontextuelle oder konjunkturelle Tatsache«, die das »Sein einer Region« ausmachten.145 So wie jedes sportliche Spiel zwischen mehreren Personen schnell die Eigenheiten eines jeden, seine charakterlichen Qualitäten und Schwächen erkennen lasse, manifestierten sich auch auf kollektiver Ebene bestimmte kulturelle Charakteristiken oder die »Stoßrichtung« des popularen Willens.146 Der WM-Sieg 1978 wird als Ausdruck des Wunsches nach »Auferstehung« aus dem Unheil der Diktatur gelesen, während der Sieg 1986 eine Interpretation im Geist der Freude über die Rückkehr zur Demokratie erfährt.147 Die metaphorische Interpretation des »Man spielt, wie man lebt« in Begriffen des »Geistes« oder des »kulturellen Seins« einer Zeit wird in den unterschiedlichen Diskussionsrunden zum Thema in zwei grundsätzlichen Linien ausgestaltet. Erstens zeigt sich das diskursive Muster des »großzügigen Spiels«, das Ausdruck einer wirtschaftspolitischen Abwendung vom neoliberalen Modell sei. Argentinien spiele einen großzügigen Fußball, das wird auch abseits des »se juega como se vive« immer wieder betont. In diesem spezifischen Kontext erfährt die fußballerische Repräsentation allerdings ihre sinnhafte Einbettung in den politischen Zusammenhang. Miguel Rep konstatiert in Página/12: »Wirklich, in einer globalen Zeit, in der man zwischen Umverteilung oder Anpassung diskutiert, repräsentiert uns diese Nationalmannschaft vollständig, die einen großzügigen Stil des Spiels, der Aufteilung wählt. Und diese Repräsentation macht uns stolz, über das Resultat hinaus.«148 144 Z.B. 678 24-06-10 - (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=pIIXlb9942s 28:33–29:03 (letzter Zugriff am 11.7.2016) 145 678 29-06-10 (3 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 10:03–12:23 (letzter Zugriff am 9.7.2016). 146 678 23-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=q4OTm1qz-MU 23:42–24:25 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 147 678 29-06-10 (3 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 12:24–12:40 und 14:37–15:37. 148 Miguel Rep: De reparto o de ajuste. Página/12, 27.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148361-2010-06-27.html (letzter Zugriff am 8.7.2016), spanisches Original: »Realmente, en un tiempo mundial que
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Der als repräsentativ konstruierte Spielstil wird als Symbolisierung einer umverteilenden wirtschaftspolitischen Ideologie gedeutet. Das »großzügige Spiel« ist politisch repräsentativ, weil es eine Emanzipation von der absoluten Unterordnung unter strategische Überlegungen bedeute. Hernán Brienza würdigt Maradona für diese Spielphilosophie und kontrastiert sie mit den Begriffen des Systems, des Kalküls und der Vorsichtsmaßnahmen. In Abgrenzung von einer als kleingläubig dargestellten Spielweise, die Brienza für ihre Ideologie der Alternativlosigkeit kritisiert, wird im übertragenen Sinn eine Handlungsorientierung stark gemacht, die sich nicht von Angst oder dem Gefühl mangelnder Handlungsspielräume bestimmen lasse.149 Die zweite soziokulturelle Übersetzung der Interpretationslinie »se juega como se vive« wird um den Begriff der »Würde« konstruiert. Dieser verschiebt die Definition der »Lebensart«, deren Widerspiegelung in fußballerischen Praktiken und Diskursen behauptet wird, ebenfalls von materiellen auf identitätsbasierte Parameter. »Würde« wird in den 6, 7, 8-Diskussionen als »demokratischer« Signifikant eingeführt, zu dem alle politischen Subjekte unabhängig von ihrer finanziellen oder ökonomischen Situation Zugang hätten.150 Maradonas Führungsstil und die Spielweise der Nationalmannschaft werden als Verwirklichung von Würde interpretiert, die dem »kulturellen Sein« des Kirchnerismus entspräche. Ausgedrückt wird dadurch die Freiheit und Selbstbestimmtheit politischen Handelns, welche die Anerkennung der eigenen Würde als legitime Zielorientierung abseits einer rein verwaltungstechnischen Politik der »Anpassung« wiederherstellt. In diesem Sinn wird auch das Narrativ der buena onda aufgegriffen und als politische Willenserklärung reartikuliert. Sandra Russo zitiert in der Sendung vom 24.6.2010 Auturo Jauretches Satz »Die deprimierten Völker siegen nicht« und stellt die Frage in den Raum, ob es möglich sei, dass »deprimierte Völker« siegreiche Fußballmannschaften hervorbrächten.151 Im Umkehrschluss liegt in der Aussage das Deutungsmuster: Das erfolgreiche argentinische Team verweist darauf, dass es auch um die kollektive Gemütslage nicht schlecht bestellt sein könne. Nachdem der FPV-Abgeordnete Carlos Kunkel bereits se debate entre reparto o ajuste, esta Selección nos representa cabalmente, eligiendo un estilo generoso de juego, de reparto. Y nos enorgullece esta representación, más allá del resultado.« 149 25-06 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=f19Ca4J6drc 7:36–8:12 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 150 Z.B. 678 23-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=q4OTm1qz-MU 26:27–27:06 (letzter Zugriff am 11.7.2016) und 678 29-06-10 (3 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=-nYnixVTcRs 12:40–13:11. 151 678 24-06-10 - (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=pIIXlb9942s 27:03–21:17 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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ausgeführt hatte, das argentinische Volk sei nach »sehr langanhaltenden Momenten der Beklemmung« nun in eine »Phase der Hoffnung, der Freude und des Glücks« eingetreten, die schon die Feierlichkeiten des Bicentenario ausgedrückt hätten,152 kann Orlando Barone gegen Ende der Sendung schließen, die argentinische Gesellschaft müsse so ambitioniert sein wie ihr Nationalteam.153 »Die Völker siegen« ebenso wie Sportteams, wenn sie die Entschlossenheit und den Willen dazu zeigen. Die aus den Artikulationen von Fußball und Politik gezogene Handlungsanweisung für das »argentinische Volk« lautet daher, Ambition zu zeigen und mit selbstbewusst-optimistischer Haltung die eigene Würde einzulösen. 6.2.5 Maradona und Messi – zwei politische Modelle Den Spielern der Nationalmannschaft kommt neben Maradona wenig Protagonismus in den politisch-kulturellen Artikulationen zur Fußballweltmeisterschaft 2010 zu. Sie treten nicht als Figuren auf, an deren Beispiel eigenständige diskursive Repräsentationen entwickelt werden. Vielmehr werden sie ergänzend genannt, um Maradona zu sekundieren, indem sie genau die gleichen Eigenschaften wie er noch einmal aufweisen, die als Folge seiner Präsenz als Trainer erscheinen.154 Auch dort, wo die Nationalspieler als einheitliche Gruppe in ihrer Repräsentativität für das argentinische »Volk« beschrieben werden, etwa aufgrund ihres politischen Engagements für die Sache der Großmütter der Plaza de Mayo oder aufgrund ihrer Art und Weise des Spiels, wird damit letztlich immer die Würdigung von Richtungsentscheidungen wiederholt, die von Maradona in die Wege geleitet wurden. So wird der gesamte WM-Verlauf so dargestellt, als liege er alleinig in den Händen des Trainers. Die Spiele werden dahingehend analysiert, ob sie »ihm« gelungen seien,155 und die Charakterisierung der Nationalelf ist eine metaphorische Erweiterung der Aussagen über Maradona, welcher mit seiner Person das gesamte Team und dessen neuen »Geist« verkörpere. Selbst die Spielzüge einzelner Spieler werden zu einer Funktion des Trainers und seiner Eigenschaften rückgedeutet. Martín Palermos bereits erwähntes Tor in letzter Minute im WM-Spiel gegen Griechenland interpretiert etwa Mario Wainfeld in dieser Linie als »gute Stimmung 152 Ebd., 19:43–21:05. 153 Ebd., 28:00–28:12. 154 Z.B. 678 28-07-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=WbhxXBiMJzA 8:10–8:23 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 155 Victor Hugo Morales: Habemus esperanzus. Un Caño, Juni 2010, S.24. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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des Schicksals dort, ein Beistand, um die Unfehlbarkeit des Führers zu bestätigen.«156 Die Erzählung der »bescheidenen Herkunft« ist eines der wenigen narrativen Muster, das explizit über Maradona hinaus auch anhand einzelner Spieler substanziell veranschaulicht wird. Die diesbezüglichen Darstellungen bleiben zwar vereinzelt und wenig ausgebaut. Jedoch fällt auf, dass die wenigen Spieler, die eigenständige Erwähnung finden, durchwegs mit Bezug auf ihre »populare« Herkunft genannt werden. Palermos Tor etwa wird vor allem als späte Gerechtigkeit für ein Leben voller Widrigkeiten interpretiert, die Darstellung des Stürmerspielers auf sein einfaches soziales Milieu, seine starke Verwurzelung in familiären Bezügen und die in früheren Jahren erlittene schmerzhafte Kritik zugespitzt. 157 Neben Parlermo und stärker als dieser wird Carlos Tévez als besonders »popular« inszeniert. Nach seinem Tor im Spiel gegen Mexiko, für das ihn Spielkommentator Víctor Hugo Morales als »Carlitos des Volkes« qualifiziert hatte,158 wird Tévez in 6, 7, 8 in verschiedene populare Narrationen eingebettet, indem etwa seine mangelnden Englischkenntnisse in einer positiven Umkehrung eine wohlwollende Darstellung erfahren159 oder Aussagen gezeigt werden, in denen er sein kärgliches Aufwachsen ohne Strom, Gas und Fließwasser beschreibt.160 Die Betonung des einfachen biographischen Hintergrundes der Spieler dient dem Zweck, das Narrativ der klassischen popularen Spielerfigur zu aktualisieren und als »nationalen Charakter« zu artikulieren. Alejandro Caravario räsoniert in einem Artikel in Un Caño über Flügelspieler Angel Di María und dessen »typisch argentinische« Eigenschaften: »er hat die argentinische Genetik eingeschrieben, nicht nur in der Gaunerhaftigkeit dessen, der einige Zeit vergeblich im Topf gekratzt hat (dunkelhäutige Dürrheit, die man in Barcelona nicht erreicht).«161 Die 156 Mario Wainfeld: Ahora es verdad que la pelota. Página/12, 23.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148120-2010-06-23.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 157 678 22-06-10 (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=wuRsQZsIhqg 11:33–16:00 (letzter Zugriff am 9.7.2016); 678 23-06-10 (2 de 4) https:// www.youtube.com/watch?v=q4OTm1qz-MU 28:27–29:45 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 158 678 27-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=GE9uti6Ot9M 13:00–13:08 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 159 678 Domingo 20-06-10 (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=SebmoerqfRk 40:39–41:54 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 160 678 27-06-10 (1 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=GE9uti6Ot9M 13:09–13:33 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 161 Alejandro Caravario: Espérame mucho. Un Caño, Juli 2010, S.10–14. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »tiene la genética argenta escrita no sólo en la trucha
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ambivalenten Bedeutungen des fußballerischen pibe zwischen künstlerischem Talent und gerissenem Schwindel, die rund um das Stereotyp der viveza criolla als nationale Qualitäten entfaltet werden, werden hier erneut mit einem popularen Herkunftsnarrativ artikuliert. Die Anspielung auf Barcelona, wo die »dunkelhäutige Dürrheit«, also die authentische Zugehörigkeit zu den mittellosen Angehörigen der popularen Klassen, nicht erreicht werden könne, gilt Lionel Messi, dessen Aufstiegsgeschichte die der frühen Entdeckung, Emigration und Förderung durch einen europäischen Club ist und nicht zum Ausdruck national-popularer Stereotype geeignet erscheint. Messis schwierige Integration in das Narrativ der national-popularen Erneuerung Das Verhältnis der pro-kirchneristischen Kommentator/innen zu Messi ein dementsprechend widersprüchliches. Caravario beschreibt ihn prägnant als Godot, auf dessen Ankunft vergeblich gewartet worden sei. Trotz der hohen Erwartungen an ihn erzielte Lionel Messi während der gesamten Meisterschaft kein einziges Tor. Auch abseits der spielerischen Leistungen erwies er sich als höchst sperrige Symbolfigur für die Erzählung der national-popularen Erneuerung. Weder bediente er das populare Narrativ des sozialen Aufstiegs aus der Armut, noch konnte der Mythos der Rebellion gegen die Macht des »Establishments« an seinem Beispiel aktualisiert werden. Im Vergleich mit dem erdrückenden Gewicht der maradonianischen Erzählung kann Ricardo Forster nur zu dem Schluss kommen: »Messi ist nicht Maradona, er kann nicht er sein. Sein Leben, sein Weg, der ihn als Kind von seinem Heimatort Rosario nach Barcelona führte, hat nichts mit den Schritten zu tun, die Diego getan hat.«162 Maradona drückt die konstitutive Ambivalenz kollektiver Identitätskonstruktionen im popularen Imaginarium aus, Messi dagegen, wenn auch »ein guter Junge, bescheiden angesichts dessen, wer er ist, hat mehr mit dem Spektakelfußball zu tun, mit Europa, mit den harmonischen und sauberen Fußballplätzen, die wie Billardtische aussehen und nichts mit den unseren zu tun haben (die oft nicht herzeigbar und voller Gewalt und Kriminalität sind, aber auch Träger des Gedächtnisses des potrero).«163 Zwar wird vereinzelt versucht, eine Deutung Messis als pibe stark zu machen, der wie del que ha raspado en vano la cacerola unas cuantas temporadas (morocha escualidez que en Barcelona no se consigue).« 162 Ricardo Forster: Maradona y nosotros. Página/12, 6.7.2010. http://www. pagina12.com.ar/diario/elpais/1-148911-2010-07-06.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 163 Ebd.
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ein Kind von der Freude am Spiel bestimmt werde und für den Verträge oder sonstige »professionelle« Beweggründe jenseits dieser rein intrinsischen Motivation keine Bedeutung hätten.164 Dennoch bleiben die Kommentare verhalten und weit entfernt davon, ihn als »neuen Maradona« einzuführen. Dagegen überwiegen jene Meinungen, welche Maradona zuschreiben, weiterhin »die wahre 10 am Platz« zu sein.165 Dies wird verbunden mit einer Zeitkritik: Messi sei nicht nur nicht Maradona, weil ihm dazu der nötige »Charakter« fehle, sondern auch, weil er Produkt einer anderen Welt sei, in der die individuellen Helden mit ihren ausgeprägten Eigenheiten hinter der Betonung funktionaler Flexibilität und gesichtsloser Anpassung an die Anforderungen des »Systems« zurücktreten. Pablo Cheb Terrab deutet in Un Caño unter dem Titel »Die postmoderne Weltmeisterschaft« Messis »Scheitern« in dieser WM daher als Symptom einer globalisierungsbedingten Entwicklung. Der soziale Wandel zeige sich im Fußball im Fehlen herausragender Spieler reflektiert, die sich eine Mannschaft »auf ihre Schultern nehmen« könnten, wie dies noch Platini, Pelé oder Maradona taten.166 In dieser Argumentation wird ein kollektiv orientiertes Spielsystem mit einer »herrschenden sozialen Struktur« in Verbindung gesetzt, in der nur Effizienz und Geschwindigkeit zähle und die Individuen produziere, »die sehr schnell ausgebildet werden, und sehr wenig über sehr viele Dinge wissen«.167 Partizipative Dynamik und Polyfunktionalität werden als Paradigmen des modernen Fußballs herausgestellt und mit Spanien und Deutschland insbesondere europäischen Mannschaften als Leitlinien zugeschrieben. Im übertragenen Sinn dienen diese Artikulationen dazu, eine westliche Ideologie des inhaltslosen Pragmatismus »ohne fixe Positionen« zu veranschaulichen und ihre nur scheinbare Ideologielosigkeit als Vorherrschaft eines alternativlos auftretenden Systems über seine Teile zu entlarven, deren individuelle Qualitäten entwertet und der multiplen Einsetzbarkeit untergeordnet würden. In derselben Linie äußert sich Caravario abfällig über die »Idee des Kurzpassspiels als Religion« mit »Hilfsarbeitern eines Dispositivs«, 164 Julio Boccalatte und Marcos González Cezer im Interview mit Eduardo Galeano: »Messi es el mejor del mundo porque sigue jugando como un chiquilín en su barrio«. Página/12, Suplemento Líbrero, 7.6.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/libero/10-5288-2010-06-07. html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 165 Miguel Rep: ¿DT o capitán? Página/12, 29.6.2010. http://www.pagina12. com.ar/diario/deportes/8-148470-2010-06-29.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 166 Pablo Cheb Terrab: El mundial posmoderno. Un Caño, Juli 2010, S.62f. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 9.7.2016). 167 Ebd.
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denen gegenüber er »Männer« bevorzuge, »[i]m Team, aber Männer letzten Endes. Mit eigenem Gewicht, mit Berufung zur Schönheit und zum Abenteuer.« Messi, an dessen Bedürfnisse angepasst sich die restlichen Teammitglieder wie verschiebbare Spielfiguren bewegen sollten, sei »eine Information der entwickelten Welt«, ausgebildet »in einer der weltweit mächtigsten Zweigstellen des Fußballs«.168 Die hohen Erwartungen an den Stürmerstar aus Barcelona scheiterten demnach, weil der Traum vom weltbesten Spieler schlichtweg die Übernahme eines europäischen Traumes gewesen sei, der nicht in einer organischen Beziehung zwischen Fußballheld und Fans entwickelt wurde, wie das noch bei Maradona der Fall gewesen sei, sondern auf unhinterfragten Expertenmeinungen beruhte. Die Abqualifizierung von Messi als »eigentlich europäischem« Spieler macht ihn zu einer wenig brauchbaren Identifikationsfigur für national-populare Bedeutungskonstruktionen. Er wird zwar gegen Vorwürfe verteidigt, dass er aufgrund mangelnder Verwurzelung in Argentinien die Nationaldress nicht »fühle«, doch ohnehin nur in Barcelona verwandle, bei der Nationalhymne nicht mitsinge und ein »pecho frío«169 sei.170 Diese Anschuldigungen werden beschwichtigend thematisiert, allerdings ist auffallend, dass sie im Gegensatz zu sonstigen Streitfragen der WM niemandem konkret zugeschrieben werden, gerade so als handle es sich um diffus kursierende Verdächtigungen, die keinem »Lager« direkt zugeordnet werden könnten.171 Anzunehmen ist, dass die genannten Kritiken auch aus dem eigenen Lager kamen, denn tatsächlich passt Messi wenig ins passionale Stereotyp. Das geht sogar so weit, dass Wainfeld sich auf Maradonas letzte Pressekonferenz nach der Niederlage beruft, »als er Lio Messi von Verdächtigungen bezüglich seines Engagements lossprach. Er sagte als Zeuge aus: Der Junge weinte, er hat ein Herz, er litt.«172 Messi scheint also »losgesprochen« werden zu müssen und die pro-kirchneristischen Kommentator/innen wollen oder können diese Lossprechung 168 Alejandro Caravario: Espérame mucho. Un Caño, Juli 2010, S.10–14 https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 169 Wörtlich »kalte Brust«. Bezeichnet werden damit Spieler, die nicht aus Identifikation mit dem Club oder der Nation heraus alles geben, sondern dem Spiel äußerlich gegenüberstehen und es als Profession betrachten. 170 Z.B. Victor Hugo Morales: Habemus esperanzus. Un Caño, Juni 2010, S.24. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n26 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 171 Kein Autor: Sobre cábalas y paralelos. Página/12, 25.6.2010. http://www. pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148218-2010-06-25.html (letzter Zugriff am 7.7.2016). 172 Mario Wainfeld: Cuatro bodas y un funeral. Página/12, 4.7.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148810-2010-07-04.html (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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nicht selbst übernehmen und zitieren lieber Maradonas Aussagen, anstatt selber explizit positive Bewertungen abzugeben. Die Schwierigkeiten in der Positionierung gegenüber Messi in den pro-kirchneristischen Medien müssen unter dem Gesichtspunkt des von ihnen konstruierten Gegensatzes »argentinische Passion vs. europäische Verwaltung« verstanden werden. Nicht nur ist das Klischee des »überschwänglichen latinos« in der Tat nicht so leicht auf Messi überzustülpen, zu viel Lob für ihn könnte vor allem der anti-kirchneristischen Seite in die Hände spielen und deren unterstellte Höherbewertung des »Europäischen« stützen. Ricardo Forster moniert bei seinem Auftritt in 6, 7, 8 am 20.6.2010 die einseitige Berichterstattung der »oppositionellen Medien« und beschreibt deren Diskurs am Beispiel von Fernando Niembro, Kommentator bei Canal 11, folgendermaßen: »Es war brutal, was er sagte. Der einzige, der existierte, war Messi, Maradona verstand nichts, der Rest des Teams war unsichtbar. Argentinien gewann fast zufällig und weil es vom Zauberstab eines Spielers berührt wurde, der in Wirklichkeit in Barcelona ausgebildet worden war.«173 Aussagen von pro-kirchneristischer Seite müssen daher mit der Schwierigkeit umgehen, zwar einerseits die mala onda der »hegemonialen Medien« durch eine dementsprechend positive Berichterstattung zu kontrastieren, ohne mit einer zu affirmativen Haltung zu Messi als Star der argentinischen Mannschaft am Ende unbeabsichtigterweise das Narrativ zu bedienen, das Land hinge sogar im Fußball von ausländischem Know-How ab. Diese Zwickmühle wird letztlich vermieden, indem historische Parallelisierungen mit Maradona im Sinne einer neuen Heldenkonstruktion explizit abgelehnt werden und vielmehr betont wird, dass Messi nicht wie Maradona sei, Bedeutungen von letzterem daher nicht auf ersteren übertragen werden könnten, gleichzeitig aber Messi als Folie benutzt wird, um Aussagen über Maradona zu aktualisieren und zu bestätigen. So wird mehrfach besprochen, wie ungerecht Messi am Feld behandelt werde, was er von gegnerischen Spielern und wegschauenden Schiedsrichtern zu erleiden habe, nur um dann sofort auf Maradona zu verweisen, der dies alles »am eigenen Leib erlebt« habe, und damit seinen Opfermythos zu reaktualisieren.174 Maradona selbst bezeichnet dies in einer Pressekonferenz als Rückkehr »zur Zeit von Gentile«.175 Diese Aussage wird wiederum in eine 6, 7, 8-Reportage eingebaut und ruft so die Erinnerung an das als ungerecht empfundene Ausscheiden bei der WM 1982 173 678 Domingo 20-06-10 (2 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=2j-mNXZmpz0 1:08–1:46 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 174 678 Domingo 20-06-10 (1 de 4) https://www.youtube.com/watch?v=SebmoerqfRk 47:12–47:47 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 175 Claudio Gentile war ein italienischer Verteidiger in Maradonas erster WM 1982, der ihn im Spiel der zweiten Finalrunde 23 Mal foulte und dafür nur eine gelbe Karte erhielt. Italien gewann und zog ins Semifinale ein.
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wach.176 Wie bei den anderen Spielern der argentinischen Nationalmannschaft zeigt sich auch am Beispiel Messis, dass die Charakteristiken der Teamspieler letztlich auf Maradona rückbezogen werden und dazu dienen, dessen Symbolgehalt zu vertiefen.
6.3 Handlungsanweisungen: Die Unhintergehbarkeit der popularen Identität Die Wiedergewinnung der popularen Würde ist das Diskursmuster, das sich als roter Faden auch durch die diskursive Bearbeitung der WM-Niederlage in den pro-kirchneristischen Medien zieht. In diesen werden das argentinische WM-Aus 2010 und die Ereignisse der Tage danach als symbolische Wiederherstellung der Legitimität der »schmutzigen« Anteile der argentinischen Identität interpretiert. Die Debatten über den angemessenen Umgang mit dem desaströsen Ausscheiden lassen daher anschaulich werden, welche Handlungsanleitungen für das Subjekt der populistischen Konstruktion aus der narrativen Konfiguration des Konflikts zwischen einer minderbewerteten »popularen Kultur« und einem von Verachtung für das Populare geprägten antagonistischen Außen folgen. Das Viertelfinalspiel der argentinischen Nationalmannschaft gegen Deutschland am 3.7.2010 in Kapstadt hatte mit einer herben 4:0-Niederlage für erstere geendet. Bei ihrer Rückkehr nach Argentinien tags darauf wurden Maradona und seine Spieler von je nach Quelle geschätzten 15.000–20.000 Fans am Flughafen von Ezeiza sowie vor dem Trainingszentrum der AFA im selben Ort empfangen und bejubelt. Diese Episode wird im pro-kirchneristischen Diskurs aufgegriffen und intensiv diskutiert. 6, 7, 8 strukturiert seine WM-Berichterstattung über drei Tage hinweg um dieses Ereignis. Die zugehörigen Videoclips titeln »Massenempfang des Nationalteams«177 oder »Die bewegende Unterstützung der Bevölkerung für das Nationalteam und für Diego«178 und stellen eine grandiose Stimmung beim Eintreffen der selección dar. Bilder von Menschenmassen, die den Bus mit den Nationalspielern umringen, werden von aufgeregten Fernsehsprechern kommentiert, die auf die vielen Flaggen, die Unmöglichkeit des Durchkommens und die überbordende Begeisterung der Menschen hinweisen und dies als Beweis dafür 176 678 28-06-10 (1 de 2) https://www.youtube.com/watch?v=jhEi8rDvHzI 33:39–34:22 (letzter Zugriff am 11.7.2016) 177 678 04-07-10 (1 de 2) https://www.youtube.com/watch?v=2Ak1A9QFwJ8 11:40–15:30 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 178 1 - 678 05/07/10 El conmovedor apoyo a la seleccion y a Maradona Parte 1 https://www.youtube.com/watch?v=sX7wriwxCNs 2:20–7:46 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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interpretieren, dass »die Zuneigung der Leute, die Freude, ihre liebevolle Sympathie« für das Nationalteam durch die Niederlage keine Minderung erfahren hätten. Vielmehr genieße »das Volk« diesen »einzigartigen Moment« und empfange die ausgeschiedene Mannschaft »wie Helden, wie eine Siegermannschaft«.179 Die Deutung der Episode von Ezeiza als Ausdruck der Zustimmung und Unterstützung für Maradona dient der Vertiefung des Gegensatzes zwischen dem »realen Land« und einem von den »hegemonialen Medien« konstruierten »virtuellen Land«. Dazu wird erneut eine Verknüpfung zu den Feierlichkeiten des Bicentenario hergestellt, die knapp sechs Wochen zuvor stattgefunden hatten und von pro-kirchneristischer Seite als populare Wiederlegung der mala onda und als massive Solidaritätsbekundung mit der Regierung gedeutet worden waren. Im Ausschnitt der Live-Berichterstattung des öffentlichen Fernsehens, die 6, 7, 8 am 4.7.2010 in seine Reportage einbaut, vermeldet ein sichtlich überwältigter Journalist vom AFA-Gelände in Ezeiza: »Stellen Sie sich vor, wie die 9 de Julio180 war, als das Bicentenario stattfand. Sie war voll. Also, das ist mehr oder weniger ähnlich.«181 »Ezeiza« wird auf eine Ebene mit dem Bicentenario gestellt, was die symbolische Aufladung des weiter zurückliegenden Ereignisses reaktualisiert und metaphorisch auf die neue Episode überträgt: die Menschen auf der Straße bestätigen mit ihrer Präsenz sowohl ihre Loyalität zu Maradona als Nationaltrainer als auch ihren Dissens mit der medialen Negativkampagne sowie ihre Zustimmung zum politischen Projekt des Landes. Der Tageszeitung Clarín wird eine »Operation Installation des Wortes ›Demütigung‹« in ihrer Berichterstattung vorgeworfen, weil sie zum 4:0 auf ihrer Ausgabe titelte: »Das Nationalteam schied gedemütigt aus der WM aus«.182 6, 7, 8 zeigt dieses Titelblatt zwei Tage hintereinander und stellt es den Bildern der Freudenkundgebung in Ezeiza gegenüber. Am 5.7.2010 heißt es im Kommentar der Reportage dazu: »Wie antipatriotisch muss man sein, um, anstatt zu titeln ›Argentinien verabschiedet sich von der WM‹, das Wort Demütigung als treibendes Argument zu wählen. Hat etwa nicht das ganze Volk bei jedem der Tore gelitten, dass jemand die Aufgabe übernehmen müsste, uns zu sagen, wie das zu interpretieren ist?«183 Gegenüber Clarín, dem pars pro toto 179 678 04-07-10 (1 de 2) https://www.youtube.com/watch?v=2Ak1A9QFwJ8 12:44–13:04 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 180 Hauptstraße in Buenos Aires. 181 1 - 678 05/07/10 El conmovedor apoyo a la seleccion y a Maradona Parte 1 https://www.youtube.com/watch?v=sX7wriwxCNs 2:27–2:35 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 182 2 - 678 05/07/10 Mundial: Todos contento menos uno. https://www.youtube.com/watch?v=2fRCiWsFpbE 0:04–0:26 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 183 Ebd., 0:27–0:54.
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für die antipopularen und nunmehr auch antipatriotisch definierten Kräfte, repräsentieren die 20.000 Fußballfans von Ezeiza »das Volk«, das seiner Identifikation auch im Angesicht des Scheiterns treu bleibt und in einer hegemonialen Operation mit dem gesamten demos gleichgesetzt wird.184 Auf den politischen Kontext übertragen werden hier Parallelen zum Schlagwort der recomposición política (etwa »politische Neuzusammensetzung«) wachgerufen, die nach den vielen Jahren des »Que se vayan todos«185 zu einem neuen Vertrauen der Menschen in die Politik geführt habe, sodass in einer staatsbürgerlich engagierten Identifikation mit den politischen Repräsentanten Werte verteidigt und nicht nur kurzfristig »funktionierende Lösungen« gefordert würden. Die Neuartigkeit dieser gewandelten Haltung in der fußballerischen Identifikation wird sowohl im historischen Vergleich mit früheren Weltmeisterschaften als auch in der Gegenüberstellung mit anderen Ländern vorgeführt.186 2010 wurde etwas anderes gewonnen als der WM-Pokal. Das völlig Neue, das die so ausführlich besprochenen Fans in Ezeiza im 184 Auffallend ist, dass in der pro-kirchneristischen Berichterstattung die sozialstrukturelle Zusammensetzung der Menschen in Ezeiza nicht thematisiert wird, während bei Demonstrationen gegen die Regierung regelmäßig auf Details wie den eleganten Kleidungsstil der Protestierenden hingewiesen wurde, um deren Forderungen als Eliteninteressen zu demaskieren. Auch der Spontaneitätsgrad des Spielerempfangs wird nicht explizit diskutiert. Laut regierungskritischen Medien war dieser vom kirchneristischen Bürgermeister von Ezeiza, Alejandro Granados, sowie dessen Sohn Gastón Granados, dem Präsidenten des Clubs Tristán Suárez, organisiert worden. Einzig Gustavo Veiga erwähnt dieses Detail am 11.7.2010 auch in Página/12, allerdings sehr zurückhaltend: die beiden hätten den Empfang des Nationalteams »stimuliert«, der trotzdem »auch etwas sehr Spontanes hatte.« http:// www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-149253-2010-07-11.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 185 »Alle sollen abhauen« war der Slogan der Demonstrationen während der Staatskrise 2001, der für eine radikale Ablehnung des gesamten politischen Systems stand. 186 Ein Bericht vom 5.7.2010 zeigt z.B. hintereinander die Ankunft der selección im Jahr 2002, 2006 und 2010. Während 2002 ein Nachrichtensprecher berichtet, dass die ankommenden Spieler von einem »Grüppchen« von 500 Personen erwartet würden, und für 2006 ein Zitat aus La Nación zeigt, dass Teile der Spieler die »sehr schmerzhafte Rückkehr« vermieden, indem sie direkt zu ihren europäischen Clubs zurückkehrten, vermitteln die Bilder von 2010 die bereits bekannte Deutung vom positiven Empfang und schließen mit einem Feuerwerk am nächtlichen Himmel. 1 678 05/07/10 El conmovedor apoyo a la seleccion y a Maradona Parte 1 https://www.youtube.com/watch?v=sX7wriwxCNs 3:09–4:24 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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pro-kirchneristischen Diskurs verkörpern sollen, ist die Verschiebung der Bewertungskriterien vom »Resultat« auf die »Form«. Diese Unterscheidung kann sowohl auf den Fußball als auch auf die Politik angewendet werden, wie ein Leserbrief in Página/12 verdeutlicht: »Man wird gewinnen oder verlieren, aber der Genuss liegt, wie im Leben, wie in der Politik, zuerst darin zu bestätigen, wer wir sind, als unsere Identität zu leugnen, um ein Resultat zu stehlen«,187 schreibt ein gewisser Mario Burgos. Deswegen wolle er auch, dass Maradona weiterhin Trainer der Nationalmannschaft bleibe, »um die Unsrige immer besser zu spielen.« Auch wenn »la nuestra«, die »typisch argentinische« Spielweise, nicht zum Sieg der Meisterschaft geführt hat, hat sie doch ihren Zweck erfüllt, nämlich die eigene Identität gegenüber von außen aufoktroyierten Handlungszwängen souverän zu behaupten. In der Debatte nach dem WM-Ausscheiden scheinen die Grenzen zwischen Maradona, dem national-popularen Projekt und der Nation Argentinien zu verschwimmen. Auf dem Spiel steht mehr als nur die Ehrenrettung des Trainers, mit ihm wird die Würde der popularen Identität verhandelt. 6.3.1 Identifikation im Scheitern als Verwirklichung popularer Würde Der Fußball bzw. Diego Maradona als zentrale Figur der WM werden in der Umdeutung der Niederlage als nationale Symbole des Popularen eingesetzt. Ihre Affirmation auch im Scheitern drückt metaphorisch die Treue zur eigenen Identität aus, die dem »wahren Volk« im Antagonismus zu denen, welche diese Identifikation nicht teilen, sein Fundament verleiht. Der Erfolg der WM misst sich somit an der Redefinition der konstitutiven Parameter der legitimen Gemeinschaft. Die politischen Subjekte der populistischen Formation zeichnen sich dadurch aus, die Bewertung einer Sache als Erfolg oder Misserfolg daran zu orientieren, ob diese zur Verteidigung der imaginären Einheit durch ihre symbolische Konsolidierung beigetragen habe. Von den Spielern, die in diesem Fall als Chiffre für »nationale Vertreter« zu lesen sind, wird daher nicht erwartet, ein bestimmtes Resultat zu »liefern«, als handle es sich um eine externe Austauschbeziehung. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, die Gemeinschaft als Totalität zu signifizieren und ihr dadurch Kohärenz zu verleihen. Die äquivalentielle Verbindung mit ihnen zeigt sich in der Unterstützung »in ihrem Schmerz«, der sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum affektiven Kollektiv qualitativ nicht von dem der Fans unterscheidet. Mario Wainfeld deutet die Manifestation dieser identifikatorischen 187 Mario Burgos: Carta de Lectores, Página/12, 9.7.2010 http://www.pagina12.com.ar/diario/cartas/24-149120-2010-07-09.html (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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Logik gar demokratietheoretisch. Nachdem »die große Masse des Volkes« Maradona als Trainer wollte, stellt er die Frage: »Kann sich das Volk irren? Und, im hypothetischen Fall einer affirmativen Antwort, ist es nicht angebracht, seine Forderungen demokratisch zu würdigen, kollektiv Verantwortung für die Folgen zu übernehmen und gute Stimmung zu machen?«188 Zwar lässt er die Fragen offen und bezeichnet sie als »profunde Dilemmata der politischen Philosophie«. Eingebettet in die Gesamtstruktur des pro-kirchneristischen Diskurses erscheinen die Aussagen Wainfelds aber als Wesensdefinition des Politischen im Sinne einer Willenserklärung, die nicht mit objektiven Kriterien auf ihre Sinnhaftigkeit befragt werden könne, weil sie nicht einer neutralen Aggregation von Einzelinteressen entspricht, sondern das fundierende Element in der Konstruktion des Volkes darstellt. Daher kann sich das Volk nicht »irren«, es kann nur aufhören, dieses Volk zu sein, wenn die hegemoniale Repräsentation als fundierendes Element nicht weiter gestützt wird und die popularen Subjekte zu ihren differentiellen Positionen zurückkehren. Die pro-kirchneristischen Kommentator/innen sehen in der Verteidigung des eigenen Fundaments trotz widriger Umstände die Erneuerung der popularen Würde. Damit sei die historische Tradition des exitismo189 gebrochen worden, was Eduardo Sigal, Staatssekretär für Amerikanische Wirtschaftsintegration und Mercosur, als Studiogast bei 6, 7, 8 mit einer politischen Identifikation assoziiert, die sich langfristig zur Unterstützung eines kollektiven Projekts verpflichte. So lobt er die »würdige« Reaktion der Fußballfans in Ezeiza auf das argentinische Ausscheiden mit der Begründung: »Wir können nicht nur mit dem Enthusiasmus eines Tages leben. Wir müssen ein Land aufbauen, das, auch im Sport, mittelund langfristig denkt.«190 Die Loyalität mit dem Team entspricht einer patriotischen Haltung auch im Politischen, die kollektive Entscheidungen und ihre Folgen solidarisch mitträgt. Kritisiert wird dagegen eine individualistische Haltung zur Nation, welche die Zugehörigkeit zu ihr in einer Art Konsumlogik nur solange affirmiert, solange dementsprechende Erfolgsleistungen das gewünschte Größengefühl bereitstellen können. 188 Mario Wainfeld: Cuatro bodas y un funeral. Página/12, 4.7.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148810-2010-07-04.html (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »¿Se puede equivocar el pueblo? Y, en el hipotético caso de respuesta afirmativa, ¿no corresponde democráticamente honrar sus demandas, hacerse cargo colectivamente de las consecuencias y tirar buenas ondas?« 189 »Éxito« heißt im Spanischen Erfolg, der »exitismo« ist daher die in der argentinischen Fußballgeschichte prägende »Erfolgsideologie«, welche jedes Resultat jenseits des ersten Platzes als Niederlage definiert. 190 1 - 678 05/07/10 El conmovedor apoyo a la seleccion y a Maradona Parte 2 https://www.youtube.com/watch?v=OF6xIQeNT7c 1:48–2:35 (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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Die vielstimmige Kritik der pro-kirchneristischen Kommentator/innen am exitismo (auch wenn dieser auf den »oppositionellen Journalismus« externalisiert wird191) lässt vermuten, dass die Sorge nicht unberechtigt ist, die Enttäuschung der überzogenen Erwartungen könnte Desidentifikation bewirken. In Página/12 wird daher nach der Niederlage in praktisch allen Kommentaren in fast wortgleichen Formulierungen betont, dass die Spieler »alles gaben«, dass ihnen daher »keine Vorwürfe« zu machen seien und ihnen »nichts als Applaus« gebühre.192 Maradona und die Nationalelf werden vom Schuldverdacht freigesprochen, indem die Niederlage zu einem schicksalshaften Ereignis umgedeutet193 oder die »bürokratischen Führungsspitzen« der AFA und das »sogenannte Fußballgeschäft« verantwortlich gemacht werden.194 Das gebührliche Gefühl sei folglich nicht Ärger, sondern Trauer, auch das wird der Leserschaft mehrfach vorgeschlagen. Wainfeld etwa macht den Topos des »morir con la nuestra«, der bedingungslosen Identifikation mit der eigenen Spielweise bis in den Tod, stark und fordert eine »Leidensfähigkeit«, deren Fehlen bei den Fans anderer Länder, die selbst im Angesicht der Niederlage ihres Teams noch ihre Trauer überbrechen würden, um in die Kamera zu grüßen, er »verabscheut«. Die argentinischen Fans lobt er dagegen dafür, nicht in diese »Charakterschwäche« verfallen zu sein, denn »es liegt etwas Schätzenswertes für das kreolische Volk in diesem ›morir con la nuestra‹.«195 Am Beispiel des Fußballs wird kulturelle Identität als primordial und unhintergehbar vorgeführt und daraus gefolgert, dass die Würde in der Niederlage darin bestehe, die Trauer stolz anzunehmen und auszuleben.196 Dadurch wird vermittelt, dass unabhängig davon, wie sich diese Identität ausgestaltet und 191 Z.B. Cecilia di Genaro: La era está pariendo un corazón. Un Caño, Juli 2010, S.8. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 192 Z.B. Juan Sasturain: Tristezas a la sombra de una nariz. Página/12, 4.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148832-2010-07-04.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 193 Mario Wainfeld: Cuatro bodas y un funeral. Página/12, 4.7.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148810-2010-07-04.html (letzter Zugriff am 11.7.2016); Víctor Hugo Morales: De fantasmas y melancolías. Un Caño, Juli 2010, S.4. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 11.7.2016). 194 Osvaldo Bayer: Una jornada para aprender. Página/12, 4.7.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148808-2010-07-04.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 195 Mario Wainfeld: Cuatro bodas y un funeral. Página/12, 4.7.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148810-2010-07-04.html (letzter Zugriff am 11.7.2016). 196 Ebd.
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aufgrund neuer Ereignisse verändert, eine Reartikulation der Bindungen nicht möglich sei. Der Wert des eigenen Kollektivs müsse daher unter allen Umständen verteidigt werden, da die Zugehörigkeit alternativlos ist. Das vermittelt auch Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner, die in die Debatte nach der Niederlage erstmals aktiv involviert ist. Ihre Botschaft an Maradona mit den Worten »Halte durch, Maradona, Nationalteam, halte auch durch, Argentinien!«197 schließt mit dem Begriff des »aguante«198 an das Bild der bedingungslosen Loyalität an und wurde als Unterstützungserklärung für die Kontinuität Maradonas als Nationaltrainer interpretiert, nachdem dieser öffentlich seine Rücktrittspläne angekündigt hatte. Während in den regierungskritischen Medien ein mögliches Interesse der Kirchnerregierung an der Zukunft Maradonas diskutiert wird, wird im pro-kirchneristischen Diskurs eine direkte politische Verknüpfung der Frage einer Vertragsverlängerung für Maradona aber nicht angesprochen. Einzig Gustavo Veiga thematisiert, dass die Aussagen der Präsidentin die Kontinuität Maradonas als »Staatsangelegenheit« erscheinen ließen, relativiert sie aber als »Empathie« mit Diego, die daher eine »eher emotionale als politische Unterstützung« bedeuteten.199 Auch Fernández de Kirchner geht im Moment der kollektiven Trauer im popularen Subjekt passionaler Identifikation auf, die Motive ihrer Verteidigung der popularen Würde unterscheiden sich nicht von denen der gesamten Gemeinschaft. Die grundlegende Botschaft der Verknüpfung von Trauer und Würde ist, dass das Volk »verlieren lerne«, indem es statt Vorwürfen Solidarität zeige. Mit dieser Argumentation wird die diskursive Normalisierung bedingungsloser Identifikation in den auf Fußball bezogenen Aussagen etwa in den 6, 7, 8-Studiodiskussionen verallgemeinert und in einen politischen Rahmen eingebettet. Die populare Gemeinschaft wurde durch die Niederlage nicht in ihrer Einheit berührt, das wird als Zeichen dafür gewertet, dass die politische und soziale Situation in einem guten 197 Cristina Fernández de Kirchner äußerte sich zum WM-Ergebnis bei einem öffentlichen Akt in San Miguel. 6, 7, 8 zeigt am 5.7.2010 die Aufnahme von Visión 7, der Nachrichtensendung des öffentlichen Senders Canal 7, von dem auch 6, 7, 8 ausgestrahlt wird: 1 - 678 05/07/10 El conmovedor apoyo a la seleccion y a Maradona Parte 1 https://www.youtube.com/watch?v=sX7wriwxCNs 4:24–4:52 (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »¡Aguante Maradona, selección, aguante Argentina también!« 198 »Aguante« ist schwer ins Deutsche zu übersetzen, mögliche Äquivalente sind Durchhaltevermögen, Ausdauer und Beharrlichkeit. »hacerle el aguante a alguien«, also »jemandem den aguante machen« ist Synonym für »jemanden ermutigen, anfeuern, unterstützen«. 199 Gustavo Veiga: El futuro de la Selección tiene más dudas que certezas. Página/12, 26.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/libero/10-5383-2010-07-26.html (letzter Zugriff am 11.7.2016).
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Zustand sei. Nicht nur Diego, auch das »Volk« wisse, wie man verliert, dazu hätten die allgemeine »gute Stimmung« und der niedrige Frustrationspegel beigetragen.200 Das würdevolle Verhalten der argentinischen Fußballfans bei der WM 2010 ist damit Bestätigung für einen erneuerten Nationalstolz, der den Glauben an das abgewertete »Eigene« ermöglicht. 6.3.2 Die Affirmation der argentinischen »Mentalität der Extreme« Dies leitet zu einem weiteren Narrationsstrang über, in den nach dem argentinischen WM-Ausscheiden die positive Reaktion der Fangemeinschaft gegossen wird. »Ezeiza« wird zu einer stolzen Affirmation der negativen Stereotype, die sich die Argentinier/innen selbst zuschreiben, umgedeutet. Das Selbstbild als »Land der Extreme« ist in Alltagsdiskursen zur argentinischen Idiosynkrasie tief verankert. Die eigene Geschichte wird als alternierende Abfolge von »Hochs« und »Tiefs« vorgestellt, in der es nicht gelinge, zu einem stabilen Gleichgewicht zu gelangen, bisherige Errungenschaften zu konsolidieren und vergangene Fehler zu vermeiden. Zwei Tage nach der Niederlage gegen Deutschland titelt Ricardo Forster in Página/12 »Maradona und wir« und entfaltet die These von Maradona als Symbol eines Landes, das sich in einer Art Pendelbewegung zwischen Triumphen und Katastrophen bewegt. Er beschreibt seine Lebensgeschichte als eine von glorreichem Aufstieg und entsetzlichen Abgründen und parallelisiert: »Es ist etwas von uns allen in diesem maradonianischen Zickzackkurs, etwas von diesem Spiel mit den Extremen, das die argentinische Geschichte von jeher geprägt hat. Eine Grammatik des Exzesses, eine Leidenschaftlichkeit, für die man einen extrem hohen Preis bezahlt, wenn die Stunde der Niederlage kommt, aber die uns erlaubt hat, mit einer einzigartigen Intensität zu genießen, wenn die Tage des Jubels kamen.«201
Die Beschreibung lässt bereits erkennen, dass Forster keineswegs dafür plädiert, den Lauf der argentinischen Geschichte in weniger dramatische 200 678 04-07-10 (1 de 2) https://www.youtube.com/watch?v=2Ak1A9QFwJ8 18:42–19:15 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 201 Ricardo Forster: Maradona y nosotros. Página/12, 6.7.2010. http://www. pagina12.com.ar/diario/elpais/1-148911-2010-07-06.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »Hay algo de todos nosotros en el zigzagueo maradoniano, algo de ese juego con los extremos que ha venido marcando la vida argentina desde siempre. Una gramática del exceso, un fervor por el que se paga un altísimo precio cuando llega la hora de la derrota, pero que nos ha permitido disfrutar con una intensidad única cuando llegaron los días del júbilo.«
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DIE SYMBOLISIERUNG DES POPULAREN IM MEDIALEN DISKURS DER WM
Bahnen zu lenken. Im Gegenteil: »Dieses tiefe Gewebe zu bedauern, das uns konstituiert, erscheint mir etwas Leeres, Substanzloses und nicht Wünschenswertes.«202 Vielmehr dient Maradona als Spiegel, in dem die argentinische Nation sich wertschätzend erkennen und mit sich selbst versöhnen soll, um den eigenen Charakter anzunehmen und produktiv zu machen. Denn wie Maradonas Biographie veranschaulicht, hat ihn gerade der Mangel an Mittelmaß an die Spitze geführt, der ebenso paradigmatisch für den argentinischen Weg ist: »Etwas des Extremen, das Diego immer begleitet hat, scheint Rechenschaft abzulegen von unseren Wechselfällen, als ob das Gleichgewicht und der Konsens nicht zu uns passten. Alles oder nichts.«203 Wie sehr Maradona mit seinem wechselhaften Werdegang tatsächlich einen leeren Signifikanten der »Argentinität« darstellte und über Jahrzehnte die sinnhafte Deutung einzelner und kollektiver Schicksale in seiner Figur ermöglichte, drückt Pablo Castillo in seinem schlicht »Diego« betitelten Kommentar nach der WM-Niederlage aus: »Über mehr als zwanzig Jahre hinweg lasen wir anhand der Nummer Zehn die Formen, in denen persönliche, sektorielle und kollektive Projekte gestaltet und vereitelt wurden.«204 Maradonas Lebensgeschichte rührt an einen breiteren kulturellen Konflikt, weil er ein Idol mit Fehlern und Schwächen ist, dessen Verehrung eine Rehabilitation der Imperfektion bedeutet. Maradona ist ein »schmutziger Gott«, als solchen bezeichnet ihn zumindest Eduardo Galeano und führt das so aus: »Er ist der menschlichste der Götter, weil er wie ein jeder von uns ist. Arrogant, ein Schürzenjäger, schwach… Wir alle sind so! Wir sind aus menschlichem Schlamm gemacht, sodass sich die Leute gerade deswegen in ihm wiedererkennen. Er ist kein Gott, der uns vom Himmel herab seine Reinheit zeigt und uns straft. [...] Das erklärt sein Ansehen. Wir erkennen uns in ihm, in seinen Tugenden, aber auch in seinen Fehlern.«205 202 Ebd., spanisches Original: »Arrepentirse de esa trama profunda que nos constituye me resulta algo vacuo, insustancial e indeseable.« 203 Ebd., spanisches Original: »Algo de lo extremo, de eso que siempre acompañó a Diego, parece dar cuenta de nuestras vicisitudes, como si no nos convinieran el equilibrio ni el consenso. Todo o nada.« 204 Pablo Castillo: Diego. Página/12, 7.7.2010. http://www.pagina12.com. ar/diario/laventana/26-148999-2010-07-07.html (letzter Zugriff am 12.7.2016), spanisches Original: »Durante más de veinte años, leímos a través del 10 los modos en que se configuraban y se frustraban proyectos personales, sectoriales y colectivos«. 205 Julio Boccalatte und Marcos González Cezer im Interview mit Eduardo Galeano: »Messi es el mejor del mundo porque sigue jugando como un chiquilín en su barrio«. Página/12, Suplemento Líbrero, 7.6.2010. http:// www.pagina12.com.ar/diario/suplementos/libero/10-5288-2010-06-07.
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DIE UNHINTERGEHBARKEIT DER POPULAREN IDENTITÄT
Maradona stellt kein makelloses Vorbild dar wie etwa die próceres der argentinischen Nation, der Kanon der mythisch überhöhten Gründerväter, gerade deswegen eignet er sich als besetzbares Identifikationsobjekt.206 Sein Symbolgehalt liegt in der Affirmation der berretada, dem argentinischen Slangwort für eine mangelhaft ausgeführte Aktivität oder eine Sache von schlechter Qualität, die in autodefinitorischen Erzählungen denn auch als steter Begleiter der argentinischen Wesensart beschrieben wird. Alejandro Caravario greift in Un Caño diese idiosynkratischen Charakterisierungen positiv auf, wenn er den Nationaltrainer als »guten Zeremonienmeister, Hohepriester des großen Spektakels der Modernität« inszeniert, der sich nicht mit »technischer Reinheit« oder »vollständiger Beherrschung« aufhalte, sondern auf Drama und Emotion setze.207 Diese Darstellung ermöglicht es, als »typisch argentinisch« konstruierte Eigenschaften, denen eine abwertende Konnotation anhaftet, ins Anerkennenswerte zu wenden und als bewunderungswürdig zu betrachten. Mehr noch, die Apologie des Extremen wird im pro-kirchneristischen WM-Diskurs so weit getrieben, dass das grandiose Scheitern als etwas erscheint, was man dem eigenen Ruf schuldig sei. »Maradona ist die letzte große argentinische Erzählung« verkündet 6, 7, 8-Diskutant Carlos Barragán unter Berufung auf den Schriftsteller Osvaldo Soriano. Deswegen könne man den WM-Ausgang doch auch positiv sehen, denn ein 0:4 passe zu einer großen Erzählung, wozu im Vergleich ein 0:1 doch »etwas lauwarm« gewesen wäre.208 Auch wenn die provokante Aussage vom restlichen Panel durch allgemeines Gekichere abgeschwächt wird, ist die Botschaft platziert: Maradona optiert für die überwältigende Niederlage anstatt für die ambitionslose Mitte. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, lautet das Fazit dieser Reaktualisierung des maradonianischen Topos. Das Scheitern zu vermeiden würde heißen, die Erzählung des Exzesses aufzugeben, die neben niederschmetternden Katastrophen ja in gleichem Maße auch immer die Möglichkeit der Glorie beinhalte. Die Bewunderung für das klischeehaft überzeichnete Epos Maradonas entspricht auf html (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »es el más humano de los dioses, porque es como cualquiera de nosotros. Arrogante, mujeriego, débil... ¡Todos somos así! Estamos hechos de barro humano, así que la gente se reconoce en él por eso mismo. No es un dios que desde lo alto del cielo nos muestra su pureza y nos castiga. [...] Eso explica su prestigio. Nos reconocemos en él por sus virtudes, pero también por sus defectos.« 206 Mario Wainfeld: ¿Fiesta o siesta? Página/12, 11.6.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/elpais/1-147401-2010-06-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 207 Alejandro Caravario: El sueño de los heroes. Un Caño, 13f. https://issuu. com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 208 678 04-07-10 (1 de 2) https://www.youtube.com/watch?v=2Ak1A9QFwJ8 36:50–37:32 (letzter Zugriff am 12.7.2016).
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den politischen Kontext übertragen einem Plädoyer für ambitionierte und kompromisslose Wege. Alles andere wäre »lauwarm« und würdelos. Der Vorteil der Symbolfigur Maradona gegenüber anderen Ikonen, die ebenfalls diese Mentalität des Extremen verkörpern könnten, besteht in seinen unabweisbaren Erfolgen selbst nach Phasen der tiefsten Krisen. Teil seiner mythischen Geschichte ist der Glaube daran, dass Maradona nicht zu vernichten sei, auch nach in höchstem Maße selbstzerstörerischen Episoden immer wieder auftauche und sich neu erfinde. Während der WM 2010 wird Maradona häufig als gereift, souverän und respekteinflößend inszeniert, indem etwa seine optische Veränderung seit seinen Jahren der Drogenabhängigkeit betont wird.209 Die Forcierung und Positivbewertung seines exzessiven Charakters und ihre politische Artikulation stützt sich daher auf die Prophezeiungen, Maradona »komme immer wieder zurück«. Das relativiert die Fatalität der Niederlage, die vielmehr »angemessen für die maradonianische Erzählung«210 sei und lediglich die Frage aufwerfe: »Wann und wie und wo wird Maradona wieder auferstehen?«211 Nachdem die Entscheidung des argentinischen Fußballverbandes bekannt wurde, Maradona nicht weiter als Nationaltrainer zu verpflichten, zeigt 6, 7, 8 am 28.7.2010 unter dem Titel »Unglaubliche Ungerechtigkeit« unter anderem einen Interviewausschnitt mit Fernando Signorini, der Teil von Maradonas Trainerstab war. Auf die Frage eines Journalisten, ob Diego erneut die Beine abgeschnitten worden seien, antwortet Signorini: »Ja, aber sie werden wieder wachsen.«212 Das Bild aktualisiert Maradonas Opfermythos vom WM-Ausschluss 1994, den er mit dem historisch gewordenen Satz »Sie haben mir die Beine abgeschnitten« prägte, und fügt ihm gleichzeitig einen Verweis auf die Machtlosigkeit der »Täter« hinzu, die das von ihnen bekämpfte Symbol der popularen Rebellion nie endgültig bezwingen können. Maradona ist als ewiger Phönix aus der Asche in der Lage, die historischen Niederlagen der popularen Schichten auf hoffnungsvolle Weise zu verkörpern. Dass Maradona sich neu begründen wird, ist die zentrale metaphorische Aussage für den symbolisch dargestellten politischen Zusammenhang. »Das Populare« fällt zwar mitunter den Widrigkeiten seiner prekären Existenz zum Opfer, aber es kehrt immer wieder zurück. 209 Z.B. Miguel Rep: ¿DT o capitán? Página/12, 29.6.2010 http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-148470-2010-06-29.html (letzter Zugriff am 12.7.2016); Orlando Barone: 678 04-07-10 (1 de 2) https://www. youtube.com/watch?v=2Ak1A9QFwJ8 32:50–33:42 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 210 678 28-07-10 (2 de 3) https://www.youtube.com/watch?v=WbhxXBiMJzA 10:34–11:20 (letzter Zugriff am 12.7.2016). 211 Ebd., 11:37–12:57. 212 Ebd., 2:54–3:42.
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Kulturelle Topoi dienen als Transportmittel für hegemoniale Neueinschreibungen. Als solche verändern sie in der Reartikulation ihren Bedeutungsgehalt. Das Beispiel der »abgeschnittenen Beine« zeigt, dass es nicht lediglich um die Herstellung einer reinen Kontinuität geht. Es ist nicht Ziel der diskursiven Artikulation, die ewige Wiederholung der Geschichte des Scheiterns zu zeigen. Über das bloße Anknüpfen an eine mythische Tradition hinaus wird versucht, diese erneuert in die Gegenwart zu versetzen. 2010 ist anders als 1994, denn »das Volk«, in diesem Fall dargestellt durch Fernando Signorini, hat gelernt, dass auf jeden Rückschlag ein größerer Sieg folgt. Diesmal wird das national-populare Symbol nicht sinnlos geopfert, sondern auch in der Niederlage verteidigt.213 Der Erfolg der WM liegt aus der pro-kirchneristischen Sicht der Dinge in der Schwächung des »hegemonialen« Diskurses. »Fútbol para Todos, das Mediengesetz, das Fest des Bicentenario, die Mystik, mit der Maradona überraschte, sind vielleicht die Vorgeschichte, die bewirkt hat, dass diese WM – für viele, und sogar in der Niederlage – mit revolutionärem Auftreten begeisterte«, fasst di Genaro zusammen.214 Deswegen hatte der Bewerb »ein Ende, das viele von uns zufrieden zurückließ und uns gerne glauben lässt, dass die Vergangenheit uns nicht verurteilt. Denn die Rechnung war schon positiv, bevor das Turnier begann, weil die Flagge schon eine andere war, anders als die, die wir zu sehen gewohnt sind.«215
213 Matías Godio: Batalla de identidades en el planeta del fútbol. Página/12, 11.7.2010. http://www.pagina12.com.ar/diario/deportes/8-149254-2010-07-11.html (letzter Zugriff am 12.7.2016). 214 Cecilia di Genaro: La era está pariendo un corazón. Un Caño, Juli 2010, S.8. https://issuu.com/revistauncanio/docs/n27 (letzter Zugriff am 11.7.2016), spanisches Original: »El Fútbol para Todos, la Ley de Medios, la fiesta del Bicentenario, la mística con la que sorprendió Maradona son quizás los antecedentes que hacen que este Mundial se haya vibrado - para muchos, e incluso en la derrota - con aires revolucionarios.« 215 Ebd., spanisches Original: »tuvo un final que a muchos nos dejó satisfechos y con ganas de seguir pensando que el pasado no nos condena. Porque la cuenta ya daba positivo antes de que el torneo empezara, porque la bandera ya era otra, distinta a la que estamos acostumbrados a ver.«
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7. Populistische Symbolpolitik in der Reflexion der diskursiven Eliten 7.1 Die symbolische Konstruktion Maradonas Die politisch-kulturellen Artikulationen des regierungsunterstützenden WM-Diskurses finden ihr Zentrum in Maradona als Trainer der argentinischen Nationalmannschaft. Er ist die symbolische Achse, um die sich die antagonistischen Konfliktlinien in den medialen Auseinandersetzungen organisieren. Dieser Protagonismus Maradonas als besondere Charakteristik der WM 2010 hat zur Folge, dass ihre gesamte politische Aufladung an seine symbolische Konstruktion geknüpft ist. Im Folgenden sollen die zentralen Topoi diskutiert werden, die in den Interviews mit pro-kirchneristischen Intellektuellen, Journalisten und Aktivisten ausgehend von der Figur des Nationaltrainers aktualisiert und in ihrer narrativen Konfiguration mit politischer Bedeutung versehen werden. 7.1.1 Maradona als Symbol des populistischen Bruchs Die distinktiven Merkmale, mit denen Maradona von den regierungsunterstützenden Vertretern beschrieben wird, konstruieren ihn als personifizierten Widerspruch gegen die »Mächtigen«. Diese Darstellung zieht sich in ähnlichen und beständig wiederkehrenden Zuschreibungen durch alle Narrationen. Maradona ist irreverent, transgressiv und konfliktorientiert, er befindet sich ständig im Konflikt »mit der Welt der Macht«,1 fordert das »Establishment« auf unverschämte Weise heraus und stellt es mit seinen streitbaren Aussagen in Frage. Dazu werden in den Erzählungen anerkennende Anekdoten eingestreut, von seinen verbalen Entgleisungen bei Pressekonferenzen bis zu seiner Beleidigung des Papstes, dem er die verschwenderischen Goldverzierungen im Vatikan vorwarf.2 Durch Vergleiche mit anderen gegenhegemonialen Symbolfiguren von Evita über Che Guevara bis zu Robin Hood wird sein Status als Ikone der Transgression bekräftigt.3 Eine längere Passage aus dem Interview mit dem Journalisten Hernán Brienza zeigt beispielhaft die Art und Weise der narrativen Strukturierung:
1 2 3
Wainfeld 87. Bosto 123–125; Etchemendy 43–46. Mocca 211f., 436–441; Etchemendy 96; Ortiz 244–246.
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»Und außerdem ist er sehr anfechterisch, normalerweise stellt er die Mächtigen in Frage. Er stellt die Mächtigen der FIFA in Frage, er stellt den Mächtigen der AFA in Frage,4 er stellt in vielen Fällen die ökonomische Macht in Frage, er hat sich den Che und Fidel tätowiert, er ist ein antisystemisches Symbol, wenn man so will, oder ein Anti-System-Symbol. Auch wenn er keine revolutionäre diskursive Konstruktion hat, ist seine symbolische Aufladung an sich revulsiv in dem Sinn, dass er das Etablierte durcheinanderbringt. Vielleicht konstruiert er nichts anderes, aber er bringt das Etablierte durcheinander. Das ist vielleicht die große Metapher Maradonas«.5
Maradona wird als unangepasster Rebell inszeniert, der kein Blatt vor den Mund nimmt und so den Status quo zumindest ins Wanken bringt. Damit übersteigt er seine Bedeutung als Sportler und wird zu einem Symbol des populistischen Bruchs, das den Antagonismus zwischen »Volk« und »Macht« verkörpert. In den Erzählungen der kirchneristischen Intellektuellen wird dies durch den Hinweis auf den »Hass der Mächtigen« untermauert, den Maradona auf sich ziehe. Die Darstellung der Ablehnung und Verachtung Maradonas durch die Oberschicht ist zentraler Bestandteil seiner symbolischen Konstruktion als Repräsentant des populistischen Bruchs, denn sie bestätigt, dass er als Stachel im Fleisch der Macht fungiert und infolgedessen von dieser verfolgt wird. Nach Edgardo Mocca, Politikwissenschaftler und Moderator der kirchneristischen Fernsehshow 6, 7, 8, wurden Maradonas sportliche Erfolge zu einer »Beleidigung für die dominanten Klassen«, denn er »kommt aus einer sehr niedrigen Klasse, und die Wut dieser Klassen gegen die Ungerechtigkeiten und vor allem gegen die Verachtung, gegen die Misshandlung, die in der Gesellschaft von oben kommt, hat er zum Kochen gebracht«.6 Die Anfeindungen, die Maradona zu erleiden habe, machen ihn außerdem zu einer Verkörperung des Subalternen. »Die Rechte mag Diego nicht besonders. Sie nennt ihn einen unwissenden negro«, erklärt Pablo Ortiz, Aktivist der kirchneristischen Jugendorganisation La Cámpora, und folgert daraus: »Die Sache ist die, dass Diego die Stimme derer ohne Stimme ist. Diego ist die Stimme des Volkes, das keinen Zugang zum Sprechen hat.«7 Maradona wird über den Hass der Mächtigen gegen ihn als popularer Transgressor und als Symbol des Widerstands inszeniert, gleichzeitig nimmt er damit eine Verkörperungsfunktion für das »Volk ohne Stimme« ein und gibt diesem ein Gesicht: Das »Volk« wird in der Identifikation mit Maradona als ein vom politischen 4 5 6 7
Gemeint ist Julio Grondona, der damalige Präsident der Asociación del Fútbol Argentino. Brienza 32–38. Mocca 218–211. Ortiz 230–233.
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Repräsentationsraum ausgeschlossenes und im Antagonismus mit der Macht befindliches konstruiert. Die kirchneristische Regierung dagegen steht ebenfalls auf der Seite des Volkes, denn sie wird vom antagonistischen Feind mit Maradona identifiziert. Der regierungsnahe Philosoph und Essayist Ricardo Forster dazu: »In der Vorstellungswelt der realen Macht ist der Populismus immer Demagogie, Betrug, Mangel an Ernsthaftigkeit, Nichteinhaltung der Gesetze usw. usw. Klar, Maradona steht für Irreverenz, Transgression und all das, also sind Populismus und Maradona natürlich das Gleiche. In diesem Fall die kirchneristische Regierung und Maradona«.8
Die Artikulation politischer und kultureller Elemente des Popularen hat zur Folge, dass die nationale Regierung eben nicht mit der Macht identifiziert wird, sondern mit ihrem Gegenteil. Im Gespräch mit Ricardo Forster war dies – insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Kirchnerismus zum Zeitpunkt des Interviews bereits neun Jahre an der Regierung war – bereits zuvor Auslöser eines Missverständnisses, woraufhin Forster spezifiziert: Mit den »Sektoren der Macht« meine er nicht »die politische Macht«, sondern »die Macht des Establishments, die hegemoniale Macht«, konkreter gesagt »die Medienkonzerne«.9 Der schwierige Spagat eines »Populismus an der Macht« wird in dieser Darstellung durch eine Argumentation bewältigt, die diesem wiederum Machtlosigkeit gegenüber den »wirklich« hegemonialen Gruppen der Gesellschaft zuschreibt. Dem dient der begriffliche Behelf der »realen Macht« als Gegenstück zur Kirchnerregierung, die dadurch weiterhin Teil des Volkes sein kann. Solcherart sind die Positionen in der antagonistischen Konstellation klar verteilt. Die Legitimität der »populistischen Seite« wird gesichert, indem der Kirchnerismus mithilfe der Begriffe Irreverenz und Transgression mit Maradona gleichgesetzt wird. Letzterer kondensiert in seiner Figur das Populare und das Nationale zugleich. Er stellt sowohl »eine sentimentale Synthese des argentinischen Volkes«10 als auch eine »Metapher des Nationalen«11 dar. So repräsentiert er eine spezifische Form der »Argentinität«, welche das Populare in einer hegemonialen Repräsentation als Definitionskriterium der nationalen Gemeinschaft setzt und an welcher der Kirchnerismus durch die gemeinsame Mentalitätsprägung teilhaben kann.
8 9 10 11
Forster 548–551. Ebd. 478–486. Mocca 181f. Brienza 20.
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7.1.2 Das »Tor mit der Hand Gottes«: die Widersprüchlichkeit der »Argentinität« Diese spezifische Form der national-popularen Argentinität kristallisiert sich im Topos vom »Tor gegen die Engländer«, das in den Interviews häufig als Grund für Maradonas Status als nationale Ikone genannt wird.12 Das erste Tor im Viertelfinalspiel gegen England bei der Fußballweltmeisterschaft 1986 in Mexiko, das Maradona mit einem vom Schiedsrichter nicht sanktionierten Handspiel erzielte, spielt eine wichtige Rolle im nationalen Mythenhaushalt. Einerseits ist der Sieg gegen England aufgrund des damals vier Jahre zurückliegenden verlorenen Krieges um die Falklandinseln ideologisch überfrachtet und stellt für den nationalen Selbstwert eine Art fußballerische Kompensation der militärischen Niederlage dar.13 Andererseits konsensiert das Tor »mit der Hand Gottes«, wie Maradona später selber formuliert, das Motiv der argentinischen viveza criolla (»kreolische Gerissenheit«), der als kulturell typisch festgeschriebenen Unterwanderung moralischer Codes durch Schwindel oder Trickserei. Dadurch ist Maradona »ein Held für einen Gutteil der Bevölkerung, aber [ein Held] einer bestimmten Argentinität, einer national-popularen, auch das Schlechteste der Argentinität. Das heißt, der pícaro, der ein Tor mit der Hand macht, er repräsentiert all das.«14 Maradona ist ein pícaro, ein gewitzter Betrüger, der auf gerissene, subversive Weise den überlegenen Feind schlägt. So wird er zum Synonym der popularen Transgression, die er durch sein »Tor mit der Hand Gottes« als schlitzohrige Rebellion inszeniert. In ihm verknüpft sich das Motiv von »David gegen Goliath« mit dem verschmitzten, schlawinerhaften Genießen, das aus dem Widerstand eine kreative Kunst macht. Beide Pole, leichtfüßiges Talent und subversiver Betrug, machen im kollektiven Gedächtnis der Argentinier/innen gewissermaßen die Eckpunkte der viveza criolla aus. Neben der transgressiven Dimension und der Anti-Establishment-Konnotation impliziert die viveza criolla vor allem auch Widersprüchlichkeit. Die national-populare Argentinität ist »auch das Schlechteste der Argentinität«, heißt es im obigen Zitat. Die Verkörperung dieser Widersprüchlichkeit wird Maradona aufgrund seines exzessiven Lebensstils zugeschrieben, aber auch wegen seiner wechselnden politischen Positionierungen und seiner bisweilen skandalösen Äußerungen, die seinem »impulsiven« bzw. »instinktiven« Charakter geschuldet seien.15 Diese Widersprüchlichkeit in der symbolischen Konstruktion Maradonas steht 12 13 14 15
Z.B. Forster 216f. González 165–167; Mocca 404–407. Etchemendy 68–70. Bosto 133–137.
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für Unangepasstheit und inszeniert ihn als undiszipliniertes Subjekt. Die Koexistenz von Triumph und Scheitern in seiner Lebensgeschichte und die fehlbare, unvollkommene Seite seiner Persönlichkeit sind dabei bedeutsam für das national-populare Narrativ. Dem Soziologen und Leiter der argentinischen Nationalbibliothek Horacio González zufolge verkörpern Fußballspieler das Populare »vor allem, wenn sie gescheitert und schon zurückgetreten sind, und alles verloren haben, nachdem sie den Ruhm hatten. Das sind Figuren des Popularen.«16 Dementsprechend vergleicht Forster Maradona sowohl mit der brasilianischen Spielerlegende Mané Garrincha, der »spielte wie er lebte, frei und gleichzeitig verprassend, was er verdient hatte, [und] in Armut starb«,17 als auch mit dem ehemaligen argentinischen Nationalspieler René Houseman, der trotz seiner Erfolge zeitlebens in einem Armutsviertel gewohnt habe und nach Ende seiner Karriere Gelegenheitsarbeiten beim Club Huracán verrichte.18 Die Unfähigkeit zu einem vernünftigen Umgang mit Geld und der Rückfall in die Armut als Folge eines maßlosen Lebens scheinen hier positiv besetzt. Dies gilt ebenso für den Mangel an Disziplin. Die »schlußendlich schlechte Anpassung an den europäischen Fußball« des argentinischen Fußballspielers Juan Román Riquelme deutet Forster als »eine gewisse libertäre Haltung, die von jenem kommt, der die Wurzeln des potrero aufrechterhält«19 20 Forster sieht die Unangepasstheit Garrinchas, Housemans und Riquelmes in Maradona kondensiert und schließt daraus: »Maradona repräsentiert auf gewisse Weise auch den, der bleibt, der irgendwie die Werte des Popularen hat.«21 Das »Verbleiben« in der Herkunft ist positiv besetzt, weil es zeigt, dass der fußballerische Held die Verbundenheit zu seinen Wurzeln nicht verliert, sich 16 17 18 19 20
González 316–318. Forster 221f. Ebd. 231–235. Ebd. 238f. Die Bewunderung für Riquelmes Inkompabilität mit dem System ist kein Einzelfall. 2011 hatte Carlos Tévez bei einem Champions League-Spiel seiner Mannschaft Manchester City die Einwechslung und in Folge auch eine Entschuldigung dafür verweigert. Nachdem er monatelang gesperrt war, kehrte er 2012 schließlich nach Buenos Aires zum Club Boca Juniors zurück. Die argentinische Medienberichterstattung hatte diese Ereignisse mit äußerst wohlwollenden Kommentaren begleitet. Gleiches gilt für Ariel Ortega, als dieser 2003 seinen Vertrag mit Fenerbahçe Istanbul platzen ließ und von der FIFA dafür mit einer Sperre und einer hohen Geldstrafe belegt wurde. Das eigenwillige Beharren auf den eigenen Vorstellungen und die fehlende Bereitschaft zur Unterordnung bei Konflikten mit dem Trainer werden als national-populare Qualitäten verstanden, die über den Fußball hinaus Wirkmächtigkeit haben. 21 Forster 235–240.
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von seiner Vergangenheit in einem Armenviertel nicht löst, diese vielmehr in ihm fortbesteht und ihn immer wieder einholt. Was ebenso als Weigerung oder Unfähigkeit zur Weiterentwicklung interpretiert werden könnte, gilt als »Repräsentation des Popularen« und wird romantisch überhöht. Argentinien, das Land der Extreme: die Parallelität von Genie und Exzess Auf den Identitätsdiskurs des Landes übertragen entspricht dies der »typisch argentinischen« Widersprüchlichkeit, die sowohl auf persönlicher als auch auf kollektiver Ebene als Hängenbleiben in der Herkunft und ständige Wiederholung der immergleichen Fehler verstanden wird. In medialen, populärwissenschaftlichen und Alltagsdiskursen wird häufig der argentinische »Nationalcharakter« zur Erklärung herangezogen, um die eigene Geschichte in einen sinnhaften Rahmen zu betten. Argentinien wird als quasi einzigartiges Land in der Weltgemeinschaft beschrieben, das es trotz eines schier unermesslich vorgestellten Reichtums immer wieder geschafft habe, von der eigentlich vorherbestimmten Größe ins wirtschaftliche Disaster zu schlittern (Armony/Kessler 2004: 91f., 98–103). Maradona drückt insofern das aus, was die Argentinier/innen »leider« sind. Gleichzeitig erlaubt er, diesen Topos vom »Land der Extreme« positiv zu besetzen, weil seine Figur die Parallelität von Exzessivität und Genialität versinnbildlicht. In einer Studie zu subjektiven Deutungen der argentinischen Nation und nationaler Zugehörigkeitsgefühle wählt ein Teilnehmer auf die Frage nach einem Symbol des Landes Maradona und begründet das so: »Er hat ein bisschen was von dem, was wir sind, nicht? Er hat die Gabe, er hat das Talent, er hat die Rebellion, könnte man sagen. Er hat die Anomie, er hat die Selbstzerstörung, ich finde, er ist eine Figur.« (Grimson/Amati 2007: 529)22 Wenn Maradona bescheinigt wird, das Beste und das Schlechteste der »Argentinität« in sich zu vereinen, kommt ihm die Funktion zu, ein kulturelles Phänomen zu repräsentieren. Maradona leistet eine Aussage über »die Argentinier/innen« in ihrer kulturellen Eigenheit, die politische Bedeutung hat. In Maradona als Spiegel wird es möglich, die eigene Widersprüchlichkeit positiv umzudeuten. Die wahrgenommenen Fehler oder »Übel« der argentinischen Mentalität werden in ein einzigartiges und damit zumindest außergewöhnliches und bewundernswertes Identitätsmerkmal verkehrt, dem widerständige Bedeutung und 22 Spanisches Original: »Tiene un poco de lo que somos, ¿no? Tiene el don, tiene el talento, tiene la rebeldía si querés. Tiene la anomia, tiene la autodestrucción, me parece que es una figura.«
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kreatives Potential zugeschrieben wird: »Maradona ist mehr als ein Fußballer, mehr als ein Held wegen der Sache mit den Engländern, er ist eine kulturelle Persönlichkeit. Mit einer gewissen Subversion und einer gewissen Argentinität im guten wie im schlechten Sinn.«23 Die positiv gewendete Widersprüchlichkeit, die Maradona verkörpert, wird in der Folge auch dem Peronismus bescheinigt, der damit ebenfalls als Inbegriff der »Argentinität« erscheint: »Diego ist Argentinien. In dem Sinn, dass Diego sehr widersprüchlich ist. Wie der Peronismus. Du hast vorher zu mir gesagt, wie kann es sein, dass der Peronismus in derselben Bewegung rechts und links hervorbringt, oder so gute Leute und so schlechte Leute? Na, das argentinische Volk und Argentinien hat diese Geschichte.«24
Während Pablo Ortiz Maradona mit Juan Domingo Perón vergleicht, weil beide aufgrund ihrer Widersprüchlichkeit in gleicher Weise Liebe und Hass provozierten, streicht Horacio González die Ähnlichkeiten zwischen Maradona und Cristina Fernández de Kirchner hervor, die beide in ihrer Art des Sprechens jegliche Tabus und Schamgrenzen überschritten.25 Implizit wird Fernández de Kirchners konfrontativer Politikstil so mit Maradonas transgressivem Charakter assoziiert und durch die Verknüpfung auf der Seite des Popularen positioniert. So wie Maradona »das Vaterland in kurzen Fußballhosen«26 ist, ist der Kirchnerismus die politische Kraft, welche die kulturell spezifische Widersprüchlichkeit des Argentinischen affirmiert und verteidigt, während die Rechte Maradona und das Populare ablehnt und mit der fehlenden »Ernsthaftigkeit« des Populismus gleichsetzt.27 7.1.3 »Villa Fiorito« als anti-neoliberales Sinnbild der Treue zur Herkunft Mit der Bedeutsamkeit der Herkunftsverbundenheit bereits angeschnitten wurde ein weiterer zentraler Topos, der sich in der Charakterisierung Maradonas als »Ausdruck von Villa Fiorito« zeigt. Maradona wurde 1960 in Villa Fiorito geboren, einem armen, proletarisch geprägten Viertel der Provinz Buenos Aires.28 Die Armut seiner Kindheit ist ein zentraler 23 24 25 26 27 28
Etchemendy 119–121. Ortiz 221–224. Ebd. 234–238; González 144–147. Brienza 42. Forster 540–548. Der Begriff »villa« wurde ursprünglich neutral zur Bezeichnung städtischer Siedlungsgebiete im Sinne von »neighbourhood« verwendet. Heute wird er
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Bestandteil seines Mythos. Nicht nur kehrt Maradona selbst seine einfache Herkunft und seine Verbundenheit mit den ehemaligen Nachbarn, der Familie etc. immer wieder hervor, auch in der medialen Darstellung seiner Figur wird Villa Fiorito sehr häufig genannt und ist damit praktisch zum Synonym für Maradona geworden. Der Verweis auf seinen niedrigen sozialen Status bekräftigt seine Repräsentativität als popularer Held (Dini 2001: 64). Wie jeder Topos entfaltet aber auch dieser vielfältige Bedeutungen. In den analysierten Interviews zeigt sich vor allem eine konservative Schlagseite, die positiv als Bewahrung traditioneller Werte und Identitäten des Popularen gegen globalisierungsbedingte Transformationsprozesse artikuliert wird. Dies zeigt sich zuallererst in der Charakterisierung Maradonas als bodenständig und bescheiden, die seine Verbundenheit mit den eigenen Wurzeln unterstreicht. Befragt nach den Gründen für die Popularität des Idols erklärt Diego Bosto, ein junger Aktivist der kirchneristischen Gruppierung Corriente Nacional y Popular: »Maradona ist in einer villa geboren, er ist in Villa Fiorito geboren. Villa Fiorito ist eine der, sagen wir, vernachlässigten Zonen Argentiniens, deswegen wurde er in der argentinischen Öffentlichkeit immer als ein Junge aus dem Viertel betrachtet. Er ist so wie das, was wir hier die Leute nennen, die nicht hoch zu Ross sitzen.«29
Trotz seiner erfolgreichen Karriere und seiner weltweiten Berühmtheit ist Maradona nicht eingebildet oder aufgeblasen, und sein impulsives, ungeschminktes Verhalten scheint mit seiner Herkunft zusammenzuhängen, die trotz seines Aufstiegs in ihm präsent bleibt. Der Journalist Mario Wainfeld beschreibt die Bedeutung Maradonas als »repräsentativ in einem common sense, dass er kein Typ ist, der Millionen Dollars verdient hat, sondern vielmehr ein Typ aus dem Viertel, der die Welt bereist hat«.30 Maradona hat natürlich sehr wohl Millionen verdient, dies soll in der Aussage auch nicht geleugnet werden. Der Aufstieg von der Armut in den Reichtum ist aber nicht das, was ihn »ausmacht«. Was ihn ausmacht, ist das Bild von »Villa Fiorito«, in dem Treue und Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft transportiert werden. Die politischen Implikationen dieser idealisierenden Darstellung erschließen sich aus ihrer Umkehrung und damit der Charakterisierung des »schlechten«, anti-popularen Subjekts. Deutlich wird dies in einer Aussage Ricardo Forsters, der Maradona mit dem brasilianischen Ex-Fußballspieler Pelé vergleicht. Während Maradona »immer noch Ausdruck vielfach mit den villas miserias assoziiert, obwohl weiterhin nicht jedes urbane Gebiet, das »villa« in seinem Namen trägt, ein Elendsviertel ist (Vgl. Alabarces 2010: 165f.). 29 Bosto 119–122. 30 Wainfeld 58–60.
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von Villa Fiorito« ist, ist Pelé für ihn »ein Mann des Establishments. [...] Pelé ist wie ein Überläufer seiner eigenen Klasse. Er ist ein Emporkömmling, er ist ein opportunistischer Aufsteiger.«31 Mit dem Verweis auf das »Establishment« wird die antagonistische Spaltung zwischen »Volk« und »Anti-Volk« evoziert und anhand der beiden Biographien veranschaulicht. Der Vorwurf an Pelé, die günstige Gelegenheit genützt und aus seiner ursprünglichen Herkunftsklasse ins bürgerliche Lager übergewechselt zu haben, entspricht dem Vorwurf der Rücksichtslosigkeit und des Egoismus an alle nicht-popularen Schichten. Am Beispiel Maradonas dagegen werden Solidarität und Identifikation als typisch populare Werte ausgezeichnet. Die metaphorische Übersetzung wird noch klarer, wenn Forster an einer späteren Stelle Maradonas »Treue zu seinen Eltern« mit den Rücküberweisungen der Arbeitsmigrant/innen in Buenos Aires parallelisiert und von den individualistischen Lebensentwürfen der Mittelschicht abgrenzt.32 Die finanzielle Unterstützung der aus dem Landesinneren bzw. ärmeren Nachbarländern kommenden Migrant/innen sichere die Existenz ihrer zurückgebliebenen Familien, während für die Mittelschicht Herkunftszugehörigkeit kein handlungsleitender Wert mehr sei: »Die Mittelschicht geht weg, führt ihr Leben und ja, sie erinnert sich an ihre Eltern, aber sie hat nicht diese Solidaritätsprinzipien. Das ist vor langer Zeit verloren gegangen, weil es eine Schicht ist, die viel stärker an ein individualistisches Prinzip gebunden ist. Daher repräsentiert Maradona auf eine Art auch die Erinnerung an die Herkunft [...]. Also durchzieht er transversal die argentinische Gesellschaft, aber er ist viel mehr bei den popularen Schichten beheimatet. Und nicht bei den oberen Mittelschichten. Die oberen Mittelschichten fühlen viel mehr unter Anführungszeichen Scham angesichts des Bildes von Maradona.«33 34
Die Identifikation der Mittelschichten mit »europäischen Werten« wird durch die Verknüpfung mit ihrer Beschämung für Maradona quasi als Aufkündigung einer Solidarverpflichtung gegenüber der eigenen Kultur interpretiert, die als minderwertig betrachtet und »zurückgelassen« 31 32 33 34
Forster 223–226. Ebd. 523–529. Ebd. 534–541. Der Begriff »clase media« wurde sinnentsprechend zu seiner Verwendung im argentinischen Kontext durchwegs mit »Mittelschicht« übersetzt. Adrián Piva nennt den Begriff »eine Art Sack, wo alles endet, was weder in ›Bourgeoisie‹ noch in ›Arbeiterklasse‹ passt« und bestimmt ihn für Argentinien als soziokulturelle Kategorie, die auf eine bestimmte Gruppe von Lohnempfänger/innen mit dem klassischen Kleinbürgertum ähnelnden Haltungen und Handlungsorientierungen und auf eine damit verbundene politische Identität verweist (Piva 2015: 222–225).
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wird. Dies verweist auf eine zentrale Thematik des argentinischen Identitätsdiskurses: die Überidentifikation mit der »Ersten Welt« und speziell Europa und die damit verbundene Verachtung des Eigenen. Der Konflikt zwischen »Volk« und »Establishment« wird so einmal mehr soziokulturell übersetzt und in den Disput um die Auf- oder Abwertung des Popularen eingebettet. Während die »Mittelschicht« die eigene Herkunft aus einem peripheren Land als schmutzig empfindet und möglichst schnell abzuschütteln und zu vergessen trachtet, zeichnet sich das »wahre Volk« durch kollektive Bindungen und Solidarbeziehungen aus und lebt Gesellschaft als Gemeinschaft. Horacio González interpretiert Maradonas Inszenierung seines Privatlebens in ähnlicher Weise, wenn auch weniger sentimental, als Verweis auf einen »sehr archaischen Bereich des familiären Lebens und der Erinnerung an das frühere Leben der Entbehrung«.35Mit der Selbstdarstellung als Familienmensch, etwa dem häufigen Schwören auf seine Töchter zur Bekräftigung einer Aussage, repräsentiere Maradona die konservative argentinische Familie und ihre Werte. Hier deutet sich ein Gegensatz zwischen einer auf Basis von sozialen Nahverhältnissen strukturierten Gesellschaft und einer Gesellschaft atomistischer Individuen an. Diese Opposition findet sich in anderen Interviews auf die politische Ebene übertragen, wenn Maradonas Status als Referenzfigur für die Identifikation mit der Nation betont wird, um diese als erweiterte Familie darzustellen. Erzählt werden dazu diverse Heldenanekdoten, die jeweils als Beweis für Maradonas »amor a la camiseta« bewertet werden.36 Die »Liebe zum Trikot« gilt als unabdingbarer Bestandteil der Anforderungen an einen argentinischen Fußballspieler, um als legitimer Vertreter der Nation aufzutreten. Die negative Kontrastfolie zur Identifikation mit dem Nationalen stellt die Priorisierung der eigenen Interessen dar. Typisch ist daher auch die Formulierung »morir por la camiseta« (»für das Trikot sterben«) zur Würdigung von Spielern, die maximalen Einsatz am Platz zeigen. Paradigmatisch dafür steht Maradonas Einsatz bei der Weltmeisterschaft 1990 mit einem entzündeten und stark geschwollenen Knöchel.37 Die heutigen individualisierten Spieler werden dieser Forderung nach unbedingter patriotischer Liebe dagegen nicht mehr gerecht, sie seien vielmehr »da oben« und gebärdeten sich wie »Rockstars«, wie der kirchneristische Funktionär Sebastián Etchemendy ätzt.38 Die narrative Strukturierung stellt ein ursprüngliches goldenes Zeitalter einer Gegenwart der nationalen Entwurzelung und der kulturellen Indifferenz gegenüber, für die insbesondere die Globalisierung des 35 36 37 38
González 154f. Z.B. Forster 128–130. Bosto 108–110. Etchemendy 158f.
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Spielermarktes verantwortlich gemacht wird. Während die Spieler früher für lange Perioden demselben Team treu geblieben und zumindest jahrelang in den heimischen Ligen aufgebaut worden seien, bevor sie gegebenenfalls ins Ausland wechselten, hätten die heutigen Topfußballer mit argentinischer Nationalität teilweise kaum Spielvergangenheit im eigenen Land. Die frühe Emigration kappt die Möglichkeit zum Aufbau einer affektiven Beziehung zwischen Fußballer und Fan.39 Paradigmatischer Fall der »entfremdeten« Beziehung zwischen den argentinischen Spielern im Ausland und der fußballbegeisterten Bevölkerung ist Messi, der nicht einmal zu Beginn seiner Karriere in einem argentinischen Club spielte, weil er bereits als Jugendlicher nach Barcelona emigrierte. Dementsprechend ist seine »Liebe zum Trikot« zweifelhaft und sein Potential als nationaler Held beschränkt: »Messi vermittelt halt hier nicht viel. Er vermittelt nichts, weil Messi ein Spieler ist, der nie im argentinischen Fußball gespielt hat. Sondern er ist vielmehr mit elf, zwölf Jahren von hier weggegangen, und in Barcelona führte er, sagen wir, dort hatte er seine ganze Familie schon in Spanien. Daher finden die Leute ihn fremd, sie finden ihn kalt, weil alles, was Messi erobert hat, hat er in Europa erobert.«40
Auch wenn Messi ein außergewöhnlicher Spieler ist, werden seine Erfolge nicht als die der Nation empfunden. Trotz seiner glänzenden Performance in Europa hat er außerdem für die argentinische Nationalmannschaft bislang nur mäßige Ergebnisse geliefert. Es wird ihm daher immer wieder vorgeworfen, das Trikot nicht zu »fühlen«, also mangels authentischer Identifikation mit der argentinischen Nation nicht mit derselben Passion zu spielen wie in Barcelona. In diesen Erzählungen erscheint er ähnlich wie die individualistische Mittelschicht in Forsters Beschreibung, die sich zwar an ihre Herkunft erinnert, aber keine Rücküberweisungen schickt und die Zurückgebliebenen ihrem eigenen Schicksal überlässt: »Der argentinische Fan sieht eben, wie Messi alles gewinnt, was ihm angeboten wird und was er in Europa spielt, und wenn er zur argentinischen Nationalmannschaft kommt, klappt es nicht so gut, wie es in Europa klappt.«41
Die mangelnde Möglichkeit der Fanidentifikation mit den früh emigrierten Topspielern wird als problematisch erachtet, weil dadurch die Solidarität mit dem Nationalteam in Zeiten des Misserfolgs brüchiger werde.42 39 40 41 42
Bosto 88–93. Ebd. 68–72. Ebd. 83–85. Ebd. 99–101.
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So wird die Fangemeinschaft zu einer zerstreuten Menge von »Kund/ innen«, die sich von der Nationalmannschaft abwenden bzw. zu besseren »Anbietern« wechseln, wenn über längere Zeit Erfolge ausbleiben. Dies erinnert an den pro-kirchneristischen Mediendiskurs nach der Niederlage gegen Deutschland, der Kritik an der selección als mangelnden aguante der »anti-popularen Medien« delegitimierte und demgegenüber Treue zur eigenen Identität einforderte, die als würdevolle Affirmation des abgewerteten Eigenen auch in den politischen Zusammenhang gestellt wurde. Die verklärte Darstellung einer »guten alten Zeit« im Fußball, in der die Spieler noch »für das Trikot starben« und die Fans noch eine bedingungslos identifizierte Schicksalsgemeinschaft bildeten, überhöht soziologisch gewendet die Werte der herkunftsbezogenen Zugehörigkeiten und der lokalen Solidarbeziehungen und evoziert eine peronistische Nationsvorstellung als organischen Familienzusammenhang popularer Subjekte. Die populare Nation des Peronismus ist nicht als Zusammenschluss staatsbürgerlicher Individuen konstruiert, sondern als Übersetzung persönlicher Bindungen und kommunitärer Werte in einen größeren Maßstab, die am Topos des popularen Stadtviertels als Sehnsuchtsort traditionell-urbaner Kollektive veranschaulicht werden. Die diskursive Inszenierung von Villa Fiorito und die daran anschließende Kritik an den gesellschaftlichen Individualisierungsprozessen haben damit die metaphorische Funktion, die Ziele der kirchneristischen Bewegung als Projekt einer Restauration alter Werte affirmativ zu veranschaulichen. Maradona als »Ausdruck von Villa Fiorito« versinnbildlicht diese alte Welt. Vor dem Hintergrund der Feststellung, dass alle großen argentinischen Spieler heute im europäischen Fußball tätig seien, folgert Forster: »Es ist, als wäre Maradona das Scharnier, nicht? Der Schlusspunkt und die Eröffnung einer neuen Epoche. Das letzte der großen Idole.«43 Der letzte große Überlebende einer mythologisierten Ära wird damit zur Verkörperung einer restaurativen Politikvision. Seine Rückkehr als Trainer 2010 steht symbolisch für das Versprechen der Wiederherstellung des »goldenen Zeitalters«. Messi, das systemkonforme Subjekt des 21. Jahrhunderts Besonders anschaulich wird die Funktion Maradonas als imaginärer Horizont einer verlorenen Gemeinschaft in den Interviewstellen, in denen Messi mit ihm verglichen wird. Wie weiter oben gezeigt wurde, wird Messi als nationale Symbolfigur durchaus ambivalent betrachtet. Mit seiner frühen Emigrationsgeschichte in seiner »Argentinität« umstritten, kann er das populare Zugehörigkeitsgefühl als Widerstand in einer 43 Forster 72–74.
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globalisierten Welt durchökonomisierter Beziehungen nicht verkörpern. Messi stellt zudem einen Gegenpol zu Maradona dar, weil er introvertiert und verantwortungsvoll ist. Im Vergleich zur »plebejischen« Ikone Maradona, die mit dem »Tor gegen die Engländer« für Transgression steht, macht ihn das zu einer problematischen Symbolfigur. Die Rolle des argentinischen Nationalhelden passt außerdem nicht zu ihm, weil er die dafür zentrale Anforderung des leadership nicht erfüllt. Bosto kritisiert im Interview die ständigen Vergleiche zwischen Messi und Maradona als Unart, um dann selbst fanatische Lobeshymnen über letzteren auszuschütten, bevor er zu Messi meint: »Messi ist ein Spieler, der meines Erachtens kein besonderes Charisma hat. [...] Natürlich wird er der beste Spieler der Welt sein und ist es sicherlich heute, daran habe ich keinen Zweifel, aber um Führer Argentiniens zu sein, wird er doch noch einige Zeit brauchen, glaube ich.«44 Hier wird beispielhaft ein Argumentationsmuster deutlich, das sich in ähnlicher Weise in vielen Aussagen wiederfindet. Wie um ein mögliches Gegenargument vorwegzunehmen, wird eingeräumt, dass Messi natürlich ein großartiger Spieler sei, um gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass ihm aber Maradonas Qualitäten auf persönlicher Ebene fehlten. So auch Mario Wainfeld: »Maradona ist das größte Idol. Er ist unumstritten. Und das ist er nicht deswegen, wie er mit dem Ball spielt, sondern wie er spricht. Das heißt, zu sagen, dass Messi besser spielen könnte, ich glaube nicht, dass er besser spielen könnte als Maradona, aber wenn er besser spielen würde, ist es egal. Denn Maradona hat gesprochen.«45
Pragmatischere Beobachter halten zumindest für möglich, dass Messi à la longue ein »neues Modell argentinischer Idole« in die Wege leitet. Bei entsprechenden Erfolgsleistungen im nationalen Fußball könnte er als »Mann von unauffälligem Profil, von höherem Verantwortungsbewusstsein, nicht so exzentrisch und expansiv wie Maradona« eine andere Mythologie der argentinischen Spielerfigur begründen.46 Gerade diese Möglichkeit mag allerdings die teilweise starken Vorbehalte Messi gegenüber erklären, die auch der Historiker Martín Bergel wahrnimmt und folgendermaßen deutet: »Viele wollen nicht, dass Messi so groß wird wie Maradona. Das ist wirklich ein leiser Wunsch vieler. Denn Maradona zu verdrängen, heißt den zu verdrängen, der diese so wichtige Rolle für die nationale Erzählung spielt, das Tor gegen die Engländer. Ich nehme bei einigen Freunden wahr, dass sie Messi widerwillig würdigen. Sie sind widerwillige Fanatiker, es fällt ihnen 44 Bosto 110–116. 45 Wainfeld 62–65. 46 Brienza 136–141.
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schwer, Messi zu lieben, im Unterschied dazu, dass es ihnen nicht schwer fällt, Maradona zu lieben.«47
Abseits davon überwiegen die Stimmen derer, die in Bezug auf Messi betrauern, dass dieser den Protagonismus Maradonas nicht einnehme. Auch das wird in den Interviews in eine nostalgisch rückwärtsgewandte Erzählung des Verlusts integriert. Messi sei ein Kind seiner Zeit, ihm »fehlt das, was Diego hat«, weil dessen Ära in den 1980er Jahren auch eine andere Welt gewesen sei.48 Genauere Auskunft über die gegensätzlichen Bedeutungen Messis und Maradonas als Vertreter zweier »Epochen« gibt eine Schlüsselstelle im Interview mit Sebastián Etchemendy: »Messi ist viel weniger subversiv. Er ist viel weniger Führer, Maradona war mehr Organisator, mehr Kapitän. Maradona brauchte das Team weniger. [...] Maradona ist 20. Jahrhundert, er ist ein Che Guevara, die Rebellion, der Mai ’68, wie man es nennen will, die Rebellion gegen das Establishment, kann man sagen. Messi ist 21. Jahrhundert. Das ist keine Kritik an Messi. Messi spielt Fußball und geht nach Hause. Er spricht von nichts anderem, er ist ein absolut irrelevantes Wesen, wenn er nicht Fußball spielt. Du hörst ihn reden und denkst, dass er ein einfacher Junge ist. Maradona ist sehr intelligent, er ist wirklich ein Führer, er ist sehr anfechterisch, deswegen ist er 20. Jahrhundert.«49
Maradona wird mit Begriffen konnotiert, die allesamt auf eine Vergangenheit popularer Kämpfe verweisen. Als Symbolfigur des 20. Jahrhunderts steht er für eine politisch radikale Zeit emanzipatorischer Bewegungen, während Messi als Vertreter des 21. Jahrhunderts das angepasste neoliberale Subjekt verkörpert, das sich teamfähig und flexibel der beständigen Selbstoptimierung widmet und keinerlei Ansprüche auf Intervention in gesellschaftliche Zusammenhänge stellt. Deutlich wird daran auch die starke Führerzentriertheit des national-popularen Politikverständnisses. Während Wainfeld Maradonas Aussagen in ihrer Erinnerungswürdigkeit denen der früheren Staatspräsidenten Perón und Alfonsín gleichstellt und Etchemendy eine Liste gebräuchlicher Redensarten aufzählt, die allesamt auf Maradona zurückgingen, ist eine starke Enttäuschung darüber auszumachen, dass Messi die Sehnsucht nach einer mythischen Führerfigur nicht erfülle.50
47 48 49 50
Bergel 209–214. Ortiz 341–345. Etchemendy 92–101. Wainfeld 79–81; Etchemendy 101–117.
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7.1.4 Der Mythos der argentinischen Größe: Maradona als Metapher der recuperación Die Transgression einer Regel in Maradonas Handtor von 1986 stellt nach Horacio González den »primordialen Moment« im Mythos Maradonas dar.51 Er konstatiert zwar auch, dass alle Bemühungen scheiterten, diesen primordialen Moment wiederherzustellen, so auch der jüngste Versuch der Fußballweltmeisterschaft 2010. Allerdings beruht die symbolische Produktivität des Mythos nicht auf seiner »realen« Einlösung. Der imaginäre Horizont der maradonianischen Konstruktion bleibt notwendigerweise unerreichbar, er reaktualisiert sich aber während der WM und dient der Mobilisierung popularkultureller Diskurse zur Darstellung politischer Utopien. Maradona steht für die verlorene Größe Argentiniens und für eine »vollständige« Gemeinschaft, die einmal gegeben schien. In den Interviews wird dies anhand von Narrationen konkretisiert, die seine Geschichte als Spieler zu einem Sinnbild des Aufstiegs und des anschließenden Verlusts der argentinischen Größe verarbeiten. Obwohl durchwegs nach den aktuellen Bedeutungen von Fußball gefragt wurde, holen einige der Gesprächspartner aus dem pro-kirchneristischen Lager weit aus, um die Bedeutung der Euphorie vor und während der Weltmeisterschaft 2010 zu erklären, und betten ihre Aussagen in eine Geschichte des argentinischen Fußballs ab 1978 ein. Die Zeit vor dem ersten WMSieg Argentiniens wird kaum oder höchstens episodisch erwähnt. Die Erfolgsstory des Nationalteams scheint mit dem Sieg 1978 wie mit einem Paukenschlag zu beginnen, an den eine rasante Zeit der Erfolge und des Größenrausches anschließt, die schließlich durch eine endlose Abfolge sportlicher Frustrationen und den Abgang Maradonas beendet wird: »[1978] wurde Argentinien Weltmeister und ab da begann sich ein Fanatismus der Argentinier für den Fußball abzuzeichnen. [...] Vor allem ab dem Jahr 1986, als der Trainer Bilardo war – und Argentinien gelangte sehr in Zweifel gezogen in diese WM, weil der gesamte hiesige Journalismus und die Fans dieses Nationalteam in Frage stellten, weil es nicht gut spielte und weil es manchmal ungewöhnliche Spiele verlor, gegen hierarchisch untergeordnete Rivalen. Aber gut, Maradona hatte 1986 eine außergewöhnliche WM und ab da entstand ein gewaltiger Fanatismus für ihn und eine sehr tiefe identitäre Beziehung zwischen den Leuten und diesem Nationalteam. Bis es dann in der WM von 1990 Vizeweltmeister wurde, was auch ein großer Sieg ist, und dann eine Abfolge von Enttäuschungen, in denen Argentinien nie mehr nicht einmal ins Finale oder in ein Semifinale kommen konnte, sondern es ist immer im Viertelfinale ausgeschieden.«52 51 González 165f. 52 Bosto 28–48.
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Durchaus bedeutsam ist die Betonung der Tatsache, dass Maradona gerade mit einem mittelmäßigen Team den Meistertitel holte. Er »übernimmt« quasi die Mannschaft und führt sie zum Sieg. Dies zeigt eben seine Qualitäten als líder, die bei Messi vermisst werden. Bedeutsam ist auch, dass die ab 1990 ausbleibenden Siege so besonders schmerzhaft sind, weil sie an eine Periode überwältigender Erfolge anschließen, welche die Vorstellung der argentinischen Favoritenrolle im Fußball installiert hatten: »Bis Menotti53 zum Nationalteam kam, gab es nie wirklich große Erwartungen an ein argentinisches Nationalteam. [...] eigentlich beginnt die wirkliche Geschichte der Nationalmannschaften 1978 mit Menotti. Also die Zeit, in der der argentinische Fußball spürt, dass er in der Auseinandersetzung der weltbedeutenden Nationalteams Gewicht hat und dass er Spieler hat, mit denen er in die WM kommen und gewisse Erwartungen haben kann, reale Chancen, aber dann kommen die aufeinanderfolgenden Enttäuschungen.«54
Forster spricht wohl selbst als Vertreter des exitismo, also der Erfolgsideologie im Fußball, wenn er ein »Syndrom szenischer Unmöglichkeit in den Weltmeisterschaften« ausmacht, weil doch alle Mannschaften titelverdächtig gewesen seien und »ohne jede Schwierigkeit« hätten siegen müssen, dann aber doch immer wieder frühzeitig ausschieden.55 Dieses Paradox scheint wie ein Fluch auf der argentinischen Performance bei internationalen Bewerben zu lasten und führt regelmäßig zu einer »Art von vorherigem Unbehagen«,56 die jede Weltmeisterschaft aus Fanperspektive zu einer aufreibenden Mischung aus übersteigerten Größenphantasien und fatalistischen Vorahnungen macht. Als Abwehrreaktion auf diese belastende Situation dient vielen offensichtlich die Desidentifikation mit dem Nationalteam. Auf die Frage nach aktuellen nationalen Identifikationsfiguren in der selección antwortet Pablo Ortiz: »Es ist halt so, dass wir eine schlechte haben. Also, Argentinien im Fußball, das letzte Mal, dass es gut gelaufen ist, war die Zeit Maradonas. Danach, heute hat Argentinien Messi, der für viele der beste Spieler der Welt ist, aber wenn er mit dem argentinischen Trikot spielt... Also da stehen wir, wir sind ein bisschen verärgert. Das hat sich ein wenig verloren. Heute sind für den argentinischen Fußballfan Boca oder River wichtiger als das Nationalteam.«57 53 54 55 56 57
Nationaltrainer bei der WM 1978 Forster 347–358. Ebd. 334–344. Ebd. 347. Ortiz 330–334.
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Die Grundaussage lautet: Seit Maradona hat Argentinien keinen Triumph mehr erlebt. Aus nicht identifizierbaren Gründen schaffen es die heutigen Spieler nicht mehr, an dessen Erfolge anzuknüpfen, was schließlich auf einer persönlichen Ebene als Verrat interpretiert wird und zu gekränkter Abwendung führt. So wird eine Entfremdung von der Nationalmannschaft spürbar. Etchemendy bilanziert für diese: »Es ist kein besonders starker Moment, sagen wir, des embodiment der Nationalmannschaft, und der national-popularen Fußballleidenschaften. Der Fußball als Ausdruck der popularen Kultur ist da, aber er ist nicht in der Nationalmannschaft wie in früheren Jahren.«58 Etchemendy legt Wert darauf, den Unterschied zwischen der Nationalmannschaft und dem Fußball als »argentinische kulturelle Aktivität« klar hervorzustreichen.59 Nur erstere habe ihre Fähigkeit zur Repräsentation des Popularen eingebüßt, die populare Passion für den Fußball an sich wird dadurch nicht in Frage gestellt: »Der Fußball bleibt sehr auf das Stadtviertel bezogen, das gibt es weiterhin, die Clubs hier, Fußball wird immer sichtbarer. Ich sehe keine Entfußballisierung der Gesellschaft, überhaupt nicht. [...] Was es gibt, ist vielleicht eine weniger unmittelbare Beziehung zum Nationalteam.«60 Fanidentifikation wird stärker auf Ebene der Clubs gelebt, während den Nationalspielern implizit mangelnder Patriotismus unterstellt wird. Die nostalgisch gefärbte Erinnerung an die Ära Maradonas lässt ein schmerzliches Minderwertigkeitserleben erkennbar werden, das aus der Parallelität der enttäuschenden WM-Ergebnisse der argentinischen Nationalauswahl und der brillanten Erfolge derselben Spieler in ihren europäischen Ligen resultiert. Maradona steht mit seiner Geschichte symbolisch für die Größe Argentiniens und wird in der pro-kirchneristischen Erzählung des fußballerischen Niedergangs zu einem Signifikanten der »Fülle«, der die verlorene Würde einer nicht nach Europa orientierten Argentinität verkörpert. Auf die Frage, was der selección fehle, um die beschädigte Repräsentationsbeziehung wiederherzustellen, antwortet Ortiz wie aus der Pistole geschossen: »Maradona. Wir konnten noch immer nicht begreifen, dass er sich zurückgezogen hat. Das ist so. Wir sind in ewiger Trauer.«61 Wenn Mario Wainfeld vom Diskurs der WM 2010 als »Diskurs über Maradona, ein Diskurs der Fantasie, als Argentinien anfangs gut spielte, ein Diskurs von enormem Enthusiasmus und Extase«62 pricht, dann meint das die Hoffnung auf die Möglichkeit positiver Identifikation, die auf die »Wiederkehr Maradonas« projiziert wurde. 58 59 60 61 62
Etchemendy 171–173. Ebd. 194f. Ebd. 134–138. Ortiz 336f. Wainfeld 114f.
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Die Rückkehr des »fehlenden« Maradona rückt die Einlösung des Versprechens, dass die Befreiung von der Identität des Mangels bevorstehe, in greifbare Nähe. Etchemendy bemerkt, weil der Nationaltrainer 2010 Maradona war, »wäre es wie eine Erlösung gewesen, wenn Argentinien gewonnen hätte.« Die religiöse Metapher ist treffsicher gewählt. Maradona erscheint als Retter, der Argentinien vom Fluch der Niederlagen nach 1986 erlösen und den Anschluss an die frühere Größe möglich machen kann. Die religiöse Dimension in der Beschreibung Maradonas findet sich auch in den Aussagen anderer wieder. Diego Bosto erzählt ein von Maradona bewirktes Wunder63, Pablo Ortiz spricht von einer »Verehrung«,64 die zwar in Italien noch größer sei als in Argentinien, aber auch hier religiöse Züge annimmt, wie sein eigenes Beispiel beweist. Ortiz hatte zum Zeitpunkt des Interviews in seiner Wohnung eine Glasvitrine zu einer Art Heiligenschrein umfunktioniert, in der sich neben diversen peronistischen Memorabilia die paarförmig angeordneten Porträts von Evita und Juan Domingo Perón sowie darüber ein Foto von Maradona befanden. Im Verlauf des Interviews nimmt er mit folgender Erklärung darauf Bezug: »Der Argentinier vergleicht Diego sogar mit Gott. Also übersteigt er alles. Tatsächlich war das Foto von Diego dort. Ich habe kein Foto von Jesus Christus, das Foto von Diego war an diesem Ort, wo zuvor das von Jesus Christus war.«65 Maradona wird als populare Erlöserfigur inszeniert, wobei das pro-kirchneristische Narrativ auf Maradonas Status als letzter großer »Führer« des argentinischen Fußballs hin konzipiert ist. Gerade dass er als einzelner Spieler mit einer durchschnittlichen Mannschaft 1986 den WM-Titel holte, definiert ihn als individuellen Helden, der fähig ist, ganz allein ein Match und eine Weltmeisterschaft zu gewinnen. Damit schreibt er sich in die Tradition der argentinischen Fußballkultur ein, die stark von der Rolle außergewöhnlicher Individuen und ihrer Erfolge geprägt ist. Der argentinische Anthropologe Eduardo Archetti deutete das zweite Tor gegen England bei der WM 1986, bei dem Maradona in einer Einzelaktion die halbe gegnerische Mannschaft ausspielt, als »Triumph des Individuums gegen die taktischen Systeme« (Archetti 2001: 40). Damit erneuert er nach Archetti das soziale Imaginäre der Pampa und des Gaucho mit seinen individuellen Heldenfiguren in der Welt des Fußballs (Archetti 2008). Auch 2010 ist die Erzählung der argentinischen Größe um einen Führer artikuliert, der in der nationalen Linie großartiger Einzelgänger das transgressive Moment der Argentinität reaktualisiert.
63 Bosto 140–142. 64 Ortiz 242; er verwendet dafür den Begriff »veneración«, der assoziativ mit Heiligenverehrung verbunden ist. 65 Ebd. 350–352.
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Maradonas Rolle als Führer und Erlöser zeigt sich auch in der Ausschaltung jeglichen kritischen Maßstabs in Hinblick auf seine Person.66 Maradona wird als gottähnliche Figur konzipiert, für die herkömmliche Bewertungskriterien nicht gelten. Weil er Argentinien »so viel gegeben« habe, wird ihm alles andere nachgesehen und es gibt praktisch nichts, wofür er kritisiert werden könnte, wie der Journalist Carlos Ulanovsky erklärt: »Maradona ist in den Körper des nationalen Affekts aufgenommen, weil er […] dem Volk, den Leuten unglaublich viele Befriedigungen gegeben hat, als Spieler. So, dass sie ihm später eine Menge inkorrekter Dinge verziehen haben, die er im Persönlichen gemacht hat.«67 Im Gegenteil führt die Widersprüchlichkeit seiner Person erst zur vollen Entfaltung des Narrativs, das hier nachzuzeichnen versucht wurde. Das Motiv von Aufstieg und Fall, die Gleichzeitigkeit von Größe und Scheitern in Maradonas Figur ist zentrale Voraussetzung seiner symbolischen Produktivität, sie macht Maradona nach González »attraktiv für das argentinische Volk, [denn] er ist ein Magnat, der ein ungeordnetes Leben hat, er konnte an einer Überdosis sterben, er ist der Heilige, der sterben kann, der Heilige, mit Sünde befleckt, der die Reinheit sucht.«68 Der urugayische Schriftsteller Eduardo Galeano fasste die unvollkommene Seite Maradonas in die treffende Formulierung, dieser sei ein »schmutziger, sündiger Gott, der menschlichste der Götter.« (Galeano 2008: 295) Als »menschgewordener Gott« führt Maradona ähnlich wie in der Christusvorstellung zur Möglichkeit der Teilhabe der »gewöhnlichen« Argentinier/innen an der Göttlichkeit – und damit an der »Auferstehung«. Denn einerseits ist Maradona ein fehlbarer, sterblicher Gott, andererseits ist er nach jeder seiner persönlichen und sportlichen Tragödien immer wieder wie ein Phönix aus der Asche gestiegen. Die Reaktualisierung dieses Motivs führt zum Kern der symbolischen Konstruktion von 2010. Dazu die anschauliche Beschreibung des Journalisten Eduardo Anguita: »Maradona [...] hat etwas Außergewöhnliches in der menschlichen Verfasstheit, dass er ein Typ ist, der es schaffte, ganz unten zu sein, weil er vom Drogenkonsum kaputtgemacht wurde, weil er sich mit seiner Familie stritt, [...] und er erholte sich auf eine außergewöhnliche Weise. Daher ist das, dass Maradona es schaffte, als Trainer des Nationalteams an der Spitze zu sein, ich glaube, im sozialen Spiegel, im sozialen Imaginären heißt das für den Armen, für den einfachsten Arbeiter: ›Wenn Maradona konnte, wie werde ich nicht können? Wenn mein Gott konnte.‹«69 66 67 68 69
Z.B. ebd. 421–427. Ulanovsky 211–214. González 292–294. Anguita 31–39.
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DIE SYMBOLISCHE KONSTRUKTION MARADONAS
Der »schmutzige Gott«, mit dem Identifikation möglich ist, veranschaulicht die Möglichkeit des Wiederaufstiegs aus einer geschwächten, marginalisierten Position heraus und funktioniert damit als Metapher der popularen recuperación: »Maradona ist plebejisch, im tiefsten Sinn des Begriffs. Maradona kommt von ganz unten, erreicht die Höhen, stürzt und steht wieder auf. In gewisser Weise ist er die Metapher des armen Argentiniens. [...] Maradona ist die Konstruktion des kollektiven Helden.«70 Obwohl er als individuelle Führerfigur konzipiert ist, stellt er als solche einen kollektiven Helden dar, weil sich das populare Kollektiv in ihm wiedererkennen und an seiner topischen Bedeutung teilhaben kann. In einer strukturell ungleichen Gesellschaft, in welcher der soziale Aufstieg eher einen unwahrscheinlichen Glücksfall denn eine systematisch wahrnehmbare Option darstellt, ist Maradona als »cabecita negra, der in der Welt triumphiert«71 zumindest ein Beweis für die »Lücken« in der Struktur des Sozialen, die immer wieder Handlungsspielräume eröffnen, in denen auch die Schwachen die scheinbar unabänderlichen Hierarchien durchkreuzen können. Anhand seiner Geschichte kann die Prekarität der popularen Kondition positiv reinterpretiert werden. Sie erscheint nun als ermächtigendes Moment der Kontingenz, das aus dem Unvorhersehbaren etwas nicht Vorgesehenes entstehen lässt. Damit funktioniert er in einem übertragenen Sinn auch als Metapher für den historischen Bruch mit der scheinbaren Alternativlosigkeit der neoliberalen Politik nach der Krise von 2001 und für die Etablierung einer national-popularen Politik der Selbstbestimmung, deren Realisierung der Kirchnerismus für sich beansprucht. Maradona steht für die populare recuperación, die im WM-Diskurs 2010 als »Wiedergewinnung des popularen Selbstwerts« zum zentralen politisch artikulierten Motiv wird und den ideologischen Konflikt um eine kulturell unterlegte Dimension erweitert. Wie die pro-kirchneristischen Akteure die politische Einschreibung der dargestellten Symbolbedeutung Maradonas während der Fußballweltmeisterschaft von 2010 erklären und begründen, soll im folgenden Kapitel dargestellt werden.
70 Brienza 144–151. 71 Ortiz 228f.; »Cabecita negra« ist ein Schimpfwort für Angehörige der popularen Schichten. Der Begriff ist klassistisch konnotiert, enthält mit seiner Anspielung auf die dunkle Hautfarbe aber auch eine rassistische Komponente und zielt in einem breiteren Sinn auf die Bezeichnung einer minderwertig vorgestellten »popularen Kultur«. Seine Verwendung hat weiters eine antiperonistische Konnotation, da er historisch als abwertende Bezeichnung für die Anhänger/innen des Peronismus verwendet wurde.
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7.2 Der Fußball und die »Erzählung« des Kirchnerismus Das folgende Kapitel untersucht, wie sich die politisch-kulturellen Auseinandersetzungen um Fußball in den innenpolitischen Konflikt einschreiben und zu politisch bedeutsamen Elementen der antagonistischen Teilung werden. Ob diese Einschreibung von Seiten der regierungsunterstützenden Beobachter als bewusst geplante vorgestellt wird, wie sie deren Legitimität bewerten und welche realen Konsequenzen für den politischen Prozess sie daraus ableiten, spielt hier noch keine Rolle. Stattdessen sollen die narrative Konfiguration von 2010 und die in ihr verlaufenden Grenzlinien anhand der Interviewaussagen kontextualisiert und damit die Art und Weise der Artikulation zwischen Fußball und Politik nachgezeichnet werden. 7.2.1 Der Kampf um den argentinischen Selbstwert Wie gestaltet sich die antagonistische Konstruktion der Fußballweltmeisterschaft 2010 und anhand welcher Konfliktachsen wird sie in die Debatten um den sportlichen Bewerb getragen? Edgardo Mocca bettet zur Beantwortung dieser Frage die WM in einen breiteren politischen Kontext: »Die Achse, die die WM 2010 durchdringt, ist die Existenz, die Fortdauer eines politischen Kurses, der nach der Krise von 2001 [im Jahr] 2003 entstanden ist, aber stark verknüpft [war] mit der allgemeinen Krise der argentinischen Gesellschaft, die nicht nur eine ökonomische war, vielleicht war es zu einem Gutteil eine kulturelle Krise, aus der man in eine Richtung aufbrach, die wir patriotisch-popular oder nationalistisch-popular nennen könnten«.72
Die Krise der politischen Repräsentation, die im wirtschaftlichen Zusammenbruch von 2001 an ihren Höhepunkt kam, bildet den Nullpunkt der kirchneristischen Erzählung, von dem ausgehend alle folgenden politischen Entwicklungen und Konflikte als Teil eines größeren kulturellen Antagonismus gedacht werden. Auch die diskursiven Auseinandersetzungen um die Fußballweltmeisterschaft 2010 sind durch die Frontstellung zwischen Befürworter/innen und Gegner/innen des neuen politischen Kurses strukturiert, den der Kirchnerismus proklamiert. Die äußerst explizite Reflexion der politisch-kulturellen Artikulation der Fußball-WM 2010 ist umso überraschender, als Mocca sie unmittelbar 72 Mocca 22–26.
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in seinem Eingangsstatement vornimmt, obwohl die gesprächseröffnende Frage gänzlich allgemein gehalten seinen Erinnerungen an die WM auf »diskursiv-medialer« Ebene und »in ihren politischen Konnotationen« galt: »Und die WM verknüpft sich auf eine sehr deutliche Weise mit diesem Kurs, mit diesem Willen von Seiten der Regierung, eine […] national-populare Sichtweise der argentinischen Geschichte, kritisch gegenüber dem Liberalismus, mit etwas zu verknüpfen, was die Wiedergewinnung des Selbstwerts der Argentinier genannt wurde. Das heißt, Argentinien, das sich selbst als ein Land in absolutem Verfall dachte, wie ein Land, das immer auf den Blick der Welt auf sich selbst aufmerksam sein musste, auf die Fähigkeit, um Kredite anzusuchen, auf die Fähigkeit, von entwickelteren Ländern beschützt zu werden, [dieses Argentinien] versucht, diesen Blickwinkel durch einen Blickwinkel der Selbstaufwertung unserer Ressourcen, unserer Geschichte, selbst unserer Tragödien zu ersetzen«.73
Seine Beschreibung des »national-popularen Kurses« gibt eine Kurzfassung des »relato«, der sogenannten »Erzählung«, deren Konstruktion der Kirchnerismus als politische Aufgabe proklamiert. Dieses meint die von Mocca erwähnte »Wiedergewinnung des Selbstwerts« anhand einer neuen affirmativen Haltung zur eigenen Vergangenheit. Dies impliziert auch eine Neukonfiguration der argentinischen Identität auf einer kulturellen Ebene und verweist damit auf den Topos der kulturell spezifischen Widersprüchlichkeit, der im pro-kirchneristischen Diskurs positiv gewendet wird. Das national-populare Verständnis der »Argentinität« inkludiert explizit auch das Unangepasste und Fehlerhafte, das von den Eliten abgelehnt und abgewertet würde. Hernán Brienza bewegt sich in diesem Diskursstrang, wenn er in Anlehnung an den mexikanischen Mythos der Malinche74 von »einer Art von sehr starkem ideologischen malinchismo«75 spricht, den er als Verachtung des Eigenen definiert und der in Maradona einen entschiedenen Gegenpart gefunden habe: »Der malinchismo ist, wie die Mexikaner denken, das kommt vom Mythos der Malinche, was bedeutet, ständig schlecht von dem zu sprechen, was man selbst ist. Und in Argentinien gibt es eine lange Tradition von großen Sektoren der Medien hauptsächlich, die eine lange Tradition haben, immer abwertend vom Eigenen zu sprechen und zu sagen, dass das 73 Ebd. 39–48. 74 Malinche war die aztekische Dolmetscherin des Hernán Cortés während seines Eroberungsfeldzugs von 1519–1521, die wegen ihres entscheidenden Beitrags zum Erfolg der conquistadores Symbolfigur für die Kollaboration mit den Kolonisatoren wurde. 75 Brienza 26f.
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Argentinische immer das Schlechteste ist. Maradona verkörpert vielleicht das Gegenteil.«76
Der populare Held Maradona steht für die Verteidigung des Argentinischen, seine Trainerschaft wird mithin zu einem weiteren Scheidepunkt, der die antagonistische Lagerbildung zwischen den beiden entgegengesetzten Haltungen zum eigenen politisch-kulturellen Erbe organisiert und reproduziert. Maradonas Präsenz 2010 wird als Teil des »kulturellen Kampfes«77 gegen die anti-popularen Sektoren verstanden, die sich als Europäer/innen gerierten und jeden Ausdruck des autochthon Argentinischen als rückständig zurückwiesen. Dass die ideologische Konfliktachse des argentinischen Selbstwerts über die Verknüpfung mit Maradona in die WM 2010 getragen wird, bestätigt Brienza, ebenfalls überraschend spontan, zu Beginn des Gesprächs als Antwort auf die relativ unspezifische Eingangsfrage nach den vom Fußballereignis 2010 ausgelösten politischen Debatten: »Ich glaube, dass die hauptsächliche Debatte von 2010 die Figur Maradonas als Trainer war. Und rund um die Figur Maradonas als Trainer ergaben sich zwei große Diskurse. Der Diskurs gegen den Populismus, von Seiten derer, die gegen Maradona waren, und der Diskurs des, nennen wir es des Nationalen und Popularen rund um die Verteidigung Maradonas, als Symbol und als Metapher der nationalen Realität. […] Im öffentlichen Diskurs katalysierte Maradona letztlich Opposition und Regierungsblock in Bezug auf die Antinomie Kirchnerismus – Anti-Kirchnerismus, Maradona – Anti-Maradona.«78
Die symbolische Konstruktion Maradonas als Repräsentant des Popularen organisiert die Übertragung der politischen Konfliktachsen in die fußballerische Debatte, indem die Haltung zum Trainer der Nationalmannschaft zum Gradmesser der politischen Einstellung wird. Maradona selbst könne zwar nicht auf eine parteipolitisch festzumachende Figur verkürzt werden, die Positionierung in der Diskussion über ihn gibt aber umgekehrt Auskunft über die – sich mit sozialstrukturellen Kategorien überlappende – ideologische Ausrichtung der gesellschaftlichen Akteur/ innen, wie Sebastián Etchemendy aus seiner Alltagserfahrung berichtet: 76 Ebd. 27–31. 77 Der Begriff der »batalla cultural« steht für den kirchneristischen Kampf um den common sense im Sinne einer Wiedergewinnung des popularen Selbstwerts. Cristina Fernández de Kirchner selbst bezog sich in ihren Reden häufig darauf, z.B. http://edant.clarin.com/diario/2008/04/16/elpais/p-00502. htm; http://www.pagina12.com.ar/diario/economia/2-195836-2012-06-07. html 78 Brienza 4–12.
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»Maradona fügt sich in die ideologische Spaltung ein, in einer Weise, dass die eher national-popularen Schichten ihn verteidigen, wir verteidigen ihn. Und die eher mittelständischen, gehoben mittelständischen Schichten greifen ihn an.«79 Diese Äquivalenzierung wird beiden Lagern der antagonistischen Teilung zugeschrieben: Auf pro-kirchneristischer Seite würde die Verteidigung Maradonas als »Triumph [...] eines Landes über [seinen Erfolg im] Fußball, verstanden als populistisches Land«80 interpretiert, auf der Gegenseite »verwendete auch die Opposition die Niederlage Maradonas als Metaphorisierung der angeblichen Niederlage der Regierung.«81 Als Verkörperung der Opposition gelten nicht nur während der Fußballweltmeisterschaft 2010 die sogenannten »hegemonialen Medien«, allen voran das Medienunternehmen Clarín. Selbst wenn von der »Opposition« gesprochen wird, sind damit in der Regel nicht die oppositionellen Parteien gemeint, deren Kapazität für eigenständige politische Interventionen aufgrund ihrer ideologischen wie organisatorischen Schwächung nach der Krise von 2001 beschränkt ist, sondern die regierungskritischen Medien. Den konkreten Anlassfall, an dem dieser antagonistische Konflikt in der WM aktualisiert wird, bilden die Spannungen zwischen dem »journalistischen Establishment« und Maradona sowie dessen Identifikation mit der Regierung.82 Der Verteidigung Maradonas und dem Hoffen auf einen Erfolg der Fußballweltmeisterschaft wird in den pro-kirchneristischen Erzählungen daher eine politische Dimension zugeschrieben, indem Sieg oder Niederlage im Fußball zu einem Einsatz im Kräftemessen zwischen Regierung und Medienopposition erklärt werden. »Wenn Argentinien gewonnen hätte, hätte auch Cristina gewonnen«, spekuliert Ortiz und Forster unterstellt den »Medienkonzernen« das spiegelverkehrte Kalkül: »Unmittelbar als sich die Niederlage ereignet, stürzen sie sich wie Geier auf den Körper Maradonas, der auf eine Weise auch der Körper der Regierung ist.«83 Auch wenn die oppositionellen Medien in der allgemeinen patriotischen Euphorie während des Bewerbs ihr Interesse an einer argentinischen Niederlage nicht allzu offen zeigen konnten,84 habe nach Ende der WM der »Versuch, die maradonianische Niederlage zu kirchnerisieren« darauf abgezielt zu beweisen, dass »das alles Teil des Gleichen ist, die Improvisation, der Populismus und die Demagogie. Sprich, man versuchte einen Diskurs zu konstruieren, der die Regierung und Maradona, Kirchner, gleichsetzte.«85 79 80 81 82 83 84 85
Etchemendy 51–53. Forster 499f. Brienza 111f. Mocca 427–429. Forster 489f. Ebd. 486–488. Ebd. 475–477.
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Als Hintergrund dieses Konflikts zwischen anti-populistischem und national-popularem Diskurs, der die symbolische Konstruktion der Fußballweltmeisterschaft 2010 bestimmt, wird von den pro-kirchneristischen Beobachtern der Agrarkonflikt von 2008 mit seiner Teilung des Landes in »zwei Argentinien« ausgemacht, der zugleich als »Medienkrieg« wahrgenommen wird.86 Bosto erzählt die Agrarkrise als destabilisierenden Wendepunkt für den Kirchnerismus und beschreibt die Rolle der regierungskritischen Medien darin folgendermaßen: »Im Unterschied zu den siebziger Jahren, wo es einen Staatsstreich gab, ist hier die Demokratie so stark, dass sie sie nicht in einem Staatsstreich stürzen können. Also war hier der Putsch medial, über die Kommunikationsmedien. Deswegen wird die Presse als vierte Macht betrachtet. Das trug sich auf diese Weise zu und endete mit dem Rundfunkgesetz.«87
Das neue Mediengesetz von 2009 wird damit zu einer Reaktion auf einen angenommenen medialen Putschversuch erklärt. Interessant ist dabei, dass als Strategie gegen die Machtkonzentration im Mediensektor die Etablierung von »Gegenmedien« gesehen wird: »Was dieses Gesetz macht, ist nicht, Clarín das wegzunehmen, was er hat, und dass Clarín aufhört zu berichten, damit es andere berichten. Nein, Clarín soll gerade weiter berichten, was ihm einfällt, aber dass es auch andere Kommunikationsmedien gibt, die die Wirklichkeit auf ihre bestimmte Weise erzählen können.«88
Bosto vertritt in seiner Argumentation die Meinung, dass Journalismus grundsätzlich nicht unabhängig zu denken sei. Auch wenn er in seinen Erklärungen teilweise inkonsistent ist und etwa die »großen Medien« mit »wirklich objektiven Journalisten« kontrastiert, die keine politischen Bewertungen in die WM-Berichterstattungen einfließen ließen,89 versucht er doch die Vorstellung zu installieren, dass die Medien die Realität jeweils nach eigener Position und Interessenlage unterschiedlich »erzählen«. Die wahrgenommene Problematik der Medienkonzentration führt in dieser Logik zu der Schlussfolgerung, dass Vielfalt über die Entwicklung von Gegennarrativen herzustellen sei. Zur Sicherstellung der demokratischen Qualität sei es nötig, den fehlenden Stimmen im Diskurs einen Ausdruck zu ermöglichen. Er bewegt sich damit in der Argumentationsstruktur der Befürworter/innen eines parteiischen und politisch positionierten Journalismus, der aktiv alternative Erzählungen konstruiert. Dies 86 87 88 89
Mocca 163–178. Bosto 406–410. Ebd. 413–416. Ebd. 388–392.
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entspricht der kirchneristischen Idee des »relato«, dessen notwendige Einseitigkeit von Anhänger/innen der Regierungspolitik stets mit demselben Argument begründet wird: Das Negative würde ja ohnehin bereits von Clarín berichtet, die regierungsnahen Medien komplementierten die Berichterstattung nun um die »andere Seite der Realität«. Der verstärkte Versuch der National-Popularisierung des Kirchnerismus im Kampf um hegemoniale Deutungshoheit ist somit eine Antwort auf die parteiische Positionierung der großen Medienkonzerne im Agrarkonflikt. Eine in Zusammenhang mit dem Medienkonflikt zentrale Maßnahme stellt Fútbol para Todos dar. Einerseits werden beide Begriffe in den Interviews teilweise synonym verwendet,90 andererseits verknüpft die metaphorische Deutung von Fútbol para Todos die Maßnahme narrativ mit dem Diskurs der popularen recuperación, der die negative Berichterstattung der oppositionellen Medien kontern will. Bei keinem anderen Themenkomplex war der Homogenitätsgrad der Aussagen derartig hoch. Die Fußballverstaatlichung wird durchwegs als Topos der Demokratisierung erzählt, wobei die wortgleichen Formulierungen und Bildverwendungen im Sinne der »sozialen Topik« von Hubert Knoblauch (2001) auf eine weit vorangeschrittene Routinisierung in der Relevanzbestimmung von Fútbol para Todos schließen lassen. Diese besteht in einer Darstellung der Maßnahme als Akt sozialer Inklusion der popularen Sektoren und damit als Symbolisierung des Bruchs mit der neoliberalen Privatisierungspolitik sowie als Erschließung neuer Kommunikationskanäle für die Regierung. 7.2.2 Der »Krieg gegen die Medien«: Fútbol para Todos als Topos der Demokratisierung Die Verstaatlichung der Fußballübertragungen wird als soziale Eroberung beschrieben, deren positive Effekte auf die soziale Praxis des Fußballkonsums eine Idee des Aufschwungs transportieren. Diese werden narrativ durch die detaillierte Beschreibung der vorherigen Beschwerlichkeiten anschaulich vermittelt: »Wenn du keinen Decoder gekauft hast und dem Unternehmen Clarín nicht mehr bezahlt hast, musstest du in eine Bar gehen, dann war das Café am Tag des Spiels teurer, du musstest vorher einen Tisch reservieren. Jetzt schauen die Leute Fußball im Familienkreis. Das war eine unglaubliche Sache. Du musstest nicht aus dem Haus gehen, um Fußball zu schauen, du bist bei dir zu Hause geblieben, eine unglaubliche Sache.«91 90 Z.B. Anguita 219–221; Bergel 170–176. 91 Anguita 104–109.
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Die veränderte Praxis verdeutlicht eine Rückgewinnung von Würde im Alltagsleben, deren Strahlkraft auch im WM-Diskurs 2010 spürbar gewesen sei.92 Insbesondere die mit der früheren Kostenpflichtigkeit der Übertragungen verbundenen Exklusionseffekte werden praktisch erfahrbar besprochen. Bei Carlos Ulanovsky heißt es: »Dieses ganze Unternehmen TyC93 hatte den Fußball monopolisiert. Und man konnte die Tore sehen, wenn sie entschieden, dass man sie sehen konnte.«94 Bei Bosto klingt das exakt gleich: Während die zahlungsfähigen Kund/innen aus der Mittel- und Oberschicht problemlos die Live-Übertragungen der Spiele verfolgen konnten, konnten sich die Angehörigen der unteren Schichten den Decoder nicht leisten und »mussten auf den Abend warten, entweder das Spiel im Radio hören oder auf den Abend warten, damit sie dir die Wiederholung zeigen«.95 Die Beschreibung des »Wartens auf die Tore« ist ein typisches Erzählmotiv, das in seiner gleichförmigen Ausgestaltung an die Kritik von Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner anknüpft, die in ihrer Staatsansprache zur Vertragsunterzeichnung von Fútbol para Todos dem Medienunternehmen Clarín vorwarf, die Tore bis zum Sonntag zu »entführen«.96 Ebenso wie in der Rede der Präsidentin werden auch in den Interviews diese Erniedrigungserfahrungen der neoliberalen Ära mit der Inklusionserfahrung im politischen Zyklus des Kirchnerismus kontrastiert, in dem nun »alle Bewohner des Vaterlandes, genauso die, die am wenigsten haben, wie die, die am meisten haben, Fußball schauen können.«97 Fußball wird als soziales Gut gedeutet, das illegitimerweise von einer sozialen Schicht usurpiert worden war und nun für die Allgemeinheit zurückerobert wurde. Die Gegenüberstellung macht die beiden Modelle des Landes am Beispiel Fußball leicht verständlich und praktisch nachvollziehbar. Die Funktion der sinnstiftenden Inszenierung ist einerseits, den egalitären Anspruch des national-popularen Projekts über den Antagonismus zum Neoliberalismus zu bekräftigen, andererseits aber auch mittels argumentativer Verknüpfungen den äquivalenten Charakter weiterer Maßnahmen der Kirchnerregierung herauszustellen. So erklärt Etchemendy: »Diese Regierung hat eine Reihe von Rechten in Argentinien geschaffen, Recht auf die Asignación Universal por Hijo,98 Recht auf die digitale 92 Ebd. 102f. 93 Torneos y Competencias war gemeinsam mit Clarín Eigentümer von TSC (Televisión Satelital Codificada), das seit 1991 die alleinigen Übertragungsrechte für die Fußballspiele der ersten Division besaß. 94 Ulanovsky 147f. 95 Bosto 283–287. 96 Vgl. Kapitel 5, Fußnote 79. 97 Bosto 288f. 98 Ein 2009 eingeführtes Kindergeld für Arbeitslose und Personen mit Einkommen unter dem Mindestlohn.
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Inklusion, es war ein Moment konträr zum Liberalismus, die Wiedergewinnung von Rechten. Eines der Rechte war der Zugang zum Fußball.«99
An der Aussage kann der Zusammenhang zwischen Analogiebildung und Antagonisierung gut nachvollzogen werden: Alle von der kirchneristischen Regierung neu geschaffenen Rechte wirken in ihrem Gehalt gleich und stehen konträr zum Neoliberalismus als antagonistischem Außen. Die Ausweitung des Zugangs zu Fußball als kulturellem Konsum entspricht der Ausweitung des Zugangs zu sozialpolitischen Verbesserungen im Allgemeinen. Fútbol para Todos wird so zu einer rhetorischen Figur, die den Wandel weg von Privatisierung und Ausschluss hin zu demokratischer Teilhabe und popularer Ermächtigung bezeichnet. Die in ihr angelegte Gegenüberstellung von »vorher« und »nachher« macht in besonders eindringlicher Weise Pablo Ortiz klar: »Der Fußball war ein Geschäft, das private Sektoren lenkten. Jetzt wurde der Fußball verstaatlicht. Wer das Fußballspektakel verwaltet, ist [nun] die nationale Regierung, und sie hebt für den Nationalstaat ein. Das ist der Unterschied. [...] Jetzt hat die Regierung bewirkt, dass der Fußball, die Renten, unsere Fluglinie Aerolíneas, dass viele Dinge staatlich wurden. [...] Diese Regierung findet, dass der Staat das Wichtigste ist. Für die Regierung von Menem [...] war das Wichtigste das Geschäft und das Private. Es war ein Neoliberalismus, das hat sich geändert.«100
»Das ist der Unterschied« bezieht sich nicht nur auf die Veränderungen im Fußball, sondern die Verschiebung der politischen Prioritätensetzung. Die demokratische Forderung nach kostenlosen und frei zugänglichen Fußballübertragungen wird zu einem Teil der großen popularen Forderung nach staatlicher Souveränität gegenüber wirtschaftlichen Partikularinteressen. Fútbol para Todos steht auch für »alles andere« im kirchneristischen Kampf gegen das Establishment, der diskursive Knotenpunkt aktualisiert die gesamte Logik des hegemonialen Projekts. Hernán Brienza verdeutlicht in der folgenden Aussage die hegemoniepolitische Bedeutsamkeit metaphorischer Bedeutungskonstruktion: »Ein Land, in dem 40 Millionen [Menschen] Fußball gratis sehen können, ist anders als ein Land, in dem nur jene Fußball sehen können, die eine sehr hohe Gebühr für Kabelfernsehen bezahlen. Das ist eine politische Definition. Man müsste sagen: ›Ja, aber das muss so mit der Bildung, mit der Gesundheit sein‹. Gut, das sind Bereiche, die schwieriger zu konstruieren und zu konstituieren sind. Aber es dient als Symbologie, um die 99 Etchemendy 201–203. 100 Ortiz 191–206.
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verschiedenen Modelle des Landes zu verstehen, die darum kämpfen, sich in Argentinien zu hegemonialisieren.«101
Das Beispiel zeigt, dass populare Identitäten in populistischen Politikkonzeptionen nicht einfach durch einen zentralen leeren Signifikanten ausgedrückt werden, sondern in der artikulatorischen Praxis populistischer Politik versucht wird, in möglichst viele soziale Felder zu intervenieren und diese als symbolische Bühnen soziokultureller Bedeutungsproduktion zu nutzen, um gesamtgesellschaftliche Konfliktlinien zu verdeutlichen. Dazu muss der antagonistische Gegensatz mit jeweils feldspezifischen Elementen verkörpert werden, das heißt, um teilweise entleerte Knotenpunkte wie Fútbol para Todos kondensiert werden, die in ihrem Zusammenspiel mit anderen ein von vielfältigen Stützpfeilern getragenes diskursives Netz »popularer Bedeutungen« ergeben. Fußball wurde nach Brienza als Kampffeld gewählt, weil an ihm der Unterschied zwischen den beiden politischen Modellen besonders alltagsnah erfahrbar wird. Der Konflikt um die Fußballübertragungsrechte ist ein symbolischer Kampf, der das politisch-ideologische Projekt veranschaulicht und diskursstrukturierend wirkt. Die Art und Weise dieser Strukturierung zeigt sich in der Narrativisierung des Konflikts in den Interviews. Diese verweist auf ein paternalistisches Demokrativerständnis, das stark auf Sozialstaatlichkeit bezogen ist und Demokratie auf die Eröffnung des Zugangs zu Konsumgütern reduziert. Am klarsten zeigt sich das bei Horacio González, der Fútbol para Todos als »Demokratisierung des Fernsehens« bewertet. Zwar zeigt er in dem ihm eigenen sarkastischen Erzählstil begrenzte Begeisterung für die politische Maßnahme, die das Land nun endgültig im Fußball zu ertränken drohe, was zu seiner generellen fußballskeptischen Haltung passt. Dennoch, auch wenn er das demokratisierte Produkt persönlich nicht für besonders wertvoll hält, konzediert er Fútbol para Todos das Verdienst einer »Demokratisierung des Bildschirms«102. Demokratisierung wird dadurch als soziale Inklusion in ein System definiert, dessen Produktionsbedingungen und Funktionsbestimmungen gleichwohl unverändert bleiben. 7.2.3 Fútbol para Todos als Kommunikationskanal im Kampf der Erzählungen Die strategische Dimension im Kampf gegen Clarín wird als zweiter Bedeutungsaspekt von Fútbol para Todos eingebracht. Einzig González 101 Brienza 221–226. 102 González 243–247.
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erwähnt diesen Gesichtspunkt auf die Frage nach dem Gewicht von Fútbol para Todos in den hegemonialen Auseinandersetzungen der kirchneristas als ersten, noch vor sozialer Inklusion und Demokratisierung.103 Dies deutet auf die hohe Relevanz hin, die die Akteure der symbolischen Konfliktdimension zuschreiben. Dass im Disput um das Fußballübertragungsgeschäft auch um ökonomischen Einfluss gestritten wird, wird nicht geleugnet. Allerdings scheinen beide Aspekte im pro-kirchneristischen Verständnis nicht voneinander zu trennen, wie Ricardo Forsters Aussage zeigt: »Es war eindeutig eine Entscheidung, Fútbol para Todos zu schaffen, um den Konzern Clarín zu schwächen, weil es ihm sein Hauptgeschäft wegnahm. [...] Und gleichzeitig schuf es einen Durchbruch in der Beziehung zwischen der Regierung und popularen Sektoren, der mit Fútbol para Todos zu tun hatte.«104
Selbst der Hinweis auf die wirtschaftliche Schwächung des Medienkonzerns als beabsichtigte Konsequenz der Maßnahme wird sofort wieder mit den veränderten Möglichkeiten symbolisch vermittelter Identitätskonstruktion verknüpft. Auf der Ebene der materiellen Ressourcen werden diese neuen Möglichkeiten der Regierung in der Erschließung einer Plattform zur Bewerbung des eigenen Projekts verortet. Da aufgrund der Vormachtstellung Claríns die wichtigsten Medien in feindlichen Händen waren, ermöglichte der Zugriff auf die Fußballübertragungen der ersten Liga, »dass ein öffentlicher Kanal wie Canal 7 hohe Einschaltquoten hat, und dann begann man das Werk der Regierung auch in der Halbzeit der Spiele zu zeigen«.105 Die freimütige Erklärung zeigt, dass der von anti-kirchneristischer Seite häufig geäußerte Vorwurf der Propaganda nicht einmal der Entkräftung notwendig empfunden wird. Die Legitimität des Werbemonopols wird darauf begründet, dass dieses ein bestehendes Unrecht korrigiere, nämlich den Ausschluss des Kirchnerismus aus den Medien. Dass das öffentliche Fernsehen die Werbezeit einzig und allein für Einschaltungen der Regierung reserviert, wird nicht in Frage gestellt, weil Clarín als Feind dermaßen illegitimiert erscheint, dass der emanzipatorische Charakter solcher Maßnahmen außer Zweifel steht. Angesprochen auf die »Debatte über die Formen, die Realität zu erzählen«, räsoniert Ortiz: »Fútbol para Todos beeinflusste für mich viel. Denn die Regierung konnte Fútbol para Todos nutzen, um das Werk der Regierung zu erzählen. Vorher verheimlichten die großen Medien alles. Zum Beispiel, wir erhöhten die Pensionen und es kam in Clarín nicht vor. Im Gegenteil, sie sagten, 103 Ebd. 242–244. 104 Forster 428–432. 105 Ebd. 201–203.
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dass wir die Pensionen senkten. Daher erreichte mit Fútbol para Todos, nachdem alle Fußball schauen, alle die andere Version, die Version der Regierung.«106
Ins Auge fällt hier vor allem die wortgleiche Formulierung bei Forster und Ortiz. Die Regierung müsse »ihr Werk erzählen« können und brauche dafür öffentlichkeitswirksame Kanäle. Die Vorstellung von der Standortgebundenheit jeglicher Information zeigt hier ihre Wirkung. Wenn unabhängiger Journalismus grundsätzlich als unmöglich betrachtet wird, kann nur eine strategische Intervention in die massenmediale Berichterstattung sicherstellen, dass unter Kontrolle der Regierung auch »die andere Version« ans Licht komme. Carlos Ulanovsky ist der einzige der Befragten, der sich bemüßigt zu fühlen scheint, die Benutzung von Fútbol para Todos als Werbeplattform zu rechtfertigen, indem er zumindest die Kritik daran erwähnt, die er aber im Verlauf seiner Aussage immer mehr abschwächt. Bestätigt er erst noch, dass die Regierung »offensichtlich versucht, einen politischen Nutzen zu haben«, findet er etwas später nur mehr, dass »man sagen könnte«, dass sie einen politischen Profit daraus schlagen wollte, um schließlich von der Neutralität in die Rechtfertigung überzugehen. Wie alle anderen lobt er die Neueröffnung von Zugängen und dass man nun für die Tore nicht mehr auf den Abend warten müsse als »Errungenschaft der Regierung«,107 und meint: »Aber das ändert nichts daran, dass die Regierung offizielle Werbung in den Werbeblöcken von Fútbol para Todos platziert. Denn das ist eben die Strategie, die die Regierung wählt. Ich zweifle sie nicht an, noch stelle ich sie in Frage. Ich finde andererseits, dass die Regierung mehreren Kanälen die Fußballübertragung schenkt, sie schenkt sie Canal 26, América 24, Crónica, América, aber mit der Bedingung, dass sie diese komplett übernehmen, also auch die offiziellen Werbeblöcke. Nun, das verursacht natürlich viel Hass in der Opposition. [...] andererseits finde ich interessant, dass die Werbeblöcke von Fútbol para Todos Informationen und Werbungen beinhalten, die mit Momenten zu tun haben, die wir durchleben, was weiß ich. Letzte Woche zeigten sie in der Fußballübertragung eine erste Werbung, in der sie der Clarín-Gruppe in einem sehr langen Spot antworteten. Naja, ich finde das eigentlich eine respektable Strategie.«108
Zwar unterschied sich das Interview mit Ulanovsky von allen anderen durch sein außergewöhnlich hohes Misstrauen, das sich in einem fast feindseligen Gesprächsverhalten ausdrückte und ihn bis zum Schluss auf der Inexistenz jeglicher Art von Symbolpolitik von kirchneristischer Seite 106 Ortiz 385–391. 107 Ulanovsky 145–150, 176–179. 108 Ebd. 180–190.
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beharren ließ. Da er sich im Gespräch zunächst weder an Maradonas Trainerschaft 2010 erinnerte noch den Begriff der kulturellen Hegemonie einordnen konnte und auch in seiner apolitischen Definition von Fußball vom Rest der Interviewten diametral abwich, schien er begrenzten Einblick in die theoretischen und praktischen Zusammenhänge der kirchneristischen Diskursproduktion zu haben. Dennoch bleibt bei vielen Aussagen unklar, ob diese vom schlechten Klima des Gesprächs provoziert waren. Sein Beharren während des Interviews, dass Fútbol para Todos lediglich eine »Dienstleistung« darstelle und an keinerlei Kampf um Hegemonie beteiligt sei, da Fußball schließlich der Welt der Unterhaltung und der Freizeit und nicht der Kultur angehöre, erscheint jedenfalls ungewöhnlich sowie verdächtig pragmatisch angesichts der Tatsache, dass er Fútbol para Todos letztlich doch einen fairen Deal und die Regierungswerbung respektabel findet. Worin er daher mit dem Gros der pro-kirchneristischen Intellektuellen übereinstimmt, ist in der im Zitat sichtbaren Strategie, mit Hinweis auf die tendenziöse Berichterstattung Claríns die Monopolisierung der Werbeblöcke des Programms für die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung als Aufzeigen des »wahren Landes« und damit als Erhöhung demokratischer Repräsentation zu affirmieren. Martín Bergel nennt Fútbol para Todos das »wichtigste Element [...] in der Verwendung oder der Erneuerung von Fußball als Element der national-popularen Kultur«.109 Die Bedeutung der Fußballverstaatlichung wird dementsprechend in den Interviews beider Lager durchwegs höher eingeschätzt als die der Fußballweltmeisterschaft im Jahr darauf. Als direkte Vorgeschichte der WM beeinflusst Fútbol para Todos aber die Verankerung dieser in einer bestimmten interpretativen Struktur. Die Verstaatlichung der Übertragungsrechte ist als »symbolisches Umfeld« der WM Teil des Assoziationskontexts, der im Diskurs insbesondere durch die Figur Maradonas aktualisiert wird. Dieser war offen unterstützend für Fútbol para Todos aufgetreten und hatte sich bei der offiziellen Vertragsunterzeichnung an der Seite der Präsidentin gezeigt. In den Interviews wird daher neben der soziokulturell begründeten Argumentationslinie, die medialen Angriffe auf Maradona seien Folge der mittel- und oberschichtstypischen Verachtung des Popularen, auch eine Frontstellung der oppositionellen Medien gegen Maradona als Ausdruck ihres Unmuts über den Verlust ökonomischer Privilegien festgestellt.110 Edgardo Mocca sieht daher für 2010 trotz der vordergründig geteilten patriotischen Fußballbegeisterung aller Akteur/innen eine im Subtext der regierungskritischen WM-Berichterstattung angelegte negative Assoziationskette, welche die Regierung und Maradona mit der Korruption des argentinischen Fußballverbands und den mafiösen Fanorganisationen 109 Bergel 168f. 110 Z.B. Bosto 322f., 381–356.
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der barras bravas in Verbindung bringen soll, während der pro-kirchneristische WM-Diskurs eine Reihe positiver Entwicklungen zu artikulieren versucht: »Diese symbolische Kette ›politische Erholung der Regierung – Bicentenario – Fußballweltmeisterschaft‹ ist tatsächlich eine zentrale Kette in diesen Tagen, und die kontrakulturelle Phase, welche die Medien organisieren, indem sie die Achse ›Maradona – Fußballverband – barras bravas – Regierung von Cristina‹ konstruieren«.111
Die narrative Einbettung der WM in das kirchneristische Narrativ der recuperación soll im folgenden Abschnitt nachvollzogen werden. 7.2.4 Die Narrativisierung der Fußballweltmeisterschaft 2010 Als kleinster gemeinsamer Nenner in der Diskursstrukturierung aller Erzählungen fungiert die schlichte Feststellung: 2010 war ein außergewöhnliches Jahr. Eduardo Anguita drückt das am poetischsten aus: »Das Argentinien von 2010 war ein fröhliches Argentinien. Ich würde dir sagen, wenn [...] ich mich in den letzten 25 Jahren an ein fröhliches Jahr erinnern soll, die Ode an die Freude ist 2010.«112 Im Gegensatz zu den vorangegangenen Jahren scheint die kurzfristige Rezession überwunden und das Land im Aufschwung begriffen. Vor allem aber zeichnet sich ein Aufwärtstrend der kirchneristischen Regierung ab, die nach dem Konflikt mit den Agrarverbänden und den negativen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise auf Export und Beschäftigung bei den Parlamentswahlen 2009 ihre Mehrheit im Kongress verloren hatte. Die Narrativisierung der politischen Entwicklung in den Interviews stellt 2010 als ein Jahr dar, in dem der Kirchnerismus nach den Rückschlägen von 2008 und 2009 mit symbolträchtigen sozial- und gesellschaftspolitischen Maßnahmen und einem kompromisslosen Durchgreifen in politischen Konflikten den verlorenen Protagonismus zurückgewinnen konnte.113 Somit zeigt sich 111 Mocca. 170–173. 112 Anguita 140–142. 113 Z.B. Mocca 120–148. Mocca nennt beispielhaft Cristina Fernández de Kirchners erfolgreiche Auseinandersetzung mit Zentralbankchef Martín Redrado über den Zugriff auf die Zentralbankreserven für die Schuldenzahlung. Das Bild der Staatspräsidentin als Löwin, die mit gefletschten Zähnen das national-populare Projekt gegen die neoliberale Restauration in Gestalt Redrados verteidigt, soll machtvolle Durchsetzung und einen harten Kurs gegen die Feinde signalisieren und aktualisiert das Narrativ von der Unerschrockenheit des Kirchnerismus, der umso offensiver agiere, je mehr er in die Defensive gedrängt werde.
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eine wirtschaftliche und politische Erfolgsbilanz, welche die prophezeiten Horrorszenarien der Medien Lügen straft und auf mehreren symbolischen Bühnen ihren Ausdruck finden sollte. Vor allem das Bicentenario wird in den Interviews als Höhe- und Verdichtungspunkt dieser Aufbruchsstimmung erzählt. Die öffentlichen Jubiläumsveranstaltungen zum 200. Jahrestag der Mairevolution vom 25. Mai 1810, die von zwei Millionen Menschen besucht wurden, werden durchwegs als überwältigend, beeindruckend und als »Fest der Argentinität« beschrieben.114 Die überraschend hohe Teilnahme der Bevölkerung an den gebotenen Festivitäten wird zwar nicht in einer direkten Ableitung als Unterstützungserklärung für die Regierung verstanden. Wohl aber widerlegt die Massivität der popularen Partizipation in der diskursiven Konfiguration der pro-kirchneristischen Narrationen endgültig die fatalistische Stimmungsmache der oppositionellen Medien: »Das [Bicentenario] war ein wirklich bemerkenswertes landesweites Ereignis und diese Gruppen konnten es nicht glauben. Genau dieses Gefühl für das Vaterland 2010, deswegen war es ein großes populares Jahr, weil wir Maradona als Trainer hatten und unser Bicentenario mit dem gesamten argentinischen Volk auf der Straße feierten, als hier das Thema der Angst und der Unsicherheit installiert wurde.«115
Maradonas Präsenz als Trainer der Fußballnationalmannschaft wird als Anschluss an das patriotische Statement des »Volkes« im Bicentenario gedeutet, die WM dadurch zu einer weiteren «Eruption des Nationalen«116 erklärt, die im Zeichen der Wiedergewinnung des popularen Selbstwerts steht. Die Strukturierung des Bicentenario beeinflusst durch seine Verknüpfung mit der darauffolgenden Weltmeisterschaft damit auch die Bedeutung letzterer. Schließlich feierte die offizielle Inszenierung des Staatsjubiläums neben der Mairevolution vor allem die »Argentinität«, was als Anerkennung des Popularen verstanden wird. Auf einer erinnerungspolitischen Ebene bedeutete dies den Versuch einer Neubewertung der nationalen Geschichte,117 deren hegemoniestrategische Hintergründe Mocca hervorstreicht, wenn er das Bicentenario als 114 115 116 117
Z.B. Anguita 131–133; Forster 306–312; Brienza 68. Bosto 429–433. Brienza 65–70. Im medialen Diskurs zu den Feierlichkeiten zeigte sich dies in hitzigen Debatten über den Vergleich zwischen dem Centenario, also dem 100-Jahr-Jubiläum von 1910, und dem Bicentenario, in denen je nach eigener Positionierung in der antagonistischen Teilung versucht wurde, das eine oder das andere höherzubewerten. Bei den Maifeierlichkeiten selbst erfolgte die historiographische Neuinterpretation unter anderem im Rahmen einer künstlicherischen Darstellung der Nationalgeschichte durch das Künstlerkollektiv
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»Laboratorium« der Regierung zu Verbreitung einer legitimatorischen Botschaft bezeichnet, »die einer politischen Erfahrung populare Unterstützung und populare Leidenschaft geben sollte«.118 Der Streit um die Bedeutung der historischen Vergangenheit anlässlich des Bicentenario eröffnete eine »Debatte über das Nationale im historischen Bereich, im Bereich der Kultur, der Literatur, der Handlungsformen«, die den Antagonismus zu vertiefen versucht, den Brienza als »hegemoniales Unentschieden zwischen zwei großen Sektoren, die der konservative Liberalismus und der populare Nationalismus sind«, beschreibt und den auch er in den politisch-ideologischen Kontroversen der WM 2010 fortgeführt sieht.119 Im Gegensatz zum Bicentenario, das den antagonistischen Konflikt in der historiographischen Debatte ausagiert, steht bei der WM die Frage des Zukunftsoptimismus im Zentrum. Beide stellen aber symbolische Kampffelder dar, auf denen die Gegenwart und damit das Ringen um hegemoniale Deutungsmacht zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus verhandelt wird. Die symbolischen Repräsentationen werden metaphorisch auf den politischen Konflikt bezogen und dienen so der Konsolidierung eines Narrativs, das als »relato« von den kirchneristas auch als solches benannt wird und dessen Adaptation an den WM-Kontext Mocca im Interview prägnant resümiert: »Wovon sprechen wir, wenn wir vom Bicentenario und von der Fußball-WM sprechen? Das sagen klar die Feinde der Regierung, dass die Regierung die Fußball-WM für dieses und jenes verwendet... Was will ›verwenden‹ heißen? ›Verwenden‹ will heißen, sie zu verzahnen, sie zu verbinden mit einem diskursiven Dispositiv, das zu welcher Idee führt? Zur Idee, dass […] dieses Land, das 2001 an den höchsten Punkt seines Zerfalls gelangt war, das auf die Höhe seiner Identitätskrise gelangt war, zu seiner Auflösung als politische Gemeinschaft und als politisches Subjekt, sich erholte dank der Ersetzung des Neoliberalismus durch ein national-populares Projekt, welches den Selbstwert wiedererlangte, indem es auch das Konsumniveau wiedererlangte, das Niveau der Befriedigung von Rechten, von Forderungen etc. und heute können wir […] uns als Argentinier wünschen, die WM zu gewinnen, um der Welt zu zeigen, dass wir nicht nur ein großes Land sind, das sich erholte, das sich ökonomisch, kulturell erholte, sondern dass wir außerdem den besten Fußball der Welt haben.«120
Der Glaube an die Überlegenheit des argentinischen Fußballs, der sich in der euphorischen Inszenierung der WM rund um die Figur Maradonas Fuerza Bruta, die sowohl von Mocca als auch von Forster im Interview erwähnt wird: Mocca 33–39; Forster 308–310. 118 Mocca 32f. 119 Brienza 73–80. 120 Mocca 381–394.
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ausdrückt, kondensiert die ökonomischen Verbesserungen, die Überwindung der politischen Anomie und den kulturellen Wandel hin zum Bewusstsein der popularen Würde als untrennbar miteinander verknüpfte Bestandteile der kirchneristischen recuperación. »Selbstvertrauen statt Agonie« lautet die Devise. Dafür ist es wichtig zu betonen, dass Fußball 2010 kein Substitut für den politischen und sozialen Aufschwung, sondern seine Krönung ist. Mocca erinnert daher an die WM von 2002 und bezieht auch diese auf den innenpolitischen Kontext, denn »Argentinien kam von der destruktivsten Krise seiner Geschichte. [...] Und die Verzweiflung um den Erfolg, der Erfolg der WM war keine Hoffnung, er war ein verzweifeltes Objekt, um zu glauben, das wir als Gesellschaft weiterhin existieren.«121 Der Kontrast macht deutlich, dass die hohen Erwartungen an die Meisterschaft und die aufgeheizte Siegesstimmung 2010 nicht Ausfluss einer ausweglosen politischen und sozioökonomischen Lage sind, die durch einen sportlichen Erfolg kompensiert werden soll. Die WM soll vielmehr das Narrativ der »Wiedergewinnung des Selbstwerts« ausdrücken und die im vorigen Kapitel dargestellte Inszenierung Maradonas die Rückkehr zur verlorenen Größe der argentinischen Nation symbolisieren. Maradona ist für diese Rolle in seinem doppelten Symbolgehalt als Repräsentant des populistischen Bruchs und als affirmative Metapher der national-popularen Argentinität prädestiniert. Der Nationaltrainer verkörpert mit seinem Symbolgehalt als Transgressor, insbesondere aber mit seiner wechselhaften Biographie den vom Schicksal gebeutelten underdog, der nach einer Phase persönlicher Krisen als legitimer Repräsentant der Nation zurückkehrt. Auch das übersetzt das kirchneristische relato in einer symbolischen Inszenierung. Eduardo Anguita beschreibt die politisch-kulturelle Artikulation folgendermaßen: »Ich glaube, dass in Wirklichkeit ein Gutteil dessen, was sich in den ersten Jahren des Kirchnerismus ereignete, die Erzählung der Verdrängten ist. Der Mütter der Plaza de Mayo, von Charly García, der auch aus den Drogen herauskommt, von Maradona, der aus den Drogen herauskommt, und von Millionen von Personen, die wieder Arbeit finden, die aus der Unterwelt herauskommen.«122
Das Auftauchen der Exkludierten an der Oberfläche der politischen Arena schafft eine neue politische Kollektivität popularer Subjekte, die durch die gemeinsame Erfahrung der Marginalität zusammengehalten werden. Die Mütter der »Verschwundenen« der Militärdiktatur, drogengebeutelte Medienstars und Arbeitslose werden in dem Moment 121 Ebd. 269–272. 122 Anguita 80–83.
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äquivalent, in dem der erfahrene Ausschluss aus der Gemeinschaft derer, die »oben« sind, zur Grundlage einer positiv bestimmten popularen Subjektivität gemacht wird. Anguita beschreibt daher den Kirchnerismus als »ein Identitätsphänomen, das wir alle brauchten, die wir fühlten, dass wir untergetaucht waren, die Millionen, die wir aus verschiedenen Gründen untergetaucht waren und die wir plötzlich an der Oberfläche waren.«123 Maradona, der nach dem Dopingausschluss von der WM 1994 und nach Jahren des Drogenmissbrauchs und des körperlichen Verfalls einen erfolgreichen Entzug vornimmt und damit den Ausstieg aus der »Unterwelt« schafft, steht metaphorisch für die vielen, die mit der politischen Wende Anerkennung und Subjektwerdung erfahren haben. Seine Berufung zum Teamchef der Nationalelf ist schließlich Ausdruck für den Triumph des Popularen und dessen Einsetzung als neuer legitimer Totalität. Im Vergleich zur Narrativisierung des Bicentenario oder des Programms Fútbol para Todos werden die symbolischen Repräsentationen der Fußballweltmeisterschaft allerdings weniger einheitlich erzählt. Die dargestellten diskursiven Muster stellen das in der Zusammenschau aller Interviewgespräche als dominant identifizierte Narrativ dar, zu dem sich kein nennenswertes Gegennarrativ formiert hat. Jedoch zeigen sich bei einigen Punkte höchst divergierende Meinungen. Obwohl die zugrundeliegenden Deutungsmuster und Topoi aller Erzählungen deckungsgleich sind, wird die politische Bedeutsamkeit der politisch-kulturellen Artikulationen in einigen Fällen höchst unterschiedlich bewertet. Mario Wainfeld etwa schätzt die politische Wirkmächtigkeit der WM im Vergleich zum Bicentenario und dem Tod Néstor Kirchners im Oktober als zentrale symbolische Ereignisse von 2010 gering ein, in seiner Bilanz der politisch relevanten Debatten fände sie daher keinen Eingang.124 Damit steht er diametral entgegengesetzt zu Ricardo Forster, der die Bedeutung der Trainerschaft Maradonas als Ausdruck einer »nationalen Wiedergeburt« gar nicht hoch genug bemessen kann und der WM ungeachtet der letztlich verfehlten Siegeserwartungen einen zentralen Platz im politischen Panorama von 2010 zuschreibt.125 Anguita wiederum bezweifelt die Wahrnehmung der symbolischen Verbindung zwischen Bicentenario und Fußballweltmeisterschaft in der breiten Öffentlichkeit, die eher auf das »kirchneristische Imaginarium« beschränkt bleibe,126 während Diego Bosto die zahlreichen Besucher/ innen des Bicentenario und den massenhaften Empfang des geschlagenen Nationalteams bei seiner Rückkehr nach Ezeiza in ihrer Intention 123 124 125 126
Ebd. 91–93. Wainfeld 278–280. Forster 311–321. Anguita 122–134.
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DIE SYMBOLISIERUNG DES POPULAREN
gleichsetzt, die Stimmungsmanipulation der oppositionellen Medien zu konterkarieren.127 Die übereinstimmenden Narrativisierungen übersetzen sich also nicht in eine gleichermaßen hohe Routinisierung ihrer Relevanzbestimmung. Die unterschiedlichen Einschätzungen scheinen der Problematik geschuldet, dass aufgrund des sportlichen Scheiterns auch der politisch-emotionale Effekt der diskursiven Konstruktion in Frage steht. Nachdem die Fußball-WM mit einer einigermaßen harten Niederlage endete, stellt sich die Frage nach der Sinn- und Folgenhaftigkeit ihrer symbolischen Inszenierung zur soziokulturellen Verkörperung der national-popularen Erzählung, die mit den Interviewpartnern diskutiert wurde und in den verbleibenden Abschnitten dargestellt werden soll.
7.3 Die Symbolisierung des Popularen – Konstruktion oder Illustration? Die unterschiedlichen Bewertungen der sozialen Produktivität symbolischer Inszenierungen stehen in engem Zusammenhang mit der jeweiligen Beurteilung ihrer voluntaristischen Dimension, ihrer positiven oder negativen politischen Effekte sowie des allgemeinen Stellenwerts kultureller Bedeutungsträger für die »Formgebung« der antagonistischen Spaltung. Das folgende Kapitel beleuchtet daher, ob und wie den politisch-kulturellen Artikulationen der Fußballweltmeisterschaft strategischer Charakter zugeschrieben wird und wie ihre Legitimität sowie Effektivität bewertet werden, bevor zuletzt eine Analyse der Funktionsbestimmung symbolischer Kämpfe und damit des Politikverständnisses der involvierten Akteure vorgenommen wird. 7.3.1 Äquivalenz als kulturelle Erfahrung So sehr die pro-kirchneristischen Intellektuellen, Journalisten und Aktivisten die Äquivalenz zwischen den von Maradona repräsentierten popularen Bedeutungen und der national-popularen »Erzählung« betonen, so sehr widersprechen sie einer Deutung seiner Figur als politisch vereinnahmter Ikone der kirchneristas. Als klassischer Beweis für Maradonas symbolische Autonomie wird stets auf seine politische Wechselhaftigkeit verwiesen. So habe er im Laufe seines Lebens so unterschiedliche Politiker/innen unterstützt wie den Kommunisten und ehemaligen kubanischen Präsidenten Fidel Castro, den früheren Staatspräsidenten Argentiniens Carlos Menem mit seiner neoliberalen Wirtschaftspolitik und 127 Bosto 399–403.
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nun eben Néstor und Cristina Kirchner. Da er eine der wenigen Personen Argentiniens sei, die es sich leisten könnten, quasi alles zu sagen – so lautet die Einschätzung – sei er sein eigener Machtfaktor, unkontrollierbar und politisch schwer zu binden.128 Ausgehend von dieser Unkontrollierbarkeit Maradonas wird er von manchen als autonome »kulturelle Persönlichkeit« verstanden, deren Rolle als national-popularer Held im innenpolitischen Kontext nicht als bedeutsam gelesen werde.129 Demgegenüber vertreten andere die Position, dass Maradona sich der »Symbolmaschinerie«130 des Kirchnerismus sehr wohl willentlich zuträglich zeigte. Edgardo Mocca bewertet die politische Relevanz des Trainers der Nationalmannschaft folgendermaßen: »Maradona spielte im Vorfeld der WM und während der WM selbst im Bewusstsein dessen, dass die Regierung ihn als Symbol brauchte. Sagen wir, Maradona spielte ziemlich klar in Unterstützung der Regierung, indem er sich etwa mit den Abuelas de Plaza de Mayo fotografieren ließ, er hat sich für eine gewisse Benutzung angeboten.«131
Für Pablo Ortiz ist dieses eindeutig pro-kirchneristische Engagement Maradonas, das auch für ihn außer Frage steht, gerade aufgrund seiner Autonomie, die ihn über jeden Zweifel erhaben macht, Ausdruck echter Identifikation mit der Inklusionspolitik dieser Regierung: »Diego ist Kirchnerist. Diego unterstützt Fútbol para Todos. Diego hat kürzlich [...] gesagt, dass er Cristina wählen würde. Diego ist zufrieden mit dieser Regierung, weil er sieht, dass in den Schichten, wo er geboren ist, in den villas – die weiterhin arm sind und noch immer gibt es wenig Arbeit – ein beträchtlicher Aufstieg in vielen Dingen stattfindet.«132
Da Maradona zugeschrieben wird, sich nicht kaufen zu lassen, nur für die eigene Sache zu kämpfen und unempfänglich für politische Vereinnahmung zu sein, kann seine Inkorporation ins national-populare Lager als Beweis für ein genuines kulturelles Phänomen der Konvergenz popularkultureller und populistischer Positionen gelten. Mario Wainfeld dazu: »Maradona ist ein herausfordernder Typ, ein streitlustiger Typ, der eine gute Beziehung mit ein paar grundsätzlichen Ideen des Kirchnerismus etabliert hat, sagen wir. […] Maradona ist in allem ein sehr aufrichtiger Typ. 128 129 130 131 132
Etchemendy 63–65, 73–76; Mocca 199–207; González 192–195. Z.B. Etchemendy 72–80, 118f. Mocca 198f. Ebd. 190–193. Ortiz 295–298.
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DIE SYMBOLISIERUNG DES POPULAREN
Ich will sagen, dass er nicht opportunistisch handelt […]. Ich würde sagen, seine Gesinnung stimmte damals mit der Gesinnung des Kirchnerismus überein, die eine Gesinnung des Kämpfens, der Auseinandersetzung und des Streits war.«133
Dies zeigt, dass gerade Maradonas Image als autonom und unkontrollierbar seiner Einsetzbarkeit als artikulatorisches Element in der populistischen Erzählung zuträglich ist, da seine unterstützende Haltung als auf ähnlichen Überzeugungen fußend und damit natürlich erscheint. Es handelt sich dann eben um ein Naheverhältnis, das durchaus möglich, aber weder verwunderlich noch erwähnenswert ist. Sebastián Etchemendy bestätigt als Vertreter dieser Sichtweise, dass in einer ideologisch gespaltenen Gesellschaft unterschiedliche soziale Sektoren von Maradona natürlich in je spezifischer Weise »angerufen« würden und darauf jeweils mit seiner Verteidigung oder Zurückweisung reagierten.134 Die Parallelität stößt aber nicht vor den Kopf, sie fällt nicht einmal besonders auf, erscheint vielmehr logisch und nicht erklärungsbedürftig. Die selbstverständliche Reaktion zeigt die Alltagsevidenz der politischen Artikulation kultureller Topoi. Die metaphorischen Bedeutungen dieser Topoi sind im Common sense der involvierten Akteure selbst verankert. Die Verknüpfung mit politischen Bedeutungen erscheint daher weniger als intendierte Konstruktion denn als identitär-kulturelles Phänomen der Äquivalenz, das sich »so ergeben hat«.135 Dementsprechend versteht Eduardo Anguita Maradonas Inkorporierung in eine populare Äquivalenzkette als reale historische Erfahrung, als deren Teil Maradona sich erkannte. Prominente Figuren des kulturellen Lebens wie Maradona, der Rockstar Charly García oder die Folkloresängerin Mercedes Sosa »wurden kirchneristas, aber Kirchner wurde mercedes-sosista, maradonista und charly-garcista, das heißt, es gab eine interessante Art identitär-kulturelle Begegnung.«136 Maradona findet in diesem Verständnis Ausdruck im popularen Narrativ des Kirchnerismus, weil er sich mit dem Kampf für die Befreiung aus der Marginalität identifiziert, dessen metaphorischer Ausdruck Néstor Kirchner tatsächlich ist. Die politische Artikulation zwischen Maradona und dem Kirchnerismus wird so zum symbolischen Ausdruck einer genuinen kulturellen Konfluenz zwischen »popularer Kultur« und »popularer Politik«. Wie gestaltet sich in diesem Szenario die Rolle der kirchneristischen Regierung? Die Regierung schaute wohlwollend auf Maradona, hegte viel Sympathie für ihn, positionierte sich zu seinen Gunsten, so lauten verschiedentlich die Formulierungen, mit denen eine reaktiv-begleitende 133 134 135 136
Wainfeld 91–99. Etchemendy 51–56. Brienza 94–96. Anguita. 95–98.
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Haltung des oficialismo suggeriert werden soll.137 Mario Wainfeld rekonstruiert die Einsetzung Maradonas als Trainer der Nationalmannschaft im Jahr 2008 als Folge einer öffentlichen Forderung, der sich die Regierung anschloss, um sich nicht gegen die Fans zu stellen. Der Vorstellung von Maradona als Nationaltrainer »installierte sich« mangels Alternativen und aufgrund der Ambitionen Maradonas, diese Funktion zu erfüllen. Das habe das Land in einen Begeisterungstaumel versetzt, von dem sich niemand hätte abkoppeln können. Hätte sich die Regierung gegen den Volkswillen ausgesprochen, so Wainfeld, wäre ihnen das mehr als das Dekret 125 zum Verhängnis geworden, das 2008 den folgenschweren Konflikt mit den Agrarverbänden auslöste.138 So erscheint die Reaktion der Regierung als einzig mögliche und logische angesichts einer durch ein »soziales Phänomen«139 induzierten Entwicklung: »Ich glaube, dass alle in der Regierung den Trend mitmachten, und das ist sehr peronistisch, den Trend mitmachten, dem sie sich nicht entgegenstellen konnten. Der ihnen überhaupt nicht ungelegen kam, das ist klar. Was ich nicht glaube, ist im Zusammenhang mit deiner Frage, dass eines Tages im Regierungsgebäude, ich vereinfache, um es klar zu machen, dass eines Tages im Regierungsgebäude entschieden wurde, dass Maradona Trainer sein soll, sie ihn holen und es ihm sagen, das hat sich nicht so abgespielt.«140
Wainfeld geht es hier nicht darum, jegliches Interesse der Regierung an der Nutzbarmachung dieses symbolpolitischen Potentials zu leugnen. Im Gegenteil habe diese für Maradona interveniert und gehofft, dass letzterer eine »kulturelle Kompatibilität mit dem Kirchnerismus« zeige.141 Allerdings ist ihm wichtig, daraus die richtige Schlussfolgerung zu ziehen. Die strategische Mobilisierung kultureller Topoi für die Strukturierung des politischen Konflikts ist Ausdruck einer »hohen Fähigkeit zum Dialog mit sozialen Akteuren« und insofern legitim, als sie lediglich eine vorhandene symbolisch-kulturelle Äquivalenz aufgreife.142 Ähnliches soll durch die Kontrastierung mit der Weltmeisterschaft von 1978 argumentiert werden. Die WM 1978, deren Austragungsort wie auch Siegerland das Argentinien der letzten Militärdiktatur war, wird dabei stets als Beispiel für eine instrumentalistische »Benutzung« des Sports durch die politische Macht zur Verbesserung des eigenen Images 137 138 139 140 141 142
Z.B. Bosto 330–335. Wainfeld 139–148. Ebd. 159–185. Ebd. 185–190. Ebd. 123f., 345f. Ebd. 224–228.
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genannt.143 Die häufige Erwähnung deutet darauf, dass dieser Bewerb in Hinblick auf den Zusammenhang zwischen Fußball und Symbolpolitik nach wie vor die bei weitem wichtigste Referenz ist. Dabei wird in den Interviews wie auch in Alltagsgesprächen ein spezifisches Erzählmuster benutzt, das stets das gleiche Bild einsetzt: den Hinweis auf die geographische Nähe zwischen dem Fußballstadion des Clubs River Plate, in dem das siegreiche Finalspiel ausgetragen wurde, und der ehemaligen Militärakademie ESMA als Folterzentrum der Diktatur.144 Die Betonung der geringen Distanz zwischen der jubelnden Menschenmenge im Stadion und dem Ort, an dem entführte Regimegegner/innen festgehalten und gefoltert wurden, kondensiert die Widersprüchlichkeit dieses Sieges und der von ihm ausgelösten Begeisterung in der Bevölkerung angesichts der verheerenden Menschenrechtslage im Land in einem Bild als »unfassbare Parallelität«. Die Intention dieser Topik ist nicht die Infragestellung der legitimen Freude des »Volkes«. Eine mögliche Komplizenschaft mit der Diktatur wird ausgeschlossen, indem auf die geteilten Siegeshoffnungen auch unter den Exilierten oder den Gefangenen selbst verwiesen wird.145 Die Unfassbarkeit besteht vielmehr in der Manifestation eines argentinischen Patriotismus, der gleichwohl keinen Adressaten in der politischen Realität des Landes fand. Die Darstellung der Erfahrung von 1978 strukturiert die Wahrnehmung der WM von 2010. Der Konstrast zwischen beiden stärkt die narrative Strukturierung letzterer als genuiner kultureller Erfahrung der Äquivalenz. 2010 war im Gegensatz zum ersten WMSieg vor über 30 Jahren eben keine Beziehung des Widerspruchs, sondern eine konvergierende Erfahrung des nationalen Enthusiasmus, in der sich der sportliche Jubel und die politische Konjunktur in harmonischer Weise integrieren. 7.3.2 Laclau’sche Reflexionen Von Seiten der Gesprächspartner, die dem engeren Zirkel der kirchneristischen Intelligentsia zuzurechnen sind, wird die strategische Dimension des politischen Handelns rund um die Fußballweltmeisterschaft deutlich unverblümter angesprochen. Ricardo Forster meint auf die im Interview eher vorsichtig eingebrachte Frage nach der Bedeutung von Fußball als »Element einer symbolischen Politik zur Bezeichnung der Nation und des Popularen« geradewegs: »Ja ja, die Entscheidung, dass Maradona 2010 Nationaltrainer wird, ist eine politische Entscheidung. Eine von 143 Brienza 62f.; Forster 368f.; Etchemendy 188f. 144 Forster 615–622; Mocca 15–19. 145 Ulanovsky 89–94; Ortiz 46–52; Forster 369–377.
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Néstor Kirchner angetriebene Entscheidung und Teil des Abkommens, das er mit der AFA für Fútbol para Todos machte« und begründet dies mit Maradonas Idolwert, den er aufgrund seines Tors gegen die Engländer habe.146 Edgardo Mocca streicht in Hinblick auf die Episode von Ezeiza, bei der 20.000 jubelnde Fans der heimkehrenden Mannschaft aufwarteten, hervor, dass »die Regierung über die Kommunikationsmedien Einfluss ausübte, damit das Nationalteam von Leuten empfangen werde, von Leuten, die ihnen applaudierten, was nicht so gewesen wäre, wenn es nicht einen Impuls von oben gegeben hätte.«147 Horacio González schließlich konstatiert, dass der Kirchnerismus aus Maradonas Symbolkraft als Figur des Popularen viel politischen Nutzen gezogen habe, denn: »Am Anfang war ›national-popular‹ nichts gewesen, das ist eine Werbelinie.«148 Diese Offenheit zeigte sich nicht nur in den Aussagen, sondern auch in der Atmosphäre während der Interviews. Es scheint, dass die theoretisch gefestigteren pro-kirchneristischen Intellektuellen weniger Befürchtungen hegen, dass die »planerische« Dimension in der Konstruktion des WM-Narrativs und die des genuin kulturellen Phänomens sich gegenseitig ausspielen könnten, und daher einem geringeren Rechtfertigungsdruck unterliegen. Dies gilt allerdings auch für Pablo Ortiz und Diego Bosto, beide kirchneristische Aktivisten, denen jegliche Illegitimität des Regierungshandelns undenkbar zu sein scheint und denen eine vorauseilende Entkräftung diesbezüglicher Verdachtsmomente daher fernliegt. Somit ist es der »journalistische Mittelbau« des pro-kirchneristischen Lagers, der den Begriff der »Benutzung« noch am ehesten im Sinne von Manipulation und Instrumentalisierung denkt und daher auch eine derartige Interpretation abwenden zu müssen glaubt.149 Die regierungsnahen Intellektuellen argumentieren dagegen ähnlich wie Ernesto Laclau selbst und verwenden dazu auch sein Vokabular. Die Unmöglichkeit einer völligen Schließung der sozialen Struktur scheint ihnen durch die unauflösbare Spannung zwischen der Logik der Äquivalenz und der Logik der Differenz auch in einer populistischen Diskursformation ohnehin garantiert. Wie jeder soziale Raum besitze auch der Fußball seine Autonomie und seine Eigenlogik, die nicht ignoriert werden könne. Das erklärt für Mocca auch, warum die Regierung am Ende nicht auf einen Verbleib Maradonas als Nationaltrainer beharrte. 146 147 148 149
Forster 213–217. Mocca 451–454. González 321f. Am deutlichsten zeigt sich das bei Carlos Ulanovsky, der die Politisierung von Sport sofort mit dem Nationalsozialismus verbindet und folglich natürlich strikt darauf besteht, dass die Regierung 2010 keinerlei »aprovecho«, also Nutzen, aus der WM gezogen habe, da man nicht mehr in Zeiten der Militärdiktatur lebe: Ulanovsky 59–62, 83–86.
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Die Autonomie der Räume sei eben nicht vollständig auszuhebeln.150 Die kirchneristischen Intellektuellen setzen der Übertragungslogik ein Denken in der Logik der Artikulation entgegen. Fußball wird von ihnen nicht als instrumenteller Raum betrachtet, der eine passive Bühne für politische Inszenierung bietet. Vielmehr meint die Symbolisierung politischer Projekte, die politischen Konflikte in diesem Raum ein zweites Mal entstehen zu lassen und dort in dessen eigener symbolisch-kulturellen Sprache auszutragen. Forster nennt das »eine systematische Politik des kulturellen Disputs« und beschreibt diese folgendermaßen: »Was die Regierung macht, ist weiter die Idee zu vertreten, dass ein Projekt beträchtliche soziokulturelle Verkörperung braucht, [...] folglich wird sie weiterhin all dem Bedeutung geben, was mit diesen symbolisch-popularen Welten zu tun hat«.151 Die Reartikulation der popularen Kultur als Teil der politischen Auseinandersetzung wird als legitime und notwendige Operation aufgefasst, die nicht in Begriffen der Manipulation verstanden werden könne. Stattdessen flicht die politische Artikulation die kulturelle Symbolik in eine mögliche diskursive Konstellation ein, die dem kontingenten Sozialen eine nicht a priori zurückweisbare Form gibt.152 Ein solcherart reflektierter Zugang wird auch den Kirchners zugeschrieben. Diese verstünden ihren hegemonialen Anspruch auf die populare Kultur ebenfalls als genuine Konstruktion einer Verknüpfung zwischen ideologischen Inhalten und symbolischen Elementen des sozialen Imaginären, die neue kollektive Identitäten schaffe, ohne eine Seite der Verbindung der anderen zu unterwerfen. Die Interventionen der Regierung etwa rund um die Frage der Nachfolge Maradonas nach dem Ausscheiden der Nationalmannschaft endeten daher an den Grenzen, welche die Autonomie der sozialen Räume gegen die Logik der Äquivalenz behauptet: »Kirchner war seiner eigenen Fußballbegeisterung gegenüber genügend respektvoll, um zu verstehen, dass die Politik etwas mit dem Fußball machen kann und dass der Fußball der Politik hin und wieder etwas anbieten kann, aber dass der Fußball nicht auf die Politik reduzierbar ist.«153
Das Zusammenfließen des popularen Symbolgehalts der WM mit der national-popularen Erzählung des Kirchnerismus baut auf einem authentischen kulturellen Phänomen auf, das auch den politischen Akteur/innen selbst nicht äußerlich bleibe. Deren Spekulation auf Prestigegewinn mit einem Auge auf die kommenden Wahlen ist daher die erwartbare und 150 151 152 153
Mocca 459–463. Forster 781–784. Mocca 536–549. Forster 423–425.
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der Logik des politischen Raumes angemessene Nutzbarmachung dieser eigenständigen kulturellen Erfahrung.154 Die Unhintergehbarkeit des Diskurses als Matrix der Subjektkonstitution dient als Argument für die Glaubwürdigkeit der politischen Handlungsträger/innen. Die Vorstellung einer macchiavellischen Benutzung des popularkulturellen Imaginariums zur Sicherung autoritärer Macht wird verworfen, weil die Handelnden selbst von den symbolischen Ordnungssystemen durchdrungen seien.155 Im Gegenteil wird es nachgerade als Voraussetzung erfolgreicher Anrufungen erachtet, dass sie nicht von externen, jenseits der konstruierten Kollektividentitäten liegenden Positionen aus formuliert werden: »Die Benutzung dieser Metaphern und dieser Symbologien ist nicht so bewusst, sondern die Protagonisten selbst sind in diese hegemoniale Konstruktion und in diese symbolische Konstruktion eingebettet. [...] Nicht jede Regierung kann das Werkzeug des Nationalen als Verbindung benutzen. Zum Beispiel de la Rúa konnte es nicht benutzen, Menem benutzte es nicht, Alfonsín benutzte es nicht. Es sind bestimmte politische Standorte, die diese Symbologie benutzen können.«156
Dass die politisch-kulturellen Artikulationen den Protagonist/innen selbst nicht vollständig bewusst sind, wird am Beispiel der Interviewpartner selbst sichtbar. Paradigmatisch zeigt sich das bei Edgardo Mocca, der im Gespräch sämtliche Dimensionen der WM hoch analytisch extrahiert, um dann fast erstaunt zu konkludieren, dass dies doch genau der Rede von der recuperación entspreche, die auch im politischen Diskurs der Zeit salient war.157 Die vorgestellten Perspektiven sind nicht nur von einem Bezug auf Laclau geprägt, sie berufen sich teilweise auch explizit auf ihn. Auch der eben zitierte Hernán Brienza zählt zur Gruppe derer, welche die Relevanz von Fußball als Element im hegemonialen Kampf um die Definition des Popularen auf einem hohen theoretischen Komplexitätslevel erläutern. Seine gleichwohl geäußerte Skepsis gegenüber dem »europäischen Vorurteil«, welches ein Bild hilfloser popularer Massen in den Fängen der populistischen Propagandamaschinerie zeichne, schwindet angesichts der Erwähnung Laclaus, den er als Referenz begrüßt. Die Richtigkeit der Hypothese hänge von ihrer Bewertung ab, einer Laclau’schen Perspektive könne er aber zustimmen.158 Die Bezugnahme auf Laclau ist zentral für das Verständnis der symbolpolitischen Prämissen im Lager der kirchneristas. Es erweist sich 154 155 156 157 158
Anguita 116–121. Brienza 201–203. Ebd. 87–93. Mocca 253–256. Brienza 191–201.
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daher als lohnend, Edgardo Moccas äußerst aufschlussreiche Erläuterungen dazu einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Er definiert die Vorstellung einer nationalen Einheit als hegemoniale Konstruktion. In jedem politischen Konflikt stecke daher auch ein hegemonialer Streit um die Definition dieser nationalen Einheit und der ihr zugehörigen Akteur/ innen, das habe der Kirchnerismus mit seinem zutiefst peronistischen Zugang zur symbolischen Konstruktion des Nationalen erkannt.159 Fußball sei zwar selbstverständlich nicht von vornherein Teil einer bestimmten Äquivalenzkette, aber »gerade weil er ein Moment der Gemeinschaft und der nationalen Vereinigung ist, kann er genau den Ort einer politischen Taktik und Strategie einnehmen, [...] die sich den Anspruch der nationalen Einheit aneignen muss.«160 In der konkreten Ausgestaltung dieser Strategie spielt Maradonas Persönlichkeit eine wichtige Rolle, weil die divisorische Wirkung seines umstrittenen Charakters die FreundFeind-Logik im gesellschaftlichen Diskurs befeuert und damit eine Einheit der antagonistischen Abgrenzung stärken kann.161 In der Logik der kirchneristas stellt Fußball kein politisch ausdefiniertes Bedeutungsfeld dar, auf das sich die Politik nur zu stützen brauche, um die eigene Anhängerschaft zu vergrößern. Die symbolische Produktivität des Hegemoniekampfs auf kulturellem Terrain entfaltet sich erst, wenn die Transversalität des Fußballs gegen seine historische Prägung als populares Phänomen ausgespielt wird. Die Breitenwirksamkeit des Sports über soziale Sektoren hinweg macht ihn zu einem wichtigen Ort der Debatte über das Nationale, gleichzeitig kann einem Teil der Argentinier/innen durch eine politisch-kulturell bestimmte Definition des legitimen (Fußball-)Subjekts die Zugehörigkeit zu dieser nationalen Einheit abgesprochen werden. Horacio González antwortet daher sehr treffend auf die Nachfrage, ob Maradona denn nicht repräsentativ für Argentinien sei: »Doch, er repräsentiert Argentinien. Er repräsentiert es polemisch.«162 Maradonas symbolpolitisches Potential für eine populistische Artikulation besteht darin, das national-populare Kollektivsubjekt einer Seite dieser »polemischen« Repräsentation zum einzig »wahren Volk« zu universalisieren. Die Verbuchstäblichung der soziokulturellen Verkörperung Eine Gegenüberstellung mit den Stimmen aus dem Lager der militantes zeigt, dass von den beiden politischen Aktivisten das in der Konstruktion 159 160 161 162
Mocca 374–377, 396–400. Ebd. 372–374. Ebd. 435–441, 224–227. González 160.
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dieser Identität steckende Moment der Kontingenz zwar aufgenommen, in der Folge aber nicht durchgehalten wird. So scheint ihnen die Konstruiertheit des WM-Diskurses durchaus bewusst zu sein, wenn auch hauptsächlich die Gleichsetzung von Maradona und der Regierung durch die Opposition als delegitimierend intendierte thematisiert wird. Zumindest wird der sozialen Praxis des Fußballs keine essentielle Bedeutung zugeschrieben, diese könne unterschiedlichen Ideologien funktional sein und stelle nicht an sich schon eine national-populare Erzählung dar.163 Pablo Ortiz attestiert dem Fußball zwar »eine anfechterische Seite«, sieht ihn aber auch als widersprüchlich, denn »es gab Präsidenten, Diktatoren, die den Fußball auch für den eigenen Vorteil nutzten. Mussolini in Italien, Videla in Argentinien. Aber jetzt zum Beispiel benutzt ihn Kirchner für den eigenen Vorteil, und gegen Videla und das alles, die jetzt Gott sei Dank eingesperrt und verurteilt sind. Also ist der Fußball eine Sache, die immer die Mächte interessiert, egal von welchem politischen Hintergrund.«164
Zwar wird unterschiedlichsten politischen Kräften zugeschrieben, über die Vereinnahmung kultureller Praktiken eine Stärkung der eigenen Legitimitätsbasis zu suchen. Gleichzeitig weist die interpretative Struktur der Narration aber darauf hin, dass die politische »Benutzung« von Fußball eben nicht im Sinne einer Artikulation verstanden wird, die dazu dienen soll, das Volk anders darzustellen und eine notwendigerweise konstruierte nationale Einheit herzustellen. »Das Volk« ist im Gegenteil eine bereits bestehende geschlossene Entität, die lediglich korrekt repräsentiert werden will, weswegen es sich bei der WM 1978 nach Darstellung von Ortiz auch mit Pfiffen und Buhrufen gegen die propagandistische Ausschlachtung des Bewerbs durch das diktatorische Regime zur Wehr setzte.165 Da Kirchner den Fußball nun gegen die zuvor definierten antagonistischen Gegner, nämlich »Videla und das alles«, einsetzt, ist seine Konstruktion im Dienste des Volkes und damit legitim. Ebenso wird in der Folge die politische Artikulation von Fußball durch die kirchneristas während der Fußballweltmeisterschaft 2010 danach bewertet, wie sie sich in den Antagonismus zwischen »Volk« und »Machtblock« einfügt. In Ortiz’ Darstellung des aktuellen politischen Panoramas konfrontieren sich »das Volk« und »Sektoren der Oligarchie, Faschos, Rechte, [die] wenig solidarisch [sind], denen es egal ist, dass es Arme auf der Welt gibt.«166 Letzteren wirft Ortiz vor, dass sie alle anderen unterdrücken und umbringen lassen würden, so lange ihr Wohlergehen 163 164 165 166
Ortiz 144f. Ebd. 160–166. Ebd. 140f. Ebd. 433f.
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gesichert wäre, und dass sie Sympathien für die Militärdiktatur hegten.167 Das »argentinische Volk« als positiv besetztes Wir erscheint im Verlauf seiner Erzählung sowohl fußballaffin als auch regierungsunterstützend und es ist insbesondere ein »reiferes« Volk, das im Gegensatz zum »Volk der Militärdiktatur« die Lügen Claríns bzw. der ökonomischen Sektoren nicht mehr glaube.168 Die politische Teilung ist hier eine moralische, sie wird in Begriffen von Gut und Böse sowie Wahrheit und Lüge verhandelt. Ortiz’ Definition von Fußball als Werkzeug populistischer Politik meint in der Konsequenz etwas anderes als noch bei Edgardo Mocca. Da die Rollen im Kampf zwischen Gut und Böse eindeutig verteilt und damit die Fronten bereits klar abgesteckt sind, wird hier die soziokulturelle Verkörperung der popularen Einheit nicht mehr als Ziel der symbolischen Konstruktion reflektiert. Vielmehr ist es bereits zu einer Verbuchstäblichung dieser Konstruktion gekommen, sodass der politisch-kulturelle Antagonismus als essentielle Grundlage des Konflikts aufgefasst wird. Dies stellt allerdings nur scheinbar einen Widerspruch dar, entspricht es doch gerade der Wirkung, welche die populistische Konstruktion erzielen soll. Ortiz trägt die diskursive Artikulation zwischen »popularer Kultur« und »popularer Politik« schließlich voll mit, nur hat er sie bereits internalisiert und nimmt sie als dem Wesen der Akteur/innen entsprechende an. Der Fußball gehört dem »Volk« und die Kirchnerregierung ist der legitime Repräsentant dieses Volkes. Daher sind die popularen Sektoren, die im Stadion die Stehplätze besetzen und die Mitgliederschaft der Fanclubs stellen, natürlich kirchneristas. Und daher ist der Kirchnerismus der einzige, der Fußball legitimerweise benutzen darf, um die Wahrheit ans Licht zu bringen.169 Somit hat die äquivalentielle Artikulation ihren Zweck erfüllt: Es gibt nun tatsächlich ein »Volk«, das als Fundament der Kämpfe erscheint, als deren Effekt es eigentlich entstanden ist. Diesem ist ungerechterweise der Zugang zum politischen Repräsentationsraum verwehrt. Die politische Aufgabe besteht für den hegemonialen Repräsentanten des popularen Kollektivsubjekts daher darin, diesem Volk Gehör zu verschaffen. Die moralische Aufladung der Dichotomisierung führt dazu, dass etwa die einseitige Nutzung von Fútbol para Todos als massenwirksame Kommunikationsplattform durch die Regierung angesichts des illegitimen Feindes gerechtfertigt erscheint. Andernfalls könnte schließlich in Frage gestellt werden, dass die an der Regierungsmacht befindliche Partei ihre politischen Botschaften bei den Spielübertragungen der ersten (und später auch der zweiten) Liga im öffentlichen Fernsehen verbreitet und andere politische Akteur/innen von der Nutzung dieses Forums ausschließt. 167 Ebd. 431–436. 168 Ebd. 374–380. 169 Ebd. 70–73.
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7.3.3 Symbolische Inszenierung als politisches Epiphänomen? Trotz aller Euphorie und Begeisterung über die Präsenz Maradonas und seine Symbolisierung der wiederhergestellten popularen Würde endete die argentinische Teilnahme an der Weltmeisterschaft mit einer herben Niederlage. Die Artikulation der symbolischen Konstruktion Maradonas als rehabilitiertem popularen Repräsentanten mit der vom Kirchnerismus eingeleiteten politischen und sozialen recuperación legt nahe, dass das Scheitern des Nationaltrainers Maradona im Umkehrschluss auch als Scheitern des kirchneristischen Zyklus ausgelegt wird. Tatsächlich zeigen die medialen Debatten nach dem WM-Aus eine diskursive Auseinandersetzung zwischen kirchneristas und antikirchneristas um die politisch-kulturelle Artikulation mit umgekehrten Vorzeichen: Steht die 4:0-Niederlage im Viertelfinale gegen Deutschland metaphorisch für die Inkompetenz populistischer Politik? In den Interviews wird dennoch durchgängig der Standpunkt vertreten, die fußballerische Niederlage habe der Regierung keinen Schaden zugefügt. Durchargumentiert wird dies zwar wenig elaboriert bis gar nicht, sodass der Eindruck entsteht, das Ausscheiden der argentinischen Mannschaft stelle schlicht keinen integralen Bestandteil der WM-Erzählung mehr dar. Die unterschiedlichen Erklärungen dafür zeigen allerdings, dass die symbolische Inszenierung politischer Konfliktlinien im Fußball als relativ risikoarmes Unterfangen eingeschätzt wird. Einerseits habe Maradonas Sonderstatus als undiskutierbarer Nationalheld einen Gutteil der Frustration abgefangen. Wainfeld sieht »die Tatsache, dass Maradona für dieses gewichtige Resultat verantwortlich war«, ausschlaggebend dafür, dass die nationale Bestürzung und Trauer ob der Niederlage nicht zu öffentlichen Unmutsäußerungen führte.170 Er distanziert sich zwar explizit von dieser Narrenfreiheit für Maradona, dem alles erlaubt und vergeben werde, gewährt aber einen Einblick in ihr Ausmaß, wenn er die wohlwollende Reaktion der Fans zuletzt selbst damit begründet, dass schließlich alle um Maradonas Probleme wüssten und er geschont werden müsse, um ihn vor einem möglichen Drogenrückfall zu bewahren.171 Andererseits, argumentiert Bergel, sei die Niederlage auch deshalb rasch verdaut worden, weil die schlechten WM-Ergebnisse der Vergangenheit bereits einen Gewöhnungseffekt und ein ambivalentes Verhältnis der fußballaffinen Bevölkerung zum Nationalteam gezeitigt hätten, sodass die Spannung rasch wieder in Indifferenz umschlage.172 So wird beschleunigt, was ohnehin in die Logik des WM-Spektakels eingeschrieben 170 Wainfeld 244f. 171 Ebd. 257–268, 297f. 172 Bergel 67–75.
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sei: Nach Ende des mehrwöchigen Ausnahmezustandes wird die normale Agenda wieder aufgenommen und das WM-bedingt medial vernachlässigte politische Tagesgeschäft kehrt dominant in die Berichterstattung zurück.173 Die Artikulation von Fußball und Politik scheint trotz des sportlichen Scheiterns mit geringen politischen Kosten verbunden zu sein. Dies umso mehr, als einhellig bilanziert wird, dass die Opposition aus dem Ausgang der Weltmeisterschaft jedenfalls keinen Profit schlagen konnte. Indem den oppositionellen Kräften zugeschrieben wird, alle nationalen Niederlagen als weiteren Anlass zur Kritik an der Regierung zu begrüßen und damit völlig am »popularen Gefühl« vorbeizugehen,174 ist es für den kirchneristischen Diskurs relativ einfach, die mediale Kritik an der schlechten WM-Performance Argentiniens und den Versuch ihrer politischen Aufladung als »kontra-argentinisch« abzutun.175Nachdem die Verbreitung schlechter Stimmung als Hauptziel der regierungskritischen Medien herausgestellt wurde, bestätigt jede weitere negative Berichterstattung die Offensichtlichkeit dieses Ziels. Die gegebene Diskursstrukturierung bietet vielmehr eine Möglichkeit, die symbolische Konstruktion der »national-popularen Weltmeisterschaft« weiter zu verteidigen, ohne diese selbst thematisieren zu müssen, indem lediglich die antipatriotische Haltung der Medien kritisiert wird. Somit bestätigte die WM-Niederlage letztlich den antagonistischen Konflikt. Dennoch wird dies nicht unbedingt als »Erfolg« betrachtet, denn der symbolische Disput um die Hegemonialisierung einer popularen Subjektivität funktioniert nicht ungeachtet der sportlichen Resultate.176 Aufgrund seiner hohen sozialen Wirkmächtigkeit stellt Fußball eine latent vorhandene und leicht aktivierbare Passion dar, die trotz der langen Periode erfolgloser WM-Performanzen mit jeder Weltmeisterschaft erneut hohe Erwartungen hervorruft.177 Gerade wegen der über Jahrzehnte angesammelten Frustration und des seit 1986 nicht mehr eingelösten Topos der argentinischen Superiorität hätte ein möglicher WM-Titel unter Maradona als Nationaltrainer effektvoll als Krönung der recuperación in die kirchneristische Erzählung eingeflochten werden und eine wichtige Rolle in der Konstruktion des national-popularen Kollektivsubjekts einnehmen können.178 Mocca spekuliert, dass ein WM-Sieg dem Kirchnerismus einen »Moment totaler, fast nationaler Einheit« geboten hätte, der die Opposition im Klima der allgemeinen Begeisterung 173 174 175 176 177 178
Mocca 490–495. Ebd. 303–316. Ortiz 410–41. Wainfeld 232–250. Bergel 234–237; Forster 363–367. Forster 407–414.
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zumindest momentan auf »Überreste« reduziert hätte.179 Das angenommene Potential der politisch-kulturellen Artikulation blieb in Ermangelung des sportlichen Erfolgs freilich ungenutzt. Gleichwohl wird dies als quasi unumgängliches Geschäftsrisiko abgetan, das die politstrategische Sinnhaftigkeit der symbolischen Konstruktion nicht in Frage stellt. Die Bilanz erscheint daher uneindeutig: Der Versuch der hegemonialen Symbolisierung des Popularen im Anschluss an fußballerische Topoi ist mit dem frühzeitigen Ausscheiden aus dem Bewerb rasch versickert, der antagonistische Disput wird auf andere Themenfelder übertragen und bleibt dort unverändert bestehen, trotzdem wird die symbolpolitische Intervention in die WM 2010 nicht als Fehlschlag verzeichnet.180 Es stellt sich die Frage, welchen Nutzen die involvierten Akteur/innen in der kulturellen Inszenierung einer popularen Subjektivität sehen, wenn diese keine angebbaren nachhaltigen Effekte zeigt und ihre Wirkung über die zeitlich begrenzte Veranschaulichung der politischen Spaltung in einem soziokulturellen Bedeutungsfeld nicht hinausweist. Mit ebendieser Frage wurden die Interviewpartner in den Gesprächen schließlich auch explizit konfrontiert. Interessanterweise wird den Debatten, die in den untersuchten Kommunikationsmedien wie zentrale Streitthemen wirken, in den Interviews teilweise mit überraschender Indifferenz begegnet. Die Frage nach dem »Nutzen« popularkultureller Symbolisierung scheint falsch gestellt. Die Verknüpfung der WM und insbesondere Maradonas mit den ideologischen Konfliktachsen der innenpolitischen Auseinandersetzung wird durchwegs bestätigt, für die Entwicklung der politischen Kräfteverhältnisse aber von einem Teil der pro-kirchneristischen Gesprächspartner als wenig signifikativ eingeschätzt. Stattdessen wird die politische Inszenierung sportlicher Erfolge als selbstverständliches und universal verbreitetes Phänomen beschrieben.181 Die Politisierung kultureller Bedeutungsträger wird daher auch für den innenpolitischen Zusammenhang in ihrem Einfluss auf den politischen Prozess als vernachlässigbar eingestuft, da sie als »normal« und ohne realpolitisch determinierende Effekte empfunden wird.182 Abzulesen ist hier ein gewisser Effekt der Gewöhnung an diese Art des symbolischen Konflikts. Martín Bergel bestätigt dies, wenn er beschreibt, wie die antagonistische Spaltung permanent auf allen Ebenen reproduziert wird: »Der Konflikt Kirchnerismus – Anti-Kirchnerismus wird alltäglich erlebt, [...] wie das auch in Venezuela geschieht, der mediale und symbolische 179 180 181 182
Mocca 284–289. Brienza 51–54, 114f. Ulanovsky 141f.; Wainfeld 194–197. Etchemendy 61f., 78–80.
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Kampf zwischen der Opposition und denen, die diese in den Medien ausdrücken, Clarín, und dem Kirchnerismus benützt tagtäglich verschiedene Elemente.«183
Auch er zögert daher in seiner Einschätzung der politischen Wirkfolgen symbolischer Bedeutungskonstruktionen, da diese aufgrund ihres gehäuften Auftretens als »mediale Wellen« empfunden würden, die sich rasch erneuerten und ebenso schnell untergingen.184 Gleichzeitig erlangten die Kategorien »Kirchnerismus« und »Anti-Kirchnerismus« eine derart hohe Alltagsevidenz, dass es auch in privaten Diskussionen beliebiger, vordergründig unpolitischer Themen nichts Ungewöhnliches sei, die unterschiedlichen Standpunkte auf die angenommene Positionierung ihrer Vertreter/innen in einem der beiden »Lager« zurückzuführen.185 Bergel beschreibt sich im Interview als einer nicht-nationalistischen Linken zugehörig, scheint sich aufgrund der zahlenmäßigen Irrelevanz dieser Strömung aber großteils in einem kirchneristischen Umfeld zu bewegen, was sich in seinen Erzählungen widerspiegelt.186 Da er nach eigenen Worten für einen Ausstieg aus der Antagonisierung der politischen Konflikte plädiert, versucht er unter allen Gesprächspartnern am ehesten, eine inhaltlich dem Kirchnerismus nahestehende, aber die Lagerbildung übersteigende Position einzunehmen.187 Er drückt daher aus, was in anderen Interviews vielfach nur implizit als Effekt der Durchdringung durch den antagonistischen Diskurs wahrnehmbar war: Die hegemoniepolitische Bedeutung der Fußballweltmeisterschaft 2010 wird dadurch relativiert, dass sie neben ähnlich gearteten symbolischen Konflikten in anderen sozialen Feldern eben keine Besonderheit, sondern lediglich ein Vehikel unter vielen darstellt, an dem sich die Auseinandersetzung um die Definition der politischen Gemeinschaft aufhängen kann: »Der Kirchnerismus, wie du wissen wirst, ist auf alles aufmerksam und versucht alles zu verwenden. Das heißt, innerhalb seiner symbolischen und politischen Artillerie [...] überrascht es mich nicht und ich stimme zu, dass es da eine Absicht gab. Aber retrospektiv betrachtet, zusammengedacht mit anderen Elementen wie dem Bicentenario, dem Kampf gegen den Agrarsektor, dem Mediengesetz und den Malvinas, [...] das sind viel wichtigere Ereignisse in der Nationalpopularisierung des Kirchnerismus, von 2008 bis heute. Auf jeden Fall stimme ich zu, dass Maradona in diese Position gebracht und gleichzeitig auch so wahrgenommen wurde.«188 183 184 185 186 187 188
Bergel 341–345. Ebd. 348–354. Bergel 37–39. Ebd. 187–195 Ebd. 341–343. Ebd. 94–102.
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Als Folge dieser Normalisierung finden sich auch in den Interviews wiederholt Einschätzungen, die politisch-kulturelle Artikulationen als kurzfristige Stimmungsaufheller zur Schaffung eines für die Regierenden angenehmen Klimas relativieren, welche ohnedies nur punktuelle Ablenkung böten und die »wirkliche Politik« nicht zu beeinflussen imstande seien.189 Mario Wainfeld etwa stellt am Beispiel von Fútbol para Todos die politische Irrelevanz der symbolischen Inszenierung popularer Subjektivität heraus. Obwohl er der Maßnahme einen hohen Relevanzgrad im alltagsweltlichen Erleben der popularen Klassen attestiert, stellt er hinsichtlich der kirchneristischen Fußballpolitik fest: »Sie nutzen das sehr aus, aber wenn du mich fragst, ob in eineinhalb Jahren in einer komplexen wirtschaftlichen Situation und mit weniger Arbeitsplätzen, wieviele Personen Fútbol para Todos nennen werden, um die Regierung zu wählen. Niemand, sie werden an andere Dinge denken. Ich glaube ziemlich an die Rationalität der Wähler. Wenn ich dir in einem Moment des Aufschwungs Güter beschaffe, wenn ich dir eine Anzahl von wichtigen Gütern besorge, und darunter ist Fútbol para Todos, super. Wenn du mich fragst, ob es ein determinierender Faktor ist, kann ich das nicht glauben.«190
Die kulturelle Überformung hegemonialer Kämpfe wird als unwesentliche und triviale Begleiterscheinung von Politik eingestuft, weil politische Kräfteverhältnisse letztlich durch Konflikte um materielle Ressourcen bestimmt werden. Wenn nur ökonomische Faktoren politikentscheidend sind, stellt sich allerdings die Frage, warum die symbolistische Verwertung aller möglichen kulturellen und sozialen Bedeutungselemente in der kirchneristischen Praxis dennoch in so hohem Maße betrieben und von den Akteuren selbst nicht als widersprüchlich thematisiert wird. 7.3.4 Die Rückkehr politischer Identifikation in der kirchneristischen Erzählung Das Sprechen über politisch-kulturelle Artikulationen im Modus der Banalisierung erfüllt eine essentialisierende Funktion für populistische Politikgestaltung, da es die Normalität popularkultureller Symbolisierung reproduziert. Diese wird nicht als expliziter Teil von Politik deklariert, sondern aus der Diskussion genommen, indem die hegemonialen Deutungskämpfe um die Neueinschreibung etablierter Topoi als erwartbare Epiphänomene politischer Auseinandersetzungen dargestellt werden, die deren »natürlicher« Überschneidung mit dem Kulturellen geschuldet 189 Ulanovsky 63–65; Etchemendy 18–22; Anguita 157–159. 190 Wainfeld 328–333.
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seien und selbst keine signifikante Wirkung zeigten. Ausgespart bleibt so die auf einer vorgängigen Wirkungsebene angesiedelte identitätskonstruierende Funktion symbolischer Repräsentation, die bedeutungsvolle Elemente des gesellschaftlich geteilten Symbolhaushalts in eine narrative Konfiguration integriert und damit diskursstrukturierend wirkt. So reproduzieren insbesondere die pro-kirchneristischen Journalisten die politisch-kulturellen Artikulationen der WM 2010 in den Interviews selbst lehrstückhaft, legen aber Wert darauf, diese als genuines Zusammenfließen politischer und kultureller Phänomene auszuweisen und ihnen einen unterstützenden Effekt nur insofern zuzusprechen, als diese die tatsächlichen sozialen Verbesserungen des national-popularen Kurses leicht erfahrbar und anschaulich machten. Die symbolische Repräsentation politischer Projekte wird so als reine Darstellung und nicht als Konstruktionsleistung verstanden. Die Frage nach der »Folgenhaftigkeit« populistischer Symbolpolitik stößt auf Unverständnis, weil deren Funktion gerade darin besteht, dem eigenen Lager der antagonistischen Spaltung eine »Form« zu bieten, in der es sich als handlungsfähiges populares »Wir« ausdrücken kann, das seine Kraft aus der Politik selbst schöpft und nicht von seiner Konstitution durch symbolische Inszenierung abhängig ist. Die symbolische Verkörperung popularer Identität ist für ihren Erfolg daher nachgerade darauf angewiesen, ihren Beitrag zur Herstellung und Aufrechterhaltung dieser Identität zu überdecken und die Kohäsion des popularen Kollektivs auf die politischen und ökonomischen Erfolge seines hegemonialen Repräsentanten zurückzuführen. Es ist den diskursiven Eliten des pro-kirchneristischen Lagers daher wichtig zu betonen, dass die kulturelle Symbolisierung eines positiven sozialen Klimas in einer bestimmten politischen Konjunktur nur konsolidierende Effekte habe, wenn das symbolisierte Projekt auch über eine tatsächlich erfolgreiche materielle Basis verfüge.191 Die auffällige Insistenz eines Teils der pro-kirchneristischen Akteure auf die lediglich unterstützende Rolle popularkultureller Symbolisierung lässt sich als Versuch erklären, die Reetablierung genuin politischer Identitäten durch den Kirchnerismus zu betonen. Dies wird etwa in der Art und Weise deutlich, wie Maradona zwar als messianische Figur reartikuliert wird, die in Parallelisierung mit der kirchneristischen Politik die Rückkehr Argentiniens zu seiner verlorenen Größe ausdrücken soll, seine historischen Konnotationen als Nationalheld dazu aber nur selektiv aktualisiert werden. So wird die Lesart der Aufstiegsgeschichte Maradonas als Symbol sozialer Mobilität in der argentinischen Gesellschaft in den Interviews kaum aufgegriffen. Pablo Ortiz reagiert ausweichend auf die Frage, ob 191 Anguita 171–190.
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der häufig mit Maradona assoziierte Traum vom sozialen Aufstieg über Fußball auch heute noch einen identifikatorisch bedeutsamen Topos darstelle. Mit seinem abwehrenden Argumentationsverhalten und der etwas fadenscheinigen Begründung, Maradona fühle sich vom Imperativ, Vorbild für andere sein zu müssen, unter Druck gesetzt, versucht er die Thematik zu umschiffen, um das Bild nicht aufzunehmen.192 Dieses soll allerdings weniger Maradona zuliebe aus der Diskussion gehalten werden, als um die damit verbundenen Assoziationen nicht zu aktualisieren. Schließlich ist die Wirkmächtigkeit der »Vorstellung, sich mithilfe des Sohnes zu retten«, der mit einer besonderen fußballerischen Begabung geboren wird, im sozialen Imaginären der popularen Klassen auch ein Hinweis auf die Beschränktheit anderweitiger Möglichkeiten, den eigenen sozioökonomischen Status zu verbessern.193 Die Hoffnung auf Fußball als Raum der sozialen Mobilität ist Korrelat einer Gesellschaft, in der eben diese Mobilität strukturell verunmöglicht wird.194 Maradonas Aufstiegsgeschichte funktioniert daher nicht als Illustration meritokratischer Prinzipien in einer demokratischen Gesellschaft, sondern stellt angesichts einer sozial undurchlässigen Gesellschaftsstruktur einen »entschädigenden Mythos« von Gleichheit und Gerechtigkeit dar.195 In den Erzählungen der kirchneristas wird die Geschichte Maradonas daher kaum mit dem Topos des sozialen Aufstiegs verknüpft. Es wird lediglich der Teil seiner vielfältigen Bedeutungen reaktualisiert, der analog zur kirchneristischen Erzählung des popularen Aufschwungs seit 2001 gedeutet werden kann. Die symbolischen Repräsentationen sollen das Bild eines Landes transportieren, in dem die staatliche Politik wieder Initiative zeigt. Fußball soll nicht als Ersatz für eine inexistente Politik gedacht werden, sondern die Rückeroberung staatlicher Gestaltungsmacht durch den Kirchnerismus symbolisieren. Denn die Zentralität des Fußballs für die Repräsentation des Nationalen weckt auch ambivalente Erinnerungen an die 1990er Jahre, als die verheerenden sozialen Folgen der neoliberalen »Reformpolitik«, der Rückzug staatlicher Institutionen und die damit verbundene Schwäche zugehörigkeitsproduzierender Instanzen den Fußball zu einer der letztverbleibenden Sinnquellen der argentinischen Gesellschaft machten. Dies erklärt die Selektivität im Rückgriff auf fußballerische Topoi, welche die Funktion von Fußball, einen Ersatz für identitätsstiftende Instanzen im politischen Feld zu bieten, in die neoliberale Vergangenheit verschieben soll. Pablo Ortiz, befragt auf den Status des argentinischen Fußballtrikots als nationales Symbol, bestätigt diesen, fügt aber sogleich berichtigend hinzu: 192 193 194 195
Ortiz 247–266. Forster 702–709. Ebd. 740–747. Brienza 160–162.
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»Aber das kommt nicht von jetzt, denn jetzt gibt es eine andere Regierung. Weißt du, von wann das kommt? Vom Jahrzehnt der Neunziger, hier in Argentinien gab es eine neoliberale Regierung. Da haben sie alle Unternehmen verkauft, das Nationale war ausverkauft worden. Sprich, es gab keine argentinische Identität. [...] Daher war der Fußball damals das Einzige, mit Maradona und dieser ganzen Phase, das ist schon argentinisch.«196
Die »Abhängigkeit« von fußballerischer Repräsentation wird auch mit einer politiklosen Zeit verbunden, in der weder politische Utopien noch ein nationales Projekt existierten. Die Reartikulation dieser Bedeutungen ist nicht Teil der kirchneristischen Erzählung und darf es auch nicht sein, wie die sofortige Erwähnung der »Neunziger« und die Abgrenzung der kirchneristischen Regierung von diesen zeigt. Maradonas Gewicht als einzig verbleibenden Anker der argentinischen Identität zu bestätigen, würde der behaupteten Rekonstitution politischer Identitäten als Folge der erfolgreichen Etablierung einer populistischen Bewegung widersprechen, und muss daher relativiert werden: »Diego ist unser bester Spieler, aber wie gut, dass wir heute auch Idole haben, die mit dem Sozialen, mit dem Politischen zu tun haben. [...] die Jugendlichen, früher war das einzige, was sie machten, entweder Rock zu hören, mit ihren Rockidolen, oder Fußball. Jetzt gibt es viele Jugendliche, die neben Rock, neben Fußball, zu einer Demo für die Entkriminalisierung von Drogen, Abtreibung oder was auch immer gehen. Das heißt für mich, das Populare auf ein Terrain des kollektiven Aufstiegs als Land zu führen. Heute haben wir dieses Phänomen, das wir nie hatten. Für einen Argentinier war die Regierung der Feind, sie war das Schlimmste. Wenn du einen Politiker auf der Straße triffst, wolltest du ihn umbringen. Jetzt geht der Wirtschaftsminister auf die Straße und die Leute wollen sich mit ihm fotografieren lassen. Das finde ich gut. Dass wir uns nicht nur in den popularkulturellen oder fußballerischen Idolen lieben und dass wir auch in der Politik unsere Bezugspersonen und Führer haben können«.197
Der Rückzug der Jugend in den argentinischen rock nacional und in das Fußballfantum als die zentralen gegenkulturellen Phänomene der 1990er Jahre steht für die Krise der politischen Repräsentation und das Fehlen nationaler Erzählungen in dieser Zeit. Heute hingegen stünden Fußball und die institutionalisierte Politik nicht mehr in Opposition, sondern komplementär zueinander. Der individualistisch gedachte soziale Aufstieg des Einzelnen gegen die Logik des Systems wird daher in Ortiz’ Erzählung auch durch die Vorstellung vom kollektiven Aufstieg des Landes ersetzt. 196 Ortiz 115–121. 197 Ebd. 275–286.
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So verliert die Fußballsymbolik ihre politikkompensatorische Funktion, die sie im postpolitischen Zeitalter des Neoliberalismus hatte, sowie ihren Gehalt als Symbol einer nationalen Identität, die gegen den Staat und in Widerstand zu ihm gedacht ist. Mit dem Kirchnerismus werden kollektive Identitätsangebote wieder in die politische militancia verlagert. Fußball wird nun als Bedeutungsträger verstanden, dessen populare Konnotationen insofern politische Wirkung entfalten, als sie den popularen Charakter der kirchneristischen Bewegung illustrieren, nicht aber sein Fehlen signifizieren.198 Die symbolische Verkörperung soll mithin der Konsolidierung und Veranschaulichung einer bereits vorhandenen und politisch protagonisierten Subjektivität dienen. Die passionale Dimension und die identitätsstiftende Initiative werden wieder in der Politik verortet, deren Akteur/innen nun selbst Repräsentant/innen des Volkes seien und damit dem Fußball auch sein Alleinstellungsmerkmal als Symbol des Nationalen nähmen. Mitzudenken ist dabei, dass die Interviews in einer zeitlichen Distanz von eineinhalb bis zwei Jahren zur Fußballweltmeisterschaft durchgeführt wurden. Das »populare Jahr 2010« wird in diesen Gesprächen retrospektiv als wichtiger Baustein in der Stärkung der Verbindung zwischen dem Kirchnerismus und den popularen Sektoren der Gesellschaft reflektiert. Insbesondere der unerwartete Tod des ehemaligen Staatspräsidenten Néstor Kirchner im Oktober 2010 hatte einen Stimmungsumschwung befördert und zu einem verbesserten Image der Staatspräsidentin und nunmehrigen Witwe Cristina Fernández de Kirchner beigetragen, die im Herbst 2011 mit absoluter Mehrheit im Amt bestätigt wurde. Ziel der Aussagen ist es daher, die veränderte Situation und die Rückkehr der Identifikation in die Politik herauszustreichen. Die Aufrechterhaltung der populistischen Konstruktion wird der erhöhten metaphorischen Reichweite des Kirchnerismus selbst zugeschrieben, der mit dem Kampf um soziale Rechte und mit der Wiedergewinnung der popularen Würde identifiziert werde und seine Mobilisierungskraft zur libidinösen Besetzung der popularen Subjektivität aus sich selbst schöpfe. Im Kampf gegen Clarín wird eine Veränderung der Kräfteverhältnisse zugunsten des Kirchnerismus konstatiert. Fußball, so ist aus mehreren Aussagen herauszuhören, würde jetzt »nicht mehr so stark gebraucht«. Seine Bedeutsamkeit in der Auseinandersetzung um die Definition des Popularen wird mit dem Argument, dass das »Volk« bereits erfolgreich konstruiert worden sei, in die Vergangenheit des konsolidierten politischen Projekts verschoben.199 Die Betonung der Funktionsverschiebung politisch-kultureller Artikulationen weist auf den Versuch einer Neuausrichtung der bedeutungsproduzierenden symbolischen Operationen an der Figur Néstor 198 Bosto 244–258. 199 Anguita 216–260.
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Kirchners hin, auf den die populistische Mythenbildung nunmehr übertragen werden soll.200 Damit erklärt auch Brienza, warum die kirchneristische Regierung letztlich nicht mehr unternommen habe, um das identifikationsstiftende populare Potential Maradonas nach Ende der WM weiter an sich zu binden: »Weil ich glaube, dass Néstor Kirchner als politische Figur dessen für einen breiten Sektor der Gesellschaft funktioniert. Er hat nicht die Reichweite Maradonas, aber es gibt doch eine mythologische Konstruktion seiner Persönlichkeit. Und das würde die andauernde Herrschaft Maradonas als einziges Symbol widerlegen.«201
Die Argumentationen zielen auf eine Neugewichtung der Elemente im Diskurs: Die Passion als treibende Kraft kollektiver Identifikation wurde vom Kirchnerismus wieder in der Politik verankert. Dementsprechend stellt Eduardo Anguita die Artikulation kultureller Topoi als unnötigen Tand dar, dessen die Präsidentin nach der überwältigenden elektoralen Zustimmung von 2011 nicht mehr bedürfe. Sie sei nun vielmehr in ihrer Position soweit gestärkt, dass sie auf Grundlage ihrer bisherigen Erfolge unmittelbar an die ambitionierte Transformation des politischen Systems schreite: »Ich habe den Eindruck, dass jetzt die Politik als Artikulatorin vieler sozialer Erfahrungen und Sehnsüchte nicht existiert. [...] Anders gesagt, diese Regierung spricht in den letzten Monaten von Politik. [...] Von der Verfassungsreform, von der Zivilrechtsreform, vom Transportwesen. Sie spricht nicht von dieser artikulatorischen Sache der Regierungen.«202
Es mag der Eindruck entstehen, symbolische Veranschaulichung und »echte Politik« würden als klar abgetrennte Bereiche ohne Wechselwirkung verstanden. Die eigentliche Zielrichtung der Erzählung wird aber in Anguitas Antwort auf folgenden Einwurf deutlich: BG: »Ich habe den Eindruck, dass das eine Regierung ist, die der Rolle der Leidenschaft als treibender Kraft in der Politik hohe Bedeutung beimisst, dass es auch eine Erzählung rundherum zu konstruieren gilt, um die Maßnahmen zu begleiten.« »Ja, Leidenschaft, aber Leidenschaft für die Politik. Sieh mal, welches das Wort ist, das die kirchneristas die ganze Zeit verwenden: die militancia. Sie sprechen nicht vom Politiker als Artikulator der Grillerei vom 200 Ortiz 269–275. 201 Brienza 126–129. 202 Anguita 262–267.
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Wochenende, des Geburtstags der Kinder, der Religion. Die Politik. [...] Cristina spricht von Politik.«203
So lässt sich schließen, dass die stabilisierte hegemoniale Repräsentation als nunmehriger Motor der Identifizierung betont wird, demgegenüber die Inszenierung popularer Subjektivität in kulturellen Praktiken ein lediglich unterstützendes Element im hegemonialen Kampf bildet. Ungeklärt bleibt in den dargestellten Narrationen der konkrete Gehalt dieser unterstützenden Funktion. Wenn die populare Identität des Kirchnerismus bereits so weit konsolidiert ist, dass dieser die politische Mobilisierung aus seiner eigenen symbolischen Produktivität heraus zu sichern imstande ist, welche Rolle kommt dann symbolischer Repräsentation über kulturelle Bedeutungsträger noch zu? Und inwiefern kann diese unterstützend wirken, wenn gleichzeitig die diskursive Artikulation popularkultureller Topoi als folgenloses Epiphänomen des Politischen verstanden wird? Im folgenden Abschnitt soll diese Frage nach der Rolle politisch-kultureller Artikulationen in der Schließungsphase des populistischen Projekts geklärt werden. Die Antworten zeigen, welche Konsequenzen das Denken des Politischen in Begriffen von Antagonismus und Hegemonie für die Relevanzbestimmung symbolischer Subjektkonstitution über kulturelle Topoi in populistischen Politikmodellen zeitigt.
7.4 Funktion und Funktionieren populistischer Symbolpolitik Wiewohl die Überzeugung geteilt wird, dass die kulturelle Überformung der hegemonialen Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und ihren Gegner/innen bereits strukturierende Wirkung gezeigt und eine mit dem Kirchnerismus identifizierte populare Subjektivität konsolidiert habe, finden sich in den Interviews dennoch Stimmen, die dem Kirchnerismus eine Kontinuität in der Verknüpfung der politischen Spaltung mit den popularen Konnotationen kultureller Bedeutungsträger bescheinigen. Diese wird als inhärenter Bestandteil populistischer Politik betrachtet, die eine spezifische Funktion in der Konstruktion des »Volkes« erfüllt. Werden die diesbezüglichen Argumentationsmuster mit den im vorigen Kapitel dargestellten trivialisierenden Narrationen in Beziehung gesetzt, ergibt sich ein Verständnis für die Funktion und das Funktionieren populistischer Symbolpolitik auf theoretischer Ebene.
203 Ebd. 268–278.
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7.4.1 Die Totalisierung des populistischen demos Allgemein wird davon ausgegangen, dass die populistische Bewegung mit dem Wahlerfolg von 2011 eine gewisse Konsolidierung erreicht und im – unter anderem über das Programm Fútbol para Todos geführten – »Medienkrieg« bereits die Oberhand gewonnen habe. In dieser Lesart hat der Kirchnerismus sich selbst erfolgreich popularisiert und die oppositionellen Medien wirksam delegitimiert, weswegen dieser Schauplatz des Konflikts gegenüber den Jahren 2008 bis 2010 seine existentielle Bedeutung verringert habe.204 Ricardo Forster führt auf die Frage nach der Relevanz von Fußball in der politischen Strategie des Kirchnerismus für die Zeit nach der Wiederwahl Fernández de Kirchners als Staatspräsidentin im Jahr 2011 aus: »Die Regierung behält Fútbol para Todos bei und sie wird es als Teil ihrer Konzeption weiter beibehalten, aber es hat nicht die Zentralität oder die Wichtigkeit, die sie ihm sicherlich gaben, als sie [das Programm] einbrachten. Weil sich die Umstände geändert haben, weil vor allem die soziale Schicht, an die sich Fútbol para Todos richtete, schon einen Weg der Identifikation mit dem Projekt der Regierung gegangen ist. Es hat schon [etwas] konstruiert, die 54% der Stimmen, deren grundlegende Zusammensetzung die populare und die untere Mittelschicht ist, haben dieser Empathie schon Form gegeben.«205
Trotz dieser Konsolidierung investiere die kirchneristische Regierung aber weiterhin in die Mobilisierung symbolischer Formen als Mittel politischen Handelns. Forster nennt als Beispiel die rezente Neubesetzung der Präsidentschaft des Fußballclubs Boca Juniors, bei der die Regierung aktive (und dennoch erfolglose) Bemühungen unternahm, den von ihr unterstützten bisherigen Präsidenten Jorge Ameal gegen den Kandidaten ihres politischen Kontrahenten Mauricio Macri durchzusetzen, und schließt daraus: »Sprich, die Regierung interessierten die Wahlen in Boca, es war ihr nicht einerlei. Das zeigt, dass ihr der Fußball wichtig ist. Ihr sind seine Auswirkungen wichtig, das, was er hervorruft.«206 Obwohl die Verankerung der popularen Subjektivität im politischen Projekt des Kirchnerismus stabilisiert scheint, wird nicht davon ausgegangen, dass die Auseinandersetzungen auf dem symbolischen Kampffeld des Kulturellen ihre Aufgabe »bereits erfüllt« hätten und nun der Vergangenheit angehörten. Fußball scheint weiterhin einen unverzichtbaren Raum der Sinnstiftung für populistische Politik darzustellen, dessen Besetzung ganz unabhängig davon unerlässlich ist, dass sportliche 204 Z.B. Ortiz 374–380. 205 Forster 774–780. 206 Ebd. 785–790; vgl. auch Brienza 210–217.
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Erfolge sich natürlich nicht in den Erfolg einer politischen Bewegung übersetzen. Dies wird allerdings auch nicht als Voraussetzung für das Gelingen der symbolischen Operationen verstanden, das nur relativ von Sieg oder Niederlage auf dem Feld bestimmt ist.207 Populistische Politik greift aus einem anderen Grund auf Fußball zurück: »Der Regierende begleitet, auf gewisse Weise stellt er sich an die Spitze der popularen Masse, im Begehren, in der Erwartung, im Genuss des Triumphs, im Schmerz über die Niederlage, denn danach kommt die Inszenierung des Regierenden, der weint, weil das Fußballteam verloren hat.«208
Die »Begleitung« der popularen Leidenschaft durch den populistischen Führer bzw. – wie im Fall des Kirchnerismus – durch die populistische Führerin ist Edgardo Mocca zufolge Voraussetzung dafür, die Äquivalenz zwischen dem populistischen »Volk« und seinen jeweiligen hegemonialen Repräsentant/innen mit der Totalität der politischen Gemeinschaft gleichzusetzen. Die Begeisterung für den Fußball ergreift alle Schichten, die Fußballweltmeisterschaften stellen daher symbolische Bühnen dar, auf denen die legitime Repräsentation des Nationalen verhandelt werden kann. Mocca schließt daraus: »Wenn die intensiven nationalen Leidenschaften von der Politik außer Acht gelassen werden, hat diese Politik irgendeine sehr erhebliche organische Schwäche«, und fasst den Gehalt dieser organischen Schwäche in eine konzise Metapher: »Wenn eine Regierung darauf verzichtet, die Leidenschaft des Volkes zu leben, ist sie de la Rúa«.209 Fernando de la Rúa ist als argentinischer Staatspräsident von 1999 bis 2001 Sinnbild einer Politik, die den dislozierenden Effekten der ökonomischen, sozialen und institutionellen Krise mangels politischer Durchsetzungskraft nicht zu begegnen wusste. Die Verbindung des hegemonialen Repräsentanten mit den »nationalen Leidenschaften« ist somit notwendige Voraussetzung für die Verstetigung der äquivalentiellen Identitätskonstruktion. Da die antagonistische Spaltung des diskursiven Raumes nie letztgültige Stabilität erlangen kann, ist die Existenz des auf dieser Grenzziehung aufbauenden popularen Kollektivs von der beständigen Mobilisierung affektiver Besetzung abhängig. Nach dem populistischen Bruch mit der bisherigen Politik und der Konstruktion einer dichotomen Konfrontation zwischen dem »Volk« und einem elitären »Machtblock« besteht die Herausforderung des Populismus in der 207 Mocca 506–513, 529–535: »relativ« insofern, als eine sportliche Niederlage, die eine fußballinterne Krise im Subsystem Fußball auslöst, sehr wohl die symbolische Operation im politischen Feld scheitern lässt, wie Mocca am Beispiel der historischen 6: 1–Niederlage gegen die ČSSR 1958 erklärt. 208 Ebd. 521–524. 209 Ebd. 569f., 560f.
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Wiedereinführung einer Schließung, welche die restrukturierten politischen Subjektivitäten in einem stabilen Signifikationssystem auf Dauer stellt. In einer hegemonialen Operation wird dazu die plebs, die populistische Volkskonstruktion, zum einzig legitimen populus erklärt und damit eine neue symbolische Ordnung instituiert, deren Kristallisationspunkt die hegemoniale Kraft selbst ist. In der populistischen Totalisierung, welche die populare Identität als universalen Ausdruck der politischen Gemeinschaft setzt, erfüllt der Fußball eine Funktion. Als Beispiel dafür nennt Mocca die kirchneristische TV-Sendung 6, 7, 8, in der er selbst arbeitet und die er als »Werbeprogramm für die Regierung« bezeichnet. Wenn zu Beginn jeder Sendung unter der Rubrik »Gute Nachrichten« sportliche Erfolge gezeigt werden, um die positive Berichterstattung im Land zu stärken, versteht er das als hegemoniale Operation, denn es verweise zugleich auf »diese Vorstellung des nationalen Selbstwerts und der Wiedergewinnung des Selbstwerts und die Vorstellung der nationalen Einheit, die immer eine falsche Einheit ist, wenn man so will, oder eine nicht besonders echte«.210 Der Kirchnerismus wird im Programm 6, 7, 8 als legitimer Vertreter des »Volkes« präsentiert. Indem sein Kampf um den popularen Selbstwert, den er zu seiner Zielsetzung erklärt, in das gesamtgesellschaftlich wirksame kulturelle Phänomen Fußball eingeschrieben wird, wird der populare zum nationalen Selbstwert, das populare Kollektiv mithin zur Totalität der gesamten Nation. Die politische Artikulation fußballerischer Topoi dient somit nicht nur dem Ausdruck der popularen Einheit mittels popularkultureller Veranschaulichung, sondern auch der Gleichsetzung dieser Einheit mit der gesamten Diskursformation. 7.4.2 Die Persistenz der Spannung zwischen äquivalentieller und differentieller Logik Um den Anspruch des Kirchnerismus auf Repräsentation der nationalen Einheit zu stützen, ist es allerdings unabdingbar, dass der Fußball nicht nur ein populares, sondern zugleich ein ideologische wie sozioökonomische Differenzen übersteigendes Phänomen darstellt. Nur so ermöglicht seine politische Artikulation die hegemoniale Ausdehnung der populistischen Äquivalenzkette über die antagonistische Grenze hinweg. Die trivialisierenden Deutungen politisch-kultureller Artikulationen im Lager der Kirchner-Sympathisanten spiegeln insofern eine Voraussetzung für das Funktionieren populistischer Symbolpolitik zur Totalisierung der popularen Identität wider. Deutlich wird dies etwa im Gespräch mit Sebastián Etchemendy. Er begreift Fútbol para Todos als Teil der kirchneristischen 210 Ebd. 550–558.
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Wiedergewinnung von Rechten, verwehrt sich aber dagegen, dies als »Aneignung« der Fußballbegeisterung selbst durch den Kirchnerismus zu verstehen, denn: »Das ist hier unmöglich, denn der Fußball gehört hier allen. Der Spitzenkandidat des rechten PRO war erfolgreicher Präsident von Boca. Der Fußball ist sehr polyklassistisch.«211 Auf den Einwurf, gerade das könne Fußball zu einem lohnenden politischen Kampffeld machen, entgegnet er: »Selbstverständlich. Aber ich glaube, dass es in diesem Kampf keinen Gewinner geben kann. Was es geben kann, ist, dass man sagt: ›Gut, ich benutze den Fußball nur für linke Inhalte [...]‹. Ich meine, Fußball als Sozialpolitik, das hat diese Regierung sehr wohl gemacht. Gut, die Bedeutung von Fußball als näher an dieser Regierung als an einer anderen, ja. Aber ansonsten, hier mag jeder Fußball, das geht quer durch die sozialen Schichten.«212
Aufgrund der sozialen Transversalität von Fußball in der argentinischen Gesellschaft kann er nicht von einem politischen Lager für die eigene Sache »gewonnen« werden. Dies ist allerdings auch nicht Sinn und Zweck der symbolpolitischen Operationen. Ziel der politischen Artikulation kultureller Topoi ist die Verstetigung der populistischen Identitätskonstruktion. Dazu darf die antagonistische Grenze nicht völlig undurchlässig werden, damit die beiden Lager nicht in ein Verhältnis der Äußerlichkeit zueinander treten und so zu neuen Differenzen werden. Die Betonung der Tatsache, dass die symbolischen Interventionen in einem Raum stattfinden, in dem es keinen Gewinner geben kann, erfüllt den Zweck, diesen gemeinsamen Raum aufrechtzuerhalten, in dem hegemoniale Kämpfe möglich sind. Gelänge es einem populistischen Projekt, bestimmte kulturelle Bedeutungsträger symbolisch vollständig an sich binden, entkleidete es diese gleichzeitig ihrer universalen Dimension und disqualifizierte sie folglich als leere Signifikanten einer popularen Totalität. Die Äquivalenz zwischen Fußball und Kirchnerismus darf daher im Gegenteil nicht so intensiv werden, dass der antagonistische Gegenspieler die umkämpften symbolischen Elemente von vornherein als parteilich vereinnahmte zurückweisen kann. Mit seiner exklusiven Inkorporierung in die kirchneristische Erzählung und seiner »Aufgabe« durch die gehobene Mittelund die Oberschicht ginge auch das hegemoniale Potential des Fußballs für die symbolische Konstruktion des Nationalen verloren. Der Umstand, dass die Begeisterung für den Fußball Klassengrenzen übersteigt, macht ihn zu einem klassischen flottierenden Signifikanten, 211 Etchemendy 221–224. 212 Ebd. 227–231.
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der divergierende Bedeutungen im soziokulturellen Leben unterschiedlicher Gesellschaftsschichten organisiert.213 In dieser sozialstrukturellen Ambiguität liegt gerade sein produktives Potential für hegemoniale Auseinandersetzungen um die Frage, welches »Gesicht« die nationale Einheit trägt und wer dadurch ein- bzw. ausgeschlossen wird.214 Fußball ist hegemoniepolitisch relevant, weil er transversal wirkt und so die Möglichkeit bietet, soziokulturelle Inszenierungen des Popularen in ein kollektiv anerkanntes Selbstbild der Argentinität zu überführen. Die kulturellen Repräsentationen entfalten in ihrer wiederholten Zirkulation vergemeinschaftende Wirkung und »popularisieren Figuren, die nicht notwendigerweise der sozialen Unterschicht angehören«,215 wie ein Youtube-Video zeigt, das in Argentinien 2011 viral wurde. »El Tano Pasman«, ein Fan des argentinischen Fußballclubs River Plate, erlangte landesweite Berühmheit damit, wie er den Abstieg seiner Mannschaft in die zweite Division unter immer wüsteren Beschimpfungen und steigendem Kontrollverlust vor dem Fernseher begleitet. Bergel beschreibt ihn als jemanden, »der, wenn man ihn sieht, wie aus der Mittelschicht aussieht, und dennoch ist er zu einer Persönlichkeit der popularen Folklore des Fußballs geworden. Deshalb meinte ich, dass der Fußball sogar Leuten popularen Charakter verleiht, die es vielleicht in Bezug auf andere Verhaltensweisen und andere Praktiken nicht strikt sind, die nicht notwendigerweise aus einer popularen Schicht kommen.«216
Die Repräsentation popularer Stereotype in der Fußballkultur macht diese zu »argentinischen« Qualitäten. Das Populare, das in Fußballpraktiken kulturell-folkloristisch gedeutet und mit Emotion und Leidenschaft assoziiert wird, ist als passionaler Habitus über Klassengrenzen hinweg grundsätzlich allen zugänglich. Dies erlaubt seine Ausweitung zum Inbegriff der Argentinität. Gleichzeitig wird die partikulare Qualität des Popularen im Fußball nicht vollständig annulliert. Nur aufgrund dieser fortwirkenden Partikularität kann der Fußball in politisch-kulturellen Artikulationen die allumfassende Äquivalenz einer popularisierten Nation signifizieren und in Geltendmachung seines differentiellen popularen Charakters bestimmte »innere Feinde« daraus ausschließen. Dies zeigt sich beispielhaft in der Art und Weise, wie Hernán Brienza den popularen Charakter von Fußball diskutiert:
213 214 215 216
Forster 664–675. Mocca 340–343. Bergel 152–154. Ebd. 157–160.
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»Der Fußball funktioniert trotz all der Geschäftemacherei, die er in sich trägt, [...] noch immer als großes populares Bindemittel. Noch immer spielen die Armen Fußball und noch immer füllen die Armen die Stadien, oder sie sehen es sich im Fernsehen an. Aber es bleibt noch immer ein popularer Sport. Was es gibt, ist ein neues Phänomen, das es bis in die Neunziger nicht gab, was ich die Kategorie Pop Fashion nenne, also das Populare mit dem Eleganten zu mischen, und das ist Macri. Das ist die Sitztribüne von Boca. Es ist fashion, pop zu sein, popular zu sein, und ins Stadion von Boca zu gehen zum Beispiel.217«
Das Zitat macht die hegemonialen Deutungskämpfe anschaulich, die den Fußball als öffentliche Arena zur Inszenierung kultureller Werte durchziehen. Für Brienza ist Fußball in Argentinien einen Raum vergemeinschaftender Praxis der popularen Schichten. Sie erscheinen als die prägenden Akteure dieses Sports. So wird die populare Fußballpraxis zu seiner »ursprünglichen« identitären Wahrheit erklärt. Zwar stehen mittlerweile alle sozialen Schichten mit dem Fußball in Verbindung und leben diese Praxis auf ihre je spezifische Weise. Seine populare Essenz geht durch die klassenübergreifende Bedeutsamkeit aber nicht verloren. Letztere eröffnet im Gegenteil die Möglichkeit, den popularen Charakter des Fußballs zu hegemonialisieren, indem einerseits die Grenzen des Fußballkollektivs transversal ausgeweitet werden, einem Teil desselben gleichwohl die Legitimität der Zugehörigkeit abgesprochen wird, weil er den gemeinschaftsdefinierenden Charakteristiken nicht entspricht: »Zweifelsohne ist der Fußball polyklassistisch [...]. Trotzdem glaube ich, dass der Fußball weiterhin das Populare ist, verstanden als mehrheitlich. Nicht nur als ärmlich, er ist nicht den armen Schichten eigen, aber er ist den mehrheitlichen Schichten eigen. Und er unterscheidet weiter in Klassen. Die wohlhabenden Klassen gelangen zum Fußball über die Pop Fashion, nicht über die populare Frage. Das heißt, sie müssen so tun, als seien sie popular, weil das fashion ist. Aber das ist ein Betrug, das Grundlegende ist, der Mann auf der Straße, um es irgendwie zu sagen, die einfachen Leute bleiben klar fußballbegeistert.«218
Der Einflussbereich des Popularen wird nicht anhand rein ökonomischer Parameter, sondern in einer soziokulturellen Deutung als »einfache Leute« bestimmt. Diese bewirkt einerseits eine höhere Durchlässigkeit der symbolischen Konstruktion: Die »Wohlhabenden« imitieren die populare Praxis, diese wird zum allgemeinen Definitionskriterium der »Argentinität« und überschreitet in diesem Sinn soziale Grenzen. Dennoch bestimmen die »Armen« als populare Klasse par excellence die 217 Brienza 162–169. 218 Ebd. 234–241.
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»authentische« Form der Praxis und des Konsums dieses Sports. Der ursprüngliche populare Charakter des Fußballs wird zur hegemonialen Repräsentation des transversalen Fußballkollektivs, das der gesamten argentinischen Nation entspricht. In seiner vermeintlich allumfassenden »nationalen Repräsentation« stellt er aber eine Einheit dar, die von einer Spaltung des sozialen Raumes und dem Ausschluss des anti-pueblo von der Zugehörigkeit zum legitimen populus affiziert ist. Die Konsequenzen dieser hegemonialen Operation werden in der folgenden Aussage nachvollziehbar, in der Ricardo Forster den argentinischen Fußball als populare Praxis mit dem kommerzialisierten Fußball europäischer Länder kontrastiert: »Wenn man den Fußball etwa in Argentinien, Brasilien oder Uruguay mit dem Fußball etwa in Spanien oder Italien vergleicht, weil das zwei Embleme sind, ist der Fußball in diesen Gesellschaften eindeutig ein Spektakelfußball, […] der im Wesentlichen eine Show darstellt und wo das Populare nicht das gleiche Ausmaß hat. […] In Argentinien gibt es das auch, […] aber es gibt immer noch einen Kontakt mit dem Bereich des Fußballs als Raum starker Alltäglichkeit. […] Die obere Mittelschicht und die Oberschicht spielen praktisch nicht mehr Fußball, würde ich sagen. Sie üben andere Sportarten aus. In den Mittelschichten, von der Mitte nach unten, bleibt der Fußball der praktizierte Sport par excellence in Argentinien.«219
Das von Brienza weiter oben beschriebene ökonomische Establishment, das sich gern leger gebe und die Fußballstadien als schicke Tribüne für die eigene pseudo-populare Inszenierung nutze, entspricht offensichtlich der zweiten Kategorie des von Forster konstruierten Gegensatzpaars, es ist damit auch nicht mehr wirklich argentinisch, sondern eigentlich europäisch. Nur die von den popularen Schichten gelebte Fußballpraxis bestimmt in dieser Lesart die nationale Tradition. Die »polemische Repräsentation« der Nation als produktive Spannung In seiner Bezugnahme auf den Fußball kann sich der Kirchnerismus von seiner Rolle als Repräsentant der popularen Schichten im engen Sinn zum Repräsentanten der popularen Nation ausweiten. Das Populare ist damit gleichzeitig die Grundlage der von der kirchneristischen Bewegung kristallisierten antagonistischen Identität als auch die hegemoniale Qualität des »argentinischen Charakters«. Fußball kann im Versuch der Universalisierung des Popularen als Ausdruck des Nationalen eine privilegierte Rolle spielen, weil er in sich selbst die Spannung zwischen äquivalentieller 219 Forster 679–692.
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und differentieller Logik vereint, ein antagonismusübersteigendes und dennoch populistisch artikulierbares Phänomen ist. So liest Pablo Ortiz die Solidaritätskundgebung bei der Ankunft der Nationalmannschaft in Ezeiza als patriotisches Statement, das er mit der Unterstützung der Regierungspolitik verknüpft, während die Kritik der Opposition in beiden Fällen zu einem »Verrat« an der Nation umgedeutet wird: »Die Opposition wollte aus der Niederlage Kapital schlagen. [...] Die Leute wollten ihre Unterstützung für das Land zeigen und die Opposition stand kontra-argentinisch da. ›Was hast du gehofft, dass Argentinien verliert? Bist du kein Argentinier, auch wenn du Oppositioneller bist?‹ Also da ereignete sich etwas, dass die Leute unterstützend auf die Straße gingen, wie sie auf die Straße gingen, um unsere Präsidentin zu unterstützen, als Néstor starb. [...] Es gibt etwas, das viel mit der Loyalität zu tun hat. Im Guten muss man dahinterstehen und im Schlechten muss man dahinterstehen. Sonst bist du ein Verräter.«220
Die antagonistische Grenzziehung zum Nicht-Zugehörigen anhand popular und gleichzeitig national konnotierter Elemente der kulturellen Praxis bringt das anti-kirchneristische Lager in einen Widerspruch. Dies zeigt sich paradigmatisch an der symbolischen Konstruktion Maradonas, der im pro-kirchneristischen Diskurs wechselweise als »Gott aller Argentinier« und als »vom Establishment verfolgter Robin Hood der Armen« dargestellt wird. Maradona, der nationale Held, spricht für alle. Maradona, die populare Ikone, »gehört« aber doch den kirchneristas. Maradona ist also einend und teilend zugleich. Damit ist er ein Signifikant des Antagonismus, ein universales Symbol, das über politische Gräben hinweg nationale Bedeutungen organisiert und Geltung für die gesamte gesellschaftliche Totalität beanspruchen kann, dessen Partikularität aber dennoch immer wieder sichtbar wird und in ihrer politischen Artikulation zur Etablierung einer dichotomen Bruchlinie innerhalb der Gesellschaft nutzbar gemacht werden kann.221 In dieser Spannung entfaltet sich seine hegemoniale Produktivität: »Der Fußballfan, der echte Fußballfan, der in gewisser Weise sein eigenes Klassenvorurteil überschreitet, wird schwerlich anti-Maradona sein. Wenn er sich dagegen wieder in einen Argentinier verwandelt, der eine bestimmte Ideologie vertritt, kann er sehr wohl kritisch gegenüber Maradona sein. Aber wenn er im Stadion ist, wird er wiederum Maradonianer werden, paradoxerweise sozusagen. Etwas, was dem aus der popularen Schicht nicht passiert, der wird zu jedem Zeitpunkt Maradonianer sein.«222 220 Ortiz 407–416. 221 Mocca 435f.; González 160. 222 Forster 558–563.
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Die anti-kirchneristischen Fußballfans befinden sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum großen transversalen Fußballkollektiv, nicht aber zum »reinen« Kern der hegemonialen Repräsentation, in einer paradoxen Situation. Durch die diskursive Artikulation von Fußball und Populismus entsteht eine Äquivalenzverbindung, die auch ihre Diskursposition erfasst und die sie nicht zurückweisen können, die sie aber gleichzeitig ausschließt oder ihnen zumindest keine Möglichkeit der Vollinklusion bietet. Einerseits eint Fußball alle Argentinier/innen jenseits ideologischer und sozioökonomischer Gräben im Nationalgefühl, andererseits schafft seine Artikulation mit dem Kirchnerismus eine Hierarchisierung des Status als legitimes Subjekt innerhalb dieses nationalen Kollektivs.223 Diese Paradoxie zeigte sich praktisch während der WM 2010. Maradonas Einschreibung als privilegierter Signifikant des Kirchnerismus erwies sich als produktiv, weil sie für die vom Fußballdiskurs in gleicher Weise durchdrungenen oppositionellen Kräfte schwer angreifbar war, ohne den eigenen Ausschluss aus der popularisierten Nation zu riskieren.224 7.4.3 Die Konsolidierung der antagonistischen Spaltung Das weiter oben dargestellte Argumentationsmuster, die politische Reartikulation kultureller Bedeutungsträger sei eine belanglose stimmungsaufhellende Begleitrhetorik, deren vorübergehende konsensschaffende Wirkung rasch von der »harten Realität« aufgehoben würde, zeigt sich nun in einem anderen Licht. »Nachhaltigkeit« scheint nicht das Ziel der hegemonialen Operation, es stellt somit kein relevantes Kriterium für die Bewertung des Erfolgs symbolischer Inszenierung in populistischen Politikstrategien dar. Die Inszenierung der totalisierten popularen Einheit bleibt auf einen intensiven Moment beschränkt, sie hat aber mit ihrer Durchführung bereits ihre Aufgabe erfüllt.225 Entscheidend ist nicht ein unmittelbarer Einfluss auf den politischen Prozess oder ein definitiver »Sieg« in der symbolischen Auseinandersetzung, sondern die Konsolidierung der Spaltung und damit die Aufrechterhaltung des antagonistischen Konflikts, dessen mobilisierende Kraft die populistische Konstruktion stützt. Ricardo Forster bemerkt dazu: »Der Mythos ist Mythos, weil er sich nie als solcher realisiert, er lässt immer etwas offen. Deswegen funktioniert er weiter.«226 Der Antagonismus lebt von der Persistenz der Spannung zwischen differentieller und äquivalentieller Logik. Es ist daher nachgerade unabdingbar für die Stabilisierung populistischer Konstruktionen, dass 223 224 225 226
Ortiz 24–31, 95–100; Bosto 149–154. Bosto 309–315. Mocca 499–504. Forster 317–318.
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die kulturellen Bedeutungsträger parallel zur ihrer hegemonialen Besetzung weiterhin breit verankerte und in ihrer Bedeutung »flottierende« kulturelle Phänomene bleiben. Die wechselhafte Konjunktur in der politisch-kulturellen Artikulation des Popularen ist somit selbst Teil des Spiels. Die Eigenlogik des Fußballs sowie die symbolische Autonomie und prinzipielle politische Ungebundenheit Maradonas werden in den Interviewnarrationen wiederholt unterstrichen, weil die »Nutzbarkeit« kulturell wirkmächtiger symbolischer Formen für hegemoniale Deutungskämpfe mit ihrer Ambiguität und Mehrdeutigkeit steigt. Die Äquivalenz der artikulierten Elemente kann nicht nur nicht absolut werden, sie soll es auch nicht werden. Gerade aufgrund seiner Komplexität und Unkontrollierbarkeit stellt der Fußball ein »fruchtbares Feld« für hegemoniale Auseinandersetzungen dar.227 Das WM-Ereignis bot eine Arena, in welcher der Antagonismus durchgespielt und erneuert werden konnte. Dies ermöglichte eine Inszenierung der politisch-ideologischen Konfliktlinien zur Aufrechterhaltung des instabilen populistischen demos, das vom unerfüllten Versprechen einer zu sich selbst gekommenen Identität lebt. Dass die »hegemonialen Medien« nach der Niederlage die Identifikation Maradonas mit dem popularen Charakter der Regierung mit umgekehrten Vorzeichen aufgriffen und die maradonianische Niederlage zu »kirchnerisieren« versuchten, bestätigte die Lagerbildung. Die innenpolitischen Polemiken während der Weltmeisterschaft verifizierten die Existenz des Antagonismus, die Bedrohung durch den antagonistischen Feind förderte die Kohäsion innerhalb der äquivalentiellen Konstruktion. Die Verstetigung popularer Identitäten wird mithin als beständiger Prozess symbolischer Mobilisierungsarbeit konzipiert, der auf kulturelle Topoi aus wechselnden Zusammenhängen zurückgreift und seine Dynamik aus dem ephemeren Charakter der politisch-kulturellen Artikulationskämpfe schöpft. Hernán Brienza interpretiert das abrupte Ende der politisierten Debatte nach dem Rücktritt Maradonas daher nicht als Nachweis für eine Strategieänderung von kirchneristischer Seite: »Es ist nicht so, dass er [der Fußball, Anm.] aufgegeben wurde. Ich glaube, dass mit dem Ende der Weltmeisterschaft die Diskussion über das Nationale auf andere Terrains überging, aber dass es sich 2014 wiederholen wird. Immer, wenn etwas auftaucht, das eine Diskussion über das Nationale aufwirft, gibt es ähnliche Debatten.«228
Fußball ist für die Symbolisierung des National-Popularen aufgrund seiner popularen Konnotationen und seiner Verankerung in den 227 Mocca 467–469. 228 Brienza 119–121.
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alltäglichen kulturellen Praktiken in Argentinien in besonderer Weise geeignet. Gleichwohl ist seine Nutzbarmachung für populistische Anrufungen nicht zu jedem Zeitpunkt in gleicher Weise möglich.229 Der Rückgang der intensiven Narrativproduktion anhand fußballerischer Artikulationen bedeutet nach Brienza daher nicht das Ende der soziokulturellen Verkörperung der national-popularen Erzählung, lediglich ihr Überwechseln auf andere Terrains. Die populistische Logik versucht, die Konsolidierung der Spaltung auf allen sich bietenden symbolischen Bühnen voranzutreiben. So wird ein Netz vielfältiger Verdichtungspunkte einer popularen Subjektivität gesponnen, das sich durch die gesamte Diskursformation zieht und die antagonistische Konfiguration durch die wiederholte und in ihren Schwerpunktsetzungen wechselnde Reartikulation unterschiedlicher kultureller Elemente stützt. Die kirchneristische Artikulation von Fußball und Politik ist daher weder die Basis ihres politischen Erfolgs noch dessen folgenloses Epiphänomen. Der Kirchnerismus konstruiert Hegemonie nicht auf Basis der fußballerischen Topoi, sondern mit ihnen. Mocca beschreibt den Kirchnerismus konsequenterweise als »symbolistische Regierung«, die »nichts anderes macht, als alles zu symbolisieren.«230 Die mannigfaltigen symbolischen Kämpfe konstituieren die Teilelemente eines Räderwerks, die in ihrem Ineinandergreifen die Kontinuität der identifikatorischen Besetzung sichern.231 So produzieren auch ephemere politisch-kulturelle Artikulationen in ihrer flächendeckenden Verstreuung und gegenseitigen Komplettierung langfristigen Nachhall. Forster fasst diese Politik der soziokulturellen Verkörperung als »eine systematische Politik des kulturellen Disputs im Rückgriff auf bestimmte kulturell-symbolische Traditionen des argentinischen Popularen« zusammen.232 Die Forcierung symbolischer Kämpfe um die politische Neueinschreibung historisch geprägter popularkultureller Bedeutungen ist somit intrinsischer Bestandteil populistischer Politikkonzeptionen. Der nicht zu gewinnende Kampf um die »populare Kultur« erweitert den Artikulationsspielraum der hegemonialen Akteure, er erlaubt eine metaphorische Darstellung der aktuellen politischen Konfliktlinien im Raum der kulturellen Praktiken und erhält damit die »soziale Produktivität« der konfligierenden Repräsentationen aufrecht.
229 230 231 232
Bergel 300–305; Mocca 470–472. Mocca 353f. Forster 187–195. Ebd. 566–568.
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7.5 Gegenstimmen: Populistische Inszenierung aus kirchnerkritischer Sicht Das Forschungsinteresse dieser Studie gilt den Dynamiken politisch-kultureller Symbolisierung in der Schließungsphase populistischer Politikmodelle. Die Positionierung oppositioneller Kräfte zu diesen steht nicht im Fokus der Untersuchung. Die Interviews mit regierungskritischen Vertretern aus Medien, Politik und Intellektualität dienen daher nicht dazu, nun spiegelverkehrt »den Diskurs« der Opposition abzubilden. Dies entspräche zudem einer groben Vereinfachung, da das oppositionelle Spektrum parteipolitisch hochzersplittert und heterogen war und sich auch im medialen und akademischen Umfeld aus teilweise diametral entgegengesetzten ideologischen Motiven speiste. Die konzise Diskussion zentraler Argumentationsmuster im kirchnerkritischen Spektrum soll vielmehr in Ergänzung zur ungleich detailreicheren Untersuchung des pro-kirchneristischen Diskurses eine Kontrastfolie bieten, vor deren Hintergrund die Spezifität des letzteren klarer hervortritt und die bisher erarbeiteten Thesen präzisiert werden können. Da ein bloße Wiederholung der antagonistischen Konstellation mit umgekehrten Vorzeichen wenig Erkenntnisgewinn versprach, wurden für die Untersuchung der regierungskritischen Positionen bevorzugt Personen des linken bis linksliberalen Spektrums ausgewählt, wenn sich auch mehrere Stimmen des konservativen Lagers unter den Interviewpartnern finden. Die Gespräche lassen gleichwohl eine narrative Konfiguration sichtbar werden, welche in der Gegenüberstellung die Selbstverständlichkeiten bzw. Auslassungen in den Narrationen der Kirchner-Sympathisanten zeigt.
7.5.1 Maradona, Signifikant der argentinischen Dekadenz Der kleinste gemeinsame Nenner, der die oppositionellen Akteure trotz aller Unterschiede eint, ist die durchgängig explizite Distanznahme gegenüber Maradona und seiner Verehrung. Dabei wird allerdings viel Wert darauf gelegt, diesen nicht auf eine kirchneristische Figur zu reduzieren. Auch wenn die Einschätzungen hinsichtlich der Nähe Maradonas zur Kirchnerregierung divergieren, wird grundsätzlich deutlich, dass unabhängig davon seine öffentliche Präsenz in Argentinien eine jahrzehntelange Konstante darstellte und die Polemiken um seine Figur den Antagonismus zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus schlicht antezedieren. Maradona wird daher nicht in erster Linie mit der aktuellen Regierung assoziiert, sondern sowohl mit dem Peronismus als auch mit der »Argentinität«, wobei sich die Charakterisierungen dieser 258
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beiden mit Maradona artikulierten Elemente in den Erzählungen stark überschneiden. Der Historiker Luis Alberto Romero beschreibt die politische Bedeutung der symbolischen Repräsentation Maradonas folgendermaßen: »Ich würde diese Verbindung nicht auf direkte Weise zwischen Maradona und der Politik feststellen, sondern in der gemeinsamen Referenz auf diese Kombination aus Überheblichkeit und Paranoia, die, wie mir scheint, ein höchst signifikanter Kern unserer politischen Kultur und unserer Kultur über das Politische hinaus ist.«233
Maradonas häufiges Auftreten als Opfer und Ankläger korreliere mit der in politischen Diskursen zirkulierenden Vorstellung, »dass Argentinien eine Bestimmung zur Großartigkeit hat und es aus irgendeinem Grund eine Verschwörung gibt, um das zu verhindern.«234 Diese Vorstellung eines verhinderten »destino de grandeza« weise eine starke Kontinuität im sozialen Imaginären Argentiniens auf, die Romero vor allem für die Zeit vor 1983 konstatiert und in der Aktualität erneuert findet: »Wir sind immer bereit zu hören, dass sie uns die Dinge in dem Sinn erklären, dass jemand gegen die authentische Nation konspiriert.«235 Ebenso beschreibt der Journalist Pepe Eliachev den politischen Diskurs des Kirchnerismus und verweist dazu auf die populistische Matrix, die dem Peronismus eingeschrieben ist: »Das Land gegen das Imperium, die Nation gegen die Ausländer, das Vaterland gegen seine Feinde, und außerdem etwas, das stark in der DNA des Peronismus ist, nämlich die Vorstellung der internationalen Verschwörung. Es gibt eine internationale Verschwörung. Ein sehr typischer Satz der gegenwärtigen Regierenden ist: ›jene, die das Scheitern Argentiniens wollen‹.«236
Damit stellt er den populistischen Zyklus ab 2003 in eine Kontinuität mit Peróns Rede von der Herrschaft einer aus Finanzkapital, Zionismus, Freimaurern etc. zusammengesetzten »internationalen Synarchie«.237 Die kirchneristische Rhetorik der Wiedererlangung des nationalen Selbstwerts ist für ihn zwar Folge der ökonomischen Krise ab 1999, die an ihrem Höhepunkt mit der Erklärung der Zahlungsunfähigkeit 2002 das argentinische Selbstbild als Land mit einer verheißungsvollen Zukunft 233 234 235 236 237
Romero 110–113. Ebd. 37f. Ebd. 56–58. Eliachev 48–52. Ebd. 52–59.
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endgültig zerstörte,238 in ihrer rhetorischen Qualität ist sie aber Erbe der historischen Strukturierung des politischen wie kulturellen Diskurses. Peronismus und Argentinität scheinen hier untrennbar verbunden. Die paranoide Opfererzählung wird gleichermaßen als »peronistisch« wie »argentinisch« begriffen, und sie ist in die Geschichte des Fußballs eingeschrieben: Auf die Frage nach der Bedeutung der Jubelmanifestation argentinischer Fans bei der Rückkehr der erfolglosen Nationalmannschaft nach der WM 2010 verweist Eliachev auf die WM 1994, bei der Maradona seinen Dopingausschluss als internationale Verschwörung darstellte, sowie auf die WM 1966, bei der der Ausschluss des Teamkapitäns Rattín im Viertelfinale gegen England durch einen deutschen Schiedsrichter in Argentinien als deutsch-englisches Komplott gehandelt und das heimkehrende Nationalteam als »moralische Weltmeister« gefeiert wurde.239 Daraus ergibt sich der Schluss: »Das ist eine lange Geschichte in Argentinien, sie geht den Kirchners und Maradona lange voraus. [...] Argentinien ist an diese Phänomene gewöhnt. An die kommunizierenden Gefäße zwischen Fußball, Politik, Gesellschaft, Geschichte. Es ist kein Spiel, es ist viel mehr als ein Spiel. Immer ist es eine apokalyptische Schlacht.
Dies mag einerseits die teilweise unbeeindruckten Reaktionen gegenüber den lediglich als episodisch erachteten politisch-kulturellen Artikulationen der Fußballweltmeisterschaft 2010 in den Gesprächen erklären. Andererseits wird durch diesen Zusammenhang Maradona auch für die antikirchneristas zum perfekten Verdichtungspunkt einer nun ausschließlich negativ verstandenen Argentinität, die mit Elementen des politischen Feldes artikuliert wird: »Maradona [...] [ist] für mich eine der tragischsten Figuren im griechischen Sinn des Wortes, die wir im sportlichen Leben finden können. Weil er ein Ausdruck der Maßlosigkeit ist. Nachdem er ein außergewöhnlicher Sportler war, versuchte er, ein außergewöhnlicher Mensch zu sein und war es nicht. Er war ein mittelmäßiger Mensch, geplagt von seiner Maßlosigkeit und seinen Exzessen, und die Tatsache, dass er das argentinische Team leitete, war eine Konsequenz des bestehenden Populismus im Land und nicht seiner Fähigkeiten als Trainer. [...] Die äußerst schlechte Leistung, die Argentinien außerdem in der WM von Südafrika erbrachte, zeigte mir, dass Argentinien von seinen eigenen Exzessen geschlagen wurde, von seinem maßlosen Selbstwertgefühl, von seiner Angeberei, von seiner Blindheit, von seiner Demagogie. So dass ich fand, dass Argentiniens Leistung in der WM eine gute Widerspiegelung 238 Ebd. 159–171. 239 Ebd. 229–233, 252–255.
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der Probleme war, mit denen das Land heute in einem nicht sportlichen Sinn konfrontiert ist.«240
Der Essayist Santiago Kovadloff liest hier das WM-Debakel als Ausdruck kulturell spezifischer Allmachtsphantasien, der den Glauben an die Bestimmung zur Großartigkeit gleichzeitig als Illusion herausstellte. Er leitet daraus eine Unfähigkeit zur Selbstkritik und eine Verleugnung der Realität sowohl in der Regierung als auch in der allgemeinen politischen Kultur des Landes ab, die eine konstruktive Reflexion und Weiterentwicklung verhindere.241 Die narrative Strukturierung evoziert die Vorstellung von Argentinien als »Land der Extreme«, auf das auch die kirchneristas in ihren Erzählungen rekurrierten. Allerdings führt in Kovadloffs Lesart die »epische Berufung« systematisch zu »skandalösen Misserfolgen, um unser Epos aufrechterhalten zu können.«242 Vom »Besten und Schlechtesten« der Argentinität, das Maradona in den Augen der pro-kirchneristischen Vertreter repräsentierte, bleibt so nur mehr letzteres als Realität bestehen. Damit entspricht seine Darstellung dem Narrativ der argentinischen Dekadenz, gegen das sich der Kirchnerismus mit seinem Anspruch auf Wiedergewinnung des nationalen Selbstwertgefühls gerade richtet. Erkennbar wird diese Referenz auf aktuelle politische Debatten insbesondere, wenn Kovadloff am Ende seiner kulturpessimistischen Ausführungen bilanziert: »Wir sind Leute, die sich blind an ihre Glaubensvorstellungen klammern, und deshalb leiden unsere politischen Institutionen an einer nicht anerkannten Schwäche.«243 Der mangelnde Respekt der Institutionen und der häufige Einsatz von Regierungsdekreten war eine wiederholte Kritik der oppositionellen Kräfte an den kirchneristischen Regierungen, die in der Tat über eine hohe Machtkonzentration in der Exekutive verfügten, dabei allerdings durchaus im Trend ihrer Vorgängerregierungen lagen. Machtmissbrauch, Klientelismus und Korruption sind auch die häufigsten Kritikpunkte der Interviewten im Sprechen über die Kreuzungspunkte zwischen Fußball und Politik. Der Journalist und TV-Moderator Jorge Lanata versteht Fußball als »Gesellschaft ohne Metaphern«: »Wie eine Gesellschaft, in der die Metaphern nicht funktionieren, das ist die nackte Gesellschaft. Was man von den Machtbeziehungen sieht, sind die nackten Machtbeziehungen.«244 Fußball wird als Brennglas der Gesellschaft verstanden, das den gesellschaftlichen Verfall lediglich akzentuierter hervortreten 240 241 242 243 244
Kovadloff 19–33. Ebd. 41–55, 124–145. Ebd. 181. Ebd. 96–98. Lanata 25–27.
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lasse.245 Die gesellschaftliche Konnivenz mit den kriminellen Aktivitäten in den Fanorganisationen, von Schwarzmarktgeschäften bis zu Schutzgelderpressungen, oder mit der Dauerkrise der Fußballclubs wegen weithin ungeahndeter Veruntreuung von Vereinsgeldern durch Funktionäre leiste daher auch eine Aussage über die moralische Qualität der Bürgerschaft, die ebensolche Phänomene dann auch in allen anderen Bereichen gelten lasse.246 In den Diskussionen über die institutionalisierte Gewalt und die Korruption im Fußball werden ein Mangel an republikanischer Demokratiekultur und die Akzeptanz breiter Teile der Bevölkerung dafür verantwortlich gemacht, dass den Volksvertreter/innen aus ihrer Involvierung in informelle Machtnetzwerke kein Nachteil erwachse, sondern im Gegenteil allgemein bekannt sei, welchem Politiker die jeweiligen barras bravas »gehörten«, dass klientelistische Strukturen als schon immer gewesene akzeptiert und mit der Redewendung »Sie stehlen, aber immerhin machen sie etwas« quittiert würden etc.247 Ihre kulturalistische Grundlegung erfährt diese Argumentationslinie, wenn das Fehlen starker zivilgesellschaftlicher Forderungen nach einer Stärkung der Institutionen einzig mit der »typisch argentinischen«, auf momentanen Gewinn orientierten Disposition »der Leute« und der damit einhergehenden Tendenz zur Stützung kurzfristig agierender Politikangebote erklärt wird. Lanata bezeichnet die Argentinier/innen als »exitistas« und »inmediatistas«, also als Anhänger/innen einer Ideologie des Erfolgs wie auch des Unmittelbaren, die – am Beispiel des Fußballs – ein Ethos des schnellen Sieges verfolgten und dafür fragwürdige Methoden akzeptierten.248 Auch auf dieser Ebene moralischer Wertehaltungen ist wiederum Maradona als national-populares Idol das Negativbeispiel par excellence für einen defizitär verstandenen »argentinischen Charakter«, der den kollektiven Fortschritt verhindere. Maradona steht für die Missachtung bürgerschaftlicher Prinzipien, für Selbstbezogenheit und Geltungsdrang, die Bewunderung für ihn für das Warten auf politische Retterfiguren anstelle der Bereitschaft zu eigenem Engagement für kollektive Ziele.249 Dazu ein längerer Auszug aus dem Gespräch mit dem Kolumnisten und ehemaligen sozialliberalen Abgeordneten Fernando Iglesias, der die Verknüpfung von individuellen, kulturell typisch erachteten Eigenschaften und politischer Kultur gut erkennen lässt:
245 246 247 248 249
Siehe auch Abraham 24–28. Lanata 13f. Abraham 340–352; Milman 272–279; Lanata 117–132. Lanata 242–251, 72–88. Eliachev 179–184; Iglesias 200–209, 370–373.
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»Ich glaube, dass unser Land von Werten in die Katastrophe geführt wurde, die Maradona absolut gut verkörpert. Was hat Maradona? Er hat ein außergewöhnliches ungenutztes Talent. [...] weil er wenig trainierte, weil er Drogen nahm, wegen einer Menge Faktoren, er zeigte keinerlei Respekt für Regeln. [...] All das sind die Dinge, die Argentinien in den Ruin geführt haben. Sie haben aus diesem Land ein Land mit großen und ungenutzten Talenten gemacht. Maradona verkörpert die argentinische Tragödie auf perfekte Weise, die Demagogie, den Populismus, den Mangel an Respekt für die Regeln, die Oberflächlichkeit, die mangelnde Gründlichkeit im Training, in der Arbeit, wo auch immer. Ich finde, dass er ein außergewöhnliches negatives Beispiel ist und dass er indirekt mitgeholfen hat, die schlimmsten argentinischen Fehler zu verschärfen.«250
Die politische Bedeutung der Debatten um Maradona wird darin deutlich, dass seine Figur auch von seinen Kritiker/innen mit einem ganzen Set von charakterlichen Attributen verbunden wird, das wiederum auf ein bestimmtes Politikmodell verweist und für die krisenhafte Entwicklung des Landes verantwortlich gemacht wird. Iglesias sieht folglich darin die Verbindung zum Kirchnerismus: »Es gibt eine sehr direkte Beziehung zwischen der Art der Kirchners, Politik zu machen, und der Art Maradonas, das Leben zu sehen und das Nationalteam zu leiten. Das Setzen auf das Kurzfristige, spektakuläre demagogische Dinge und sehr magere Ergebnisse.«251 7.5.2 Maradona, Signifikant der argentinischen Größe Diese diskursiven Artikulationen bestätigen, dass die Überlagerung politischer und kultureller Bedeutungen im Fußball für beide Seiten der antagonistischen Spaltung anschlussfähig ist. Die fußballerischen Topoi sind bereits vor jeder ereignisbezogenen Reaktualisierung politisch kontrovers aufgeladen und bieten den unterschiedlichen ideologischen Traditionen innerhalb der kulturellen Kommunikationsgemeinschaft je spezifische Anknüpfungspunkte zur sinnstiftenden Interpretation der aktuellen politischen Konfliktlinien, wie der Soziologe Tomás Abraham ausführt: »Im argentinischen Fußball haben Ideologien große Bedeutung. Und das sind keine reinen Fußballideologien. Das sind allgemeine Ideologien, die sich auch in der Politik zeigen, die sich auch in der Geschichte zeigen, und sie zeigen sich in dem, was man die Moral nennen kann. Zum Beispiel, 250 Iglesias 170–182. 251 Ebd. 256–258.
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eines der Dinge, die schon seit 55 Jahren diskutiert werden,252 […] ist die Identität des argentinischen Fußballs. Die Identität, das ist permanent. Das hat auch viel mit der Identität Argentiniens zu tun. Argentinien weiß nicht genau, wer es ist. Das ist etwas, weil es ein Land von Immigranten ist und ein europäisiertes Land, aber es ist nicht Europa. Und die argentinische Identität ist ein Thema politischer, historischer, akademischer und fußballerischer Diskussion. Wer sind wir? Alle Tage wird das diskutiert.«253
Die Rolle des argentinischen Fußballs als privilegierter Ort der Debatte über das Nationale verleiht ihm seine unweigerlich polemische Dimension, gleichzeitig macht diese ideologische Durchsetzung seine identitäre Vitalität aus.254 Auch wenn die Identität des »Wir« umstritten ist – dass dieses Wir bei der Fußballweltmeisterschaft spielt, steht außer Frage. Mehr noch, das Fußballereignis scheint einer der wenigen Momente zu sein, bei denen sich dieses überhaupt noch zeigt. Deswegen kann Abraham auch nicht nachvollziehen, inwiefern bei einer WM von politischer Seite in einem hegemonialen Einsatz die Nation »redefiniert« werden könne, denn schließlich: »Die WM ist Argentinien. Wir spielen die WM. Nicht Maradona, Messi, wir. Alle. [...] Die Argentinier streiten sich ständig untereinander, aber wenn es um die argentinische Nationalmannschaft geht, sind wir alle Argentinier.«255 In den Interviews wird daher auch verschiedentlich von den Erfolgen im Fußball als »Inseln der Hoffnung« oder als einzige Möglichkeit patriotischer Identifikation in einem schwierigen politischen und ökonomischen Kontext gesprochen.256 Der Fußballnationalismus ist zwar durch die anhaltende Erfolglosigkeit und die erwähnten Verfallserscheinungen seiner Institutionen geschwächt, seine identitätsstiftende Anrufungskraft scheint aber mangels alternativer Angebote weiterhin die überwältigende Mehrheit der Argentinier/innen zu erfassen, sodass die Krise des argentinischen Fußballs besondere Brisanz erlangt: »Das ist ein Thema, weswegen die Nation in der Krise ist. Ja, es gibt ein Problem, wenn die Leute auf einen anderen Sender umschalten. Das heißt nicht, dass ihnen der Fußball egal ist. Sondern, dass ihnen nicht gefällt, wie der Fußball ist.«257 Auch lässt die weiter oben dargestellte diskursive Verknüpfung einer ausschließlich siegesfixierten Fußballbegeisterung mit einer politisch konnotierten und negativ bewerteten »Argentinität« von 252 Abraham spielt hier auf die Krise des kreolischen Stils und die fußballinternen Modernisierungsdebatten nach der 5:0-Niederlage gegen die Tschechoslowakei bei der WM 1958 an. 253 Abraham 45–54. 254 Ebd. 149–151. 255 Ebd. 300–304. 256 Kovadloff 175–178; Abraham 200–205, 288–290. 257 Novaro 418–420.
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anti-kirchneristischer Seite nicht den Schluss zu, dass breite Teile des regierungskritischen Lagers in der Bevölkerung sich von dieser Form der nationalen Identifikation abgewendet hätten. Die verschwörungstheoretische Auslegung des argentinischen Scheiterns wird von den Regierungskritikern als etwas »typisch Peronistisches« zurückgewiesen, der darunterliegende Mythos der vorbestimmten argentinischen grandeza erfasst aber auch sie. Der Soziologe Emilio de Ípola sieht daher aufgrund der anhaltenden sportlichen Niederlagen zwar die Ausdrucksmöglichkeit des argentinischen Superioritätsdenkens im Fußball beschädigt, seine kulturelle Verankerung aber weithin ungebrochen, denn: »Die Hoffnung, der Beste der Welt zu sein, ist im ganzen Land Teil dessen, Argentinier zu sein«.258 Es gilt also weiterhin und über die Grenzen der politischen Lager hinaus: »Für einen Argentinier heißt eine Weltmeisterschaft zu gewinnen nicht, die Fußballweltmeisterschaft zu gewinnen, es heißt, alle Weltmeisterschaften zu gewinnen, in allem, [...] es heißt, die Besten der Welt zu sein. Nicht im Fußball, in allem!«259 Die Funktion des Fußballs, Zugehörigkeit zu einem als überlegen definierten nationalen Kollektiv zu bieten, scheint im politisch-kulturellen Imaginären des Landes derart hoch bewertet zu sein, dass Eugenio Burzaco, Vertreter der liberal-konservativen Partei PRO, dies als allgemeinmenschliches Bestreben nach Zugehörigkeit und Status anthropologisiert, Tomás Abraham die Börse von Tokio als Vergleich zur Beschreibung der »manischen« Stimmung in Alltagsgesprächen über Spielergebnisse heranzieht260 und Emilio de Ípola Fußball als unmögliches Feld politischer Hegemoniekämpfe betrachtet: »Nachdem es ein allgemeines identitäres Prinzip ist, ist es sozusagen etwas schwierig, dass es eine Opposition gibt. Alle wollen, dass Argentinien gewinnt. Die Opposition und der Regierungsblock.«261 Die schichten- und geschlechterübergreifende Ausbreitung des Fußballkonsums habe zu einer Absorption aller gesellschaftlichen Gruppen in die Fußballpassion geführt, die dadurch kein Differenzierungszeichen mehr darstelle und nicht politisch artikulierbar sei. Tatsächlich kann Fußball nicht »angeeignet« werden, wie auch die Reflexionen der pro-kirchneristischen Akteure übereinstimmend zeigten. Allerdings macht ihn gerade das für populistische Totalisierungsversuche attraktiv. De Ípola denkt offensichtlich nur an Versuche der reinen Antagonisierung, wenn er meint: »[Der Fußball] erlaubt keine Teilung zwischen denen von oben und denen von unten [...], ich finde, dass er sich nicht dazu eignet, ihn in irgendeine Äquivalenzkette zu inkludieren, die sich danach einem anderen entgegensetzen 258 259 260 261
de Ípola 256f Abraham 29–32. Ebd. 403–408. de Ípola 268f.
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könnte.«262 Statt einer bloßen Grenzziehung zwischen Oben und Unten zielt der Versuch politisch-kultureller Artikulationen im Feld des Fußballs aber auf die Teilung zwischen dem totalisierten /innen einer popularen Nation und dem Außen einer Anti-Nation ab, welches aufgrund der Universalität des Fußballphänomens gleichwohl als Außen unmöglich bleibt und zum widersprüchlich Ein- und doch Ausgeschlossenen wird, das Ricardo Forster im vorigen Kapitel mit der »Paradoxie« des Anti-Maradonianismus beschrieben hatte. Andererseits weist de Ípola mit seiner Skepsis bezüglich der politischen »Rentabilität« einer solchen Operation auf eine Schwierigkeit hin, die sich in der Dynamik der symbolischen Auseinandersetzungen zwischen kirchneristas und antikirchneristas tatsächlich zeigt: Selbst wenn die nationale Fußballbegeisterung erfolgreich mit kirchneristischen Vorzeichen versehen würde, wäre dies nur der Startpunkt einer neuerlichen Antagonisierung, um eine folgende Auflösung der antagonistischen Teilung zwischen Oben und Unten durch die im Fußball hergestellte Äquivalenz, die bis hin zum Erzfeind der Sociedad Rural nun ja in der Tat alle umfasst, zu verhindern. Eben diese Mischung aus Universalisierung des Partikularen und Partikularisierung des Universalen in der politischen Strategie des Kirchnerismus lässt sich aus den Einschätzungen der regierungskritischen Beobachter in Hinblick auf die WM 2010 ableiten. Diese sehen die vom Regierungsblock gesuchte Nähe zu Maradona als Versuch, im Falle eines sportlichen Erfolgs mit dem Klima patriotischer Begeisterung und einem gestärkten Nationalstolz assoziiert und aufgewertet zu werden. Zwar herrscht Einigkeit, dass die Operation schon in ihren Ansätzen aus sportlichen Gründen fundamental scheiterte. Ein Sieg Maradonas hätte aber geheißen, »Argentinien wieder in eine Position der Vorherrschaft zu setzen, die es zu haben imstande gewesen war und nicht mehr hat.«263 Maradona stellt trotz seiner Strittigkeit den letzten Nationalhelden dar, der die argentinische Größe realisierte. Burzaco beurteilt das so: »Maradona ist im argentinischen kollektiven Imaginären das letzte große Fußballidol gewesen, sodass es dort eine Suche in seiner Figur gab, seine unglaublichen Erfolge der jüngsten Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen. In meiner Jugend war Maradona allgegenwärtig, er war Weltmeister, es war eine glorreiche Zeit im Fußball. Ich glaube, dass er mit dieser Bedeutung in die Nationalmannschaft gebracht wurde […], dass man diesen Geist wiederherstellen wollte, der 1986 herrschte«.264
Tomás Abraham berichtigt, nachdem er Maradonas Trainerschaft 2010 als »sehr polemisches Thema« und als »Wahl der Präsidentin« 262 Ebd. 353–364. 263 Burzaco 74f. 264 Ebd. 18–28.
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bezeichnet, dass dies seinem Status als nationalem Idol keinen Abbruch tue: »Ja, die Gesellschaft ist geteilt, weil Maradona eine lange Geschichte hat, aber er ist Gott.«265 Deswegen wird in den Interviews auch mehrfach betont, dass die Nähe Maradonas zum Kirchnerismus, sein Auftreten beim Vertragsabschluss des Programms Fútbol para Todos an der Seite Fernández de Kirchners oder seine Unterstützung der mit Clarín-Eigentümerin Herrera de Noble im Rechtsstreit befindlichen Großmütter der Plaza de Mayo keinerlei Bedeutung für die Fans gehabt hätten, ja nicht einmal allgemein bekannt gewesen seien.266 Im Moment der möglichen Wiederherstellung der argentinischen grandeza scheinen die national einenden Bedeutungen der Figur Maradonas seine popular teilenden Konnotationen zu übertünchen. Die diskursive Verknüpfung des politischen Projekts des Kirchnerismus mit einem etwaigen sportlichen Triumph der Nationalmannschaft entspricht nach diesen Interpretationen eher einem Versuch der Nationalisierung des Kirchnerismus als einer Kirchnerisierung der WM. Das transportierte Bild wäre dann höchstens das von »Cristina und Néstor, die das Wunder Maradonas möglich gemacht hatten« und die nationale Geschichte wieder richtig stellten.267 Kovadloff mutmaßt daher, »dass die Regierung versuchte zu zeigen, dass Argentinien seine Fülle der Amtsführung der Kirchners verdankt.«268 Allerdings stellt sich auch in diesem Fall die von de Ípola aufgeworfene Frage nach der »Rentabilität« einer solchen Äquivalenzierung, die über das allgemein übliche Bestreben staatlicher Repräsentant/innen nach Teilhabe an nationalen Sporterfolgen nicht hinausreicht. Letztlich zeigt sich hier die schwierige Gratwanderung jeder symbolpolitischen Intervention in hegemonialen Auseinandersetzungen, welche das komplexe Spannungsverhältnis zwischen Faktionalismus und universaler Inszenierung auszubalancieren hat. Die anti-kirchneristischen Interviewpartner vermuten, dass die Artikulation des plebejischen und autoritätsanfechtenden Charakters Maradonas mit dem populistischen Projekt von offizieller Seite erst nach einem sportlichen Erfolg massiv inszeniert worden wäre. Dass die Möglichkeitsbedingungen dafür vorhanden waren, bestätigen auch sie: »In vielerlei Hinsicht war der Typ von Antiheld, der Maradona ist, einigen Aspekten Kirchners ähnlich, der sich gegen die Mächtigen erhebt, […] Néstor Kirchner hatte auch diese transgressive Dimension in vielerlei Hinsicht. Da war eine Art gesuchte Assoziation.«269
265 266 267 268 269
Abraham 82f., 88. de Ípola 276–279; Lanata 150f.; Abraham 112–121. Novaro 133f. Kovadloff 124f. Burzaco 51–55.
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POPULISTISCHE SYMBOLPOLITIK
Allerdings geben die Narrationen einen Hinweis darauf, dass das Gros der fußballbegeisterten Bevölkerung – abseits der bereits politisierten Milieus der kirchneristischen militantes – Maradonas Präsenz 2010 stärker mit der Hoffnung auf die Realisierung des destino de grandeza verknüpfte als mit einer Reaktualisierung der Bedeutungen, die vom pro-kirchneristischen Diskurs mit dem Topos von Villa Fiorito oder dem »Tor mit der Hand Gottes« stark gemacht wurden. Zwar provozierte Maradona nach wie vor die Assoziation des Tricksters, der sich durchzusetzen weiß, »vielleicht mit nicht-ritterlichen Mitteln, aber wenn das Ziel gut ist, zahlt es sich aus.«270 Damit bot er durchaus eine symbolische Übersetzung von Werten, die in einer strukturell ungleichen Gesellschaft die Hoffnungen der popularen Schichten auf Verbesserung des eigenen sozioökonomischen Status organisierten.271 Die retrospektiven Einschätzungen der regierungskritischen Beobachter zeigen jedoch, dass das Funktionieren dieser Topik an den realen sportlichen Erfolg geknüpft ist. Der Politologe Marcos Novaro beschreibt Maradona als »Sieger, der die Regeln verletzt hat, weil die Regeln von den Mächtigen gemacht sind. Also ist er kein Mächtiger, aber er ist ein Gewinner. Er ist der Typ, der mit dem Mächtigen Streit sucht. Er geht zu den Engländern und schießt ihnen ein Tor mit der Hand. Das ist die kreolische Gerissenheit par excellence.«272
Die Erzählung der viveza criolla handelt vom Schwachen, der gewitzt und wendig ist und so den Starken besiegt, obwohl er objektiv betrachtet unterlegen ist und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse seine Unterordnung vorsehen. David gegen Goliath ist als mythische Erzählung jedoch nur interessant, solange David auch tatsächlich gerissen ist und Goliath erfolgreich austrickst. Andernfalls gilt: »Wenn du ein Tor mit der Hand schießt und sie werfen dich vom Platz, bist du nicht gerissen. Du bist bescheuert. [...] Die viveza criolla ist eine Epik des Erfolgs, sie ist keine Epik des Leidens, der Anstrengung, des Opfers des Schwachen.«273 In der argentinischen Fußballkultur, die spätestens seit 1986 vom Selbstverständnis als permanenter Titelanwärter geprägt wird, kann der Wert der viveza criolla nicht glaubwürdig politisch artikuliert werden, solange die Nationalmannschaft nicht zumindest das Finale erreicht, denn: »Das Volk hängt der Erfolgsideologie stark an. Wenn [Maradona] gewonnen hätte, wäre er ein Held gewesen. Aber er gewann nicht.«274 Dies zeigt, dass die diskursive Artikulation kultureller Topoi mit politischen 270 271 272 273 274
Ebd. 58f.. Ebd. 22–36. Novaro 325–328. Ebd. 330–335. Eliachev 196f.
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Konfliktlinien zu ihrer erfolgreichen Reaktualisierung auch einer tatsächlichen Reinszenierung bedarf. Der Rechtswissenschaftler Roberto Gargarella konstatiert daher, dass »die Beziehung der Gesellschaft zu Maradona auch ihre Veränderungen durchlaufen hat und [...] die Leute den Bezug zu ihm verloren« hätten, auch wenn eine »latente Zuneigung« für Maradona, die nicht an Bedingungen geknüpft sei, vorhanden bleibe.275 Das Idol, das nur mehr von seiner Vergangenheit lebt, wird immer mehr vom aktuellen zum historischen Nationalhelden.276 Die Einschätzungen der Debatte über Lionel Messi plausibilisieren den hohen Grad an Wirkmacht, welcher der Erfolgsideologie des exitismo zugeschrieben wird. So wird bestätigt, dass es »Kampagnen« gegen Messi gegeben habe, die ihn in seiner Argentinität in Frage stellten und seinen vermuteten fehlenden Patriotismus für die im Vergleich zu seinen europäischen Erfolgen mangelhafte Leistung bei der WM 2010 verantwortlich machten.277 Dennoch sei deren Resonanz in der öffentlichen Meinung gering geblieben: »Es ist nicht so, dass Messi schlecht angesehen wäre, denn es gab ja eine Menge von Operationen, um die Schuld auf Messi zu schieben zum Beispiel. Und ich glaube, dass sie gescheitert sind, denn in Wirklichkeit gibt es viel Polemik, es gibt auch den Wunsch nach Professionalität.«278
Die Bedeutung des charakterlichen Gegensatzes zwischen Messi und Maradona für die Identifikation mit dem Team erscheint in den Erzählungen der antikirchneristas relativiert. Auch wenn sie selbst offensichtlich stärkere Sympathie für Messi hegen und ihn teilweise als Idealbild bürgerschaftlicher Tugenden verstehen,279 wird den meisten Fans eine pragmatische Positionierung zugeschrieben, welche auch die verbreitete Skepsis an Maradonas Eignung als Nationaltrainer sportlich begründet. Die »enthusiastischen maradonistas, die sagen, dass ihnen das alles egal ist, dass ihnen das Tor, das er den Engländern geschossen hat, reicht«, werden hier deutlich als partikulare Gruppe gekennzeichnet.280 Dies weist darauf hin, dass Maradonas »national-populare« Bedeutungen zwar allgemein präsent waren, die von den pro-kirchneristischen Medien stark gemachte »Verwirklichung der popularen Würde« in der Treue zur eigenen Spielweise auch in der Niederlage aber keine durchgängig orientierungsleitende Wirkung entfaltete. Novaro bewertet das 275 276 277 278 279 280
Gargarella 25–28, 65–67. de Ípola 67–71, 90–94. Abraham 140–144. Novaro 369–371. Iglesias 182–214. Romero 67f.; siehe auch de Ípola 9–14, 90–92.
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als »Ambiguität der Leute in Bezug auf den Geist der Tribüne.«281 Der aguante, die bedingungslose Loyalität im Scheitern, ist in erster Linie ein Wert der Fanorganisationen, der vom hauptsächlich televisiven Fußballpublikum nicht ohne weiteres übernommen werde. Die Inszenierung der »Epik des aguante« nach dem WM-Ausscheiden, die Novaro in der Solidaritätserklärung der Präsidentin an Maradona wie auch im Fanempfang des Nationalteams in Ezeiza wahrnimmt, kann somit als Fokusverschiebung in den diskursiven Artikulationsstrategien der kirchneristas interpretiert werden. Die ergänzende Perspektive der Interviews mit den regierungskritischen Diskursproduzenten ermöglicht ein umfassenderes Verständnis dafür, wie die Spannung zwischen äquivalentieller und differentieller Logik in populistischen Symbolisierungsprozessen nutzbar zu machen versucht wird. Nachdem die hegemoniale Besetzung des gemeinsamen Raumes der nationalen Fußballbegeisterung aufgrund des sportlichen Resultats gescheitert war, erfolgte ein Kurswechsel von der Universalisierung des Partikularen zur Partikularisierung des Universalen. Die authentische Fußballbegeisterung als partikulare Qualität der popularen Subjekte wird im Angesicht der Niederlage nur mehr vom Kirchnerismus und seinen Anhänger/innen verkörpert. Die Konstruktion hat ihr hegemoniales Potential verloren, sie dient nun aber in ihrer Umkehrung zumindest der Erneuerung der antagonistischen Spaltung. Nur die Subjekte des populistischen »Volkes« beweisen aguante und leben das »morir con la nuestra«, daher verkörpern auch nur sie die populare Essenz des Fußballnationalismus. Dies ermöglicht zwar nicht die Hegemonialisierung des Popularen als Ausdruck des Nationalen, es verifiziert aber erneut die antagonistische Lagerbildung und stärkt die Kohäsion des populistischen Kollektivsubjekts gegenüber den aufgrund ihrer Illoyalität delegitimierten »anti-popularen« Fans. Dies ermöglichte es gleichzeitig, die symbolischen Deutungskämpfe um Fußball als ideologisches Patt abzuschließen und auf neue Terrains zu übertragen. Die regierungskritischen Beobachter urteilen übereinstimmend, dass die WM schnell vergessen wurde und mehr oder weniger sang- und klanglos von der diskursiven Agenda der innenpolitischen Akteur/innen verschwand. Die öffentliche Solidaritätserklärung Cristina Fernández de Kirchners und ihre (von den Spielern nicht angenommene) Einladung des Nationalteams in die Casa Rosada oder die medial kolportierten Versuche der Kontaktaufnahme mit dem Nationaltrainer durch Kabinettschef Aníbal Fernández werden als punktuell kontinuitätsvermittelnde Symbolhandlungen verstanden, die den gleichzeitigen Rückzug aus dem WM-Debakel flankieren sollten. Zwar herrscht in den Gesprächen ebenfalls Konsens darüber, dass Maradona, wenn er auch weiterhin in seiner historischen Bedeutung erinnert werde, nach 281 Novaro 365; siehe auch 266–320, 371–375.
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der Episode von 2010 endgültig eine »politisch abgewertete Figur« 282 darstelle, was sich anschaulich daran äußert, dass kaum einer der Interviewten präzise anzugeben vermag, in welchem der arabischen Länder Maradona nun aktuell als Trainer arbeite. Der Kirchnerismus wird mit dieser Abwertung aber nicht assoziiert, weil sich zumindest die führenden politischen Vertreter/innen in der frühen Etappe der WM nicht eindeutig auf der Seite der maradonistas exponiert hätten bzw. rechtzeitig auf Distanz gegangen seien.283 Fernando Iglesias resümiert daher: »Sie waren schlau genug, nicht auf Maradonas Siegerkarren aufzuspringen, bevor sie die Sicherheit hatten, dass dieser gewinnen würde. Sodass es, als er verlor, relativ einfach für sie war, keinen allzu hohen Preis zu zahlen.«284 Santiago Kovadloff bemerkt sarkastischer, aber inhaltlich übereinstimmend: »Maradona widerfuhr, was vielen Funktionären dieser Regierung widerfährt: Sie wechselten ihn aus. Aber das Projekt der Regierung bleibt das Gleiche. Es sind die Menschen, die versagen, das Projekt ist perfekt.«285 So wird die Auffassung der regierungsnahen Beobachter geteilt, dass die politischen Artikulationen der WM-Debatten von 2010 für den Kirchnerismus ein relativ risikoarmes Unterfangen dargestellt hätten. Einerseits schien die Verantwortung für die frühe Niederlage hauptsächlich bei Maradona zu liegen, der während des Bewerbs weit vor den Spielern im Zentrum der medialen Berichterstattung gestanden hatte. Dies erklärt für Abraham, warum es in der öffentlichen Debatte weniger explizite Unmutsäußerungen als bei früheren WMs gab: »Weil es Maradona war. Das Erste, was man macht, ist zu sagen: ›Wer ist schuld?‹ Und niemand wollte sagen, wer schuld ist.«286 Auch hier bestätigen sich die bereits in den Gesprächen mit der Gegenseite herausgearbeiteten Implikationen der »polemischen« Repräsentation Maradonas als Verkörperung der nationalen Einheit wie auch der popularen Anti-Establishment-Position. Das rasche Ende der WM-Debatten resultierte auch aus den Schwierigkeiten der Kritiker/innen Maradonas, diese Kritik öffentlich zu äußern, ohne sich dem Vorwurf der anti-patria auszusetzen. Denn schließlich »ist der Fußball eine nationale argentinische Passion über den politischen Passionen. Also erleben es die Leute als Trauer, wenn man aus der WM ausscheidet«.287 Das Risiko, im Falle einer Desidentifikation von dieser kollektiven Trauer in der eigenen Zugehörigkeit zur argentinischen Nation in Frage gestellt zu werden, verhinderte so die stärkere 282 283 284 285 286 287
Milman 77–79. Novaro 99–111, 248–251; Romero 93–96; Iglesias 224–231. Iglesias 253–255. Kovadloff 286–289. Abraham 252f. Burzaco 107f.
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Platzierung einer Gegenerzählung durch oppositionelle Kräfte in Politik und Medien. Dennoch bleibt fraglich, ob dieses neutrale Saldo der Zielsetzung entspricht, welche die politisch-kulturellen WM-Artikulationen der kirchneristischen Kräfte motivierte. Diese Frage soll über einen Umweg beantwortet werden. Die Art und Weise, wie die Vertreter des oppositionellen Lagers den Umgang des Kirchnerismus mit den delinquenten Fangruppierungen der barras bravas sowie sein Vorgehen in der Frage der Fußballübertragungsrechte beurteilen, eröffnet ein differenzierteres Verständnis der strategischen Zielsetzungen in der Gestaltung der kirchneristischen Symbolpolitik. Die Diskussion der diesbezüglichen Einschätzungen soll zu einem letzten Abschnitt überleiten, der am Beispiel des Bicentenario die Problematik der Spannung zwischen Antagonisierung und Hegemonialisierung in der populistischen Diskursstrategie aufgreift und zu einer Bewertung der Effizienz populistischer Artikulationsmodi für die Verstetigung popularer Identitäten kommt. 7.5.3 Das Wechselspiel von Hegemonialisierung und Antagonisierung Im Zuge der Fußballweltmeisterschaft 2010 hatten sich Mitglieder mehrerer barras bravas zu einer clubübergreifenden Fanorganisation zusammengeschlossen, die unter dem Namen Hinchadas Unidas Argentinas (»Vereinte Argentinische Fanclubs«) zur Unterstützung des Nationalteams nach Südafrika reiste und von Marcelo Mallo, Mitglied der barra brava des Clubs Quilmes und Funktionär der Gruppierung Compromiso K, geleitet wurde. Aufgrund der Verbindungen Mallos zum damaligen Kabinettschef der Regierung, Aníbal Fernández (dem früheren Bürgermeister von Quilmes und späteren Präsidenten des gleichnamigen Clubs), sowie zum Medienunternehmer und engen Vertrauten Néstor Kirchners, Rudy Ulloa, wurde in Medienberichten eine Nähe der Organisation zur und ihre Finanzierung durch die Regierung vermutet.288 Die regierungskritischen Interviewpartner teilen die Einschätzung, dass es sich um einen kirchneristischen Fanclub gehandelt habe. Dies wird größtenteils als nicht weiter verwunderliche Normalität abgetan, schließlich hätten viele bekannte Politiker eine hinchada unter ihrer Kontrolle und die politischen Funktionen dieser Organisationen als Kollisionsmasse in Zusammenstößen mit gegnerischen Interessengruppen und als Mittelsmänner zur klientelistischen Sicherung von Wahlstimmen seien bekannt. Im Rahmen dieser instrumentalistischen Austauschbeziehungen
288 Mallo selbst bestätigte im Interview seine Verbindungen zu Rudy Ulloa, dem Chauffeur Néstor Kirchners.
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entspreche die Entsendung einer Auswahl der einflussreichsten Leitungsfiguren einer Rückvergütung für geleistete Gefälligkeiten.289 Das allgemein negative Image der gewaltbereiten Fanclubs wirft dennoch die Frage auf, warum die Verbindung zu ihnen öffentlich nachvollziehbar organisiert wurde.290 Da einem Teil dieser organisierten Fans die Einreise in Südafrika verweigert wurde bzw. einige von ihnen zu einem späteren Zeitpunkt aus dem Land ausgewiesen wurden, wird das Projekt der Hinchadas Unidas Argentinas auch tatsächlich als politischer Misserfolg eingestuft, wenngleich es aufgrund der Normalität des Phänomens keine großen Proteste ausgelöst habe und bei einem argentinischen WMSieg Vorteile gebracht hätte.291 Der grundsätzliche Versuch der Kontrolle der barras bravas und ihr Einsatz im WM-Spektakel wird als vernünftige Strategie bewertet, weil das Risiko einer ablehnenden öffentlichen Meinung offensichtlich geringer eingeschätzt wird als der Vorteil der Verfügung über große Unterstützergruppen, welche die Aufgabe übernehmen sollten, »in dem Fall, dass es ein positives Resultat gäbe, an der großen Welle des politischen Enthusiasmus teilzunehmen.«292 Dass die Regierungskritiker der Massenmobilisierungskraft der Fanclubs in den Interviews durchwegs so hohe Relevanz beimessen, weist darauf hin, dass der Prozess der Totalisierung der vom Kirchnerismus vorgeschlagenen Subjektivität an die Inszenierung von popularer »Massivität« geknüpft ist, welche die qualitative Dimension des Popularen als transgressive Subalternität um den Charakter des Allgemeinen und Mehrheitlichen ergänzt.293 Luis Alberto Romero, der den Einflussgrad symbolischer Repräsentation auf den politischen Prozess eigentlich äußerst beschränkt sieht und ihm ähnlich den pro-kirchneristas lediglich eine »begleitende« Wirkung zuschreibt, sieht gleichwohl die machtstrategische Bedeutsamkeit der Verbindung zu institutionellen Akteur/innen im Fußball für die Konstruktion dieser Repräsentationen außer Frage: »Die Regierung kann im Fußball zwei Dinge kaufen. Sie kann populare Bilder kaufen und sie kann Unterstützereinheiten kaufen. [...] Wenn die Spiele der WM ausgetragen werden [...] und du ein propagandistisches Bild davon zurückschicken willst, brauchst du Leute auf der Tribüne mit Fahnen, die den Fußball mit der Regierung verknüpfen«.294 289 Milman 41–72; Abraham 322–337; Lanata 111–129. 290 So reiste etwa ein Teil der Hinchadas Unidas Argentinas im selben Flugzeug wie die Spieler der argentinischen Nationalmannschaft nach Südafrika. 291 Milman 141–146; Burzaco 211–239; Novaro 114–137; Gargarella 151– 157. 292 Eliachev 266f. 293 Milman 65–68. 294 Romero 229–237.
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»Populare Bilder« sind in dieser Lesart nur taugliche Repräsentationen des kirchneristischen Subjekts als Inbegriff des argentinischen »Volkes«, wenn sie die Inszenierung des Nationalen bestimmen, selbst wenn sie mithilfe klientelistischer Netzwerke produziert wurden und dies auch bekannt ist. Die national-populare Konstruktionspraxis, die den Kirchnerismus mit dem Volk und dieses mit der Nation gleichzusetzen versucht, ist in die politische Kultur des Peronismus mit seiner Tradition der Massenmobilisierung eingeschrieben. Das national-populare Element des politischen Projekts realisiert sich nicht einfach in der Exaltierung des Marginalisierten und Minoritären, sondern in dessen Bestätigung durch den nationalen Protagonismus der »popularen Massen« auf den Hauptplätzen oder in den Fußballstadien. Die politikstrategischen Hintergründe solcher Inszenierungsversuche werden deutlich, wenn man sie in den innenpolitischen Kontext des Jahres 2010 stellt. Ernesto Laclau spricht in einem Vortrag an der Universität Buenos Aires im Mai 2010 von einem »Mangel an Mobilisierung« (Laclau 2010: 66), der ihn zu Beginn desselben Jahres noch an ein Scheitern des gesamten politischen Projekts glauben ließ, und macht deutlich, warum dies seiner Ansicht nach ein politisches Problem für den Kirchnerismus darstellt: »Die Regierung hat einen Prozess fundamentaler Veränderungen eröffnet [...]. Allerdings hat sich die populare Mobilisierung parallel zu diesem Prozess nicht im gleichen Maße entwickelt, in der sie in den 1940er Jahren präsent war. Und da ist die Achillesferse, die ich in diesem Prozess sehe: ob es gelingen wird, eine Mobilisierung zu erzeugen, die dieses Programm des Wandels absichert oder nicht, denn es gibt Kräfte, die in eine andere Richtung operieren. [...] Und unter diesen Umständen sehe ich, dass es noch eine Diskrepanz zwischen dem politischen Apparat einerseits und der Mobilisierung andererseits, die nur bis zu einem gewissen Punkt geht, gibt. Schließlich gab es eine gegenhegemoniale Mobilisierung rund um die Agrarfrage [...]. Und die Antwort darauf war nicht im Entferntesten so wirkungsvoll, wie sie hätte sein sollen.«295 (Laclau 2010: 66) 295 Spanisches Original: »El gobierno inició un proceso de cambios fundamentales [...]. Ahora bien, la movilización popular no se ha desarrollado en paralelo a este proceso en la misma medida en que estaba presente en los años 40. Y ahí está el talón de Aquiles que le veo a este proceso: si se va a poder producir una movilización que afiance el programa de cambio o no, porque hay fuerzas que operan en una dirección distinta. [...] Y en esas circunstancias veo que aún hay un desajuste entre, por una parte, la política de aparato , por otra, una movilización que va sólo hasta cierto punto. Finalmente hubo una movilización contra-hegemónica alrededor de la cuestión del campo [...]. Y la contrapartida no ha sido ni remotamente tan eficaz como tendría que haber sido.«
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Die Fähigkeit zur sozialen Mobilisierung, die hier als so zentral erachtet wird, entspricht dem Top-down-Modell von Repräsentation, das Laclau als inhärente Dimension jeder populistischen Politik versteht.296 Populare Kundgebungen zur Unterstützung der regierenden Partei sind in diesem Verständnis ein Akt der Identifikation, in dem die Anhänger/innen den Willen des leaders repräsentieren. In dieser Übertragung eines politischen Willens von oben nach unten wird in einer populistischen Repräsentationsbeziehung der populare Wille und damit die Identität des Volkes konstituiert (Laclau 2005a: 157–163; Laclau 2010: 68f.). Erfolgreiche Massenmobilisierungen bestätigen die Annahme der vorgeschlagenen Volkskonstruktion durch die angerufenen Subjekte, das erklärt ihre hegemoniestrategische Bedeutsamkeit in einem politischen Kontext, in dem der Kirchnerismus die Erzählung der recuperación als identifikatorische Grundlage der popularen Identität gegen den oppositionellen »Diskurs der schlechten Stimmung« durchzusetzen versucht. Die Diskussion der Hintergründe des Regierungsprogramms Fútbol para Todos macht in gleicher Weise deutlich, dass die materiellen und organisationalen Voraussetzungen zur Inszenierung des Nationalen zentrale Ressourcen im politischen Konkurrenzkampf darstellen. In den Erklärungen für die Entscheidung der Regierung zur Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte nimmt das Ziel der ökonomischen Schwächung Claríns als bisherigem Inhaber der Rechte überraschend wenig Raum ein. Dieses wird zwar durchaus wahrgenommen und erwähnt, die dominante narrative Strukturierung platziert Fútbol para Todos aber als entscheidendes Instrument in der Kommunikationsstrategie des Kirchnerismus. Dieses wird durchwegs als »Propagandavehikel« oder »Werbeplattform« der Regierung bezeichnet und aufgrund seiner hohen Reichweite als in seiner Bedeutung kaum zu überschätzendes Werkzeug verstanden.297 Jorge Lanata erklärt: »Die Regierung hat normalerweise keine Medien, die bezüglich der Einschaltquoten funktionieren. […] Fútbol para Todos ist der einzige Apparat der Regierung, der Verbreitung hat. Weil er in mehreren Kanälen ist und es die Leute anschauen.«298 Der Hinweis auf das hohe Penetrationspotential der Werbemöglichkeit bei den Fußballübertragungen, über die der Kirchnerismus nun 296 Eigentlich sogar jeder Repräsentationsbeziehung, weswegen für ihn populistische Repräsentation zum paradigmatischen Fall politischer Repräsentation überhaupt und in der Folge zur unverzichtbaren Voraussetzung von Demokratie erklärt wird, was hier trotz seiner problematischen Implikationen nicht weiter diskutiert werden kann (Laclau 2005a: 163–171). 297 Z.B. Abraham 194–196; Novaro 448–450; Milman 193–199; Eliachev 62– 65. 298 Lanata 159–163.
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alleinig verfüge, und die daraus abgeleitete Bewertung dieser Kommunikationsstrategie als erfolgreich stellt keine unwidersprochene, wohl aber die vorherrschende Narration in den Interviews dar.299 Dies erscheint insofern widersprüchlich, als auf Nachfrage doch mehrheitlich eingeräumt wird, dass die hohen öffentlichen Ausgaben für die Verstaatlichung und die Monopolisierung der Werbeplätze durch die Regierung auch Kritik hervorriefen, wenngleich diese wegen des ebenfalls illegitimen Charakters des vorherigen Lizenzvertrags mit Clarín gedämpft blieb.300 Dazu kommt, wie etwa Eugenio Burzaco erklärt, dass sich die Entscheidungsträger/innen des Kirchnerismus »mit der Aneignung von Fútbol para Todos usw. auch alle Probleme des Fußballs angeeignet haben, die barras bravas, die Probleme mit der Unsicherheit, die Clubs, die pleite sind.«301 Die fußballinternen Krisenphänomene würden durch die Verstaatlichung der Übertragungen nun mehr denn je auch mit der Regierung identifiziert, welche den Fußballverband mit seinen korrupten Strukturen und in der Folge die maroden Clubs damit de facto finanzierte. Novaro versteht Fútbol para Todos daher nicht als Erfolgsgeschichte, sondern sieht die Möglichkeit eines gegenteiligen Effekts: »Ich sehe nicht, dass das ein Stützpfeiler der kirchneristischen kulturellen Hegemonie sein soll. [...] Der argentinische Fußball wird schlecht gelenkt, die AFA ist der zentrale Verantwortliche, es gibt viel Mafia, die Banden der hinchadas, die verhindern, dass die Leute ruhig zum Fußball gehen können. All diese Themen, die nicht gelöst wurden und einige haben sich verschlimmert. Also finde ich, dass es viele Gründe gibt, es gibt keine erfolgreiche kirchneristische Erzählung des argentinischen Fußballs. Das ist mit keinem sportlichen Ruhm verbunden, keinerlei Erfolg, keiner Realisierung im peronistischen Stil.«302 So bleibt in den Gesprächen bis zuletzt unklar, worin sich der angenommene Erfolg der »Werbeplattform« Fútbol para Todos konkret manifestiert. Auch wenn in einigen der Aussagen ein gewisses Elitenvorurteil sichtbar wird, das die eigene Kritikfähigkeit als exklusives Wissen versteht, über welches »die Leute« nicht in gleicher Weise verfügten,303 werden die Fernsehfußball-Konsument/innen doch großteils nicht als vollständig manipulierbare Subjekte verstanden. Die ideologische Effizienz der kirchneristischen Öffentlichkeitsarbeit wird mithin relativ eingeschätzt und auf einen »mentalen, zerebralen, emotionalen Rückstand« reduziert, »der bewirkt, dass auf irgendeine Weise 299 300 301 302 303
Z.B. Eliachev 69–78; Burzaco 193–209; Milman 195–208. Z.B. Milman 210–215; Novaro 55–65. Burzaco 162–164. Novaro 87–97. Burzaco 175–185.
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Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr, die Fernsehübertragung des Fußballs unter der Schirmherrschaft der Regierung letztlich sehr positiv für sie ist.«304 Die Interviewpartner aus dem sozialwissenschaftlichen Umfeld äußern sich hier noch am ehesten skeptisch. So beschreibt Roberto Gargarella die Spots der Regierung als »Verdichtung von Propagandasalven burlesker und pathetischer Art« und ordnet sie der »Art von Werbung, die an ihrer Übertreibung scheitert« zu – umso mehr als im heutigen Argentinien »jegliche Botschaft mit hegemonialen Ansprüchen auf die Schwierigkeit trifft, dass die Gesellschaft sehr heterogen ist.«305 Abseits davon ähneln die Einschätzungen der kirchnerkritischen Medien- und Politikvertreter denen ihrer Pendants auf der Unterstützerseite: Die symbolische Dimension des Politischen generiere natürlich nicht automatisch politische Identifikation und ihr Einfluss sei weniger direkt als der materieller Gegebenheiten, trage aber sicher »etwas« bei.306 Somit bleibt erklärungsbedürftig, warum Fútbol para Todos als derart »starkes Werkzeug« betrachtet wird und wiederholt Prognosen geäußert werden, die Regierung werde auch im Falle einer weiteren Verschärfung der finanziellen Engpässe im Staatshaushalt bis zuletzt an dem Programm festzuhalten versuchen.307 Es entsteht der Eindruck, die bloße Möglichkeit permanenter medialer Präsenz und weitreichender Visibilität könne vom kirchneristischen Projekt bereits als politischer Gewinn verbucht werden. Eine Antwort auf diese offenen Fragen wird über einen letzten thematischen Schwenk zu den Erzählungen des Bicentenario möglich. Die diesbezüglichen Reflexionen der Oppositionellen eröffnen in ihrer Zusammenschau Einsichten, die auf die Klärung des obigen Zusammenhangs rückbezogen werden können. Das Bicentenario erscheint, wie in den Medienberichten von 2010, auch in den Interviews als Ereignis von ungekannten Dimensionen. Pepe Eliachev zieht für ein vergleichbares Ausmaß an pompösen Feierlichkeiten das Jubiläum zum 100. Todestag des Befreiungshelden José de San Martín im Jahr 1950 als Referenz heran.308Emilio de Ípola bestätigt übereinstimmend, »dass es ein außergewöhnliches Ereignis war. Etwas, was ich in Argentinien nie gesehen hatte. Ich habe große peronistische Demonstrationen gesehen, ich habe den ganzen Peronismus gekannt, […] aber nie gab es etwas 304 Eliachev 89–91. 305 Gargarella 91–105, 291f., siehe auch 120–171; Novaro 40–52. 306 Romero 185– 190; Abraham 206–213; Iglesias 244–251; Eliachev 148–154, 185–190. 307 Kovadloff 277–280; Lanata 262–279. 308 Eliachev 33–40.
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Derartiges. Den 17.10.1945,309 da war ich sehr klein, könnte man vielleicht vergleichen«.310
Aus einer externen Beobachterposition erscheint an der Aussage frappierend, dass das Staatsjubiläum an eine peronistische Demonstration erinnert. Diese Verquickung bestätigt sich weiter, wenn de Ípola von »sehr viele[n] Leute[n], von anderen Orten gebracht, ein bisschen auf die peronistische Art« spricht.311 Umso bemerkenswerter ist daher, dass er das Fest im Anschluss als vorbildhaft umgesetzt lobt.312 Dass der Gegensatz zwischen dem nationalen Charakter des Feieranlasses und seiner peronistischen Ästhetik nicht thematisiert wird, bestätigt die Verankerung der Äquivalenz zwischen Argentinität und Peronismus im kollektiven Imaginären. Die politische Kultur des Peronismus gilt tatsächlich als »typisch argentinisch«, sodass die Inszenierung staatlicher Kommemorationen in diesen symbolischen Formen keinen Widerspruch auslöst.313 Es ist anzunehmen, dass das Wissen um dieses historische Ineinandergreifen nationaler und vom Peronismus beanspruchter popularer Repräsentationen ein zentrales Erzählmuster in den Interviews motiviert, das sich im banalisierenden Bild würstchenessender Familien kristallisiert. In konvergierenden Darstellungen werden die hohen Besucherzahlen am kulturellen Angebot der mehrtägigen Staatsfeierlichkeiten als unpolitische Inanspruchnahme einer Vergnügungsmöglichkeit interpretiert. Die narrative Einbettung der evozierten Bilder weist auf den Versuch hin, 309 Gemeint ist der Marsch der Arbeiter/innen auf Buenos Aires, bei dem 300.000 Anhänger/innen des bisherigen Arbeitsministers Juan Domingo Perón vor dem Präsidentenpalast die Rückkehr des aufgrund seiner wachsenden Popularität von den Militärs festgenommenen Generals forderten. Die Massendemonstration, die noch am selben Tag die Freilassung Peróns erwirkte, gilt als Geburtsstunde des Peronismus als politischer Bewegung. 310 de Ípola 109–113. 311 Ebd. 105. 312 Ebd. 126–128. 313 Cremonte definiert etwa den öffentlichen Handlungsstil des Kirchnerismus (allerdings in Bezug auf die erste Regierung unter Néstor Kirchner) als »Konstruktion einer festlichen Szene, in der, ohne allzu viel Äquivalenz mit der Größe der präsentierten Erfolge zu wahren, die Ereignisse immer einen Tenor von etwas Großartigen haben, wie absichtlich übersteigert.« Auch wenn damit auf die mediale Privilegierung von Politainment-Inhalten reagiert werde, sieht er darin vor allem eine Bezugnahme auf eine »gewisse ›feierliche‹ Tradition, die in der argentinischen politischen Geschichte und besonders im Peronismus präsent ist, eine Tradition, die sich schon in der Vergangenheit oft über große Kundgebungen, Veranstaltungen und Inszenierungen ausdrückte, welche durch die Unverhältnismäßigkeit zwischen dem Ausmaß der Feier und dem gefeierten Ereignis charakterisiert sind.« (Cremonte 2007: 413).
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die Assoziation der eindrucksvollen öffentlichen Feierstimmung mit einer breiten Zustimmung zur Regierungspolitik zurückzuweisen. Gargarella argumentiert, dass sich einen Militäraufmarsch der menemistischen Regierung wohl genauso viele Leute angesehen hätten, ohne deswegen menemistas zu sein. Ebenso war das Bicentenario seiner Ansicht nach im Verständnis der Mehrheit »etwas, wo wir uns vergnügen, und etwas Offenes für alle, und ich gehe zum Hauptplatz, ohne zu denken: ›Ah, ich unterstütze Cristina.‹ Daran denke ich nicht einmal.«314 Abrahám bemerkt entnervt, auch wenn der politische Fanatismus in Argentinien zunehme, hätten die Besucher/innen des Bicentenario nicht als »ideologische Subjekte« an dem Jubiläum teilgenommen, sondern »sie essen eine Frankfurter und trinken eine Coca Cola und schauen und sehen, dass es Fernsehkameras gibt, und danach gehen sie wieder nach Hause. Die große Mehrheit. Sodass nicht alle Welt an die Macht denkt, an die Nicht-Macht, dafür oder dagegen zu sein, [...] denn das ist der Diskurs der Macht, aber nicht der Leute.«315
Die national-populare Inszenierung des Jubiläums wurde nach Ansicht der regierungskritischen Intellektuellen also nicht als spezifisch kirchneristische aufgenommen, die teilnehmende Bevölkerung eignete sich das Spektakel vielmehr auf überparteiliche Weise an. Allerdings besteht gerade darin der Erfolg der kirchneristischen Diskursstrukturierung, wie eine längere Passage aus dem Gespräch mit Marcos Novaro verdeutlicht. Anlässlich des Bicentenario hatten sich mehrere Polemiken zwischen den politischen Eliten ereignet, die auch mediale Beachtung fanden.316 Angesprochen auf diesen Widerspruch zwischen der inklusiven Rhetorik der 314 Gargarella 177–185, 297–307. 315 Abraham 183–187. 316 Unter anderem veranstaltete Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner am 25.10.2010 ein Galadinner im Präsidentenpalast mit 200 Gästen aus Politik, Justiz und Kultur, darunter Staatschefs der Nachbarländer, ohne den argentinischen Vizepräsidenten Julio Cobos einzuladen, der nach seinem Votum gegen die Erhöhung der Agrarexportsteuern 2008 in Ungnade gefallen war. Auch von den noch lebenden ehemaligen Staatspräsidenten Argentiniens wurde nur Néstor Kirchner eingeladen. Die Wiedereröffnung des renovierten Teatro Colón, mit der die Stadtregierung von Buenos Aires das Bicentenario feierte, fand wiederum ohne die Präsenz Fernández de Kirchners statt, die dem Akt fernblieb, um ihren Dissens mit Bürgermeister Mauricio Macri auszudrücken. Schließlich verlegte die Staatspräsidentin wie schon in den Vorjahren die traditionelle Feier einer offiziellen Dankmesse zum 25. Mai in eine Kathedrale außerhalb von Buenos Aires, um nicht am Te Deum des Erzbischofs der Hauptstadt Kardinal Jorge Bergoglio teilzunehmen, der in seinen Predigten häufig die kirchneristische Strategie der
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Regierungsfeiern und ihrer gleichzeitigen Distanznahme gegenüber oppositionellen Vertretern meint Novaro: »Wahrscheinlich erzeugte das mehr Indifferenz als Kritiken. Die Leute, die schon gegen die Regierung waren, blieben weiter gegen die Regierung und fanden, dass es Manipulation gab, aber trotzdem gingen sie zum Fest und feierten und lachten und aßen Hot Dogs und nahmen die Kinder mit. Wahrscheinlich hörten viele Leute auf, in diesen Begriffen zu denken. Die Regierung verhielt sich faktiös, aber gleichzeitig konnte sie zeigen, dass sie aufhören konnte, faktiös zu sein, dass sie etwas Nationales machen konnte. Das war ein Erfolg für sie. Sie machten sehr wohl ein faktiöses Fest, weil sie alles Mögliche taten, um die Oppositionellen außen vor zu lassen, das war weithin kontraproduktiv. Sicherlich gab es mehr Leute, die sich darüber ärgerten, als die das positiv bewerteten. Aber gleichzeitig zeigten sie, dass sie ein nationales Fest machen konnten, wo der, der wollte, als Publikum dabei war, und die Leute schenkten der politischen Linie, welche die Regierung fuhr, nicht besonders viel Aufmerksamkeit. Ich glaube, dass die Regierung daraus lernte, aus etwas, was später sehr gut funktionierte, dass sie die Repräsentation des Optimismus monopolisieren konnten.«317
Novaro bestätigt hier die These anderer, die Öffentlichkeit habe das Bicentenario nicht in Begriffen des Antagonismus zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus erlebt. Jedoch zeigt er, dass die Suspendierung des Denkens »in diesen Begriffen« gerade den Erfolg der kirchneristischen Strategie ausmacht. Das Bicentenario stellte einen »Moment der Wiederbegegnung« dar, in dem die gesellschaftliche Polarisierung zwischen kirchneristas und antikirchneristas zumindest an der Wähler/ innenbasis ausgesetzt wurde. Das Staatsjubiläum »bedeutete keine Zustimmung zur Regierung, es bedeutete eine Begegnung der Gemeinschaft. Du warst Teil dieses Landes, das gefeiert wurde«.318 De Ípola bestätigt das, wenn er den außergewöhnlichen Charakter des Ereignisses darin begründet, dass es keine Gegner/innen gab, schließlich hätten alle den 25. Mai gefeiert.319 Der Kirchnerismus monopolisiert also nicht die Feier des Bicentenario für seine Bewegung, wohl aber die Fähigkeit, eine symbolische Konstruktion dieser nationalen Feiergemeinschaft anzubieten und damit die Repräsentation des sozialen Optimismus zu organisieren. Dies stellt für Novaro den Auftakt zum neuen Zyklus der Nationalisierung des Kirchnerismus dar, der einerseits deutlich machte, »dass die Opposition nichts zu sagen hatte« und sich bis zum Wahlerfolg der absoluten Polarisierung kritisierte und 2010 außerdem eine zentrale Figur der Proteste gegen die Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe gewesen war. 317 Novaro 175–187. 318 Ebd. 148f. 319 de Ípola 119f.
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Mehrheit bei den Präsidentschaftswahlen 2011 fortsetzte, »der quasi nicht mehr faktiös ist. Er ist ein nationaler Erfolg.«320 Dass die Opposition zur Kommemoration der Mairevolution keine eigene Reflexion der nationalen Geschichte und ihrer Implikationen für die politische und soziale Aktualität anzubieten hatte, illustriert die Rückschau des Abgeordneten Gerardo Milman von der sozialdemokratischen UCR-Abspaltung Generación para un Encuentro Nacional. Er erinnert sich an das Bicentenario ebenfalls als gemeinsames Fest aller Argentinier/innen, das auch er als Oppositioneller »eine gute Initiative« gefunden habe, lobt die »Anrufung an die Nationalität«, die den lateinamerikanischen Charakter der argentinischen Identität gegenüber der elitären Europa-Orientierung stark gemacht habe, und zeigt sich dennoch überzeugt, dass dies nicht das Wahlverhalten zugunsten der Regierung verändern werde, welches mit der ökonomischen Situation korrespondiere.321 Was Milman dabei übersieht: Unabhängig von der unmittelbaren Übersetzung in erhöhte elektorale Zustimmungswerte stellt die positive Resonanz der Jubiläumsfeiern eine Identifikation des kirchneristischen mit dem nationalen Diskurs dar, in dem auch die Opposition aufgeht, ohne allerdings in seine Produktion einbezogen gewesen zu sein. Der Kirchnerismus ist nun im Gegensatz zu den politischen Mitbewerbern noch etwas anderes als eine politische Bewegung, er ist auch der Repräsentant der buena onda, der »guten Stimmung«, welche die argentinische recuperación ratifiziert, und der optimistischen Zukunftserwartung. Dies bedeutet einen Positionsvorteil gegenüber den oppositionellen Akteur/innen, die sich entweder in das von der Regierung vorgeschlagene Narrativ der nationalen Identität einreihen können, um von ihm »mitgemeint« zu werden, oder bei Formulierung eines alternativen Narrativs Gefahr laufen, auf den entgegengesetzten Platz der mala onda und damit der anti-patriotischen Kräfte der Zersetzung verwiesen zu werden. Hier wird der Rückbezug auf Fútbol para Todos und dessen angenommenes Potential als kirchneristische Werbeplattform möglich. Die Einbettung der Regierungsbotschaften in ein symbolisches Umfeld, in dem es ähnlich dem 25. Mai (fast) keine Gegner/innen gibt,322 erlaubt eine Artikulation des partikularen politischen Projekts mit einem den Antagonismus übersteigenden Bedeutungsterrain. Dies bewirkt weder einen 320 Novaro 168–171, 191f. 321 Milman 166–182. 322 Ein Vergleich der Parteipositionen zu Fútbol Para Todos aus dem Jahr 2011 zeigt, dass die Mehrheit der Oppositionsparteien das Programm beibehalten will. Nur der GEN unter Margarita Stolbizer und der von Alberto Rodríguez Saá angeführte Teil des dissidenten Peronismus sprechen sich gegen Fútbol para Todos aus, ohne allerdings eine Alternative zu formulieren, während einzig Mauricio Macris PRO die Reprivatisierung der Fußballübertragungsrechte vorschlägt (Castro/Levy Yeyati 2011).
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Automatismus in der konsensuellen Annahme der transportierten Botschaft durch die Rezipient/innen, noch löst es die antagonistische Konfrontation mit dem politischen Gegner auf. Die symbolische Verankerung in einem Umfeld, in dem der Gegner nicht Gegner sein kann, ohne aus dem nationalen Kollektiv auszuscheiden, modifiziert aber den Charakter der populistischen Subjektivität, die durch ihre Verknüpfung mit dem ideologie- und schichtenübergreifend wirksamen Identifikationssymbol Fußball ihrer Bedingtheit durch die antagonistische Konfrontation enthoben erscheint. Dieses »Herausheben« der antagonistisch konstruierten Identität aus der dichotomisierten Konfliktkonstellation, ohne dabei den Konflikt selbst zu desaktivieren, meint Hegemonialisierung. Die Übertragung in einen nationalen Verweiszusammenhang bringt den Kirchnerismus in die strategisch vorteilhafte Situation, das populare Gemeinschaftssubjekt von einer rein negativen, über die gemeinsame Opposition zu einem antagonistischen Außen geeinten Identität in eine positive Einheit zu überführen, die den persistenten Konfliktlinien vorgängig und in seiner Existenz von diesen emanzipiert ist. Fútbol para Todos ermöglicht, »das Werk der Regierung zu zeigen«, wie Ricardo Forster und Pablo Ortiz das von kirchneristischer Seite nannten, ohne dabei auf die interpretative Struktur der antagonistischen Konstellation verwiesen zu sein. Allerdings wird an diesem Punkt die in populistischen Politikmodellen angelegte zirkuläre Dynamik deutlich. Die hegemoniale Besetzung der nationalen Einheit ohne Verweis auf ein antagonistisches Außen schwächt das populistische Projekt in seiner Fähigkeit, die innere Unmöglichkeit der Spannungsfreiheit dieser Einheit auf eben jenes Außen zu projizieren und damit zu externalisieren. Unter diesen Umständen wird es schwieriger, das Versprechen der reinen Selbstidentität des zu sich selbst gekommenen »Volkes« aufrecht zu erhalten, das den affektiv mobilisierenden Horizont der populistischen Konstruktion darstellt. Der Kirchnerismus braucht seine Feinde, er muss daher weiter antagonisieren, während er sich hegemonialisieren will, um zu erklären, warum sich die homogene, konfliktfreie Gemeinschaft noch nicht realisiert hat, und die eigene Anhängerschaft mobilisiert zu halten, deren Identifikation mit dem populistischen Projekt auf der Kristallisierung ihrer heterogenen Forderungen in Antagonismus zu den anti-popularen Kräften beruht. Die Konsequenzen dieser Koexistenz gegensätzlicher Tendenzen in den diskursiven Artikulationen des Kirchnerismus, die sich in ihren Zielsetzungen gegenseitig untergraben, zeigt Roberto Gargarella: »Vielleicht ist das kennzeichnendste Merkmal dieser Regierung die Teilung gewesen, also sozusagen auf die Teilung auch als Projekt zu setzen. Sie hat die Konfrontation als etwas Erfolgreiches angesehen, über die Konstruktion verschiedener Feinde. Gelegentlich kann das politisch produktiv sein, 282
POPULISTISCHER INSZENIERUNG AUS KIRCHNERKRITISCHER SICHT
sich anders als, gegenteilig zu und so zu zeigen. Ich glaube, dass sie ausgehend vom Erfolg, den diese Strategie gehabt hat, diese Strategie übertrieben hat […]. Ich glaube, dass das erstens nicht gut ankommt und dass es zweitens in Widerspruch zur Möglichkeit steht, eine gemeinsame Erzählung der Argentinier zu konstruieren usw. In dieser Hinsicht zeigt die Regierung Ungeschicklichkeit, denn es könnte für sie lohnend sein, einen Versuch zu machen, Fähigkeit zu zeigen, ein ›Alle‹ anzuführen, aber sie bevorzugt es zu teilen, als Strategie, um zu polarisieren und daraus Profit zu ziehen.«323
Die Nationalisierung des eigenen Diskurses könnte zur Überführung der populistischen Äquivalenzverbindung in ein stabiles Signifikationssystem und damit zur Instituierung einer neuen symbolischen Ordnung dienen. Da der leere Signifikant nicht der hegemoniale Repräsentant der »Fülle«, sondern des Begehrens nach dieser abwesenden Fülle ist, bedarf es gleichwohl der Wiedereinführung einer divisorischen Dimension, die jedoch den Versuch der popularen Totalisierung restringiert. In ähnlicher Weise versteht Marcos Novaro die kirchneristische Diskursstrukturierung der Fußball-WM 2010 als »Kehrseite« der erfolgreichen Inszenierung eines nationalen Begegnungsraums im Bicentenario und begründet das vor allem mit der Figur Maradonas: »Seine Reaktionen waren sehr kontraproduktiv und ließen die Regierung schlecht dastehen, denn letztlich involvierten sie sie in eine Sache, die am Ende nicht nur ein technischer, sondern auch ein diskursiver Bluff war. Die Vorstellung, dass Maradona und die Epik des aguante genügen würde, um all das mit dem Geist des Bicentenario zu umgeben, ging den Bach runter, als Maradona begann, alle Welt zu beleidigen, und jedes Mal, wenn ein Sportkommentator einen Kommentar machte, benahm sich der Typ wie ein wahnsinniger Despot.«324
Der Anspruch auf Repräsentation der Totalität wird zum »diskursiven Bluff«, wenn der hegemoniale Repräsentant das angeeignete Wir nicht in seiner »Leere« verkörpert, sondern die eigene Partikularidentität innerhalb der Äquivalenzkette durch eine Erneuerung der antagonistischen Spaltung zu reakzentuieren versucht. Diese Ambiguität in den hegemonialen Prätensionen populistischer Politik ist für Gargarella »der Fehler, der in dieser Strategie steckt, weil es einen Antrieb gibt, sich als Repräsentant aller zu sehen, und gleichzeitig ist es, als ob es eine unvermeidbare Tendenz gäbe, zu teilen, die Opposition als Tiere oder als Bestien oder als Feinde oder als Diktatur darzustellen«.325 323 Gargarella 194–203. 324 Novaro 15–20. 325 Gargarella 221–224.
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POPULISTISCHE SYMBOLPOLITIK
Rückbezogen auf die Frage nach der kommunikationsstrategischen Bedeutung der verstaatlichten Fußballübertragungen kann gefolgert werden: Die in das Programm Fútbol para Todos eingebettete Regierungswerbung bietet dem Kirchnerismus einen symbolischen Artikulationsraum zur Universalisierung der popularen Subjektivität, in der Praxis konnte dieses theoretische Potential aufgrund der in das populistische Projekt eingebauten Spannung zwischen Intensivierung und Extensivierung der Äquivalenzverbindung nicht ausgeschöpft werden. Burzaco erklärt dazu: »Wenn man es übertreibt, wie es diese aktuelle Regierung mit Fútbol para Todos tut, wenn man daraus bereits eine politische Propagandamaschinerie wie Mitte des 20. Jahrhunderts macht, kann es [...] einen kontraproduktiven Effekt haben, zu sagen: ›Diese Typen stehlen mir etwas, was mir gehört‹, das kollektive Imaginäre, das dem Volk gehört. Man muss auch sehen, dass die Führungsschicht der Politik entwertet ist. Wenn sie es also mit dieser Benutzung übertreiben, können die Leute sagen: ›Wer bist du, dich des Fußballs zu bemächtigen?‹«326
Populistische Politik kann versuchen, »das kollektive Imaginäre, das dem Volk gehört«, als legitimatorisches »Transportmittel« (SchwabTrapp 2001: 273) mit den eigenen politischen Inhalten zu verknüpfen, um deren metaphorische Reichweite zu erhöhen und zum hegemonialen Repräsentanten des »ganzen Volkes« zu werden. Der Wechsel von der hegemonialen Repräsentation der nationalen Einheit zurück zur Reaktualisierung des antagonistischen Konflikts in politisch-kulturellen Artikulationen populistischer Politikmodelle rekonfiguriert aber auch die Inhalte des kollektiven Imaginären. Je stärker diese Topik gesamtgesellschaftlich verankert ist, desto größer ist ihre eigene Beharrungskraft. Der Versuch ihrer Restrukturierung entlang der politischen Konfliktlinien zur erneuten Kohäsionierung der äquivalentiellen Konstruktion ist daher mit einem Verlust an äquivalentieller Extension verbunden. Die Schwächung der hegemonialisierenden Wirkung symbolischer Repräsentation als Mittel politischen Handelns wird in Kauf genommen, um die Evidenz der Trennlinie zwischen den beiden politischen Lagern zu bestätigen und die Einheit des populistischen Subjekts zu sichern. Damit stellen symbolische Deutungskämpfe auf dem Feld des Kulturellen in populistischen Schließungsversuchen ein Wechselspiel zwischen Hegemonialisierung und Antagonisierung dar, deren Wiederholung Selbstzweck zur Aufrechterhaltung der populistischen Äquivalenz ist.
326 Burzaco 148–158.
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8. Zusammenfassung und Schlussfolgerung Die politisch-kulturellen Artikulationen der Fußballweltmeisterschaft 2010 boten dem politischen Projekt des Kirchnerismus ein Terrain zur kulturellen Symbolisierung seiner national-popularen Identitätskonstruktion. Dazu wurden tradierte symbolische Motive aus dem kulturellen Repertoire des argentinischen Fußballs aufgegriffen und mit dem innenpolitischen Konflikt verknüpft. So wurden einerseits kulturelle Repräsentationen des Popularen in die interpretative Struktur der antagonistischen Konstellation integriert und funktionierten nach deren Logik, gleichzeitig transportierten sie als metaphorische Konzepte kulturelle Bedeutungen in die diskursive Konfiguration und leisteten eine narrative Restrukturierung der politischen Konfliktlinien.
8.1 Die symbolische Inszenierung der popularen Identität Die Ausgangsbasis der WM-Artikulationen bildet die kirchneristische Erzählung der recuperación,1 der zufolge der Regierungsantritt Néstor Kirchners nach der wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise von 2001 mit dem Bruch mit dem Neoliberalismus eine neue Ära der wirtschaftlichen Erholung, der Rückeroberung nationaler Souveränität und der Wiederherstellung des argentinischen Selbstwerts eröffnete. Nach der politischen Schwächung der kirchneristischen Regierung durch den Konflikt um die Agrarexportsteuern im Jahr 2008 waren die oppositionellen Medien, die sich in der Auseinandersetzung auf die Seite der einflussreichen Landwirtschaftsverbände gestellt hatten, als zentrale Verkörperung der anti-kirchneristischen Kräfte eingesetzt worden. Dieser Antagonismus zwischen dem national-popularen Projekt des Kirchnerismus und den regierungskritischen Medien ist die bestimmende Konfliktachse der politisierten WM-Debatten, der in seiner Aushandlung in den fußballerischen Repräsentationen kulturell aufgeladen und in einen Konflikt um die Wiedergewinnung der popularen Würde übersetzt wird. Die Opposition gegen die Regierung wird dadurch in der Deutung des pro-kirchneristischen Diskurses vom Kampf einer von ökonomischen Partikularinteressen geleiteten Elite um den Erhalt ihrer Privilegien zu einer tief verwurzelten Verachtung der popularen Kultur durch das anti-populare Establishment erweitert, die den politischen Erfolgszyklus des Aufschwungs und der popularen Zufriedenheit zu sabotieren versucht. 1
Zu Deutsch »Erholung« sowie auch »Wiedererlangung«.
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ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG
Diego Maradona bildet als Teamchef der argentinischen Nationalmannschaft das organisierende Zentrum dieser Artikulationen. In seiner symbolischen Konstruktion werden die politisch-kulturellen Bedeutungen des Popularen auf die Bühne gebracht, mit denen die antagonistische Auseinandersetzung überformt ist. Durch die Politisierung Maradonas als Repräsentant des National-Popularen wird die populare Symbolik des argentinischen Fußballs mit der diskursiven Konstruktion des Kirchnerismus verknüpft und die Weltmeisterschaft zu einem Baustein der kirchneristischen Identitätserzählung gemacht. Mit seiner Herkunft aus ärmlichen sozialen Verhältnissen, seiner Verantwortungslosigkeit und seinen Widersprüchen verkörpert Maradona die ambivalent definierte »national-populare Argentinität« und bietet ein alternatives Heldenbild zur dominanten Ordnung. Seine Figur evoziert das in fußballerischen Topoi verankerte Motiv der »kreolischen Gerissenheit« (»viveza criolla«), das als subversiver Betrug einen gewitzten Akt der Rebellion gegen die disziplinierende Macht darstellt. Die Reaktualisierung dieser Konnotationen in der pro-kirchneristischen WM-Erzählung erlaubt es, die mediale Kritik an Maradona als Verfolgung und Delegitimierung des verachteten Popularen durch das journalistische Establishment zu inszenieren. Über seinen proletarischen Habitus, seinen transgressiven Charakter und die oppositionellen Medien als gemeinsamen Gegner wird die symbolische Konstruktion Maradonas mit dem »kulturellen Wesen« des Kirchnerismus artikuliert und als Sinnbild des populistischen Bruchs mit dem Status quo eingesetzt. Der innenpolitische Antagonismus wird über die ideologische Konfliktachse des argentinischen Selbstwerts in den Fußball getragen und über die Haltung zu Maradona ausgehandelt, der für die Verteidigung der national-popularen Argentinität steht. Die Bewertung seiner Trainerschaft ist der Scheidepunkt, der die antagonistische Lagerbildung reproduziert und die WM zu einem Element des Kampfes zwischen einer minderbewerteten popularen Kultur und einer anti-popularen Elite um die hegemoniale Definition des argentinischen »Volkes« und seines nationalen Charakters werden lässt. Diese narrative Strukturierung erklärt Maradona und den Kirchnerismus, das Populare und das Populistische, gleichermaßen zum Inbegriff der legitimen Argentinität. Die Fußball-WM wird im kirchneristischen Diskurs als Metapher der popularen recuperación eingesetzt und in das kulturell erweiterte Narrativ der Rückeroberung popularer Souveränität integriert. Indem eine medial inszenierte positive öffentliche Stimmung während des Fußballbewerbs als ein von der politisch-sozialen Aufwärtsentwicklung des Landes eingeleiteter Zukunftsoptimismus interpretiert wird, erscheint die »hegemoniale Presse« mit ihren Negativschlagzeilen als ein vom »Volk« desartikuliertes isoliertes Außen der popularen Äquivalenzkette. 286
DIE SYMBOLISCHE INSZENIERUNG DER POPULÄREN IDENTITÄT
Die Artikulation der kulturellen Repräsentationen im Fußball mit dem politischen Konflikt gießt die konträren politischen Positionen in ambivalenzfreie Klischeebilder, die der populistischen Spaltung Evidenz verleihen und die dichotomisierten Lager unmittelbar anschaulich machen. Durch die Gleichsetzung der politischen Opposition und der Kritik an Maradona als anti-populares Vorurteil wird die Konfrontation zwischen Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus als Antagonismus zweier unhintergehbarer soziokulturell distinkter Gesellschaftsblöcke präsentiert. Während die Kritik am kirchneristischen Projekt einem mittel- und oberschichtenspezifischen Ressentiment entspreche, das populistischen Politikmodellen aus gleichermaßen anti-popularen wie anti-nationalen Vorbehalten Instabilität und Unfähigkeit zuschreibe, steht der Kirchnerismus für die Abkehr von der Orientierung an Europa und die Rehabilitierung des genuin Argentinischen. Die Maßnahmen der Regierung in ganz unterschiedlichen Politikbereichen, von der Einführung einer Kinderbeihilfe für Arbeitslose bis zur Verstaatlichung der Fußballübertragungsrechte im Programm Fútbol para Todos, erhalten dadurch eine kulturelle Dimension, sie werden Teil des größeren kirchneristischen Kampfes um die Einsetzung der verachteten popularen Schichten als legitimes politisches Subjekt der Volkssouveränität. Über die Inszenierung des kulturell gewendeten Antagonismus hinaus wird zur Positivierung der populistischen Volkskonstruktion versucht, dem »popularen Charakter« inhaltliche Substanz zu verleihen, seine distinktiven Attribute in der spezifischen Narrativisierung konkreter Episoden der WM herauszustellen und in ihrer metaphorischen Übertragung auf die innenpolitischen Zusammenhänge unterschiedliche Dimensionen des kirchneristischen Projekts in ihrer »popularen Essenz« zu veranschaulichen. So wird die ambivalente Definition der Argentinität, deren Verankerung im sozialen Imaginären weit vor den Konflikt zwischen kirchneristas und antikirchneristas zurückreicht, aufgegriffen und am Beispiel Maradonas positiv reinterpretiert. Indem seine Lebensgeschichte der sportlichen Erfolge und persönlichen Abgründe als Symbol der kulturell spezifischen Widersprüchlichkeit eingesetzt wird, kann das Bild vom »Land der Extreme« als Koexistenz von Genialität und katastrophalem Scheitern affirmiert und in ein widerständig konnotiertes Identitätsmerkmal verkehrt werden. So wie Maradonas mythisches »Tor mit der Hand Gottes« einen Topos der subalternen Rebellion darstellt, die durch kreativen Regelbruch selbstbestimmt den Zwängen des Systems entgegentritt, wird das Mangelhafte und Exzessive in der argentinischen »Wesensart« als unangepasste und damit unkontrollierbare Behauptung der eigenen Identität gegenüber der disziplinierenden Macht aufgewertet. Auf die Politik umgelegt wird der Peronismus als Ausdruck der national-popularen Argentinität identifiziert, weil er dieselbe 287
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG
Mentalitätsprägung aufweise, als einzige politische Kraft die kulturell spezifische Widersprüchlichkeit verteidige und von seinen Gegnern mit den gleichen negativen Attributen diffamiert wird. Der Kirchnerismus an der Regierung und Maradona an der Spitze des Nationalteams stehen für den Triumph des Popularen als legitime Repräsentation des Nationalen. In einer metaphorischen Übersetzung der kirchneristischen Erzählung symbolisiert die Rückkehr Maradonas die Anerkennung und Subjektwerdung der Marginalisierten. Der lagerübergreifend wirksame Topos von der argentinischen Bestimmung zu historischer Größe, die ihre letzte Realisierung im WM-Sieg 1986 mit Maradona erfuhr, wird 2010 als Realisierung der national-popularen Identität reartikuliert. Die Rückeroberung des argentinischen Selbstwerts manifestiert sich in der Identifikation mit dem, »was uns ausmacht«. Dementsprechend werden die Treue zu den eigenen Wurzeln und die Bindung an die soziale Herkunftsgemeinschaft als genuin populare Werte herausgestellt und von den individualistischen Prinzipien einer modernisierungsorientierten Mittelschicht abgegrenzt. Maradonas Verbundenheit mit seinen einfachen Ursprüngen, kondensiert in seinem Herkunftsviertel Villa Fiorito als Topos einer auf Basis von sozialen Nahverhältnissen funktionierenden Solidarverpflichtung, wird mit dem politischen Projekt des Kirchnerismus artikuliert, das so für die Restauration der verlorenen kommunitären Werte im affektiven Zusammenhalt einer popularen Nation steht. Zum legitimen Subjekt dieser Nation wird im pro-kirchneristischen WM-Diskurs das passionale Subjekt bedingungsloser Identifikation erklärt, während rationale Distanz oder eine pragmatische, outputorientierte Identifikation als Attribute des anti-pueblo herausgestellt werden, das in Ermangelung der für den nationalen Charakter konstitutiven Passion einen Fremdkörper im affektiv verbundenen Kollektiv darstellt und aus der gemeinschaftlichen Konstruktion ausgeschlossen bleibt. Insbesondere nach dem frühen Ausscheiden aus dem WM-Bewerb wird die Notwendigkeit, der eigenen Identität auch im Scheitern treu zu bleiben, als Verwirklichung von Würde und Freiheit narrativisiert: Die stolze Verteidigung der Imperfektion ermöglicht die Emanzipation vom Diktum der Alternativlosigkeit und der systemfunktionalen Anpassung und bestätigt die Erneuerung des popularen Selbstwerts. Die Apologie des Extremen erweist sich in ihrer Artikulation mit den Charakteristika des Kirchnerismus als Plädoyer für ambitioniertes politisches Handeln. Maradonas Radikalität und Unkontrollierbarkeit veranschaulichen den populistischen Politikstil, dessen konfrontative Konfliktaushandlung die Logik der Verwaltung und der Sachzwänge durchbricht und die eigenen Werte keinem machttaktischen Kalkül opfert. Das populare Kollektivsubjekt der kirchneristischen Konstruktion ist ein selbstbewusst-kämpferisches, das identifikatorisch gestärkt seine Freiheit des Handelns einlöst. 288
DIE SYMBOLISCHE INSZENIERUNG DER POPULÄREN IDENTITÄT
Allerdings besteht die Einlösung dieser Freiheit darin, eine zugrunde liegende »kulturelle Essenz« des Popularen zu verwirklichen, die zuvor als unhintergehbare konstruiert wurde. Die imaginäre »Fülle« des kirchneristischen Projekts ist in den politisch-kulturellen Artikulationen als ein in der Vergangenheit verortetes »goldenes Zeitalter« konstruiert, als immer schon dagewesenes heartland des popularen Kollektivs (Taggart 2000), das in der Zukunft wiedererrichtet werden soll. Diese mythische Form der Erzählung etabliert die Rückkehr zu einem verlorenen gemeinschaftlichen Entwurf als politische Zielvorstellung, die den progressiven politischen Anspruch artikulatorisch in einen Rahmen traditioneller Werte stellt. Ernesto Laclau lässt in seiner Konzeptualisierung des Populismus offen, wie sich die konkreten Prozesse der affektiven Mobilisierung zur Stabilisierung populistischer Identitäten gestalten. Wie eine spezifische hegemoniale Kraft ihre soziale Produktivität entfaltet und die Verstetigung der popularen Subjektivität in einem performativ fundierten Kollektivakteur bewirkt, bleibt für ihn kontingenter Teil der populistischen Praxis. Gerade dass er vom praktischen Funktionieren der diskursiven Verknüpfungen absieht, ermöglicht ihm eine Definition von Populismus als neutralem Modus der Identitätskonstruktion, der seine Stoßrichtung erst durch seine Befüllung mit einem spezifischen politischen Inhalt erhalte. Populismus erscheint so als Prototyp einer grundlegenden hegemonialen Konstruktionslogik des Politischen, deren Kombination von antagonistischem Bruch, äquivalentieller Reartikulation und symbolischer Vereinheitlichung in einem leeren Signifikanten noch keine Aussage über die damit verbundenen Sedimentierungsstrategien der jeweils artikulierten »ontischen Inhalte« mittels symbolisch verdichteter Erzählungen aus dem Bedeutungsrepertoire der kulturellen Praxis zuließe. Eine Definition von Populismus als formale Logik der Konstitution politischer Identitäten bleibt aber zumindest unvollständig. Die Rückwärtsgewandtheit der narrativen Konfiguration im untersuchten Beispiel der kirchneristischen Symbolisierung des Popularen ist nicht allein ontischer Inhalt, sie ist Begleiterscheinung der spezifischen Form der Kontingenzbewältigung in der populistischen Konstruktionslogik. Zur Umkehrung der negativen Äquivalenz in eine positiv bestimmte und vom konstitutiven Außen emanzipierte Totalität (auch wenn sie notwendigerweise immer wieder daran scheitert), ist die symbolische Verkörperung einer homogenen popularen Einheit auf ihre Verankerung in historisch wirkmächtigen Topoi angewiesen, die Primordialität vermitteln und die Kontingenz der politischen Konstruktion mit dem Nimbus des Ursprünglichen umgeben. Die Illusion reiner Selbstidentität als ideologischer Kern der populistischen Logik gestaltet sich als regressive Utopie, welche auch die mit ihr artikulierten Inhalte des politischen Projekts strukturiert. So erweist sich der emanzipatorische und inkludierende 289
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG
Impetus des Kirchnerismus in seiner Artikulation mit narrativen Ankerpunkten der argentinischen Fußballkultur letztlich als Ermächtigung zur Wiederherstellung der mythischen Tradition. Ziel des politischen Kampfes ist nicht die Überwindung der distinktiven sozialen Kategorien, sondern die Neugewichtung der mit ihnen verbundenen Zuerkennung von Prestige durch die Revalorisierung des Popularen als das »wahre« Argentinien und die Verkehrung der abwertenden Stereotype in anerkennenswerte und bewunderungswürdige Erkennungsmerkmale gerade aufgrund ihrer sozialen Inferiorität. Die politisch-kulturellen Artikulationen konstruieren im Rückgriff auf popularkulturelle Symbolik einen milieuspezifischen Habitus als Modell des Popularen und inszenieren soziale Ungleichheit als kulturelle Exklusion. Die symbolischen Motive, welche die gemeinschaftsstiftenden Charakteristika der antagonistischen Lager kondensieren, betonen die soziokulturelle Dimension der popularen Subjektivität und verfestigen die mit der sozialen Differenzierung verbundenen habituellen Zuschreibungen als identifikatorisches Fundament der popularen Einheit. Die lebensweltlichen Veranschaulichungen der politischen Spaltung verdichten sich zu zwei kohärenten Charaktertypen, deren einzelne Attribute in ihrer diskursiven Artikulation assoziativ das gesamte Bild mitaktualisieren und denen die dichotomisierten politischen Blöcke zugeordnet werden. Das populare Subjekt mit seinem passional, selbstbestimmt-konfrontativ und herkunftsloyal bestimmten Habitus steht einem konsumorientierten Mittelschichtssubjekt ohne kommunitäre Bindungen gegenüber, das mit den »europäisch« konnotierten Bedeutungsfeldern Rationalität, Professionalität, Pragmatismus, Individualismus und Globalisierung assoziiert ist. Kirchnerismus und Anti-Kirchnerismus werden damit als zwei homogene politisch-kulturelle Gemeinschaften konstruiert.
8.2 Das hegemoniale Potential politisch-kultureller Artikulationen Die kulturelle Aufladung der antagonistischen Bruchlinie erlaubt allerdings gerade ihre flexible Verschiebung, die Voraussetzung für das populistische Wechselspiel von Antagonisierung und Hegemonialisierung ist. Das populare Lager, das sich in Abgrenzung von einem an europäischen Werten orientierten »Anti-Volk« als Verkörperung der legitimen Argentinität definiert, erhebt zugleich Anspruch auf die hegemoniale Repräsentation des Nationalen, seine symbolische Konstruktion weist über sich hinaus auf das »argentinische Volk« als gesellschaftliches Ganzes hin. In der strategischen Reflexion der diskursiven Eliten des regierungs-unterstützenden Lagers zeigt sich dies daran, dass die symbolische 290
DAS HEGEMONIALE POTENTIAL POLITISCH-KULTURELLER ARTIKULATIONEN
Repräsentation des popularen Charakters der kirchneristischen Bewegung in den diskursiven Artikulationen der Fußball-WM als authentische Erfahrung der kulturellen Konfluenz gedeutet wird. Die politische Aufladung fußballerischer Topoi illustriert in dieser Perspektive ein genuines Zusammenfließen politischer und kultureller Bedeutungen, konkret der popularen Symbolik des Fußballs und der national-popularen Erzählung des Kirchnerismus, die sich nicht in der voluntaristischen Dimension ihrer Konstruktion erschöpft, sondern auf einer natürlichen Konvergenz beruht. Aufgrund der sozialen Transversalität des Fußballs wird dies jedoch nicht als partikulare Vereinnahmung desselben verstanden. Das Populare im Fußball wird zwar mit dem Kirchnerismus assoziiert, es ist aber immer mehr als »kirchneristisch« und kann nicht exklusiv besetzt werden. Die hegemoniestrategische Bedeutung kulturell wirkmächtiger Topoi ist gerade darin begründet, dass sie nicht von einer Seite der antagonistischen Konstellation »angeeignet« werden können. Die Begeisterung für bzw. die Identifikation mit Fußball übersteigt politische und soziale Gruppengrenzen, gleichzeitig wird der Nationalsport als ein historisch von popularen Akteuren geprägter Raum wahrgenommen. In der Aufrechterhaltung der Spannung zwischen dem popularen und dem schichtenübergreifenden Charakter von Fußball liegt das hegemoniale Potential seiner politischen Reartikulation. Ziel der symbolischen Operationen ist daher nicht die bloße Inkorporierung kultureller Bedeutungsträger in die eigene Äquivalenzkette, sondern die Nutzung etablierter Topoi zur Universalisierung des Popularen als Ausdruck des Nationalen. So wird die antagonistische Grenzziehung aufgeweicht, um den Einflussbereich der äquivalentiellen Konstruktion auf das transversale Fußballkollektiv auszuweiten und gezielt in einen symbolischen Raum zu investieren, der den antagonistischen Feind inkludiert und nicht endgültig zu gewinnen ist. Der Einsatz des Spiels in einem artikulatorischen Politikverständnis ist die hegemoniale Verkörperung einer Totalität, welche die auf der antagonistischen Spaltung beruhende Gemeinschaftskonstruktion übersteigt, deren »authentischer« Kern aber von letzterer definiert wird. Voraussetzung dafür ist, dass die artikulierten kollektiven Vorstellungsbilder weiterhin flottierende Signifikanten bleiben, an die von beiden Lagern angeknüpft wird und die der politische Gegner nicht als parteilich vereinnahmte zurückweisen kann. Die hegemoniale Wirkmacht populistischer Neueinschreibungen steigt mit der Ambiguität und Offenheit der reartikulierten kulturellen Repertoires, solange ihre (innerhalb der erweiterten Äquivalenzbeziehung weiter wirkende) divisorische populare Konnotation nur vorübergehend deaktiviert, aber nicht annulliert wird. Die symbolische Produktivität der hegemonialen Auseinandersetzungen auf kulturellem Terrain entfaltet sich schließlich, wenn die Breitenwirksamkeit des Fußballs quer durch alle sozialen Sektoren und seine 291
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG
Zentralität als Ort nationaler Identifikation gegen seine verbleibende partikulare Qualität als popular geprägtes Phänomen ausgespielt wird. Maradona als Ikone der popularen Transgression wird durch seine Verknüpfung mit den innenpolitischen Konfliktlinien zu einem privilegierten Signifikanten des Kirchnerismus, der die äquivalentielle Intensität der Volkskonstruktion stärkt und ihre Expansion limitiert. Maradona als argentinischer Nationalheld dagegen stützt ihren Geltungsanspruch als Repräsentation der gesamten gesellschaftlichen Totalität und erhöht ihre äquivalentielle Ausdehnung. Die Angehörigen der Mittel- und Oberschicht werden mit dem Widerspruch konfrontiert, dass die Äquivalenzverbindung aufgrund des klassenübergreifenden Charakters der Fußballkultur auch ihre Diskursposition erfasst und einschließt, die Aktivierung der teilenden partikularen Bedeutungen sie aber auch immer wieder ausschließt. Die anti-kirchneristischen Fußballfans befinden sich so in der paradoxen Situation, nicht zum »reinen« Kern der hegemonialen Repräsentation zu gehören, wohl aber zu ihrem großen transversalen Einzugsbereich. Das macht die kulturelle Symbolisierung popularer Subjektivität für die vom Fußballdiskurs in gleicher Weise durchdrungenen oppositionellen Kräfte schwer angreifbar, ohne den eigenen Ausschluss aus der popularisierten Nation zu riskieren. Wenn Kritik an Maradona als Kritik am »argentinischen Volk« ausgelegt werden kann, werden Anti-Maradonianismus, Anti-Kirchnerismus und anti-populares Ressentiment Synonyme zur Bezeichnung derer, die nicht Teil des Volkes sind. So kann ein national-populares Kollektivsubjekt die Verkörperung der nationalen Einheit beanspruchen und durch eine interne, politisch-kulturell bestimmte Hierarchisierung des legitimen Subjektstatus einem Teil der Argentinier/innen, der den gemeinschaftsstiftenden popularen Charakteristiken nicht entspricht, seine Zugehörigkeit als »pseudo-popular« wieder absprechen oder diese zumindest infrage stellen. Die symbolische Inszenierung der popularen Identität dient somit der Reaktualisierung der antagonistischen Auseinandersetzung zur Aufrechterhaltung des populistischen demos. Das Volk des Populismus ist ein in sich gespaltenes: die plebs, die populus sein und weiterhin plebs bleiben will. Es findet seine Stabilisierung mithin in der Reinszenierung des Antagonismus, die sicherstellt, dass die beiden Lager der dichotomen Teilung nicht zu Äußerlichkeiten werden. Dazu wird die dichotome Spaltungslinie geschwächt und die populare Äquivalenzkette auf die Positionen der politischen Gegner ausgedehnt. Die Einverleibung des antagonistischen Feindes stellt den gemeinsamen Repräsentationsraum wieder her, in dem im Anschluss der Konflikt um die legitime Repräsentation der gesamten Nation als homogener Ganzheit erneuert und die Persistenz der antagonistischen Bedrohung verifiziert werden kann. Es ist daher zentral, dass die Äquivalenz zwischen dem populistischen Projekt als 292
DAS HEGEMONIALE POTENTIAL POLITISCH-KULTURELLER ARTIKULATIONEN
»authentischem« Kern der Volkskonstruktion und den mit ihm artikulierten kulturellen Motiven nicht zu intensiv wird. Räumt die politische Konkurrenz das umkämpfte kulturelle Feld, verlieren die umstrittenen Bedeutungsträger ihre universale Dimension und werden als privilegierte Signifikanten einer popularen Totalität entwertet. Dass die politisch-kulturellen Artikulationen rund um die Fußballweltmeisterschaft von regierungskritischen Akteur/innen aufgenommen und mit Narrationen unter umgekehrten Vorzeichen beantwortet wurden, bestätigte dagegen die Evidenz der beiden »Lager« und befestigte die interne Kohäsion der kirchneristischen Bewegung. Der WM-Bewerb bot dem Kirchnerismus eine Bühne soziokultureller Bedeutungsproduktion, auf der die Spannung zwischen äquivalentieller und differentieller Logik ein weiteres Mal in Szene gesetzt und durchgespielt werden konnte. Gleichwohl wird den symbolischen Auseinandersetzungen um Fußball von den Akteur/innen, die selbst an dieser Diskursproduktion beteiligt waren, wenig Einfluss auf die »reale Politik« zugeschrieben. Die Wirkung der symbolischen Operationen, die einzeln betrachtet begrenzte Relevanz für das politische Geschehen zu haben scheinen, entfaltet sich aber im Zusammenspiel mit ähnlich gearteten Konflikten in anderen Bedeutungsfeldern. Ihre Funktion besteht weniger darin, die politischen Kräfteverhältnisse nachhaltig zu verschieben, als vielmehr die antagonistische Spaltung zu konsolidieren, indem sie ihre Verwandlung in eine statische Grenze verhindern. Dies erklärt, warum der leere Signifikant als hegemoniales Prinzip zu verstehen ist, das in der populistischen Praxis nicht von einem individuellen Signifikanten, etwa dem Namen der Bewegung oder des politischen Führers, durchgesetzt wird. Der hegemoniale Repräsentant ist zwar das identifikatorische Zentrum, das die populare Identität zusammenhält und ihre Einheit garantiert. Er generiert die identifikatorische Kohäsion aber nicht kraft seines Namens aus sich selbst heraus, sondern ist zur fortgesetzten Mobilisierung seiner Anhänger/innen darauf angewiesen, mehrfach ausgedrückt zu werden, um seine metaphorische Reichweite zu erhöhen und soziale Produktivität zu entfalten. Dazu wird der Antagonismus in immer neue soziale Felder getragen, die eine metaphorische Darstellung der gesamtgesellschaftlichen Konfliktlinien mit feldspezifischen Ausdrucksmitteln erlauben und die populare Einheit quasi in einer kulturellen Performance erneuern. Dies stellt keine einfache Wiederholung dar, sondern lässt den antagonistischen Konflikt erneut entstehen und trägt ihn in der dem jeweiligen Feld eigenen symbolisch-kulturellen Sprache aus. Die Bezugnahme auf kollektive Vorstellungsbilder des sozialen Imaginären füllt die populare Subjektivität mit Bedeutungen, die sich aus konkreten kulturellen Erfahrungszusammenhängen speisen, und setzt das hegemoniale Wirkprinzip in diversen lebensweltlich erfahrbaren Verdichtungspunkten der populistischen 293
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG
Artikulationspraxis fort. Die beständige Mobilisierung wechselnder symbolischer Elemente schafft ein Räderwerk polemischer Auseinandersetzungen, deren Vielfalt und Komplementarität die dichotome Bruchlinie dynamisch halten. Die artikulierten Konfliktkonstellationen scheinen sich gegenseitig zu entsprechen. Ihre metaphorische Übertragbarkeit generiert ein weitverzweigtes Netz politisch-kultureller Repräsentationen des Popularen, das der antagonistischen Konstellation gegenüber vorgängig erscheint, und das Bild einer Gesellschaft konstruiert, in der sich auf allen Ebenen dieselbe Problematik ereignet. Die Wirkung dieser symbolischen Repräsentationen weist nicht über die momentane Veranschaulichung der politischen Spaltung hinaus. Ihr ephemerer Charakter ist der Verstetigung populistischer Identitätskonstruktionen aber insofern dienlich, als er den imaginären Horizont der mythischen Einheit unerreichbar hält und doch die Erneuerung des populistischen Versprechens auf dessen Einlösung ermöglicht.
8.3 Die zirkuläre Dynamik populistischer Symbolpolitik Das Beispiel der Fußballweltmeisterschaft 2010 wirft dennoch die Frage auf, welchen strategischen Nutzen für die politische Handlungsfähigkeit populistischer Akteur/innen die symbolische Repräsentation popularer Subjektivitäten beinhaltet. Die symbolischen Motive, die in der narrativen Konfiguration der WM mit den innenpolitischen Konfliktlinien artikuliert werden, zeigen aufgrund ihrer historischen Verankerung im sozialen Imaginären zwar durchaus diskursstrukturierende Wirkung. Die Vertreter der regierungskritischen Kräfte beziehen sich auf dieselben Topoi und definieren die »Argentinität« mit denselben Interpretationsschemata, die den von Maradona verkörperten »national-popularen Charakter« mit dem Peronismus und mit der politischen Kultur Argentiniens im Allgemeinen assoziieren, auch wenn sie die damit verbundenen Wertehaltungen ablehnen und in eine Erzählung des kulturellen Verfalls umkehren. Die unterschiedlichen Argumentationsstrategien der interviewten Akteure machen deutlich, welche Dilemmata der Versuch mit sich bringt, sich in einem antagonistisch strukturierten Konfliktfeld dem dichotomisierten Diskurs zu entziehen und nicht an die politischen Reartikulationen des topischen Erfahrungsbestandes anzuschließen. Mit dem Dekadenznarrativ reproduzieren die oppositionellen Kräfte die narrative Konfiguration des kirchneristischen Diskurses mit negativen Vorzeichen und befördern so praktisch die Vertiefung der populistischen Teilungslogik. Versuchen sie dagegen, die Artikulation des Kirchnerismus mit dem national-popularen Bedeutungsgehalt der popularkulturellen Symbolik zu lösen, resultiert dies in einer passiven Haltung der Konfliktrelativierung, die sich der Möglichkeit beraubt, den politischen Raum mithilfe 294
DIE ZIRKULÄRE DYNAMIK POPULISTISCHER SYMBOLPOLITIK
alternativer Narrationen zu restrukturieren, und so ebenfalls nicht in der Lage ist, die populistische Bruchlinie effektiv außer Kraft zu setzen. Dennoch können die kirchneristischen Kräfte in ihrer Diskursproduktion den hegemonialen Inszenierungsspielraum nicht ausschöpfen, den ihnen die defensive Position ihrer politischen Konkurrent/innen eröffnet. Das populistische »Volk« erhebt wohl Anspruch auf die Verkörperung der gesamten Nation, muss jedoch zugleich die partikulare Position der Subalternität wahren. Die schwierige Gratwanderung, das Spannungsverhältnis zwischen Universalisierung des Partikularen und Partikularisierung des Universalen auszubalancieren, zeigt sich sowohl in den polemischen Auseinandersetzungen rund um Fútbol para Todos, die als Hintergrundkonflikt die WM-Debatten begleiten, als auch im missglückten Versuch, den barras bravas eine protagonistische Rolle als Repräsentanten der popularen Fußballnation einzuräumen, der wegen der Gewaltbereitschaft und der kriminellen Strukturen der Fanorganisationen in der Öffentlichkeit geteilte Reaktionen auslöste. Am deutlichsten wird der Widerspruch zwischen dem hegemonialisierenden Auftreten und der parallelen Forcierung antagonisierender Narrationen allerdings in der symbolischen Konstruktion Maradonas. Seine Inszenierung als Verkörperung des National-Popularen affirmiert die kulturell spezifische Widersprüchlichkeit der »kreolischen Gerissenheit« als nationale Qualität, deren transgressives Potential zur Unterwanderung etablierter Machthierarchien im Topos vom »Tor mit der Hand Gottes« kondensiert ist, und artikuliert sie mit dem populistischen Politikmodell des Kirchnerismus. Die politisch-kulturelle Artikulation des Topos von Villa Fiorito veranschaulicht wiederum die Treue zur popularen Essenz des nationalen Charakters als authentische Argentinität in Abgrenzung vom anti-popularen »Establishment«. Neben diesen artikulatorischen Knotenpunkten, die der Antagonisierung dienen, bietet lediglich die Aktualisierung des argentinischen Überlegenheitsanspruchs einen den Antagonismus übersteigenden Topos, der zur hegemonialen Inszenierung der kirchneristischen Identitätskonstruktion eingesetzt wird. Zwar steht die anti-kirchneristische Opposition der Vorstellung einer historischen Rolle der Großartigkeit, zu der die argentinische Nation bestimmt sei, zwiespältig gegenüber, weil diese eng mit der Erzählung des Peronismus verknüpft ist und mit Verschwörungstheorien, Überheblichkeit und Paranoia im politischen Diskurs assoziiert wird. Der Wunsch nach der Realisierung dieser mythischen Größe erfasst aber auch sie. Maradona symbolisiert die argentinische Superiorität wegen seiner tragenden Rolle im letzten WM-Sieg von 1986 nach wie vor auch für die nicht-peronistischen Sektoren, wiewohl in der kirchneristischen Reartikulation die faktionalistische Aufladung der triumphalen Nationsvorstellung durch Maradonas Integration in das Narrativ der recuperación verstärkt wird. Die Wiederherstellung der argentinischen grandeza wird 295
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSFOLGERUNG
in dieser Lesart in der stolzen Annahme des eigenen defizitären Charakters in Aussicht gestellt. Maradonas Bestellung zum Nationaltrainer stellt in diesem Sinn den Zyklus des ökonomischen, politischen und sozialen Aufschwungs, dessen Einleitung der Kirchnerismus für sich beansprucht, metaphorisch als Rehabilitation des bislang verachteten Popularen dar. Diese Veranschaulichung der kirchneristischen Rückeroberung des popularen Selbstwerts ist freilich in hohem Maße vom sportlichen Erfolg abhängig. Das »typisch Argentinische« am gewitzten Betrug des Schwachen evoziert den Mythos der grandiosen Nation wenig glaubhaft, wenn die Figur des national-popularen Tricksters diesen auf dem Spielfeld in keiner Weise einlöst. Nach dem frühen Ausscheiden der Nationalmannschaft wurde die fußballerische Niederlage in der prononciert anti-kirchneristischen Medienlandschaft denn auch als Metapher für die Demagogie und Inkompetenz populistischer Politik weitergesponnen. Gleichwohl verhinderte die antagonismusüberschreitende Artikulation Maradonas mit der als überlegen fantasierten Nation eine allzu explizite Assoziation des mageren WM-Ergebnisses mit dem politischen Projekt des Kirchnerismus. Der geteilte Fußballnationalismus suspendierte tendenziell die antagonistische Spaltung und setzte kritische Positionierungen zur nationalistischen Euphorie rund um Maradona dem Risiko aus, als »anti-argentinische« Opposition delegitimiert zu werden. Insofern forcierten die Kommentare der regierungsunterstützenden Medien, die nach dem WM-Ausscheiden im Anschluss an die Ethik des aguante der organisierten Fankultur2 den Imperativ der bedingungslosen Loyalität im Scheitern stark machten, selbst die Reaktivierung der Teilungslogik. Während das Gros der fußballbegeisterten Bevölkerung Maradonas Präsenz 2010 stärker mit der Hoffnung auf die Wiederherstellung der argentinischen Vormachtstellung – zumindest im Fußball – verknüpfte als mit der stolzen Affirmation der negativen Autostereotype, erneuerte die polemische Narrativisierung den Antagonismus zwischen dem »hegemonialen Diskurs« der anti-popularen Feinde der Nation und einem leidenschaftlich identifizierten »Volk«, das den authentischen Kern der eigenen Identität und damit die »populare Würde« verteidige und mit den Anhänger/innen des Kirchnerismus assoziiert wurde. Bei Laclau ist die Einheit der vom populistischen Diskurs angerufenen Subjekte Voraussetzung dafür, dass das Versprechen reiner Selbstidentität als imaginärer Horizont mobilisierend wirkt und der hegemoniale 2
Etwa »Durchhaltevermögen«, im Fußballfankontext bedingungslose Unterstützung des eigenen Teams, innerhalb der barras bravas auch männliche Ehre, die durch physische Widerstandsfähigkeit und Schmerzresistenz in gewaltsamen Kämpfen mit feindlichen Fanclubs und Ordnungskräften erworben wird.
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Repräsentant auf Basis seiner identifikatorischen Besetzung transformatorische Gestaltungsmacht entfalten kann. Die argentinische WM-Episode von 2010, die Gegenstand der vorliegenden Studie war, lässt dagegen die Effizienz populistischer Artikulationsmodi für die Erhöhung politischer Handlungsfähigkeit fragwürdig erscheinen. Der Populismus provoziert zur Kohäsion der popularen Äquivalenzverbindung die Sichtbarkeit der Partikularität seiner Identitätskonstruktion, um der Auflösung der antagonistischen Teilung in einer erweiterten Äquivalenzkette entgegenzuwirken, und beschränkt sich damit selbst in der hegemonialen Repräsentation des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs. Der kontraproduktive Effekt der Gleichzeitigkeit von hegemonialer Ausdehnung und äquivalenzintensivierendem Rückzug zeigt sich insbesondere im Vergleich mit der staatlichen Kommemoration des 200. Jahrestages der argentinischen Mairevolution, die 2010 wenige Wochen vor der Fußballweltmeisterschaft stattfand. Das Bicentenario wurde in seiner Ästhetik und seinen Inhalten ebenfalls mit national-popularen Bedeutungen aufgeladen, die hegemonialisierende Inszenierungsstrategie überwog aber die antagonisierenden Elemente, sodass die nationalen Feierlichkeiten zwar unter kirchneristischen Vorzeichen organisiert, jedoch nicht als partikularisierte Aneignung verstanden wurden und dementsprechend überparteilich angeeignet werden konnten. Die Artikulation des politischen Projekts mit einem symbolischen Umfeld »ohne Gegner« modifiziert den Charakter der popularen (kirchneristischen) Subjektivität, die in ihrer identifikatorischen Resonanz über die dichotome Spaltung hinweg in eine nationale Subjektivität überführt wird und ihrer Bedingtheit durch das definierende Außen enthoben scheint. Der Strategiewechsel in der darauffolgenden WM zeigt jedoch, dass die Emanzipation von der interpretativen Struktur der antagonistischen Konstellation nicht das Ziel populistischer Symbolpolitik darstellt. Die Spannung zwischen Teilung und Homogenisierung muss in der Totalität präsent bleiben, damit das populistische Versprechen einer völligen Schließung weiterhin attraktiv bleibt und mobilisierend wirkt. Anstelle einer hegemonialen Besetzung der nationalen Einheit verfolgt der Populismus genau genommen die polemische Besetzung derselben. Nicht das kirchneristische Projekt, sondern die antagonistische Spaltung soll hegemonial werden. Die analytische Gleichsetzung von Populismus und Hegemonie lässt übersehen, dass die äquivalentielle Extension lediglich ein notwendiger Zwischenschritt ist, um die Verabsolutierung des Antagonismus und die Transformation der beiden Lager in einander äußerliche oppositionelle Blöcke zu verhindern. Die Einverleibung des politischen Gegners beraubt den Populismus aber auch seiner Identitätsgrundlage. Eine staatstragende Inszenierung lässt den hegemonialen Repräsentanten allmählich zum Inbegriff der gesamten Nation werden, in die nun auch das antagonistische 297
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Außen eingeschlossen ist. Dieser nationale Protagonismus des Popularen schwächt die polemische Wirksamkeit der symbolischen Repräsentationen, denn mit dem verhindernden Feind geht auch die Externalisierungsmöglichkeit verloren. Der Kirchnerismus verkörpert dann immer weniger die imaginäre »Fülle« für die vernachlässigten Schichten, sondern immer mehr die differentielle Positivität des gesellschaftlichen Ganzen. Er ist mithin auch für die Schattenseiten der glänzenden Ära mitverantwortlich, deren Anbruch er in der Erzählung der recuperación postuliert. Jeder Hegemonialisierungsversuch ist daher nur Startpunkt einer neuerlichen Antagonisierung, in der sich der Kirchnerismus von der Repräsentation des »ganzen Volkes« auf die Repräsentation des »wahren Volkes« zurückzieht und die eigene Partikularidentität reakzentuiert. Als realpolitische Konsequenz dieser dem Populismus innewohnenden Dynamik der Wiederholung werden beständig neue Bedrohungsszenarien inszeniert, die den Antagonismus in immer neue gesellschaftliche Sphären dringen lassen. Rinesis und Vommaros Beschreibung des politischen Stils Néstor Kirchners fasst das treffend in Worte, wenn sie ihm eine Nähe zu Peróns »Führungskunst« attestiert, »gleichzeitig als Brandstifter und Feuerwehrmann zu fungieren (Rinesi/Vommaro 2007: 459, Herv. i. O.).3 Die Frage, wie sich ein »Populismus an der Macht« konsolidieren und gleichzeitig seine anti-institutionelle Dimension wahren kann, wird nun beantwortbar: Um ein Prozess ohne Endpunkt zu bleiben, artikuliert er kulturelle Topoi so, dass diese ihre Qualität als flottierende Signifikanten nicht verlieren und damit einerseits seine Gleichsetzung mit dem ganzen Volk ermöglichen, andererseits die Reaktivierung ihrer partikularen Qualität die hegemoniale Verkörperung der popularen Totalität scheitern lässt und den Antagonismus erneut verifiziert. Der verhindernde und gleichzeitig ermöglichende Charakter des Antagonismus bestimmt die innere Verfasstheit populistischer Politikmodelle. Teilung und Homogenisierung stellen die beiden grundlegenden Wirkungsweisen der populistischen Logik dar und prägen die Inszenierungsstrategien ihrer Symbolpolitik. Symbolische Repräsentation in populistischer Politik entfaltet dergestalt eine zirkuläre Dynamik, welche die Perpetuierung symbolischer Deutungskämpfe zur Reinszenierung der konfligierenden Repräsentationen als Selbstzweck befördert. Nach Laclau ist die irreduzible Spannung zwischen äquivalentieller und differentieller Logik Garant dafür, dass populistische Versuche der Schließung des Sozialen langfristig dynamisch bleiben. Die Umkehrung des kontingenten Konstrukts popularer Identität in eine essentialisierte 3
Spanisches Original: »[…] el estilo político del actual presidente está mucho más cerca del viejo ›arte de la conducción‹ peroniano (una difícil ›geometría de las pasiones‹ sostenida sobre la rara maestría de saber fungir al mismo tiempo de incendiario y de bombero) […]«.
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Grundlage populistischer Politik erscheint bei ihm dadurch relativiert, dass die Reinstituierung der symbolischen Ordnung, die ein populares Subjekt als hegemoniale Repräsentation der homogen gedachten Totalität einsetzt, wegen der Unmöglichkeit reiner Äquivalenz ohnehin nie an ihr Ziel gelangt und von der verbleibende Partikularität der artikulierten Differenzen immer wieder aufgebrochen wird (Laclau 2005a: 223– 226). Das untersuchte Fallbeispiel zeigt allerdings, dass die wechselnde Abfolge von Äquivalenz und Differenz selbst Teil der Schließungsdynamik ist. Die vorübergehende Suspendierung des Antagonismus zur Ausdehnung der popularen Identität auf die umfassende Dimension des gesamten populus ist Voraussetzung für die Kontaminierung der äquivalentiellen Konstruktion, die eine Reforcierung der partikularen Qualität des Volkes als plebs in der expandierenden Äquivalenzkette provoziert und die Erneuerung des populistischen Bruchs ermöglicht, mit welcher der Populismus seine Subjekte mobilisieren und in der Folge eine erneute Schließung inszenieren kann. So erweist sich das Wiedererstarken der Differenzlogik letztlich als funktional für die Konsolidierung populistischer Identitätskonstruktionen. Der häufig an populistische Politik gerichtete Vorwurf des Antipluralismus bleibt insofern unpräzise und zahnlos, solange die Kritik nicht genauer spezifiziert, wo Pluralismus verhindert wird. Denn die populistische Logik führt nicht zur Durchsetzung eines homogenen sozialen Raumes, der eine Pluralität antagonisierender politischer Projekte verunmöglichen würde. Das Volk des Populismus bleibt vielmehr konstant instabil und löst seinen Anspruch auf exklusive Repräsentation der diskursiven Totalität und Ausschluss des antagonistischen Feindes aus derselben nicht ein. Die populistische Identitätskonstruktion, die mithilfe der politisch-kulturellen Artikulationen inszeniert wird, umfasst je nach Grad ihrer äquivalentiellen Ausdehnung oder äquivalentiellen Intensivierung unterschiedlich große Teile der umfassenden – im argentinischen Fall national definierten – Identitätsgemeinschaft, diese kommen aber nie gänzlich zur Deckung. Insofern ist Laclaus Argument, die Logik der Differenz breche immer wieder durch und halte die Konstruktion veränderbar, durchaus stichhaltig. Allerdings betrifft dies die Konstruktion des »argentinischen Volkes« als nationales Ganzes, nicht jedoch die plebs als partikulare Essenz der popularen Gemeinschaft. Das Weiterwirken der Differenzen im populus ist vielmehr notwendige Voraussetzung dafür, die Einheit der plebs aufrechtzuerhalten und Differenzen in ihrem Inneren zu neutralisieren. Das Spiel der Spannung zwischen Inklusion und Exklusion verbleibt auf der Ebene der hegemonialen Auseinandersetzungen um die Repräsentation des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhangs, während es einen verhindernden Effekt auf die Etablierung pluraler Strömungen innerhalb der populistischen Bewegung hat. 299
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Der Kirchnerismus war infolge seiner innenpolitischen Schwächung von 2008 und 2009 nicht nur von Seiten der reorganisierten Opposition, sondern auch von Seiten des intern gespaltenen Peronismus unter Druck geraten. Der Kampf um die hegemoniale Position im eigenen politischen Lager wird in den WM-Artikulationen nur implizit sichtbar, wenn Maradonas symbolische Repräsentation des National-Popularen über – betont als »peronistisch« narrativisierte – geteilte Wertehaltungen mit dem Kirchnerismus verknüpft wird. Der antagonistische Konflikt um die Einsetzung des National-Popularen als hegemoniale Verkörperung des Nationalen, der in den WM-Debatten inszeniert wird, dient somit der Abwehr einer Infragestellung des Kirchnerismus als hegemoniale Verkörperung des National-Popularen im innerperonistischen Konflikt. Ausgehend von seiner Feststellung einer irreduziblen Spannung zwischen plebs und populus schlussfolgert Laclau: »This sine die tension is what ensures the political character of society, the plurality of embodiments of the populus that does not lead to any ultimate reconciliation (that is, overlapping) of the two poles.« (Laclau 2005a: 225, Herv. i. O.) Dabei lässt er zumindest unerwähnt, dass diese andauernde Spannung und die Pluralität konkurrierender Verkörperungen des populus auch Garant dafür sind, dass es zu keiner Pluralität in der Verkörperung der plebs kommt, diese eine im hegemonialen Repräsentanten kristallisierte Singularität bleibt. Was der Populismus als rein und homogen auf Dauer stellen will, ist nicht das »ganze Volk«, sondern das »heartland«, das den essentiellen Kern der popularen Gemeinschaft darstellt und mit dem sich der hegemoniale Repräsentant des populistischen Projekts identifziert. Dass diese imaginäre Einheit die Grundlage zur Dämonisierung und Exklusion des politischen Gegners bildet, steht zumeist im Fokus von Populismuskritik, ist aber eigentlich nur Teil seiner auf Selbsterhalt gerichteten zirkulären Dynamik in den artikulatorischen Praktiken symbolischer Repräsentation. Die begründende Rolle der vereinheitlichenden Repräsentation – dem leeren Signifikanten bei Laclau – bedingt den Vorrang der Verhinderung interner Pluralität gegenüber dem Kampf um gesamtgesellschaftliche Deutungsmacht und führt zur charakteristischen Kreisbewegung populistischer Symbolpolitik, die Hegemonialisierung und Antagonisierung zur Verstetigung der eigenen Identität beständig wiederholt. Damit steht der in obigem Zitat von Laclau betonte politisierende Effekt des Populismus in Frage. Ausgehend von der Kontingenz des Sozialen versteht Laclau die populistische Logik als eine genuin politische, weil sie die unabschließbare Konfliktivität des Politischen anerkenne und produktiv mache, indem sie in der symbolischen Verkörperung heterogener sozialer Forderungen performativ kollektive politische Subjekte konstituiere, denen keine darunterliegende substantielle Übereinstimmung der involvierten Elemente entspricht (Laclau 2005a: 96–99). Aus der 300
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Konfliktivität des Politischen kann aber nicht im Umkehrschluss die Politizität des Konfliktiven gefolgert werden. Anstatt nur zwischen politischem Konflikt und unpolitischem Konsens zu differenzieren, ist genauer zu fragen, wo diese Konflikte stattfinden und von welcher Qualität sie sind. Panizza fasst den Prozess populistischer Subjektivierung folgendermaßen zusammen: »The unified people at one with its leader, as represented in the populist imaginary, defines the end of history as much as liberalism’s illusion of pluralism without antagonism […]. As Laclau reminds us, because it is impossible to erase the traces of the particular from the universal, identification always fails to produce full identities. Rather, it generates a dialectic of aspiration, disappointment and grievances.« (Panizza 2005: 28)
Die »Spuren des Partikularen«, die jede Produktion »voller« Identitäten unweigerlich scheitern lassen, meinen eben nicht die Heterogenität der individuellen Forderungen innerhalb der vom Antagonismus zur verhindernden Macht bestimmten und als unterprivilegiert gedachten plebs, sondern die Reste an Partikularität, die diese plebs in ihrem Auftreten als geeinter Kollektivakteur im Raum der Allgemeinheit bewahrt, mit dem es sich gleichsetzt. Die populistische Antagonisierung mag politisierende (im Sinne subjektkonstituierender) Wirkung in der Phase der Dislokation der instituierten sozialen Struktur zeigen, in der Schließungsphase populistischer Projekte trägt sie jedoch dazu bei, antagonisierende Dynamiken im Inneren der popularen Äquivalenzverbindung zu unterbinden und diese als massive populare Einheit zu inszenieren. Das wiederholte Scheitern der Totalisierung macht die hegemonialen Auseinandersetzungen festgefahren und »unausweichlich« und lässt aus den politischen Subjekten des populistischen Bruchs soziale Subjekte eines essentialisierten popularen Blocks werden. Die periodische Erneuerung des Antagonismus trägt nicht zur Entstehung neuer Formen der Subjektivierung bei, sondern sedimentiert die beiden essentialisierten Lager in ihrer Konfliktaustragung weiter.
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POPULISMUS AN DER MACHT
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10. Kurzbeschreibung der interviewten Personen Tomás Abraham: Philosoph, Soziologe und Autor; Professor für Philosophie an der Universidad de Buenos Aires; Kolumnist in diversen Zeitungen und Zeitschriften, darunter regelmäßig für die kirchnerkritische Tageszeitung Perfil. Abraham war einer der schärfsten intellektuellen Opponenten der kirchneristischen Regierung, die er insbesondere für die Installierung einer Freund-Feind-Logik kritisierte. Als bekennender fanatischer Anhänger des Fußballnationalteams veröffentlichte er auf seinem Blog und seiner Webseite Reflexionen über den argentinischen Fußball und dessen Bezug zur nationalen Identität. Eduardo Anguita: Journalist und Autor. Anguita leitete die kirchneristische Wochenzeitschrift Miradas al Sur seit ihrer Gründung 2008 bis zur ihrer Einstellung nach dem Ende der kirchneristischen Regierung. Weiters schrieb er für die Tageszeitung Tiempo Argentino, die wie Miradas al Sur zur Gruppe des Medienunternehmers Sergio Szpolski gehörte, und gestaltete diverse Programme im regierungsnahen Radio Nacional. Als Mitglied der trotzkistischen Guerrillaorganisation E.R.P. (Ejército Revolucionario del Pueblo) war Anguita von 1973 bis 1984 in Haft, seine Mutter ist eine der »Verschwundenen« der letzten Militärdiktatur. Öffentliche Aufmerksamkeit erregte sein gemeinsam mit Martín Caparrós veröffentlichtes Werk La Voluntad, das anhand von Interviews die Geschichte der revolutionären Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre verarbeitete. Martín Bergel: Historiker am Centro de Historia Intelectual an der Universidad Nacional de Quilmes und im CONICET (nationale Wissenschaftsförderinstitution); forschte unter anderem zum Phänomen des jugendlichen Aktivismus der kirchneristischen Bewegung. Als junger Vertreter einer nicht-peronistischen Linken positionierte er sich kritisch-solidarisch zum politischen Projekt des Kirchnerismus. Diego Bosto: Rechtsanwalt; Mitglied der Corriente Nacional y Popular, einer mit der Cámpora vergleichbaren kleinen Organisation kirchneristischer Aktivist/innen, die in das Wahlbündnis Frente para la Victoria eingegliedert war. Hernán Brienza: Journalist und Autor. Brienza war regelmäßiger Gast im kirchneristischen Fernsehprogramm 6, 7, 8, Kolumnist der kirchneristischen Tageszeitung Tiempo Argentino und begleitete Eduardo Anguita 318
KURZBESCHREIBUNG DER INTERVIEWTEN PERSONEN
in dessen Programm Carbono 14 auf Radio Nacional. Brienza zählte zu den wichtigsten Vertreter/innen des »militanten Journalismus« in den Jahren des Kirchnerismus. Er war Mitglied des 2011 per Regierungsdekret gegründeten Instituto Nacional de Revisionismo Histórico Argentino, trat bei Veranstaltungen der kirchneristischen Jugendorganisation La Cámpora auf und wurde 2013 einer größeren Öffentlichkeit durch das Interview bekannt, das er als einer der wenigen Journalisten mit Staatspräsidentin Cristina Fernández de Kirchner führte. Eugenio Burzaco: Funktionär der liberal-konservativen Partei PRO (Propuesta Republicana) von Mauricio Macri. Burzaco war von 2005 bis 2009 Abgeordneter des PRO im Nationalkongress. 2009 bis 2011 leitete er die Policía Metropolitana in der von Macri regierten Stadt Buenos Aires. Zum Zeitpunkt des Interviews war Burzaco Geschäftsführer einer privaten Sicherheitsfirma und Sicherheitschef des Club Atlétco River Plate, blieb aber in den nationalen Gremien der Partei vertreten. Emilio de Ípola: Philosoph und Soziologe; emeritierter Professor der Universidad de Buenos Aires. De Ípolas Arbeiten zum Verhältnis von Sozialismus und Populismus lieferten seit 1979 kritische Antworten auf Ernesto Laclaus Theoretisierungen des Populismus. Nach seiner Inhaftierung und späteren Exilierung während der Militärdiktatur war de Ípola Gründungsmitglied des Club de Cultura Socialista, eines Diskussionszirkels intellektueller Linker zur kritischen Reflexion der Erfahrungen in den linken Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre und der demokratischen Neuorientierung sozialistischen Denkens. Mit Juan Carlos Portantiero zählt er zu den wichtigsten Referenten des Grupo Esmeralda, der nach der demokratischen Transition den radikalen Präsidenten Raúl Alfonsín beriet. Seine öffentliche Kritik am Kirchnerismus blieb gemäßigt und punktuell. Unter anderem war er Mitunterzeichner des von 17 Intellektuellen und Journalisten veröffentlichten Dokuments Malvinas: una visión alternativa, das 2012 die kompromisslose Haltung der Regierung in ihrem Anspruch auf Souveränität über die Falklandinseln als nationalistische Agitation kritisierte. Pepe Eliachev: Journalist und Autor. Wegen seiner Redaktionstätigkeit für die Zeitschrift El Descamisado der linksperonistischen Montoneros Anfang der 1970er verbrachte Eliachev die Jahre der Regierung Isabel Perón und der folgenden Militärdiktatur im Exil. Nach seiner Rückkehr arbeitete er vor allem als Radio- und Fernsehjournalist. Seine bekannteste Sendung Esto que pasa wurde Ende 2005 aus dem Programm des öffentlichen, nunmehr kirchnernahen Radio Nacional gestrichen, was polemische Diskussionen nach sich zog, als Eliachev die Entscheidung des Senders auf eine Weisung der Regierung zurückführte. Eliachev gehörte 319
POPULISMUS AN DER MACHT
zur Gruppe der entschiedensten Gegner/innen der kirchneristischen Regierung und wurde von deren Anhänger/innen dementsprechend als »gorila« angegriffen. Sebastián Etchemendy: Politikwissenschaftler und assoziierter Professor an der Universidad Torcuato di Tella; Beratertätigkeit für den kirchneristischen Arbeitsminister Carlos Tomada; stellvertretender Staatssekretär im Arbeitsministerium ab 2014. Etchemendy trat im akademischen und medialen Diskurs als intellektueller Verteidiger der Regierung und ihrer progressiven Politik auf. Ricardo Forster: Philosoph und Essayist; Gründungsfigur des Espacio Carta Abierta, der sich im Zuge der Agrarkrise 2008 als Initiative von Intellektuellen und Künstler/innen zur Unterstützung der kirchneristischen Regierung formiert hatte. Forster zählte zu den zentralen organischen Intellektuellen des Kirchnerismus. 2014 wurde er zum Leiter des neugeschaffenen Sekretariats für Strategische Koordination für das Nationale Denken ernannt (»Secretaría de Coordinación Estratégica para el Pensamiento Nacional«), das ins Kulturministerium eingegliedert war und mit dem Ende der kirchneristischen Regierung 2015 wieder aufgelöst wurde. Roberto Gargarella: Politik- und Rechtswissenschaftler; lehrt Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie an der Universidad Torcuato Di Tella. Gargarella ist eine der führenden Figuren von Plataforma 2012, einem Zusammenschluss von Intellektuellen und Kulturarbeiter/innen, der aus einer unabhängig linken Position gegen den wahrgenommenen Versuch der Installierung eines kirchneristischen »Einheitsdiskurses« mit dem Anspruch der »Wiedergewinnung des kritischen Denkens« antrat. Die Gruppe übte ab Anfang 2012 in öffentlichen Deklarationen Kritik an aktuellen politischen Problematiken etwa im Bergbau und den damit verbundenen Fällen von Repression sozialer Proteste und ist auch nach dem Regierungswechsel Ende 2015 weiter aktiv. Horacio González: Soziologe; von 2005 bis 2015 Leiter der argentinischen Nationalbibliothek, die während dieser Zeit zu einem Zentrum der regierungsunterstützenden Kulturproduktion wurde; neben Ricardo Forster führendes Mitglied des Espacio Carta Abierta. González war Anfang der 1970er mit seinem Engagement im ursprünglich marxistischen Frente Estudiantil Nacional und der Zeitschrift Envido Teil des universitären Linksperonismus, schloss sich nach einer Annäherung an revolutionäre peronistische Gruppen der Juventud Peronista Lealtad an und partizipierte nach den Jahren im brasilianischen Exil an den von der Zeitschrift Unidos protagonisierten intellektuellen Bemühungen um eine Erneuerung des Peronismus. 320
KURZBESCHREIBUNG DER INTERVIEWTEN PERSONEN
Fernando Iglesias: Journalist und Autor; von 2007 bis 2011 Nationalabgeordneter der sozial-liberalen Coalición Cívica. Iglesias’ Opposition zum Kirchnerismus war fundamental und von einer antiperonistischen Überzeugung geprägt. Mit medialen Auftritten und Buchveröffentlichungen profilierte er sich als Exponent einer moralischen Ablehnung der national-popularen Tradition, der gegenüber er sich für die Verbreitung einer Vision kosmopolitischer Demokratie engagiert. Santiago Kovadloff: Philosoph, Schriftsteller und Übersetzer; schreibt regelmäßig für die konservative Tageszeitung La Nación. Kovadloff war ein vehementer Gegner des Kirchnerismus aus einer liberal-demokratischen Position. Als Teil des Grupo MALBA unterstützte er bei den Präsidentschaftswahlen 2003 die Kandidatur des Rechtsliberalen Ricardo López Murphy, 2015 sprach er sich für Mauricio Macri aus. Kovadloff galt als Vertreter eines republikanisch argumentierenden Antiperonismus. Kritik erntete er für seine Mitgliedschaft in der Academia Nacional de Ciencias Morales y Políticas, der mehrere ehemalige Funktionäre der Militärdiktatur angehören. Jorge Lanata: der bekannteste Journalist des Landes; Gründer der links-progressiven Tageszeitung Página/12, die er bis 1995 leitete. Zu seinen erfolgreichsten Formaten zählen die Radiosendung »Lanata sin filtro« und die TV-Show »Periodismo para Todos« in Radio Mitre bzw. Canal 13, die beide zur Clarín-Gruppe gehören. Lanata präsentierte in Periodismo para Todos als Show inszenierten investigativen Journalismus mit satirischen Elementen und deckte verschiedene Korruptionsfälle auf, in die der Kirchnerismus verwickelt war. Mit dem Programm, das seit 2012 jeden Sonntagabend gesendet wurde und hohe Einschaltquoten erzielte, wurde Lanata zu einer Galionsfigur des Anti-Kirchnerismus. Gerardo Milman: Milman war von 2009 bis 2013 Kongressabgeordneter des GEN (Generación para un Encuentro Nacional), einer sozialdemokratischen Partei, die unter der Führung von Margarita Stolbizer 2007 als Abspaltung der UCR (Unión Cívica Radical) entstanden war, der auch Milman bis dahin angehört hatte. Als Mitglied der Sportkommission im Abgeordnetenhaus war Milman mit den politischen Verbindungen der gewaltbereiten Fußballfanorganisationen und der Kontrolle der öffentlichen Ausgaben für das Programm Fútbol para Todos befasst. Ende 2015 verließ Milman das GEN und schloss sich der Unión por la Libertad von Patricia Bullrich an, die Teil von Mauricio Macris Wahlbündnis Cambiemos ist. In der Folge wurde er zum Staatssekretär für Innere Sicherheit im argentinischen Sicherheitsministerium ernannt. 321
POPULISMUS AN DER MACHT
Edgardo Mocca: Politologe und Journalist; Assistenzprofessor für Politikwissenschaft an der Universidad de Buenos Aires; Herausgeber der im popular-progressiven Spektrum verorteten Zeitschrift Umbrales de América del Sur; regelmäßiger Kolumnist in Página/12. Von 2003 bis zumindest 2011 Berater des Subsekretariats für Wirtschaftsintegration im Außenministerium. Mocca war von 2012 bis 2015 Mitglied des Diskussionspanels von 6, 7, 8 und ein wichtiger Referent der regierungsunterstützenden Intellektualität. Marcos Novaro: Soziologe und Historiker; Direktor des Forschungsprogramms für Politische Geschichte am Instituto de Investigaciones Gino Germani und Direktor des Centro de Investigaciones Políticas (CIPOL); lehrt Politikwissenschaft an der Universidad de Buenos Aires. Novaros Kritik an der Regierung in seiner publizistischen Tätigkeit, in Fernsehdiskussionen und Interviews zielte vor allem auf das politisch-kulturelle Projekt des Kirchnerismus. Pablo Ortiz Maldonado: Leiter des Kultursekretariats der kirchneristischen Jugendorganisation La Cámpora in der Stadt Buenos Aires; Vorstand der Cámpora-Gruppierung und Gemeinderatsmitglied im Stadtverwaltungsbezirk Comuna 12 für den Frente para la Victoria (FPV). Ortiz wurde dem Kreis um Juan Cabandié zugerechnet, der als FPV-Abgeordneter im Stadtparlament nach Ende der WM 2010 einen Gesetzesvorschlag zur Errichtung eines Denkmals für Maradona als »Ikone der argentinischen popularen Kultur« einbrachte. Luis Alberto Romero: Historiker; bis 2010 Professor für Allgemeine Sozialgeschichte an der Universidad de Buenos Aires und bis 2014 Investigador Principal des CONICET (nationale Wissenschaftsförderinstitution). Einige seiner Bücher zur argentinischen Geschichte avancierten zu klassischen Referenzwerken. Romero steht in der historiographischen Tradition der Sozialgeschichte und in der politischen Tradition einer republikanischen Demokratievorstellung. Er kritisierte am Kirchnerismus vor allem dessen gegen die liberale Historiographie gerichteten Geschichtsrevisionismus, insbesondere die Gründung des Instituto Nacional de Revisionismo Histórico Argentino e Iberoamericano Manuel Dorrego im Jahr 2011, dem er eine Mythologisierung der Geschichte vorwarf. Carlos Ulanovsky: Journalist, Dozent und Medienhistoriker; Ulanovsky gilt als Koryphäe des argentinischen Journalismus, hat als Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universidad de Buenos Aires gelehrt und zahlreiche Bücher über die Geschichte der Kommunikationsmedien in Argentinien veröffentlicht. Ulanovsky gehörte zum Kreis 322
KURZBESCHREIBUNG DER INTERVIEWTEN PERSONEN
der mit dem Kirchnerismus identifizierten Journalist/innen und arbeitete beim regierungsnahen Sender Radio Nacional, wo er neben einem eigenen Programm auch die Morgenshow des ehemaligen 6, 7, 8-Moderators Luciano Galende mitgestaltete. Mario Wainfeld: Journalist und Politikwissenschaftler. Der ehemalige Anwalt war Redaktionsmitglied und zuletzt bis 1991 Chefredakteur der Zeitschrift Unidos, einem Sprachrohr des peronistischen Flügels der Renovación in den 1980er Jahren. Er hatte Lehraufträge für Politikwissenschaft an verschiedenen Universitäten und leitete von 1997 bis 2004 das Politikressort von Página/12. In den Jahren des Kirchnerismus war er ein gewichtiger Kolumnist dieser Zeitschrift, trat als politischer Analyst in TV-Programmen auf und gestaltete Sendungen auf Radio Nacional.
Die Transkripte der Interviews können über die Homepage des Verlages abgerufen werden: www.velbrueck-wissenschaft.de
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